Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag: Arbeit in der Psychiatrie vom frühen 19. Jahrhundert bis in die NS-Zeit 351510917X, 9783515109178

Wie kein anderes Behandlungskonzept hat die Arbeit als therapeutisches Mittel die Anstaltspsychiatrie von Beginn an begl

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Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag: Arbeit in der Psychiatrie vom frühen 19. Jahrhundert bis in die NS-Zeit
 351510917X, 9783515109178

Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
EINFÜHRUNG
ARBEITSRHYTHMUS UND ANSTALTSALLTAG – EINE EINFÜHRUNG IN DEN SAMMELBAND
„ARBEIT“ UND „ANSTALT“ – EINE MULTIPERSPEKTIVISCHE BETRACHTUNG ZWEIER KONZEPTE
ARBEIT UND ARBEITSTHERAPIE – HISTORISCH GELEITETE ASSOZIATIONEN
NEUTRALISIERUNG „SOZIALER“ FOLGEN PSYCHISCHER KRANKHEIT
PATIENTENARBEIT VOR DEM ERSTEN WELTKRIEG – THERAPIE UND ÖKONOMIE
PATIENTENARBEIT IN LÄNDLICHEN PSYCHIATRISCHEN ANSTALTEN
„HEILSAM, FÖRDERLICH, WIRTSCHAFTLICH“
„PRAKTIKEN DER NORMALISIERUNG“
ARBEITSTHERAPIE IN DER WEIMARER ZEIT – POLITISCHE DEBATTEN UND ETHISCHE DISKURSE
DER WORUMWILLE VON ARBEIT ALS THERAPIE
„(…) DASS DIESE HEILMETHODE AUCH VON ANDEREN ALS ÄRZTLICHEN GESICHTSPUNKTEN AUS BEWERTET UND BEURTEILT WERDEN MUSS.“
ARBEIT IN DER PSYCHIATRIE IM NATIONALSOZIALISMUS – LEISTUNGSPARAMETER UND SELEKTIONSKRITERIUM
RHYTHMUS DES LEBENS.
AN DER SCHWELLE VON INKLUSION UND EXKLUSION
PERSONENREGISTER
ORTSREGISTER
VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN

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Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag Arbeit in der Psychiatrie vom frühen 19. Jahrhundert bis in die NS-Zeit Medizingeschichte

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Franz Steiner Verlag

Monika ankele und eva Brinkschulte

Herausgegeben von

Monika Ankele / Eva Brinkschulte (Hg.) Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag

Monika Ankele / Eva Brinkschulte (Hg.)

Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag Arbeit in der Psychiatrie vom frühen 19. Jahrhundert bis in die NS-Zeit

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein und der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Umschlagabbildung: Patienten bei der Feldarbeit, Staatskrankenanstalt Hamburg-Langenhorn: Staatsarchiv Hamburg, Bestand 352-8/7, Signatur 166

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Satz: DTP +TEXT, Eva Burri Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10917-8 (Print) ISBN 978-3-515-10928-4 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS EINFÜHRUNG Monika Ankele Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag – eine Einführung in den Sammelband ...

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„ARBEIT“ UND „ANSTALT“ – EINE MULTIPERSPEKTIVISCHE BETRACHTUNG ZWEIER KONZEPTE Heinz-Peter Schmiedebach / Eva Brinkschulte Arbeit und Arbeitstherapie – historisch geleitete Assoziationen ......................

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Kai Sammet Neutralisierung „sozialer“ Folgen psychischer Krankheit oder „Die Irrenanstalt nach allen ihren Beziehungen“? Arbeit und die Irrenanstalt als Organisation, ca. 1830–1930 .......................................................................

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PATIENTENARBEIT VOR DEM ERSTEN WELTKRIEG – THERAPIE UND ÖKONOMIE Thomas Müller Patientenarbeit in ländlichen psychiatrischen Anstalten im Spannungsfeld zwischen therapeutischem Zweck und ökonomischem Nutzen ............................. 51 Anna Urbach „Heilsam, förderlich, wirtschaftlich“ – Zur Rechtfertigung, Durchführung und Aneignung der Arbeitstherapie in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Uchtspringe 1894–1914 ....................................................................................

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Petra Fuchs „Praktiken der Normalisierung“ – Erziehung, Beschulung und Berufsvorbereitung „bildungsfähiger schwachsinniger“ Kinder in den Wittenauer Heilstätten....................................................................................... 103

ARBEITSTHERAPIE IN DER WEIMARER ZEIT – POLITISCHE DEBATTEN UND ETHISCHE DISKURSE Mathias Wirth Der Worumwille von Arbeit als Therapie – Zur Anthropologie und Ethik psychiatrischer Arbeitstherapie der Weimarer Zeit ........................................... 135 Monika Ankele „(…) daß diese Heilmethode auch von anderen als ärztlichen Gesichtspunkten aus bewertet und beurteilt werden muß.“ Zu den sozial- und gesellschaftspolitischen Debatten um die psychiatrische Arbeitstherapie in der Weimarer Zeit ......................................................................................... 157 ARBEIT IN DER PSYCHIATRIE IM NATIONALSOZIALISMUS – LEISTUNGSPARAMETER UND SELEKTIONSKRITERIUM Maike Rotzoll Rhythmus des Lebens. Arbeit in psychiatrischen Institutionen im Nationalsozialismus zwischen Normalisierung und Selektion ....................................... 189 Stefanie Coché An der Schwelle von Inklusion und Exklusion: Zur Bedeutung der Kategorie „Arbeit“ in der psychiatrischen Einweisungspraxis 1941–1945 ...................... 215 Personenregister ................................................................................................ 231 Ortsregister........................................................................................................ 233 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .......................................................... 235

EINFÜHRUNG

ARBEITSRHYTHMUS UND ANSTALTSALLTAG – EINE EINFÜHRUNG IN DEN SAMMELBAND Monika Ankele Der vorliegende Band versammelt die Beiträge einer Tagung, die am 11. und 12. April 2013 am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf in Kooperation mit dem Bereich Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg stattfand. Unter dem Titel „Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag. Arbeit als Therapie in psychiatrischen Anstalten vom Kaiserreich bis in die Zeit des Nationalsozialismus“ widmete sich die Tagung der Geschichte, Praxis und Theorie von Arbeit als therapeutischem Behandlungsmittel in Psychiatrien. Anlass zur Tagung gab das DFG-Projekt „‚Familienpflege‘ und ‚aktivere Krankenbehandlung‘: Eine multiperspektivische Betrachtung der Arbeitstherapie im Alltag psychiatrischer Anstalten der 1920er Jahre“, das am medizinhistorischen Institut in Hamburg angesiedelt ist.1 Am Beispiel der Patientenarbeit, die in der Weimarer Zeit mit den im Projekttitel genannten Konzepten wie der „aktiveren Krankenbehandlung“ und der „Familienpflege“ ausgebaut wurde, werden das Ineinandergreifen ökonomischer und sozialpolitischer Gegebenheiten, medizinischer Konzepte und kultureller Deutungsmuster analysiert. Diese Verschränkungen und Verflechtungen waren im Anstaltsalltag wie auch im Alltag der Pflegefamilien offenkundig, manifestierten sich in der internen und externen Kommunikation der Anstaltsleitung und reflektierten sich im Wahrnehmen, Denken und Handeln der Patientinnen und Patienten. Der Vergleich der beiden Modelle der Arbeitstherapie und der Familienpflege basiert auf der Analyse der Quellenbestände zweier Anstalten: Das ist zum einen die als landwirtschaftliche Kolonie geführte Krankenanstalt Langenhorn bei Hamburg, die Ende des 19. Jahrhunderts gegründet und auf eine arbeitstherapeutische Behandlung der Kranken ausgerichtet war, sowie zum anderen die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Uchtspringe in der Nähe von Stendal, in der das Konzept der Familienpflege, bei dem die Kranken in Pflegefamilien untergebracht wurden und dort in der Landwirtschaft oder im Haushalt arbeiteten, eine frühe Umsetzung fand. Mit der Tagung wurde das Ziel verfolgt, den zeitlichen Fokus des Forschungsprojekts auf die Jahre vor und während des Kaiserreichs sowie des Nationalsozialismus auszuweiten, um die Arbeitstherapie in einen breiteren historischen Zusam-

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Das Forschungsprojekt, von 2012 bis 2015 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert, wird von Dr. Monika Ankele unter der Projektleitung von Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach bearbeitet. Kooperationspartnerin ist Prof. Dr. Eva Brinkschulte. Die Ergebnisse des Projekts erscheinen 2015 in einer Monographie.

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menhang einzubetten und Entwicklungslinien sowie kontextuelle Verschiebungen sichtbar zu machen. EINFÜHRENDE ANMERKUNGEN ZUM THEMA „Arbeitstherapie“, „Beschäftigungsbehandlung“, „aktivere Krankenbehandlung“ – unterschiedliche Bezeichnungen finden sich ab dem beginnenden 20. Jahrhundert in psychiatrischen Fachpublikationen für eine Behandlungsform, die auf ein Tätigsein der Patientinnen und Patienten, auf eine Aktivierung ihrer Fähigkeiten, schließlich auf die Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit ausgerichtet war. Bereits in den ersten Anstalten, die Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts – meist fernab städtischer Zentren – errichtet wurden, beschäftigte man die Kranken im landwirtschaftlichen, handwerklichen oder häuslichen Bereich. Die Arbeit sollte Geist und Körper ermüden, von Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen ablenken, den Händen eine sinnvolle Beschäftigung geben, die Bewegungen des Körpers durch den Rhythmus der Arbeit in ein ordnendes Gleichmaß bringen sowie eine Teilhabe an der Welt (wieder) ermöglichen. Über den Rhythmus der Arbeit sollten sich Individuum und Gesellschaft synchronisieren2 und der Kranke als bürgerliches Subjekt rehabilitiert werden. Arbeit war Rhythmus und Erziehung, sie gab dem Alltag Struktur und fungierte darüber hinaus als ein Mittel der Vergemeinschaftung. Zugleich verfolgten arbeitstherapeutische Maßnahmen in den Anstalten auch ökonomische Intentionen, durch die von den Kranken erbrachten Arbeitsleistungen – u. a. die Produktion von Nahrungsmitteln, die Herstellung von Gebrauchsgegenständen für den täglichen Bedarf – sollten sich die staatlichen Ausgaben für die Anstalten reduzieren lassen und diese sich nahezu autark versorgen. Wie vor allem die Debatten in den Fachzeitschriften um 1900 zeigen, wurde die Arbeitstherapie an der Wende zum 20. Jahrhundert von neuen Behandlungsmethoden wie dem Dauerbad oder der Bettbehandlung in den Hintergrund gedrängt.3 Diese neuen Methoden fanden vermehrt Zuspruch unter den in den Anstalten wie 2

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Vgl. Die Rezension von Vera Kropf, Inge Baxmann / Sebastian Göschel / Melanie Gruß / Vera Lauf (Hg.), Arbeit und Rhythmus. Lebensformen im Wandel, München 2009, in: rezens.tfm. E-Journal für wissenschaftliche Rezensionen , 17.01.2014; zu unterschiedlichen Rhythmuskonzepten in den Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften vgl. Rhythmus und Moderne. Zeitschrift für Kulturphilosophie 1/2013; Christa Brüstle / Nadia Ghattas / Clemens Risi / Sabine Schouten (Hgg.), Aus dem Takt. Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur, Bielefeld 2005; Sonja Windmüller, Faszination Rhythmus. Überlegungen zu einem Forschungsprogramm, in: Zeitschrift für Volkskunde 106/2010, 45–65. Diesen Rückgang der Arbeitstherapie sowie ihren Anstieg in den 1920er Jahren zeigt u. a. eine Übersicht aus dem Jahr 1930 von Friedrich Utz (Lebensdaten unbekannt), Leiter der Anstalt Gabersee. In dieser Übersicht verzeichnete Utz die Zahl der Arbeitstage, die in Gabersee jährlich auf einen Kranken fielen. Aus der dargestellten Kurve wird deutlich, dass die Arbeitstage der Patientinnen und Patienten in der Zeit zwischen 1905 und 1925 einen Tiefstand erreichten, bevor die Kurve 1925 wieder steil nach oben geht. Friedrich Utz, Die Arbeitstherapie, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 92/1930, 245–262.

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auch in den Kliniken tätigen Psychiatern, sie bewirkten eine Annäherung von Krankenhaus und Anstalt und sollten letzterer eine neue Form der inneren Ordnung geben. Im Ersten Weltkrieg fand die Arbeitstherapie, neben anderen, teilweise sehr drastischen Behandlungsmethoden,4 Anwendung bei der Behandlung traumatisierter Soldaten.5 Oberste Aufgabe der Psychiatrie war die Wiederherstellung der Arbeits- bzw. Frontfähigkeit der Soldaten, die, wenn sie schon nicht in den Krieg zurückgeschickt, so doch in der Kriegswirtschaft eingesetzt werden sollten. Die Psychiatrie trat, wie Hans-Ludwig Siemen schreibt, „aus dem Schatten der Verwahranstalten“.6 Anders als mit dem Dauerbad oder der Bettruhe orientierte sich die Psychiatrie in ihrem therapeutischen Handeln während des Ersten Weltkrieges an den Bedürfnissen der Welt außerhalb der Anstaltsmauern, indem Parameter einer sich entwickelnden Leistungsgesellschaft – nämlich die Arbeitsfähigkeit – als Maßstab therapeutischer Behandlung bzw. als Therapieziel adaptiert wurde. Die Idee der Heilung somatischer Krankheitsursachen trat zugunsten einer an der Remission der Symptome orientierten Behandlung in den Hintergrund. Der Erste Weltkrieg öffnete damit die Bühne für die (sozial-)psychiatrischen Reformen der Weimarer Zeit.7 Unter der vom Psychiater Hermann Simon (1867–1947) geprägten Bezeichnung der „aktiveren Krankenbehandlung“ erlebte die Arbeitstherapie ab Mitte der 1920er Jahre einen erneuten Aufschwung in den Anstalten. Im Kontext der modernen Industriegesellschaft und des auf Erwerbsarbeit basierenden Weimarer Sozialstaates wurde Arbeit als staatsbürgerliche Pflicht konzipiert und propagiert, auf der zugleich die soziale Absicherung des Einzelnen basierte.8 Die Wiederherstellung der Arbeitskraft schien sich diesem Grundsatz folgend zu einer medizinischen Leitidee zu entwickeln, Konzepte von Gesundheit wurden mit Arbeitsfähigkeit in Deckung gebracht.9 Die Psychiatrie folgte mit der Ausweitung 4

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Bei der nach ihrem Erfinder Fritz Kaufmann (Lebensdaten konnten nicht ermittelt werden) benannten „Kaufmann-Kur“ wurden die sogenannten „Kriegszitterer“ – Patienten mit Bewegungsstörungen – mit Stromstößen behandelt, die in die zitternden Gliedmaßen eingeleitet wurden. Der Psychiater Otto Muck (1871–1942) experimentierte bei Patienten, die unter Stimmlosigkeit litten, mit einer Sonde, die in den Kehlkopf eingeführt wurde und Erstickungsgefühle hervorrief, um den Patienten zu einem Schrei zu zwingen. Vgl. Maria Hermes, Krankheit: Krieg. Psychiatrische Deutungen des Ersten Weltkrieges, Essen 2012, 424–427. Vgl. Paul Lerner, Hysterical Men. War, Psychiatry, and the Politics of Trauma in Germany, 1890–1930, Ithaca/London 2003, v. a. Kap. 5, 125–162; Hans-Georg Hofer, Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880–1920), Wien 2004; auf die Arbeit von Lerner Bezug nehmend: Hermes, Krankheit: Krieg, 443–450. Hans-Ludwig Siemen, Menschen blieben auf der Strecke. Psychiatrie zwischen Reform und Nationalsozialismus, Gütersloh 1987, 27. Vgl. Lerner, Hysterical Men; Siemen, Menschen blieben auf der Strecke. Vgl. Art. 163 der Weimarer Reichsverfassung: „Jeder Deutsche hat unbeschadet seiner persönlichen Freiheit die sittliche Pflicht, seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert.“ (in: , 14.01.2014). Vgl. Bernd Walter, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 16), Paderborn 1996, 191–212; Derselbe, Fürsorgepflicht und Heilungsanspruch:

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arbeitstherapeutischer Maßnahmen diesen sozialpolitischen Anforderungen. Kürzere Unterbringungsdauer und frühzeitige Entlassungen der Patientinnen und Patienten waren deklariertes Ziel, durch das auch der Staatshaushalt entlastet werden sollte. Niemand, für den es nicht als unbedingt notwendig erachtet wurde, sollte weiterhin aus therapeutischen Gründen im Bett liegen – alle sollten in den Kreislauf der Anstaltsarbeit eingebunden werden. Dieses (Arbeits-)Programm galt im Übrigen auch für die Mehrzahl der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen der Weimarer Zeit: Fürsorgeleistungen wurden zusehends an das Prinzip der Arbeitsfähigkeit gekoppelt.10 Mit der Weltwirtschaftskrise von 1928 und der darauf folgenden Notverordnungspolitik, die zu einem rigiden Sparkurs sowie zu einem Abbau von Sozialleistungen führte, musste die Arbeitstherapie in den Anstalten zunehmend eingeschränkt werden, u. a. auf Grund von Personaleinsparungen sowie der Senkung der Pflegekosten. Die Differenzierung zwischen den arbeitenden und den nicht-arbeitenden Kranken prägte sich in den Anstalten mehr und mehr aus und erhielt ein immer stärkeres Gewicht. Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Arbeitsleistung schließlich zu einem zentralen Selektionskriterium des nationalsozialistischen Krankenmordes: Wer nicht arbeiten konnte, hatte, der nationalsozialistischen Ideologie folgend, kein Recht auf Leben. Wie die Beiträge des Tagungsbandes zeigen, hat das hier vorgestellte therapeutische Konzept wie kein anderes die institutionalisierte Anstaltspsychiatrie von Beginn an begleitet und hat auch heute noch – wenn zwar in stark veränderter Form – ihren fixen Platz im Therapieangebot psychiatrischer Einrichtungen. Trotz dieser herausragenden Stellung, den Arbeit und Beschäftigung im therapeutischen Kontext bzw. die Arbeitstherapie als Behandlungskonzept in der Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts einnahm, gibt es bislang zu diesem Themenbereich für den deutschsprachigen Raum kaum einschlägige Publikationen, geschweige denn quellennahe und qualitative Analysen.11 Dies scheint mehr als zu wundern, wenn man

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Die Überforderung der Anstalt? (1870–1930), in: Franz-Werner Kersting / Karl Teppe / Bernd Walter (Hgg.), Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft im 20. Jahrhundert (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 7), Paderborn 1993, 66–97. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung der Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht vom 13. Februar 1924; vgl. zu dieser Thematik Christiane Rothmaler, „… um sie nachher in der offenen Fürsorge gefügig und arbeitswillig zu machen.“ Der fürsorgerechtliche Arbeitszwang in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, in: Christiane Rothmaler / Evelyn Glensk (Hgg.), Kehrseiten der Wohlfahrt. Die Hamburger Fürsorge auf ihrem Weg von der Weimarer Republik in den Nationalsozialismus, Hamburg 1993; Walter, Fürsorgepflicht und Heilungsanspruch, 87. Als Ausnahmen seien hier folgende Publikationen erwähnt: Thomas Beddies, „Aktivere Krankenbehandlung“ und „Arbeitstherapie“. Anwendungsformen und Begründungszusammenhänge bei Hermann Simon und Carl Schneider, in: Hans-Walter Schmuhl / Volker Roelcke (Hgg.), „Heroische Therapien“: Die deutsche Psychiatrie im internationalen Vergleich 1918– 1945, Göttingen 2013, 268–286; Urs Germann, Arbeit als Medizin: Die „aktivere“ Krankenbehandlung 1930–1960, in: Marietta Maier / Brigitta Bernet / Roswitha Dubach / Urs Germann, Zwang zur Ordnung. Psychiatrie im Kanton Zürich, 1870–1970, Zürich 2007, 195–233; Urs Germann, Arbeit, Ruhe und Ordnung: Die Inszenierung der psychiatrischen Moderne. Bildmediale Legitimationsstrategien der schweizerischen Anstaltspsychiatrie im Kontext der Arbeits-

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den Stellenwert der Kategorie „Arbeit“ in kapitalistischen und sozialstaatlich organisierten Gesellschaften bedenkt. Damit eng verbunden ist die sinnstiftende und identitätsbildende Funktion von Arbeit, auch und vor allem im Sinne gesellschaftlicher Anerkennung und Teilhabe: Arbeit prägt das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft und umgekehrt.12 Intention des Tagungsbandes ist es, einen Überblick über die thematische Vielfalt zu geben, die der Bereich der Arbeitstherapie in historischer Perspektive eröffnet. In Abhängigkeit zu den jeweils verwendeten Quellen, den damit verbundenen Fragestellungen, Methoden und Herangehensweisen zeigen die einzelnen Beiträge die große Varianz an möglichen Zugängen zum Thema sehr deutlich. Die Artikel ergänzen sich in Teilaspekten und können so aufeinander bezogen gelesen werden. Die Gliederung des Tagungsbandes folgt einem thematischen Abschnitt als ergänzende Einführung sowie drei chronologischen Abschnitten, unterteilt in die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus, mit dem der Band schließt. „ARBEIT“ UND „ANSTALT“ – EINE MULTIPERSPEKTIVISCHE BETRACHTUNG ZWEIER KONZEPTE Die Texte von Heinz-Peter Schmiedebach, Eva Brinkschulte und Kai Sammet können als vertiefende Einführung in das Thema des Sammelbandes gelesen werden. Heinz-Peter Schmiedebach und Eva Brinkschulte gehen auf der Ebene der Lehrbuchpsychiatrie der Frage nach dem Stellenwert von Arbeit in psychiatrischen Konzepten seit Beginn des 19. Jahrhunderts nach. In ihrem Beitrag fragen sie nach den sich verändernden Gewichtungen und kulturellen Sinnzusammenhängen von (Patienten-)Arbeit in den Beschreibungen der Ärzte. Historisch geleitete Assoziationen ergänzen ihren Überblick und erweitern zugleich den Blick auf die Themenbereiche „Arbeit“ und „Anstalt“.

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und Beschäftigungstherapie in der Zwischenkriegszeit, in: Karen Nolte / Heiner Fangerau (Hgg.), „Moderne Anstaltspsychiatrie“ im 19. und 20. Jahrhundert – Legitimation und Kritik (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 26), Stuttgart 2006, 283–310; Angela Grütter, Hermann Simon. Die Entwicklung der Arbeits- und Beschäftigungstherapie in der Anstaltspsychiatrie – Eine biographische Betrachtung (Studien zur Geschichte der Sozialmedizin und Psychiatrie, Bd. 7), Herzogenrath 1995; Heinz Schott / Rainer Tölle, Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren – Irrwege – Behandlungsformen, München 2006, 435–446; Hans Ludwig Siemen, Menschen blieben auf der Strecke, v. a. 149–153; Walter, Psychiatrie und Gesellschaft; Heinrich Zeller, Arbeit als Therapie der Geisteskrankheiten (1780–1850), Univ.-Diss., Freiburg i. Breisgau 1989; Dass das Thema der Arbeitstherapie gegenwärtig auch international Beachtung findet, zeigt u. a. das Forschungssymposium „Therapy and Empowerment – Coercion and Punishment. Historical and Contemporary Perspectives on Labour and Occupational Therapy“, das 2013 von Waltraud Ernst vom Centre for Health, Medicine and Society der Oxford Brookes University organisiert wurde und international ausgerichtet war. Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist in Arbeit. Vgl. Sophie-Thérèse Krempl, Paradoxien der Arbeit oder: Sinn und Zweck des Subjekts im Kapitalismus, Bielefeld 2011, 12.

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Kai Sammet stellt in seinem Beitrag die Überlegung an, ob sich eine Anstalt als Organisation konzipieren lässt – denn jede Organisation erfordert Arbeit, und selten kommt eine Arbeit ohne ihre Organisation aus. Seine Ausführungen beziehen sich auf unterschiedliche Konzepte von Anstalt als Heilmittel und Arbeit als Therapie im Zeitraum von 1830 bis 1930. In seinem Exkurs zu den vielfältigen Formen von und Perspektiven auf Arbeit in der Anstalt, die nicht nur die Arbeit der Patientinnen und Patienten, sondern auch die Arbeit der Ärzte und der Pflegekräfte als Mitglieder einer Anstaltsorganisation umfasst, stellt Sammet unter anderem das Konzept der „aktiveren Krankenbehandlung“ des Psychiaters Hermann Simon sowie die in den 1920er Jahren viel diskutierte „offene Fürsorge“ vor. PATIENTENARBEIT VOR DEM ERSTEN WELTKRIEG – THERAPIE UND ÖKONOMIE Anhand von Jahres- und Etatsberichten zeichnet Thomas Müller Entwicklungslinien der Patientenarbeit in unterschiedlichen Versorgungseinrichtungen im Raum Württemberg zwischen dem beginnenden 19. Jahrhundert und den Jahren des Ersten Weltkrieges nach. Zum einen belegt Müller mit dem Beispiel der 1812 eröffneten Württembergischen Staatsirrenanstalt Zwiefalten die sehr frühe Anwendung von Arbeit als therapeutischem Hilfsmittel und das anstaltsseitig stete Bemühen um eine Ausweitung der Arbeitsmöglichkeiten. Zum anderen zeigen seine Ausführungen, dass die von den Kranken geleistete Arbeit nicht auf einen ökonomischen Nutzen der Anstalt beschränkt blieb, sondern diese auch anstaltsextern, quasi als „Leiharbeiter“, eingesetzt und entlohnt wurden. Da in der Anstalt für Essen, Unterkunft, Arbeit und Entlohnung gesorgt wurde, mehrten sich phasenweise die Aufnahmegesuche in Zwiefalten, was schließlich eine Überfüllung der Anstalt mitbedingte. Die arbeitstherapeutische Praxis in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Uchtspringe im heutigen Sachsen-Anhalt steht im Mittelpunkt des Beitrages von Anna Urbach, die sich in ihren Ausführungen auf die Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges konzentriert. Konrad Alt (1861–1922), erster Direktor der Anstalt und in der psychiatriehistorischen Forschung als Pionier der Familienpflege bekannt, wird hier als früher Initiator eines umfassenden arbeitstherapeutischen Programms vorgestellt, der sich allerdings in seinem therapeutischen Handeln der Einflussnahme der Provinzialverwaltung der Provinz Sachsen ausgesetzt sah. Diese forderte die wirtschaftliche Rentabilität der einzelnen Beschäftigungszweige und übte Einfluss auf Art und Umfang der Arbeitstherapie aus. In ihrem Beitrag schildert Urbach, welche Schritte Alt im Sinne einer Ökonomisierung der Krankenbeschäftigung unternahm und welche Rolle die zunehmende Modernisierung und Industrialisierung der Arbeit dabei spielte. In beiden Beiträgen wird auch das Modell der Familienpflege vorgestellt, das den Kranken für ihre extramurale Beschäftigung die größtmögliche Autonomie garantierte, aber zugleich auch an eine regelmäßige Arbeitsleistung gekoppelt war. Formuliertes politisches Ziel der Arbeitstherapie war die Wiedereingliederung der Kranken in die erwerbstätige Gesellschaft, die Aktivierung ihrer Arbeitskraft.

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Von diesem therapeutischen Anspruch nicht minder betroffen waren Kinder und Jugendliche in heilpädagogischen Einrichtungen, wie Petra Fuchs in ihrem Beitrag am Beispiel der sogenannten „bildungsfähigen schwachsinnigen“ Mädchen und Jungen der Wittenauer Heilstätten bei Berlin ausführt. Die Erziehungsanstalt wurde von Hermann Piper (1846–1943) gegründet, der bis heute vor allem für seine kinderpsychiatrisch orientierte Heilpädagogik Anerkennung erfährt. In der Anstalt sollten die Kinder erzogen, unterrichtet und eine handwerkliche Berufsvorbereitung erhalten, um nach ihrer Entlassung erwerbsfähig sein zu können. Fuchs stellt die in den Wittenauer Heilstätten angewandten Praktiken der Erziehung und Berufsvorbereitung vor und analysiert, welche Funktion diese Praktiken bei der Definition von geistiger Behinderung als Normabweichung übernahmen. ARBEITSTHERAPIE IN DER WEIMARER ZEIT – POLITISCHE DEBATTEN UND ETHISCHE DISKURSE Mathias Wirth nähert sich der Arbeitstherapie aus philosophischer Perspektive. Er nimmt die in der Weimarer Zeit geführten Fachdebatten als Ausgangspunkt, um nach den ethischen und philosophisch-anthropologischen Implikationen derselben zu fragen. Humanisierung, Erziehung und Ökonomie werden in seinem Beitrag als die drei tragenden Säulen der Arbeitstherapie beschrieben. Die Argumente der Psychiater zu Sinn und Zweck der „aktiveren Krankenbehandlung“ konfrontiert Wirth mit Konzepten zum Arbeitsbegriff aus der Philosophie. Arbeit wird – wie bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), Karl Marx (1818–1883) oder Hannah Arendt (1906–1975) – als Baustein der Subjektwerdung, als Überwindung der Natur, als ein Versprechen auf Freiheit definiert, kann aber auch das Gegenteil – wie Entfremdung, Unterordnung oder Disziplinierung – implizieren. Ob die Arbeitstherapie, wie sie in den psychiatrischen Anstalten praktiziert wurde, den Patientinnen und Patienten abseits von Ermüdung und Ablenkung auch Sinn- und Identitätsangebote liefern konnte oder ob sie, im Gegenteil, auch Formen der Entfremdung nach sich zog, kann anhand einer rein theoretischen Bewertung des therapeutischen Konzepts nicht eindeutig beantwortet werden. Eine qualitative Analyse alltagspraktischer Quellen, wie im Beitrag von Anna Urbach ausgeführt, stellt hier eine produktive Weiterführung dar. Die Arbeitstherapie veränderte aber nicht nur den Anstaltsalltag der Patientinnen und Patienten, sondern auch den Arbeitsalltag der Pflegekräfte in den Anstalten. Gewerkschaftliche Organisationen wie die der SPD nahe stehende Reichssektion Gesundheitswesen im Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter nahmen diese Veränderungen im Arbeitsalltag des Pflegepersonals zum Anlass, um eine soziale und wirtschaftliche Besserstellung desselben sowie – mit dem Argument der erhöhten Unfallgefahr durch die Arbeitstherapie – eine Aufnahme in die Reichsunfallversicherung zu bewirken, von der sie bislang ausgeschlossen waren. Monika Ankele folgt in ihrem Beitrag den Zirkulationswegen des arbeitstherapeutischen Konzepts und fokussiert die politische Funktionalisierung der Arbeitstherapie unter den arbeitsrechtlichen und sozialpolitischen Veränderungen der Weimarer Zeit. Die zu-

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nehmende Einflussnahme der Gewerkschaften auf politische Prozesse und Debatten führte schließlich dazu, dass die Arbeitstherapie auch im Reichstag diskutiert wurde. ARBEIT IN DER PSYCHIATRIE IM NATIONALSOZIALISMUS – LEISTUNGSPARAMETER UND SELEKTIONSKRITERIUM Anders als man vermuten könnte, ging die Arbeitstherapie in den 1930er Jahren infolge der von Seiten des Staates verordneten Personaleinsparungen in den Anstalten zurück, die Kluft zwischen der Gruppe der arbeitenden – und damit als therapiefähig beurteilten – und der Gruppe der nicht-arbeitenden – und damit als therapieresistent eingestuften – Kranken, die später die Grundlage des nationalsozialistischen Krankenmordes bilden sollte, wurde immer größer. Erst mit Kriegsbeginn lässt sich eine erneute Intensivierung der Arbeitstherapie feststellen, wobei zweckrationale Motive die therapeutischen Maßnahmen bestimmten, wie Maike Rotzoll in ihrem Beitrag ausführt. Auf Basis einer quantitativen Auswertung des Krankenaktenbestandes der „Euthanasie“-Aktion „T4“, die 1940 und 1941 die Ermordung von mehr als 70.000 psychisch und physisch erkrankten Menschen zur Folge hatte, zeigt Rotzoll, dass die Bewertung der Arbeitsleistung ein zentrales Selektionskriterium darstellte. Einen weiteren Bezugspunkt ihrer Ausführungen bildet das einflussreiche Lehrbuch des Heidelberger Ordinarius und „T4“-Gutachters Carl Schneider (1891–1946), der eine wissenschaftlich fundierte Arbeitstherapie im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie ausarbeitete, die sich jedoch für eine Anwendung in einer auf Effizienz und Produktivität ausgerichteten Anstaltspraxis als zu personal- und kostenintensiv – und damit als nicht effizient genug – erwies. Psychiatrische Einweisungsgutachten aus dem Zweiten Weltkrieg bilden das Ausgangsmaterial der einzelnen Fallgeschichten, die Stefanie Coché in ihrem Beitrag vorstellt. Auf Basis der in den Gutachten dokumentierten Aussagen der Familienmitglieder analysiert sie die Funktion der Bezugnahme auf Arbeitsverhalten, Arbeitswillen, Arbeitsfähigkeit oder -unfähigkeit im Rahmen des Aufnahmegespräches. Dabei fragt sie nach den möglichen Handlungsspielräumen der Akteurinnen und Akteure, die sich entsprechender, an der nationalsozialistischen Leistungsideologie und den Kriegsgeschehnissen ausgerichteter Argumente bedienten, um Einweisungen, aber auch Entlassungen bewirken zu können. Die beiden letzten Beiträge des Tagungsbandes machen darüber hinaus deutlich, wie wichtig weiterführende Forschungen zur Funktion von Arbeit im therapeutischen Kontext auch nach 1945 – von der Einflussnahme der Besatzungsmächte auf das Therapieangebot psychiatrischer Einrichtungen13 bis zum Ausbau der industriellen Arbeitstherapie während der wirtschaftlichen Prosperität der 1950er 13

Vgl. Bernd Reichelt / Thomas Müller, Die württembergische Psychiatrie unter französischer Verwaltung, 1945–1949, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 20/2014, 339–352; vgl. auch das laufende DFG-Projekt „Nach dem Krankenmord. Struktur und Alltagsleben ehemaliger Tötungsanstalten in den vier Besatzungszonen

Arbeitsrhythmus und Anstaltsalltag – eine Einführung in den Sammelband

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Jahre14 – wären. Der Tagungsband soll dazu anregen, weitere Forschungsarbeiten in diesem Bereich zu initiieren. Die Herausgeberinnen danken den Referentinnen und Referenten für ihre Teilnahme an der Tagung sowie für ihre Bereitschaft, ihre Vorträge für die vorliegende Publikation auszuarbeiten und zur Verfügung zu stellen. Franziska Grieß danken wir für die kritische Durchsicht der Fußnoten und der Vereinheitlichung der Literaturverzeichnisse. LITERATURVERZEICHNIS Armbruster, Ian / Jarisch, Anne: Im Spannungsfeld von individueller Rehabilitation und Missbrauch: Arbeitstherapie in der DDR-Psychiatrie am Beispiel des Bezirkskrankenhauses Stralsund, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 20/2014, 353– 371. Baxmann, Inge / Göschel, Sebastian / Gruß, Melanie / Lauf, Vera (Hgg.): Arbeit und Rhythmus. Lebensformen im Wandel, München 2009. Beddies, Thomas: „Aktivere Krankenbehandlung“ und „Arbeitstherapie“. Anwendungsformen und Begründungszusammenhänge bei Hermann Simon und Carl Schneider, in: Schmuhl, HansWalter / Roelcke, Volker (Hgg.): „Heroische Therapien“: Die deutsche Psychiatrie im internationalen Vergleich 1918–1945, Göttingen 2013, 268–286. Brüstle, Christa / Ghattas, Nadia / Risi, Clemens / Schouten, Sabine (Hgg.): Aus dem Takt. Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur, Bielefeld 2005. Germann, Urs: Arbeit als Medizin: Die „aktivere“ Krankenbehandlung 1930–1960, in: Meier, Marietta / Bernet, Brigitta / Dubach, Roswitha / Germann, Urs: Zwang zur Ordnung. Psychiatrie im Kanton Zürich, 1870–1970, Zürich 2007, 195–233. Germann, Urs: Arbeit, Ruhe und Ordnung: Die Inszenierung der psychiatrischen Moderne. Bildmediale Legitimationsstrategien der schweizerischen Anstaltspsychiatrie im Kontext der Arbeitsund Beschäftigungstherapie in der Zwischenkriegszeit, in: Nolte, Karen / Fangerau, Heiner (Hgg.): „Moderne Anstaltspsychiatrie“ im 19. und 20. Jahrhundert – Legitimation und Kritik (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 26), Stuttgart 2006, 283–310. Grütter, Angela: Hermann Simon. Die Entwicklung der Arbeits- und Beschäftigungstherapie in der Anstaltspsychiatrie – Eine biographische Betrachtung (Studien zur Geschichte der Sozialmedizin und Psychiatrie, Bd. 7), Herzogenrath 1995. Hermes, Maria: Krankheit: Krieg. Psychiatrische Deutungen des Ersten Weltkrieges, Essen 2012. Hofer, Hans-Georg: Nervenschwäche und Krieg. Modernitätskritik und Krisenbewältigung in der österreichischen Psychiatrie (1880–1920), Wien 2004. Krempl, Sophie-Thérèse: Paradoxien der Arbeit oder: Sinn und Zweck des Subjekts im Kapitalismus, Bielefeld 2011.

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1945–1955“, das von Maike Rotzoll, Georg Lilienthal, Wolfgang U. Eckart, Ingo Harms, Dietmar Schulze bearbeitet wird. Vgl. Ian Armbruster / Anne Jarisch, Im Spannungsfeld von individueller Rehabilitation und Missbrauch: Arbeitstherapie in der DDR-Psychiatrie am Beispiel des Bezirkskrankenhauses Stralsund, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 20/2014, 353–371; Vicky Long, Rethinking Post-War Mental Health Care: Industrial Therapy and the Chronic Mental Patient in Britain, in: Social History of Medicine 26/2013, Nr. 4, 738– 758.

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Monika Ankele

Kropf, Vera: Inge Baxmann / Sebastian Göschel / Melanie Gruß / Vera Lauf (Hgg.), Arbeit und Rhythmus. Lebensformen im Wandel, München 2009, in: rezens.tfm. E-Journal für wissenschaftliche Rezensionen, zit. n.: , 17.01.2014. Lerner, Paul: Hysterical Men. War, Psychiatry, and the Politics of Trauma in Germany, 1890–1930, Ithaca/London 2003. Long, Vicky: Rethinking Post-War Mental Health Care: Industrial Therapy and the Chronic Mental Patient in Britain, in: Social History of Medicine 26/2013, Nr. 4, 738–758. Reichelt, Bernd / Müller, Thomas: Die württembergische Psychiatrie unter französischer Verwaltung, 1945–1949, in: Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde 20/2014, 339–352. Rothmaler, Christiane: „… um sie nachher in der offenen Fürsorge gefügig und arbeitswillig zu machen.“ Der fürsorgerechtliche Arbeitszwang in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, in: Rothmaler, Christiane / Glensk, Evelyn (Hgg.): Kehrseiten der Wohlfahrt. Die Hamburger Fürsorge auf ihrem Weg von der Weimarer Republik in den Nationalsozialismus, Hamburg 1993, 77–97. Schott, Heinz / Tölle, Rainer: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren – Irrwege – Behandlungsformen, München 2006. Siemen, Hans-Ludwig: Menschen blieben auf der Strecke. Psychiatrie zwischen Reform und Nationalsozialismus, Gütersloh 1987. Utz, Friedrich: Die Arbeitstherapie, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 92/1930, 245–262. Walter, Bernd: Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 16), Paderborn 1996. Windmüller, Sonja: Faszination Rhythmus. Überlegungen zu einem Forschungsprogramm, in: Zeitschrift für Volkskunde 106/2010, 45–65. Zeller, Heinrich: Arbeit als Therapie der Geisteskrankheiten (1780–1850), Univ.-Diss., Freiburg i. Breisgau 1989.

„ARBEIT“ UND „ANSTALT“ – EINE MULTIPERSPEKTIVISCHE BETRACHTUNG ZWEIER KONZEPTE

ARBEIT UND ARBEITSTHERAPIE – HISTORISCH GELEITETE ASSOZIATIONEN Heinz-Peter Schmiedebach / Eva Brinkschulte Die Konnotationen, die mit dem Begriff Arbeit verbunden sind, zeigen eine äußerst reichhaltige Vielgestaltigkeit und haben sich im Laufe der Geschichte häufig gewandelt. Um Arbeit geht es in diesem Band, vor allem um Arbeit in Irrenanstalten, verrichtet von Patientinnen und Patienten, von den Ärzten mit dem Zusatz Therapie versehen. Arbeitstherapie – ein Konzept, das ebenfalls in Form, Gestaltung, Zweck und Legitimation viele Veränderungen durchlaufen hat. Im Folgenden sollen einige historisch geleitete Assoziationen zur Arbeit und ausgewählten Textstellen zur Arbeitstherapie aus psychiatrischen Lehrbüchern des 19. Jahrhunderts als Einführung dienen. Ernst Horn (1774–1848), der von 1806 bis 1818 die Leitung der Irrenabteilung in der Berliner Charité inne hatte, beschrieb in seinem Rechenschaftsbericht aus dem Jahre 1818, dass er einen schweren Wagen von Patientinnen und Patienten auf dem Hof der Irrenabteilung ziehen ließ.1 Er hat damit Arbeit im physikalischen Sinne verrichten lassen. Denn in der Physik wird Arbeit so definiert, dass eine Kraft entlang einer Strecke auf einen Körper einwirkt. Arbeit ist im einfachsten Fall das Produkt aus der in Wegrichtung wirkenden Kraft und der Wegstrecke. Horn hat diesen Zusammenhang nicht so gesehen, jedenfalls ist keine Aussage von ihm bekannt, die diesen Zusammenhang offenbaren würde. Für ihn war bei der Bekämpfung des Irreseins Müßiggang unbedingt zu vermeiden. Müßiggang und Laster waren eng verknüpft und konnten unmittelbar in den Wahn führen; deswegen setzte Horn auf Arbeit und körperliche Betätigung, die einerseits einen besonderen Reiz für den Organismus hervorrufen und anderseits den Gemeinsinn, insbesondere bei gemeinsam zu erledigenden Arbeitsaktionen, wie das gemeinsame Ziehen eines Wagens, wecken und stärken sollten. 1

Ernst Horn, Oeffentliche Rechenschaft über meine zwölfjährige Dienstführung als zweiter Arzt der Königl. Charité-Krankenhauses zu Berlin, nebst Erfahrungen über Krankenhäuser und Irrenanstalten, Berlin 1818, 251. Zu Horn vgl. Hans Schneider, Ernst Horn (1774–1848) – Leben und Werk. Ein ärztlicher Direktor an der Berliner Charité an der Wende zur naturwissenschaftlichen Medizin, med. Diss., Freie Universität Berlin 1986. Vgl. ebenso Heinz-Peter Schmiedebach, Die Psychiatrie an der Charité auf dem Weg zur Disziplin – zwischen Erziehung und Therapie, in: Peter Schneck / Hans-Uwe Lammel (Hgg.), Medizin an der Berliner Universität und an der Charité zwischen 1810 und 1850 (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, H.67), Husum 1995, 111–123; Ders., Grenzverschiebungen. Zur Berliner Psychiatrie im 19. Jahrhundert, in: Johanna Bleker / Marion Hulverscheidt / Petra Lennig (Hgg.), Visiten. Berliner Impulse zur Entwicklung der modernen Medizin (Kaleidogramme, Bd. 79), Berlin 2012, 19–36, zu Horn insb. 21–24.

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Heinz-Peter Schmiedebach / Eva Brinkschulte

„Die militärischen Erziehungsübungen“ schrieb er, „sind sowohl für männliche, als für weibliche, Kranke eine sehr empfehlenswerthe in ihren Wirkungen höchst wohlthätige Beschäftigung. Sie werden um so nützlicher, je weniger die Kranken zuvor daran gewöhnt waren, je mehr, fremdartig und imponierender dies Geschäft für sie ist.“2 Für ihn galt die Maxime: je ungewohnter die Arbeit und die Verrichtungen, desto wirkungsvoller das Ergebnis.3 Deswegen hatte es keinen Sinn, einen geisteskranken Soldaten mit Exerzieren zu beschäftigen, dies war dagegen besonders wirkungsvoll bei weiblichen Kranken. Einen guten Effekt hatte auch das Ausheben von tiefen Gräben bei Geistesarbeitern.4 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Beschäftigung und die Arbeit bereits in den Irrenanstalten angekommen, teilweise durchaus mit therapeutischer Rhetorik legitimiert, aber ihre Praxis stellte auch eine Fortführung der Tradition des Arbeitshauses dar. In den Korrektions- und Arbeitshäusern des 17. und 18. Jahrhunderts war die Erziehung zur Arbeit Programm und die utilitaristische Armenpolitik des 19. Jahrhunderts stellte das Arbeitshaus unter den Leitsatz: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ Ein weiterer Aspekt kommt mit dem protestantischen Arbeitsethos hinzu, Arbeit ist gottgewollte Pflicht, die den Mittelpunkt des Lebens ausmacht, und die nicht in Frage zu stellen ist. Max Weber (1864–1920) führte 1904/05 die Entstehung dieser Vorstellungen auf den sich im16. Jahrhundert herausbildenden Kapitalismus zurück.5 Diese positive Sichtweise der körperlichen Arbeit war in der Geschichte keineswegs selbstverständlich. Arbeit war mehr Mühsal, Plage, Pein. Antike Philosophen würdigten den Großteil der täglichen körperlichen Arbeit herab. Körperliche Arbeit galt als Zeichen der Unfreiheit. Sklaven und Handwerker waren „dieser Notwendigkeit untertan“ und konnten nur durch diese als „Unfreiheit“ verstandene Arbeit ihre Lebensbedürfnisse befriedigen. Geistige Arbeit, schöpferische Muße führten zu Erkenntnis und Freiheit.6 Unfreie Arbeit gab es nicht nur in der Antike bei Sklaven. Andere Formen, wie die Fronarbeit von Frauen, Männern und Kindern war in der Landwirtschaft über Jahrhunderte verbreitet und im 20. Jahrhundert finden wir die moderne Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Wie aber ist die Arbeit in einer Irrenanstalt, die von Patientinnen und Patienten geleistet werden muss, zu bezeichnen? Unfrei ist diese Arbeit allemal. Kann man sie als Zwangsarbeit in der Tradition von Sklavenarbeit bezeichnen? Oder ist sie mehr Mittel für eine Disziplinierung, die zum Funktionieren in einer bürgerlichen Gesellschaft unverzichtbar ist, Mittel für eine Internalisie2 3 4 5 6

Horn, Oeffentliche Rechenschaft, 251. Ebda., 249. Ebda., 251. Max Weber, Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus, 3. Aufl., München 2011, 96 f. , zit. n.: , 12.11.2014. Vgl. , 12.08.2014, vgl. ebenso Werner Conze, „Arbeit“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, 158.

„Arbeit“ und „Anstalt“ – eine multiperspektivische Betrachtung zweier Konzepte

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rung von sittlichen Werten und arbeitsrhythmischen Abläufen, die in die Physiologie und Psychologie des Individuums einzuschreiben sind? Eine positive Bewertung von Arbeit als „produktiver Betätigung zur Befriedigung eigener oder fremder Bedürfnisse“ rückte in der Zeit der Aufklärung in den Vordergrund.7 Arbeit erhielt einen sittlichen Wert und wurde als Berufung verstanden. Sie wurde nun auch zu einer Komponente von Selbstverwirklichung. In der deutschen Philosophie (Kant, Herder, Hegel, Fichte) wurde die Arbeit zur Existenzbedingung und sittlichen Pflicht erklärt. Arbeit als sittliche Pflicht passt gut in die Psychiatrie des frühen 19. Jahrhunderts, in der auch erzieherische Elemente, nicht nur bei Horn, sondern auch bei Johann Christian August Heinroth (1773–1843) und Carl Wilhelm Ideler (1795–1860) eine große Rolle spielten.8 Ziel der psychiatrischen Einwirkung war es, die Konturen des Bürgers und seiner Sittlichkeit zu gestalten. Es soll der Leistungsgedanke – die Leistungsbereitschaft und der Gehorsam – eingeübt werden. Nichtsdestotrotz, parallel dazu gibt es einen psychiatrischen, wenn man will, pragmatisch ökonomisch ausgerichteten Diskurs, in der die Arbeit der Irren auch mit den Kosten der Anstalt in Verbindung gebracht wird. Es war Wilhelm Griesinger (1817–1868) in den frühen 1860er Jahren, der die Aufnahme der Irren in die freien Verpflegungsformen, und damit die Gewährung einer relativen Freiheit, von einer gewissen Arbeitsfähigkeit der Kranken abhängig gemacht hat. „Alle müssen arbeiten“ so sagt er, denn „Müßiggang ist für den noch rüstigen Irren gerade wie für den Gesunden das Geisteszerstörendste, was es giebt.“9 Man müsse eine genügende Anzahl von arbeitsfähigen Kranken finden – und da Griesinger die Arbeit eines Irren gleich einem Fünftel der Arbeit eines Gesunden veranschlagt, hielt er 400 bis 600 Kranke für angemessen, um den ökonomischen Bedürfnisse der Anstalt zu genügen.10 Ökonomisches Interesse der Anstalt und Therapieziel versuchte er zur Deckung zu bringen. Er hielt es für möglich, den Kranken einen kleinen Lohn für die Arbeit auszuzahlen, damit er nach seiner Genesung einen Schutz gegen Mangel besitze.11 Ist in diesen Ausführungen Griesingers 7 8 9

10 11

Vgl. Arne Eggebrecht, Geschichte der Arbeit. Vom Alten Ägypten bis zur Gegenwart, Köln 1980. Johann Christian August Heinroth, Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung, Teil 1–2, Leipzig 1818; Carl Wilhelm Ideler, Grundriß der Seelenheilkunde, Bd. 1, Berlin 1835, Bd. 2, Berlin 1838. Wilhelm Griesinger, Über Irrenanstalten und deren Weiter-Entwicklung in Deutschland (1868/69), in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, in: Wilhelm Griesinger, Gesammelte Abhandlungen, I. Bd. Psychiatrische und nervenpathologische Abhandlungen, Berlin 1872, 266–308, hier: 297. Zu Griesinger vgl. Heinz-Peter Schmiedebach, Wilhelm Griesinger, in: Wilhelm Treue / Rolf Winau (Hgg.), Berlinische Lebensbilder Mediziner (Einzelveröffentlichung der Historischen Kommission zu Berlin, Bd.60), Berlin 1987, 109–131. Ebenso Kai Sammet, „Ueber Irrenanstalten und deren Weiterentwicklung in Deutschland“. Wilhelm Griesinger im Streit mit der konservativen Anstaltspsychiatrie 1865–1868 (Hamburger Studien zur Geschichte der Medizin, Bd. 1), Münster/Hamburg/London 2000. Griesinger, Über Irrenanstalten, 296. Wilhelm Griesinger, Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, 2. Aufl., Stuttgart 1861, 501.

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Heinz-Peter Schmiedebach / Eva Brinkschulte

um 1860 bereits eine Transformation der Irrenanstalt in eine Produktionsstätte angedeutet? Spricht Griesinger von Lohnarbeit in der Irrenanstalt? Wohl kaum, denn es wird eher eine Unterstützung geregelt, es geht nicht um den Tauschwert einer Ware im Sinne der klassischen Ökonomie von Karl Marx (1818–1883). Und noch eine weitere Komponente fehlt: die durch Arbeit erfolgende Bemächtigung der Natur, die bei Marx und Friedrich Engels (1820–1895) so beschrieben wird: „Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit“.12 Der Mensch bemächtigt sich der Natur, indem er sich den Naturstoff aneignet, zugleich verändert er dadurch seine eigene Natur. Liegt in diesem letztgenannten Aspekt eine verborgene Legitimation für die Arbeit in der Irrenanstalt, durch die der Irre die in ihm schlummernden Potenzen entwickeln kann und damit seine Natur ändert, wieder zum besonnenen Bürger oder gar klassenbewussten Proletarier werden kann? Vielleicht doch etwas abwegig, denn was soll die „eigene Botmäßigkeit“ des Irren sein, der er das Spiel der erwachten Kräfte unterwirft? Und vor allem, was ist das für eine Arbeit? Auch in der Anstalt kann keine andere Arbeit als Lohnarbeit möglich sein. Und der Tauschwert der Ware Arbeitskraft ist der Arbeitslohn, also Geld. Der Kranke hätte zu seinem eigenen Arbeitsprodukt nur noch das bare Lohnverhältnis – und würde sich erst recht in seiner Arbeit nicht mehr erkennen. Das aber ist entfremdete Arbeit. Entfremdete Arbeit bedeutet, dass die Verhältnisse, die die Menschen in der Produktion eingehen, obwohl von den Menschen selbst geschaffen, ihnen als eine fremde Macht gegenübertreten. Sie verfügen nicht mehr selbst über diese Verhältnisse, sondern die Verhältnisse über sie. Wie ist dies in der Irrenanstalt? Würden die Kranken, selbst, wenn sie für Lohn arbeiten würden, nicht aber einer doppelten Entfremdung in diesem Sinne ausgesetzt sein? Neben den Produktionsverhältnissen als fremde Macht treten den Kranken erst recht die Verhältnisse in der Anstalt, über die sie noch weniger verfügen können, als ein Entfremdungsphänomen zweiter Ordnung gegenüber. Arbeit, wie sie in der Aufklärung erörtert wurde, bedeutete aber auch eine Kritik am feudalistischen Prinzip. Eigentum sollte nach dieser Kritik einzig durch Arbeit entstehen, niemand hat ein von Gott gegebenes Anrecht auf Eigentum. Güter, die nicht durch menschliche Arbeit entstanden sind, sollten als Gemeinbesitz verwaltet werden. Der in der Aufklärung erörterte Arbeitsbegriff enthält also auch ein 12

Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, „Das Kapital“, Bd. I, Dritter Abschnitt, Fünftes Kapitel Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß, Berlin 1968, 192–213, hier: 192. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Mathias Wirth in diesem Band.

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Element der Demokratisierung der Eigentumsverhältnisse. Der in die Arbeit freigesetzte Mensch allerdings benötigt zur Umsetzung der Arbeit vor allem eines: Gesundheit. Kranke können in diesem Sinne nicht arbeiten. Deswegen – und dies kann man bei einigen Ärzten im Vormärz, z. B. bei Johann Lukas Schönlein (1793–1864) oder Rudolf Virchow (1821–1902), nachlesen – wird es zur sozialmedizinischen Pflicht des Staates, für die Gesundheit aller seiner Mitglieder zu sorgen, damit sie arbeiten und Eigentum erwerben können. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde das Irresein staatlicherseits als Krankheit anerkannt und auch die Möglichkeit einer Heilbarkeit durch Ärzte zugestanden. Geisteskranke konnten also wieder gesund werden – und arbeiten. Hier liegt es nahe, einen Zusammenhang zwischen diesem staatlichen Bekenntnis zur Heilbarkeit des Irreseins und dieser besonders herausgehobenen Form der Arbeit und der Schaffung von Eigentum herzustellen. Aber Arbeit hat auch eine personale Bedeutung. Sie kann zur Selbstverwirklichung und zur sozialen Integration beitragen. Dient Arbeit der Selbstverwirklichung, so kann man daraus ein Recht auf Arbeit ableiten. So wurde in der Menschenrechtscharta der UNO, verabschiedet 1948, das Recht auf Arbeit im Artikel 23 festgelegt: „1. Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit. Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen. Jeder hat das Recht, zum Schutze seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.“ 13

Hier ist primär von Erwerbsarbeit die Rede. Diese dient der Reproduktion der eigenen materiellen Lebensbedingungen und der Bedürfnisse, sichert den Status in einer Gesellschaft und garantiert auch eine Partizipation an kulturellen und sozialen Ereignissen, nicht zuletzt auch politische Mitwirkung. Es gibt aber neben der Erwerbsarbeit auch unentgeltliche Arbeit, die nicht Ware ist. Diese wird nicht immer mit „Arbeit“ gleichgesetzt. Hierzu gehört z. B. die schöpferische Arbeit der Künstler, eine Form der Selbstentfaltung, weil sie es möglich macht, sich in der Arbeit selbst wieder zu erkennen. Kann Arbeit als Arbeitstherapie ein Sinn- und Identitätsangebot sein? Ist es möglich, dass Arbeit in der Anstalt eine Art Vermittlerrolle zwischen der Welt und dem Ich einnehmen kann? Ist Arbeit in der Anstalt auch ein Instrument der Menschwerdung, nicht nur Last und Unfreiheit? Kann man in der Arbeit der Insassinnen und Insassen in den Anstalten so etwas wie Selbstverwirklichung finden? Dazu ein Beispiel: In der Anstalt Friedrichsberg hat man 1909 aufgrund von Sprachschwierigkeiten in zwei Fällen Patienten gebeten, die Anamnese bei einem Mitpatienten zu erheben. Diese Patienten haben nicht nur die Daten des anderen Patienten sorgfältig in einen Anamnese13

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte UNO-Resolution 217 A (III) vom 10. Dezember 1948, , 12.08.2014.

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Heinz-Peter Schmiedebach / Eva Brinkschulte

bogen der Anstalt eingetragen, sondern auch noch Interpretationen, die zu Teil aus ihren eigenen Wahnvorstellungen resultieren, angestellt und diese ebenfalls schriftlich fixiert. Die Patienten haben also die Arbeit des Arztes verrichtet, dabei aber ihre eigenen Gedanken deutlich in der Akte eingeschrieben.14 Ist diese also so etwas wie eine wahnbestimmte Selbstvergewisserung und damit auch Selbstverwirklichung der Kranken? Oder, wie ist es einzuschätzen, wenn ein Kranker einfach nur darum bittet, in der Anstalt in seinem Beruf arbeiten zu dürfen? Ist dies nicht der Versuch, in der Anstalt ein Stück früherer beruflicher Identität aufrecht zu erhalten? Aus den sehr unterschiedlichen Formen der unentgeltlichen Arbeit ergeben sich verschiedene Möglichkeiten, eine Art des geldlosen sozialen Tauschs zu entwickeln, neue Beziehungen zwischen den sozialen Akteuren herzustellen. Unentgeltliche Arbeit wird in den Irrenanstalten betrieben. Welche besonderen Verhältnisse stellen sich dabei zwischen den verschiedenen Akteuren ein? Gibt es neben der skrupellosen Ausnutzung von Kranken bei der Hilfe im Haushalt des Arztes nicht auch unter den geisteskranken Arbeitern selbst Formen eines, wenn auch nur temporären, Zusammenschlusses zum Erreichen eines Ziels, findet man vielleicht neue Organisationsformen? Kann man möglicherweise gar Facetten eines Eigensinns im Sinne von Alf Lüdtke15 entdecken, zeigen die arbeitenden Kranken Widerständigkeiten, die im großen Dazwischen von Streik und Gehorsam angesiedelt sind? Wie sieht es mit einer grundsätzlichen Kritik an der Arbeit in den Anstalten aus? Seit es die moderne Lohnarbeit gibt, wird diese auch kritisiert. Z. B. von dem sich als revolutionärer Sozialist verstehenden Paul Lafargue (1842–1911), Schwiegersohn von Karl Marx, freilich eine Außenseiter in der Arbeiterbewegung. Er forderte 1887 das Recht auf Faulheit.16 Diese Tradition der Ablehnung der Arbeit wurde auch später immer wieder aufgenommen, so z. B. im Pariser Mai 1968. In dem Slogan „Ne travaillez jamais“ („Arbeitet niemals“). Die Ablehnung der Arbeit spielte auch in Italien in den Kämpfen der 1960er und 1970er Jahre eine zentrale Rolle. Nicht-Arbeit, legitimiert mit einem Recht auf Faulheit. Dies klingt nicht unsympathisch, aber auch nicht so ganz ernst. Ist aber die Nicht-Arbeit bereits außerhalb der Anstalt ins ärztlich-psychiatrische Blickfeld geraten und als Ausdruck mangelnder Arbeitsfähigkeit oder eines fehlenden Arbeitswillens diagnostiziert, so waren neue Kategorien für die Grenzziehung zwischen Krankheit/Gesundheit und behandlungsbedürftig und nicht behandlungsbedürftig in Anwendung gekommen. Hier werden entscheidende Kriterien für die Einweisungspraxis konstruiert und die Psychiater treten dabei als Experten für die Beurteilung von Arbeitsfähigkeit auf. 14 15 16

Stefan Wulf / Heinz-Peter Schmiedebach, „Die sprachliche Verständigung ist selbstverständlich recht schwierig.“ Die „geisteskranken Rückwanderer“ aus Amerika in der Hamburger Irrenanstalt Friedrichsberg 1909, in: Medizinhistorisches Journal 43/2008, 231–263. Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993. Paul Lafargue, Das Recht auf Faulheit, Widerlegung des Rechts auf Arbeit von 1848, Frankfurt 2006, 20 (Erste Ausgabe Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit: Widerlegung des „Rechts auf Arbeit“, Zürich 1887).

„Arbeit“ und „Anstalt“ – eine multiperspektivische Betrachtung zweier Konzepte

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Nicht-Arbeit innerhalb der Irrenanstalt kann aber auch eine ganz andere Folge haben. Nicht-Arbeit als Ausdruck einer Arbeitsunfähigkeit oder eines ärztlich diagnostizierten fehlenden Arbeitswillens in der Anstalt war bei den verschiedenen Tötungsaktionen von Patientinnen und Patienten in psychiatrischen Anstalten während der NS-Zeit das entscheidende Selektionskriterium. Häufig wurde fehlende Arbeitsleistung mit den Worten „zu keiner Arbeit zu bewegen“ bezeichnet. Hier wurde die Nicht-Arbeit innerhalb der Anstalt von allen wie auch immer gearteten Überlegungen – therapeutischer, pädagogischer oder sonstiger Art – abgekoppelt. Diese ärztlich festgestellte Nicht-Arbeit setzte der Kommunikation eine Ende, ein einziges und absolutes Ziel: der geplante Tod bestimmte das Verhältnis zwischen den Patientinnen und Patienten und dem Anstaltspersonal.17 Noch ein letzter Aspekt. Wenn Arbeit eine Therapie ist, was ist eigentlich das Kriterium für den Erfolg dieser Therapie und vor allem, wie kommt er zustande? Was heißt Heilung, welche Kriterien gibt es für eine Heilung oder wird von dem Ziel der Heilung Abstand genommen? Man kann z. B. die Arbeitsfähigkeit zum einzigen Kriterium der Entlassung einer Patientin oder eines Patienten machen. Es kommt dann zur Entlassung, wenn die Arbeitsfähigkeit nach Meinung der Ärzte hergestellt ist. Dabei können aber bestimmte Laborparameter nicht im Normbereich liegen, es ist also noch keine vollständige Gesundheit eingetreten. Wenn dennoch entlassen wird, so liegt hier eine Änderung des Therapieziels vor, nebenbei auch eine Relativierung der Macht des Labors. Nicht mehr Heilung, sondern Remission wurde erreicht. Dieses Konzept der Remission ist im Ersten Weltkrieg bei der Behandlung der Kriegsneurotiker zu einem neuen Ziel des ärztlichen Eingriffs geworden.18 Hat dieses Konzept auch die Bewertung des Erfolges der Arbeitstherapie in der Psychiatrie beeinflusst und in der Psychiatrie eine erneute Verstärkung erfahren? Und wenn ja, was kann man als Ursachen für diese nicht unwichtige Änderung des Therapieziels erkennen? Man sieht, hier wurden nur einige Aspekt aufgezeigt, die mit dem, was Arbeit in der Psychiatrie bedeuten kann, verknüpft sind. Im Zentrum steht die Frage: Welche Form der Arbeit kann zu einem konkreten Zeitpunkt an einem bestimmten psychiatrischen Ort festgestellt und beschrieben werden, was ist ihr Zweck, wie wird sie legitimiert und was sind die Konsequenzen für die Anstalt, für das Personal und für die Kranken? Was bedeutet es, wenn die Arbeit innerhalb der Anstalt zu einem zentralen Konstituens wird, wie verändert sich dadurch die Anstalt? Welche Grenzverschiebungen sind erkennbar? Aus diesem von großer Vielfalt gezeichneten Bedeutungsuniversum um den Begriff Arbeit werden in den Beiträgen dieses Bandes einige in die Tiefe gehenden Sondierungen vorgenommen wie auch einige Thesen formuliert, die unsere Erkenntnis über Arbeit und Arbeitstherapie in der Psychiatrie ein Stück weiterbringen werden.

17 18

Vgl. hierzu den Beitrag von Maike Rotzoll in diesem Band. Paul Lerner, Hysterical Men: War, Psychiatry, and the Politics of Trauma in Germany, 18901930, Ithaca/London 2003.

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Heinz-Peter Schmiedebach / Eva Brinkschulte

LITERATUR Arbeit (Sozialwissenschaften), in: , 12.08.2014. Conze, Werner: „Arbeit“, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte UNO-Resolution 217 A (III) vom 10. Dezember 1948, in: , 12.08.2014. Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, 2. Aufl. Stuttgart 1861. Eggebrecht, Arne: Geschichte der Arbeit. Vom Alten Ägypten bis zur Gegenwart, Köln 1980. Griesinger, Wilhelm: Über Irrenanstalten und deren Weiter-Entwicklung in Deutschland, in: Griesinger, Wilhelm: Gesammelte Abhandlungen, I. Bd. Psychiatrische und nervenpathologische Abhandlungen, Berlin 1872, 266–308. Heinroth, Johann Christian August: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung, Teil 1–2, Leipzig 1818. Horn, Ernst: Oeffentliche Rechenschaft über meine zwölfjährige Dienstführung als zweiter Arzt der Königl. Charité-Krankenhauses zu Berlin, nebst Erfahrungen über Krankenhäuser und Irrenanstalten, Berlin 1818. Ideler, Carl Wilhelm: Grundriß der Seelenheilkunde, Bd. 1, Berlin 1835, Bd. 2, Berlin 1838. Lafargue, Paul: Das Recht auf Faulheit, Widerlegung des rechts auf Arbeit von 1848, Franfurt 2006, Das Recht auf Faulheit: Widerlegung des „Rechts auf Arbeit“, Zürich 1887. Lerner, Paul: Hysterical Men: War, Psychiatry, and the Politics of Trauma in Germany, 1890-1930, Ithaca/London 2003. Lüdtke, Alf: Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993. Marx, Karl / Engels, Friedrich: Werke, Bd. 23, „Das Kapital“, Bd. I, Dritter Abschnitt, Fünftes Kapitel Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß, Berlin/DDR 1968, 192–213. Sammet, Kai: „Ueber Irrenanstalten und deren Weiterentwicklung in Deutschland“. Wilhelm Griesinger im Streit mit de konservativen Anstaltspsychiatrie 1865–1868 (Hamburger Studien zur Geschichte der Medizin, Bd. 1), Münster/Hamburg /London 2000. Schmiedebach, Heinz-Peter: Die Psychiatrie an der Charité auf dem Weg zur Disziplin – zwischen Erziehung und Therapie, in: Medizin an der Berliner Universität und an der Charité zwischen 1810 und 1850, hrsg. v. Peter Schneck und Hans-Uwe Lammel (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, H.67), Husum 1995, 111–123. Schmiedebach, Heinz-Peter: Grenzverschiebungen. Zur Berliner Psychiatrie im 19. Jahrhundert, in: Bleker, Johanna / Hulverscheidt, Marion / Lennig, Petra (Hgg.): Visiten. Berliner Impulse zur Entwicklung der modernen Medizin (Kaleidogramme, Bd. 79), Berlin 2012, 19–36. Schmiedebach, Heinz-Peter: Wilhelm Griesinger, in: Treue, Wilhelm / Winau, Rolf (Hgg.): Berlinische Lebensbilder Mediziner (Einzelveröffentlichung der Historischen Kommission zu Berlin, Bd.60), Berlin 1987, 109–131. Schneider, Hans: Ernst Horn (1774–1848) – Leben und Werk. Ein ärztlicher Direktor an der Berliner Charité an der Wende zur naturwissenschaftlichen Medizin, med. Diss., Freie Universität Berlin 1986. Schneider, Helmuth: Geschichte der Arbeit. Vom Alten Ägypten bis zur Gegenwart, Köln 1980. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus, 3. Aufl., München 2011, , in: , 12.11.2014. Wulf, Stefan / Schmiedebach, Heinz-Peter: „Die sprachliche Verständigung ist selbstverständlich recht schwierig.“ Die „geisteskranken Rückwanderer“ aus Amerika in der Hamburger Irrenanstalt Friedrichsberg 1909, in: Medizinhistorisches Journal 43/2008, 231–263.

NEUTRALISIERUNG „SOZIALER“ FOLGEN PSYCHISCHER KRANKHEIT ODER „DIE IRRENANSTALT NACH ALLEN IHREN BEZIEHUNGEN“1? Arbeit und die Irrenanstalt als Organisation, ca. 1830–1930 Kai Sammet EINLEITUNG: ARBEIT UND ORGANISATION Wenn Adenosintri- (ATP) zu Adenosindiphosphat (ADP) wird, wenn eine Katze döst, ist das Arbeit? Die Katze metabolisiert ATP zu ADP. Besser: in ihr wird ATP zu ADP, sie handelt nicht. Ist etwas Arbeit nur, wenn gehandelt wird, eine Absicht da ist? Arbeiten nur Menschen? Das ist alles wenig klar. Ich verwende Arbeitsbegriffe aus der Biochemie (wo Absicht nichts verloren hat). Hilft das dennoch zum Verstehen von Arbeit in Psychiatrien? Immerhin zeigt es: (i) Vielleicht wird nie nichts getan (in der Katze transformiert sich der Stoff immer weiter); wenn das so ist, dann wird (ii) der Arbeitsbegriff ein Nebel über allem. Eingeschränkt auf menschliches Tun, kommt man (iii) zur Frage: Was tun wir, wenn wir tätig sind?2 Verschiedenes. Also (iv) muss man verdeutlichen, wovon man spricht, wenn man von Arbeit spricht. Es gibt nicht den Arbeitsbegriff, nur Arbeitsbegriffe. Möglich ist Arbeit in Anstalten durch deren Organisation. Oder: Wenn etwas eine Organisation ist, dann wird da etwas getan (Handlungen als Mittel für Ziele; Organisationen werden organisiert, das macht Arbeit). Wie, wo, von wem wird in den Anstalten von 1830 bis 1930 gewerkelt? Ich beschreibe zuerst Begriffe der Organisationssoziologie mit Blick auf Anstalten (und greife punktuell einige Probleme der Anstalt auf), dann Semantiken von Arbeit. Abschließend skizziere ich die aktivere Therapie3 nach Hermann Simon (1867–1947) und die organisatorisch interessante „offene Fürsorge“.

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Christian Friedrich Wilhelm Roller, Die Irrenanstalt nach allen ihren Beziehungen, Karlsruhe 1831. Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, Stuttgart 1960. Hermann Simon, Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt, Berlin und Leipzig 1929.

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WAS IST EINE ORGANISATION?4 Was ist eine Organisation? Beispiele sind: die Mafia, ein Krankenhaus, DaimlerBenz, ein Manta-Club. Organisationen sind korporative Akteure zwischen Individuum, sozialem System und Gesellschaft. Ihre Ausdifferenzierung kennzeichnet die Moderne, aber man soll Purismus meiden: Die Entwicklung zeigt Hybride mit anderen Vergesellschaftungsformen. Sind Anstalten dennoch spezifische Organisationen? Um 1800 entwickelten sie sich mit und gegen andere Anstalten. Aus dem ‚alten‘ Hospital, dem Arbeits- und Zuchthaus entstand via boundary work5 etwas, das vorgab eine Funktion zu erfüllen: Heilung psychischer Devianz. Jeder dieser Begriffe ist eine mit Heterogenem vollgestopfte black box. Heilung verwies auf Medizin, meint im Zeitverlauf Verschiedenes. Was psychisch war, leitete sich aus Theorien der Seele und Grenzscharmützeln zu Begriffen wie somatisch oder sozial her. Nicht jeder, der als psychisch deviant galt, bekam Einlass in die Anstalt: „Idioten“ gehörten nicht in sie, so der badische Psychiater Christian Friedrich Wilhelm Roller (1802–1878) 1831, der eine Grenzzone beackerte, die wir als Linie sehen: zwischen geistig Behinderten und „unheilbaren Irren“ bestehe ein „mächtiger noch nicht gehörig beachteter Unterschied“.6 Zudem betreuten auch allgemeine Krankenhäuser ‚Irresein‘: Im Bezirkskrankenhaus Ochsenhausen, Württemberg, erbaut 1895, 27 Betten, versorgten die beiden Ärzte auch eine Abteilung „mit eigenem Eingang“ und „Tobzelle“.7 Devianz ist ein problematischer Ausdruck. So wird der Bezug auf Normverletzung kritisiert, Normen bestimmten nicht das Handeln der Menschen, Handeln sei eher nutzenorientiert.8 DIE IRRENANSTALT NACH IHREN ZWECKEN Heilung, Psyche, Devianz meinen in der Zeit Verschiedenes. Doch akzentuieren die Zitate im Titel zwei Organisationszwecke. Neben Zwecken werden noch Mitgliedschaft und Hierarchie als Kennzeichen von Organisationen genannt.9 Moderne Gesellschaften sind in allen drei „Hinsichten anders gebaut“10: Gesellschaftsmitglied 4 5

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Was ich über Organisation sage, habe ich aus Peter Preisendörfer, Organisationssoziologie. Grundlagen, Theorien, Problemstellungen, 3. Aufl., Wiesbaden 2011 und Stefan Kühl, Organisationen. Eine sehr kurze Einführung, Wiesbaden 2011, gelernt. Ich beziehe den Begriff auf die Entwicklung verschiedener Anstalten für verschiedene Gruppen: Thomas F. Gieryin, Boundary-work and the demarcation of science from non-science: strains and interests in professional ideologies of scientists, in: American Sociological Review 48/1983, 781–795. Roller, Die Irrenanstalt, 33. Albert Guttstadt, Krankenhaus=Lexikon für das Deutsche Reich, Berlin 1900, 709. Helge Peters, Devianz und soziale Kontrolle. Eine Einführung in die Soziologie abweichenden Verhaltens, 3. Aufl., Weinheim/München 2009, 19–24. Kühl, Organisationen, 17. André Kieserling, Funktionen und Folgen formaler Organisation (1964), in: Oliver Jahraus / Armin Nassehi / Mario Grizely / Irmhild Saake / Christian Kirchmeier / Julian Müller (Hgg.), Luhmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2012, 129.

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ist man durch Geburt, Mitglied einer Organisation durch Entschluss (des Individuums, der Organisation), moderne Gesellschaften kennen Subsysteme, keine Hierarchie, keine (übergeordneten) Zwecke. Wilhelm Weygandt (1870–1939), Chef der Anstalt Hamburg-Friedrichsberg, bemerkte 1922, Patienten würden eher wegen der „sozialen Folgen“ ihrer Erkrankung (Eigen-, Fremdgefährdung) aufgenommen, nicht aufgrund der Störung selbst. 1831 notierte Roller, Irre seien unmündig wie Kinder (daher: Schutz, Kontrolle), aber auch krank, daher sei medizinische Behandlung nötig, für beide Zwecke brauche man Anstalten.11 Bedeutet diese differente Gewichtung, dass sich der Heilungsoptimismus des 19. Jahrhunderts zum Pessimismus bloßer Verwahrung verdunkelt hat? Das ist nicht falsch, aber zu linear gedacht. Wilhelm Griesinger (1817–1868) begründete 1868 sein Plädoyer für Stadtasyle auch damit, dass Patienten eben nicht wegen ihrer Krankheit, sondern wegen deren Störpotential in Anstalten kämen.12 Zudem wurde der Heilungsbegriff verändert. Für Josef Gerstmann (1887–1969) war 1925 das „Dogma von der Unheilbarkeit“ der progressiven Paralyse mit der Malariatherapie „überwunden“, es gab Remissionen, „die in ihrer Erscheinungsweise einer Heilung gleichkommen können“.13 Heilung meinte aber nicht restitutio ad integrum: Hinsichtlich der Resultate in Friedrichsberg fand Weygandt 1923 Gruppen: vollberufsfähig; berufsfähig mit Defekt; gebessert, gering beschäftigungsfähig; nicht gebessert; gestorben.14 Und dann war schon das 19. Jahrhundert ernüchtert, was Heilung psychischer Krankheit anging. Dennoch gab Adolf Gross (1868–1962) 1912 ein mäanderndes Bekenntnis ab, das Heilung und Anstalt (immer noch) vermählt sah: Man nehme ja an, die Prognose sei desto günstiger, je eher Kranke in die Anstalt kämen; manches ließ ihn glauben, dass es oft so sei. Oft aber schien es, dass Psychosen eigengesetzlich verliefen, egal, wo die Patientinnen und Patienten lebten.15 Wenn Heilung und Anstalt nicht mehr gleichbedeutend waren, warum löste man sie nicht auf (und was bedeutete das für Arbeit in der Anstalt)? Organisationell gilt:16 Zweckverfehlung verhindert nicht Überleben. Man musste jetzt nur anderes tun: Es blieb verwahrende Kontrolle als Zweck. Zudem ließ sich Erfolg herbeireden (Gross sah Heilungen), der Zweck ändern (nicht volle restitutio, sondern Berufsfähigkeit als Heilung, darauf wurde therapeutisches Tun berechnet), man betonte positive side effects (Gross: Anstaltspflege mildere den Verlauf der Psychose) oder Unterzwecke (man wahre die Würde des Patienten) oder vertauschte Mittel und 11 12 13 14 15 16

Wilhelm Weygandt, Irrenanstalten, in: Das deutsche Krankenhaus: Handbuch für Bau, Einrichtung und Betrieb der Krankenanstalten, 2. Aufl., Jena 1922, 388. Roller, Irrenanstalten, 1. Wilhelm, Griesinger, Ueber Irrenanstalten und deren Weiterentwicklung in Deutschland, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 1/1868, 8–43. Josef Gerstmann, Die Malariabehandlung der progressiven Paralyse, Wien 1925, 210; Ders., Die Malariabehandlung der progressiven Paralyse, 2. Aufl., Wien 1928, 273. Wilhelm Weygandt, Zur Malariabehandlung der Paralyse, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 79/1923, 482. A[dolf] Gross, Allgemeine Therapie der Psychosen, in: Gustav Aschaffenburg (Hg.), Handbuch der Psychiatrie, Allg. Teil, 4. Abteilung, Leipzig/Wien 1912, 74. Das Folgende nach Kühl, Organisationen, 62–69.

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Zweck (schnellere Beruhigung in der Anstalt, eigentlich Mittel der Heilung, wird zum Zweck).17 Zwecke genügen nicht zur Definition von Organisation, eine „instrumentelle Deutung“ von Mitgliedschaft und Hierarchie, die Personen nur als Mittel zur Zielerreichung sieht und Hierarchie dadurch begründet, dass arbeitsteilige „Beiträge zu koordinieren“ sind, greift zu kurz.18 Wozu dann Zwecke?19 Sie sind „Scheuklappen“ der Organisation. Wer einen Zweck verfolgt, kann andere nicht verfolgen, das hemmt Überforderung, ist aber konservativ (wenn wir nicht heilen: was tun wir dann?); Zwecke „mobilisieren“ die Mittelwahl (dann probieren wir andere Mittel und schaffen eine Welt für chronisch Kranke), sie akquirieren externe Legitimation: Heilung war die dem Publikum zugewandte raison d´être der Anstalt (egal, was dort sonst getan wurde). DIE IRRENANSTALT NACH WEITEREN ZWECKEN Neutralisierung sozialer, Therapie psychischer Devianz: daneben gab es weitere Zwecke. Anstalten waren Verwaltungsbehörden, Listen wurden gemacht, Ausgaben aufgeschrieben, Patienten zu Akten. Ist Verwalten ein Ziel? Oder Mittel? Wozu Schreibarbeit? Es gab Rechenschaftspflichten gegenüber Behörden. Menschenserien, also der Biokörper, wurden verwaltet. Patienten wurden zu Statistik, der Einzelne kam in eine Rangreihe. Schreibarbeit zeigt die Anstalt als rational, als Bürokratie im Sinn Max Webers (1864–1920). „Aktenmäßigkeit der Verwaltung“: War das (Aufnahme-)Büro „Kernpunkt“ des Anstaltshandelns?20 Anstalten bemühten sich. Sie gehör(t)en21 zum Prozess der Rationalisierung von Weltbildern, Institutionen und Lebensführung, zum Wandel von Herrschaftsformen hin zu legaler Herrschaft. Kennzeichen von Bürokratie sind, neben (i) Akten, (ii) „Stellen“ als Organisationsbausteine, deren Einnahme abhängen sollte von (formaler) Qualifikation und Leistung. Konnte jeder Arzt werden? Klassenunterschiede wurden gerade nicht meritokratisch begründet; (iii) „feste Amtskompetenzen“, „Amtshierarchie“; (iv) „Regelgebundenheit“, „Unpersönlichkeit der Amtsführung“. Das galt zum Teil. Doch durfte der Arzt nicht am Individualisieren gehindert sein, die Hybridform Anstalt enthielt Elemente charismatischer Herrschaft, (v) „qualifiziertes und loyales Fachpersonal“ – das ist lange fraglich;22 (4) Zudem dienten Anstalten ökonomischen Zielen, in der Therapie, und sie schufen Arbeitsplätze. (5) Folgt man Erving Goffmans (1922–1982) Konzept der „moralischen Karriere“ psychisch Kranker, dann verwandelten Anstalten eine Spielart von Devianz in eine psychiatrische Diagnose: Mitglied als Patient (für Goffman sind Patienten Mitglieder der Anstalt),

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Gross, Allgemeine Therapie, 76. Kieserling, Funktionen und Folgen, 129. Das Folgende nach Kühl, Organisationen, 54–56. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. rev. Aufl., Tübingen 1972, 126. Das Folgende nach Preisendörfer, Organisationssoziologie, 97 f. Zu diesen Aspekten s. weiter unten.

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kann nur sein, wer verrückt ist.23 Diese Definitionsarbeit fand an Individuen statt. In Anstalten wurden plurale Arten des Wissens erzeugt, benutzt, gelehrt. Patienten waren Objekt des Wissens, das auf neue Patienten angewandt wurde: Z. B. monierte Emil Kraepelin (1856–1926), dass es in Anstalten eine „Fülle von Arbeit“ gäbe. Nur die „Durchforschung“ der Krankenakten verhinderte, dass die Arbeit, die in Krankenuntersuchung und deren Dokumentation geleistet wurde, nutzlos in Aktenschränken vermoderte.24 THERAPIE DURCH ORGANISATION ODER: DIE IRRENANSTALT ALS THERAPEUTIKUM „Kernelemente von Organisationen“25 sind neben Mitgliedschaft, Hierarchie, Zwecken noch die formale/informale Organisationsstruktur und die „räumlich-sachliche Ausstattung“. Das Spezifische einer Organisationsform könnte in Gewichtung und Relation dieser Elemente liegen. Bei Anstalten waren Raum und Bewegung zentral: Angenommen, wir sähen um 1830 nachts auf das Miniaturwunderland Deutscher Bund herab, dann leuchteten einige kompakte Lichthaufen: neue Anstalten, nachts lichtvoll, denn jetzt gebiert der Schlaf der Vernunft Ungeheuer (Chaos). Der Arzt musste immer präsent sein, Kranke auch nachts besuchen, denn diese „äußern gerade oft zur Nachtzeit ihre Krankheit“.26 Nur die lichtdurchflutende Vernunft vertrieb Um-Nachtung. Vernunft war visuell: Kontrolle durch den Blick wurde durch das Wandern des Arztes lebendig, aber nur möglich durch die Bauform, das Korridorsystem (das bis 1880 vorherrschte). Ecken, (uneinsehbare) Winkel waren verpönt, Gebäude und Gänge sollten „in einer Flucht laufen“, nur ein Stockwerk war erlaubt.27 Die Anstalt war das wichtigste Therapeutikum durch Ordnen von Raum und Zeit: Rationalisieren der Lebensführung durch Außenleitung. Paul Hasse (1830–1898), Leiter der Anstalt Königslutter, brach 1879 eine Lanze für Korridorsystem, geschlossene Anstalt und externe Regulation: In einer „gesetzlich geregelten“ Haus- und Tagesordnung, der Regelung von Arbeit/Erholung, Rechten/ Pflichten, in der „Disciplin“, die sich so des Ganzen bemächtige, lag eine sprudelnde Quelle wohltätiger Wirkungen auf das kranke Gemüt, wesentlich für „Gewöhnung“ an Ordnung und Ruhe im Hause, „an Ordnung im Denken und Handeln“. Diese Regulierung war entscheidend für die Heilung.28 Diese Ansicht blieb wichtig, auch wenn nicht mehr Einprägen der Vernunft von außen, sondern das Modeln durch die Umwelt gemeint war: Paul Nitsche (1876–1948) schrieb 1929, zwar sei Anstaltstherapie nicht die Behandlungsmethode „schlechthin“. Die Anstalt 23 24 25 26 27 28

Erving Goffman, Asyle, Frankfurt a. M. 1981, 127–167. Emil Kraepelin, Fragestellungen der klinischen Psychiatrie, in: Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie 28/1905, 589–590. Ich folge hier: Preisendörfer, Organisationssoziologie, 100. Roller, Die Irrenanstalt, 321, 152. Ebda., 96, 98. Paul Hasse, Irren=Anstalten und ihre Organisation. Ein Wort zur Orientierung für Laien geschrieben, Braunschweig 1879, 12 f.

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spiele in der psychiatrischen Therapie „dieselbe Rolle wie jedes andere Krankenhaus“ bei körperlicher Krankheit, doch waren die mit dem bloßen Aufenthalt dort „gegebenen Umwelteinflüsse an und für sich schon“ therapeutisch.29 Das galt noch 1961: Organisation war entscheidend, legte man die Zwecke der Anstalt, die sich in Therapie, Langzeitpflege chronisch, Internierung gefährlicher Kranker ausdrückt, zugrunde. Eine Anstalt war eine kleine Welt für sich, ein Mikrokosmos, eine Umwelt, die „eindrücklich“ auf die Kranken wirke: Sie „so zu formen, dass ihre Einflüsse möglichst förderlich und im Sinne der angestrebten Therapie wirksam sind, ist eine der wichtigsten Aufgaben des Anstaltspsychiaters, ist Therapie durch Organisation“.30 MITGLIEDER UND METAPHERN: ARBEITSTEILUNG, HANDLUNGSKOORDINATION, MASCHINE Die Irrenanstalt therapierte durch Rationalisierung der Lebensführung: Einprägung der Vernunft, als Umwelt, durch Organisation. Sie war multifunktional. Dann arbeitete da vieles und viele, Anstalten waren arbeitsteilig organisiert, Handlungskoordination war also wichtig. Wie stand es um die Hierarchie? Und wer war Mitglied der Anstalt? Man sieht vier Gruppen:31 (i) Bürgerliche Akademiker wie Ärzte und Geistliche; (ii) aus dem Kleinbürgertum: Verwaltungspersonal, Bürokratieproduzenten, Ökonomie-/Hauswirtschaftspersonal. (iii) Wärterinnen und Wärter kamen aus der Unterschicht. Diese Vierteilung vergröbert Rollers Garten der Arten.32 Für eine Anstalt mit 300 Betten sah er vor: Arzt-Direktor, Sekundär-, Hilfsarzt, chirurgischer Helfer, Geistliche, Kirchendiener, Verwalter, Rechnungsführer, Schreiber, vier Oberwärter, Krankenwärterinnen und -wärter (eine/r auf acht Patienten), Haus-, Zimmerwärterinnen und -wärter (Verhältnis 1:40), Badwärter, Nacht-, Torwache, Kanzleidiener, Bote, Weißzeugverwalterin, Waschfrau, Ökonom (unter ihm: Köchin, Knecht, Magd). Das Organigramm zeigt, dass eine Anstalt auch funktional differenziert war, Ärzte träumten Vernunftträume. Roller sah den „gleichsam maschinenartigen Gang“ der Hausordnung.33 Er nutzte die Metapher für rationale Organisation, die Organisationen oft zur Selbstbeschreibung nutzen. Diese Sicht betont Formalisiertes34 wie Programme (z. B. Dienstordnung), Kommunikationswege (wer berichtet wem), Personen (Stelleninhaber). Formale Organisation, das sind entschiedene Entscheidungsprämissen und mitgeteilte Mitgliedschaftsbedin29 30

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Paul Nitsche, Allgemeine Therapie und Prophylaxe der Geisteskrankheiten, in: Oswald Bumke (Hg.), Handbuch der Geisteskrankheiten, 4. Bd. Allgemeiner Teil, Berlin 1929, 78–79. Hans Merguet, Psychiatrische Anstaltsorganisation. Arbeitstherapie, Milieugestaltung, Gruppentherapie, in: Hans Walter Gruhle / Richard Jung / Wilhelm Mayer-Gross (Hgg.), Psychiatrie der Gegenwart. Forschung und Praxis. Bd. III: Soziale und angewandte Psychiatrie, Berlin/ Göttingen/Heidelberg 1961, 75. Meine Darstellung ist orientiert an Roller, Irrenanstalten. Zum Folgenden: Ebda., 282–284. Ebda., 6. Zum Folgenden: Kühl, Organisationen, 96–112.

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gungen: Die Dienstanweisung entscheidet vorab, wie gehandelt wird, sie ist Prämisse, die bei „Verwendung nicht mehr geprüft“35 werden muss. Der Gärtner in Königslutter mochte 1870 zu viele Äpfel geerntet haben, doch war „ihm untersagt“ Obst zu verschenken.36 Ein Apfel für die Verwalterstochter konnte ihn zum NichtMitglied durch Kündigung machen. Formale Organisation erspart Denken, entlastet: Ignoriert der Gärtner die Apfellust der Verwalterstochter, ist keine Rechtfertigung nötig. Organisation als (i) Maschine ist eine Metapher für die Irrenanstalt. Viele „conventional ideas about organization“ wurzeln in wenigen „taken-for-granted images“, Metaphern, die Organisation in spezifischer, oft einseitiger Sicht sehen lassen.37 Solche Bilder werden oft zur Selbstbeschreibung benutzt oder zeigen das verborgene Selbst-Verständnis einer Organisation(sform).38 (ii) Sieht man Organisation als Organismus, betont man Evolution, Werden, Vergehen eines offenen Systems in einer Umwelt. (iii) Organisation als „brain“ betont „information processing“, Lernfähigkeit eines selbst-organisierenden Systems. (iv) Die Kultur einer Organisation meint gemeinsame Werte, Normen: corporate identity. (v) In Organisationen wird regiert, sie sind politische Systeme mit spezifischer Herrschaftsform. (vi) Sieht man Organisation als „flux and transformation“, betont man Wandel, sei es als Ausdruck autopoietischen Prozessierens, Rückkopplungskreis oder Frucht dialektischer Logik: jedes Phänomen generiert sein Gegenteil. METAPHERN: ORGANISMUS, GEHIRN, MONARCHIE, KULTUR, WANDEL Diese Metaphern (und andere) lassen sich in Anstalten und Anstalts-Bildern erkennen. Die Anstalt als politisches System sollte konstitutionell-monarchisch sein, Herrschaft war legale Herrschaft: Es gab eine vorgesetzte (Landes- etc.)Behörde, intra muros herrschte der Direktor, alle mussten seinen Anordnungen folgen (außer er verstieß gegen Gesetze). Er war Grenze und Grenzkontrolleur: Er repräsentiere die Anstalt „in allen Fällen, in welchen sie mit der Aussenwelt in Berührung kömmt“. Doch der Arzt war mehr (und tat mehr) und anderes. Er war „die Seele“ der Anstalt, das „primum movens eines jeden Vorganges“.39 Legale und charismatische Herrschaft: Primum movens, causa prima bezeichnen in der scholastischen Philosophie Gott und rekurrieren auf Aristoteles’ „unbewegten Beweger“.40 Der Arzt als Gott: War das nur ideologische Überhöhung? Der Psychiater Jean-Étienne Dominique Esquirol (1772–1840) berichtete, die Frauen in der Salpêtrière hätten 35 36 37 38 39 40

Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, 2. Aufl., Wiesbaden 2006, 222. Hasse, Irren=Anstalten, 66. Gareth Morgan, Images of organization, Beverly Hills 1986, 12–13. Zum Folgenden: Ders., 14, 15, 45, 97, 128, 142, 201, 209, 234, 245, 247, 255, 267, 275. Roller, Die Irrenanstalt, 270. Vgl. R. [Vorname unbekannt] Specht, Causa prima, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hgg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Darmstadt 1971, Sp. 975. Aristoteles, Metaphysik, Ditzingen 1970, 1072a-f.

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ihn „für ein übernatürliches Wesen gehalten“.41 Sicher auch, aber um 1830 war der Arzt die Inkarnation der Vernunft – und Gott ist Vernunft.42 Der Arzt er-arbeitete stets Vernunft und speiste sie in die Maschine ein, denn diese war auch organisch, musste beseelt werden. Die Ordnung „eines jeden Tages“ war „keine im Voraus vorgezeichnete“ (die Dienstordnung genügte nicht), sie musste täglich „aufs Neue“ erschaffen werden.43 Es macht Arbeit, Organisationen zu organisieren. Um 1830 verstand man diesen Organismus nicht als ein in seine Umwelt ein- (oder an sie: an-)gepasstes Lebewesen, sondern als Mikrokosmos im Makrokosmos.44 Anstaltstheoretiker träumten von corporate identity als Emanation geteilter Werte und Harmonie der Klassen. „Nur durch den der Anstalt innewohnenden Geist“, „reges, in Thaten sich bewährendes Pflichtgefühl“, „einträchtiges Zusammenwirken“ war Erfolg möglich. Fühle sich jeder „als unentbehrlich für das Gedeihen der Anstalt, aber auch als vereinsamt, wenn nicht“ das Tun aller „sein Streben begünstigte“, sehe er im „Vorgesetzten den wohlwollenden Leiter, im „Untergebenen“ den „Helfer für einen Zweck“, dann schreite die Anstalt ruhig „zur Vervollkommnung“,45 ein Bild, das perfectibilité, jene von der Aufklärung gelobte Vervollkommnungsfähigkeit, die Lernen implizierte, Utopie, ewige „transformation“ artikulierte. KLASSE UND GESCHLECHT IN DER ANSTALT Aber nicht nur funktionelle Differenzierung und Metaphern bestimmten Hierarchie, Raum und Delegation, sondern auch class und gender. Der Arzt-Direktor war ein männlicher Bildungsbürger mit spezifischen (charismatisches Herrschen begünstigenden) Attributen: gesund, furchtlos, prinzipienfest, redlich, human; kein Starrkopf, auch nicht schwach; nicht schroff, auch nicht süßlich und feminin, Mann der Wissenschaft, zugleich erfahren (ähnlich gebaut sollte der Geistliche sein). Der dritte Oberbeamte, der Verwalter, brauchte keine psychologische Schulung, er behandelte keine Kranken. Doch eine gewisse Bildung war nötig, zudem Wissen aus Verwaltung, Ökonomie und Technik. Für diese Stelle kam kein Schreiber in Frage, sonst unterblieb die „Vervollkommnung“ (perfectibilité, Lernfähigkeit und flux) dieses Betriebs, weil er nur „mechanisch“ abgearbeitet würde, weil weder Einzelvorgänge im Zusammenhang noch Sinn und Zweck des „Ganzen erkannt werden“.46 Der Verwalter lässt sich auch der Mittelgruppe zuordnen, die teils selbständig agieren durfte, teils kontrolliert wurde. Er war zuständig für das Materielle der Anstalt, 41 42 43 44 45 46

Zit. n. Roller, Die Irrenanstalt, 313. „Die Vernunft muß ihn beseelen, denn die Unvernunft ist es, die er zu bekämpfen hat“, so Roller im Anschluss an Johann Christian August Heinroth (1773–1843). Roller, Die Irrenanstalt, 317 f. Ebda., 163. Vgl. genauer: M[athias] Gatzemeier / H[elmut] Holzhey, Makrokosmos/Mikrokosmos, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer, (Hgg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Darmstadt 1980, Sp. 640–649. Zit. n. Roller, Die Irrenanstalt, 316. Ebda., 317–320.

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das er verantwortlich, wenn auch „mit Vorwissen des Direktors, aber unabhängig“, anschaffte. Ökonom (fürs Reproduktive zuständig: Landwirtschaft) und Weißzeugverwalterin waren ihm untergeben. Der Verwalter aber hatte eine Raumgrenze. Oft dienstlich in der Anstalt, kam er mit den Kranken dennoch „in keine Berührung“. Die Weißzeugverwalterin (zuständig für Wäscherei, Spinnerei, Näherei) beaufsichtigte die „weiblichen Beschäftigungen“, nahm an Therapie „theil“ – ihr war Einfluss auf Kranke erlaubt. Noch exkludierter als der Verwalter war der Schreiber (Kopist, führte die Registratur): Er durfte die Anstalt nicht betreten (das Büro war nicht Kern der Anstalt, sie selbst nicht nur Verwaltung).47 Raumin- und exklusion, Kontrolle waren komplex verschaltet. Sie folgten Organisationsbildern; funktionaler Differenzierung: der Rechnungsführer kontrollierte den Verwalter in den Finanzen; gender: die Weißzeugverwalterin therapierte, weil ‚irre‘ Frauen zu weiblichem Tun zurück-erzogen werden sollten; class: der Schreiber war eine ‚mechanische‘ Figur, die den ‚Geist‘ der Anstalt kontaminieren konnte. WÄRTERINNEN UND WÄRTER: MITGLIEDER ODER HALBFERTIGWARE? Ist immer klar, wer Mitglied einer Organisation ist? Sind alle Anwesenden der Anstalt auch deren Mitglieder? Oder sind Patienten zu bearbeitender Rohstoff? Sind alle Mitglieder des Personals auch (als) Mitglieder der Organisation (gedacht)? Weder der Mercedes, der vom Band läuft, noch das Förderband sind Mitglied von Daimler-Benz. Der Mercedes ist Produkt (wie der Geisteskranke?), das Förderband Werkzeug. Was waren Wärterinnen und Wärter? Für Maximilian Jacobi (1775– 1858), Leiter der Heilanstalt Siegburg, waren sie um 1830 „gewissermaßen organische Theile der Anstalt“.48 Georg Ludwig (1826–1910), Direktor von Heppenheim, wollte 1896 „in der Lage sein, mein Werkzeug“ – und hier meinte er explizit das Wartpersonal – wenn es verbraucht war, „weglegen zu können“.49 Werkzeuge (Förderband) benutzt man für einen Zweck, Werkzeug ist tote Materie. Als organischer Teil waren sie beseelbar durch den Arzt. In Jacobis und Ludwigs klassenspezifischem Blick formulierte sich Herrschaft mittels der Dichotomie von mechanisch vs. schöpferisch, die, siehe der Schreiber, als Gegensatz von ganzheitlichem Zweck vs. Wahrnehmung fragmentierter Einzelvorgänge, gedacht wurde. Zwei Beispiele zur Verdeutlichung – Paul Flechsig (1847–1929) hielt 1927 folgende Arbeitsteilung in Forschungsinstituten für selbstverständlich: Der Leiter lieferte „fruchtbare Ideen“, das „Mechanische an der Forschung“ könne ein Labordiener machen.50 47 48 49 50

Ebda., 288–291. Ebda., 301. Georg Ludwig, Schlusssätze, Referat auf der 27. Versammlung des südwestdeutschen psychiatrischen Vereins in Karlsruhe, 9./10.11.1895, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 52/1896, 1135. Paul Flechsig, Meine myelogenetische Hirnlehre. Mit biographischer Einleitung, Berlin 1927, 49.

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Hier mind, da machine, hier männlich befruchtender Geist, dort mechanisch-reaktive mater/Materie. Um 1900 kritisierte Korbinian Brodmann (1868–1918) Theodor Kaes’ (1852–1913) Hirnmessungen heftig. Er zog Kaes’ Resultate mit der Frage in Zweifel, ob Kaes mikroskopische Messungen durch seinen Laborhelfer Richard Muss (?–1930) habe machen lassen. Kaes defensiv: Die Messungen stammten auch von Muss, den er aber stets kontrolliert habe. Das fand Brodmann „ungebührlich“.51 Ein Labordiener konnte nicht mikroskopieren. Mechanische Werkzeuge erzeugen keine Wahrheit, sie verwirren sie, also die Ordnung der Welt. Brodmann sah eine (klassenspezifische) Hierarchie von Aufgaben und Fähigkeiten: Nur akademische Bildung, Bürgern vorbehalten, befähigte zu richtiger Messung. Wärterinnen und Wärter wurden diffamiert: Ernst Horn (1774–1848) sah 1818 „veraltete Tagelöhner, verdorbene Handwerksgesellen“, „zweideutig abgelebte Mädchen“.52 Es waren Qualitäten nötig, von denen die „Menschenklasse“, aus der die Wärterinnen und Wärter kamen, „nicht einmal eine Ahnung hat“.53 Später wurde dieser Klassendünkel biologisiert. Ein Direktor meinte 1892, das Gros der Wärterinnen und Wärter bestehe „aus ungeeigneten, unzuverlässigen und degenerierten Elementen“.54 Warum diese Klagen? (i) Weil die von Ärzten genannte Qualifikation nicht auf qualifiziertes Fachpersonal abzielte, skill meinte (z. B. Wissen über Dekubitusprophylaxe), sondern auf Haltung, attitude. Wärterinnen und Wärter sollten Kranke „mit Liebe und Schonung behandeln, sollen sich in Ansehen und Achtung bei ihnen setzen und zugleich wieder die niedersten Dienste bei ihnen versehen!“ – nämlich als Auf-Wärter; sie sollten „gewandt, im Umgang“ mit Hoch und Niedrig sein, sollten vorteilhaft gebaut und gesund sein, ehrlich und mäßig.55 Organisationen können nicht alles zur Mitgliedschaftsbedingung machen.56 Die Dienstordnung konditioniert Ver-Halten (schlägt dich ein Geisteskranker, darfst du nicht zurückschlagen), aber nicht Haltung (die man u. U. anerziehen kann: daher wollten Irrenärzte ihr Personal selbst ausbilden): Ein McDonalds-Verkäufer soll freundlich sein – das lässt sich (nach-)machen. Es geht um Beruf, nicht Berufung. Das ist ein Grund, warum unklar ist, ob Wärterinnen und Wärter Anstalts-Mitglieder waren: So konnten sie es nicht sein, weil diese Forderungen nicht als Mitgliedschaftsbedingung taugen. (ii) Der Mitgliedsstatus lässt sich noch anders bezweifeln, da Wärterinnen und Wärter ein Zwischending, eine Hybridbildung waren. Wie Kranke sollten sie in der Anstalt veredelt werden. Manche Attribute der Wärterinnen und Wärter ähneln Attributen des Irreseins. Als besonders different wurde die Impulsstruktur im Vergleich zu bürgerlicher Selbstdisziplin gesehen: „Herrschaft über sich selbst“ musste jeder, der mit Irren zu tun hatte, soweit besitzen, dass die 51 52 53 54 55 56

Vgl. Kai Sammet, Wilhelminian myelinated fibers – Theodor Kaes, myeloarchitectonics and the asylum Hamburg-Friedrichsberg 1890–1910, in: Journal of the history of the neurosciences 15/2006, 56–72. Zit. n. Thomas Höll / Paul-Otto Schmidt-Michel, Irrenpflege im 19. Jahrhundert. Die Wärterfrage in der Diskussion der deutschen Psychiater, Bonn 1989, 23. Ebda. Roller, Die Irrenanstalt, 298; zit. n. Gross, Allgemeine Therapie, 98. Meine Hervorhebung. Roller, Die Irrenanstalt, 299–300. Ich folge wieder Kühl, Organisationen, 102–119.

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schlimmste „Bosheit keinen“ Zornausbruch „hervorrufen darf“, doch war es Wärterinnen und Wärtern „so natürlich“ Tücke „mit Prügeln auszutreiben“.57 Selbsterziehungsarbeiten hatten Ärzte durchlaufen, Wärterinnen und Wärter nicht, also mussten auch sie erzogen werden, auch sie waren Kinder. Wärterinnen und Wärter wie Irre sollten an die Vernunft des Gott-Arztes angeschlossen werden. Mehr als die Dienstordnung nütze „mündliche Belehrung“.58 Das wird noch 1912 so gesehen. Wichtigstes Ausbildungsmittel war Schulung durch Ärzte auf der Station: stetes Dozieren und Demonstrieren „unter aufklärender und suggestiver Bearbeitung des Personals“.59 Wenn Ärzte die Dienstordnung (entschiedene Entscheidungsprämisse) hintansetzten und mündlich erzogen, schalteten sie auf Informalität um, die für sie nötig war, weil „Probleme“ auftauchten, „die nicht durch Anweisungen gelöst werden“ konnten.60 Informale Erwartungen können „nicht mit Bezug auf die Mitgliedschaftsbedingungen formuliert werden“. Man kann nicht entschiedene Entscheidungsprämissen (z. B. kleiner Dienstweg, über dessen Begehung nie explizit entschieden wurde) und unentscheidbare Entscheidungsprämissen (eben: attitude) unterscheiden. Informalität ist wichtig, da Organisationen, die nur nach Dienstordnung gehen, an Regulation ersticken; zudem kann man nicht alles formalisieren (attitudes), es wird auch nicht alles formalisiert (kleiner Dienstweg), dauernd wird „zwischen Formalität und Informalität“ geswitcht, da Organisationen mit „widersprüchlichen Anforderungen konfrontiert“ sind. Informalität kann mit Formalität kompatibel (Wärterbelehrung), gegen Organisationsregeln verstoßend (Obstgeschenke sieht der Ökonom nicht: sonst arbeitet der Gärtner gut) oder illegal (Wärtergewalt) sein. Bisher habe ich Arbeiten erwähnt, ohne das zu spezifizieren. Was heißt Arbeit? EINIGE BEGRIFFSEXPLIKATIONEN VON ARBEIT Wie erwähnt gibt es nicht den Arbeitsbegriff, sondern Arbeitsbegriffe. Was meinte Arbeit und formte so das Verständnis der Arbeit (als Therapie)? Ursprünglich meinte Arbeit61: (i) Qual, Mühsal. In Griechenland war sie eines Bürgers unwürdig. (ii) Jüdisch-christlich galt Arbeit als Strafe für die Ursünde, doch wurde sie auch aufgewertet. Sie zeigte den Charakter eines Menschen, bewahrte vor Laster, Faulheit, vollendete die Schöpfung, war Auftrag im Dienst an anderen. (iii) Seit dem 18. Jahrhundert kamen Bedeutungen hinzu. Die politische Ökonomie verstand Arbeit als wertschöpfend, sie war Quelle des Reichtums: Ökonomisierung der Arbeit. (iv) 57 58 59 60 61

Roller, Die Irrenanstalt, 298. Ebda. Gross, Allgemeine Therapie, 100. Kühl, Organisationen, 133. Zum Folgenden Kühl, Organisationen, 117–130. Manfred Riedel / Werner Conze, Arbeit, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd.1, Stuttgart 1972, 154–215; M. Chenu / H. J. Krüger, Arbeit, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hgg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Darmstadt 1971, Sp. 480–487.

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Das verband sich mit Anthropologisierung. Für Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) war Arbeit Teil des Bildungsprinzips der Person. Das hatte Folgen fürs bürgerliche Selbstverständnis: Bildung, Persönlichkeit, Leistung begründeten den Anspruch des Bürgertums auf Belohnung und Einfluss. (v) Die dritte Bedeutungserweiterung physikalisierte Arbeit.62 Zentral war die Metapher des human motor: Natur, Maschine, Körper waren Energie in mechanische Arbeit umwandelnde Motoren. Diese Metapher verband biologische, physikalische und soziale Ideen. Bedroht war der energetische Kreislauf durch Entropie, im Körper durch Erschöpfung, Krankheit. Ermüdung stand Wille, Moral und nationaler Stärke entgegen. Das wurde nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland prominent. (vi) Arbeit als Nationale Arbeit spiegelte die Herausforderung durch Imperialismus und Weltmarktkonkurrenz. Das war nicht (nur) ökonomisch gemeint. Wie eine Nation arbeitete, zeigte ihre ‚Volkspersönlichkeit‘. Wer arbeitete, gestaltete die Volkspersönlichkeit mit. Arbeit und Arbeitskraft sollten Kriegsverheerung und Versailles-Demütigung wettmachen. Was aber machte in der Anstalt Arbeit mit dem kranken Gehirn? WIRKUNGEN DER ARBEIT ALS THERAPIE Bezogen auf die Anstalt tauchten Semantiken von Arbeit als deren therapeutischer Sinn auf. Wie funktionierte die Produktion innerer durch äußere Ordnung? Arbeit als Therapie und Anstalt als Heilmittel wurden gleichartig beschrieben.63 Um 1830 sollte Arbeit zu Selbst-Herrschaft, Versöhnung und Freundschaft (zurück-)führen. Sie erzeugte Ruhe, Frohsinn, Vergessen, Dulden. Sie unterbrach die Assoziationskette falscher Vorstellungen. Gute Sitten und Ordnung in der Anstalt waren nur durch Arbeit möglich. Ohne sie waren Kranke ziel- und nutzlos agitiert, verfielen in Blödsinn. Arbeit setzte Ziele und Nutzen, das artikulierte die aufklärerische Nützlichkeitsidee: „Die Idee der Zweckmäßigkeit“ durch Arbeit erwecke und stärke das „Vertrauen“, an dem der Arzt wie Ariadne ins „Labyrinth des verworrenen Geistes“ dringe. Diesen Zweck erfüllte Garten- und Feldarbeit am besten. Dort lohne „der Segen der Natur“ jede Mühe „mit köstlichen Früchten“. Mühsal und Paradies, Vollendung der Schöpfung in der Köstlichkeit der Resultate: ähnlich lautete das auch um 1900. So spielte Albrecht Paetz (1851–1922) 1897 auf die Bibel an: „durch den Zauber und Reiz, welchen der Feldbau durch den natürlichen Instinkt einflößt, der den Menschen antreibt, die Erde fruchtbar zu machen“, fühle sich der Kranke glücklich.64 Auch Paetz glaubte, dass Kranke ohne Arbeit ‚verblödeten‘. Er sah Arbeit auch ökonomisch, sie sollte Kosten senken, aber er wollte keine kalkülisti62 63 64

Cf. zum Folgenden Anson Rabinbach, The human motor: energy, fatigue, and the origin of modernity, New York 1990. Der folgende Überblick nach Roller, Die Irrenanstalt, 178–192, der die Positionen bis 1830 wiedergibt. Das Folgende nach Albrecht Paetz, Die Beschäftigung der Geisteskranken, in: Irrenpflege 1/1897, 7–14.

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sche Ökonomisierung: Der Kranke sei „nicht der Arbeit wegen, sondern diese für ihn da“, er sollte zu einem aktiven, nützlichen Mitglied der „Anstaltsgemeinschaft“ erzogen werden. Das Wort Gemeinschaft ist kein Zufall. Lange Zeit wurde diese Gemeinschaft als Familie (und eben nicht als Organisation), der Arzt-Monarch als Hirte, Seele, Gott oder pater familias konstruiert. Nach 1920 tauchte eine (auch) anders verstandene Gemeinschaft auf. HERMANN SIMON: ARBEIT ALS „KÄMPFENDE BETÄTIGUNG UMS DASEIN“ Hermann Simons Anstalt der „aktiveren Therapie“65 war für die Zeit der Weimarer Republik paradigmatisch. Praktisch entwickelt, aber theoriesatt, kombinierte Simon u. a. Hobbesianische Anthropologie mit einer Pädagogik der (Selbst-)Beherrschung und Darwinismus. In der Begründung begegnet man bekannten Semantiken, aber auch einer Biologisierung/Sozialdarwinisierung von Arbeit. Simon entwarf die Anstalt als (leider? zu verschmusten) sozialdarwinistischen Organismus und (kollektive) Gemeinschaft: Leben war Tätigkeit (also Untätigkeit lebensfeindlich, zum Verfall führend), Psychiatrie angewandte Biologie. Nichtstun schadete, auch dem Kollektiv: Untätige Kranke verloren die Verbindung zur Umwelt, wurden „bösartig“, „heimtückisch“. Wahrscheinlich lag Psychosen eine toxische Hirnschädigung zugrunde, nicht therapierbar, Therapie blieb symptomatisch. Dennoch war Stoffwechselaktivierung durch Arbeit (die Atmung, Herz, Kraft verbessere) zentral; diese Aktivierung wirkte auch psychisch, sie beruhige, ordne, gewöhne an Einfügung in die Gemeinschaft. Simon nutzte die Faulheit-ist-Laster-Metapher: Müßiggang war des Lasters und der Verblödung Anfang – das wussten auch Pinel und Paetz. Die Laster der Kranken waren nicht krankheits-, sondern anstalts-, gesellschaftsbedingt, Artefakte, die Anstalt züchtete unsoziales Verhalten. Man hatte versäumt, die Anstalt als natürliche Umwelt zu konstruieren. Bei Untätigkeit flüchte sich der Rest an Aktivität in Abwegigkeiten (Manieren, Stereotypien), Nichtstun führte zu planlosem Umherlaufen, wieder fehlte der Zweck des Tuns. Herumlungern machte gereizt, Konflikt und Gewalt folgten. Es war falsch gewesen, Geisteskranke als nicht verantwortlich für ihr Tun anzusehen. Der Kranke war Mitmensch. Sein geistiges Leben folgte denselben Gesetzen wie das Gesunder, war nur gemäß der Schädigung verändert. Dem Kranken Verantwortung abzusprechen, raubte ihm Wille und Kraft zur Selbststeuerung, die aktivere Therapie erhielt und förderte. Mehr als Gesunde waren Irre stimmungslabil, von Äußerem abhängig. Die Psy65

Das Folgende aus: Hermann Simon, Aktivere Therapie in der Irrenanstalt, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 81/1925, 425–431; Hermann Simon, Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 87/1927, 97–145; Hermann Simon, Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt. 2. Teil, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 90/1929, 69–121, 245–309; Simon, Aktivere Krankenbehandlung. Historisch genauer als ich: Bernd Walter, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne: Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn 1996; vgl. zu Simon auch den Beitrag von Monika Ankele in diesem Band.

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chose zeigte die ursprüngliche Person durch Ausschaltung der Selbstführung. Selbstverantwortung war das höchste Gut des Lebewesens, ihr verdankte es sein Dasein. Eigentlich wollte jedes Lebewesen sich und seine Art der Umwelt gegenüber durchsetzen, es suchte Lust, mied Unlust, stand im Kampf mit der Umwelt. Die Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt folgte dem Logos aller Schöpfung (wenn nicht durch Kultur entstellt, was man in Anstalten sah, wo der Daseinskampf gemildert war). Dieser Logik gemäß führte Nichtanpassung zu Unlust, Schaden, Untergang. Lebten Lebewesen (so der Mensch) in Gruppen, milderte sich Verantwortung, der Einzelne musste sich an die Gruppe als Umwelt anpassen. Kultur war naturfeindlich, zwang zur Beherrschung egoistischer Triebe, Zusammenleben richtete sich nach Sitten und Gesetzen, denen sich das Individuum fügen musste, sonst fiel die Gemeinschaft auseinander. Das widerstrebte der Veranlagung. Simon konstruierte sich den Menschen als ursprünglich antisozial. Das nicht erzogene Kind war egoistisch, rücksichtslos, brutal, hemmungslos. Kurz: Geboren wurden wir als kleine Raubtiere. Daher erlaubte der Schutz der Gemeinschaft auch Gewalt. Erziehungsziel war Beherrschung antisozialer, Entwicklung sozialer Eigenschaften. Nur der Kulturmensch, so Simon (bildungsbürgerlich-männlich), erkenne die Tatsachen, könne sich willensstark einfügen, sich selbst erziehen. Diese ‚Elementarbiologie‘ war Basis der Psychotherapie. Dissozialität war Folge fehlender Kinderstube. Tüchtige Kranke aus tüchtiger Familie zeigten störende Symptome, aber keine unsozialen wie schlecht erzogene (schlechte Manieren, Bösartigkeit, Gewaltbereitschaft). In der Anstalt hatte man das Erziehen, das hieß also: die ‚logische Reaktion der Umwelt‘ auf eine (abzudressierende) Eigenart, vernachlässigt. Bei der jetzigen Art naturfeindlicher Fürsorge züchte man Parasitismus sozialis als Volksübel. Manche Volkskreise hielten es für Unglück zur Arbeit gezwungen, für Glück von Arbeitsnot frei zu sein. Doch nur in Arbeit (i. e. in kämpfender Betätigung ums Dasein) lag menschenwürdiges Leben. Die aktivere Therapie hatte mehrere Stufen, je nach Krankheitsgrad. Inaktivität war verpönt, sonst waren Kranke der Krankheit hilflos ausgeliefert, sie durften nichts tun, was diese nährte, das Produzieren schizophrener Kunst war zu verbieten. Simon wollte Arbeit in Garten und Feld. Ziel war Entlassung des geheilten, zumindest sozial besseren Kranken, erreichbar war größere Unabhängigkeit der Lebensführung, es war nicht nur für den Staat nötig, sondern auch für die Kranken, soweit als möglich die Lasten für die Allgemeinheit zu mindern. (Erziehungs-)Therapie benötigte eine bestimmte Anstaltsorganisation. Der wichtigste Teil aktiverer Therapie fand im Kopf des Arztes statt. Eine Anstalt war ein lebendiger Organismus, entstanden aus Erbe und Umwelt. Es herrschte ein Familienmilieu. Erfolge waren Folge des Geistes der Anstalt. Wie bei jeder Therapie musste individualisiert werden, schon das machte den ärztlichen Einfluss auf alle Teile der Anstalt, wo Kranke tätig waren – und das war die ganze Anstalt –, nötig. Dabei war der Arzt das unpersönliche Relais, die logische Reaktion auf das Tun des Kranken. Der Arzt war auf Mitarbeit durch aufmerksames, tätiges, zuverlässiges Pflegepersonal angewiesen. Pfleger durften selbstverantwortlich z. B. Randalierer entfernen, Ruhe war oberstes Gebot (also wieder eine Mittel-Zweck-Verdrehung). Daher durften Oberpfleger, wenn nötig, Medikamente geben, der Arzt kontrollierte

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später. Simon war stolz: Was Streit und Konflikt anging, war seine Anstalt modernen Parlamenten überlegen, Konflikt war also per se von Übel, Einmütigkeit des Tuns aller war nötig. Der Zweck der Anstalt war wie erwähnt Heilung psychischer Devianz gewesen. Heilung der Hirnschädigung war nicht möglich, aber Restitution ins Gemeinschaftsleben, Aberziehen unsozialen, nur psychogenen durch Laisser-aller entstandenen, nicht zur Krankheit gehörigen Verhaltens. Simon trennte ohne Begründung Krankheitssymptome von jenen, die Nichtstun erzeugt hatten. Psychisch war, was sich umerziehen ließ, nicht das, was Ausdruck der Psychose war. Deviant war gemeinschaftsfeindliches Verhalten. Die Anstaltsgemeinschaft sollte eine Art Naturimitat in seiner ‚Unternehmens‘-Kultur sein: Einmütiges, biologistisches Reagieren auf Konflikt, A-Sozialität und Faulheit. Geborene Raubtiere im Naturzustand, in der Psychose in amoralische Tiere zurückverwandelt (weil Selbstbeherrschung fehlte), mussten Menschen wieder zu Selbst-Führung, d. h. Einfügung in die familiäre Gemeinschaft erzogen werden. Simon nutzte eine Dichotomie, die besonders nach dem Ersten Weltkrieg reüssierte: Gemeinschaft vs. Gesellschaft.66 Eine Gemeinschaft ist durch einen Zweck, einen Willen verbunden. Sie ist homogen, kollektivistisch-antiindividuell. Gesellschaft ist heterogen, jeder verfolgt Einzelzwecke (was notwendig zu Konflikt führt). Nationale Arbeit konstruierte eine arbeitsteilig-kapitalistisch-individualistische Gesellschaft als Gemeinschaft, in der je schon vorgängige Übereinstimmung von individuellem und kollektivem Willen herrschte. Aber bedroht jeder Konflikt, jedes individuelle Interesse schon die Gemeinschaft? Simons Anstalt zwang bürgerliches Arbeitsethos, Erziehungsdressur, Sozialdarwinismus, Arbeitsgesellschaft in eine organizistisch-totale Gemeinschaftsideologie nationaler Arbeit zusammen. Das sieht man u. a. an der versuchten Ausdünnung von Informalität, des, so Goffman, Unterlebens der Anstalt,67 die verstärkte Kontrolle möglich machen sollte. Die offizielle Meinung einer Organisation über ihre Mitglieder unterscheidet sich von deren Selbstsicht. Die Handlungserwartung der Organisation impliziert Annahmen über die Identität des Mitglieds. Primär angepasst ist ein Kranker, der sich an die Regeln hält. Er passt „seine Haltung sichtbar der Anstalt und der von dieser“ über ihn „gehegten Vorstellung“ an. Dann zeigt er nicht nur ein bestimmtes Ver-Halten, sondern eine bestimmte attitude, Haltung. Verfolgt er unerlaubte Ziele, dann lehnt er das ihm zugewiesene „offizielle Selbst und die ihm offiziell verfügbare Welt“ ab, er ist sekundär angepasst. Handlungen vorschreiben bedeute, Welt und Weltsicht vorschreiben; wer eine Regel missachtet, weist eine Identität zurück. Psychiater glaubten, für Anstaltsinsassen sei sekundäre Anpassung nicht möglich, denn alles, was ein Kranker „zu tun veranlaßt wird“, gehört zur Behandlung; alles, was der Kranke „von sich aus tut“, ist entweder Symptom der Krankheit oder seiner Heilung. In der Anstalt der aktiveren Therapie erhielten Fleißige Belohnungen als Ansporn (z. B. Rauchwaren, Obst, Gebäck). Primäre und sekundäre Anpassung in Simons Anstalt ließ sich an Tun bzw. Nicht-Tun 66 67

Manfred Riedel, Gemeinschaft, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 3. Bd., Darmstadt 1974, Sp. 239–43. Das Folgende nach Goffman, Asyle, 167–304. Zitate: 182 f., 200.

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ablesen. Wer arbeitete, zeigte eine attitude, wer nicht arbeitete: auch. Die Anreize sollten zudem informelle Flüsse wie Tauschhandel verstopfen, Agieren auf den der Organisation abgewandten, sich in Winkeln herumdrückenden Seiten ausgedünnt werden – durch verknappte Zeit (wer arbeitet, hat keine Zeit, herumzulungern) und bessere direkte Kontrolle in den kleinen Arbeitskolonnen. STADT UND LAND ALS ANSTALT: OFFENE FÜRSORGE Um 1925, Fürth in Franken. Ein arbeitsreicher Tag!68 Valentin Faltlhauser (1876– 1961) stieg aus dem Zug, ließ sich auf dem Weg zum Polizeiinspektor von einer Fürsorgepflegerin informieren: Ein Trinker schlug wieder seine Familie, eine Manikerin drohte zu dekompensieren. Auf der Polizei Besprechung von Akten, Inspektor und Arzt ‚bearbeiteten‘ einen vorgeladenen Trinker: Drohung der erneuten Einweisung. Nachmittags Nürnberger Fürsorge, wieder mündliche Berichte. Die Sprechstunde brachte einen Geschäftsmann, der wissen wollte, ob er eine Dame heiraten könne, deren Schwester in der Anstalt gewesen war. Dann zum Nürnberger Polizeiinspektor, wieder Akten. Bei Hausbesuchen traf Faltlhauser u. a. auf eine psychotische Patientin, die er einwies. Faltlhauser verkörperte das Erlanger Modell offener Fürsorge, aus der Anstalt entwickelt: Zuerst konnte die nachgehende Entlassenenfürsorge institutionalisiert werden; dann wurde die Außenfürsorge auf Psychopathen und Trinker ausgeweitet, Patienten, die bisher nicht in Anstalten waren; schließlich ‚wuchs‘ der Fürsorgearzt, der anfangs zur Anstalt gehörte, langsam ‚nach draußen‘, bis er nur noch extra muros arbeitete. Die offene Fürsorge hatte in der Weimarer Zeit keine weite Ausdehnung. Unter dieser Flagge segelte Heterogenes, also waren auch die Tätigkeiten unterschiedlich. Doch die Grundidee dieser verschiedenen Organisationsformen war stets gleich: Diffusion der Psychiatrie in die Gesellschaft. Blicken wir noch einmal in eine Nacht im Miniaturwunderland! Um 1830 wenige, aber kompakte Lichter der Vernunft. Um 1900 gibt es mehr Lichter mit anderer Anordnung. Anstalten werden in Pavillons verteilt. Diese Pavillons in Zerstreuung sehen aus wie Lichtpünktchen dicht beieinander. Der Großteil des Landes ist dunkel. Wäre die offene Fürsorge um 1930 flächendeckend gewesen, sähe man immer noch Stecknadelkissen an Licht, doch die Kissen, in einer Anstalt, wären kleiner. Daneben sähe man ein Lichtermeer: Das Land erstrahlte in visueller Vernunft, jedes Licht ein Kranker zu Hause. Gustav Kolb (1870–1938), Begründer des Erlanger Modells, argumentierte kustodial.69 Psychisch Deviante brauchten Schutz, waren unfähig, sich selbst zu helfen. Je komplizierter das Leben, je rabiater der Daseinskampf, je dichter besie68 69

Das Folgende eng nach: Ulrich Pötzl, Sozialpsychiatrie, Erbbiologie und Lebensvernichtung: Valentin Faltlhauser, Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee in der Zeit des Nationalsozialismus, Husum 1995, 59–61. Gustav Kolb, Die allgemeinen und besonderen Gründe für die Einrichtung der Fürsorge, in: Hans Roemer / Gustav Kolb / Valentin Faltlhauser (Hgg.), Die offene Fürsorge in der Psychiatrie und ihren Grenzgebieten, Berlin 1927, 154–159.

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delt Land und Stadt, desto weniger fanden sie sich zu Recht (Gesetzeskonflikte, Eigen-, Fremdgefährdung), desto stärker suchten sie Anlehnung. Speziell begründete Kolb offene Fürsorge damit, dass zunehmend leichtere Fälle in Anstalten kämen, die, oft schnell entlassen, schnell in Rückfälle gerieten. Es gab viele Entlassene, die ‚draußen‘ Betreuung brauchten. Schizophrene seien tätiger (i. e.: berufstätiger), wenn sie in gewohnten Verhältnissen lebten. Das rechnete sich. Die offene Fürsorge ermöglichte überhaupt die Rückkehr in die Familie, die „natürlichste, beliebteste, billigste, volkswirtschaftlich beste“ Art der Verpflegung. Forensische Patienten kamen unter Schutzaufsicht und mussten also nicht in eine Anstalt. Wissenschaftlich war offene Fürsorge ergiebig, die Anstalt zeigte nur Fragmente der Krankheit, nicht den Verlauf. Organisatorisch sollte die offene Fürsorge zentralistisch funktionieren: Hilfsvereine, Trinker-, Psychopathen-, Zöglingsfürsorge und Pflegeanstalten bedurften einer „einheitlichen Zusammenfassung“. Zentrale Kontrollinstanz sollte die offene Fürsorge auch in anderem Sinn sein. Die Revolution hatte psychopathische Führer nach oben gebracht, es war „Selbsterhaltungspflicht des Staates“ alle „minderwertigen Bewohner“ zu registrieren, um zu verhindern, dass solche ‚Elemente‘ verhängnisvoll wirken konnten, kurz: Prophylaxe machte die Erfassung aller Abnormen nötig. Sowohl bei der aktiveren Therapie als auch in der offenen Fürsorge wurde das Pflegepersonal verändert wahrgenommen. Simon war immer noch Monarch, aber seine Untertanen gehörten nicht mehr zu einer minderwertigen Klasse, ja, er hörte ihnen zu, das Pflegepersonal war in der Mitgliedschaftsrolle angekommen.70 Bei der offenen Fürsorge: Waren Anstalten vorher insofern ‚geschlossen‘ gewesen, als dass jedes Mitglied des Personals in der und durch die Anstalt sozialisiert worden sein sollte, so wünschten Psychiater auch hier, dass Ärzte und Fürsorgerinnen aus der Anstalt kamen. Doch gab es Regionen, wo die psychiatrische Fürsorge in eine bestehende Fürsorgestruktur eingefügt wurde. Dort konnten Fürsorgerinnen, die nicht aus der Anstalt kamen, psychiatrisches Tun mit übernehmen. Zudem wurden Hilfskräfte zugelassen: z. B. Vertrauensleute vor Ort, u. a. Pfarrer, Lehrer.71 Organisationssoziologisch fällt auf, dass in der offenen Fürsorge im Reigen der Zwecke Schreiben und Verwalten, kurz: das Regieren des Devianten, die Erfassung des Biokörpers zur Prophylaxe stark betont wurde. SCHLUSS Hat der organisationssoziologische Zugriff etwas gebracht? Vielleicht. (i) Historisch betonte man zwei Ziele: Neutralisierung sozialer, Heilung psychischer Devianz. (ii) Es gibt weitere Ziele: die Produktion psychischer Devianz als behandelbare Krankheit; Verwaltung, Statistik, das war aber schon Gesellschafts- und Biopolitik; Ökonomie; Wissensproduktion. (iii) Die Wärterfrage zeigt, dass Mitglied70 71

Vgl. dazu den Beitrag von Monika Ankele in diesem Band. Valentin Faltlhauser, Die Fürsorgeorgane, in: Hans Roemer / Gustav Kolb / Valentin Faltlhauser (Hgg.), Die offene Fürsorge in der Psychiatrie und ihren Grenzgebieten, Berlin 1927, 199–228.

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schaft historisch unterschiedlich verstanden wurde, ebenso Formen der Hierarchie. Ebenso zeigte sich, dass die Anstalt nicht nur als Organisation, sondern oft als andere Vergesellschaftungsform (z. B. Familie, Gemeinschaft) konzeptionalisiert wurde. (iv) Images of organisation verdeutlichen, dass ein nur rational-bürokratisches Verständnis von Anstalten zu kurz greift. Metaphern, Raumordnung und gesellschaftliche Ungleichheit waren auch Strukturmerkmale. (v) Es gibt nicht den Arbeitsbegriff, sondern Arbeitsbegriffe, abgelagerte Semantiken tauchen als therapeutischer Sinn von Arbeit auf. (vi) Die Darstellung der Weimarer Entwicklungen zeigte ein verändertes Verständnis der Mitgliedschaft des Personals und, bei der offenen Fürsorge, Ausweitung der Mitgliedschaft. (vii) Simon dachte Organisation als natürliche Gemeinschaft im doppelten Sinn: als Naturimitat des Daseinskampfes oder als (familiäre) Zusammengehörigkeitsgemeinschaft. Therapie erzog zu Gemeinschaft, ohne Therapie war der Kranke gemeinschaftsfeindlich (als gäbe es kein für eine Organisation neutrales Tun). (viii) Die nachgehende war auch eine prophylaktische Fürsorge und betonte Biopolitik. Zugegeben: dies war eine rudimentäre Skizze. Um die Irrenanstalt als Organisation zu verstehen, dazu bedarf es noch viel Arbeit. LITERATURVERZEICHNIS Arendt, Hannah: Vita activa oder vom tätigen Leben, Stuttgart 1960. Aristoteles, Metaphysik, Ditzingen 1970. Chenu, M. / Krüger, H. J.: Arbeit, in: Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Darmstadt 1971, Sp. 480–487. Faltlhauser, Valentin: Die Fürsorgeorgane, in: Roemer, Hans / Kolb, Gustav / Faltlhauser, Valentin (Hgg.): Die offene Fürsorge in der Psychiatrie und ihren Grenzgebieten, Berlin 1927, 199–228. Flechsig, Paul: Meine myelogenetische Hirnlehre. Mit biographischer Einleitung, Berlin 1927. Gatzemeier, M[atthias] / Holzhey, H[elmut]: Makrokosmos/Mikrokosmos, in: Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, 5. Bd., Darmstadt 1980, Sp. 640–649. Gerstmann, Josef: Die Malariabehandlung der progressiven Paralyse, Wien 1925. Gerstmann, Josef: Die Malariabehandlung der progressiven Paralyse, 2. Aufl., Wien 1928. Gieryin, Thomas F.: Boundary-work and the demarcation of science from non-science: strains and interests in professional ideologies of scientists, in: American Sociological Review 48/1983, 781–795. Goffman, Erving: Asyle, Frankfurt am Main 1981. Griesinger, Wilhelm: Ueber Irrenanstalten und deren Weiterentwicklung in Deutschland, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 1/1868, 8–43. Gross, A[dolf]: Allgemeine Therapie der Psychosen, in: Aschaffenburg, Gustav (Hg.): Handbuch der Psychiatrie, Allg. Teil, 4. Abteilung, Leipzig und Wien 1912, 49–208. Guttstadt, Albert: Krankenhaus=Lexikon für das Deutsche Reich, Berlin 1900. Hasse, Paul: Irren=Anstalten und ihre Organisation. Ein Wort zur Orientierung für Laien geschrieben, Braunschweig 1879. Höll, Thomas / Schmidt-Michel, Paul-Otto: Irrenpflege im 19. Jahrhundert. Die Wärterfrage in der Diskussion der deutschen Psychiater, Bonn 1989. Kieserling, André: Funktionen und Folgen formaler Organisation (1964), in: Jahraus, Oliver / Nassehi, Armin / Grizely, Mario / Saake, Irmhild / Kirchmeier, Christian / Müller, Julian (Hgg.): Luhmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2012, 129–134.

Neutralisierung „sozialer“ Folgen psychischer Krankheit

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PATIENTENARBEIT VOR DEM ERSTEN WELTKRIEG – THERAPIE UND ÖKONOMIE

PATIENTENARBEIT IN LÄNDLICHEN PSYCHIATRISCHEN ANSTALTEN IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN THERAPEUTISCHEM ZWECK UND ÖKONOMISCHEM NUTZEN Thomas Müller Die historiographische Bearbeitung des Themas „Arbeit“ boomt. Bei weitem nicht zum ersten Mal, jedoch erneut in den letzten Jahren, ist das Thema Gegenstand von Diskussionen, Tagungen und Forschungsprojekten in den Geschichts- und Kulturwissenschaften geworden. Untersucht wird „Arbeit“ unter anderem hinsichtlich ihrer Differenzierung in agrarischer1, industrieller oder anderer Form, hinsichtlich ihrer freien versus unfreien Ausübung, vor dem Hintergrund verschiedener politisch-gesellschaftlicher Systeme2, oder auch in zeithistorischer und gegenwärtiger Perspektive, mit dem Fokus auf der Wechselwirkung zwischen globalen Prozessen und ihrem Einfluss auf lokale Verhältnisse3. Etwas anders verhält es sich mit der Geschichte der Medizin, insbesondere der Geschichte der Psychiatrie: Die Bedeutung von seitens Patientinnen und Patienten verrichteter Arbeit im Spannungsfeld zwischen therapeutischem Sinn und Zweck zum Wohle der sie Verrichtenden einerseits, und dem ökonomischen Nutzen für die diese Arbeit Organisierenden andererseits, ist erst in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten, was angesichts der hohen Bedeutung, die der Arbeit von Patientinnen und Patienten – im therapeutischen Sinne – nicht erst im 20. Jahrhundert zugeschrieben wurde, nachgerade nur erstaunen kann. Der vorliegende Beitrag fokussiert auf den Aspekt der Arbeit von psychiatrischen Patientinnen und Patienten im Anstaltsalltag südwürttembergischer Heilbzw. Pflegeanstalten. Die charakteristischen Formen, Möglichkeiten und Struktu1

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Vgl. zum Beispiel die Beiträge zu der Tagung „Global History of Agrarian Labor Regimes, 1750– 2000“ der Weatherhead Initiative On Global History, Harvard University, Cambridge (MA), , 24.02.2014. Siehe hier zum Beispiel die Publikation Sabine Lichtenberger / Günter Müller (Hgg.), „Arbeit ist das halbe Leben…“. Erzählungen vom Wandel der Arbeitswelten seit 1945 (Damit es nicht verloren geht …, Bd. 65), Wien u. a. 2012, die sich entlang biographischer Methodologie auf verschiedene Formen der Erwerbsarbeit konzentriert, oder die 2013 neu angestoßenen Forschungen zur Gewerkschaftsgeschichte seitens der Friedrich-Ebert-Stiftung. Siehe zum Beispiel die von Jakob Tanner initiierte Forschung des Schweizerischen Sozialarchivs in transnationaler Perspektive, die auch verhaltensmodulierende Aspekte, Berufskrankheiten, Arbeitstherapie und andere medizin(-histor-)isch relevante Themen einschließt, , 24.02.2014.

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ren dieser Arbeit sowie deren Organisation werden dargestellt. Beispielhaft werden hierzu die älteste Anstalt Württembergs, Zwiefalten, ihre landwirtschaftlichen Kolonien Loretto und Gossenzugen, die an diese Anstalt assoziierte Psychiatrische Familienpflege sowie auszugsweise auch Aspekte weiterer einschlägiger Einrichtungen aus dieser südwestdeutschen Region herangezogen, wie unter anderem die etwa 30 Kilometer südwestlich von Zwiefalten liegende Heil- und Pflegeanstalt Schussenried sowie die circa 70 Kilometer südlich von Zwiefalten liegende Heilund Pflegeanstalt Weissenau bei Ravensburg. Bei den erwähnten agrikolen Kolonien handelt es sich um seitens der Anstalten erworbene, ehemals privatwirtschaftlich geführte oder neu gegründete Bauernhöfe, von denen in herkömmlichen Anstalten in der Regel zwei getrennte Kolonien gegründet wurden, um die auch in der stationären Versorgung seinerzeit noch übliche, strikte Geschlechtertrennung zwischen Patientinnen und Patienten aufrecht erhalten zu können. Ein zweiter Grund lag in den geschlechtsstereotyp zugewiesenen Arbeitsformen, die eine betriebliche Trennung von solchen Bauernhöfen arbeitsorganisatorisch und betriebswirtschaftlich ebenfalls sinnvoll erscheinen ließen: Die Frauen wurden sowohl mit stereotyp weiblichen Arbeiten wie Stricken, Nähen, Flicken, Spinnen, Wäsche ausbessern, Gemüse putzen, Geschirr spülen, Reinigen der Fenster und der Zimmerböden beschäftigt, als auch zu Gartenarbeiten herangezogen, die zum Teil jedoch auch von Männern ausgeübt wurden. Bei entsprechendem Wetter wurden alle Arbeiten, soweit es möglich war, in den Höfen verrichtet. Die Frauen nahmen hier auch das gemeinsame Mittag- und Abendessen ein. Die Männer wurden im Frühjahr, Sommer und Herbst zu Feld- und Gartenarbeiten, im Winter und an Regentagen zu Holzsägen und Holzspalten angehalten.4 Bei der sogenannten Familienpflege handelt es sich in den untersuchten und im Folgenden erwähnten Fällen ausschließlich um die sogenannte heterofamiliale Psychiatrische Familienpflege, d. h. die Unterbringung psychisch Kranker gegen ein Entgelt in fremden, nicht-leiblichen Familien. Der Schwerpunkt der hier vorgestellten Untersuchung liegt auf der Zeitspanne vom frühen 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Mit deutlicher Einschränkung wird auch zu den Kriegsjahren 1914–1918 Stellung genommen. Zu unterscheiden ist dabei – nicht allein in der untersuchten Region – zwischen Patientenarbeit: a) innerhalb der psychiatrischen Strukturen (also z. B. in agrikolen Kolonien, anderen Bereichen der Existenzsicherung der Anstalt sowie anstaltstypischen Handwerken) und b) außerhalb der Anstalten (u. a. weitere Handwerke, Familienpflege in landwirtschaftlichen Betrieben) Die Entwicklungslinien der beispielhaft herangezogenen Einrichtungen in Württemberg lassen sich hier und in einigen anderen Aspekten nicht vollends an die 4

Rudolf Camerer / Emil Krimmel, Geschichte der Königl. württembergischen Heilanstalt Zwiefalten 1812–1912, Stuttgart 1912, 79–80; Etatbericht Zwiefalten 1838/39, I, 24–25, in: Archiv des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg, Standort Zwiefalten.

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politische Ereignisgeschichte und ihre gesundheitspolitischen Implikationen anbinden. Diese Entwicklungslinien weisen in Teilaspekten vielmehr interessante Abweichungen, zum Teil auch eine gewisse Latenz auf oder verlaufen hinsichtlich einzelner Aspekte völlig divergent zur Entwicklung in anderen Regionen. Eine hieraus resultierende Frage ist, ob solche Kontraste mit einer „ländlich versus urban“Dichotomie der psychiatrischen Versorgung zu erklären sind, oder andere Erklärungen hierfür gefunden werden können. Vorausgeschickt werden kann hier, dass sich divergente Verläufe der regionalen Entwicklung – im Vergleich zur nationalen Situation – auch aus personengebundenen Entscheidungen ergaben. Hierauf wird weiter unten zurückzukommen sein. Die Primärquellen, auf denen dieser Beitrag aufbaut und anhand derer er bearbeitet wurde, stellen einerseits die umfangreichen jährlichen Berichte des jeweiligen Ärztlichen Direktors dar, die an das zuständige Innenministerium zu übermitteln waren. Zum Zweiten liegt eine bisher überregional wenig beachtete Schrift zweier ärztlicher Autoren aus dem Jahr 1912 vor, von denen einer, Dr. Rudolf Camerer (Lebensdaten bisher nicht ermittelbar), zum Zeitpunkt der Veröffentlichung als psychiatrischer Referent und Medizinalrat in eben jenem Ministerium angestellt war, und dessen zweiter Autor, Dr. Emil Krimmel (gest. 1935), seinerzeit als Ärztlicher Direktor der Anstalt Zwiefalten fungierte.5 PATIENTENARBEIT IN DER WÜRTTEMBERGISCHEN HEIL- UND PFLEGEANSTALT ZWIEFALTEN Doch zunächst zur Geschichte der Patientenarbeit selbst – am Beispiel der ältesten württembergischen psychiatrischen Einrichtung in Zwiefalten:6 Die kleine, ländlich geprägte württembergische Gemeinde am Fuß der Rauhen Alb beherbergte ab 1812 die älteste württembergische Irrenanstalt in den Mauern eines ehemaligen Benediktinerklosters. Im Juni 1812 wurden die ersten Patientinnen und Patienten, 46 „Geisteskranke“ des Ludwigsburger Tollhauses in die neue Königlich-Württembergische Staatsirrenanstalt Zwiefalten mittels Ochsenkarren umgesiedelt.7 5 6

7

Vgl. Camerer / Krimmel, Geschichte der Königl. württembergischen Heilanstalt. Vgl. hierzu auch die Publikation von Martina Huber / Thomas Müller, Patientenarbeit in Zwiefalten. Institutionelle Arbeitsformen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zwischen therapeutischem Anspruch und ökonomischem Interesse, in: Thomas Müller / Bernd Reichelt / Uta KanisSeyfried (Hgg.), Nach dem Tollhaus. Zur Geschichte der ersten Königlich-Württembergischen Staatsirrenanstalt Zwiefalten (Psychiatrie, Kultur und Gesellschaft in historischer Perspektive, Bd. 1), Zwiefalten 2012, 71–84, auf die in diesem Beitrag hinsichtlich verschiedener Aspekte ebenfalls Bezug genommen wird. Rescript König Friedrich I. von Württemberg zur Verlegung des „Tollhauses“ nach Zwiefalten, vom 10. May 1811, in: Hauptstaatsarchiv (HStA) Stuttgart E 31 BÜ, 1080; „Verzeichnis der nach Zwiefalten zu transportierenden Irren, und der zweckmäßigsten Art ihres Transports“, vom 3. März 1812, in: Dokumente zur Gründung der königlichen Irrenanstalt Zwiefalten 1812–1817, Staatsarchiv Ludwigsburg (StA LB), E 163, BÜ, 674, 675, 714 (Bibliothek Zwiefalten).

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Die Eröffnung der Zwiefalter Anstalt 1812 löste nicht allein symbolisch die Ära der sogenannten Tollhäuser ab, die in Württemberg nach der Verfügung von Herzog Carl von Württemberg (1728–1793) ab 1746 errichtet worden waren.8 Die Eröffnung Zwiefaltens fällt vielmehr in eine Zeit, in der in anderen Regionen Deutschlands zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt psychiatrische Krankenhäuser entstehen.9 Das Prinzip, dass körperliche Arbeit zu einer gesunden Lebensführung beiträgt und somit als Heilmittel zur Behandlung von Patientinnen und Patienten mit dem Ziel der Genesung beziehungsweise Besserung ihres Gesundheitszustandes eingesetzt werden kann, ist unter dem Begriff der Diätetik seit der Antike bekannt.10 In der Königlich-Württembergischen Heil- und Pflegeanstalt Zwiefalten wurden bereits ab den 1810er Jahren unter der Direktion von Narciß Schreiber (1774–1817)11, dem ersten ärztlichen Direktor der Anstalt12, einzelne Kranke bei sogenannter „guter Eignung“ mit Haus- und Hofarbeit regelmäßig beschäftigt.13 Im Überblick ist zu sagen, dass unter den Nachfolgern in der ärztlichen Leitung – Andreas Elser (gest. 1837)14 und Carl von Schaeffer (1808–1888)15 – solche Beschäftigungsmöglichkeiten für Patientinnen und Patienten weiter ausgebaut wurden.16 Schaeffer teilte in seinem ersten Etatbericht für das Jahr 1839 mit, dass es sich eine Heilanstalt zum Ziel setzen müsse, die „möglichst vollkommene Wiederherstellung der ihr anvertrauten Kranken“ zu erreichen.17 Demgegenüber bestünde die Aufgabe einer Pflegeanstalt darin, die „Blödsinnigen“ vor noch tieferem Versinken zu bewahren, die „Verrückten und Tollen“ von der Ausübung ihrer „wahnsinnigen und verbreche8 9

10 11 12 13 14 15 16 17

Siehe hier und im Folgenden bereits in der vorausgegangenen Arbeit des Verfassers, zus. mit Uta Kanis-Seyfried: Thomas Müller / Uta Kanis-Seyfried, Eine kurze Geschichte der Psychiatrie Württembergs, 9–56. So z. B. in Bayreuth, wo Johann Gottfried Langermann (1768–1832) ab 1805 das Irrenhaus in eine „psychische Heilanstalt“ für Geisteskranke umbauen ließ, in Pirna-Sonnenstein 1811, in der Stadt Schleswig die Einrichtung in Stadtfeld 1820, oder dem Sachsenberg bei Schwerin 1830. Siehe Renate Wittern, Zur Geschichte der psychiatrischen Versorgung in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (Hg.), Zur Rehabilitation in der Psychiatrie. München 1988, Absatz 3.1.1, sowie Asmus Finzen, Das Pinelsche Pendel. Die Dimension des Sozialen im Zeitalter der biologischen Psychiatrie (Sozialpsychiatrische Texte, Bd. 1), Bonn 1998, 10–39, hier insbesondere: 10–13. Heinz Schott / Rainer Tölle, Geschichte der Psychiatrie, München 2006, 436; Roy Porter, Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte, Zürich 2005. Dr. Narciß Schreiber, ärztlicher Direktor Zwiefaltens von 1812 bis 1817; Geburtsdatum nicht ermittelbar. Der Begriff „Anstalt“ soll hier der historischen Authentizität wegen gebraucht werden. An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass der Begriff im heutigen Kontext nicht mehr angemessen ist. Camerer / Krimmel, Geschichte der Königl. württembergischen Heilanstalt, 29, 79. Dr. Andreas Elser, ärztlicher Direktor von 1817 bis 1837. Dr. Carl von Schäffer, ärztlicher Direktor von 1838 bis 1874. Der Name des renommierten Anstaltsdirektors hat immer wieder unterschiedliche Schreibweisen erfahren (im Geburtsregister: Karl Schaeffer, in Publikationen: Karl Schäffer, Carl Schaeffer bzw. Carl Schäffer). Camerer / Krimmel, Geschichte der Königl. württembergischen Heilanstalt, 34. Etatbericht 1838/39, I, 13 (wie in Anm. 4).

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rischen Absichten“ abzuhalten und die „Sinnesgetäuschten“ vor „Spott, Verhöhnung und Misshandlung“ zu bewahren. Sie alle seien aber trotz ihrer Krankheit an die Macht einer vernünftigen Hausordnung zu zwingen und zu gewöhnen.18 Auch dürfe eine „wohlberechnete und individualisierende, psychisch-somatische Diätetik im weitesten Umfange des Wortes“, so Schaeffer, ebenso wenig fehlen wie die Behandlung der körperlichen Gebrechen der Kranken. Generell seien „alle Patienten auf eine Verbesserung oder Wiederherstellung ihres Gesundheitszustandes hin zu beobachten, mit größter Sorgfalt zu pflegen und durch alle zur Verfügung stehenden Mittel zu unterstützen und zu fördern“.19 Während der Direktion von Carl von Schaeffer wurden zum ersten Mal auch Kranke außerhalb der Anstalt als Arbeitskräfte eingesetzt, wie zum Beispiel im Straßen- und Hausbau, oder als Gehilfen lokaler Handwerker.20 Unter der ärztlichen Leitung von Julius L. A. Koch (1841–1908)21 wurden zwischen 1874 und 1898 zahlreiche bauliche Neuerungen durchgeführt, mit dem vorgeblichen Ziel, die Anstalt zu vergrößern sowie die Lebensbedingungen innerhalb der Anstalt zu verbessern.22 Durch den regen Arbeitseinsatz der Patientinnen und Patienten sowie die Vergrößerung der Anstalt florierte die anstaltseigene Landwirtschaft und konnte, ebenso wie die Tierhaltung, kontinuierlich ausgedehnt werden.23 Mit dem kollektiven Einsatz psychiatrischer Patientinnen und Patienten zur Arbeit in Haus- oder Landwirtschaft stellt sich die Frage nach dem Konflikt zwischen dem tatsächlichen therapeutischen Nutzen dieser Arbeit für die / den Einzelne/n einerseits und dem wirtschaftlichen Vorteil, den die Anstalt durch die Patientenarbeit andererseits genoss. Befürworter der Patientenarbeit sehen deren Anspruch in der Sinnhaftigkeit der Arbeit selbst sowie der positiven Auswirkung der körperlichen Betätigung auf Nachtschlaf und Ordnung der Gedanken, also einer nach medizinisch-psychiatrischem Dafürhalten sogenannten gesunden Tagesstruktur, wie Schott und Tölle dies bezeichnen.24 Carl von Schaeffer in Zwiefalten sah den Nutzen – im Besonderen bei Garten- und Feldarbeit – darin, dass die Arbeiter durch die intellektuell anspruchslose Beschäftigung an der frischen Luft und in Gesellschaft anderer das Zusammenleben wieder erlernten, er betonte also den sozial-reintegrativen Aspekt von „Arbeit“.25 Die abgeschiedene Lage in dieser dünn besiedelten Region schien König Friedrich I. von Württemberg (1754–1816) und den verantwortlichen Ministern des Innern und der Finanzen in Stuttgart ideal für die dauerhafte Unterbringung

18 19 20 21 22 23 24 25

Etatbericht 1838/39, I, 14 (wie in Anm. 4). Camerer / Krimmel, Geschichte der Königl. württembergischen Heilanstalt, 79; Etatbericht 1838/39, I, 16–17 (wie in Anm. 4) Cramer / Krimmel, Geschichte der Königl. württembergischen Heilanstalt, 79–81. Dr. Julius L. A. Koch, ärztlicher Direktor von 1874 bis 1898. Camerer / Krimmel, Geschichte der Königl. württembergischen Heilanstalt, 117. Hellhörig wird man, wenn zu lesen ist, dass auch bei den Bauarbeiten Zwiefalter Patienten als Arbeitskräfte eingesetzt wurden, ebda., 119. Ebda., 101, 130. Schott / Tölle, Geschichte der Psychiatrie, 436 ff. Camerer / Krimmel, Geschichte der Königl. württembergischen Heilanstalt, 101.

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Geisteskranker zu sein26 und entsprach zeitgenössischen Auffassungen darüber, welche Umgebung sich heilsam auf die Kranken auswirke.27 Darüber hinaus spielten ökonomische Erwägungen eine Rolle: Das ehemalige Zwiefalter Klostergebäude erschien, wie später bei Eröffnung der Heil- und Pflegeanstalten Schussenried 1875 und Ravensburg-Weissenau 1892, als günstige Lösung, da Umbauten in jedem Fall als ökonomischer und kostengünstiger denn Neubauten berechnet wurden, wie dem erwähnten Bericht zu entnehmen ist. Um dieses Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, überwachte auch in Zwiefalten eine eigens hierfür eingesetzte Kommission den Umbau des ehemaligen Benediktinerklosters.28 ARBEIT UND BESCHÄFTIGUNG, THERAPIE UND BEHANDLUNG Wenn es ihr gesundheitlicher Zustand erlaubte, wurden Kranke mit verschiedensten Arbeiten beschäftigt. Die Arbeiten, die innerhalb der Anstalt anfielen, wurden eingangs beschrieben. Auch außerhalb der Anstalt entstanden jedoch Arbeitsangebote: „Einzelne männliche Kranke hatten freien Ausgang und arbeiteten um den gewöhnlichen Taglohn“ bei Einwohnern von Zwiefalten.29 Bereits durch ein Dekret vom 16. Januar 181630 hatte das Ministerium denjenigen Kranken, die mit Arbeiten beschäftigt wurden und der Anstalt nützten, einen geringen Lohn zugesprochen, um davon sogenannte Erfrischungen kaufen oder ihre Kost verbessern zu können.31 Bereits im ersten Jahr von Schaeffers Amtstätigkeit arbeiteten fast zwei Drittel aller Kranken täglich, die Möglichkeiten von Patientenarbeit wurden erweitert. Der Garten, ein ehemaliger Klostergarten, wurde von ihnen neu angelegt und mit Wegen versehen. Obstbäume wurden gesetzt und Anlagen geschaffen, die der Verschöne26

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29 30 31

Zur Psychiatriegeschichte Württembergs, auch Zwiefaltens, siehe die beiden frühen Arbeiten von Renate Wittern, Vom Tollhaus zur psychiatrischen Klinik – Zur staatlichen Irrenpflege im Württemberg des 19. Jahrhunderts, in: Hans Schadewaldt / Jörn Henning Wolf (Hgg.), Krankenhausmedizin im 19. Jahrhundert, München 1983, 112–127, sowie die oben bereits erwähnte Arbeit aus 1988. Sehr deutlich wurde diese Anschauung seitens des renommierten Psychiaters Christian Friedrich Wilhelm Roller (1802–1878) vertreten, der aus der 1842 im badischen Illenau eröffneten Heil- und Pflegeanstalt eine Modelleinrichtung schuf, die für mehrere Jahrzehnte auch jenseits nationaler Grenzen Vorbildcharakter hatte. Camerer / Krimmel, Geschichte der Königl. württembergischen Heilanstalt, 10; Bericht Kommission Besichtigung Kloster Zwiefalten am 18. 5. 1811, in: StA LB, D 39, BÜ 804, Genehmigung mit K. Dekret vom 5. Juli 1811; vgl. Isabel Hegenbarth, Von der Verwahrung zur Behandlung. Die Anfänge des „Königlichen Irrenhauses Zwiefalten“ betrachtet vor dem Hintergrund der entstehenden Psychiatrie des frühen 19. Jahrhunderts. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Tübingen 1994, 50; vgl. auch Müller / Kanis-Seyfried, Eine kurze Geschichte der Psychiatrie Württembergs, 14. So Camerer / Krimmel, Geschichte der Königl. württembergischen Heilanstalt, 29, im Wortlaut; Visitationsbericht Zwiefalten vom 30. August 1816, in: StA LB, E 163, BÜ 766. Vgl. Camerer / Krimmel, Geschichte der Königl. württembergischen Heilanstalt, 25. Während über die Höhe der Belohnungen zuerst eine nähere Bestimmung nicht getroffen war, wurde im Jahre 1817 angeordnet, dass als Maximum „jeder Person, die arbeite, täglich 8 Kreuzer gegeben werden dürften“, vgl. ebda., 29.

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rung des Geländes dienten.32 Schaeffer forcierte die oben erwähnten und seit 1816 bestehenden Möglichkeiten für arbeitende Kranke, auch außerhalb der Anstalt tätig zu werden.33 Zu diesem Aspekt äußerte er sich dezidiert in den vorliegenden Jahresberichten.34 Darüber hinaus wurde nahezu der gesamte Holzbedarf der Beamten und wohlhabenderen Bürger des Ortes nun ebenfalls von Patientinnen und Patienten bereitgestellt. Keller und Fundamente von neu zu erbauenden Häusern wurden von ihnen gegraben, und für eine Straßenbaumaßnahme durch den Ort Zwiefalten hoben männliche Patienten große Mengen Boden aus. Darüber hinaus droschen sie bei verschiedenen Landwirten Zwiefaltens und außerhalb des Ortes Getreide, in einem Jahr sogar mehr als 4.000 Garben Getreide (also Bündel aus Getreidehalmen, einschließlich der sich am oberen Ende befindenden Ähren, quantitativ nur regional definiert).35 Skizzenhaft einige biographische Beispiele damaliger Patientenarbeit aus den Berichten Schaeffers: So arbeitete ein Kranker als Gehilfe nahezu durchgehend in der Kanzlei des Forst-, Kameral- und Postamts beziehungsweise beim Verwaltungsaktuar, und dies „zur vollen Zufriedenheit dieser Beamten“.36 Ein zweiter Patient kümmerte sich um den Garten des Braumeisters und bediente abends dessen Gäste. Die Patientinnen und Patienten blieben hierbei, anders als im Falle der psychiatrischen Familienpflege, in der Anstalt untergebracht bzw. nutzten diese „Wohnmöglichkeit“ weiterhin. Zudem wurde ihm, obwohl der erwähnte Kranke aus Sicht des Personals seit vielen Jahren als unheilbar und „geisteskrank“ geführt wurde, immer wieder die Aufsicht über das übrige Dienstpersonal der Brauerei anvertraut. Ein dritter Anstaltspflegling arbeitete monatelang als Handlanger beim Werkmeister des Ortes. Für alle diese Arbeiten erhielten die Kranken einen Geldlohn. Für gewöhnlich wurde, so der Anstaltsleiter, „ein Akkord über die ganze Arbeit abgeschlossen“, so dass die Anstalt nicht in Verlegenheit geriet, wenn „sie selbst wieder jener Arbeiter bedurfte“.37 Der Ansporn zu arbeiten, bestand in dem kleinen, aber regelmäßig und im Verhältnis zur jeweils verrichteten Arbeit ausbezahlten Verdienst von zehn bis zwölf Kreuzer wöchentlich. Von diesem Geld konnten sich die arbeitenden Pfleglinge Erfrischungen bei ihren Spaziergängen und beim Vesperbrot kaufen oder Pfeifen, Tabak, Dosen, Halstücher usw. anschaffen. Außerdem wurden von dem Verdienst Prämien für die Wärterinnen und Wärter bezahlt, insbesondere wenn diese zusammen mit den Kranken auswärtig arbeiteten, da „vom Eifer der letzteren das Gelingen der ganzen Sache abhing und auch ihre Kleider bedeutend dabei notlitten“. Ein weiterer Teil des Arbeitslohns floss in die Reparatur oder Anschaffung der bei der Arbeit benötigten Gerätschaften.38 Die Verrechnung führte der Oberwärter unter 32 33 34 35 36 37 38

Etatbericht 1838/39, 125–126 (wie in Anm. 4). Zu weiterer Literatur hierzu siehe wiederum Müller / Kanis-Seyfried, Eine kurze Geschichte der Psychiatrie Württembergs, 24. Camerer / Krimmel, Geschichte der Königl. württembergischen Heilanstalt, 79–80. Etatbericht 1838/39, I, 1–41 (wie in Anm. 4); siehe hier insbesondere: 8–16, 20–34. Die weiteren Informationen in diesem, wie im folgenden Absatz sind jeweils dem Etatbericht 1838/39, I, 27, 29–30 entnommen. Ebda., I, 27, 29–30. Ebda., I, 27, 29–30. Ebda., I, 30.

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besonderer Aufsicht und Kontrolle des Direktors durch. Ohne dessen vorher für jeden Fall einzeln eingeholte Erlaubnis durfte kein Patient auswärts einer Arbeit nachgehen. Schaeffer betonte in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass keinerlei Zwang zur Arbeit ausgeübt werde und „jeder Kranke wisse, daß er jederzeit aufhören könne zu arbeiten, wenn er auf die gewährten Vergünstigungen verzichten wolle“; es sei dies „einer der Hauptunterschiede zwischen der Pflegeanstalt und einem Zwangsarbeitshaus“.39 Da die Arbeitsverweigerung eines Kranken unmittelbar den Verlust von Privilegien und Belohnungen zur Folge hatte, ist der Aspekt des „zwanglosen“ Einsatzes und der „Freiwilligkeit“ der Patientenarbeit jedoch kritisch zu betrachten. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach Ausübung moralischen oder sozialen Drucks – durch Personal und Mitpatientinnen und -patienten – auf den einzelnen Kranken. Grundsätzlich war die Grenze zwischen wohlmeinender und therapeutisch sinnvoller Beschäftigungstherapie einerseits und gezielter (ökonomischer) Ausbeutung kranker Menschen andererseits durchaus fließend und dürfte von ganz unterschiedlichen Faktoren in ihren jeweiligen Ausprägungen beeinflusst worden sein. Wie oben zu sehen war, können auch im vorhandenen gesetzlichen Rahmen deutliche Unterschiede in den Entscheidungen verschiedener ärztlicher Direktoren sichtbar gemacht werden. Diese entsprachen zum einen der Persönlichkeit der Entscheidungsträger, auch deren therapeutischen und ökonomischen Zielvorstellungen sowie nicht minder denjenigen des pflegerischen oder Wärterpersonals, auch denjenigen der wirtschaftlich Verantwortlichen in der Anstalt. Zum Zweiten stand die Frage der Ausgestaltung und Binnendifferenzierung dieser Anstalten hinsichtlich des Aspekts der „Arbeit“ in einem engen Zusammenhang mit dem Status der Anstalt selbst – entweder als Heil- oder Pfleganstalt oder als einer sogenannten verbundenen Heil- und Pflegeanstalt. Im Bemühen, den wirtschaftlichen Nutzen der Anstalt stetig zu erhöhen, hatte man um die Jahrhundertmitte mit einer eigenen Viehhaltung begonnen und sechs Kühe angeschafft. Außerdem waren zehn Morgen Wiesen, die ganz in der Nähe der Anstalt lagen, gepachtet worden. Mit der Versorgung der Kühe konnten nicht nur weitere Arbeitsplätze, vor allem für die männlichen Patienten zur Verfügung gestellt werden, die Tiere sorgten auch für eine gewisse Unabhängigkeit von den bisherigen Milchlieferanten. Abfälle aus Küche und Garten konnten fortan als Viehfutter und Streu verwendet werden, Düngemittel fiel durch das Vieh an.40 1851 wur-

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Camerer / Krimmel, Geschichte der Königl. württembergischen Heilanstalt, 76–77; Etatbericht 1838/39, I, 20–34, 32–33 (wie in Anm. 4): „Der Unterzeichnete legt hier auf die Worte ‚ohne allen anderen Zwang‘ ein besonderes Gewicht (…) daß die Kranken wissen, daß sie aufhören können zu arbeiten, wenn sie sich nur die damit verbundenen Entbehrungen gefallen lassen wollen, einer der Hauptunterschiede einer solchen Pflegeanstalt von einem Zwangsarbeitshause ausgedrückt ist und braucht (…) einem bald mehr freundlichen, bald mehr ernsten, ermunternden Zuspruch (…) keine Art von Strafe oder Zwang gegen irgend einen Kranken angewandt werden, um ihn zur Arbeit zu nöthigen.“ Camerer / Krimmel, Geschichte der Königl. württembergischen Heilanstalt, 98.

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den weitere Kühe angekauft, im darauf folgenden Jahr kamen 6,5 Morgen Feldund Gartenland hinzu.41 Wie aus den Etat- und Jahresberichten der Anstaltsleitung hervorgeht, hatte sich im Zuge der verschiedenen Maßnahmen, die Schaeffer initiierte, der Gesundheitszustand vieler Geisteskranker offenbar verbessert. Die positive Entwicklung verbreitete sich in der Bevölkerung und hatte phasenweise zur Folge, dass die Aufnahmegesuche im Verlaufe der 1840er Jahre erstmals zunahmen.42 So dauerte es nur Monate, bis die vorhandenen Kapazitäten an ihre Grenze stießen und es deshalb zu einer erneuten, eklatanten Überbelegung der Zwiefalter Anstalt kam. ZUR STATUSFRAGE „HEILANSTALT“ VERSUS „PFLEGEANSTALT“: DIE BEISPIELE ZWIEFALTEN UND WINNENTHAL Camerer und Krimmel schrieben in ihrer Chronik 1912: „Ein bemerkenswertes Ereignis in der Geschichte der Anstalt bildete die am 16. April 1846 erfolgte Aufstellung eines Statuts“43 für die Pflegeanstalt. Für die Heilanstalt existierte dergleichen bereits seit 1833. Schon lange hatte Schaeffer darauf hingewiesen, „daß ein Statut auch für die Pflegeanstalt ein dringendes Bedürfnis sei“. Schaeffer versprach sich hiervon eine kontrollierte und nachhaltige Fortentwicklung der Anstalten. Dieses Statut erlangte mit dem 10. Juli 1839 per Veröffentlichung im Regierungsblatt Gültigkeit und wurde von Christian Friedrich Wilhelm Roller (1802–1878) 1847 in der Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie der nationalen Fachöffentlichkeit erläutert.44 In ihm wurden Zweck und Bestimmung der Anstalt Zwiefalten, ihre Unterhaltung, Beaufsichtigung, Verwaltung und Benutzung gesetzlich klar geregelt.45 Doch darf die Schaffung dieses Statuts über den eigentlichen Statusverlust Zwiefaltens in diesen Jahren nicht hinwegtäuschen: Denn wurden in der neu gegründeten Zwiefalter Einrichtung zunächst als heilbar und nicht heilbar eingeschätzte Patientinnen und Patienten gleichermaßen verpflegt, erbrachte die Eröffnung der 1834 als reine Heilanstalt gegründeten Anstalt Winnenthal – im ehemaligen Schloss Winnenthal bei Backnang – eine Zurückstufung und einen vorläufigen Erfolg für den dort amtierenden Direktor Albert Zeller (1804–1877). Vordringlicher Grund für die Etablierung Winnenthals war die Überbelegung Zwiefaltens bereits in den 1820er Jahren, weswegen die Planung dieser weiteren Anstalt früh Gestalt annahm. Albert Zeller war bereits drei Jahre vor der Eröffnung Winnenthals als leitender Arzt und 41 42 43 44 45

Ebda., 101. Ebda., 85. Für dieses und das nachfolgende Zitat siehe ebda., 93. Christian Friedrich Wilhelm Roller, Statut der Irren-Pflegeanstalt Zwiefalten, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medicin 4/1847, 149–167. Roller wies in einem nachgestellten Kommentar auf die Ähnlichkeiten des Zwiefalter Statuts zu den vorherigen in Winnenthal und in der Illenau hin. Roller, Statut der Irren-Pflegeanstalt Zwiefalten, 164–167; vgl. zur Heilanstalt Illenau auch Marga Maria Burkhardt, Krank im Kopf. Patienten-Geschichten der Heil- und Pflegeanstalt Illenau 1842–1889, Univ. Diss., Freiburg 2003.

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Direktor eingestellt worden, um sich auf einer ausgedehnten Studienreise durch Europas Anstalten auf die neue Aufgabe möglichst umfassend vorbereiten zu können.46 Seine Erfahrungen wurden in einem inzwischen edierten und veröffentlichten Reisetagebuch offen gelegt und belegen einen regen, auch internationalen Wissenstransfer.47 Sprach Veltin noch 1987 davon, dass die erwähnte Herabstufung Zwiefaltens zu einer reinen Pflegeanstalt durch das herausragende Engagement Carl von Schaeffers – in Leitungsposition von 1838 bis 1874, ab 1862 unterstützt durch den Assistenzarzt August Landenberger (1838–1915)48 – zunächst noch kompensiert wurde, so ergeben die inzwischen ausgewerteten Jahresberichte Schaeffers ein komplexeres Bild. Nach Jahren des Kampfes mit übergeordneten Behörden herrscht in Schaeffers Berichten ein Ton der Verbitterung vor. Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts nahm Zwiefalten faktisch wieder den Charakter einer verbundenen Heil- und Pfleganstalt an. Aus den Ärztlichen Jahresberichten geht hervor, dass die Arbeitstherapie ab 1898 erheblich ausgeweitet wurde, so dass im Jahresbericht von 1900 zu lesen ist, dass 19 verschiedene Arten von Handwerken betrieben wurden.49 Die Entwicklung der therapeutischen Praxis in der deutschsprachigen Psychiatrie, zumal im 20. Jahrhundert, beinhaltete quasi durchgängig auch Arbeitseinsätze und Beschäftigungsmöglichkeiten für Patientinnen und Patienten, die u. a. die Rehabilitation und soziale Integration der Kranken fördern sollten – zumindest bis in die Jahre der Weimarer Republik hinein. Die einstige Pflegeanstalt wandte sich dem Aspekt des Heilens nun in komplexer werdenden Therapiekonzepten zu, was wiederum zur Einrichtung von lebensnäheren Betreuungsformen wie der Psychiatrischen Familienpflege in unmittelbarer Umgebung Zwiefaltens und zur Gründung zweier sogenannter agrikoler Kolonien um die Wende zum 20. Jahrhundert führte: dem Lorettohof50 und Gossenzugen – auf die im Folgenden zurückzukommen sein wird.51 Allerdings, so sei vorweggenommen, wurden vor dem Hintergrund der Er46

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Der Reisebericht Albert Zellers von 1832–1833 wurde von Gerhart Zeller transkribiert, herausgegeben und 2007 publiziert. Gerhart Zeller, Albert Zellers medizinisches Tagebuch der psychiatrischen Reise durch Deutschland, England, Frankreich und nach Prag von 1832 bis 1833, 2 Bde., Zwiefalten 2007. Vgl. Thomas Müller / Bodo Rüdenburg / Martin Rexer (Hgg.), Wissenstransfer in der Psychiatrie. Albert Zeller und die Psychiatrie Württembergs im 19. Jahrhundert, Zwiefalten 2009. Vgl. hierzu auch August Landenberger, Die Irrenpflegeanstalt Zwiefalten und ihre Leistungen, Tübingen 1864. Vgl. hierzu das im Abschluss befindliche Forschungsprojekt sowie die separate Publikation von Veronika Holdau, Dr. Karl Schaeffer: Ein Arzt auf Reisen. Transkription eines wissenschaftlichen Reiseberichts 1831/1832, in: Müller / Reichelt / Kanis-Seyfried, Nach dem Tollhaus, 85–115. Der „Erwerb des Lorettohofes und der Bronnstaigäcker für die Pflegeanstalt Zwiefalten“ ist unter der Signatur E 151/53 BÜ 537 im Bestand des HStA Stuttgart registriert. Vgl. hierzu wiederum Müller / Kanis-Seyfried, Eine kurze Geschichte der Psychiatrie Württembergs, 9–56, hier insbesondere: 33. Die agrikole Nutzung der Landschaft hatte bereits zu Klosterzeiten und vor der Mediatisierung im Aachtal Tradition; vgl. Hendrik Weingarten, Herrschaft und Landnutzung. Zur mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte des Klosters Zwiefalten, Ostfildern 2006.

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fahrungen an anderen Orten weder in der Zwiefalter Familienpflege,52 noch in den beiden agrikolen Kolonien die Möglichkeiten offener Versorgung psychisch Kranker vollends ausgeschöpft.53 DIE ZWIEFALTER FAMILIENPFLEGE UND DIE AGRIKOLEN KOLONIEN LORETTO UND GOSSENZUGEN 1896 wurde in Zwiefalten die Psychiatrische Familienpflege eingeführt.54 Die regional bekannte Stiftung der Witwe des renommierten Psychiaters Wilhelm Griesinger (1817–1868) war für diese Versorgungsform eingetreten. Bereits Ende 1897 konnten 24 Kranke aus der Zwiefalter Anstalt (damals fünf Prozent der dort Untergebrachten) in Familienpflege, zumeist in diejenigen ehemaliger Anstaltsbediensteter, vermittelt werden, wie den Statistiken des Uchtspringer Psychiaters und Mentors der Familienpflege, Konrad Alt (1861–1922), zu entnehmen ist.55 Die Pflegestellen waren auf mehrere Dörfer und Höfe in der Umgebung Zwiefaltens verteilt. Die Patientinnen und Patienten waren hiermit aus der Anstalt „entlassen“. Sowohl die Kranken als auch die Pflegefamilien wurden sorgfältig ausgesucht und die Pflegeeltern vertraglich zu guter Behandlung der Kranken verpflichtet. Dies wurde von der Anstalt aus überwacht. Wiederholt wurde die Erfahrung gemacht, dass die Kranken auch eher dürftig ausgestattete Familienpflegeplätze der Anstaltspflege vorzogen. Offenbar wussten die Patientinnen und Patienten die größere Selbstständigkeit, den persönlicheren Bezugsrahmen und die lebensnahen Verhältnisse in den Familien zu schätzen.56 Am Ende des Jahres 1896 befanden sich neun Männer und drei Frauen in Familienpflege, später stieg deren Zahl auf über 40 an. Um das Jahr 1902 waren es zwischen 60 und 70 Kranke, die von den Anstalten Zwiefalten und Weissenau bei Ravensburg aus in Familienpflege untergebracht wurden.57 52 53 54

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Reinhold Eisenhut, Familienpflege in Zwiefalten während des Nationalsozialismus, in: Hermann J. Pretsch (Hg.), Euthanasie, Zwiefalten 1996, 47–50. Vgl. auch Veltin, Chronisch Kranke am Wege, 8. Zur Familienpflege im Deutschen Reich: Paul-Otto Schmidt, Asylierung oder familiale Versorgung. Die Vorträge auf der Sektion Psychiatrie der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte bis 1885 (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaft 44), Husum 1982; Michael Konrad / Paul-Otto Schmidt-Michel (Hgg.), Die zweite Familie. Psychiatrische Familienpflege – Geschichte, Praxis, Forschung, Bonn 1993; Thomas Müller, Community Spaces and Psychiatric Family Care in Belgium, France and Germany. A Comparative Study, in: Leslie Topp / James Moran / Jonathan Andrews (Hgg.), Madness, Architecture and the Built Environment: Psychiatric Spaces in Historical Context, London 2007, 171–189, sowie Thomas Mueller, Re-opening a closed file of the history of psychiatry: Open care and its Historiography in Belgium, France and Germany, c. 1880–1980, in: Waltraud Ernst / Thomas Mueller (Hgg.), Transnational Psychiatries. Social and cultural histories of psychiatry in comparative perspective, c. 1800–2000, Newcastle on Tyne 2010, 172–199. Konrad Alt, Die familiäre Verpflegung der Kranksinnigen in Deutschland, Halle a. d. Saale 1903, 17. Zu Konrad Alt vgl. auch den Beitrag von Anna Urbach in diesem Band. Alt, Die familiäre Verpflegung der Kranksinnigen, 42. Ebda., 17.

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Abb. 1: Familienpflege in Zwiefalten, Ortsteil Baach (ZfP Südwürttemberg, Standort Zwiefalten)

Als weitere Verpflegungsform in Zwiefalten folgte im Jahr 1897 die Unterbringung von Patientinnen und Patienten in zwei landwirtschaftlichen Kolonien – getrennt nach Geschlecht der Kranken. Hierzu war in kurzer Entfernung von der Anstalt auf der Höhe der Alb das schön gelegene, 33 Morgen umfassende Gut Loretto58 angekauft und zur Unterbringung von zwölf männlichen Patienten, einem Wärter und einer Köchin eingerichtet worden.59 Familiale wie koloniale Verpflegung entwickelten sich in der Folge gut, wenn auch die Familienpflege in quantitativ nur geringem Umfang. Für geeignete Kranke boten die außerhalb der Anstalt sich befindenden Verpflegungsformen nicht nur zweckmäßige und angenehme Unterkünfte, sie trugen auch zur Entlastung der Anstalt bei.60 Besonders geschätzt wurde die koloniale Pflege seitens der Kranken, da sie ihnen neben größtmöglicher Bewegungsfreiheit ein mehr oder weniger behagliches Heim und Gelegenheit verschaffte, sich auch nach Neigung zu beschäftigen.

58 59 60

„Erwerb des Lorettohofes und der Bronnstaigäcker für die Pflegeanstalt Zwiefalten“, Signatur E 151/53 BÜ 537, HStA Stuttgart. Ärztlicher Jahresbericht der Anstalt Zwiefalten, 1897, in: Archiv des Zentrums für Psychiatrie (ZfP) Südwürttemberg, Standort Zwiefalten. Camerer / Krimmel, Geschichte der Königl. württembergischen Heilanstalt, 142, für die Information im nachfolgenden Satz siehe Seite 168.

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Abb. 2: Familienpfleglinge bei der Heuernte, ca. 1910. Zwiefalten, Württemberg (ZfP Südwürttemberg, Standort Zwiefalten)

Die mit der Männerkolonie gemachten positiven Erfahrungen ließen auch für die Frauenabteilung eine ähnliche Einrichtung wünschenswert erscheinen. Dafür wurde 1903 in dem etwa 20 Gehminuten von Zwiefalten entfernten Gossenzugen ein kleines Anwesen erworben und zu einer Frauenkolonie eingerichtet: „Die Frauenkolonie liegt auf einer quer in das Tal vorspringenden Anhöhe und bietet vermöge ihrer beherrschenden Lage einen reizenden Ausblick in das Aachtal und auf Zwiefalten mit dem Bussen [einer regionalen Anhöhe], im Hintergrund.“61

Diese agrikole Kolonie wurde am 27. Februar 1903 bezogen und mit einer Wärterin und sechs Kranken belegt. Im Stall waren drei Ziegen und Hühner zu versorgen. Sowohl die Patientinnen als auch ihre Wärterin fühlten sich in ihrem „neuen Heim recht wohl“ und wollten „von einer Zurücksetzung in die Anstalt nichts mehr wissen“, wie im Jahresbericht von 1904 vermerkt wurde.62 Auch die benachbarten Heil- und Pflegeanstalten Schussenried und Weissenau bei Ravensburg etablierten um das Jahr 1900 eigene, nach Geschlecht von Patientinnen und Patienten getrennte agrikole Kolonien.

61 62

Siehe hier und im Folgenden die Zwiefalter Jahresberichte des Ärztlichen Direktors, zunächst hier Ärztlicher Jahresbericht 1903, für dieses und das nachfolgende Zitat, siehe 29–34. Ärztlicher Jahresbericht 1904, 29.

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In den Jahren bis 1912 ging die im nationalen Vergleich eher geringe Zahl der Familienpfleglinge weiter zurück. Da aufgrund der ständigen Überbelegung überwiegend nur Schwerstkranke in der Anstalt aufgenommen werden konnten, kamen geeignete Patientinnen und Patienten für die Familienpflege seltener zur Aufnahme.63 Und dennoch: Die Einrichtung der Familienpflege erwies sich als beständig, trotz des zahlenmäßig niedrigen Niveaus – so übrigens auch während des Zweiten Weltkriegs und den Jahren danach: Im Gegensatz zu weiten Teilen des Deutschen Reichs existierte in Zwiefalten eine Versorgung in Form der Familienpflege64 zwischen 1939 und 1945, zumindest in einstelligen Prozentwerten (anteilig an der Gesamtzahl der Anstaltspatientinnen und -patienten im entsprechenden Vergleichsjahr) weiterhin.65 Die Nachfrage nach Familienpfleglingen war in den Bauernhöfen rund um Zwiefalten zu allen Zeiten groß – wobei „von den Bauern als erste Voraussetzung die Arbeitsleistung betrachtet“ wurde.66 Andererseits haben in einigen Fällen „die Familien angesichts der Anhänglichkeit der Kranken diese noch bis zur Pflegebedürftigkeit weiter behalten“.67 ARBEIT UND THERAPIE IN DEN JAHREN DES ERSTEN WELTKRIEGES Die Jahre des Ersten Weltkrieges bedeuteten einschneidende Veränderungen auch für die Anstalten im Süden Württembergs und beeinträchtigten die bisherigen Zuteilungen von Arbeit und zugehörigen Aufgaben. Eine erste Zäsur betrifft das Personal: In dieser wie in anderen Berufsgruppen führte die militärische Mobilisierung in Vorbereitung des Krieges beziehungsweise dessen Verlauf zu dramatischen Personalengpässen in den Anstalten. Mit der Mobilmachung im August 1914 mangelte es in der Anstalt Zwiefalten beispielsweise innerhalb weniger Tage an „3/4 aller Wärter“, so in einem Bericht, „wodurch der Dienst besonders auf den Abteilungen für unruhige Kranke im höchsten Grad erschwert“ wurde.68 Obwohl man bei der Auswahl der Aushilfswärter „wenig wählerisch“ gewesen war, kam man nicht umhin, die „Spaziergänge der Kranken auszusetzen“ und die Beschäftigung der Kranken „mangels geeigneten Aufsichtspersonals“ bedeutend einzuschränken. Bis Ende des Jahres 1915 waren sechs Zwiefalter Wärter bereits den sogenannten „Heldentod“ gestorben, mehrere andere waren zum Teil schwer verwundet worden, so dass „wir damit rechnen müssen, dass eine gewisse Anzahl der zurückkehrenden Wärter Invaliden mit beschränkter Arbeitsfähigkeit sein werden, denen nur noch leichtere Posten anvertraut“ werden können.69 Arbeit innerhalb der Anstalt wurde also nun definitiv umstrukturiert, andere Personengruppen herangezogen oder zwangsver63 64 65 66 67 68 69

Camerer / Krimmel, Geschichte der Königl. württembergischen Heilanstalt, 168. Vgl. u. a. Ärztlicher Jahresbericht, 1941, 8; 1944, 6; 1946, 6; 1948, 7; 1958, 10; 1959, 13. Eisenhut, Familienpflege, 47–50; vgl. u. a. Ärztlicher Jahresbericht 1941, 8; 1944, 6; 1946, 6; 1948, 7; 1958, 10; 1959, 13. Vgl. u. a. Ärztlicher Jahresbericht 1927, 25; 1941, 8; 1944, 6. Ärztlicher Jahresbericht 1927, 25. Ärztlicher Jahresbericht 1914, für dieses sowie das Zitat im nachfolgenden Satz siehe 27. Ebda.; für das Zitat im nachfolgenden Satz, 28.

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pflichtet, um den Anstaltsbetrieb aufrecht zu erhalten: Man behalf sich unter anderem, indem man sich vom Truppenübungsplatz Münsingen „10 kriegsgefangene Russen“ überweisen ließ, „welche unter Aufsicht eines Bewachungsmannes zum Teil bis zum Spätherbst hier tätig waren“. Im Gegensatz dazu waren weibliche Arbeitskräfte ausreichend vorhanden. Als Aufsichtspersonen von zur Arbeit ausrückenden männlichen Kranken waren diese jedoch nach Ansicht des Ministeriums nicht geeignet, so dass Garten- und Feldarbeit liegen zu bleiben drohten.70 Die im Verlauf des Krieges immer deutlicher werdende Nahrungsmittelknappheit, die durch den eben beschriebenen Arbeitskräftemangel weiter verstärkt wurde, lässt sich wiederum an einer erhöhten Sterblichkeit der Patientinnen und Patienten auch der hier untersuchten südwestdeutschen Anstalten festmachen, wobei deren genaue Todesursache bisher nur teilweise geklärt ist. Der hohe Verbrauch an Kartoffeln und der Ausfall einer Ernte – in der Nacht vom 16. auf den 17. Juni 1916 sank das Thermometer auf -2 Grad Celsius, so dass „fast alle Kartoffeln und Bohnen erfroren“ und „ein sehr schmerzlicher Ausfall an Nahrungsmitteln entstand“71 – machte es notwendig, vermehrt auf anderes Gemüse zurückzugreifen. Die Kost aus verschiedenen Kohlsorten führte jedoch häufig zu schweren Durchfällen bei den ohnehin geschwächten Patientinnen und Patienten und kostete einigen von ihnen das Leben.72 Darüber hinaus starben in den Jahren des Ersten Weltkrieges viele Anstaltsinsassinnen und -insassen an Lungen- bzw. Darmtuberkulose, Grippe oder Typhus.73 Die in den Folgejahren des Krieges sich manifestierenden Konsequenzen der Währungsreform replizierten in gewissem Maße die ökonomischen Notstände der Kriegszeit. Infolge der Typhusepidemie 1918, fehlendem Heizmaterial und damit auch warmem Wasser machte sich ein erheblicher Mangel an Bettwäsche, Wickeltüchern und Leibwäsche74 bemerkbar und ließ die Anstalt an die „Grenze eines mit der Hygiene noch vereinbaren Betriebes“ gelangen.75 Um diesem Notstand zu begegnen, dachte man über den Anbau von Flachs auf den anstaltseigenen Ackerflächen nach, um selbst Leinen herstellen zu können. Um die Versorgung elementarer Bedürfnisse wie Nahrung, Heizung, Licht und Warmwasser für die Zukunft sicher zu stellen, machte sich die Anstaltsleitung weitreichende Gedanken über den Erwerb einer zusätzlichen Domäne und den Bau eines eigenen Wasserkraftwerkes.76 Diese Rahmenbedingungen nicht mit einer Relativierung des therapeutischen Anspruchs an die Arbeit von Patientinnen und Patienten in Zusammenhang zu bringen, wäre meines Erachtens unrealistisch: Nicht allein aus Sicht der Patientin/des Patienten, möglicher Weise auch aus therapeutischer Sicht kann hier nicht mehr von einer freien, gar therapeutischen Entscheidung zur Arbeit gesprochen werden. In dieser Art von Krisenzeiten muss von einer völligen Um(be)wertung des Verständ70 71 72 73 74 75 76

Für die Zitate dieses Absatzes ebda., 29. Beide Zitate aus dem Ärztlichen Jahresbericht 1916, 38–39. Ebda., 34. Ärztlicher Jahresbericht 1917, 21. Ärztlicher Jahresbericht 1920, 37. Für diese sowie Informationen im nachfolgenden Satz siehe Ärztlicher Jahresbericht 1918, 21. Ärztlicher Jahresbericht 1920, 38.

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nisses von Patientenarbeit ausgegangen werden, zugunsten rein ökonomischer Entscheidungsfindungen und unter weitgehendem Verzicht therapeutischer Erwägungen:77 Einerseits zeigt die Einbeziehung von Kriegsgefangenen, die nicht anders, denn als Zwangsarbeit zu bezeichnen ist, dass im Falle der untersuchten Einrichtungen auch bereits im Ersten Weltkrieg moralische Erwägungen und personelle Entscheidungen dem Postulat der „Arbeitsfähigkeit“ untergeordnet wurden, wie dies für die Vorbereitung der sogenannten Euthanasie ab 1939 und die Kriterien der Selektion von psychisch Kranken und geistig behinderten Menschen in den Jahren des Zweiten Weltkrieges belegt ist.78 Entscheidend war somit das Soll der zu erfüllenden Arbeit, nicht die Identität und Bedürfnisse der diese Arbeit Verrichtenden. Für die weiterhin arbeitenden, eigentlichen Patientinnen und Patienten der Einrichtung hingegen bedeutete diese Entwicklung, dass der therapeutische Nutzen diesen Soll-Vorstellungen ebenfalls nachgeordnet war, und beispielsweise in den Kriegsjahren des Ersten Weltkrieges auch in der untersuchten Einrichtung nur noch eine nachrangige Bedeutung zukam. SCHLUSS Die Mehrzahl der Zwiefalter Patientinnen und Patienten ging in den Dekaden der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer geregelten Art von Arbeit in oder außerhalb der Anstalt nach, wobei anhand der verwendeten Quellen verschiedene Entwürfe und auch Schicksale nachvollziehbar sind.79 Wie zu sehen war, kommt der Frage von therapeutischer Motivation versus ökonomischer Ausbeutung der Arbeit von Patientinnen und Patienten eine zentrale Bedeutung zu. Diese Frage ist anhand zweier Aspekte näher beantwortbar, die sich, jenseits ihrer Bedeutung für die vorliegende Studie, meines Erachtens auch in Anwendung auf andere Studien als fruchtbar erweisen können: 1.) Es muss geklärt werden, ob es sich um Patientinnen und Patienten einer Pflegeanstalt oder einer Heilanstalt handelte, d. h. ob eine Entlassung beabsichtigt war oder nicht. Weiters ist zwischen privaten Einrichtungen einerseits und kommu77

78 79

Nicht für alle Anstalten hingegen galt, was auf das Zwiefalten benachbarte Weissenau zutraf: die Umfunktionierung zu einem Militärlazarett, auch und vor allem aufgrund der immens hohen Zahl psychisch in Mitleidenschaft gezogener Soldaten, den sogenannten Kriegszitterern („Traumatische Neurosen“, „Kriegsneurosen“). Vgl. dazu den Beitrag von Maike Rotzoll in diesem Band. Die im eingangs erwähnten Beitrag von Martina Huber / Thomas Müller, Patientenarbeit in Zwiefalten vorgestellten Patientenbeispiele, auf die ich hier nur verweisen möchte, geben jedoch einen ersten Einblick in das facettenreiche Spektrum an Effekt, Folge und Auswirkung, welche die Arbeit auf das Leben der Patientinnen und Patienten in der Anstalt haben konnte. Für einen ähnlichen Verlauf wie den in der genannten Publikation skizzierten Fall eines Vikars finden sich Hinweise in den Akten des Patienten K. H., Staatsarchiv Sigmaringen, Patientenakte Wü 68/3 3650 und Etatbericht der Direktion (1850/51) Beilage I 48; für die Näherin M. F. in der Patientenakte Wü 68/3 1923 (Staatsarchiv Sigmaringen), Etatbericht der Direktion (1850/51), Beilage I 107.

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nal-staatlichen Anstalten andererseits zu unterscheiden: So galt das hier untersuchte Zwiefalten seit der Mitte und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und im Gegensatz zu anderen württembergischen Einrichtungen, wie Winnenthal oder Schussenried, als reine Pflegeanstalt.80 Man hielt eine Heilung der meisten Kranken für unwahrscheinlich, wenn nicht gar ausgeschlossen. In der Regel wurden die Patientinnen und Patienten bis zu ihrem Tod in der Anstalt behandelt beziehungsweise lebten und arbeiteten sie zum Teil auch in dieser Institution oder im Rahmen der von der Institution vorgegebenen Möglichkeiten.81 Insofern muss davon ausgegangen werden, dass für die Zwiefalter Ärzte in dem Zeitraum, in dem die Anstalt als Pflegeanstalt firmierte, die Entlassung der aufgenommenen Kranken zurück ins familiäre Umfeld – und damit Arbeit als rehabilitative therapeutische Maßnahme – keine häufig in Betracht kommende, oder gar regelhaft angestrebte therapeutische Zielvorstellung war. 2.) Die Frage des therapeutischen Zwecks der Patientenarbeit versus der Ausbeutung von Arbeitskraft sollte in Übertragung der aus diesem Beitrag gewonnenen Erkenntnis entlang des Aspekts diskutiert werden, wem direkt oder indirekt der Nutzen der seitens der Patientinnen und Patienten geleisteten Arbeit zukam: Bei der Untersuchung der Frage, welche Form der Arbeit zu versorgender Kranker in einem jeweiligen Untersuchungszeitraum zur Anwendung kam, geben Quellen zum ökonomischen Ertrag dieser Arbeit in nicht minder häufigen Fällen Auskunft über diesbezügliche Entscheidungsfindungsprozesse im Organismus der Anstalt, wie die jeweiligen zeitgenössischen Vorstellungen zum möglichen therapeutischen Nutzen einer jeweiligen Arbeitsform oder -tätigkeit. Angesichts der in diesem Beitrag zentralen Beziehung zwischen der Entwicklung der Arbeitstherapie seit dem späten 19. Jahrhundert einerseits, und den in anderen Beiträgen des vorliegenden Bandes im Fokus der Untersuchung stehenden Formen der Patientenarbeit in den Jahren der Weimarer Republik beziehungsweise dem Wortlaut der Weimarer Reichsverfassung von 1919 andererseits,82 hinsichtlich dem das Deutungsangebot einer „Wiederherstellung der Arbeitskraft“ im Sinne einer „medizinischen Leitidee“ besteht,83 wäre meiner Ansicht nach zu fragen, inwieweit in den Jahren nach 1914 eine Ausweitung der Arbeitstherapie in der Psychiatrie, 80 81

82 83

Camerer / Krimmel, Geschichte der Königl. württembergischen Heilanstalt, 120. Dies könnte einer von mehreren Gründen für die spärliche ärztliche Dokumentation dieser Zeit sein. Zum Teil findet sich in den im Rahmen paralleler Forschungsprojekte gesichteten Zwiefalter Quellen zum Gesundheitszustand der Patientinnen und Patienten nur ein Eintrag pro Kalenderjahr, manchmal liegt auch ein Zeitpunkt von mehreren Jahren zwischen den Einträgen. Eine Kontinuität im therapeutischen Vorgehen ist daher auch aufgrund der unpräzisen Dokumentation nur schwer nachzuvollziehen. Und in der der Passus festgehalten wurde, dass „[j]eder Deutsche (…) unbeschadet seiner persönlichen Freiheit die sittliche Pflicht [hat], seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert“. Wie dies Walter 1996 vorgeschlagen hat: Bernd Walter, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn 1996, 205 f.

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beispielsweise im Sinne der „aktiveren Krankenbehandlung“ nach Simon,84 überhaupt belegt werden kann, und welche Aspekte von Patienten-Arbeit nach Ende des Ersten Weltkrieges beziehungsweise nach Unterordnung der psychiatrischen Versorgung unter die nationalsozialistische Gesundheitspolitik nach 1933 entsprechend de facto neu konzipiert wurden. Denn zumindest in der in diesem Beitrag ausführlicher dargestellten württembergischen Anstalt Zwiefalten treten im Vergleich zu den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg keine neuen arbeitstherapeutischen Einsatzformen hinzu. Während hier angesichts des momentanen Forschungsstandes noch kein Beleg für diese Hypothese angeführt werden kann, so steht zumindest die eingangs erwähnte Frage im Raum, ob die vergleichsweise kontinuierliche arbeitstherapeutische Experimentierfreudigkeit der untersuchten Einrichtung mit ihrer ländlichen und peripheren geographischen Lage zu erklären ist: Denn die Arbeitsfähigkeit der psychisch Kranken zu verbessern, um sie in die Gesellschaft wieder einzugliedern, war – wohlgemerkt in den Heilanstalten, nicht in den Pflegeanstalten – bereits im späten 19. Jahrhundert ein erklärtes Ziel der Behandlung. UNGEDRUCKTE QUELLEN Archiv des ZfP Südwürttemberg: Standort Zwiefalten: Etatberichte der Direktion I Hauptstaatsarchiv Stuttgart: Rescript König Friedrich I. von Württemberg zur Verlegung des „Tollhauses“ nach Zwiefalten, vom 10. May 1811, in: HStA Stuttgart E 31 BÜ 1080; „Verzeichnis der nach Zwiefalten zu transportierenden Irren, und der zweckmäßigsten Art ihres Transports“, vom 3. März 1812 HStA Stuttgart E 151/53 BÜ 537 Staatsarchiv Ludwigsburg: Dokumente zur Gründung der königlichen Irrenanstalt Zwiefalten 1812–1817 (Bibliothek Zwiefalten); StA LB, E 163 StA LB, BÜ 674, 675, 714 Staatsarchiv Sigmaringen: Wü 68/3 T3 6533. Wü 68/3 T3 843. Wü 68/3 T3 3650. Wü 68/3 T3 1923. Wü 68/3 T3 1985.

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Hermann Simon, Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt, Leipzig 1929.

Patientenarbeit in ländlichen psychiatrischen Anstalten

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„HEILSAM, FÖRDERLICH, WIRTSCHAFTLICH“ – ZUR RECHTFERTIGUNG, DURCHFÜHRUNG UND ANEIGNUNG DER ARBEITSTHERAPIE IN DER LANDESHEIL- UND PFLEGEANSTALT UCHTSPRINGE 1894–19141 Anna Urbach 1. EINLEITUNG An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert begann man zunächst in Frankreich und England mit der Unterbringung psychisch Kranker in eigens dazu erbauten Anstalten. Die regelmäßige geistige und körperliche Betätigung der Patientinnen und Patienten wurde dabei als Teil des Konzepts der „freien Behandlung der Irren“ umgesetzt. Der deutsche Reformpsychiater Wilhelm Griesinger (1817–1868) fasste unter dem Begriff der „zweckmäßigen Beschäftigung“ der Kranken den stetigen Wechsel von Arbeit und Unterhaltung, Unterricht und „Zerstreuung“, welchem die Behandelten nach ärztlichem Ermessen zugeführt werden sollten, um somit eine „psychische Ableitung“ von ihrem Wahn zu bewirken.2 Er betonte dabei den rehabilitativen Charakter einer Beschäftigung, welche die Kranken bereits in ihrem früheren (Berufs-)Leben ausgeübt hätten: „[M]ancher Handwerker kann nur in seinem Geschäfte, mancher Musikfreund in den Tönen seines Instruments und dergl. den ganzen Umfang und die ganze Einheit seiner alten Individualität wieder finden.“3

Als Teil der „psychischen Behandlung“ diente die Arbeit der Patientinnen und Patienten jedoch nicht allein als Disziplinierungs- und Therapiemittel, sondern stellte zugleich ein wichtiges Ziel des psychiatrischen Heilverfahrens dar. Der wiedererlangte Arbeitswille wurde als klares Genesungszeichen gedeutet.4 Das therapeutische Konzept der Krankenbeschäftigung wurde umso mehr auf die Probe gestellt, als die Psychiater zunehmend – zunächst im Jahre 1895 in Preußen – die gesamte Leitung der öffentlichen und privaten „Irren-, Idioten- und Epi1

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Der vorliegende Beitrag stellt Zwischenergebnisse des laufenden Dissertationsprojektes zur Behandlung epilepsiekranker Patientinnen und Patienten in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Uchtspringe 1894 bis 1921 dar, angesiedelt im Fachbereich Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin, Med. Fakultät, Univ. Magdeburg (Betreuerin: Prof. Dr. Eva Brinkschulte). Bei allen Zitaten wurde die Originalschreibweise beibehalten sowie keine Korrektur der orthografischen und Interpunktionsfehler vorgenommen. Wilhelm Griesinger, Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten für Aerzte und Studirende, 2. erw. Aufl., Stuttgart 1861, 498–503. Ebda., 500. Ebda., 501.

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leptiker-Anstalten“ übernahmen.5 Als Legitimation ihrer Forderungen führten sie an, dass ein reibungsloser Ablauf bei der Anwendung der Beschäftigung und der freien Behandlung innerhalb des Anstaltsbetriebes die alleinige ärztliche Führung der Einrichtungen notwendig mache.6 Die bisher mit der Leitung der Anstalten betrauten Pädagogen, Theologen und Ökonomen sahen sich aus den Führungspositionen gedrängt.7 Zweifelsohne verhalfen die Neuregelungen der noch jungen medizinischen Fachdisziplin zur weiteren Festigung, die damit einhergehenden Verpflichtungen führten aber nicht selten zu ambivalenten Versuchen der Anstaltspsychiater, den Arbeitseinsatz ihrer Patientinnen und Patienten gegenüber verschiedenen Personen und Institutionen zu rechtfertigen. Die neuen räumlichen Verhältnisse sowie die hohen Belegzahlen der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zahlreich erbauten großen „Irrenanstalten“ des deutschsprachigen Raumes schufen die Voraussetzung für einen breitgefächerten und zahlenmäßig hohen Arbeitseinsatz der Anstaltsbewohnerinnen und -bewohner.8 Die Anzahl der Pfleglinge, die tatsächlich in den „Genuss“ der Arbeitstherapie kamen, unterschied sich jedoch von Anstalt zu Anstalt sehr. Besonders gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde ein Zurückdrängen der „nutzbringenden Beschäftigung“ durch die zeitgleich aufstrebende Bäder- und Bettbehandlung verzeichnet.9 Vor dem Hintergrund der bald drohenden Überfüllung der meisten Einrichtungen versuchten einzelne Anstaltspsychiater einer steigenden finanziellen Belastung der öffentlichen Kassen entgegenzuwirken, in dem sie neue Beschäftigungs- und Wohnmodelle für psychisch Kranke erprobten, welche vor allem auf der ökonomischen Verwertung der Arbeitskräfte der Pfleglinge beruhten.10 Schmiedebach und andere 5

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Beschlüsse der Versammlung des „Vereins deutscher Irrenärzte“ in Frankfurt a. M. im Jahre 1893. Zit. n. Hermann Wildermuth, Sonderkrankenanstalten und Fürsorge für Nervenkranke, Epileptische und Idioten, in: Georg Liebe / Paul Jacobsohn / George Meyer (Hgg.), Handbuch der Krankenversorgung und Krankenpflege, Bd. 1, Berlin 1899, 434–521, hier: 520. Die Preußische Regierung trug dem Ansinnen der „Irrenärzte“ vorerst bereitwillig Rechnung, milderte die Reformen jedoch für bereits bestehende Anstalten 1896 wieder ab. Vgl. Jakob Schwenk, Die Bestimmungen vom 20. September 1895 und ihre Folgen für unsere Anstalten, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 15/1899, 6–20, hier: 11. Josef Berze, Ueber Beschäftigung der Geisteskranken in der Irrenanstalt, Wien 1898, 7. Vgl. exemplarisch das Plädoyer des Pädagogen und Leiters der Idioten-Anstalt Idstein: Schwenk, Die Bestimmungen. Machtkämpfe zwischen Verwaltung und Ärzteschaft waren zum beschriebenen Zeitpunkt nicht allein spezifisch für die psychiatrischen Anstalten. Vielmehr war dies ein allgemein beobachtetes Phänomen im Rahmen der Konstituierung des Krankenhauswesens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Volker Hess, Der Verwaltungsdirektor als erster Diener seiner Anstalt. Das System Esse an der Charité, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 3/2000, 69–86. „(…) gewiss liegt ein Hauptvorzug der Anstalten darin, dass sie dem Kranken die Mittel zu einer geeigneten Beschäftigung gewähren.“ Carl Pelman, Irrenbehandlung, in: Albert Eulenburg (Hg.), Real-Encyclopädie der gesammten Heilkunde, Bd. 7, Wien/Leipzig 1881, 275–283, hier: 283. Heinz Schott / Rainer Tölle, Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen, München 2006, 440. Heinz-Peter Schmiedebach / Thomas Beddies / Jörg Schulz / Stefan Priebe, Wohnen und Arbeit als Kriterien einer „sozialen Integration“ psychisch Kranker – Entwicklungen in Deutschland

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haben ausgeführt, dass sich die als sozial integrative Maßnahmen propagierten Modelle, wie die agrikole Kolonie und die ärztlich beaufsichtigte Familienpflege, bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem aus den Bestrebungen der Anstaltspsychiatrie entwickelten. Die universitäre Psychiatrie beteiligte sich kaum an diesen Debatten.11 Auch fußten die Überlegungen nicht auf einer eindeutigen psychiatrischen Leitidee, sondern wurden in erster Linie durch die jeweiligen gesellschaftlichen und sozialpolitischen Vorgaben bestimmt.12 Daraus resultiert laut Schmiedebach „die räumliche und zeitliche Begrenztheit dieser Maßnahmen“.13 Allein durch Lektüre psychiatrischer Fachpublikationen lassen sich keine allgemeingültigen Aussagen über den intra- und extramuralen Arbeitseinsatz von Geisteskranken des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts treffen. Will man die heterogene Landschaft der psychiatrischen Krankenbeschäftigung vor Beginn des Ersten Weltkrieges nachzeichnen, scheint das Studium der Verwaltungsberichte und Krankenakten der einzelnen Anstalten erfolgversprechender. Hierin offenbaren sich lokale Besonderheiten der Arbeitstherapie in Abhängigkeit von dem spezifischen Krankenkontingent, der Finanzierung der Anstalt sowie den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen der jeweiligen Region. Im vorliegenden Beitrag gilt es am Beispiel des Anstaltsbetriebes der ehemaligen Landes-Heil- und Pflegeanstalt Uchtspringe (Altmark) die Konsequenzen zu erörtern, welche sich aus dem doppeldeutigen Charakter der Krankenbeschäftigung für den (Arbeits-)Alltag der Behandelten und des Pflegepersonals ergaben. Basis der Darstellung bilden einschlägige Publikationen des Psychiaters und ersten Direktors der Uchtspringer Anstalt, Konrad Alt (1861–1922), insbesondere in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Die Irrenpflege“ sowie eine Auswahl von Krankenakten und Verwaltungsakten mit der darin aufbewahrten Korrespondenz zwischen der Anstaltsleitung und dem Provinzialverband der preußischen Provinz Sachsen, welche den Zeitraum von 1892 bis 1929 abdecken. Zu Beginn des Beitrages wird das Profil der Uchtspringer Anstalt vorgestellt. Danach folgt die Beschreibung des therapeutischen Konzepts, welchem sich die ärztliche Leitung bei der Einführung der Krankenbeschäftigung in Uchtspringe bediente. Daran anschließend werden Planung, Durchführung und Akzeptanz der Arbeitstherapie in den ersten zwei Jahrzehnten der Anstalt geschildert. Es wird dabei der Frage nachgegangen, welchen Stellenwert der ökonomische Nutzen der Arbeit der Patientinnen und Patienten bei der Einführung neuer Beschäftigungszweige und Verpflegungsformen einnahm. Ferner

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von 1900 bis 2000, in: Psychiatrische Praxis 29/2002, 285–294. Auch in der „modernen“, ergo ärztlich geleiteten „Krüppelfürsorge“ sowie in Anstalten für Taubstumme, Blinde und Lungenkranke nahm nach 1900 die ökonomische Verwertbarkeit der Arbeitskraft der Pfleglinge an Bedeutung zu. Siehe hierzu Philipp Osten, Die Modellanstalt: über den Aufbau einer „modernen Krüppelfürsorge“ 1905–1933, Frankfurt a. M. 2004; vgl. auch Sylvelyn Hähner-Rombach, Sozialgeschichte der Tuberkulose. Vom Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs unter besonderer Berücksichtigung Württembergs (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Bd. 14), Stuttgart 2000, 321–330. Schmiedebach et al., Wohnen und Arbeit, 291. Ebda., 292. Ebda., 291.

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wird erörtert, wie die Faktoren Alter, Geschlecht, sozialer Stand und Diagnose der Anstaltsbewohnerinnen und -bewohner Einfluss auf deren Arbeitseinsatz nahmen. Den darauf folgenden Abschnitt bildet die Wiedergabe ausgewählter Pflegeberichte sowie Briefe von Kranken und Angehörigen, anhand derer die Wahrnehmung der Arbeitstherapie aus Sicht der Patientinnen und Patienten verdeutlicht werden soll. Es wird geschildert, wie und welche Pfleglinge ihre Arbeitskraft zum Aushandeln von besonderen Vorteilen oder Vergünstigungen im Anstaltsalltag nutzen konnten. Zum Schluss folgt das Resümee, inwiefern die in Uchtspringe getätigte Krankenbeschäftigung als sozial (re-)integratives Moment zu werten ist. 2. GRÜNDUNG DER LANDES-HEIL- UND PFLEGE-ANSTALT UCHTSPRINGE Als im Jahre 1893 in Preußen der Wechsel zur provinziellen „Irrenfürsorge“ vollzogen wurde14, eröffnete die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Uchtspringe 1894 als erste den „Reigen der großen, neugegründeten Anstalten“.15 Die neue Provinzialanstalt, in der sowohl heilbare als auch unheilbare 200 „Epileptiker“, 100 „epileptische Irre“ und 200 „Blöde“ aufgenommen werden sollten, wurde im ländlichen Gebiet der Altmark errichtet und stand unter der Leitung des Psychiaters Konrad Alt.16 Die gemeinsame Unterbringung der Pfleglinge in der im Pavillonstil erbauten Anlage erfolgte getrennt nach Geschlecht, Alter und Versorgungsklasse. Eine besondere Krankengruppe stellten hierbei mit etwa einem Fünftel der Patientinnen und Patienten Kinder und Jugendliche dar. Kurze Zeit später wurde die Belegungszahl verdoppelt und das bevorzugte Krankenkontingent auf „nicht-epileptische Irre“ ausgedehnt.17 Seit 1896 forcierte Direktor Alt einen systematischen Ausbau der ärztlich beaufsichtigten Familienpflege speziell für die Versorgung „jugendli14

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Ab dem 1. April 1893 gingen die Zuständigkeiten für Bewahrung, Kur und Pflege der „Geisteskranken, Idioten, Epileptiker, Taubstummen und Blinden“ auf die Landesarmenverbände der einzelnen preußischen Provinzen über, denen die jeweils zugehörigen unterstützungspflichtigen Ortsarmenverbände angehörten. Hiermit hatten nicht mehr die Angehörigen oder Geburtsgemeinden für die Kosten eines Anstaltsaufenthaltes aufzukommen. Heinrich Laehr, Die Fürsorge für Epileptische und das Gesetz vom 11. Juli 1891, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 18/1892, 150–152. Der Errichtung der Uchtspringer Anstalt gingen statistische Erhebungen über Anstaltsbedürftigkeit und -versorgung von „Epileptischen“ und „Idioten“ in der Provinz Sachsen voraus, welche im Jahre 1890 vom Landtag in Auftrag gegeben worden waren. Diese ergaben, dass die Fürsorge für die genannten Hilfsbedürftigen durch die bereits vorhandenen Provinzialanstalten Nietleben und Alt-Scherbitz nicht ausreichend erbracht werden konnte. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Magdeburg (LHASA, MD), Akten des Provinzial-Landtages der Provinz Sachsen, Rep. C 90 Nr. 819, 25–30. Ludwig Wilhelm Weber, Zur Feier des zwanzigjährigen Bestehens der Landesheilanstalt Uchtspringe, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 71/1914, 805–807, hier: 805. Lars Nyhoegen, Konrad Alt und die ersten Patienten der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Uchtspringe, Diss. med., Magdeburg 2012, 42. Ebda., 48.

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cher Geistesschwacher“. In Form des „Adnex-Typ“ wurden hierzu Wärterdörfer in Uchtspringe und Umgebung errichtet.18 Den Anstaltsbewohnerinnen und -bewohnern sollte eine regelmäßige Beschäftigung in unterschiedlichen Arbeitsbereichen, vorzugsweise an der frischen Luft, ermöglicht werden. Die Kranken wurden in der anstaltseigenen Gärtnerei und Fischzucht beschäftigt. Auch bewirtschafteten sie gemeinsam mit den Pflegekräften das ca. 140 Hektar große Gut, welches sich an das Gelände anschloss.19 Weiterhin wurden in Uchtspringe frühzeitig Werkstätten errichtet, denen in der Krankenpflege geschulte Handwerker vorstanden, die die Kranken in der Arbeit anleiteten.20 So fanden die Patientinnen und Patienten bereits wenige Jahre nach der Anstaltseröffnung Arbeit in der eigenen Bürstenmacherei, Strohflechterei, Korbmacherei, Schneiderei, Schuhmacherei, Tischlerei, Sattlerei und Schlosserei mit Schmiede. Auch in der eigenen Müllerei und Bäckerei sowie in der Zigarrenproduktion wurden Kranke beschäftigt. Vornehmlich weibliche Pfleglinge zog man in den Nähund Stickstuben und der Waschküche zur Arbeit heran. Ebenso verfügte die Anstalt über eine Buchbinderei und ein fotografisches Labor.21 3. DAS THERAPEUTISCHE KONZEPT DER KRANKENBESCHÄFTIGUNG IN UCHTSPRINGE „In den heutigen kolonialen Anstalten mit ihrem freien agrikolen Betrieb begegnen Sie überall fröhlich schaffenden Menschen und nicht mehr (…) jenen haufenweise zusammengepferchten Geisteskrüppeln, die ihre Körperkräfte in Schreien und Toben betätigen und sich selber und ihren Mitbewohnern die Anstalt zur Hölle machen.“22

Konrad Alt bezeichnete die „Sorge um eine zweckmässige Beschäftigung der Kranken“ als eine „Hauptaufgabe der Anstaltsärzte“.23 In Alts Therapiekonzept stellte 18

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Die Wärterdörfer Uchtspringe und Wilhelmseich waren für männliche Kranke vorgesehen. Weibliche Kranke wurden ab 1898 in der Kreisstadt Gardelegen und ab 1903 in der neu gegründeten Kolonie Jerichow in die familiäre Verpflegung gegeben. Uchtspringe stellte diesbezüglich eine Einrichtung mit Modellcharakter für den gesamteuropäischen Raum dar. Ebda., 122–142. Zum historischen Ursprung und den unterschiedlichen Typen der Familienpflege in Europa siehe Thomas Beddies / Heinz-Peter Schmiedebach, Die Diskussion um die ärztlich beaufsichtigte Familienpflege in Deutschland: historische Entwicklung einer Maßnahme zur sozialen Integration psychisch Kranker, in: Sudhoffs Archiv: Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 85/2001, 82–107. Nyhoegen, Konrad Alt, 43. Die bei Anstaltseröffnung eingestellten Handwerker wurden zunächst im Pflegedienst tätig, um praktische Erfahrungen im Umgang mit den Kranken zu erlangen. Etwa ein halbes Jahr später wurden die Werkstätten eingerichtet. Ebda., 109. Ebda., 54. Konrad Alt, Über ländliche Beschäftigung der Kranksinnigen in Anstalt und Familienpflege, in: Christfried Tögel / Jörg Frommer (Hgg.), Psychotherapie und Psychoanalyse in Osteuropa (Uchtspringer Schriften zur Psychiatrie, Neurologie, Schlafmedizin, Psychologie und Psychoanalyse, Bd. 1), Uchtspringe 2003, 153–165, hier: 160. (Nachdruck aus: Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns 2/1908, 390–403.) Zit. n. Kurt Ackermann, Mitteilungen: Uchtspringe (Landes-Heil- und Pflegeanstalt), in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 15/1899, 44–48, hier: 46.

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die zweckgebundene körperliche und geistige Betätigung der Patientinnen und Patienten eine der zentralen nichtmedikamentösen Behandlungsformen dar. Gleichberechtigt neben der Bäder- und Bettbehandlung sowie einer speziellen Ernährung der Kranken bildete sie eine wichtige Säule der Anstaltsdiätetik.24 Im Jahre 1907, dreizehn Jahre nach der Anstaltsgründung Uchtspringes, referierte Konrad Alt auf dem Internationalen Kongress für Neurologie und Psychiatrie in Amsterdam über die erfolgreiche Umsetzung der Verpflegungsformen der agrikolen Kolonie und Familienpflege in Uchtspringe, wie sie bereits 1867 von Griesinger gefordert worden waren. Nicht ohne Stolz und untermalt von zahlreichen Fotografien aus der Anstalt und dem Pflegerdörfchen Wilhelmseich, wurden von ihm die verschiedenen Vorzüge insbesondere der ländlichen Beschäftigung der „Kranksinnigen“ beworben. In Anlehnung an die Argumentation seiner psychiatrischen Lehrer und Vorbilder25 beschrieb Alt eine „dem jeweiligen Zustand angepasste körperliche Beschäftigung“ als ein „ausgezeichnetes Kurmittel“: „Sie verschafft die so nötige Ablenkung und Zerstreuung, regt Atmung, Appetit, Stoffwechsel und Verdauung an, stärkt Muskel, Herz und Sinne, bringt Schlaf und Ruhe.“26

Dabei betonte er die durch den Arbeitseinsatz erfolgte körperliche und psychische Stärkung der Patientinnen und Patienten sowie dessen disziplinierende Wirkung im Anstaltsalltag. In Uchtspringe hätten sich hiermit sowohl Infektionskrankheiten als auch der Einsatz von Schlafmitteln und Narkotika in erheblichem Maße reduzieren lassen. Vor dem renommierten Fachpublikum führte Alt sein in der Heil- und Pflege-Anstalt erprobtes und bewährtes Stufenmodell der „zweckmäßigen Beschäftigung“ aus. Demnach solle man die psychisch Kranken so früh wie möglich an eine nützliche Betätigung heranführen.27 So sei es in Uchtspringe üblich, die Pfleglinge unabhängig von Alter, Geschlecht und sozialem Stand bereits in den Wachsälen und Aufnahmeabteilungen mit allerlei Handarbeiten wie Stricken und Sockenstopfen zu beschäftigen.28 Der stetige Wechsel von Anstrengung, Erschöpfung und Ruhe erleichtere den Neuankömmlingen das Hineinfinden und Einfügen in die Anstaltsordnung. So wirke sich eine „rechtzeitig eingeleitete, planmäßige Arbeitstherapie“ äußerst günstig auf die sich bei den Schutzbefohlenen gewöhnlich nach eini-

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Alt, Über ländliche Beschäftigung, 156. Sowohl Carl Gerhardt (1833–1902) als auch Wilhelm Oliver Leube (1842–1922), beide Schüler bzw. Mitarbeiter von Griesinger, prägten Alt während seines Studiums in Würzburg. Nyhoegen, Konrad Alt, 18–19. „[U]nerreichtesVorbild“ für die Umsetzung des Modells der „kolonialen Anstalt“ stellte für Alt die von Albrecht Paetz (1851–1922) geleitete, benachbarte Provinzialanstalt Alt-Scherbitz dar. Vgl. Albrecht Paetz, Die Kolonisirung der Geisteskranken in Verbindung mit dem Offen-Thür-System. Ihre historische Entwickelung und die Art ihrer Ausführung auf Rittergut Alt-Scherbitz, Berlin 1893. Alt, Über ländliche Beschäftigung, 156. Ein ähnliches Stufenmodell propagierte später auch Hermann Simon (1867–1947). Dessen Konzept der „aktiveren Krankenbehandlung“ gründete vornehmlich auf Erfahrungen, die Simon Anfang des 20. Jahrhunderts als ärztlicher Direktor der Provinzial-Heilanstalt Warstein machte. Hermann Simon, Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt, Berlin u. a. 1929. Alt, Über ländliche Beschäftigung, 156.

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gen Wochen einstellenden „katatonischen Symptome“ aus.29 Ebenso würden die Kranken durch das „Beispiel der arbeitenden Kameraden und des vorarbeitenden Pflegers“ zumindest zeitweilig „von etwaigen Sinnestäuschungen, Wahnideen und Zwangshandlungen“ abkommen und immer mehr Geschick in der Arbeit entwickeln, bis ihnen diese schließlich „zur Freude und zum Bedürfnis“ würde.30 Sobald es der körperliche Zustand erlaube, schließen sich daran die Mithilfe bei der anfallenden Hausarbeit und später die Beschäftigung in den Näh- und Stickstuben, Gärten, Werkstätten und auf dem Gut an.31 Besonderen Vorzug solle dabei die ländliche Arbeit erhalten, „weil sie“, so Alt, „ständigen Aufenthalt im Freien bedingt, gar mannigfaltige Abwechslung und Anregung schafft und innige Fühlung mit der Natur bringt“.32 Die in Uchtspringe gemachten Erfahrungen hätten zudem gezeigt, dass, entgegen der herrschenden Meinung über ehemalige Städter und Personen aus den höheren Kreisen, diese sich durchaus gerne mit „Garten-, Obst-, Wiesen- und Forstarbeiten“ beschäftigen würden, die gröberen Arbeiten jedoch den niederen sozialen Ständen überließen.33 „[D]en Schlussstein und die Krönung der freiesten Behandlung der Krankensinnigen“ bilde jedoch die an die Anstalt angebundene Familienpflege,34 in welcher die ländliche Beschäftigung der Kranken weitaus „mannigfaltiger, reizvoller, freier und selbständiger“ von statten gehen könne als im Anstaltsbetrieb.35 So würden besonders eigenbrötlerische Naturen, die durch die Gegenwart anderer (kranker) Menschen in ihrem Arbeitseifer gewöhnlich behindert würden, vom kleinen Rahmen des Familienverbundes profitieren: Innerhalb dessen könnten sie einen für sich abgetrennten Arbeitsbereich schaffen und ihren persönlichen Interessen nachgehen.36 Laut Alt habe es sich gezeigt, dass sich die Kranken besonders im liebevollen und umsichtigen Umgang mit Tieren positiv hervortaten und in der Tierzucht bessere Ergebnisse vorwiesen als so mancher Gesunde.37 Für das Selbstwertgefühl sei eine „nutzbringende Beschäftigung“ deshalb unumgänglich: Sie wecke in den Kranken eine bis dahin unbekannte „schlummernde Arbeitskraft“, „so daß sie den Mut und die Fähigkeit zum Wiedereintritt ins freie Leben wiedergewinnen“.38 Neben der Betonung der kurativen und rehabilitativen Eigenschaften der Arbeit der Patientinnen und Patienten scheint die Erwähnung der ökonomischen Vorteile im letzten Abschnitt des Vortrages als notwendige Ergänzung, jedoch nicht als gleichberechtigter Teil der Darstellung vor den psychiatrischen Kollegen. Die finanziellen Vorzüge, sowohl für die Anstalt als auch für die Pflegefamilien, riss Alt in wenigen Sätzen an, ohne diese weiter auszuführen. Eine gänzlich andere Fokus29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

Ebda. Ebda. Ebda. Ebda., 157. Ebda. Ebda., 156. Ebda., 162. Ebda., 163. Ebda., 164. Ebda., 165.

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sierung wird hingegen in der brieflichen Korrespondenz zwischen Anstaltsleitung und Provinzialverwaltung sichtbar. Nach dieser zu urteilen, spielte die wirtschaftliche Rentabilität der Krankenbeschäftigung eine wichtige, wenn nicht gar die wichtigste Rolle bei der Einführung der Arbeitstherapie in Uchtspringe. Im Folgenden gilt es daher, die innerbetriebliche Organisation der Krankenbeschäftigung, das Finanzierungskonzept sowie die Abhängigkeitsverhältnisse inner- und außerhalb der Uchtspringer Einrichtung zu beleuchten. 4. ORGANISATION DER KRANKENBESCHÄFTIGUNG Die Planung der Aufteilung der arbeitsfähigen Patientinnen und Patienten auf die einzelnen Arbeitsbereiche fand einmal wöchentlich statt. Hierzu fanden sich jeden Sonnabend Direktor, Gutsinspektor, Oberwärter sowie die älteren Kolonnenführer und Werkstättenleiter zu einer gemeinsamen Konferenz zusammen.39 Die Organisation der Krankenbeschäftigung führte regelmäßig zu Konflikten zwischen den Beteiligten, denn nicht immer wurde den Anweisungen des Psychiaters Folge geleistet. So beschwerte sich Alt im dritten Jahr der Anstalt bei der Provinzialverwaltung über den Gutsinspektor40 der Anstalt, dieser hätte die ihm für die Gutsarbeit zugewiesenen Patientinnen als „Saumensch“ beschimpft und wieder nach Hause geschickt.41 „Dem Wärter (…), der zufällig auf dem Gute war, hat der Herr Inspector zugerufen, er möge mit seiner Bande bleiben, wo er Lust habe.“42 Alt schlussfolgerte hieraus, „daß (…) Herr Gutsinspector (…) nicht über dasjenige Maß von Selbstbeherrschung, Einsicht und Mitgefühl verfügt, welches einzig und allein die Garantie eines stetig gleichmäßigen und liebevollen Benehmens gegen die Kranken gewährt“43,

und verbot diesem den direkten Kontakt mit den Pfleglingen.44 Insbesondere die Pflegekräfte der psychiatrischen Anstalten sahen sich durch die Einführung der Arbeitstherapie mit neuen Herausforderungen ihrer Tätigkeit konfrontiert, erweiterte sich der damit einhergehende Bewegungsradius der An-

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Dritter Verwaltungsbericht (01.04.1897–31.03.1899), Abschnitt VIII „Beschäftigung der Kranken“, in: LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2727 (Bd. 2), Jahresberichte der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Uchtspringe (1899–1904), 107–112, hier: 107. Als einem diplomierten oder staatlich geprüften Landwirt kam dem Gutsinspektor die Aufgabe zu, den Wirtschaftsbetrieb eines landwirtschaftlichen Gutes zu regeln. Er legte bspw. fest, welche Frucht auf den Feldern angebaut oder welche Tiere auf dem Gut gehalten wurden. Ähnliche Vorkommnisse schildert Paetz in anderen Einrichtungen: „(…) dass der [landwirtschaftliche] Beamte nach Belieben Tagelöhner annahm und die zur Arbeit geschickten Krankenkolonnen müssig am Strassengraben sitzen liess, wenn er eben keine Lust hatte, diese zu beschäftigen (…).“ Paetz, Kolonisirung der Geisteskranken, 110. Vermerk des Oberarztes Bockhorn vom 28.07.1896, in: LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2720, Beschäftigung der Kranken der Landes-Heil- und Pflegeanstalt zu Uchtspringe (1896–1923), 5. Brief des Direktors Alt an Landeshauptmann zu Merseburg vom 29.08.1896, in: Ebda.: 3. Ebda.

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staltsbewohnerinnen und -bewohner doch um ein Vielfaches.45 In den anstaltsinternen Fortbildungen wurde dem Uchtspringer Pflegepersonal das entsprechende Verständnis von Arbeit als therapeutisches Mittel eingeimpft. Ärzte und Oberwärter betonten, dass nur dieses es den Pflegekräften ermögliche, viele Kranke zur Arbeit zu motivieren und einem Gefängnischarakter der Krankenbeschäftigung vorzubeugen. Ohne Anwendung von Gewalt, jedoch durch gutes Zureden „in bittendem, aufmunterndem Tone“ und vorbildliches Verhalten sollten die Kranken stetig zur Arbeit animiert und angeleitet werden.46 Es wurde hervorgehoben, dass die Arbeitstherapie vom Pflegepersonal die größte Selbständigkeit verlange, so nehme der Arzt zwar die Zuteilung der einzelnen Patientinnen und Patienten auf die verschiedenen Arbeitsfelder vor, jedoch sei es „Sache der Pfleger, aufzupassen und zu erkennen, welche Arbeit dem einzelnen Kranken am meisten zusagt und wozu er am besten taugt“.47 Individuelle Neigungen und Fähigkeiten sowie jegliches auffällige Verhalten der Pfleglinge während der Arbeitszeit, wie Arbeitsverweigerung, verstärkte Reizbarkeit und Äußerung von suizidalen Gedanken, mussten an den Arzt weitergeleitet und im laufenden Pflegebericht dokumentiert werden.48 Vor allem die Beaufsichtigung der Kranken bei der Feldarbeit stellte einen Prüfstein für die Pflegekräfte dar. Fernab von der Anstalt mussten sie Streitereien und Entweichungen sowie jeglichen sexuellen Kontakt zwischen weiblichen und männlichen Kranken zu verhindern wissen und die Pfleglinge vor einer möglichen Misshandlung durch Gutsknechte in Schutz nehmen.49 Wegen des erhöhten Verletzungsrisikos erhielten die „Ausrückwärter“ genaue Anleitungen zur ersten Hilfeleistung,50 zudem wurden sie mit Hinweisen auf allgemeine und krankheitsspezifische Fluchtten-

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Dies schlug sich auch auf der gesetzlichen Ebene nieder: Mit dem Inkrafttreten des neuen Bürgerlichen Gesetzbuches im Jahre 1900 wurde „den zur Beaufsichtigung Geisteskranker verpflichteten Personen“ der Ersatz des Schadens auferlegt, der anderen von dem unbeaufsichtigten Kranken zugefügt wurde. BGB § 832. Zit. n. Adolf Emil Knecht, Ueber das Entweichen von Kranken, in: Die Irrenpflege: Monatsschrift für Irren- und Krankenpflege zur Belehrung und Fortbildung des Pflegepersonals 2/1898, 163–166, hier: 164. „Die Kranken sind keine Kinder und sind keine Soldaten. Die Methoden des Schulmeisters und des Unterofficiers passen nicht in eine Irrenanstalt.“ Friedrich L. E. Schneider, Die Beschäftigung der Geisteskranken, in: Die Irrenpflege: Monatsschrift für Irren- und Krankenpflege zur Belehrung und Fortbildung des Pflegepersonals 2/1898, 76–79, hier: 79. Die Beiträge der „Irrenpflege“ liefern zudem konkrete Formulierungsvorschläge für die Wärter: „Es wäre schade, wenn wir vor dem Gewitter nicht mehr fertig würden.“, weiter: „Jetzt ist ja bald Feierabend.“ Johannes Traub, Über den Dienst eines Ausrückwärters, in: Die Irrenpflege: Monatsschrift für Irren- und Krankenpflege zur Belehrung und Fortbildung des Pflegepersonals 9/1905, 196– 199, hier: 197. Schneider, Beschäftigung der Geisteskranken, 77. Ludwig Wilhelm Weber, Der Dienst des Pflegers bei der Außenarbeit, in: Die Irrenpflege: Monatsschrift für Irren- und Krankenpflege zur Belehrung und Fortbildung des Pflegepersonals 3/1899, 11–19. Traub, Dienst eines Ausrückwärters, 196–199. K. Bünger, Ueber die erste Hilfeleistung bei Verletzungen, in: Die Irrenpflege: Monatsschrift für Irren- und Krankenpflege zur Belehrung und Fortbildung des Pflegepersonals 3/1899, 53– 59.

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denzen vertraut gemacht.51 Am Tagesende, während die Kranken ein reinigendes Bad nahmen, mussten deren Kleidungsstücke unbemerkt nach entwendetem Werkzeug und anderem gefährlichem Gut durchsucht werden.52 Auch hatte das Personal auf passendes Schuhwerk und regelmäßige Fußpflege der Kranken zu achten, um die Arbeitswilligkeit der „Außen-Colonnen“ nicht zu gefährden.53 5. EINFLUSSNAHME DER PROVINZIALVERWALTUNG Die Uchtspringer Einrichtung finanzierte sich etwa zur Hälfte aus den Verpflegungsgeldern und zu einem Drittel durch Zuschüsse aus der Provinzialhauptkasse.54 Die Unterbringungskosten für die meist unbemittelten Patientinnen und Patienten wurden zu zwei Dritteln durch den Kreis und zu einem Drittel durch den Ortsarmenverband übernommen.55 Die restlichen Einnahmen setzten sich aus Einträgen der zur Anstalt gehörigen Grundstücke und gewerblichen Betriebe sowie Geschenken und sonstigen Zuwendungen zusammen.56 Der Provinzialverwaltung war viel daran gelegen, den Gesamtkostenaufwand für die schon bald an ihre Aufnahmegrenzen geratene Anstalt durch ökonomisch sinnvollen Arbeitseinsatz der Kranken zu senken. Bereits im Vorfeld der Errichtung der Landes-Heil- und Pflegeanstalt bestimmte die Landesregierung den Hauptzweck der Institution darin, „jeden [Pflegling] nach seinen Kräften zu einer nützlichen Thätigkeit anzuhalten und zu einem möglichst hohen Grade der Erwerbs- und Leistungsfähigkeit heranzubilden“.57 Auskünfte darüber, wie die Organisation der Krankenbeschäftigung erfolgte, welchen Anteil die Kranken bei der Verrichtung der Arbeit in den einzelnen Werkstätten und auf dem Gut stellten und ob dadurch der Eigenbedarf der Anstalt gedeckt werden konnte,58 dominierten demzufolge die regelmäßig von der Anstaltsdirektion verfassten Berichte an den höchsten Beamten des Provinzialver51

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Das Aufsparen von Nahrungsmitteln oder die Mitnahme von zusätzlicher Kleidung zur Feldarbeit wurden als Anzeichen einer bevorstehenden Flucht gedeutet. [o. V.], Die Feldarbeit, in: Die Irrenpflege: Monatsschrift für Irren- und Krankenpflege zur Belehrung und Fortbildung des Pflegepersonals 11/1907, 50–51. „Paralytiker“, „Gewohnheitstrinker“, Kranke mit Gehörstäuschungen, „Epileptiker“ im „Wandertrieb“ sowie Kranke mit Angstzuständen wurden als besonders fluchtgefährdet eingestuft. Knecht, Entweichen von Kranken, 165. Ebda., 166. [o. V.], Feldarbeit, 51. [o. V]., Uchtspringe, in: Albert Guttstadt (Hg.), Krankenhaus-Lexikon für das Deutsche Reich. Die Anstaltsfürsorge für Kranke und Gebrechliche und die hygienischen Einrichtungen der Städte im Deutschen Reich am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, Berlin 1900, 495. Nyhoegen, Konrad Alt, 100. Reglement für die Landes-Heil- und Pflegeanstalt Uchtspringe, § 46 in: LHASA, MD, Rep C 90 Nr. 820, Angelegenheiten der Landes-Heil- und Pflege-Anstalt Uchtspringe (1894), 48. Denkschrift betreffend die Erbauung einer Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische und Idioten in der Provinz Sachsen, in: LHASA, MD, Rep. C 90 Nr. 819, 66–114, hier: 75. Die jährliche Erfassung von Patientenanzahl, Anteil der Familienpfleglinge, Heilungsquote, Krankenbeschäftigungsrate, Arbeitswert, Überschuss aus der Gutswirtschaft, Zuschuss der Provinz und Gesamtkostenaufwand pro Kopf von 1894 bis 1921 in Uchtspringe ist einzusehen

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bandes, des Landeshauptmannes zu Merseburg.59 Der Landeshauptmann fungierte nicht allein als beobachtende Instanz, sondern übte maßgeblich Einfluss auf Art und Umfang der Krankenbeschäftigung in Uchtspringe aus. So mahnte er bereits im zweiten Jahr der Anstalt, „daß eine Beschäftigung der Kranken in der Gutswirtschaft noch immer in außergewöhnlich geringfügigem Umfang stattfindet“.60 Er legte der Anstaltsleitung nahe, „gef[älligst] mit dem Gutsinspektor (…) zu erwägen, ob sich nicht eine ausgiebigere Verwendung der Kranken in der dortigen Landwirtschaft ermöglichen lässt“.61 Auch forderte er, weibliche Kranke und Jugendliche stärker in die Arbeiten miteinzubeziehen.62 In dem daraufhin verfassten Jahresbericht geht Alt detailliert auf die genannten Forderungen ein: „Mit der zunehmenden Vergrößerung der Anstalt und der Belegungszahl wurden natürlich auch erhöhte Anforderungen an die Anstaltsökonomie gestellt, indeß ermöglichten die immer stabileren Verhältnisse die Kranken in noch größeren Prozentverhältnissen zu den mancherlei Arbeiten heranzuziehen und anzuleiten.“63

Die Anzahl der Arbeitstage, von denen etwa ein Zehntel auf dem Anstaltsgut verrichtet wurde, sei 1899 im Vergleich zum Vorjahr um etwa ein Drittel gestiegen.64 Auch konnte laut Alt der Anteil der Kranken an der Verrichtung von Außenarbeiten deutlich erhöht werden: fünf bis sechs ständige „Außen-Colonnen“ seien unter Aufsicht eines besonders geschulten Wärters beschäftigt. Die durchschnittliche Arbeitszeit inklusive Frühstück und Vesper betrage hier neun Stunden, während der Erntezeit würde eine weitere Stunde hinzukommen.65 Der Versuch, auch weibliche Kranke zunehmend in der Gutswirtschaft zu beschäftigen, sei erfolgreich verlaufen. Die erwünschte erhebliche Vergrößerung der Frauen-Kolonne sei jedoch davon abhängig, ob sich in nächster Zeit auch genügend weibliches Wartpersonal finden würde.66 Neben der Feldarbeit seien die Frauen mit Nähen und Stricken, der Aushilfe in Wasch- und Schälküche als auch Garten- und Hausarbeiten beschäftigt.67 Der Betrieb der Werkstätten konnte ebenso erhöht werden, jedoch sei man hier mit

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bei: Herrmann Giesau, Geschichte des Provinzialverbands Sachsen 1825–1925. II. Teil: F. Fürsorge Irrenwesen, Landes- und Pflegeanstalten, Merseburg 1926, 219–264, hier: 262–263. Der Landeshauptmann wurde vom Provinziallandtag gewählt und war mit der Aufsicht über das Verkehrswesen, die Wirtschafts-, Landschafts- und Kulturpflege als auch die Volksfürsorge betraut. Karl Erich Born, Preußen im Deutschen Kaiserreich 1871–1918. Führungsmacht des Reiches und Aufgehen im Reich, in: Wolfgang Neugebauer (Hg.), Vom Kaiserreich zum 20. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens (Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 3), Berlin u. a. 2000, 15–148, hier: 81. Brief des Landeshauptmannes zu Merseburg an Direktor Alt vom 04.08.1896, in: LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2720, 1. Ebda. Ebda. LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2727 (Bd. 2), 107. Die Anzahl der Arbeitstage stieg von insgesamt 88.150 Tagen im Jahre 1897/98 auf 120.379 Tage im Jahre 1899. Ebda. Ebda. Ebda., 108. Ebda., 112.

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Reparaturarbeiten bereits ausgelastet.68 Ausnahmen seien die Bürstenmacherei und Strohflechterei, für deren Überschuss man nun nach einem passenden Absatzmarkt suche. Auch besondere Anfertigungen wie beispielsweise Kostüme für Theateraufführungen und Bambusmöbel für den Privatbedarf der Beamten konnten unter Mitarbeit der Pfleglinge bewerkstelligt werden. Besonders hervorgehoben werden vom Direktor die erfolgreich absolvierten Meisterprüfungen zweier Handwerker sowie Gesellenprüfungen zweier Pfleglinge in der Schneiderei und Schuhmacherei.69 Weiter berichtet Alt von der Einbindung jugendlicher Kranker in den Betrieb der Buchbinderei: „Während die Erwachsenen jetzt schon zum Theil größere Arbeiten, z. B. Einbände ohne Beihilfe fertigen, werden die Kinder mit Schneiden und Aufnadeln von Closettpapier, Anfertigen von Pulverkapseln, Kleben von Düten, Falzen und Heften kleinerer Bücher u. s. w. nutzbringend beschäftigt. Auch fertigen dieselben den Christbaumschmuck zu Weihnachten für die gesamte Anstalt.“70

Zwar versichert Alt dem Landeshauptmann, dass die Arbeit ein „Mittel zur Gesundung und Beruhigung“ der Kranken darstelle und den Neigungen und Fähigkeiten der Pfleglinge in der Arbeitszuteilung Rechnung getragen wurde, jedoch wird dieser Punkt im vorliegenden Bericht nicht weiter erläutert.71 6. EINFÜHRUNG DER FAMILIENPFLEGE Mit dem steigenden Renommee und dem damit einhergehenden großen „Andrang zur Anstalt“ um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden bereits gebesserte und arbeitsfähige Patientinnen und Patienten früher als bisher beurlaubt bzw. aus Uchtspringe entlassen.72 Ähnlich den Verhältnissen vieler anderer psychiatrischer Anstalten zu dieser Zeit, veränderte sich das Krankenkontingent hin zu einem höheren Anteil von chronisch Kranken.73 In der Einführung der anstaltsgebundenen, unter ärztlicher Aufsicht geführten „familialen Versorgung“ sah Konrad Alt eine Chance, den Charakter der Heilanstalt zu erhalten und eine wesentlich kostengünstigere Alternative zur Anstaltsunterbringung zu schaffen.74 Um diesen radikalen Ansatz der „zwanglosen Behandlung“ nicht zu gefährden und das Misstrauen der Öffentlichkeit zu mildern, wurden sowohl die in die Familienpflege zu gebenden Kranken als auch die künftigen Pflegefamilien sorgfältig auf ihre Eignung hin geprüft. „Epileptiker“, „zu Entweichungen oder zur Unreinlichkeit“ neigende sowie 68 69 70 71 72 73 74

Ebda., 109. Ebda., 110–111. Ebda., 111. Ebda., 107. Ebda., 64. Vgl. Albert Behr, Psychiatrische Reiseeindrücke. Teil I: Die Familienpflege Geisteskranker, in: Baltische Monatsschrift 45/1903, 52–68, hier: 67. Konrad Alt, Allgemeines Bauprogramm für ein Landesasyl zur ausgedehnten Einführung der familiären Irrenpflege nebst Bemerkungen über die erstmalige Organisation derselben und Bestimmungen für d. Pfleger, Halle a. S. 1900.

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„körperlich besonders auffällig missgestaltete“ Personen sollten „[i]m Interesse einer ungehinderten Entwickelung der neuen Einrichtung“ von der „familialen Versorgung“ anfangs ausgeschlossen bleiben.75 Die Arbeitswilligkeit der Pfleglinge war dabei wichtigste Voraussetzung für deren Aufnahme in Pflegefamilien.76 Das Pflegegeld wurde in Abhängigkeit von der Arbeitsleistung der Kranken berechnet. Bemerkenswert dabei ist, dass der ärztliche Direktor weiterhin über den Betreuten und dessen Arbeitskraft für Anstaltszwecke verfügen konnte.77 Das „Ausleihen“ der Pfleglinge an Betriebe außerhalb der Anstalt unterstand hingegen einer strengen Reglementierung und ließ sich für Uchtspringe bisher nicht nachweisen.78 Der Anteil der Familienpfleglinge stieg sprunghaft an (von fünf auf 14 Prozent der Gesamtbelegungszahl), als im Jahre 1902 erstmalig mehr als 1.000 Kranke in der Anstalt versorgt wurden, und vervielfachte sich bis 1916 stetig. Zur Zeit des Ersten Weltkrieges befanden sich über 40 Prozent der Uchtspringer Patienten in Familienpflege.79 7. WIRTSCHAFTLICHE PRÜFUNG DER ANSTALTSWERKSTÄTTEN Die von der Provinzialverwaltung geforderte und von der Anstaltsleitung zu realisierende Selbstversorgung der Anstalt in größtmöglichem Maße sollte u. a. durch Gewinnmaximierung der Anstaltswerkstätten erreicht werden. Besonders die isolierte Lage der Anstalt, „fernab vom Pulsschlag jeder Groß-, Mittel- oder Kleinstadt“, machte es notwendig, sämtliche Reparaturen und einen Großteil der Neuan75 76

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Ebda., 30. Siehe auch Dritter Verwaltungsbericht, in: LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2727 (Bd. 2), 81. Vgl. exemplarisch den Fall des an Paranoia leidenden Wilhelm W., welcher für mehrere Jahre in Uchtspringe versorgt wurde und laut Alt der Anstaltspflege nicht mehr bedürfe. Eine probeweise Beurlaubung sei bisher fehlgeschlagen, da dessen Verwandte einen Aufenthalt bei sich ablehnten. Da Familienpflege aufgrund mangelnden Arbeitswillens nicht möglich sei, solle man den Kranken entlassen oder in das Landarmenhaus überführen. LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2715, Beschwerden über die Direktion und die Beamten der Landes-Heil- und Pflegeanstalt zu Uchtspringe (1895–1923): Brief des Direktors Alt an Landeshauptmann zu Merseburg vom 18.12.1897, 95. „Die Kranken gelten auch nach der Versetzung in Familien als zum Asyl gehörig, unterstehen demnach der Fürsorge und Aufsicht des Directors, sowie der von ihm bestimmten Ärzte und Aufseher und können jederzeit dorthin zurückgenommen werden.“ Anweisungen für die Pfleger, § 2, in: Alt, Bauprogramm für Landesasyl, 36. „Kranke bei fremden Leuten gegen Entgelt zu beschäftigen ist nur nach vorheriger ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung des Directors gestattet; der dadurch etwa erzielte Lohn fliesst in die Extrakasse des Kranken.“ Ebda., 38. In der württembergischen Heilanstalt Zwiefalten wurden Kranke hingegen vermehrt im Straßen- und Hausbau sowie als Gehilfen lokaler Handwerker außerhalb der Anstalt beschäftigt. Martina Huber / Thomas Müller, Patientenarbeit in Zwiefalten. Institutionelle Arbeitsformen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zwischen therapeutischem Anspruch und ökonomischem Interesse, in: Bernd Holdorff / Ekkehardt Kumbier (Hgg.), Schriftenreihe der deutschen Gesellschaft für Geschichte der Nervenheilkunde, Bd. 17, Würzburg 2011, 11–24, hier: 12. Giesau, Geschichte des Provinzialverbands, 262–263.

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fertigungen von Gebrauchsgegenständen durch die angestellten Handwerker und die ihnen untergebenen Kranken zu bewerkstelligen.80 Die Besetzung der Meisterstellen in den Anstaltswerkstätten gestaltete sich jedoch schwierig. So bedauerte Uchtspringes Hausinspektor Ludwig, dass die zum beschriebenen Zeitpunkt gegenwärtige Handwerkerausbildung zu spezifisch sei und die Absolventen somit kaum brauchbar für die Leitung der Anstaltswerkstätten wären, welche ein mannigfaltiges Beschäftigungsangebot für die Kranken bereitzuhalten hätten.81 Auch die in Wilhelminischer Zeit oft bemängelte hohe Fluktuation des Pflegepersonals in psychiatrischen Anstalten stellte für die regelmäßige Anwendung der Arbeitstherapie in Uchtspringe ein nicht zu vernachlässigendes Problem dar.82 Um dem Mangel an „ausreichende[m], richtig geschulte[m], sesshafte[m] Pflege- und Gutspersonal“ abzuhelfen, setzte sich Konrad Alt zeitlebens für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen seiner Mitarbeiter ein.83 Trotz der dadurch erreichten Fortschritte zeigten sich die Uchtspringer Handwerker wiederholt damit unzufrieden, dass sie, „obwohl sie in voller Berufsmäßigkeit ihr Handwerk betrieben“, bis in die 1920er Jahre „als Pfleger geführt und entlohnt wurden“ und damit ein geringeres Einkommen aufwiesen als ortsansässige Handwerker.84 Zudem sahen sie sich in ihrer beruflichen Freiheit eingeschränkt, da man ihre Leistungen durch eine fachfremde Aufsicht zu kontrollieren versuchte.85 Durch die zunehmende Überführung vieler arbeitsfähiger Kranker in die Familienpflege und das Landes-Asyl Jerichow kam es um 1900 zur Abnahme der Arbeitstage, welche durch Patientinnen und Patienten in der Anstalt verrichtet wur-

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Das Handwerk in einer modernen Landesheilanstalt. Denkschrift, bearbeitet im Auftrage der Werkstättenvorsteher-Gruppe der Landesheilanstalt Uchtspringe von Werkstättenvorsteher Rossau, in: LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2710 (Bd. 2), Dienstliche Verhältnisse der Beamten bei der Landesheilanstalt Uchtspringe (1920–1929), 167–171, hier: 168. Vgl. Berze, welcher die hohe Krankenbeschäftigungsrate der Landes-Irrenanstalt Kierling-Gugging (Niederösterreich) u. a. mit ihrer „Lage abseits vom Getriebe der Grossstadt“ begründet. Berze, Beschäftigung der Geisteskranken, 2. E. Ludwig, Beschäftigung der Kranken in der Sattlerei und Strohflechterei, in: Die Irrenpflege: Monatsschrift für Irren- und Krankenpflege zur Belehrung und Fortbildung des Pflegepersonals 2/1898, 63–66, hier: 64. So verzögerte sich die Einführung der Nordischen Weberei in der Anstalt, weil die zuvor für den Webunterricht der Kranken angelernte Pflegerin die Einrichtung bereits nach drei Jahren verließ. Brief von Direktor Alt an Landeshauptmann zu Merseburg vom 20.07.1907, in: LHASA, MD, Rep C. 92 Nr. 2720, 34–35. Nyhoegen, Konrad Alt, 105–114. Alt betonte den für ihn ersichtlichen Zusammenhang zwischen Ausbildung und Zufriedenheit des Pflegepersonals und der Krankenbeschäftigungsrate insbesondere in seinem Gutachten über die Bezirksirrenanstalt in Lothringen. Konrad Alt / Johannes Vorster, Gutachten über die Lothringische Bezirks-Irrenanstalt zu Saargemünd, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 38/1904, 693–712. Ihren Unmut äußerten die Uchtspringer Werkstättenleiter 1927 in einer Denkschrift, welche dem Landeshauptmann durch die Handwerkskammer Magdeburg überreicht wurde. LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2710 (Bd. 2), 167–171. Ebda., 168.

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den.86 Trotz der durch die starke Auslastung der Anstalt erhöhten Ansprüche an die Werkstätten sprach sich Alt wiederholt gegen die zeitweise Beschäftigung bzw. Einstellung externer Handwerker bzw. Gesellen aus, um einerseits der Anstalt unnötige Kosten und „Unannehmlichkeiten“ im psychiatrischen Tagesablauf zu ersparen87 und andererseits das Interesse der Werkstättenvorsteher an der Ausbildung ihrer kranken Zöglinge zu erhalten.88 Nur kurze Zeit später stieg die Krankenbeschäftigungsrate wieder an. Der Ausbau der Familienpflege hätte, laut Alt, den Anstoß dazu gegeben, „auch vernachlässigte und stumpfere Elemente zu ihrem eigenen Nutzen und Wohle des Segens der Arbeit wieder teilhaftig zu machen“.89 Dem Direktor war es zudem ein Anliegen, die Produktion der Anstaltswerkstätten über die Bedürfnisse der Anstalt hinaus zu steigern und überschüssige Artikel an umliegende Abnehmer zu verkaufen. Dies wurde von der Provinzialverwaltung zunächst nicht gebilligt, da die Anstalt in den Anfangsjahren nicht von der Gewerbesteuer befreit war.90 Wenig später änderten sich die Rahmenbedingungen, die Anstaltsleitung erhöhte daraufhin den Druck auf die Vorsteher der Werkstätten. Alt schrieb 1907 an den Landeshauptmann, er habe „durch wiederholte Kalkulationen der geleisteten Arbeiten festgestellt, ob und wie viel von dem Lohn durch den betreffenden Werkstattleiter verdient wird“.91 Einigen Handwerkern wurde daraufhin „ein bestimmtes wöchentlich zu erledigendes Arbeitspensum vorgeschrieben“.92 Die Korbmacherei schnitt bei der Überprüfung schlecht ab, die Vorgaben wurden nicht erfüllt, der private Abnehmer zog sich zurück.93 Mögliche Gründe des Scheiterns finden sich im Kündigungsbrief des Korbmachermeisters. Dieser beteuerte, dass durch die Anstaltsvergrößerung der Aufwand für Neuanfertigungen und Reparaturen in der Korbmacherei erheblich gestiegen und eine über den Anstaltsbedarf hin86 87

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Fünfter und sechster Verwaltungsbericht, Beschäftigung der Kranken, in: LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2727 (Bd. 2), 214 u. 333. Fünfter Verwaltungsbericht, VIII. Beschäftigung der Kranken, in: LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2727 (Bd. 2), 214–215, hier: 214. Als „Unannehmlichkeiten“ galten das unkontrollierte Verkehren von Gesunden und Anstaltsinsassen sowie die Begünstigung von Fluchtversuchen. Vgl. Knecht, Entweichen von Kranken, 164. Alt kritisierte deshalb die gänzlich konträre Praxis der Lothringischen Irrenanstalten. Alt / Vorster, Gutachten, 697. Von 950 Kranken haben 481 Kranke je 300 Arbeitstage geleistet, „eine sehr hohe Zahl, wenn man bedenkt, daß hier sehr viele bettlägerige und gelähmte Kranke sowie rund 200 Kinder vorhanden sind, die zu keiner Arbeit herangezogen werden können“. Siebenter Verwaltungsbericht, in: LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2727 (Bd. 2), 387. Die 1901 vom „Consum-Verein“ Groß-Salze geäußerte Anfrage, fünf Dutzend Fußabtreter aus Rohrgeflecht aus Uchtspringe beziehen zu wollen, lehnte der Landeshauptmann deshalb ab und ließ den Interessenten an die benachbarte Provinzial-Blindenanstalt zu Barby verweisen, die bereits von der Gewerbesteuer befreit worden war. Verfügung des Landeshauptmannes vom 22.02.1901, in: LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2720, 11. Brief des Direktors Alt an Landeshauptmann zu Merseburg, in: LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2715, 184–185. Ebda. Ebda. Andere Werkstätten zeigten bessere Ergebnisse, so wurden in der Zigarrenproduktion und der Bürstenbinderei Produkte über den eigenen Bedarf hinaus gefertigt. Siebenter Verwaltungsbericht, in: LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2727 (Bd. 2), 388.

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ausgehende, zusätzliche „Warenhauslieferung betreff 350 Reisekörbe“ unter den gegebenen Umständen nicht zu bewältigen gewesen sei.94 Zum einen müsse „der größte Teil der Weiden, die hier gebraucht werden, von mir und den Kranken geschält werden, das macht sehr viel Arbeit“, zum anderen könnten die Patienten, trotzdem sie sich willig zeigten, nicht als vollwertige Arbeitskraft gewertet werden: „[W]enn wir auch ganz gute Arbeiter dabei haben so beschäftigen sich die Leute mehr und arbeiten nicht im Akort.“95 8. STEIGERUNG DER BILDUNGS- UND ARBEITSFÄHIGKEIT JUGENDLICHER PATIENTINNEN UND PATIENTEN Die zunehmend geringere Arbeitsfähigkeit des den Anstalten „zufliessende[n] Material[s] der jugendlichen Zöglinge“ bemängelte im Jahre 1904 auch der in Uchtspringe tätige Lehrer Otto Legel (gest. 1919).96 Der Pädagoge machte dafür die sich in den Städten etablierenden Hilfsschulen und Privaterziehungsanstalten für „Geistigzurückgebliebene“ verantwortlich, welche den öffentlichen Anstalten die noch bildungsfähigen Jugendlichen entzögen.97 Dies wirke sich negativ auf die Anstaltsökonomie aus: „Die Leistungen unserer Werkstätten werden also geringer, die Anstaltsbedürfnisse (…) sind aber dieselben geblieben, haben sich wohl noch gesteigert und verfeinert. Die Anforderungen der Käufer der Massenartikel steigern sich, der Preis wird gedrückt. Alles das wirkt auf die Verpflegungsquote ein und macht sich im Etat fühlbar.“98

Der Pädagoge plädierte deshalb für die Einführung einer anstaltsinternen Fortbildungsschule. Laut Anstaltsreglement diente die Uchtspringer Einrichtung nicht allein Heil- und Pflegezwecken, sondern sollte ebenso erzieherisch auf jugendliche „Idioten“ und „Epileptiker“ einwirken. Zur Steigerung der „Bildungs- und Besserungsfähigkeit“ besuchten etwa zwei Drittel der Kinder den anstaltseigenen Schulunterricht.99 Nach Erreichen des 14. Lebensjahres konnten bildungsfähige junge Männer unter Anleitung eines Handwerksmeisters eine Berufsausbildung innerhalb der Anstalt absolvieren. Tatsächlich erreicht wurde dies jedoch in nur wenigen Fällen.100 Die anstaltsinterne Fortbildungsschule sollte nach Legels Vorstellung Ab94

Brief des Korbmachermeisters Franz K. an Landeshauptmann zu Merseburg vom 13.04.1907, in: LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2715, 182–183. 95 Ebda. 96 Otto Legel, Die Notwendigkeit der Einrichtung von Fortbildungsschulen in unseren Anstalten, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 20/1904, 123–130, hier: 126. 97 Ebda. 98 Ebda. 99 Nyhoegen, Konrad Alt, 54. 100 So berichtete der Hausinspektor 1899 von der Anstaltstischlerei. Dort sei es unter den gegebenen Umständen noch nicht gelungen, Kranke soweit vorzubilden, dass sie eine Gesellenprüfung vor dem Innungsausschuss ablegen konnten. Jedoch hätten sich diese genug Fertigkeiten angeeignet, um ihr Fortkommen im Leben außerhalb der Anstalt zu verbessern. E. Ludwig,

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hilfe schaffen: „Um den gesteigerten Anforderungen an den Berufsarbeiter der Jetztzeit genügen zu können“, würde das in der Volksschule erworbene Wissen im Hinblick auf die sich anschließende berufliche Tätigkeit angepasst und vertieft werden.101 Ähnlich dem gleichnamigen, bereits seit dem 18. Jahrhundert in Deutschland existierenden Vorbild102 bestünde die wichtigste Aufgabe einer anstaltsinternen Fortbildungsschule jedoch vornehmlich in der „Erziehung zur Arbeit“, die das Erwecken der „Arbeitslust“ in einem Lebensabschnitt „besonders starke[r] Versuchungen“ bewirken sollte.103 Die Heranbildung der kranken Jugendlichen zu „ethisch-sozialen Kulturmenschen“ sollte laut Legel in einem täglichen, eineinhalbstündigen Unterricht im Anschluss an die Werkstattarbeit erfolgen.104 Um auch Mädchen den späteren Diensteintritt in eine bürgerliche Familie zu ermöglichen, sollten diese eine dreijährige Ausbildung in der Näh- und Flickstube, in der Wäscherei und Plätterei und in der Küche durchlaufen. Zudem empfahl Legel, die weiblichen Jugendlichen in den Kinderhäusern wohnen zu lassen, um sie für die Kinderpflege nutzbar zu machen, und sie zur „Gemütsdurchbildung und Herzensveredelung“ mit pädagogisch wertvoller Literatur zu versorgen.105 9. EINFÜHRUNG NEUER BESCHÄFTIGUNGSZWEIGE Wie so manch andere psychiatrische Anstaltsleitung, sah sich auch die Uchtspringer Direktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts dazu genötigt, neue Arbeitsbereiche einzuführen, um insbesondere in den Wintermonaten ausreichend Beschäftigungsmöglichkeiten für männliche Kranke zu schaffen und auch Frauen der höheren Stände in die Arbeitstherapie mit einzubinden.106 Anders, als es das therapeutische

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Etwas über die Anstaltstischlerei, in: Die Irrenpflege: Monatsschrift für Irren- und Krankenpflege zur Belehrung und Fortbildung des Pflegepersonals 2/1898, 123–125, hier: 124. Legel, Fortbildungsschulen in Anstalten, 125. Zur Geschichte der Fortbildungsschulen als Vorläufer der Berufsschulen siehe Wolf-Dietrich Greinert, Geschichte der Berufsausbildung in Deutschland, in: Rolf Arnold / Antonius Lipsmeier (Hgg.), Handbuch der Berufsbildung, 2. Aufl., Wiesbaden 2006, 499–508. Legel, Fortbildungsschulen in Anstalten, 125. Ebda., 128. Ebda., 130. Seine Vorstellungen konnte Legel auch in seiner späteren Tätigkeit als Erziehungsinspektor und Verwaltungsdirektor einer der größten orthopädischen Privatanstalten für Kinder und Jugendliche der damaligen Zeit, dem späteren Oskar-Helene-Heim, verwirklichen. Otto Legel, Die Handwerksabteilung, in: Krüppel-Heil- und Fürsorge-Verein für Berlin Brandenburg e. V. (Hg.), Dritter Rechenschafts-Bericht über die Berlin-Brandenburgische KrüppelHeil- und Erziehungsanstalt für die Zeit von Januar 1909 bis September 1910, Berlin 1910, 35–38. Siehe auch Osten, Modellanstalt, 134–147. Vgl. Jahresbericht über den Stand des Irrenwesens im Deutschen Reich von Dr. Deiters (Andernach). Wil und Freiburg: neue Werkstättengebäude; Neustadt-Holstein: Bürstenmacherei; Weißenau: Kerbschnitzerei, Tuchendflechterei; Schußenried: Druckerei; Klosterneuburg: Herstellung künstlicher Blumen; Illenau: schwedische Weberei. Zit. n. [o. V]., Beschäftigung Geisteskranker, in: Die Irrenpflege: Monatsschrift für Irren- und Krankenpflege zur Belehrung und Fortbildung des Pflegepersonals 10/1906, 185.

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Konzept der Krankenbeschäftigung vermuten ließe, kamen konkrete Vorschläge und Initiativen hierzu nicht aus den Reihen der Ärzteschaft, sondern von Seiten der Politik bzw. der Provinzialverwaltung. Auf Anraten des Ministers für geistliche, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten107 wurde Alt im Jahre 1904 von der Provinzialverwaltung damit betraut zu eruieren, inwiefern die „nordische Weberei“ eine geeignete und ökonomisch sinnvolle Beschäftigung besonders weiblicher Erkrankter darstelle.108 Die nordische Kunstweberei wurde mit staatlicher Unterstützung seit Beginn der 1870er Jahre als Volkskunst neu belebt und nahm um die Jahrhundertwende auch im norddeutschen Gebiet und in Berlin einen breiten Raum im Bereich der Textilindustrie ein.109 „Aus dem Bestreben, die wirtschaftliche Lage der bäuerlichen Bevölkerung in ärmeren Gegenden zu verbessern“, wurden zunächst im nordschleswigschen Raum Webschulen gegründet.110 In Regierungs- und Psychiatriekreisen wurde die Einführung der Weberei und Spitzenklöppelei auch in Anstalten für Blinde, Taubstumme, „Schwachsinnige“ und „Verkrüppelte“ nach skandinavischem Vorbild diskutiert.111 Die Befürworter bemängelten, dass man in deutschen Anstalten bisher großen Wert auf die meist erfolglose Vermittlung von theoretischem Schulwissen gelegt hätte und nun eine „systematische Ausbildung manueller Tüchtigkeit“ etabliert werden müsse.112 Letztere würde selbst aus scheinbar bildungsunfähigen Zöglingen sowohl weiblichen als auch männlichen Geschlechts nützliche Mitglieder der Gesellschaft machen, die wirtschaftlich verwertbare Arbeit leisteten. Auch für die Behandlung Geistes- und Nervenkranker eigne sich die Weberei, „um deren Gedanken auf etwas Anderes als auf die eigene Person zu richten“.113 Der Uchtspringer Direktor besuchte daraufhin die Kieler Webeschule und die „Idiotenanstalt“ Schleswig. Letztere war 1900 von einer kleinen, privaten Einrichtung in die öffentliche Hand der schleswig-holsteinischen Provinzialverwaltung übergegangen.114 Laut Alt sei dort die Einführung der nordischen Weberei auf An107 Brief des Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten an Oberpräsident der Provinz Sachsen vom 17. 06. 1904, in: LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2720, 12. 108 Brief des Landeshauptmannes zu Merseburg an Direktor Alt vom 19.07.1904, in: E bda., 14. 109 [o. V.], Nordische Kunstweberei, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 14, Leipzig 1905, 761–762. Deren Erzeugnisse fanden durch zahlreiche Ausstellungen in europäischen Großstädten rasch allgemeine Anerkennung. Zeitgenössische Künstler versuchten sich an der Neuinterpretation der alten Muster. Lorentz Dietrichson, Nordische Bild-Weberei auf der Weltausstellung, in: Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten 6/1900, 526–532. 110 [o. V.], Nordische Kunstweberei, 761–762. 111 Das Thema wurde auf der in Düsseldorf tagenden Konferenz der preußischen Landesdirektoren im Mai 1904 und auf der Jahresversammlung des deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit im September 1904 erörtert. [?] Hansen, Die Erweiterung des Handarbeitsunterrichts für schwachsinnige, taubstumme und verkrüppelte Personen, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 60/1904, 284–292. 112 Ebda., 285. 113 Ebda., 290. 114 Zur Geschichte der „Idiotenanstalt“ Schleswig siehe Susanna Misgajski / Uwe Danker, Der Hesterberg. 125 Jahre Kinder- und Jugendpsychiatrie und Heilpädagogik in Schleswig (Veröf-

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ordnung der Landesdirektion, jedoch gegen den Willen des ärztlichen Direktors verlaufen.115 Trotzdem sprach sich Alt wärmstens für die Einführung der Weberei auch in Uchtspringe aus. Zunächst für zwölf bis 14 weibliche „Epileptische“, „Hysterische“ und jugendliche „Idioten“ bestimmt, wurde die Ausdehnung der „in hohem Maasse zusagende[n] Arbeit“ auf „Damen aus den Pensionärsvillen“ 116 und die Bewohner der Knaben- und Männerhäuser in Angriff genommen.117 Weiter sah es der Direktor vor, ausgewählten Kranken ihren Webstuhl in die Familienpflege mitzugeben, damit diese ihren Aufenthalt eigenhändig finanzieren konnten.118 Die meisten der in Uchtspringe gewebten Stoffe, deren Strapazierfähigkeit der Direktor im Vergleich zu industriell hergestellten Stoffen lobte, fanden in der Anstalt Verwendung. Der Rest wurde mit Erlaubnis der Provinzialverwaltung auf dem öffentlichen Markt veräußert: „Viel Anklang und Käufer finden die (…) rohseidenen Decken, Gardinenstoffe und Tischdecken.“119 Im Jahre 1910 führte Uchtspringe als erste psychiatrische Anstalt im deutschsprachigen Raum die Spitzenklöppelei ein. Zwölf bis 15 Frauen wurden hier nach einer 14-tägigen Lehrzeit und darauf folgenden zweimonatigen Bewährungsphase etwa acht Stunden täglich beschäftigt.120 Alt betonte die besondere Eignung der Klöppelei für die Anstaltspfleglinge, würden diese doch „am liebsten solche Arbeiten [verrichten], deren Fortgang ihnen täglich erkennbar [werde]“.121 Weiter heißt es in der Korrespondenz mit dem Landeshauptmann, „daß die leicht schwachsinnigen Jugendlichen (…) die zum Klöppeln erforderlichen Handgriffe sicherer erlernen und auch schöner arbeiten, als selbst Gesunde gleichen Alters“.122 Die Uchtspringer „Spitzen-Collection“ [Abb. 1] fände dank der Neuheit genügend Abnehmer und sei selbst bei der Kaiserin auf „allerhöchsten Beifall“ gestoßen.123 Die in Uchtspringe und der „Krüppelanstalt“ Nowawes bei Potsdam gemachten Erfahrungen mit der Spitzenklöppelei veranlassten den Minister des Inneren dazu, die Einführung dieses Beschäftigungszweiges in allen „Krüppel-, Idioten-, Blinden- und Taubstummenanstalten“ des Deutschen Reiches anzuregen.124

fentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs, Bd. 56), Schleswig 1997. 115 Brief des Direktors Alt an Landeshauptmann zu Merseburg vom 25.10.1904, in: LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2720, 16–17, hier: 17. 116 Brief des Direktors Alt an Landeshauptmann zu Merseburg vom 25.09.1905, in: Ebda., 29–30. 117 Brief des Direktors Alt an Landeshauptmann zu Merseburg vom 20.07.1907, in: Ebda., 34–35. 118 Brief des Direktors Alt an Landeshauptmann zu Merseburg vom 25.10.1904, in: Ebda., 17. 119 Brief des Direktors Alt an Landeshauptmann zu Merseburg vom 20.07.1907, in: Ebda., 34. 120 Brief des Direktors Alt an Landeshauptmann zu Merseburg vom 28.06.1911, in: Ebda., 38–39. 121 Ebda., 39. 122 Ebda. 123 Ebda. 124 Brief des Ministers des Inneren an die Oberpräsidenten vom 18.05.1911, in: Ebda., 37. Vgl. die Einführung der Spitzenklöppelei im Unterricht des Berlin-Brandenburgischen Krüppel-Heilund Fürsorge-Vereins. Osten, Modellanstalt, 140.

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Abb. 1: Uchtspringer „Spitzen-Collection“, gefertigt in der 1910 eingerichteten, anstaltseigenen Spitzenklöppelei. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Magdeburg, C 92 Provinzialverband, Nr. 2720, Bl. 41/2.

10. ANEIGNUNG DER ARBEITSTHERAPIE DURCH PFLEGLINGE UND IHRE ANGEHÖRIGEN Nach der Darstellung der strukturellen Rahmenbedingungen der Krankenbeschäftigung in der Anstalt Uchtspringe beschäftigt sich der folgende Abschnitt mit den die Arbeit ausführenden Patientinnen und Patienten selbst. Hierzu wurden wenige ausgesuchte Krankenakten als Quelle hinzugezogen, die freilich keine allgemeingültigen Aussagen über die Wahrnehmung der Arbeitstherapie bei den Insassinnen und Insassen der Anstalt und ihren Angehörigen erlauben. Jedoch eröffnen die darin aufbewahrten Pflegeberichte und Selbstzeugnisse eine Möglichkeit, die Pfleglinge, also die scheinbar Abhängigen, im Hinblick auf ihren Arbeitseinsatz als Akteurinnen und Akteure zu analysieren. Karen Nolte hat in ihrer Monografie „Gelebte Hysterie“ Lüdtkes Konzept des „Eigen-Sinns“125 für eine Patientinnen- und Patientengeschichte der Psychiatrie um 1900 fruchtbar gemacht.126 Demnach vermeidet 125 Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993. 126 Karen Nolte, Gelebte Hysterie: Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900 (Geschichte und Geschlechter, Bd. 42), Frankfurt a. M. 2003.

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Nolte in ihrer Untersuchung, die „hysterischen“ weiblichen Kranken der LandesHeilanstalt Marburg entweder als bloße Opfer des Systems Anstaltspsychiatrie oder als autonom handelnde Subjekte anzusehen. Vielmehr werden die Krankengeschichten auf widersprüchliche oder scheinbar unsinnige Verhaltensweisen der Patientinnen analysiert, um darin Hinweise auf Momente „subjektiver Aneignung und Erfahrung“ zu entdecken.127 Bezogen auf Uchtspringe bedeutet dies: Will man die arbeitenden und nicht arbeitenden Insassen als „facettenreiche“, mehrdeutige und damit überaus lebendige Individuen sichtbar machen,128 so muss danach gefragt werden, wie diese sich den ihnen vorgegebenen Lebens- und Arbeitsraum auf eigene Weise aneigneten, ergo wahrnahmen, deuteten und bespielten.129 Wann und wie erlebten die Kranken die ihnen verordneten Arbeitsmaßnahmen als Chance, wann und wie als Zumutung? Welche Ausdrucksweisen – gesprochenes und geschriebenes Wort, Kleidung, Körperhaltung etc. – gebrauchten sie, um ihren Unmut bzw. ihr Einverständnis gegenüber Personal, Behörden und Angehörigen zu bekunden? Wie nahmen sich die Patientinnen und Patienten gegenseitig wahr? Was geschah mit der Entlohnung, die sie für ihren Fleiß und Gehorsam erhielten? Wie begegneten die Familien den internierten Verwandten? Und schließlich: Wann gelang durch Anstaltsarbeit ein Anknüpfen an die frühere (Berufs-)Identität und/oder an eine Zukunft außerhalb des Anstaltsapparates? „Die Leute die seid ½ Jahr keinen Anfall gehabt habe müssen sich ins Bett legen, die andern die Krank sind müssen mitt zuarbeit.“130 Trotz der nicht immer für alle Behandelten nachvollziehbaren Kriterien, nach denen Ärzte entschieden, welche Kranken sie der Arbeitstherapie zuführten und welche sie ins Bett verwiesen, stellte die „nutzbringende Beschäftigung“ für die meisten Patientinnen und Patienten eine willkommene Abwechslung im Stationsalltag dar. Viele deuteten die Aufforderung zur Arbeit als Hinweis auf eine baldige Entlassung und gingen dieser deshalb zunächst gerne nach.131 Andere wiederum verweigerten sich gleich zu Beginn ihres Anstaltsaufenthaltes und mussten stetig zur Arbeit aufgefordert werden – so auch im folgenden Fall geschehen. Der junge Fleischerlehrling Reinhold E. wurde 1897 in die Uchtspringer Anstalt eingewiesen, um auf Gemeingefährlichkeit geprüft zu werden. Laut Anamnese litt er unter „Dämmerzuständen“ und wurde mehrfach bei „unzüchtige[n] Handlungen“ an Kindern ertappt.132 Der mit der Verdachtsdiagnose „Epilept[isches] Irresein“ Versehene zeigte anfangs nur wenig Lust, 127 Ebda., 19. 128 Alf Lüdtke, Alltagsgeschichte: Aneignung und Akteure. Oder – es hat noch kaum begonnen!, in: WerkstattGeschichte 17/1997, 83–92, hier: 86. 129 Folgende Fragen sind in Anlehnung an Lüdtke formuliert. Ebda., 84. 130 Brief des Patienten Wilhelm N. an Landeshauptmann zu Merseburg vom 15.05.1900, in: LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2715, 146–147. 131 L. Richter, Über die Verwendung Geisteskranker im Familienhaushalt innerhalb des Anstaltsrayons vom Standpunkt der unbefangenen Beobachtung, in: Die Irrenpflege: Monatsschrift für Irren- und Krankenpflege zur Belehrung und Fortbildung des Pflegepersonals 8/1904, 117– 122, hier: 122. 132 Anamnese (laut Fragebogen) bei Erstaufnahme (29.10.1897), in: Archiv des Fachkrankenhauses Uchtspringe (FKHU), Patientenakten: Akte Reinhold E. (1897).

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sich auf dem Anstaltsgut zu betätigen. Willigte er im Laufe der Zeit ab und an dann doch in die „nützliche Beschäftigung“ bei der „Außen-Colonne“ ein, ging sein Umdenken auch mit einer äußerlichen Veränderung einher: „Will mit zur Arbeit gehen; erklärt sich bereit Anstaltskleidung zu tragen; am Sonntag sein eigenes Zeug.“133 Auf dem Feld angekommen, „[a]rbeitet [er] jedoch kaum, steht herum, neckt die anderen Kranken“.134 Auch entfernte sich der Patient regelmäßig von der Kolonne, um sich, laut Auskunft der Pfleger, geschlechtlich mit dem Küchenpersonal zu vergnügen. Der behandelnde Arzt reagierte mit Verordnung der Bettbehandlung und verschärfte die Beaufsichtigung während der Arbeitszeit.135 Auch machte sich die Anstaltsleitung gruppendynamische Prozesse innerhalb der Patientenschaft zu Nutze: „Die anderen Kranken [der] Colonne sind auf ihn geladen, weil er nicht arbeitet. Sie drohen, ihn zu verhauen; seitdem fasst er etwas mit an!“136 Laut dem fortlaufenden Pflegebericht ließ sich Reinhold E. während seines zweijährigen Aufenthaltes durchaus für einige Tage bis Wochen disziplinieren, arbeitete zeitweilig sogar fleißig mit. Jedoch schien ihm die verordnete „Außenarbeit“ weniger als therapeutisches Mittel, sondern eher als notwendiges Übel, um seinen Bewegungsraum innerhalb der Anstalt zu erweitern und Vergünstigungen erhalten zu können. So schrieb er an seine Familie: „Mein neuer Anzug wird in hiesiger Schneiderei umsonst angefertigt, (…), [der Arzt] sagte, daß dies durch meine Beschäftigung hierselbst gedeckt würde.“137 Noch mehr als Reinhold E., setzte der im Folgenden beschriebene Patient seine Arbeitskraft bewusst als Instrument ein, um mit den Ärzten in Verhandlung über Entlohnung und Bewegungsradius zu treten. Der 58-jährige Arbeiter Ferdinand W. wurde im Jahre 1898 „durch Polizei der Hallenser psychiatrischen Klinik gefesselt zugeführt, nachdem er hilfe-rufend und auf vermeintliche Verfolger schimpfend auf der Strasse gefunden [worden] war“.138 Anschließend verlegte man ihn nach Uchtspringe. Laut eigener Auskunft litt er seit etwa 20 Jahren an „Krämpfen“ mit Bewusstseinsverlust und anschließender Amnesie.139 „Früher habe er noch getrunken, jetzt aber schon seit Jahren keinen Schnaps mehr angerührt“ und sei „sonst ein nüchterner, fleißiger Mensch gewesen“.140 Bereits wenige Tage nach der Aufnahme wurde er zunächst auf der Station und später erfolgreich in der Spülküche beschäftigt. In der Hoffnung auf baldige Entlassung, fügte er sich meist problemlos in die Anstaltsverhältnisse: „Drängt nicht fort, meint es sei hier ja ganz schön. Er habe ja seine Ordnung u. nicht zu schwer zu arbeiten.“141 Nach zwei Monaten wurde der

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Pflegebericht vom 10.02.1899, in: Ebda. Pflegebericht vom 20.02.1899, in: Ebda. Pflegebericht vom 01. und 20.09.1899, in: Ebda. Pflegebericht vom 01.03.1899, in: Ebda. Brief des Patienten Reinhold E. an seine Eltern vom 29.08.1900, in: Ebda. Anamnese (laut Fragebogen) bei Erstaufnahme (02.11.1898), in: FKHU-Akte Ferdinand W. (1898). 139 Ebda. 140 Status praesens vom 25.11.1898, in: Ebda. 141 Pflegebericht vom 26.11.1898, in: Ebda.

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Patient als „gebessert“ entlassen.142 Drei Wochen später kam es unter ähnlichen Umständen zur wiederholten Aufnahme.143 Der Patient wurde im selben Arbeitsbereich eingesetzt, jedoch stellte er nun Bedingungen für die Verrichtung der Arbeit auf: „Arbeitet fleißig in der Spülküche u. ist ruhig u. geordnet, solange man ihm im Betr. seines Sonntagsausganges keine Schwierigkeiten macht. Da er im Übrigen dabei nichts anstellt, wird ihm diese Vergünstigung nicht entzogen.“144

Regelmäßig durfte der Kranke in Begleitung eines Pflegers und Mitpatienten die Dorfkneipe aufsuchen, von der er mehr oder weniger angetrunken in die Anstalt zurückkehrte.145 „Hält die Spülküche gut in Ordnung, ist fleißig u. anscheinend zufrieden, da er täglich eine Flasche Bier bekommt u. regelmäßig vor dem Hause spazieren gehen kann.“146 Zudem gewährte ihm die Direktion ein kleines Taschengeld, da er drohte, die ihm zustehende Rente zur Deckung der Verpflegungskosten sonst nicht der Anstalt zukommen zu lassen.147 Verwunderlich ist hierbei, dass Ferdinands Diagnose – „transitorische Tobsucht auf epileptischer Basis“148 – die Ärzte nicht daran hinderte, von dem bei „Epileptikern“ vermeintlich gebotenen Abstinenzgrundsatz abzuweichen.149 Warum wurde das damals tradierte psychiatrische Wissen in der Anstaltspraxis ignoriert? Geschah dies zugunsten der Aufrechterhaltung des Hausfriedens und des Arbeitswillens? Oder lag dies in Alts Konzept für die Behandlung Alkoholkranker begründet, nach welchem eine Verdrängung des Branntweines durch kontrollierte Gaben von Bier und Landwein bewirkt werden sollte?150 Eine gänzlich andere Art, mit der Anstaltsarbeit umzugehen, hatte die Uchtspringer Patientin Marie Luise C. Die 27-jährige Dienstmagd, welche seit ihrer Jugend sowohl unter epileptischen Krampfanfällen als auch Absencen litt, wurde wegen „mehrfach tobsüchtige[n] Erregungen u. Dämmerzustände[n] von tage- bis wochenlanger Dauer“ und Selbstbeschädigung in die Anstalt gebracht,151 wo sie sich sechs Jahre später suizidierte. Laut Pflegebericht litt die Patientin unter fortwährenden Selbstzweifeln, geriet aus geringstem Anlass in „heftige Erregungszustände“ und Gewaltausbrüche und unternahm mehrere Flucht- und Suizidversuche. Andererseits wird sie aber als „eine der fleißigsten u. saubersten Arbeiterinnen“ 142 143 144 145 146 147 148 149

Pflegebericht vom 04.01.1899, in: Ebda. Anamnese bei Zweitaufnahme (24.01.1899), in: Ebda. Pflegebericht [Datum n. lesbar, vermutl. März 1900 bis Jan. 1901], in: Ebda. Pflegebericht vom 01.03.1900, in: Ebda. Pflegebericht vom 20.04.1899, in: Ebda. Pflegebericht vom 01.02.1900, in: Ebda. Aufnahmeblatt bei Erstaufnahme (02.11.1898), in: Ebda. „Da Epileptiker vielfach alkoholintolerant sind, so kann ein Alkoholexzeß mit einem pathologischen Rausch enden.“ Arthur Hermann Hübner, Lehrbuch der forensischen Psychiatrie, Bonn 1914, 712. 150 Konrad Alt, Ueber Wert und Einrichtung besonderer Heilstätten für Alkoholkranke, in: Der Alkoholismus: Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der Alkoholfrage 4/1903, 25–57, hier: 40. 151 Anamnese vom 12.11.1894, in: FKHU, Akte Marie Luise C. (1894).

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beschrieben, „die mit außerordentlichem Eifer bei der Sache“ sei und mit „Hausarbeit“ und Stricken beschäftigt wird.152„[I]n ihren guten Tagen [sei sie] freundlich und dankbar gegen die Ärzte u. d. Wartepersonal.“153 Während des ersten Jahres in Uchtspringe trug sich die Patientin noch mit Hoffnung auf ein Leben außerhalb der Anstalt. Nach einem ihrer Fluchtversuche „schimpfte [sie], daß man sie nicht entlassen wolle, sie könne sich ihr Brot selbst verdienen. Wenn sie hier bleiben müsse, würde sie sich doch einmal das Leben nehmen.“154 Da die Anfälle trotz Brombehandlung etc. bestehen blieben und sie weiterhin als eigen- und fremdgefährdend beurteilt wurde, konnte ihrem Wunsch von Seiten der Anstaltsleitung nicht entsprochen werden. Analysiert man die Eintragungen der folgenden Jahre, so trat bei Marie Luise C. ein Prozess ein, den der Anstaltspsychiater Josef Starlinger (1862– 1943) mit folgenden Worten umschrieb: „Durch die Tätigkeit in der Anstalt verwachsen die Kranken direkt mit derselben. Sie wird ihnen Heimat (…). Sie fühlen sich mehr als Hausgenosse, weniger als Internierte.“155 Die Patientin identifizierte sich in solch starkem Maße mit dem Reinigen der Zimmer, dass sie sich zunehmend als Teil des Personals wahrnahm und sich aggressiv gegen die anderen Kranken abgrenzte. „Pat. sollte (…) heute im Bett bleiben und meinte jetzt, die Wärterinnen würden ohne ihre Hilfe nicht fertig mit dem Reinigen der Säle. Sie ärgerte sich darüber, daß eine andere Kranke wischen half, gerieth in einen Streit mit derselben und warf der dann einen Milchbecher an den Kopf.“156

Wurde ihre Arbeitsfähigkeit in irgendeiner Weise in Frage gestellt oder trat eine andere Kranke mit ihr vermeintlich in Konkurrenz, dann reagierte sie stets mit einem stereotyp anmutenden Handlungsablauf: Sie verteilte das Wischwasser auf dem Boden, demolierte Gegenstände, griff Mitpatientinnen und Pflegekräfte an, zog sich aus und legte sich nackt unter das Bett oder versuchte, sich vor aller Augen mit einem Tuchstreifen zu erdrosseln.157 Ließ sie sich durch wohlwollende Worte des hinzueilenden Arztes nicht beruhigen, wurde sie in ein Einzelzimmer gebracht, „chloroformiert“ und für mehrere Stunden in eine „feuchte Packung“ gewickelt.158

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Pflegebericht vom 11.06.189[?] [n. lesbar], in: Ebda. Ebda. Pflegebericht vom 25.08.189[?], in: Ebda. Josef Starlinger, Beschäftigungstherapie bei Geisteskranken, in: Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift 9/1907, 53–57, 61–65, hier: 64. 156 Pflegebericht vom 15.11.189[?], in: FKHU-Akte Marie Luise C. (1894). 157 Pflegebericht vom 18.02.1897, in: Ebda. 158 Pflegebericht vom 27.05.189[?], in: Ebda. Bei einer „feuchten Packung“, auch „feuchte Einwicklung“ genannt, wird der Körper mit Ausnahme des Kopfes in ein nasses Tuch und anschließend eine Wolldecke gewickelt. Dies bewirke eine Ableitung des Blutflusses vom Gehirn in die Körperperipherie, wodurch eine Beruhigung des zuvor erregten Kranken erreicht werden sollte. Ludwig Wilhelm Weber, Die feuchte Packung, ihr Nutzen und ihre Gefahren in der Irrenpflege, in: Die Irrenpflege: Monatsschrift für Irren- und Krankenpflege zur Belehrung und Fortbildung des Pflegepersonals 2/1898, 101–108.

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Danach nahm sie ihre Arbeit für gewöhnlich wieder auf, „doch wird sie möglichst so beschäftigt, daß sie nicht mit andern Kranken in Streit gerathen kann.“159 Vergleicht man die Kranken- und Arbeitsgeschichte der Marie Luise C. mit den zuvor geschilderten Fällen, so werden eklatante Unterschiede ersichtlich. Zu keinem Zeitpunkt nutzt die Kranke ihre Arbeitskraft zum Aushandeln von Vergünstigungen, auch ist von einer Entlohnung nicht die Rede. Die Arbeit ist der Patientin nicht Mittel zum Zweck, sondern wirkt zunehmend identitätsstiftend – jeder Arbeitsentzug wird als bedrohlich empfunden: „Wozu lebe ich denn noch, wenn ich immer im Bett liegen muß?“160 Sicherlich spielte hierbei ihre bisherige Tätigkeit als Dienstmagd eine nicht unwesentliche Rolle, könnte das Reinigen der Krankenzimmer doch als Anknüpfen an ihr früheres Leben gedeutet werden. Auch ist davon auszugehen, dass es ihrem Geschlecht zu „verdanken“ ist, dass ihre Arbeit nicht mit Geld entlohnt wurde. So führt auch Hähner-Rombach in ihrer 2000 erschienenen Monografie zur „Sozialgeschichte der Tuberkulose“ an, dass in den öffentlichen Lungenheilstätten die Beschäftigung der weiblichen Kranken „eher der Senkung der Personalkosten gedient zu haben“ scheine und eine Bezahlung dieser nicht dokumentiert sei. „Da Männer (…) schwieriger ruhig zu halten waren, besonders in der letzten Zeit ihres Aufenthaltes, wenn es ihnen besser ging, war die Ausweitung der (bezahlten) Tätigkeiten sicher mit ein Mittel, die Disziplin aufrecht zu erhalten.“161

In Uchtspringe fand, wie in den meisten der damaligen Anstalten mit Krankenbeschäftigung,162 eine Belohnung der Arbeitseifrigen in Form von Kostzulagen, Zigarren, Erfrischungsgetränken sowie einer Aufbesserung der Kleidungsstücke statt. Auch wurden den Arbeitern, wie bereits oben geschildert, Ausflüge in die Umgebung und manchmal auch ein kleines Taschengeld gewährt. Für jeden von den Bewohnerinnen und Bewohnern verrichteten Arbeitstag floss der sogenannten „Arbeitsverdienstkasse“ zudem ein bestimmter Geldbetrag zu, mit welchem monatlich stattfindende Vergnügungen wie „Theater, Tanz, Gesangsvorträge und Bespeisung“ für alle Kranken finanziert wurden.163 Eine direkte, nach Tarif gestaffelte Entlohnung der arbeitenden Pfleglinge fand in Uchtspringe nicht statt. Einzelne Anstaltspsychiater, wie Josef Berze (1866–1958) und August Hegar (1866–1926), wurden sich des Verarmungsproblems der Angehörigen von Psychiatrieinsassen bewusst und regten eine Diskussion über mögliche Entlohnungskonzepte in Abhän159 Pflegebericht vom 08.04.189[?], in: FKHU-Akte Marie Luise C. (1894). 160 Wörtliches Zitat der Patientin Marie Luise C. im Pflegebericht vom 13.03.189[?], in: Ebda. 161 Sylvelyn Hähner-Rombach, Sozialgeschichte der Tuberkulose. Vom Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs unter besonderer Berücksichtigung Württembergs (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Bd. 14), Stuttgart 2000, 322–323; vgl. den Beitrag von Maike Rotzoll über die Arbeitstherapie in der NS-Zeit in diesem Band. Demnach hatten Anstaltsinsassinnen und -insassen, welche in der Außenarbeit, im Handwerk oder im Büro beschäftigt waren, eine größere Chance, der Euthanasie zu entgehen, als solche, die sich vorwiegend in weiblich konnotierten Arbeitsbereichen wie Haus und Küche betätigten. 162 August Hegar, Über Arbeitsentlohnung in unseren Irrenanstalten, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 63/1906, 825–847. 163 Siebenter Verwaltungsbericht, in: LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2727 (Bd. 2), 387.

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gigkeit von Diagnose und Bedürftigkeit der arbeitenden Pfleglinge an. Tatsächlich konnte der dauerhafte Anstaltsaufenthalt eines zuvor zum Erwerb beitragenden Ehepartners oder Kindes den finanziellen Ruin einer Familie bedeuten, was in nicht wenigen Fällen zur vorzeitigen Entlassung der Patientinnen und Patienten führte.164 Für Uchtspringe lässt sich belegen, dass der Anstaltsaufenthalt vieler arbeitsfähiger Pfleglinge von mehrwöchigen Urlaubsaufenthalten unterbrochen wurde, deren Zweck die Aushilfe der Kranken bei der Arbeit in der eigenen Familie war. Der Bitte der Angehörigen, den kranken Verwandten insbesondere für die Zeit der Aussaat und Ernte heranziehen zu dürfen, wurde von Seiten der Leitung nach Möglichkeit entsprochen. Zuweilen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass mit der Arbeitskraft der Patientinnen und Patienten zwischen Anstalt und Angehörigen auch verhandelt wurde. Exemplarisch sei an dieser Stelle der Fall der Patientin Anna K. vorgestellt: ihr Ehemann, der Arbeiter Andreas K., bat die Direktion, seine epilepsiekranke Frau „auf 8–14 Tagen nach hier zu beurlauben, damit ihm dieselbe beim Aufnehmen seiner Kartoffeln behilflich sein kann, da er selbst hat wenig Zeit dazu“.165 Anna K. wurde daraufhin unter Mitgabe von Brompulver, mit der Aussicht auf eine sich anschließende Entlassung, beurlaubt.166 Etwa einen Monat später, nach getaner Arbeit, berichtete der Ehemann von erneuten Krampfanfällen und bat „herzlich sie [Anna K.] nicht zu entlassen“.167 11. BERUFLICHE INTEGRATION DER KRANKEN AUSSERHALB DER ANSTALT Um nachvollziehen zu können, inwiefern die Krankenbeschäftigung tatsächlich zur sozialen Integration der Uchtspringer Patientinnen und Patienten beitrug, lohnt es sich, einen genaueren Blick auf solche Anstaltsinsassinnen und -insassen zu werfen, welche sich bereits seit Kindheit in der Einrichtung befanden, ergo in dieser sozialisiert und ausgebildet wurden. Wie bereits dargelegt, konnten im besagten Zeitraum nur wenige männliche Jugendliche innerhalb des anstaltseigenen Unterrichts so weit vorgebildet werden, um eine Gesellenprüfung vor dem Innungsausschuss ablegen zu können. Aber auch Umstände außerhalb der Anstaltsmauern konnten zum Misslingen der beruflichen Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt führen. Mit Hilfe der Krankenakten lässt sich nachweisen, dass Konrad Alt sich persönlich für seine Pfleglinge einsetzte, um ihnen den Eintritt ins Berufsleben au164 Hegar, Arbeitsentlohnung in Irrenanstalten, 832–833. Im Jahresbericht der Schweizerischen Anstalt für „Epileptische“ in Zürich für das Jahr 1895 heißt es, dass etwa die Hälfte der als „ungebessert“ entlassenen Patientinnen und Patienten die Anstalt wegen schwierigen „finanzielle[n] Verhältnisse[n] bei den Eltern oder Versorgern“ verließen. [o. V.], Mitteilungen: Zürich, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 12/1896, 123– 124, hier: 124. 165 Brief des Administrators H. B. im Namen von Andreas K. an Direktor Alt vom 09.09.1904, in: FKHU-Akte Anna K. (1904), 16. 166 Brief des Direktors Alt an Andreas K. vom 11.09.1904, in: Ebda. 167 Brief von Andreas K. an Direktor Alt vom 25.10.1904, in: Ebda., 20.

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ßerhalb der Anstalt zu ermöglichen. So nahm der Direktor im Fall des jungen „Epileptikers“ Franz R. Kontakt mit dem Pastor der Heimatgemeinde auf, um dem jungen Mann eine Anstellung zu verschaffen. Da Franz R. nur ein bis zwei Mal monatlich an Krampfanfällen litt und ansonsten keine Beschwerden äußerte, bestand aus ärztlicher Sicht keine Anstaltspflegebedürftigkeit mehr. Bis dahin hatte sich Franz R. zwei Jahre in der Uchtspringer Tischlerei beschäftigt und wurde als „ruhiger, besonnener u. fleißiger Arbeiter“ beschrieben, welcher „auf andere Kranke einen guten Einfluß ausüb[e] (…)“.168 Alt schrieb: „Für sein Befinden wäre es überaus förderlich, wenn er zu Hause eine ähnliche Beschäftigung unter Aufsicht eines tüchtigen Meisters fände.“169 Das Vorhaben gelang zunächst, der Patient wurde als „geheilt“ entlassen.170 Ein halbes Jahr später musste Franz R. erneut um Aufnahme bitten. Krampfanfälle hatten sich wiederholt eingestellt, auch wollte ihm der Anschluss an den Arbeitsmarkt nicht gelingen: bei einem Bauern oder auf einem Gut könne er doch mit der Krankheit „nicht ankommen“, da ihm die Leute kein Vieh anvertrauten, ebenso sei es mit der Schifffahrt: „Ein Fehltritt und ich bin verschwunden von der Welt.“171 Die folgenden zwölf Jahre waren geprägt von wiederholten Beurlaubungen zum Zwecke der Arbeitssuche und reumütigen Gesuchen um Wiederaufnahme in der meist überfüllten Anstalt. Franz R. zeigte sich zunehmend resigniert und aufwieglerisch.172 Die anfangs geäußerte Diagnose „Epilepsie“ wurde mit dem Zusatz „Seelenstörung“ versehen und eine Brombehandlung angesetzt. 1909 bat der Kranke schließlich um Überführung in die Familienpflege.173 Diese wurde ihm jedoch erst gewährt, als er sich dazu bereit erklärte, jeden Tag zur Arbeit in der Anstaltstischlerei zu erscheinen.174 Das Schreiben des Patienten zeigt, dass Franz R. sehr wohl um die Bedeutung seiner Arbeitskraft für den Anstaltsbetrieb wusste, „da jetzt gerade sehr viel zu thun ist mit dem Aufpolieren von Möbel Särge machen und dergl. (…)“.175 Tatsächlich lässt sich auch in weiteren Fällen nachweisen, dass Pfleglinge allein auf Grund eines betrieblichen Engpasses in den anstaltseigenen Werkstätten wieder in die Nähe der Anstalt zurückversetzt wurden. Maßgeblich wirkten sich die desolaten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zur Zeit der deutschen Inflation von 1914 bis 1923 auf die Schaffung solcher Mischformen von Anstalts- und Familienpflege aus.176 Fernerhin untergrub die von den Psy168 Pflegebericht vom 30.01.1897, in: FKHU-Akte Franz R. (1896). 169 Brief des Direktors Alt an Pastor in Parey vom 26.06.1898, in: Ebda., 16–17. 170 Bescheinigung „zum Zweck der Vorzeigung bei Stellenbewerbungen“, vermutlich vom 20.08.1898, in: Ebda., 32. 171 Brief von Franz R. an Direktor Alt vom 14.01.1899, in: Ebda., 35–36. 172 Pflegeberichte vom 20. u. 30.03.1900, in: Ebda. 173 Brief von Franz R. an Direktor Alt, undatiert, etwa Jan. 1909, in: Ebda., 105–106. 174 Verfügung der Direktion über Familienpflege von Franz R. vom 20.01.1909, in: Ebda., 107– 108. 175 Brief von Franz R. an Direktor Alt, undatiert, etwa Jan. 1909, in: Ebda., 105–106. 176 Der an „angeborenem Schwachsinn mit hypochondrischen Wahnvorstellungen“ leidende Schneider Karl B., welcher sich seit vielen Jahren in der Familienpflege in Gardelegen befand, wurde 1914 in die Familienpflege in Uchtspringe überführt, da in der anstaltseigenen Schneiderei „Mangel an Arbeitskräften“ herrschte. Er suizidierte sich sechs Wochen später. Bericht der Direktion über Suizid des Patienten Karl B. an Landeshauptmann zu Merseburg vom

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chiatern öffentlich betriebene Stigmatisierung der „Krampfkranken“ als hochgradig Kriminelle,177 außerhalb der Anstalten zur regelmäßigen Arbeit nicht zu bewegende Individuen,178 den rehabilitativen Aspekt der Arbeitstherapie. Epilepsie-Betroffene wurden zusammen mit anderen „pathologischen Persönlichkeiten“ als Geisteskranke mit „Alkoholintoleranz und Neigung zu Affektzuständen“ bezeichnet, die sich trotz durchschnittlichem Denkvermögen durch einen vermeintlich erblich bedingten Mangel an sozialer Anpassungsfähigkeit charakterisierten.179 12. ZUSAMMENFASSUNG Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in psychiatrischen Anstalten zunehmende Vereinigung von therapeutischen und administrativen Zuständigkeiten in der Person des ärztlichen Direktors hatte weitreichende Konsequenzen für die Ausgestaltung der Arbeitstherapie um 1900. Anhand des Anstaltsbetriebes der ehemaligen Landes-Heil- und Pflegeanstalt Uchtspringe (Altmark) wurde gezeigt, wie die Landesregierung enormen Einfluss auf die Einführung neuer Beschäftigungszweige und Versorgungsformen nahm. Der systematische Ausbau der Gutswirtschaft und der anstaltseigenen Werkstätten ermöglichte es, eine große Anzahl an Patientinnen und Patienten regelmäßig zu beschäftigen sowie eine weitgehende Selbstversorgung der geografisch isolierten Anstalt zu gewährleisten. Über den eigenen Bedarf hinaus produzierte Waren besserten zudem das Anstaltsbudget auf, insbesondere die Fertigung von modischen Einzelstücken verhalf der Uchtspringer Anstalt zum reichsweiten Ansehen und milderte die Konkurrenz zu umliegenden Handwerksbetrieben. Trotzdem die Krankenbeschäftigung stark ökonomisch ausgerichtet war, konnte sie insbesondere für die männlichen Kranken mit einer Erweiterung des Bewegungsradius auch über das Gelände der Anstalt hinaus einhergehen, Selbständigkeit fördern und kleine Bevorzugungen erlauben. Jugendlichen „Zöglingen“ wurde eine berufliche Ausbildung innerhalb der Einrichtung ermöglicht, welche 11.11.1914, in: LHASA, MD, Rep. C 92 Nr. 2721, Todesfälle und Beerdigungen von Kranken der Landes-Heil- und Pflegeanstalt zu Uchtspringe (1898–1929), 43–44. 177 Siehe hierzu die groß angelegte Aufklärungskampagne der 1909 gegründeten „Internationalen Liga gegen Epilepsie – ILAE“; [o. V.], Errichtung einer Internationalen Liga gegen Epilepsie, in: Epilepsia: journal of the International League against Epilepsy 1/1909, 232–234, hier: 234. Weiter: Otto Hebold, Über Epileptikeranstalten, in: Epilepsia: journal of the International League against Epilepsy 1/1909, 235–247, hier: 237. Sowohl Alt als auch Hebold (1896–1975) waren Mitglieder der ILAE. Simon D. Shorvon / Giselle Weiss, International League Against Epilepsy – the first period: 1909–1952, in: Simon D. Shorvon (Hg.): The International League against Epilepsy 1909–2009. A centenary history, Chichester u. a. 2009, 1–44, hier: 9. 178 Hegar, Arbeitsentlohnung in Irrenanstalten, 838–839. 179 Ebda. Siehe hierzu Möller, der die zunehmende Stigmatisierung der Epilepsie-Betroffenen als geisteskranke, aggressive Persönlichkeiten in direktem zeitlichem Zusammenhang mit der ab 1860 breitflächig eingeführten Bromtherapie der „Epileptiker“ deutet. Torger Möller, Die psychiatrische Kritik an gesellschaftlichen Vorurteilen als medizinische Legitimationsstrategie, in: Heiner Fangerau / Karen Nolte (Hgg.), „Moderne“ Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert: Legitimation und Kritik, Stuttgart 2006, 221–237, hier: 228.

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jedoch nur selten zur Eingliederung der Entlassenen auf dem ersten Arbeitsmarkt führte. Auch die ökonomische Verwertung der Arbeitskraft der Pfleglinge in der Familienpflege bewirkte weniger eine soziale Rehabilitation der vermeintlich psychisch Kranken als vielmehr deren Integration in die Anstalt. Ursachen dafür sind sowohl in der häufigen Überfüllung psychiatrischer Einrichtungen, der verstärkten Rezeption der Degenerationslehre innerhalb des psychiatrischen Diskurses als auch der zunehmenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage des Deutschen Reiches mit Beginn des Ersten Weltkrieges auszumachen. LITERATURVERZEICHNIS 1 Primärquellen Ungedruckte Quellen: Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Magdeburg (LHASA, MD), Akten des ProvinzialLandtages der Provinz Sachsen: Rep. C 90 Nr. 819, Erbauung einer Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt für Epileptische und Blöde (1892). Rep. C 90 Nr. 820, Angelegenheiten der Landes-Heil- und Pflege-Anstalt Uchtspringe (1894). Rep. C 92 Nr. 2710 (Bd. 2), Dienstliche Verhältnisse der Beamten bei der Landesheilanstalt Uchtspringe (1920–1929). Rep. C 92 Nr. 2715, Beschwerden über die Direktion und die Beamten der Landes-Heil- und Pflegeanstalt zu Uchtspringe (1895–1923). Rep. C 92 Nr. 2720, Beschäftigung der Kranken der Landes-Heil- und Pflegeanstalt zu Uchtspringe (1896–1923). Rep. C 92 Nr. 2721, Todesfälle und Beerdigungen von Kranken der Landes-Heil- und Pflegeanstalt zu Uchtspringe (1898–1929). Rep. C 92 Nr. 2727 (Bd. 2), Jahresberichte der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Uchtspringe (1899– 1904). Archiv des Fachkrankenhauses Uchtspringe (FKHU), Patientenakten (Jahr der Erstaufnahme): Marie Luise C. (1894) Franz R. (1896) Reinhold E. (1897) Ferdinand W. (1898) Anna K. (1904) Gedruckte Quellen: Ackermann, Kurt: Mitteilungen: Uchtspringe (Landes-Heil- und Pflegeanstalt), in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 15/1899, 44–48. Alt, Konrad: Allgemeines Bauprogramm für ein Landesasyl zur ausgedehnten Einführung der familiären Irrenpflege nebst Bemerkungen über die erstmalige Organisation derselben und Bestimmungen für d. Pfleger, Halle a. S. 1900. Alt, Konrad: Ueber Wert und Einrichtung besonderer Heilstätten für Alkoholkranke, in: Der Alkoholismus: Zeitschrift zur wissenschaftlichen Erörterung der Alkoholfrage 4/1903, 25–57. Alt, Konrad / Vorster, Johannes: Gutachten über die Lothringische Bezirks-Irrenanstalt zu Saargemünd, in: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 38/1904, 693–712. Alt, Konrad: Über ländliche Beschäftigung der Kranksinnigen in Anstalt und Familienpflege, in: Tögel, Christfried / Frommer, Jörg (Hgg.): Psychotherapie und Psychoanalyse in Osteuropa

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„PRAKTIKEN DER NORMALISIERUNG“ – ERZIEHUNG, BESCHULUNG UND BERUFSVORBEREITUNG „BILDUNGSFÄHIGER SCHWACHSINNIGER“ KINDER IN DEN WITTENAUER HEILSTÄTTEN Petra Fuchs Mit der Einführung reformpsychiatrischer Konzepte erlebte die Psychiatrie in der Zeit der Weimarer Republik einen theoretischen und praktischen Aufschwung.1 Der neue therapeutische Aktivismus, dessen Maßnahmen primär der Ökonomisierung dienten und dem auch rassenhygienische Überlegungen eigen waren, schlug sich unter anderem in dem Bemühen um institutionelle Umbenennungen nieder: So erhielt die erste Berliner „Irrenanstalt“ in der ehemaligen Gemeinde Dalldorf 1925 den Namen „Wittenauer Heilstätten“, die ihr angeschlossene „Städtische Heil- und Idiotenanstalt“ wurde fortan als „Erziehungsanstalt“ bezeichnet.2 Damit erfüllte sich die bereits 1892 erhobene Forderung, den Namen „Idiotenanstalt“ durch die Bezeichnung „Erziehungsanstalten für Schwachsinnige“ zu ersetzen. Konzeptionell beinhaltete dieser Akt der Umbenennung die Ausrichtung auf „bildungsfähige schwachsinnige Kinder“.3 Tatsächlich nahm die Kinderabteilung seit 1924 nur noch als erziehungs- und entwicklungsfähig geltende „schwachsinnige“ Kinder mit der Aussicht auf eine spätere Berufsbefähigung auf. „Bildungsunfähige“ Mädchen und Jungen wurden dagegen dem „Kinderhort der Wittenauer Anstalten“ oder den Pflegeheimen in der Umgebung zugewiesen.4 Diese Praxis fügte sich in die Neukonzeption der Gesamteinrichtung mit ihren unterschiedlichen Abteilungen und in die Modernisierung der Anstalt ein.5 Emil Bratz (1868–1934), seit 1923 ärztlicher 1 2

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Für Berlin vgl. Thomas Beddies / Heinz-Peter Schmiedebach, Die Fürsorge für psychisch Kranke in Berlin in der Zeit der Weimarer Republik, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart (Jahrbuch des Landesarchivs Berlin), Berlin 2000, 81–99. Vgl. Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik (Hg.), totgeschwiegen 1933–1945. Zur Geschichte der Wittenauer Heilstätten. Seit 1957 Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, 2. erw. Aufl., Berlin 1989; Thomas Beddies / Andrea Dörries (Hgg.), Die Patienten der Wittenauer Heilstätten in Berlin 1919–1960, Husum 1999, 77. Hermann Piper, Zur Frage der Hilfsschulen, in: Pädagogische Zeitung 21/1892, Nr. 11, 136– 138, hier: 137 und 138. Zu den unterschiedlichen Funktionen des Kinderhorts der Stadt Berlin vgl. Beddies / Dörries, Patienten, 77 f. sowie Walter Münchau / August Schramm, An der Besichtigung des Erziehungsheims der Wittenauer Heilstätten…, in: Arno Fuchs, Die Heilpädagogische Woche in Berlin vom 15.–22. Mai 1927, ausführlicher Bericht, Berlin 1927, 267–268, hier: 268. Beddies / Dörries, Patienten, 77; Ingeburg Weger, Hundert Jahre Bonhoeffer-Nervenklinik. Der Weg von der lrrenanstalt zu Dalldorf bis heute, in: Die Berliner Ärztekammer 17(9)/1980, 416– 422, hier: 416. Zur Einsparung von Kosten durch die Unterbringung der „bildungsunfähigen“

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Leiter der Heilstätten, realisierte hier ein außergewöhnlich fortschrittliches Staffelsystem psychiatrischer Versorgung mit einer stufenweisen Öffnung der Anstalt nach Außen. Im Zuge der Verwissenschaftlichung der Psychiatrie wandelten sich die Wittenauer Heilstätten im Verlauf der Zwanziger Jahre von einer Verwahranstalt in eine zunehmend medizinisch-therapeutisch orientierte Einrichtung. Die Beschränkung der Funktion des Erziehungsheimes „auf Schulung und handwerkliche Ausbildung von Debilen in und unter Hilfsschulniveau (…)“6 galt in diesem Zusammenhang bis in die 1960er Jahre als ein „frühes Beispiel eines radikalen Wandels der Dinge, wahrscheinlich beeinflusst durch die Leitgedanken des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes“.7 Zeitgleich mit der Besetzung des Psychiaters Emil Bratz war auch ein Wechsel in der Leitung der Erziehungsanstalt eingetreten: Zum 1. April 1923 war der Pädagoge Hermann Piper (1846–1943) aus seinem Amt als Erziehungsdirektor ausgeschieden. Das von Piper mit und in der Anstalt entwickelte Konzept der Erziehung, Beschulung und Berufsvorbereitung „geistesschwacher Kinder“ in der institutionseigenen Hilfsschule und in den dazugehörigen Handwerksbetrieben hatte den Ruf der Einrichtung als „Mekka der Schwachsinnigenerzieher“8 begründet und war unlösbar mit der Persönlichkeit des Pädagogen und dessen beispiellosem Wirken verbunden. Nach 42 Jahren, in denen Hermann Piper die Einrichtung aufgebaut, geleitet und konzeptionell geprägt hatte, gab der hoch betagte Lehrer seine Funktionen an den Schwiegersohn August Schramm ab.9 Über ihn und seine professionellen Aktivitäten ist wenig bekannt, dies gilt ebenso für den weiteren Ausbau der Institution, die sich in der Weimarer Republik als international anerkannte Modell-

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Mädchen und Jungen außerhalb der Erziehungsanstalt vgl. Emil Bratz, 50 Jahre Dalldorf, in: Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Anstalt Dalldorf (Hauptanstalt der Wittenauer Heilstätten), Berlin 1929, 1–17, hier: 10. Die Gründung von Hilfsschulen erfolgte in Deutschland seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Anlehnung an die bereits bestehenden besonderen Schulen für „taubstumme“ und blinde Kinder. Die Sammlung geistig nicht „normal“ entwickelter Mädchen und Jungen in dieser neuen Schulform diente vor allem der Entlastung der Volksschule, die intellektuell und mental „abweichenden“ Schülerinnen und Schülern aufgrund hoher Klassenfrequenzen, Mangel an qualifiziertem Personal, fehlender Schulhäuser und Räumlichkeiten und einer gleichförmigen Lehr- und Lernpraxis nicht gerecht werden konnte. Die Hilfsschule etablierte sich in zwei Formen, zum einen als Teil des allgemeinen Schulsystems, wo neben den „schwachbefähigten“ (heute: lernschwachen) auch „schwachsinnige“ (heute: geistig behinderte) Kinder unterrichtet wurden. Der zahlenmäßig größere Anteil „schwachsinniger“ Schülerinnen und Schüler fiel jedoch in die Zuständigkeit des Gesundheits- und Sozialwesens und erhielt Unterricht in der anstaltsgebundenen Hilfsschule. Generell bildete der Handfertigkeitsunterricht einen zentralen Schwerpunkt der Bildung und Berufsvorbereitung lernschwacher und geistig behinderter Kinder. Vgl. Ulrich Schröder, Eine „Schule für geistig nicht normal entwickelte Kinder“, in: Einblicke. Forschungsmagazin der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg 23/1996, 16–19. Friedrich Panse, Das psychiatrische Krankenhauswesen. Entwicklung, Stand, Reichweite und Zukunft (Schriftenreihe aus dem Gebiete des öffentlichen Gesundheitswesens, H. 19), Stuttgart 1964, 264. [?] Schwenk, Erziehungsinspektor Piper, in: Zeitschrift für Kinderforschung 21/1916, 422– 423, hier: 422. Lebensdaten unbekannt.

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einrichtung der „Schwachsinnigenfürsorge“ in Deutschland auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung befand.10 Angesichts der richtungweisenden praktischen und wissenschaftlichen Vorarbeiten Hermann Pipers im Bereich der Erziehung und Bildung mental differenter Kinder waren die seit Mitte des 19. Jahrhunderts geführten Diskussionen um die Sonderbeschulung von Mädchen und Jungen mit geistigen Behinderungen zu einem vorläufigen Abschluss gekommen und eine professionelle Praxis etabliert, die offenbar lediglich noch zu Modifizierungen des bereits Erreichten Anlass gab. DER PÄDAGOGE HERMANN PIPER – PROTAGONIST EINER DISZIPLINÄREN ERFOLGSGESCHICHTE Von 1881 bis 1923 war der Volksschullehrer Hermann Piper als Leiter der städtischen Erziehungsanstalt tätig. Weit über diesen Zeitraum hinaus, insgesamt mehr als ein halbes Jahrhundert, prägte er Theorie und Praxis der Anstaltsbeschulung und handwerklichen Berufsvorbereitung „bildungsfähiger schwachsinniger“ Kinder und Jugendlicher. Er zählt somit zu den maßgeblichen historischen Akteuren einer Fürsorge für Mädchen und Jungen mit geistigen Behinderungen im 19. und 20. Jahrhundert. Erfreute sich Hermann Piper bereits zeitgenössisch größter nationaler und internationaler Anerkennung und wurde für seine Leistungen hochrangig ausgezeichnet,11 so gilt er bis heute als wegweisender Berliner Erzieher, „der durch medizinisch fundierte heilpädagogische Untersuchungen einen beachtlichen Beitrag zu einer kinderpsychiatrisch orientierten Heilpädagogik leistete“.12 Besondere Würdigung erfährt der Lehrer in jüngerer Zeit als erklärter Gegner des kommunalen Hilfsschulwesens, das sich in Berlin vergleichsweise spät, Anfang des 20. Jahrhunderts, zu etablieren begann.13 Piper, der mit Blick auf die äußerst heterogene Gruppe geistig nicht „normaler“ Kinder für eine Differenzierung plädierte, unterschied jedoch strikt zwischen der Schulform Hilfsschule als Teil des mehrgliedrigen selektiven Schulsystems in Deutschland, die sich den „lernschwachen“ Schülerinnen und Schülern zuwenden sollte, und der anstaltsgebundenen Hilfsschule für Kinder mit „geistigen Behinderungen“. „Schwachbefähigte“ sollten bei den „gut begabten“ Schülerinnen und Schülern in der Volksschule verbleiben, um „mit diesen Arbeit 10 11 12

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Wolf Stender, Hundert Jahre „Klinik Wiesengrund“. Eine medizinhistorische Untersuchung zur Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Diss. med., Berlin 1982, 34. Im Einzelnen vgl. dazu den Abschnitt „Ehrungen“ im vorliegenden Beitrag. Gerhardt Nissen, Hermann Piper – Promoter einer kinderpsychiatrisch orientierten Heilpädagogik, in: Hermann Stutte (Hg.), Jahrbuch für Jugendpsychiatrie und ihre Grenzgebiete VII/1969, 11–19, hier: 12; Ders., Kulturgeschichte seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen, Stuttgart 2005, 106; vgl. auch Beddies / Dörries, Patienten, 77; Sieglind EllgerRüttgardt, Geschichte der Sonderpädagogik. Eine Einführung, München/Basel 2008, 150. Zur Würdigung Pipers als Hilfsschulgegner vgl. Dagmar Hänsel / Hans-Joachim Schwager, Die Sonderschule als Armenschule: Vom gemeinsamen Unterricht zur Sondererziehung nach Braunschweiger Muster, Bern u. a. 2004, 170 f.

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Abb. 1: Hermann Piper, o. J., Heilpädagogisches Archiv, Institut für Rehabilitationswissenschaften der HU Berlin

und Freuden zu teilen (…)“,14 so Piper. „Bildungsfähige schwachsinnige“ Mädchen und Jungen dagegen seien am besten in der Erziehungsanstalt und der ihr angegliederten Hilfsschule aufgehoben, während die Gruppe der „tiefstehenden Idioten“, wie in Dalldorf praktiziert, in die Irrenanstalt verlegt werden und dort eine besondere Abteilung bilden sollten.15 14

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Hermann Piper, Die Fürsorge für die schwachsinnigen Kinder, in: Die Deutsche Schule 1/1897, 129–138, hier: 137; vgl. weiter Sieglind Ellger-Rüttgardt, Geschichte der Sonderpädagogik. Eine Einführung, München/Basel 2008, 166 f.; Hänsel / Schwager, Die Sonderschule als Armenschule, 211–216. Hermann Piper, Ein Wort, die „Hilfsklassen“ oder „Hilfsschulen“ betreffend, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 6(10)/1890, Nr. 4, 49–52, hier: 52.

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Der vorliegende Beitrag verbindet eine medizingeschichtliche Studie mit dem Forschungsansatz der Dis/ability History.16 Am Beispiel des Pädagogen und Autodidakten Hermann Piper und der von ihm geschaffenen Erziehungsanstalt soll im Folgenden die pädagogisch-praktische und wissenschaftliche Praxis eines einzelnen einflussreichen Akteurs der „Schwachsinnigenfürsorge“ des 19. und 20. Jahrhunderts in den Blick genommen werden.17 Bislang liegt keine Arbeit vor, die das Piper’sche Konzept und seine Praxis der Erziehung, schulischen Förderung und Berufsvorbereitung „bildungsfähiger schwachsinniger“ Kinder und Jugendlicher näher untersucht. Auch sein umfangreiches schriftstellerisches Oeuvre wurde bislang nicht systematisch analysiert,18 und die Frage, „wie schwer schwachsinnig“ die Mädchen und Jungen tatsächlich gewesen sind, die in der Berliner Erziehungsanstalt vor allem erwerbsfähig gemacht werden sollten, ist bis heute unbeantwortet.19 Vor diesem Hintergrund soll die ausschließlich positive Rezeption des Lebenswerkes Hermann Pipers kritisch hinterfragt werden. Um das klassische und bislang als selbstverständlich geltende Narrativ einer institutionellen und disziplinären Erfolgs- und Wohltätigkeitsgeschichte und eines ihrer individuellen Förderer oder besser: Helden grundlegend zu revidieren und damit eine andere Geschichte von Behinderung zu erzählen, müssten allerdings weitere Quellen hinzugezogen werden.20

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19 20

Vgl. dazu grundlegend Elsbeth Bösl / Anne Klein / Anne Waldschmidt (Hgg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010. Im Rahmen eines kurzen Beitrags in einem Sammelband sind einer detaillierten Untersuchung der Institution Erziehungsanstalt im Zusammenhang mit ihrem Hauptakteur notwendigerweise Grenzen gesetzt. Sie kann jedoch eine tiefer gehende Beschäftigung ebenso anregen wie einen Perspektivenwechsel auf die Historiographie von Behinderung. Wolf Stender zeichnet die Entwicklung der Wittenauer Erziehungsanstalt für den Zeitraum 1881 bis 1941 auf wenigen Seiten nach und greift dazu auf Quellen und ausgewählte Textausschnitte aus den Publikationen Hermann Pipers zurück. Vgl. Stender, Hundert Jahre „Klinik Wiesengrund“. Auch Jochen Synwoldt zitiert in seinem weitgehend deskriptiven Beitrag auszugsweise aus Pipers Schriften, insbesondere aus der Tagesordnung für den Heimbetrieb, vgl. Jochen Sydwoldt, Hermann Piper – Sein Wirken in der Anstaltsschule Dalldorf, in: Informationen aus der Berliner Sonderpädagogik 7(1)/1981, 14–23. In Vorbereitung ist aktuell eine Dissertation der französischen Historikerin Valentine Hoffbeck an der Universität Strassburg. Sie vergleicht den medizinischen und pädagogischen Umgang mit mental differenten Kindern in Frankreich und Deutschland (1880–1945) am Beispiel der öffentlichen Anstalten Bicêtre in Paris und Dalldorf bzw. Berlin-Wittenau sowie der privaten Anstalt St. Andreas im Elsass. Synwoldt, Hermann Piper – Wirken, 18. Elsbeth Bösl, Dis/ability History: Grundlagen und Forschungsstand, in: H-Soz-Kult 07.07.2009 .

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EIN ORT DER FÜRSORGE UND ERZIEHUNG – DIE „STÄDTISCHE IDIOTENANSTALT“ DALLDORF Die Gründung der „Städtischen Idiotenanstalt zu Dalldorf“, einer 200 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Gemeinde bei Berlin, ist charakteristisch für den Ausbau des fürsorgerischen Anstaltswesens im 19. Jahrhundert. Mit der Einrichtung spezieller Institutionen für „schwachsinnige“ Kinder erhofften sich die beteiligten Akteure – Pädagogen, Mediziner, Politiker, Behördenvertreter und Verwaltungsfachleute – einen Nutzen sowohl für deren Insassinnen und Insassen als auch für die Gesellschaft. Zeitgleich und zum Teil in Konkurrenz zur entstehenden Anstaltsfürsorge für Kinder mit geistigen Behinderungen entwickelte sich die Hilfsschule für lernschwache Mädchen und Jungen, die vor allem der Entlastung der Volksschule dienen sollte und zeitgenössisch durchaus kontrovers diskutiert wurde. Im Zusammenhang mit der 1880 eröffneten „Berliner Irrenanstalt zu Dalldorf“ regte die städtische Armendirektion die Errichtung einer kommunalen „Idiotenanstalt“ zur Unterbringung jener Kinder an, die auf Kosten der Stadt versorgt werden mussten oder sich in Privatpflege befanden.21 Die Belegung der zunächst für 100, dann für 200 Minderjährige vorgesehenen Einrichtung, die sich zwar noch auf dem Gelände der „Irrenanstalt“, aber außerhalb ihres Mauerrings befand, erfolgte am 18. November 1881.22 Elf Jungen und elf Mädchen wurden den Häusern 11 und 12 zugewiesen.23 Die beiden zweigeschossigen Gebäudeflügel der Anstalt waren rechts und links der Wohnung des Erziehungsinspektors angeordnet und symmetrisch angelegt. Im Erdgeschoss des Knaben- und des Mädchenhauses gab es je drei Wohn- und Schulräume, jeweils ein Zimmer für eine männliche und eine weibliche Lehrkraft sowie zwei in den Seitenflügeln nach hinten gelegene größere Räume für die kleinsten und pflegebedürftigen Kinder. Dem Gebäude der Mädchen war in der unteren Etage der Speiseraum für das Lehrerkollegium, das Wäschedepot und die Wohnung des Oberpflegers zugeordnet. Im ersten Stockwerk des Mittelbaus, über der Wohnung des pädagogischen Leiters, befand sich der Kinderspeisesaal, der auch für Andachten und Festlichkeiten genutzt wurde. Daneben waren zu beiden Seiten die geschlechtergetrennten Schlafsäle, Wasch- und Baderäume und ein Küchenraum angeordnet. Im Mittelbau des zweiten Obergeschosses gab es ein Lazarett, ein Zimmer für infektiös erkrankte Kinder, eine Teeküche, einen weiteren Baderaum sowie ein Wäsche-, Kleider- und Materialien-Depot. Die dort ebenfalls befindlichen Dachböden wurden durch verschließbare Eisentüren vom Lazarettkorridor abgetrennt. 21 22 23

[o. V.], Die Anstalten der Stadt Berlin für die öffentliche Gesundheitspflege und für den naturwissenschaftlichen Unterricht. Festschrift dargeboten den Mitgliedern der 59. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte von den städtischen Behörden, Berlin 1886, 156. Ebda., 163; Klaus Joosten-Wilke, Spuren, in: 100 Jahre Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik 1880– 1980, Festschrift, Berlin 1980, 51–58, hier: 56. Vgl. Stender, Hundert Jahre „Klinik Wiesengrund“, 15; zur Planungs- und Baugeschichte der Idiotenanstalt vgl. Carl Ideler / Hermann Blankenstein, Die städtische Irrenanstalt zu Dalldorf, Berlin 1883, 28 f.; Weger, Hundert Jahre Bonhoeffer-Nervenklinik, 416.

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Abb. 2: Grundrisszeichnung Idiotenanstalt (EG, erstes Stockwerk), in: Stender, Hundert Jahre "Klinik Wiesengrund", 16.

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Im Kellergeschoß lagen die Wirtschaftsräume und Heizkammern, zwei weitere Baderäume und die Werkstätten für Buchbinderei, Schuhmacherei, Schneiderei und Korbmacherei.24 Die Einrichtung entsprach zeitgenössisch höchsten Ansprüchen, alle Stockwerke waren mit Toiletten versehen, die nach außen führten und daher ausreichend mit Licht und Luft versorgt wurden.25 Auch die Schulräume waren zeitgemäß und modern ausgestattet, sie verfügten über „gut construierte, einsitzige“ Schulbänke. Ein weiteres wichtiges Bauelement stellte die Turnhalle dar, die zwischen den Gebäuden der Jungen und Mädchen lag und durch zwei überdachte geschlechtergetrennte Gänge zu erreichen war. So konnten „die Kinder bei jedem Wetter zur ‚Leibeserziehung‘ geführt werden (…)“.26 Neben dem Turnunterricht diente die Halle, die über einen eisernen Ofen verfügte und nach hinten einen kleinen Wirtschaftshof abschloss, als wetterfester Spielplatz.27 Zusätzlich gab es zu beiden Seiten der Halle zwei Spielplätze für Jungen und Mädchen im Freien. Der zur Anstaltshilfsschule gehörende Hort diente der Aufnahme von „geisteskranke[n], bildungsunfähige[n] oder schwachsinnige[n]“ Mädchen und Jungen im vorschulpflichtigen Alter.28 Der Anstaltshort ersetzte später die sogenannten Sammelklassen,29 die Teil des öffentlichen Hilfsschulwesens waren und in denen alle in der Volksschule „auffällig“ gewordenen Kinder zusammengefasst wurden. Pädagogisierung des Medikalen Als Teil der „Städtischen Irrenanstalt“ unterstand auch die Dalldorfer „Kinderabteilung“ der ärztlichen Aufsicht, die zwischen 1880 und 1885 zunächst von dem Psychiater Carl Ideler (1829–1904), dem Leiter der Gesamteinrichtung, ausgeübt wurde.30 Ihm folgte Wilhelm Sander (1838–1922),31 der die Anstalt von 1887 bis 1914

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Hermann Piper, Die städtische Idiotenanstalt Dalldorf, in: Die Anstaltsfürsorge für körperlich, geistig, sittlich und wirtschaftlich Schwache im Deutschen Reiche in Wort und Bild (Deutsche Anstalten für schwachsinnige, epileptische und psychopathische Jugendliche, Bd. 8), Halle a. S. 1912, 89–93, hier: 89; Stender, Hundert Jahre„Klinik Wiesengrund“, 17. Stender, Hundert Jahre „Klinik Wiesengrund“, 17. Joosten-Wilke, Spuren, 56. Stender, Hundert Jahre „Klinik Wiesengrund“, 17. Synwoldt, Hermann Piper – Wirken, 15. Später wurden von dort auch Kinder aufgenommen, „bei denen noch einige Bildungsfähigkeit zu erhoffen ist“, vgl. Münchau / Schramm, Besichtigung, 268. Mit Erreichen des schulpflichtigen Alters kamen diese dann in das Erziehungsheim. Ab 1924 wies dieses wiederum die als „bildungsunfähig“ klassifizierten schulaltrigen Kinder dem Hort zu. Vgl. Beddies / Dörries, Patienten, 77 f. Münchau / Schramm, Besichtigung, 268. Zur Person vgl. Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte der Karl-Bonoeffer-Nervenklinik, totgeschwiegen, 18. Wilhelm Sander war einer der ersten Vertreter des No-Restraint-Gedankens („kein Zwang“) in Deutschland. Zur Person vgl. Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte der Karl-Bonoeffer-Nervenklinik, totgeschwiegen, 22.

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dirigierte und die Einführung der Familienpflege in Dalldorf anregte.32 Doch trotz des ärztlichen Primats in der „Idiotenanstalt“ wurde die Stelle eines Erziehungsinspektors geschaffen und damit die pädagogische Arbeit gestärkt.33 Die Position beinhaltete den Aufbau sowie die eigenständige Leitung der Schule und des ihr angeschlossenen Heims für schulpflichtige „schwachsinnige“ Mädchen und Jungen, die von der Armenverwaltung überwiesen wurden.34 DER PÄDAGOGE HERMANN PIPER – VOM VOLKSSCHULLEHRER ZUM ANSTALTSLEITER Im Rahmen des Bewerbungsverfahrens setzte sich der Volksschullehrer Hermann Piper unter neunzig Stelleninteressenten durch. Ausschlaggebend für die Entscheidung des Berliner Magistrats war offenbar das besondere Interesse des Lehrers „für körperlich und geistig schwache Kinder“35 und sein ausgewiesenes Bemühen um die Entwicklung einer geeigneten Methodik und Didaktik zur Beschulung dieser Mädchen und Jungen. Wer aber war Hermann Piper? Wie war sein beruflicher Werdegang bis zu diesem Zeitpunkt verlaufen? Wie hatte sich das Interesse des jungen Pädagogen an Kindern mit geistigen Behinderungen entwickelt? Hermann Piper wurde am 7. August 1846 in Schloss Pretzsch an der Elbe als Sohn eines Lehrers am Kgl. Militär-Mädchenwaisenhaus geboren und war schon als Kind „vertraut mit den Erfordernissen des Anstaltslebens“. 36 Piper besuchte die örtliche Stadtschule und wechselte mit 13 Jahren auf das Gymnasium in Wittenberg. Da sein Vater ihm das gewünschte (Medizin-)Studium nicht finanzieren konnte, besuchte der junge Mann nach seinem Abitur das Köpenicker Lehrerseminar und begann in einer einklassigen Dorfschule zu unterrichten. Neben drei offiziellen Schulabteilungen widmete er sich hier in einer „vierten Abteilung“ einem einzelnen Schüler, einem „körperlich wie geistig schwachen, sehr lebhaften Knaben, der nicht selten Veranlassungen zu Störungen“37 gab. Diesem Schüler erteilte der Lehramtsanwärter „Erlebnisunterricht“ und betraute ihn mit einfachen Aufga32 33 34 35 36

37

Bratz, 50 Jahre Dalldorf, 4. Die Gewährleistung der ärztlichen Betreuung in psychiatrischen Anstalten war zu diesem Zeitpunkt in Preußen noch unüblich. Sie wurde gesetzlich erst 1891 festgeschrieben. Vgl. Stender, Hundert Jahre „Klinik Wiesengrund“, 17. Ellger-Rüttgardt, Geschichte, 150; Stender, Hundert Jahre „Klinik Wiesengrund“, 18. Synwoldt, Hermann Piper – Wirken, 22. Vgl. Nissen, Hermann Piper – Promotor, 13; Ders., Kulturgeschichte seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen, Stuttgart 2005, 104. Max Kirmsse, Zum 50jährigen Amtsjubiläum Hermann Pipers, in: Zeitschrift für Kinderforschung mit besonderer Berücksichtigung der pädagogischen Pathologie 23/1918, 292. Die Kleinstadt Pretzsch liegt am östlichen Rand der Dübener Heide im heutigen Sachsen-Anhalt. 1829 hatte Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) das Potsdamer Waisenhaus in das dortige Schloss verlegt. Vgl. , 23.11.2013; zur Umnutzung vgl. Nissen, Hermann Piper – Promotor, 13. Hermann Piper, Erinnerungen aus meiner Tätigkeit, Berlin 1939, o. S., zit. n. Nissen, Hermann Piper – Promotor, 13.

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ben und Diensten für die Klasse, wie dem Bereit- und Zurückstellen von Lehrmitteln. „Der Junge war nicht nur mein Schüler, ich wurde ihm,38 das war mir besonders wertvoll, sein Freund“, resümierte Hermann Piper mehr als siebzig Jahre später, in seinen 1939 publizierten Erinnerungen. „Dieser Knabe, dieser Fall, wurde für mich der Wegweiser zu meiner Lebensarbeit, zu meiner Arbeit an den Schwachsinnigen“, gab er rückblickend als Leitmotiv für seinen späteren Berufsweg an, der ihn zum Heilpädagogen qualifizierte.39 Im Anschluss an sein Volksschullehrerexamen 1868 wurde Hermann Piper zunächst an der Volks- und Mittelschule der brandenburgischen Kreisstadt Beeskow tätig.40 Vier Jahre später siedelte er nach Berlin über, wo er eine Anstellung als Privatlehrer an der Geigerschen Höheren Töchterschule und der Loechnerschen Knabenschule fand. 1874 trat er in den Gemeindeschuldienst der Stadt Berlin ein.41 Seine besondere Aufmerksamkeit galt auch in den folgenden Jahren den „schwächsten“ Kindern der Klasse, „für deren Förderung er in unermüdlichem Schaffen neue methodische Wege ersann (…)“.42 Neben seiner Unterrichtstätigkeit betrieb Piper ein umfassendes Selbststudium. Er hospitierte zunächst in der ersten öffentlichen Einrichtung zur Beschulung „geistig behinderter“ Mädchen und Jungen, der 1846 gegründeten „Erziehungsanstalt für blödsinnige Kinder“ im sächsischen Hubertusburg. Daneben besuchte er Anstalten für Schülerinnen und Schüler mit Seh- und Hörbeeinträchtigungen, um sich mit den dort verwendeten Lehrmitteln vertraut zu machen. Die Anstellung Pipers als Erziehungsinspektor an der neu gegründeten „Idiotenanstalt“ in Dalldorf war der institutionelle Ausgangspunkt, von dem aus er sich zu einem der wichtigsten Praktiker und Theoretiker der „Schwachsinnigenfürsorge“ entwickelte. Erst in und mit dieser Einrichtung eröffnete sich dem jungen Autodidakten die Möglichkeit, seine bis dahin erworbenen methodisch-didaktischen Erfahrungen in die Praxis umzusetzen und modellhaft weiter zu entwickeln. Und erst an diesem medikalen Ort bot sich dem wissenschaftlich interessierten Pädagogen, 38 39

40 41 42

Hervorhebung P. F. Die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer wird nur eindimensional definiert, ob dieser Junge auch für den Lehrer von persönlicher Bedeutung war, wird nicht thematisiert. Zit. n. Nissen, Hermann Piper – Promotor, 13. Hildegard Deter spricht von einem „schwachsinnigen“, in seiner Entwicklung gestörten Kind. Vgl. Hildegard Deter, Hermann Piper 1846– 1943, Ein Wegbereiter der Heilpädagogik, in: Fritz Opitz (Hg.), Sie wirkten in Berlin, Erinnerungsschrift anlässlich des Kongresses der Lehrer und Erzieher in Berlin, Pfingsten 1952 überreicht, Berlin 1952, 96–100, hier: 96. Er war dort vom 1. April 1868 bis zum 1. Oktober 1872 beschäftigt. Vgl. Reinhard Gürtler / Ewald Meltzer, Zum 70. Geburtstage Hermann Pipers, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger 36/1916, Nr. 8, 123–126, hier: 123. Vom 1. April 1873 arbeitete Piper an der Töchterschule, bis zum 1. Oktober 1874 an der Einrichtung für Jungen. Danach war er an der 54. Berliner Gemeindeschule tätig. Vgl. Gürtler / Meltzer, Zum 70. Geburtstag, 123. Deter, Hermann Piper – Wegbereiter, 97. Die Autorin verwendet die Bezeichnungen „schwächste“ bzw. entwicklungsgestörte Kinder. Knapp 30 Jahre später spricht Synwoldt von „schwächsten“ und „lernschwachen“ Schülern. Vgl. Synwoldt, Hermann Piper – Wirken, 14– 57, hier: 14.

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dem ein Medizinstudium verwehrt geblieben war, die Gelegenheit, mental differente Kinder systematisch zu beobachten und Erkenntnisse zum Phänomen des „schwachsinnigen“ Kindes zu gewinnen. NORMALISIERUNG UND NUTZBARMACHUNG – MEDIZINISCH-PÄDAGOGISCHE PRAKTIKEN IM UMGANG MIT MENTAL DIFFERENTEN KINDERN Piper entwickelte sein Erziehungskonzept in einem stetigen work in progress. Seinem Denkmodell lag ein medizinisches Verständnis zugrunde, das „geistige Behinderung“ als individuelles, physisch-mentales Defizit auffasste und die Unfähigkeit zu produktiver Berufsarbeit in den Vordergrund rückte.43 Die schulische und berufliche Ausbildung in der Dalldorfer Anstalt erfolgte mit dem Ziel der größtmöglichen Anpassung „geistig behinderter Kinder“ an „normale“, funktionell nicht eingeschränkte Menschen. Dies ließ sich jedoch nicht mit allen, sogar nur mit einer kleineren Anzahl mental differenter Kinder erreichen, weshalb Piper sich auf die „bildungsfähigen“ Jungen und Mädchen konzentrierte. Förderung der einen und Auslese der anderen Zielgruppe bildeten notwendigerweise ein dialektisches Ganzes. „Es ist die Aufgabe der Anstalt“, formulierte Piper in seinem ersten Jahresbericht 1883, „die bildungsfähigen Zöglinge durch Erziehung und Unterricht so weit zu führen, daß sie nach Möglichkeit im Stande sind, sich als Handwerker oder Dienstbote zu ernähren, den bildungsunfähigen aber soll eine Stätte bereitet werden, welche ihnen die fürsorgende Elternliebe nach Kräften ersetzt“.44

Das medizinisch-pädagogisch motivierte Unternehmen wurde seiner sozialen Bedeutung entsprechend materiell und personell ausgestattet. Die Erziehungsanstalt verfügte über eigenes Personal, zu Beginn war neben Hermann Piper eine wissenschaftliche Lehrerin tätig.45 Diese war qualifiziert für die Vermittlung berufsbezogener fachtheoretischer und fachpraktischer Lerninhalte. Da sich Ende Februar 1882 die Zahl der zugewiesenen Kinder mit 44 bereits verdoppelt hatte, wurde zusätzlich eine technische Lehrerin eingestellt, eine Expertin für den berufspraktischen Unterricht. Wenige Monate später folgte ein männlicher Erzieher. An der Auswahl des pädagogischen Personals zeigt sich bereits, wie sehr das Erziehungskonzept auf eine spätere berufliche Qualifizierung der Insassinnen und Insassen

43 44 45

Elsbeth Bösl, Politiken der Normalisierung: Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2009, 9. Zit. n. Stender, Hundert Jahre „Klinik Wiesengrund“, 15. Sabine Damm / Norbert Emmerich, Die Irrenanstalt Dalldorf – Wittenau bis 1933, in: Arbeitsgruppe zur Erforschung der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, totgeschwiegen, 11–48, hier: 19; Stender, Hundert Jahre „Klinik Wiesengrund“, 18. Letzterer deutet die Maßnahmen als Teile einer „therapeutisch ausgerichteten Pädagogik“, darauf deute auch die Bezeichnung „wissenschaftliche Lehrerin“ hin.

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ausgerichtet war. Auf die Arbeits- und Beschäftigungstherapie legten Hermann Piper, die leitenden Ärzte und das Kuratorium der Anstalt besonderen Wert.46 Neben dem Lehrpersonal waren am Ende des ersten Verwaltungsjahres 1882/83 zusätzlich vier weibliche und vier männliche Pflegekräfte sowie ein Hausdiener beschäftigt, der zugleich als Heizer fungierte.47 Auch die Pfleger übernahmen eine Doppelfunktion, sie waren handwerklich vorgebildet und für die Unterweisung in den anstaltseigenen Werkstätten verantwortlich.48 Die Zahl der untergebrachten Jungen und Mädchen belief sich im November 1883 bereits auf 8749 und nahm weiterhin stetig zu. 1884 waren etwa 100 Kinder im der Erziehungsanstalt untergebracht, die als „bildungsfähig“ und „bildungsunfähig“ kategorisiert wurden. Eine dritte Klassifizierung betraf Jungen und Mädchen mit Epilepsie. 1888 wurde ein zusätzliches Mädchenhaus errichtet, so dass nun insgesamt 200 Plätze vorhanden waren.50 DIE ERZIEHUNGSANSTALT ALS DISZIPLINAREINRICHTUNG Konzept und Betrieb der Erziehungsanstalt entsprechen auf frappierende Weise der Foucault’schen These der Disziplinaranstalt, in der vor allem die kindlichen Individuen und ihre Körper einer permanenten Kontrolle, Überprüfung, Normierung, Sanktionierung, Hierarchisierung und Überwachung unterworfen waren.51 Charakteristisch für die Ausübung von Disziplinarmacht in Dalldorf ist die durchstrukturierte, einem strikten Zeit- und Verhaltensplan folgende Organisation des Anstaltsbetriebs. Als Erziehungsinspektor, der für die Anstaltsinsassinnen und -insassen ebenso verantwortlich war wie für das gesamte Personal, regelte Hermann Piper den Betrieb nach allgemeinen und besonderen Vorschriften, die genauestens einzuhalten waren. Das pädagogische und das Pflegepersonal arbeitete 60 und mehr Stunden pro Woche, wobei die „Wärterinnen“ und „Wärter“ neben der zeitweisen Beaufsichtigung der Kinder sämtliche Arbeiten in der Anstalt zu erledigen hatten. Die weiblichen Pflegekräfte wurden zusätzlich in der Küche und in der Wäscherei eingesetzt, den männlichen, handwerklich vorgebildeten „Wärtern“ oblag die Anleitung der Jungen und Mädchen in den Werkstätten. Die Dienstanweisungen für das Pflegepersonal und die Regeln für die Tagesordnung der Kinder legte Piper in regelmäßigen Konferenzen mit der Lehrerschaft sowie den „Wärterinnen“ und „Wärtern“ fest. Die organisatorische Leitlinie Pipers, „Das Ganze hat sich nach dem Einzelnen zu richten“, ließ sich jedoch schon angesichts der Größe des Betriebs nicht realisie-

46 47 48 49 50 51

Nissen, Hermann Piper – Promoter, 105. Stender, Hundert Jahre „Klinik Wiesengrund“, 18. Ebda., 15. Bratz, 50 Jahre Dalldorf, 4. Damm / Emmerich, Irrenanstalt, 19; Synwoldt, Hermann Piper – Wirken, 15. Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1979, Kap. III.

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ren.52 In Anbetracht der Tatsache, dass das Personal die Anstalt wenigstens kurzzeitig verlassen und sich der disziplinierenden Macht zumindest zeitweise entziehen konnte, galten für die kindlichen Insassinnen und Insassen weitaus striktere Vorgaben. Ihr Tagesablauf folgte einer peniblen und bis in die Einzelheiten vorgeschriebenen Ordnung, in der es keinerlei Freiräume gab. „Die Zöglinge stehen täglich auf ein gegebenes Zeichen mittels der Glocke im Sommer um ½ 6 Uhr, während der Winterordnung um 6 Uhr auf. Bestimmte Zöglinge begeben sich, nachdem sie gewaschen sind, auf den Hof und helfen beim Holen des Frühstücks und der Brote. Um 7 Uhr treten auf den Ruf der Glocke die Zöglinge unter Führung des Wartepersonals auf den Korridoren an, um auf ein gegebenes Zeichen des Inspizienten in den Speisesaal einzutreten, woselbst das Frühstück eingenommen wird. Nach dem ersten Frühstück treten die Zöglinge stationsweise auf den Korridoren an, werden vom Wartepersonal hinsichtlich ihrer Sauberkeit, wo es notwendig, gereinigt und nun vom Inspizienten besichtigt. Um 8 Uhr versammeln sich auf den Glockenruf alle Zöglinge (Knaben und Mädchen), welche die Schule besuchen, unter Führung des Inspizienten bzw. der Inspizientin im Speisesaal des Knabenhauses zu einer gemeinsamen Andacht, welcher das Lehrpersonal, ein Wärter und eine Wärterin beiwohnen. Nach gehaltener Andacht werden die Zöglinge klassenweise zur Schule geführt, und der Unterricht beginnt. Um 9 Uhr findet in derselben Weise wie um 7 Uhr das zweite Frühstück statt. Um 12 Uhr findet unter Aufsicht der Inspizienten in den Speisesälen das Mittagessen statt, nach demselben treten die Zöglinge unter Führung des Wartepersonals und Aufsicht der Inspizienten abteilungsweise in die Waschräume, um sich Mund und Hände zu waschen. Bis 1 Uhr gehen alle Kinder, geführt vom Wartepersonal, in den Anlagen in der nächsten Nähe der Anstalt spazieren. Von 1 bis 4 Uhr erhalten die Zöglinge in der Schule sowie in den Werkstätten, welche vom Inspizienten hinsichtlich der äußeren Ordnung und der erziehlichen Behandlung der Zöglinge überwacht werden, weiteren Unterricht. Um 3 Uhr erhält der Unterricht eine Unterbrechung durch den Kaffee. Von 4 bis ½ 7 im Sommer und bis ½ 6 Uhr im Winter ist Spaziergang unter der Leitung der Inspizienten und in Begleitung eines Wärters und einer Wärterin. Um 7 Uhr wird Abendbrot gegessen. Nach demselben müssen die größeren Zöglinge das Schuhwerk putzen, während die übrigen Kinder unter Aufsicht der Inspizienten zu selbständigem Spiel angeregt und überwacht werden. Um 8 Uhr gehen die Zöglinge der kleineren Stationen zu Bett, die größeren Knaben und Mädchen werden von ½ 8 Uhr bis ½ 9 Uhr im Sommer auf den Spielplätzen, bzw. in der Turnhalle, im Winter in den Speisesälen unter Leitung der Inspizienten und mit Hilfe des Wartepersonals durch Spielen, Vorlesen etc. unterhalten. Um 9 Uhr gehen die genannten Zöglinge zu Bett.“53

Zwar spiegelt diese Beschreibung Verhältnisse und Strategien, die auch in anderen öffentlichen Anstalten dieser Zeit vorzufinden waren, doch zeigt sich mit ihr eine neue Facette in dem bis heute wirksamen Narrativ einer altruistischen, auf das individuelle Wohl ausgerichteten Fürsorge gegenüber dem behinderten Kind. Tatsächlich waren die Hilfestellungen und Fördermaßnahmen durchaus an Akte der Gewalt 52 53

Synwoldt, Hermann Piper – Wirken, 15. Hermann Piper, Aus dem Betriebe einer Idiotenanstalt für die Idiotenanstalt, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 13/1893, 61–64 und 93–98.

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gegen das kindliche Individuum geknüpft. In der Praxis bildeten nicht die Bedürfnisse des Kindes den Ausgangspunkt der erzieherischen Maßnahmen, im Vordergrund standen vielmehr die Notwendigkeiten und Erfordernisse des Anstaltsbetriebes, dem die Objekte der Fürsorge nach Maßgabe des jeweiligen Anstaltsleiters unterworfen wurden. Absolute Kontrolle der Anstaltsinsassinnen und -insassen sowie strikte Regulierung aller Lebensäußerungen garantierten das reibungslose Funktionieren dieses Mechanismus. Das einzelne Kind als unverwechselbares Individuum löste sich im Kollektiv der Zöglinge ebenso auf wie im stetig sich wiederholenden Akt seiner Verobjektivierung. Inwieweit der Tagesablauf in der Dalldorfer Anstalt in der beschriebenen Form hat ablaufen können, bleibt jedoch fraglich angesichts der Tatsache, dass die meisten Jungen und Mädchen nicht einmal in der Lage waren, sich allein zu waschen und anzuziehen.54 Schulbetrieb Die Organisation des Schulbetriebes orientierte sich an den „bildungsfähigen“ Kindern, die in fünf aufsteigenden Klassen unterrichtet wurden. Die Zuordnung erfolgte altersunabhängig „nach dem jeweiligen geistigen Zustand der zu fördernden Kinder“.55 Die Altersverteilung unter den aufgenommenen Insassinnen und Insassen zeigt, dass neben den Kindern und Jugendlichen auch Erwachsene in die Erziehungsanstalt aufgenommen wurden. Der älteste Schüler war 33 Jahre alt, das Alter des jüngsten Kindes lag bei zwei Jahren.56 Die 5. Klasse fungierte als „Versuchsklasse“, in der den lernschwächsten Jungen und Mädchen „in geordneter und naturgemäßer Weise der Stoff zu eigen gemacht [wurde], welchen normale Kinder in der Familie bis zu ihrem schulpflichtigen Alter unter der Fürsorge und Anregung der Eltern und größeren Geschwister kennengelernt und verstanden haben“.57 Im Wesentlichen beinhaltete dies die Sinnesschulung der Kinder, das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen lernen. Die eigentliche Schule setzte in der 4. Klasse ein, wo sich der Unterricht vor allem auf die Vermittlung von Allgemeinbildung und die Einübung von Kulturtechniken erstreckte. Der Fächerkanon umfasste Religion, Lesen, Schreiben, Rechnen, Geschichte und Geographie. Die musische Erziehung beschränkte sich auf das Singen, besonderer Wert wurde auf die körperliche Ertüchtigung der Schülerinnen und Schüler gelegt, der Stundenplan sah eine tägliche Turnstunde vor.58 Sittlich-religiöse Festigung, intel54 55 56 57 58

Stender, Hundert Jahre „Klinik Wiesengrund“, 19, mit Bezug auf statistische Angaben Pipers 20. Stender, Hundert Jahre „Klinik Wiesengrund“, 20. Ebda., 27. Piper [1883], zit. n. Stender, Hundert Jahre „Klinik Wiesengrund“, 20. Ebda., 21.

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lektuelle und manuelle Ausbildung sowie körperliche Ertüchtigung bildeten die Konstanten, mit denen die Mädchen und Jungen dazu befähigt werden sollten, „später außerhalb der Anstalt in der menschlichen Gesellschaft sich zu bewegen und ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise zu erwerben“, hieß es zum Piper’schen Konzept Mitte der 1920er Jahre.59 Dem Ganztagsbetrieb der Anstalt geschuldet, hatten die einzelnen Klassen eine hohe Stundenzahl,60 das Leistungsniveau entsprach teilweise dem der späteren Grundschule. Nach Stender lag daher bei den Schülerinnen und Schülern „eine schwere geistige Behinderung im Sinne einer Idiotie (…) zweifellos überwiegend nicht vor“.61 1898 besuchten 140 Jungen und 80 Mädchen den Unterricht der „bildungsfähigen“ Kinder. Die Anstaltshilfsschule umfasste zu diesem Zeitpunkt in sechs aufsteigenden Klassenzügen insgesamt zwölf Einzelklassen. Für den Unterricht in der Schule und in den Werkstätten standen insgesamt acht Lehrkräfte zur Verfügung – vier Lehrer, eine technische und drei wissenschaftliche Lehrerinnen – zur „Mitbetreuung“ kamen ein „Oberwärter“ und 21 weitere Pflegekräfte sowie ein Hausdiener, ein Heizer, eine Näherin und eine Arbeitsfrau hinzu.62 Welche genauen Funktionen das nichtpädagogische Personal innerhalb des Schulbetriebes übernahm, ist nicht dokumentiert. Der Turn- und Sprachunterricht, die so genannten Tätigkeits- und die „disziplinierenden“ Übungen dienten nicht allein der Förderung der mental differenten Jungen und Mädchen, sie waren zugleich Techniken, mit denen die Körper der Kinder und Jugendlichen bis in kleinste Bewegungsabläufe hinein an eine gesetzte funktionale Norm angepasst werden sollten. Das Gelingen dieser Normierung bedurfte der stetigen Überprüfung, Korrektur und unablässigen Kontrolle. So hieß es in dem von Hermann Piper 1888 erstellten „Lehrplan für eine Idiotenanstalt“ unter der Rubrik „Turnen“: „Aufstellung zu Paaren (am Ort). Grundstellung. Schlussstellung: der Füsse. ¼ Drehung links, ¼ Drehung rechts. Leichte Armverbindungen. Stampfen des linken Fusses (zur schnelleren Erlernung des Antretens „links“). Gehen von Ort (mit Stampfen des linken Fusses). Üben des Halt.“63

Auch die „Thätigkeitsübungen“ hatten einen mechanischen, teilweise militärisch anmutenden Charakter. Sie umfassten alltägliche Verrichtungen wie „Grüssen (Knaben: Mützen abnehmen, Diener machen, Mädchen: Knix), Anziehen und Ausziehen, a) eines Überziehers (Knaben), b) einer Winterjacke (Mädchen), 1 mit Hülfe eines anderen, 2 allein, c) der Handschuh (sic). 4. Umbinden und Ablegen eines Tuches, Shawls etc.“.64

59 60 61 62 63 64

Münchau / Schramm, Besichtigung, 267. Stender, Hundert Jahre „Klinik Wiesengrund“, 18. Ebda., 21. Synwoldt, Hermann Piper – Wirken, 15. Hermann Piper, Lehrplan für eine Idiotenanstalt, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 4(8)/1888, Nr. 2, 28–29, Nr. 3, 41–48, hier: 47. Ebda., 44.

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Abb. 3: Mädchen beim Turnen, o. J., Vivantes GmbH Netzwerk für Gesundheit

Zugleich wurden einfachste Bewegungsabläufe und Tätigkeiten eingeübt, die mit Blick auf ebenso einfache Handreichungen zusammengestellt worden waren: „1. Sitzen – Aufstehen, a, auf eine Bank, einen Stuhl etc., b, auf den Boden. (Sitzen! Aufstehen! – eins, zwei!). 2. Zusammengesetzte Übungen: a) Aufheben – Niederstellen eines Gegenstandes, b) auf einen Stuhl, eine Bank steigen, wieder herabsteigen etc., 3. Uebungen mit einer kleinen Schiebkarre, a) Schieben der Karre, b) Beladen derselben, c) Umkehren derselben. 4. Tragen, a) eines Korbes mit 1 Henkel – mit 2 Henkeln.“65

Zu den „disziplinierenden Übungen“, die eine Ergänzung der Tätigkeitsübungen und des Turnunterrichts darstellten, gehörten „a, Geräuschloses Aufstehen und Setzen, b, Wenden des Körpers, 1) beim Sitzen nach rechts, links, vorn. 2) beim Stehen nach rechts, links, vorn, c) Bewegungen des Kopfes, d) Arm- und Handbewegungen“.66

Verfolgten die im Curriculum ebenfalls angegebenen Atem-, Mund-, Lippen- und Sprechübungen einen therapeutischen Zweck,67 so bewegten sich die anderen Übungen eher in dem Bereich, der heute unter dem Begriff der lebenspraktischen Aktivitäten firmiert. Arbeitstherapie War die Arbeitstherapie in der Psychiatrie als Teil der Behandlung erwachsener Patientinnen und Patienten gegen Ende des 19. Jahrhunderts bereits eingeführt und in der reformpsychiatrischen Anstalt Dalldorf etabliert, so übertrug Hermann Piper dieses 65 66 67

Ebda., 42. Die unterschiedliche formale Schreibweise – Setzen der Aufzählungen in Klammern oder Abtrennung durch Kommata – folgt hier und in den nachfolgenden Zitaten dem Original. Ebda., 45. Ebda., 45 f.

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Prinzip auf die Insassinnen und Insassen der Erziehungsanstalt. Er ließ insgesamt sechs Werkstätten einrichten – Gärtnerei, Buchbinderei, Korbmacherei, Tischlerei, Schuhmacherei und Schneiderei – und im Laufe der Jahre weiter ausbauen. In Pipers Konzept verband sich hier schulischer Unterricht und handwerkliche Berufsvorbereitung mit einer vorgegebenen praktischen und als „sinnvoll“ deklarierten Freizeitbeschäftigung der Kinder am Nachmittag. Nicht zuletzt dienten die Tätigkeiten in den Werkstätten, die als leicht zu erlernende galten, der Selbstversorgung der Anstalt. Der Verkauf der Erzeugnisse trug zur Aufbesserung der Haushaltsmittel bei. Fernziel der Beschäftigung in den Handwerksbetrieben, die von fachgerecht ausgebildeten Erzieherinnen und Erziehern geführt wurden, war die Erwerbsbefähigung der „schwachsinnigen“ Jugendlichen. Sie sollten nach ihrer Entlassung aus Schule und Anstalt in eine Lehre eintreten oder eine Arbeitsstelle aufnehmen. Mit diesem Schritt war in der Regel eine Unterbringung bei einem Lehrherrn, einem Bauern, oder in einem Haushalt und damit eine materiell weitgehend eigenständige Existenz außerhalb der Anstaltsmauern verbunden.68 Die Frage, wie hoch die Erfolgsquote hinsichtlich einer regulären handwerklichen Berufsausbildung oder einer dauerhaften beruflichen Tätigkeit außerhalb der Anstalt gewesen ist, wäre eine nähere Untersuchung wert.69 Zeitgenössische statistische Angaben beziehen sich allenfalls auf einzelne Jahrgänge und verweisen eher darauf, dass der Anteil erwerbsbefähigter mental differenter Jugendlicher sehr niedrig war. 1884 befanden sich 118 Kinder und Jugendliche in der Anstalt, von denen 29 entlassen wurden. Fünf dieser „Zöglinge“ galten als erwerbsfähig, acht wurden als „konfirmations- und erwerbsfähig“ entlassen, weitere acht Jugendliche wurden auf Wunsch der Eltern als „gebessert“ oder „ungeheilt“ nach Hause geholt und sechs Jungen und Mädchen waren „bildungsunfähig“.70 Piper selbst skizzierte die Effekte seiner Erziehungstätigkeit qualitativ: „Die Erziehung durch Anhalten zur Thätigkeit, zu regelmässigen Bewegungen in frischer Luft und zu geeigneten gymnastischen Übungen hat ihre guten Folgen gezeigt. So mancher apathische Zögling ist aus seinem dahinbrütenden Wesen durch die strenge Hausordnung, die fortwährende geistige Anregung im Unterricht, wie in der Freizeit durch Spiel und anregende Spaziergänge, durch die immer wiederkehrende Aufforderung zur Tätigkeit in den Werkstätten aufgerüttelt worden und zu dem uns Hoffnung verheissenden ‚ich will‘ gelangt. Wiederum auch sind einzelne exaltierte Individuen, deren aufgeregtes Wesen anfangs jede Konzentration verscheuchte, zur Teilnahme gelangt, bedürfen aber immer noch seitens des Unterrichtenden der grössten Aufsicht und vorsichtigen Behandlung. Schüchterne und scheue Zöglinge, die jede Teilnahme verweigerten, sind zutraulicher geworden und erwarten wir von der Zukunft auch ihre Teilnahme am Unterricht. Einzelne zerstörungssüchtige Wesen sind durch fortwährendes Verhüten, durch stete Aufsicht, von ihren üblen Angewohnheiten befreit und spielen jetzt mit dem Baukasten, der Puppe und anderen Gegenständen. Endlich ist es gelungen, einen kleinen Teil der unreinlichen Zöglinge durch Gewöhnung zur Reinlichkeit zu erziehen und haben diese Erfolge manche mühevolle Arbeit beseitigt.“71 68 69 70 71

Vgl. Deter, Hermann Piper – Wegbereiter, 98; Nissen, Hermann Piper – Promotor, 14 und ausführlicher, Synwoldt, Hermann Piper – Wirken, 18. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Anna Urbach in diesem Band. Stender, Hundert Jahre „Klinik Wiesengrund“, 27. Hermann Piper, Aus dem Berichte über die städtische Idiotenanstalt Dalldorf, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 1(V)/1885, Nr. 2, 31–32, hier: 31.

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Normalisierung mental differenter Kinder als pädagogisches Prinzip tritt hier deutlich hervor, sie beginnt bereits beim Spielen, das „geordnet“ erfolgen und den Verhaltensweisen „geistig normaler“ Kinder entsprechen soll. Von zentraler Bedeutung ist die Willenserziehung, der ein defizitäres Verständnis von „geistiger Behinderung“ zugrunde liegt. Mithilfe pädagogischer Praktiken soll der Willen der Schülerinnen und Schüler produktiv gemacht werden: Sie sollen ihn hervorholen, verbessern, korrigieren und in geordnete Bahnen lenken, etwa durch Erziehung zur Arbeit.72 DIE ERZIEHUNGSANSTALT ALS LABOR UND INSTRUMENT WISSENSCHAFTLICHER BEOBACHTUNG Neben ihrer Aufgabe, ein Ort der Fürsorge und Erziehung für mental differente Kinder zu sein, erfüllte die Dalldorfer Einrichtung jedoch weitergehende Funktionen. Sie war ebenso sehr ein Ort, an dem sich Erkenntnisse über das Phänomen des „schwachsinnigen Kindes“ überhaupt erst gewinnen ließen. Vergleichbar einem naturwissenschaftlichen Labor bildete die Anstalt den Rahmen und stellte die nötigen Voraussetzungen zur Verfügung, unter denen systematische Untersuchungen des Gegenstandes „geistige Behinderung“ möglich waren. Nicht zuletzt versammelten sich hier die beobachtbaren Objekte.73 Hermann Pipers ausgeprägte Fähigkeit zur Vernetzung, sein nicht nachlassendes Interesse an wissenschaftlicher Erkenntnis und seine rege Vortrags- und Publikationstätigkeit belegen, in welcher Weise und in welchem Umfang er die einmalige Gelegenheit zu nutzen wusste, die sich ihm mit und in der Erziehungsanstalt bot. Medikalisierung der Erziehung „bildungsfähiger schwachsinniger“ Kinder Trotz der Eigenständigkeit der Dalldorfer „Kinderabteilung“ in pädagogischer Hinsicht unterstand der Erziehungsinspektor der ärztlichen Direktion der Gesamteinrichtung und deren Kuratorium.74 In allen administrativen und ökonomischen Angelegenheiten galten die Vorschriften der Hauptanstalt. Auch die Ausgestaltung des Unterrichts und der handwerklichen Beschäftigung musste Piper ebenso mit einem Kuratoriumsmitglied abstimmen wie wichtige, „die Erziehung und die Disziplin betreffende Fragen“.75 72

73 74 75

Thomas Hoffmann, Wille und Entwicklung: Geistige Behinderung und das Dispositiv des Willens im 19. und 20. Jahrhundert, in: Oliver Musenberg (Hg.), Kultur – Geschichte – Behinderung. Die kulturwissenschaftliche Historisierung von Behinderung, Oberhausen 2013, 207– 233, hier: 228. Ebda., 211. Stender, Hundert Jahre „Klinik Wiesengrund“, 17, 25. Instruction für den Erziehungs-Inspector, zit. n. Stender, Hundert Jahre „Klinik Wiesengrund“, 23.

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Die „Instruction für den Erziehungs-Inspector“ sah darüber hinaus eine enge Zusammenarbeit von Arzt und pädagogischem Leiter vor, für jedes neu aufgenommene Kind waren geeignete medizinische und pädagogische Maßnahmen individuell miteinander abzustimmen.76 Insofern übernahm Piper auch eine Mittlerfunktion zwischen Arzt und „Zögling“, eine Praxis, die dem späteren jugendpsychiatrischen Vorgehen entsprach.77 Der ärztliche Standpunkt hatte im Zweifelsfall Vorrang vor der pädagogischen Auffassung. Auch die zeitliche Organisation des Unterrichts, der Lehrplan und die Inspektionen wurden halbjährlich festgelegt und bedurften der Genehmigung des leitenden Arztes.78 Die vertraglichen Regelungen kamen dem professionellen Interesse Hermann Pipers durchaus entgegen, denn er hielt die Zusammenarbeit mit Ärzten und die Erweiterung pädagogischen Wissens durch medizinische Kenntnisse für unverzichtbar.79 Im Laufe seiner Tätigkeit knüpfte und pflegte der Pädagoge eine ganze Reihe von Verbindungen zu verschiedenen Fachvertretern der Medizin und erwarb sich deren Anerkennung. Eine besondere Beziehung verband den Lehrer mit Wilhelm Sander, von dem er „sehr viel lernte über die Beurteilung der einzelnen psychischen Fälle“.80 Sander wiederum schrieb das Vorwort zu Pipers 1893 erschienenem Buch „Zur Ätiologie der Idiotie“. Der Psychiater empfahl die Lektüre ganz besonders den ärztlichen Kollegen und betonte den Mangel an vergleichbaren Studien. Darüber hinaus könne sich nur selten eine Arbeit „auf ein so umfangreiches und auf ein verhältnismässig so brauchbares Material stützen“.81 Mit seiner quantitativen Untersuchung, in der er sich auf mehr als 3.000 Fälle bezog, erwarb sich Hermann Piper bei Medizinern und Anstaltspädagogen bleibende Anerkennung im Bereich der „Erforschung und Behandlung des Schwachsinns“.82 Im Kontakt mit Carl Moeli (1849–1919),83 zunächst Direktor in Dalldorf, ab 1883 Leiter der zweiten Berliner „Irrenanstalt“ Herzberge, erweiterte der Pädagoge seine Kenntnisse über „die zentralen Störungen des kindlichen Gehirns“.84 Über „persönliche Beziehungen“ wurde Piper als Gasthörer an der Berliner Universität zugelassen, wo er den Pädiater Adolf Baginsky (1843–1918) kennenlernte. Als Di76 77 78 79 80 81 82 83

84

Ebda. Ebda., 25. Ebda., 24. Deter, Hermann Piper – Wegbereiter, 97; Nissen, Hermann Piper – Promotor, 15; Ders., Kulturgeschichte, 105 f. Zit. n. Nissen, Hermann Piper – Promotor, 15. Wilhelm Sander, Vorwort, in: Hermann Piper, Zur Ätiologie der Idiotie, Berlin 1893, V-VI, hier: V. Schwenk, Erziehungsinspektor, 423. Der reformpsychiatrisch orientierte Moeli hatte sich 1883 im Fach Psychiatrie an der Charité habilitiert. 1914 wurde er Referent für das Irrenwesen in der Medizinalabteilung des (Preußischen) Kultusministeriums (später: Ministerium des Innern) und zählte zu den wichtigsten Beratern der Regierung in psychiatrischen Fragen. Zu Person und Werk vgl. Wilhelm Falkenberg u. a., Carl Moeli zum 70. Geburtstag, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und ihre Grenzgebiete 75/1919, 395–406 (mit Schriftenverzeichnis) sowie Isidor Fischer (Hg.), Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte der letzten 50 Jahre, 2. Bd, Berlin u. a. 1962, 1054. Zit. n. Nissen, Hermann Piper – Promotor, 15.

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rektor des Berliner Kaiser und Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhauses holte Baginsky mehrfach die Expertise des Lehrers zur „Feststellung der Diagnose über Bildungsfähigkeit“ ein. Wie schon im Austausch mit Sander zeigt sich auch hier die Wechselseitigkeit der Beziehung zwischen Mediziner und Pädagoge.85 Weitere Kontakte pflegte Hermann Piper zu dem forensisch tätigen Neurologen und Psychiater Emanuel Mendel (1839–1907),86 Gründer der ersten Anstalt für Nervenkranke in Berlin-Pankow und seit 1884 Direktor der Nervenklinik an der Charité, sowie zu dem Physiologen Karl Ludolf Schäfer (1866–1931). Schäfer lebte ab 1898 in Berlin, wo er im Physiologischen Institut tätig war und zwei Jahre später habilitierte. Er lehrte an der Universität, an der Hochschule für Musik und am Heilpädagogischen Seminar, an dem er Vorlesungen für „Taubstummenlehrer“ abhielt. Bei ihm hörte Piper „Über die Physiologie der Sinneswerkzeuge“, bei Mendel über Nervenund Gemütskrankheiten. Letzterer hatte den Pädagogen zu seiner bekanntesten Untersuchung über die Ursachen der „Idiotie“ angeregt. „Ich halte die Arbeit für eine sehr dienliche und kann nur raten, diese zu veröffentlichen. Die genauen Angaben über eine so stattliche Zahl von Fällen sind nur geeignet dazu beizutragen, das Dunkel über die Aetiologie [des Schwachsinns] etwas aufzuhellen“,

hieß es in einem Brief Mendels an Hermann Piper.87 Eine weitere Verbindung Pipers bestand zu dem „Taubstummenlehrer“ und Mitinitiator des öffentlichen Sprachheilwesens in Berlin, Albert Gutzmann (1837– 1910),88 und zu dessen Sohn, dem Phoniater Hermann Gutzmann sen. (1865– 1922).89 Durch den Austausch mit diesen beiden Spezialisten vertiefte der Autodidakt Piper seine Kenntnisse über kindliche Sprachstörungen. Nachdem er sich bei Gutzmann sen. mit den „Grundlagen der Sprachgebrechen und deren Heilung“ ver85 86

87 88

89

Zit. n. ebda.; zum Kaiser und Kaiserin Friedrich-Kinderkrankenhaus vgl. Eva Brinkschulte / Thomas Knuth (Hgg.), Das medizinische Berlin. Ein Stadtführer durch 300 Jahre Geschichte, Berlin 2010, 224–225. Manfred Stürzbecher, Mendel, Emanuel, in: Neue Deutsche Biographie 17/1994, 39 f., in: , 1.10.2014,; und Ders., Berliner Gräber bedeutender Psychiater – Wilhelm Griesinger, Heinrich Laehr, Carl Westphal, Eduard Levinstein, Emanuel Mendel, Karl Bonhoeffer, Karl Leonhard, Helmut Selbach, in: Hanfried Helmchen (Hg.), Psychiater und Zeitgeist, Zur Geschichte der Psychiatrie in Berlin, Lengerich 2008, 401–412. Zit. n. Nissen, Hermann Piper – Promotor, 15. Albert Gutzmann war an der ersten Städtischen Berliner Taubstummenschule tätig. Neben seiner Lehrertätigkeit befasste er sich intensiv mit kindlichen Sprachstörungen. Seine Erkenntnisse publizierte er 1897 unter dem Titel Das Stottern und seine gründliche Beseitigung durch ein methodisch geordnetes und praktisch erprobtes Verfahren, Berlin. Hermann Gutzmann sen. war das erste von insgesamt sieben Kindern. Er studierte Medizin in Berlin und promovierte 1887 mit einer Arbeit „Über das Stottern“. 1891 eröffnete er eine private Ambulanz für Sprachstörungen, 1896 folgte die Gründung eines Sanatoriums in BerlinZehlendorf. Der Mediziner habilitierte 1905 zum Thema „Die Sprachstörungen als Gegenstand des klinischen Unterrichts“. Dieses Jahr gilt als Gründungsjahr des von ihm vertretenen Faches Phoniatrie. Ab 1906 lehrte Gutzmann sen. sowohl an der Berliner Universität als auch in seinem privaten Phonetiklabor. 1912 wurde er zum a. o. Professor an die HNO-Universitätsklinik der Charité berufen.

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traut gemacht hatte, wendete sich der Pädagoge vor allem dem Phänomen des Stammelns zu und publizierte zu diesem Arbeitsgebiet in den zeitgenössischen Fachorganen.90 „Diese Disziplin war für mich und meine Zöglinge eine Fundgrube, die ich mit größtem Interesse persönlich ausführte. Betraf die Gutzmann’sche Methode nur geistig gesunde Kinder, so lag es mir ob, den Unterricht sowohl bei Stotterern wie bei Stammlern faßlicher zu gestalten und das Interesse der schwachsinnigen Kinder zu gewinnen, was mir auch zu meiner Freude gelang“,

schrieb Piper.91 Er referierte über die Behandlung von Sprachstörungen auf heilpädagogischen Kongressen in Berlin (1893), Heidelberg (1895) und Breslau (1898)92 und veröffentlichte weitere Arbeiten in der Medizinisch-pädagogischen Monatsschrift für die gesamte Sprachheilkunde. Mit seinen wissenschaftlichen Untersuchungen über Sprachbehinderungen und seinen methodisch-praktischen Arbeiten erwarb sich der Pädagoge internationale Anerkennung. Infolge seines 1895 veröffentlichten Beitrags über „Vorkommende Abnormitäten der Sprachwerkzeuge bei schwachsinnigen resp. idiotischen Kindern und dadurch bedingte Sprachgebrechen“93 erlernte Piper unter Anleitung eines Zahnarztes die Herstellung von Gebiss-, Kiefer- und Ohrabgüssen. Er sah eine „Anzahl anormaler Kiefer, die Sprechstörungen zur Folge hatten“ und nutzte das hinzugewonnene Fachwissen zur plastischen Nachbildung fehlerhafter Kieferbildungen, die er bei seinen Schülerinnen und Schülern feststellte. Zur Therapie von Sprechstörungen entwickelte Piper eine eigene Methodik, die er 1898 als Handbuch unter dem Titel „Der kleine Sprachmeister“ veröffentlichte.94 Hermann Gutzmann sen. und der Kinderarzt Adolf Baginsky verfassten das Vorwort zu dieser Arbeit. Mit der Einrichtung der „Städtischen Idiotenanstalt“ in Dalldorf war nicht nur ein Ort der Erziehung und Fürsorge für Kinder mit geistigen Behinderungen geschaffen, sondern es lagen zugleich die notwendigen institutionellen Voraussetzungen vor, um das Phänomen des „schwachsinnigen“ Kindes systematisch zu unter90

91 92 93 94

Vgl. dazu Hermann Piper, Welche Unterrichtsdisziplinen sind mit Rücksicht auf die an Sprachgebrechen leidenden Idioten zu pflegen? Sind auf Erfahrung beruhende Methoden vorhanden, resp. welcher Lehrgang ist vorzuschlagen?, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 4(8)/1888, H. 1, 5–11; Ders., Die Sprachgebrechen bei schwachsinnigen und idiotischen Kindern, in: Medizinisch-pädagogische Monatsschrift für die gesamte Sprachheilkunde 1/1891, Nr. 2, 51–58, Ders., Die Heilung von Sprachgebrechen bei schwachsinnigen resp. idiotischen Kindern, in: Medizinisch-pädagogische Monatsschrift für die gesamte Sprachheilkunde 1/1891, Nr. 10, 297–305 und Nr. 11, 329–332, Ders., Statistik über die Sprachgebrechen der in den nachfolgenden Anstalten (Internaten) bezw. Schulen (Externaten) befindlichen schwachsinnigen Kinder, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 15/1895, Nr. 2, 18–21. Zit. n. Nissen, Hermann Piper – Promotor, 16. Hermann Piper, Wie können wir die sprachlosen schwachsinnigen Kinder zum Sprechen bringen?, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger 18/1898, H. 7, 100–108 und 130– 136. Der Beitrag erschien in der Medizinisch-pädagogischen Monatsschrift für die gesamte Sprachheilkunde 5/1895, Nr. 3/4, 65–79. Hermann Piper, Der kleine Sprachmeister. Ein Lehr- und Bilderbuch, Berlin 1898.

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suchen und die Möglichkeiten zu seiner Normalisierung und Nutzbarmachung auszuloten.95 Die Anstalt bildete den organisatorischen Rahmen, der die Beobachtung der dort versammelten „Objekte“ erst möglich machte. Einem jungen und hoch motivierten Pädagogen wie Hermann Piper, der über die ausgewiesene Fähigkeit zu autodidaktischer Qualifikation verfügte, eröffnete sich hier ein Arbeitsfeld, das er mit außergewöhnlicher Energie und enormem Fleiß zu gestalten wusste. Fachautor Hermann Pipers Bibliographie ist umfangreich, neben den bereits genannten Arbeiten veröffentlichte er zahlreiche Beiträge in zeitgenössischen (sonder-)pädagogischen und medizinisch-pädagogischen Fachzeitschriften.96 In vielen seiner Publikationen vertrat er die Auffassung, dass die Förderung und Erziehung „bildungsfähiger schwachsinniger“ Kinder nur in einer Anstalt erfolgen könnten. Einige seiner Abhandlungen enthalten konkrete methodisch-praktische Anleitungen zur Umsetzung dieses Ziels. Die überwiegende Mehrzahl seiner Aufsätze erschien in der Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger, in der Piper 1888 in zwei fortlaufenden Nummern auch seinen „Lehrplan für eine Idiotenanstalt“ publizierte.97 Die Erkenntnisse, die der Pädagoge aus seinem Curriculum und dem Unterricht in Dalldorf gewann, teilte er in weiteren Veröffentlichungen mit.98 Den Schwerpunkt seiner pädagogischen Arbeit an „bildungsfähigen schwachsinnigen“ Kindern bildete der Anschauungsunterricht, für den Piper von seinem handwerklich ausgebildeten Aufsichts- und Pflegepersonal Lehrmittel nach seinen eigenen Vorstellungen anfertigen oder umgestalten ließ. Dazu gehörte etwa der sogenannte Schnürapparat (1889), der den Mädchen und Jungen das Binden von Schuhen verdeutlichen sollte. „Der Formentisch“ (1890) diente zur Unterscheidung einfacher Flächen nach Größe, Farben und Formen,99 und mithilfe des „Nähapparates“ (1891) sollten wohl vor allem die Mädchen die verschiedenen Zierstiche für Stickarbeiten erlernen. Die Schrift „Der kleine Modelleur“ [1910]100, die bis in die 1970er Jahre als aktuell galt und sich an Lehrer und Eltern wendete,101 enthält gestaffelte Anweisungen für 95 Vgl. Hoffmann, Wille, 211. 96 Neben den bereits genannten veröffentlichte Piper die Beiträge Die Fürsorge für die schwachsinnigen Kinder, in: Die Deutsche Schule 1/1897, 129–138; An die Vereinigungen für Kinderpsychologie und Heilpädagogik und Freunde dieser Wissenschaften, in: Der Blindenfreund 25/1905, Nr. 1, 17–18 und Die pathologische Lüge, in: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene 8/1906, H. 1, 1–15. 97 Hermann Piper, Lehrplan für eine Idiotenanstalt, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 4(8)/1888, Nr. 2, 28–29 und Nr. 3, 41–48. 98 Vgl. z. B. Methodisches, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 7(11)/1891, Nr. 3/4, 48–55, Nr. 5, 70–76, Nr. 6, 88–92; Der Anschauungsunterricht, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 7(11)/1891, Nr. 6, 88–92. 99 Die einfachen Flächen des Piper’schen Formentisches wurden in den 1980er Jahren in ähnlicher Art verwendet. Vgl. Synwoldt, Hermann Piper – Wirken, 19. 100 Das genaue Erscheinungsjahr ist nicht gesichert, vermutlich ist es 1910. 101 Vgl. Nissen, Hermann Piper – Promotor, 14.

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Übungen im Kneten mit Plastilin und Ton.102 Der gezielte Umgang mit diesem Material diene, so Piper, der Kräftigung der Hand- und Fingermuskulatur, der Entwicklung von Geschick, der Förderung sinnlicher Wahrnehmung und Erweiterung des kindlichen Formensinns, der Anregung von Phantasie und nicht zuletzt der Stärkung des Selbstbewusstseins: „(…) das Kind kommt dahin, zu empfinden, du kannst etwas fertigen, was einigen Wert hat, wo sich andere Menschen freuen.“103 In zahlreichen Mitteilungen berichtete Piper darüber hinaus über die laufende Entwicklung der Dalldorfer Einrichtung und über den Anstaltsalltag. Ein Beitrag über die städtische Erziehungsanstalt in einem Sammelband, eine Herausgabe und eine Reihe von Monographien ergänzen sein Oeuvre als Fachautor.104 Verbandsarbeit Neben der Leitung der Erziehungsanstalt und der organisatorischen und praktischen Arbeit vor Ort, neben den autodidaktischen Studien, der wissenschaftlichen und schriftstellerischen Tätigkeit entfaltete Hermann Piper eine rege Tätigkeit als Gründungs- und Vorstandsmitglied sowie als Organisator von Kongressen. Ab 1883 gehörte er zu den regelmäßigen Besuchern der „Konferenzen für das Idiotenwesen“, die der „Deutsche Verein für Erziehung, Unterricht und Pflege Geistesschwacher“ an wechselnden Orten abhielt. Der Anstaltsleiter beteiligte sich nicht nur aktiv an den Verhandlungen und Diskussionen, sondern trat auch als Referent hervor. Daher wurde Piper 1885 in den Vorstand des Vereins, 1898 zum ersten Vorsitzenden gewählt. Zugleich übernahm Piper die Schriftleitung der Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer, in der er 1914 einen Beitrag über die vierzigjährige Geschichte des Vereins publizierte.105 Den Vereinsvorsitz legte der rührige Pädagoge aus Altersgründen erst 1919 nieder. Als Dank für sein mehr als zwei Jahrzehnte währendes Engagement ernannte der Verein den nunmehr 73-Jährigen zu seinem Ehrenvorsitzenden. In dieser Funktion blieb Piper jedoch weit über diesen Zeitraum hinaus im Verein aktiv. Auf der 18. Konferenz des Vereins 1925 in Hamburg gab er einen Überblick über alle bis dahin vom Verein abge102 Hermann Piper, Ein Apparat für die Zöglinge der Unterstufe der Idiotenanstalten, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 5(9)/1889, Nr. 6, 102–104; Der Formentisch, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 6(10)/1890, Nr. 2, 22–25; Die Veranschaulichung des Nähens, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 7(11)/1891, Nr. 1, 22–24; Der kleine Modelleur. Eine Anweisung in Schule und Familie, Berlin 1910. 103 Hermann Piper, Modelleur, zit. n. Nissen, Hermann Piper – Promotor, 14 f. 104 Hermann Piper, Die städtische Erziehungsanstalt Dalldorf, in: Die Anstaltsfürsorge für körperlich, geistig, sittlich und wirtschaftlich Schwache im Deutschen Reiche in Wort und Bild: Deutsche Anstalten für schwachsinnige, epileptische und psychopathische Jugendliche, Bd. 8, Halle a. 1912, 89–93; Ders. und J. Kelemann (Hgg.), Schulhygiene-Hefte, 1901 (keine näheren Hinweise); Piper, Ätiologie; Ders., Der kleine Rechenmeister, Berlin 1906; Ders., Sprachmeister; Ders., Schulhygiene, Liniatur 1 bis 4, o. Ort, alle um 1920. 105 Hermann Piper, Ein vierzigjähriges Jubiläum, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 34/1914, 181–187 und 197–212.

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haltenen Verhandlungen, ein Jahr später, auf der 19. Konferenz in Kassel, brachte er einen umfassenden „vereinsgeschichtlichen Rückblick“, der eine Zusammenstellung aller in der Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer seit ihrem Bestehen erschienenen Beiträge, Würdigungen ehemaliger Vereins- und Vorstandsmitglieder und eine Zusammenstellung besonderer Ehrungen enthielt.106 Ehrungen Auf der Weltausstellung in Chicago erhielt Hermann Piper 1893, nach zwölf Jahren seiner Tätigkeit in der Erziehungsanstalt, den Großen Preis und ein Diplom für seine Präsentation von Büchern, Lehrmitteln und methodischem Material, das die Möglichkeiten der Erziehung „bildungsfähiger schwachsinniger“ Kinder veranschaulichte und einem internationalen Publikum nahebrachte.107 Auf der Weltausstellung in St. Louis/Missouri bekam er 1904 eine Goldene Medaille für die Ausstellung der von ihm entwickelten Formentafeln, Zahlen- und Sprachbilder, Sprachmuster, seinen Nähapparat, ergänzt um die Modellier- und Handarbeiten sowie die Schreib- und Zeichenhefte der Dalldorfer Mädchen und Jungen.108 Für die Präsentation fehlerhafter Gebiss-, Kiefer- und Ohrabgüsse „schwachsinniger“ Kinder erhielt Piper 1909 eine Belobigung durch die „Internationale Ausstellung für Zahnheilkunde“ in Berlin.109 Auf Veranlassung des Düsseldorfer Zahnarztes110 und Leiters der dortigen städtischen Schulzahnklinik wurden die Piper’schen Plastiken 1916 in der deutschen Lehrmittelsammlung, Abteilung Schulzahnpflege, gezeigt.111 Als Zeichen des Dankes wurde im gleichen Jahr, zu seinem 70. Geburtstag, der Verbindungsweg zwischen dem Wittenauer Rathaus und der Erziehungsanstalt in „Hermann-Piper-Straße“ umbenannt.112 Fünf Jahre zuvor, zu seinem 65. Geburtstag, hatte der preußische König den Pädagogen bereits durch die Verleihung des Kronenordens gewürdigt, zu seinem 50-jährigen Dienstjubiläum am 1. April 1918 erhielt er den Roten Adlerorden für seine Verdienste.113 1922, im letzten Jahr seiner Tätigkeit in der Anstalt, wurde Hermann Piper zum Erziehungsdirektor befördert.114 Durch seine Tätigkeit auf dem Gebiet der Erforschung und Behandlung des Schwachsinns hatte er sich bis dahin große Verdienste erworben.115

106 Vgl. Synwoldt, Hermann Piper – Wirken, 20. 107 Deter, Hermann Piper – Wegbereiter, 98. Gürtler und Meltzer geben eine Auszeichnung in Bronze an, vgl. Dies., Zum 70. Geburtstage Hermann Pipers, 124. 108 Synwoldt, Hermann Piper – Wirken, 21. 109 Deter, Hermann Piper – Wegbereiter, 98; Gürtler / Meltzer, Zum 70. Geburtstage, 124. 110 Der Name ist nicht bekannt. 111 Gürtler / Meltzer, Zum 70. Geburtstage, 124. 112 Deter, Hermann Piper – Wegbereiter, 100. 113 Ebda., 98; Synwoldt, Hermann Piper – Wirken, 21. 114 Ebda. 115 Schwenk, Erziehungsinspektor, 423.

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Ausbildungskurse für Lehrer Doch auch mit diesen Aktivitäten erschöpfte sich Hermann Pipers Schaffensdrang nicht. Er machte sich außerdem um die Aus- und Fortbildung von Lehrpersonal verdient. Auf Wunsch von Lehrern der Berliner Nebenklassen initiierte er ab 1903 in Dalldorf Kurse für Pädagogen, die bereits „schwachsinnige“ Kinder unterrichteten.116 „Erziehungsinspektor Piper ist bis jetzt der einzige, der sich der Vorbildung von Lehrkräften (ganz allgemein für den Schwachsinnigen-Dienst) praktisch angenommen hat“, hieß es hinsichtlich der „Schulverhältnisse in den Idiotenanstalten“.117 Bis September 1918 hielt Piper mehr als 40 „Kurse für die Behandlung Schwachsinniger“ ab, die von über 570 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Deutschland und der Schweiz, Tirol, Ungarn, Russland, Finnland, Norwegen, Schweden und Dänemark sowie aus Japan und Amerika besucht wurden.118 Piper referierte in den Veranstaltungen u. a. über Ätiologie und Symptomatologie von „Idiotie“ und „Schwachsinn“, über die Behandlung von Sprechstörungen sowie über Lehrstoff und -methodik. Falldemonstrationen und praktische Übungen waren fester Bestandteil der Ausbildungskurse, die er fünfzehn Jahre lang durchführte. Als Piper diese Tätigkeit 1918 im Alter von 72 Jahren einstellte, beklagten führende Vertreter der Anstaltsfürsorge für „schwachsinnige“ Kinder und Jugendliche das Fehlen einer regulären Ausbildung von Lehrpersonal.119 Ehrenämter Über sein professionelles Wirken hinaus übte Hermann Piper seit 1883 eine Reihe von Ehrenämtern aus. Zwei Jahre nach seinem Amtsantritt in Dalldorf wurde er zum Gemeindevertreter gewählt, 1907 zum Schöffen und stellvertretenden Bürgermeister. Darüber hinaus war Piper im Gemeindewaisenrat tätig und fungierte als Vorsitzender und Sachverständiger in der Kommission für Schulangelegenheiten. Der Pädagoge trat als Gründer einer Volksbücherei für Dalldorf und die Nachbargemeinde Borsigwalde hervor, die bald zum Vorbild für die übrigen Gemeinden des Kreises wurde. In der örtlichen Schule initiierte Piper regelmäßige Leseabende.

116 Die Veranstaltungen wurden in unterschiedlichen zeitlichen Formaten durchgeführt, teilweise umfassten sie zwölf Tage, teilweise fanden sie in Form von Semestern, einmal wöchentlich über einen längeren Zeitraum, statt. Aufgrund des großen Bedarfs wurden darüber hinaus Ferienkurse notwendig. Vgl. dazu Nissen, Hermann Piper – Promotor, 17; Synwoldt, Hermann Piper – Wirken, 20. 117 K. Ziegler, Über die Schulverhältnisse in den Idiotenanstalten, in: Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer 29/1909, 165–171, zit. n. Synwoldt, 20, 23. 118 Deter, Hermann Piper – Wegbereiter, 98; Nissen, Hermann Piper – Promotor, 17; Synwoldt, Hermann Piper – Wirken, 20 f. 119 Deter, Hermann Piper – Wegbereiter, 99 f.; Nissen, Hermann Piper – Promotor, 18; Synwoldt, Hermann Piper – Wirken, 23.

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SCHLUSS – HISTORISIERUNG UND KONTEXTUALISIERUNG DER FÜRSORGE- UND WOHLFAHRTSGESCHICHTE, IHRER AKTEURINNEN UND AKTEURE Der Pädagoge Hermann Piper wurde 91 Jahre alt, er verstarb am 19. Juli 1943 in Berlin, „geistig noch immer regsam und frisch“.120 Über seine Haltung und mögliche Äußerungen zur rassenhygienisch ausgerichteten nationalsozialistischen Gesundheitsfürsorge, zu Zwangssterilisation und „Euthanasie“ ist bisher nichts bekannt. Seine gleichbleibende Vitalität, die ihn bis ins hohe Alter haupt- und ehrenamtlich aktiv sein ließ, sein unbändiger Fleiß sowie die Vielfalt und Breite seiner Betätigung sind nach wie vor faszinierende Phänomene, die im Rahmen des vorliegenden Beitrags bei weitem nicht erschöpfend untersucht werden konnten. Als einer, wenn nicht der historische Akteur der „Schwachsinnigenfürsorge“ des 19. und 20. Jahrhunderts, konnte Hermann Piper jedoch nur unter den beschriebenen geschichtlich gegebenen Voraussetzungen hervortreten. Entscheidender Dreh- und Angelpunkt für seine individuelle professionelle Entwicklung war die institutionelle Unterbringung mental differenter Kinder in der Dalldorfer „Idiotenanstalt“. Die Einrichtung fungierte jedoch nicht allein als ein Ort der Fürsorge und Erziehung, sondern vielmehr als ein Ort der Wissensproduktion, an dem über Jahrzehnte hinweg Erkenntnisse gewonnen und methodisch-didaktische Modelle entwickelt wurden, die bis in die 1980er Jahre den medizinisch-pädagogischen Umgang mit mental differenten Kindern und Jugendlichen bestimmten. Dabei brachte die Untersuchung und Beschreibung des Gegenstandes das Phänomen der „geistigen Behinderung“ zum Teil erst hervor. Maßstab für die Definition „geistiger Behinderung“ waren die jeweiligen individuellen kognitiven Fähigkeiten eines Kindes, die im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend mithilfe von Intelligenztestverfahren klassifiziert wurden. Der Intelligenzquotient – eine einzige quantitative Größe – bestimmte den Grad der mentalen Beeinträchtigung und diente gleichzeitig als Messinstrument für die zu erwartende „Bildungsfähigkeit“ oder „Bildungsunfähigkeit“. Die institutionelle Praxis schuf den Raum für eine klassifikatorische Abgrenzung und Differenzierung der ‚Abnormen‘, die zur Grundlage der weiteren Systematisierung und Theoriebildung wurde. Die wissenschaftlich objektivierte Diagnose einer bestimmten ‚Abnormität‘ führte wiederum zur Überweisung an die entsprechende Institution, sodass sich der Kreis schloss. Zeitgenössisch hob auch Emil Bratz die epistemologische Funktion der Wittenauer Heilstätten besonders hervor: „Gerade in den 50 Jahren der Dalldorfer Geschichte sind unsere Erkenntnisse von unterschiedlicher Wesensart und Behandlung der Geisteskranken, Epileptischen, jugendlichen und erwachsenen Psychopathen, Süchtigen, Rückenmarkskranken und Nervösen erst gewonnen worden. Es entspricht nur den Fortschritten der Wissenschaft und nicht irgendwelcher Liebhaberei, wenn wir dementsprechend auch eine vielgestaltige Anstaltsbehandlung einführten.“121 120 Deter, Hermann Piper – Wegbereiter, 100. 121 Bratz, 50 Jahre Dalldorf, 13.

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Welche Wirkungen die disziplinierende Praxis der Erziehung und der normalisierenden Ausrichtung auf produktive Arbeitsleistungen auf die Anstaltsinsassinnen und -insassen selbst hatte, entzieht sich aufgrund fehlender Quellen und mangelnder Selbstäußerungen unserer Kenntnis. Die aktuelle Systematisierung der überlieferten Krankenakten aus der Wittenauer Erziehungsanstalt eröffnet hier eventuell neue Perspektiven.122 Das eindimensionale und in der Regel auf einzelne, meist männliche Protagonisten bezogene Narrativ einer institutionellen und disziplinären Erfolgs- und Wohltätigkeitsgeschichte könnte durch die Historisierung der beteiligten Akteurinnen und Akteure sowie der zeit- und kontextgebundenen Entwicklungen objektiviert und revidiert werden. Der Subtext vom humanistischen, altruistischen, allein dem Wohle des „schwachen“ und „hilflosen“ Individuums verpflichteten Handeln würde sich durch dieses Vorgehen ebenso relativieren wie das einseitige Narrativ einer geordnet, chronologisch und kausal verlaufenden disziplinären Fortschrittsgeschichte. LITERATURVERZEICHNIS Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik (Hg.): totgeschwiegen 1933–1945. Zur Geschichte der Wittenauer Heilstätten. Seit 1957 Karl-BonhoefferNervenklinik, 2. erw. Aufl., Berlin 1989. Beddies, Thomas / Dörries, Andrea (Hgg.): Die Patienten der Wittenauer Heilstätten in Berlin 1919– 1960, Husum 1999. Beddies, Thomas / Schmiedebach, Heinz-Peter: Die Fürsorge für psychisch Kranke in Berlin in der Zeit der Weimarer Republik, in: Berlin in Geschichte und Gegenwart (Jahrbuch des Landesarchivs Berlin), Berlin 2000, 81–99. Bösl, Elsbeth: Dis/ability History: Grundlagen und Forschungsstand, in: H-Soz-Kult 07.07.2009, . Bösl, Elsbeth: Politiken der Normalisierung: Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2009. Bösl, Elsbeth / Klein, Anne / Waldschmidt, Anne (Hgg.): Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010. Bratz, Emil: 50 Jahre Dalldorf, in: Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Anstalt Dalldorf (Hauptanstalt der Wittenauer Heilstätten), Berlin 1929, 1–17. Brinkschulte, Eva / Knuth, Thomas (Hgg.): Das medizinische Berlin. Ein Stadtführer durch 300 Jahre Geschichte, Berlin 2010, 224–225. Damm, Sabine / Emmerich, Norbert: Die Irrenanstalt Dalldorf – Wittenau bis 1933, in: Arbeitsgruppe zur Erforschung der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik (Hg.): totgeschwiegen 1933–1945. Zur Geschichte der Wittenauer Heilstätten. Seit 1957 Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, Berlin 1989, 11–48. Deter, Hildegard: Hermann Piper 1846–1943, Ein Wegbereiter der Heilpädagogik, in: Opitz, Fritz (Hg.): Sie wirkten in Berlin, Erinnerungsschrift anlässlich des Kongresses der Lehrer und Erzieher in Berlin, Pfingsten 1952 überreicht, Berlin 1952, 96–100. Ellger-Rüttgardt, Sieglind: Geschichte der Sonderpädagogik. Eine Einführung, München/Basel 2008. Falkenberg, Wilhelm u. a.: Carl Moeli zum 70. Geburtstag, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und ihre Grenzgebiete 75/1919, 395–406. 122 Vgl. die Hinweise zur Dissertation von Valentine Hoffbeck in Fußnote 17.

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ARBEITSTHERAPIE IN DER WEIMARER ZEIT – POLITISCHE DEBATTEN UND ETHISCHE DISKURSE

DER WORUMWILLE VON ARBEIT ALS THERAPIE Zur Anthropologie und Ethik psychiatrischer Arbeitstherapie der Weimarer Zeit Mathias Wirth Die Frage nach Sein und Sollen menschlicher Arbeit gehört heute zu jeder Anthropologie. Ihre Grundfrage lautet, trotz der notorischen Unprägnanz der Definition von Arbeit: Ist der Sinn menschlicher Arbeit Wertschöpfung oder stillt sie das Bedürfnis des Menschen nach Identität und Präsenz und ist damit menschliches Konstituens? Oder gehört zu einer Ethik der Arbeit die Definition von Michel Foucault (1926–1984), nach der auf den produzierenden und symbolisierenden Moment von Arbeit alles auf die Dressur des Körpers hinausläuft, der nicht anders als im Rhythmus der Maschinentakts leben darf?1 Auch für die Psychiatriegeschichte und die in den 1920er Jahren praktizierte und besprochene „aktivere Krankenbehandlung“ mit ihrem Instrument der Arbeitstherapie stellt sich die Frage nach dem Worumwillen2 der Arbeit von Patientinnen und Patienten. Dabei liegt auch hier eine zugegebenermaßen prinzipalisierend dyadische Interpretation nahe, die Arbeit entweder aufgrund von Instrumentalität mit dem Ziel Wertschöpfung, bzw. Erziehung, oder aus Gründen der Humanität in den Anstaltsalltag implementiert. Aufschlussreich für eine anthropo-ethische Sondierung der Arbeitstherapie der Weimarer Zeit sind die verschiedenen Begründungsfiguren für Patientenarbeit in der Psychiatrie: Denn trotz der wirtschaftlich prekären Situation der 1920er Jahre votierte die Mehrheit der Psychiater gegen eine ausschließlich ökonomisch konzipierte Arbeitstherapie.

1 2

Vgl. Michel Foucault, Schriften III, hg. v. Daniel Defert, Frankfurt a. M. 2003, 267. Innerhalb der Philosophie unterscheidet man drei Fragerichtungen des Sinns, einer findet in der Frage nach dem Worumwillen seinen Ausdruck. Da ist zunächst die „Rezeptivitätsfunktion“, dabei geht es um die Beziehung zur Welt des Nicht-Ich durch die Sinne des Menschen als Erkenntnisvorgang. Dann hat Sinn hermeneutische Funktion, wenn nach dem Sinn von Codes, Symbolen und besonders der Sprache gefragt wird. Sinn kann außerdem als „Worumwille“ aufgefasst werden, dabei geht es um den Sinn von Handlungen, um die Unterscheidung von sinnvollem und sinnlosem Tun, und hierher gehört auch die Frage nach dem Sinn des Lebens insgesamt. Um einen solchen „reflektierten Sinn“ geht es in der hier beabsichtigten anthropologisch-ethischen Besprechung der Arbeitstherapie, ihrer Voraussetzung und Folgen, vgl. Winfried Löffler, Art. Sinn, in: Petra Kolmer / Armin G. Wildfeuer (Hgg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 3, Freiburg/München 2011, 1984–2000, hier: 1992–1996.

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Mathias Wirth

1. DAS JANUSGESICHT MENSCHLICHER ARBEIT Ist Arbeit gut oder schlecht? Ist sie labour oder work?3 Anders gefragt: Was an Arbeit ist gut? Was an ihr nennen wir schlecht? Wann erhebt sie den Menschen und wann bricht sie ihn? Können Menschen überhaupt ohne irgendeine Arbeit sein? Die Möglichkeit all dieser Fragen, die Polarität von Arbeit, die wir das eine Mal brauchen, sie loben und suchen, uns mit ihr in einem Maß identifizieren wie vielleicht noch mit der eigenen Familie,4 dann wieder vor ihr fliehen und sie verfemen, offenbart ihr Janusgesicht.5 Mal schillert sie für den Menschen wesentlich, dann als sei sie Fluch, als mache sie ebenso wenig frei wie die frei waren, die unter der hämischen Überschrift „Arbeit macht frei“ in Konzentrations- und Arbeitslagern der Nazis Zwangsarbeit leisteten. Der Begriff der Arbeit scheint beides zu enthalten: Aussagen über den Segen und Aussagen über den Fluch von Arbeit. Diese Ambiguität von Arbeit hat die jüdisch-christliche Interpretation von Arbeit in das kulturelle Empfinden eingraviert. Gilt hier einerseits mit Gen 2,15, dass auch der paradiesische Mensch bebauen und bewachen und nicht, wie man fälschlich meinen könnte, einfach nur flanieren soll. Andererseits betont Gen 3,17–19 den Qual- und Lastcharakter von Arbeit. Dieses Faktum erklärt jüdisch-christliche Schöpfungslehre unter Verweis auf das gebrochene Verhältnis des Menschen zu Gott, das in religiöser Perspektive die gesamte Schöpfung aus dem Gleichgewicht der Freundschaft mit Gott brachte. Das Wachsen von „Dornen und Disteln“ (Gen 3,18) erschwert menschliche Arbeit, ohne dass dadurch die Erinnerung an die paradiesische, erfüllende, aber eben Arbeit, verloren gegangen wäre.6 3 4

5

6

Vgl. Manfred Füllsack, Arbeit, Stuttgart 2012, 9. Vgl. Michael Stefan Aßländer, Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung. Eine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte menschlicher Arbeit, Marburg 2005, 9. Es sind nach Aßländer „Tüchtigkeit“, „Vertrauen“ und „Verdienst“, die bei erfolgreicher und angesehener Arbeit den geeigneten Nachweis erbringen, dass ein Mensch tatsächlich tüchtig, vertrauensvoll und verdienstvoll sei. Ambivalenzen kann man als „language-specific disorder“, als „failure of naming“ bestimmen, Zygmunt Baumann, Modernity and Ambivalence, Cambridge 2007, 1. Ambivalenzen entstehen dort, wo Bezeichnungen nicht eindeutig sind, wo mit einem Ausdruck verschiedene Dinge artikuliert werden können und so Bedeutungshöfe nicht genügend abgegrenzt sind. Der Begriff der Arbeit ist ein solcher Ambivalenz-Begriff. Man könnte auch sagen, es fehle überhaupt ein Begriff von Arbeit, bzw. sei der Begriff der Arbeit weitgehend ungeklärt. Das kommt daher, dass es sich hier um ein geschichtsreiches und komplexes Gefüge handelt, wobei die vielen Dimensionen, die Ambiguität ausmachen, eben schwer auf einen Begriff gebracht werden können, vgl. Alexander Barzel, Der Begriff Arbeit in der Philosophie der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1973, 7. Es ist eben nicht klar, ob mit Arbeit gesagt ist, was entfremdet oder erfüllt. Vgl. Bernd Wannenwetsch, „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen“ – Der Aufstieg des ‚Animal Laborans‘ als Abstieg des politischen Tieres, in: Klaus-Michael Kodalle (Hg.), Arbeit und Lebenssinn, Würzburg 2001, 77–90, hier: 79. Die Ambivalenzstruktur menschlicher Arbeit erhärtet sich neutestamentlich noch dadurch, als die einfachen, mittellosen, stets um ihre Existenz bangenden, einfachen Arbeiten nachgehenden Gelegenheitsarbeiter und Tagelöhner (ptochoi) die Ersten sind, die die Makarismen bei Lukas selig preisen (Lk 6,20). Übersetzt die Einheitsübersetzung ptochoi in Lk 6,20 mit „Arme“, dann verdeckt sie die hier angesprochene Gruppe der einfachen Tagelöhner und Gelegenheitsarbeiter, die gewiss arm

Der Worumwille von Arbeit als Therapie

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Fokussiert man auf die anthropo-konstitutive Seite von Arbeit, was die Arbeitstherapie wesensgemäß tut, insofern sie am Wohl und nicht am Weh der Patientinnen und Patienten interessiert ist, dann bedarf es einer Untersuchung der Frage, was das Sinnstiftende, Erhebende und Menschliche der Arbeit in der Anstalt ausmacht. Bei einer solchen Untersuchung kann sich herausstellen, dass Arbeit nicht an sich sinnstiftend ist, sondern lediglich Elemente der Arbeit Sinn verbürgen. Immanuel Kant (1724–1804) vertrat genau diese Auffassung, nach der es bei Arbeit nicht um Arbeit an sich gehe, sondern mit ihr stets andere Zwecke gewollt würden; etwa Versenkung, bei der man sich selbst nicht mehr spürt, oder Ruhe und Entspannung, die um so angenehmer sei, als man zuvor das Gegenteil, Arbeit, verrichtet habe, so Kant in seiner Vorlesung Über Pädagogik.7 Immerhin behaupten die Protagonisten der Arbeitstherapie der Psychiatrie der 1920er Jahre, dass Arbeit in der Arbeitstherapie einen Beitrag zu einer ebensolchen Erfüllung leistet, Kants Versenkung, Ruhe und Entspannung konkretisieren dieses Anliegen. Die Annahme der auch humanisierenden Potenz von Arbeit in der Psychiatrie der Weimarer Zeit ist ein Postulat, das hier angezweifelt und überprüft werden soll. Denn es wäre nur dann in Geltung, wenn die Art der Arbeit, welche die Praxis der Arbeitstherapie ausmacht, die Seite von Arbeit aktualisiert, die nicht Fluch, sondern Segen ist, Erfüllung und nicht Entfremdung. Hier gilt aber nicht, tertium non datur. Arbeit kann weder Entfremdung noch Erfüllung sein, sondern schlichter Alltag, das Grau des Üblichen, weder Fluch noch Segen.

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waren, aber eben eine arbeitende Gruppe innerhalb der jüdischen Gesellschaft zur Zeit Jesu bildeten, vgl. Otto Gerhard Oexle, Arbeit, Armut, ‚Stand‘ im Mittelalter, in: Jürgen Kocka / Claus Offe (Hgg.), Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt a. M. 2000, 67–79, hier: 70. Später ist es dann der arbeitende Mönch, der Arbeit wieder nobilitiert, entstigmatisiert und zu einem angemessenen Wirken des Menschen erklärt, vgl. Jacques Le Goff, Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5.–15. Jahrhunderts, Weingarten 1987, 67. Insofern scheint Gott in jüdisch-christlicher Tradition den Menschen tatsächlich nicht anders denn als arbeitenden Menschen geschaffen und intendiert zu haben. Im Rahmen des englischen Bauernaufstandes predigt John Ball (1338–1381) am 13. Juni 1381: „Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da ein Edelmann?“ (Zitiert bei Aßländer, Von der vita activa, 142.) Kein Geringerer als Max Weber (1864–1920) behauptet dann, die protestantische Tradition habe das Kloster in Arbeitswelt aufgelöst, und monastische Askese als Arbeitsethos dekliniert, vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1988, 203: „Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte.“ Tatsächlich hatte Martin Luther (1483–1546) die vita contemplativa der Klöster als Egozentrismus und widerliche Zurschaustellung hyperbolischer Frömmigkeit abgelehnt und so die vita activa als Pflicht des Christen bestimmt, vgl. Füllsack, Arbeit, 56 und Wolfhard Pannenberg, Fluch und Segen der Arbeit, in: Venanz Schubert (Hg.), Der Mensch und seine Arbeit. Eine Ringvorlesung an der Universität München, St. Ottilien 1986, 23–46, hier: 44. Vgl. Immanuel Kant, Über Pädagogik, in: Ders., Werke in sechs Bänden, Bd. VI, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1964, 693–761, hier: 730.

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2. DER SINN DER ARBEITSTHERAPIE IN DER WEIMARER PSYCHIATRIE Für die Geschichte der Sozialpsychiatrie sind die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts in gewisser Hinsicht Umbruchzeit, transformativ wirken „Irrenhilfsvereine“, die „psychiatrische Familienpflege“ und die „aktivere Psychiatrie“.8 Hermann Simon (1867–1947), Protagonist der aktiveren weil arbeitstherapeutischen Bewegung der Psychiatrie der Weimarer Zeit, war der vielfach überlesene Komparativ von ‚aktiv‘ (Positiv) zu ‚aktivere‘ (Komparativ) wichtig. Er artikuliert so Kontinuität zu einer Praxis, die der Psychiatrie nicht unbekannt war. Er betont, er würde lediglich Altbekanntes aufgreifen und weiterentwickeln. Simon macht deutlich, dass er nicht Nestor der aktiven Psychiatrie sei. So verweist er auf Philippe Pinel (1745–1826), in dessen Anstalt es auch diverse Formen der Beschäftigung und Betätigung gegeben habe. Simon beschreibt eindrücklich die erschütternde Situation der überfüllten stationären Psychiatrie seiner Zeit: „Versetzen wir uns um einige Jahrzehnte in die Irrenfürsorge zurück und betreten den Tagesraum einer ‚Unruhigen-Abteilung‘, wie sie durchschnittlich mit 25–40 Kranken belegt sind. Sofort kommen mehrere Kranke aufgeregt auf den Arzt zu. Die eine beginnt: ‚Ich will hier raus, ich bleibe hier nicht‘ (…). Eine zweite Kranke drängt sich heulend herzu und jammert, daß ihre Kinder im Keller säßen und gemartert würden; sie höre sie schreien; kaum hat sie einen Satz gesprochen, da erhält sie von der ersten Kranken einen Faustschlag (…). Aus einer Ecke ruft eine mit verbissenem Gesichtsausdruck dasitzende Paranoide: ‚Da kommt der Schweinekerl wieder, Sie Mörder, Sie…‘ (…). Auch Katatoniker, die anfangs noch stumm, in sich versunken, da saßen, werden schließlich mobil, stoßen vielleicht nur unartikulierte Schreie aus oder klopfen auf den Tisch, um doch auch etwas zu dem allgemeinen ‚Krach‘ beizutragen. Eine ruhige und geordnete Ansprache mit irgend einer Kranken ist dem Arzte nicht möglich (…).“9

Um es vorweg zu sagen: Die Arbeitstherapie hat nicht alle Probleme der stationären Psychiatrie gelöst. So sehr Simons Schilderungen auch zu schockieren vermögen und obwohl sie einen Teil der psychiatrischen Wirklichkeit beschreiben, dienen sie hier wesentlich dem Zweck der Legitimation und sind in dieser Form Rhetorik. Es geht im Folgenden um die Frage nach dem Sinn, den Psychiater der Weimarer Zeit in ihren Veröffentlichungen der Arbeit im Kontext psychiatrischer Therapien zusprechen. Dazu soll vor allem die Konzeption zur psychiatrischen Arbeitstherapie des bereits zitierten Simon befragt werden, ohne dass er in den Anstalten in Warstein und Gütersloh auf andere Therapieverfahren verzichtet hätte. Bett- und Badbehandlung etwa, die als das glatte Gegenteil der Arbeitstherapie verstanden werden können, zählen bei ihm weiter zum psychiatrischen Repertoire für „schwierige“ Patientinnen und Patienten.10 Eigenart der aktiveren Krankenbehandlung ist die Vielfalt psychiatrischer Methoden, so Simon.11

8 9 10 11

Vgl. Hermann Simon, Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt, Bonn 1989 [Nachdruck], 1, 8. Ebda., 52. Vgl. ebda., 3. Vgl. ebda., 166.

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Exemplarisch für eine ökonomische Interpretation von Arbeit durch Patientinnen und Patienten steht der Psychiater Adolf Groß (1868–1962) aus Konstanz mit seiner Veröffentlichung Zeitgemäße Betrachtungen zum wirtschaftlichen Betrieb der Irrenanstalt von 1923. Der Interpretation von der Naturgemäßheit der Arbeit folgt 1925 der Direktor der Psychiatrie von Wil (St. Gallen), Hans Schiller12, der die Arbeit seiner Pfleglinge nicht aus ökonomischen Gründen ansetzt. Überall dort, wo Arbeit als Agens der Subjektwerdung in den Blick gerät, zeigt sich die anthropologische Seite des Begriffs von Arbeit, wie er in der Psychiatrietheorie der 1920er Jahre diaphan wird. Damit ist aber eine ethische Besprechung alles andere als überflüssig. Die eingangs notierte Ambiguität von Arbeit bedrängt auch die Arbeitstherapie der Psychiatrie mit der Frage, welche Art von Arbeit sanktioniert wird, denn Arbeit ist nicht einfachhin gut, menschenwürdig, aufrichtend oder individualisierend. Das therapeutische Anliegen der Psychiatrie strebt naturgemäß nach einem benessere ihrer Patientinnen und Patienten. Leistet die Arbeitstherapie einen Beitrag dazu? a) Arbeit und Ökonomik Der Psychiater Adolf Groß betont 1923 die wirtschaftlich angespannte Lage nach Kriegs- und Revolutionszeiten und gibt zu bedenken, dass die knappen öffentlichen Mittel immer weniger für das zwar humanitäre, aber zugleich „unproduktive“ Anliegen des „Irrewesen“ aufgebracht würden.13 Psychiatrische Anstalten sollten daher „Selbstversorger“ werden, Garten und Feld mögen nach Groß’ Worten den Bedürfnissen der Küche angepasst und Patientinnen und Patienten nach Akutzuständen zur Arbeit angeleitet werden.14 Ein Oberarzt der Heil- und Pflegeanstalt Schleswig betont 1925 ebenfalls die wirtschaftliche Bedeutung von Arbeit durch Patientinnen und Patienten der Psychiatrie: „Die bestmögliche Ausnutzung der Kräfte der arbeitsbedürftigen und arbeitsfähigen Kranken ist eins der wichtigsten Mittel, die Anstaltsbetriebe zu verbilligen, ist von größter sozialökonomischer Bedeutung; keine Arbeitskraft darf verlorengehen, neue sind zu wecken.“15

Andere Psychiater, wie Simon, betonen dagegen die Priorität des therapeutischen Anliegens der aktiveren Psychiatrie, dem sich alle anderen Zwecke der Patientenarbeit unterzuordnen hätten.16 Wirtschaftlich hält Simon die Patientenarbeit der Psychiatrie ohnehin für unbedeutend. Handarbeit etwa könne nicht mit maschineller 12 13 14 15 16

Die genauen Lebensdaten konnten nicht eruiert werden. Vgl. Adolf Groß, Zeitgemäße Betrachtungen zum wirtschaftlichen Betrieb der Irrenanstalt, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 79/1923, 60–73, hier: 60. Vgl. ebda., 68. D. [Vorname unbekannt] Ostmann, Zeitgemäße Betrachtungen zur Arbeitstherapie, zum Wirtschaftsdirektor und zur Entlastungsfürsorge, in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 22/1925, 209–211, hier: 209. Vgl. Simon, Aktivere Krankenbehandlung, 17.

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Produktion konkurrieren.17 Wohl bemerkt Simon andere finanzielle Nebeneffekte der Arbeitstherapie: ausgeglichene Patientinnen und Patienten würden weniger zerstören, weniger robuste Möbel und architektonische Sicherungsmaßnahmen, wie dicke Türen, wären erforderlich.18 b) Arbeit und Erziehung Schon in den Zuchthäusern des 17. Jahrhunderts, die immer auch Armen- und Waisenhäuser waren, stand neben dem Moment der Strafe das der Erziehung im Mittelpunkt.19 Ihr Instrument war Arbeit. Dass psychisch abweichende Menschen auch heute noch als „Spinner“ diffamiert werden, hat seinen Grund in der weit verbreiteten handwerklichen Tätigkeit des Spinnens am Spinnrad, der Geisteskranke in vielen Arbeits- und Zuchthäusern nachgingen. Das Spinnen ist so Symbol und Stigma der „Irren“ geworden.20 Hinter der Etablierung von Arbeit als Therapie steckt unverkennbar ein gehöriges Quantum bürgerlichen Sendungsbewusstseins.21 Besonders dem neuzeitlichen Menschen wird Berufsarbeit zum Erweis erfolgreichen Lebens und Arbeitens und insgesamt zur Definition des Menschen.22 Auch das protestantische Erbe der Überwindung werkgerechten Gnadendenkens spielt hier hinein: Waren bis zur theologischen Ära der reformatorischen Betonung der ‚Gnade allein‘ Reiche und Arme aufeinander verwiesen und gegenseitig legitimiert, weil anders das heilschaffende Geben von Almosen nicht möglich war, so fiel mit dem Exklusivpartikel sola gratia

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Vgl. ebda., 48–49. Vgl. den Beitrag von Monika Ankele in diesem Band. Vgl. Simon, Aktivere Krankenbehandlung, 155–156. Vgl. Dirk Brietzke, Arbeitsdisziplin und Armut in der Frühen Neuzeit. Die Zucht- und Arbeitshäuser in den Hansestädten Bremen, Hamburg und Lübeck und die Durchsetzung bürgerlicher Arbeitsmoral im 17. und 18. Jahrhundert, Hamburg 2000, 13–17. Vgl. Dirk Blasius, Ambivalenzen des Fortschritts. Psychiatrie und psychisch Kranke in der Geschichte der Moderne, in: Frank Bajohr / Werner Johe / Uwe Lohalm (Hgg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne, Hamburg 1991, 252–268, hier: 256– 257. Vgl. ebda., 258–259. Vgl. Aßländer, Von der vita activa, 9–10. Norbert Elias (1897–1990) beschreibt einen gewissen Selbstzwang, den der neuzeitliche Mensch sich auferlegt hat, der nicht mehr anders könne als zu arbeiten. Sei davon auszugehen, dass der Zuchthäusler seine Arbeit sofort niederlegt, wenn die Kulisse der Bemächtigung wegfällt, so beschreibt Elias den modernen Kaufmann als einen, der notorisch weiter arbeitet, dem Arbeit zum „Selbstzwang“ geworden ist, vgl. Norbert Elias, Der Prozess der Zivilisation, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1997, 353–354. Hannah Arendt (1906– 1975) hat auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die auf eine Gesellschaft zukommen, die sich und den einzelnen Menschen über Arbeit definiert, sich zugleich aber im Prozess der Technisierung menschlicher Arbeit erledigt, vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, München 1960, 11. Dazu auch: Aßländer, Von der vita activa, 11.

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die Notwendigkeit des Werkes weg.23 Bettler und Arme verloren ihre gnadentheologische Relevanz und wurden zur Arbeit erzogen.24 Besonders Simon betont die erzieherische Aufgabe der psychiatrischen Behandlung. Er hält nichts von „Narrenfreiheit“, die psychisch Kranke einfach gewähren lässt und sie vor der ablehnenden Haltung der sozialen Umwelt auf unsoziales und unangemessenes Verhalten bewahre. So aber entziehe man nach Simon den Psychiatriepatientinnen und -patienten die heilsame Konfrontation mit den Reaktionen der Umwelt.25 c) Arbeit und Humanisierung Simon betont besonders den „Zusammenhang mit der Umwelt“, der bei Isolierung ebenso wie bei Bettbehandlung verloren gehen kann. Menschen könnten hier eventuell körperlich, nicht aber einfach zu geistiger Ruhe finden. Arbeit als Beschäftigung leistet insofern einen Beitrag zur Humanisierung des Lebens psychiatrischer Patientinnen und Patienten, als sie zuweilen aus gedanklichen Gefängnissen befreien hilft, etwa erotischen Fixierungen, an denen besonders jugendliche Schizophrene leiden, so Simon. Arbeit führe Menschen zu menschlichem Gebrauch ihrer Hände und weg von eigenen Genitalien und Exkrementen. Untätigkeit bei Bettbehandlung „führt notwendig zur Abnahme und schließlichem Verlust der geistigen Regsamkeit, zum Stumpfsinn, zur geistigen Verödung“.26 Gegen die Gefahr der Retardierung setzt Simon seine fundamental-anthropologische Losung: „Leben ist Tätigkeit! Das gilt für das körperliche wie für das geistige Leben.“27 Weil Simon Arbeit für ein menschliches Verlangen hält,28 sollen psychiatrische Patientinnen und Patienten wirklicher und ernster Arbeit nachgehen. Nur so, hier spricht Simon wieder ein fundamental anthropologisches Anliegen seiner aktiveren Psychiatrie an, könne ein „vorsichtiges Individualisieren“ inauguriert werden.29 Darüber hinaus bewirke Arbeit als Therapie zunehmendes Verantwortungsbewusstsein psychi23

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Dabei handelt es sich freilich um eine sehr verkürzte theologische Darstellung. Tatsächlich bedeutet die Rechtfertigungslehre nicht, Almosen und alle Formen caritativer Werke seien ohne jede Bedeutung. Die reformatorische Erlösungslehre betont allerdings, dass Gott sich dem Sünder unbedingt und ohne jedes Zutun des Menschen zugewandt hat. Gute Werke sind damit Folge, aber nicht Bedingung der Gnade, deren Wesen Gratuität ist, vgl. Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 1998, 211. Vgl. Aßländer, Von der vita activa, 147. Vgl. Simon, Aktivere Krankenbehandlung, 138. Zu dieser logischen Reaktion gehört bei Simon dann umgekehrt auch die Belohnung nach erwünschtem Verhalten, er nennt besonders Nahrung und Freiraum, vgl. ebda., 14. Ebda., 5. Ebda., 7. Vgl. ebda., 11. Simon ist ehrlich genug, wenn er einräumt, diesen anthropologischen Anspruch menschlicher Arbeit nicht immer realisiert zu haben. Dies wird besonders dort deutlich, wo er nicht von Arbeits- sondern von Beschäftigungstherapie spricht, vgl. ebda., 12. Vgl. ebda., 23.

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atrischer Patientinnen und Patienten sowie durch Tätigkeit in der Psychiatrie insgesamt eine friedlichere Atmosphäre kreiert würde.30 Psychiater Schiller31 vom Kantons-Asyl Wil betont 1927 in der „Zeitschrift für Allgemeine Psychiatrie“ die Naturgemäßheit menschlicher Arbeit. Ähnlich wie Simon zeichnet er ein düsteres Bild apathischer, hospitalistischer und antisozialer Züge bei stationären Patientinnen und Patienten ohne Arbeit. Er versteht unter Arbeit in therapeutischen Kontexten landwirtschaftliche und handwerkliche Tätigkeit.32 Movens der Etablierung der Arbeitstherapie in seiner Psychiatrie ist ein Normativ-Erzieherisches, das ebenfalls an der personalen Aufrichtung der Patientinnen und Patienten interessiert ist, die sich positiv auf Ordnung und Ruhe des Anstaltsalltags auswirken soll: „Durch unsere Arbeitstherapie können sie zu ruhigen und fügsamen Hausgenossen erzogen und längere Zeit vor dem gänzlichen geistigen Zerfall bewahrt werden.“33 Arbeit führt nach Schiller zu „Heilerziehung“ und „Heilbehandlung“ und auf diesem Weg, anders als die „Wachsaaltherapie“, zu einem menschlicheren Leben in der psychiatrischen Einrichtung.34 3. IST ARBEIT SEGEN ODER FLUCH? Zählte Arbeit lange nicht zu den Themen und Problemen der Philosophie,35 bedeutete die Arbeit der ratio philosophandi zu viel Alltag, wenig Geist, so ist heute das Thema der Arbeit in der (praktischen) Philosophie von zentraler Bedeutung.36 Das hängt mit mehreren Einsichten zusammen, die auf je eigene Weise die Humanität von Arbeit als daseinskonstitutivem Geschehen oder die Inhumanität von Arbeit als daseinsirritierendem Geschehen betonen.

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Vgl. ebda., 50. Vorname und Lebensdaten unbekannt. Vgl. D. [Vorname unbekannt] Schiller, Erfahrungen mit der Arbeitstherapie in der Psychiatrie, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 87/1927, 60–84, hier: 74–75. Ebda., 79. Ebda., 80. Selbst in den antik-philosophischen Abhandlungen zur Ökonomik bei Hesiod (Werke und Tage), Xenophon (Oikonomikos), Cato (De agri cultura) und Vergil (Georgica) findet Arbeit nur Besprechung im Zusammenhang mit landwirtschaftlicher und haushaltlicher Tätigkeit, nicht aber in anthropologischer Vertiefung. Was in der Denkweise klassischer Gräzität bleibt, ist die Unterscheidung zwischen selbstständiger, ausgebildeter Arbeit und Kunst (ergon) oder die unfreie, ungelernte Sklavenarbeit (ponos), vgl. Aßländer, Von der vita activa, 27. Ungeachtet dessen konnte dennoch ein Ethos der Erwerbstätigkeit entstehen. Denn Gelderwerb um des Geldes willen war verpönt. Geld verdiente man in der Antike nicht aus chremastischen Gründen, sondern um es im Dienst am Nächsten und der Gemeinschaft einzubringen, vgl. Peter Koslowski, Politik und Ökonomie bei Aristoteles, Tübingen 1993, 17. Pleonexie erschien als Greuel, gar als Entartung, vgl. Aßländer, Von der vita activa, 87–89. Vgl. Barzel, Der Begriff Arbeit, 11 und Fritz Giese, Philosophie der Arbeit, Halle 1932, 253.

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a) Die humanisierende Dimension von Arbeit 1) Besonders Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) hat in seiner „Phänomenologie des Geistes“ von 1806 auf Tat und Tatsächlichkeit des Menschen reflektiert. Er kommt zu dem Ergebnis: Nur in der Tat aktualisiert sich wahres Sein. Individuum ist der Mensch nur, wo er aus sich heraus geht, im Akt des Sprechens und Arbeitens.37 Auf diese Weise versucht Hegel eine „Resakralisierung“ der Arbeit, die auch mit der christlichen Sicht brechen will, insofern bei ihm Arbeit Ausdruck des Wesens des Menschen ist und keineswegs von Kreuzgefühl und Pilgrimstimmung geprägt ist.38 Die „Marxsche Wende“ besteht dann in Auseinandersetzung mit Hegel darin, den Wert der Arbeit in der Hervorbringung des Menschen zu sehen,39 denn der Wert der Arbeit, das sei der Mensch selbst.40 Nach Karl Marx (1818–1883) bedeutet Arbeit in einem ersten Sinn Bemächtigung und Selbstbehauptung, denn der Mensch setze sich gegen den bedrohlichen Naturstoff und beginne so menschliches Leben.41 Die Hegel-Marx-Tradition besagt insgesamt, der Mensch erzeugt sich als er selbst in seiner Arbeit.42 Human ist Arbeit insofern, als ohne sie der Mensch nicht in die Lage zur Hervorbringung versetzt ist, letztlich des eigenen, autonomen Selbst.43 Karl Marx, Friedrich Engels (1820–1895) und später Hannah Arendt 37

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Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1952, 236–237: „Das wahre Sein des Menschen ist [seine] Tat; in ihr ist die Individualität wirklich (…). Der sprechende Mund, die arbeitende Hand (…) sind die verwirklichenden und vollbringenden Organe, welche das Tun als Tun, oder das Innre als solches an ihnen haben (…). Sprache und Arbeit sind Äußerungen, worin das Individuum nicht mehr an ihm selbst sich behält oder besitzt, sondern das Innre ganz außer sich kommen lässt, und das selbe Anderem preisgibt.“ Kritisiert werden kann hier, dass Hegel in einem sehr generalisierenden Sinn von Sprache und Arbeiten ausgeht und pauschal von Daseinskonstitution spricht. Was aber, wenn Sprache und Arbeit zu Verbrechen werden, wenn Sprache und Arbeit zerstören und vernichten? Dazu: Barzel, Der Begriff Arbeit, 13. Vgl. Gustaf Wingren, Luthers Lehre vom Berufe, München 1952, 106–108 und Barzel, Der Begriff Arbeit, 23. Allerdings betonen die Nach-Hegelianer den zu einseitig geneigten Begriff der Arbeit bei Hegel, der als bloß geistige Tätigkeit konzipiert ist, und aufgrund dieser Verengung nicht in der Lage ist, auch die negativen Seiten von Arbeit zu bedenken, vgl. Karl Marx, Pariser Manuskripte, Berlin 1969, 114. Vgl. Karl Löwith, Von Hegel bis Nietzsche, Stuttgart 1950, 3. Vgl. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der Ökonomie, Stuttgart 1969, 148: „Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur (…). Der Mensch tritt dem Naturstoff selbst als Naturmacht gegenüber.“ Im Gegensatz zur antiken Philosophie und ihrer Betonung des Geistigen, im Gegensatz auch zu Hegels Idealismus und seiner Betonung des Geistigen, auch in der Arbeit, ist Marx ganz inspiriert von der naturalistischen Atmosphäre des 19. Jahrhunderts, die seine Philosophie proportioniert. Besonders seine politische Agenda zeigt sein primär leibliches Interesse an einer Anthropologie der Arbeit, vgl. Barzel, Der Begriff Arbeit, 17. Zur Bannung der Bedrohlichkeit der Natur durch Arbeit als Beherrschung, vgl. Axel Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a. M. 1985, 51. Vgl. Barzel, Der Begriff Arbeit, 119. Emmanuel Lévinas (1906–1995) betont in anderem Zusammenhang in der Tradition Kants die Fähigkeit des Menschen, etwas zu beginnen. Das Setzen eines Ursprungs hat bei ihm die be-

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(1906–1975) bestimmen Arbeit als „Hervorbringung“. Arbeit ist nicht der stumpfe Rhythmus der Fabrikarbeit, in dem der Mensch so ersetzbar ist wie eine gerostete Niete. Hervorbringung meint Extrapolation des menschlichen, schöpferischen Geistes, meint Aneignung von Natur, meint das Recht des Individuums zum Gebrauch seiner Kräfte für eigene Ziele.44 In Arbeit und Produktion tritt der Mensch heraus aus Anonymität und Nichtse und verschafft sich Dauer (durée) und Präsens (vivid present).45 2) In der Arbeit des Menschen als Weltgestaltung zeigen sich Historizität und Sozialität des Menschen. Bedeutet das weltverändernde Tätigsein des Menschen das Schreiben von Geschichte und ist der Mensch so Faktor und nicht bloß hoffnungslos verloren in einer Welt fulminanter Determination, so gestaltet er die Welt nie allein und exklusiv für sich, sondern stößt bei allem, was er tut oder lässt, stets auf den Anderen.46 Hannah Arendt hat besonders das Moment des Herstellens und der Weltgestaltung betont und bestimmt den Menschen als geschichtsmächtig, dessen Leben nicht bloß eingespannt ist in das Diktat von Lust und Unlust, sich vielmehr als vita activa ausweist und anders als das Tier zu Arbeit, Herstellung und Handlung in der Lage ist.47 Arendt betont ebenso die Sozialität von Arbeit (actio socialis):

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sondere Bedeutung, von einem solchen Punkt aus überhaupt Zukunft anvisieren zu können, mithin zeigt sich in bestimmten Formen des Handelns und Arbeitens Humanität im Zusammenhang des Setzens eines Anfangs und eines damit verbundenen Blicks in die Zukunft, vgl. Emmanuel Lévinas, Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, 68. Vgl. Andreas Arndt, Zum philosophischen Arbeitsbegriff. Hegel, Marx & Co, in: Klaus-Michael Kodalle (Hg.), Arbeit, 99–108, hier: 104–107 und Aßländer, Von der vita activa, 393– 394: „Der Mensch ist nicht mehr von außen bestimmt und nicht mehr durch Herkunft und Stand in sein Dasein gezwungen. Erst jetzt, durch das Recht, sich sein Leben selbst durch Arbeit zu gestalten, wird der Mensch zum eigentlich autonomen Subjekt.“ (394) Wo Arbeit nicht mehr, wie etwa in der Antike, als Qual empfunden wird, wo Arbeit ein Wert sui generis ist, wo der Mensch sich als Schöpfer der Welt begreift, scheint die Verheißung der Schlange aus dem Paradiesgarten gewissermaßen eingetroffen: Eritis sicut deus. Wäre da nicht die Grenze und die Ohnmacht, die aller menschlichen Arbeit gesetzt ist, vgl. ebda., 421. Vgl. Gerhardt Preuschen, Die Aufgabe der Arbeit im menschlichen Leben, in: Mitteilungen der Max Planck-Gesellschaft 1/1966, 31–64, hier: 40. Vgl. Barzel, Der Begriff Arbeit, 11. Das Tätigsein des Menschen ist nicht reine Selbsttätigkeit oder Selbstbedienung. Der Mensch im Gefüge der Mitwelt ist immer schon mit der Forderung dieser Mitwelt konfrontiert, vgl. Helmut Plessner, Diesseits der Utopie. Ausgewählte Beiträge zur Kultursoziologie, Düsseldorf 1967, 19. Vgl. Arendt, Vita activa, 14. Das animal laborans ist nach Arendt anders als der homo faber durch Bedürfnisse des Körpers „getrieben“. Es bestimmt nicht seinen Körper mit allen Lüsten und Unlüsten, sondern umgekehrt bestimmt der Körper das animal laborans zur befriedigenden Tätigkeit. Der homo faber aber, so Arendt, ist „Herr seiner Hände“, weil er sich aus der isolierten Privatheit des Körpers in ein Draußen begeben hat, das ihm auch Macht über den eigenen Körper verleiht, vgl. ebda., 107.

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„Die Vita activa, menschliches Leben (…) bewegt sich in einer Menschen- und Dingwelt, aus der sie sich niemals entfernt (…). Jede menschliche Tätigkeit spielt in einer Umgebung von Dingen und Menschen, in ihr ist sie lokalisiert und ohne sie verlöre sie jeden Sinn.“48

Den Moment der Sozialität, der notorischen Verwiesenheit des Menschen auf den Anderen, expliziert Arendt theologisch: Gott habe nicht den einzelnen Menschen geschaffen, sondern Menschen im Plural. Leben bedeutet bei ihr „unter Menschen weilen (inter hominem esse) und Sterben so viel wie aufhören unter Menschen zu weilen (desinere inter hominem esse) (…).“49 Dieses lebenskonstitutive inter hominem esse verwirklicht sich in einem ersten Sinn im Akt des Handelns: „Das Handeln kann als Tätigkeit überhaupt nicht zum Zuge kommen, ohne die ständige Anwesenheit einer Mitwelt.“50 Für diesen Zusammenhang und schon mit Blick auf eine Kritik der psychiatrischen Arbeitstherapie ist noch auf Arendts luzide Unterscheidung zwischen Handlung und Herstellung hinzuweisen. Nur Arbeit als Handlung entgeht der Gefahr der Isolierung, nicht das fragmentarische Herstellen von Wichseschachteln oder das Umkrempeln von Briefumschlägen von gebrauchter auf ungebrauchte Seite.51 Handlungen vollziehen sich nur im Gefüge einer Mitwelt, nach der es den Menschen sehnt. Das einfache Herstellen, so Arendt, sei in einer bestimmten Art der Vereinzelung möglich.52 Ihr Pronunciamento des Handlungsbegriffs liegt auf der Betonung von Freiheit. Freiheit ist bei Arendt kein Zustand, sondern Tätigkeit, hier gilt der Chiasmus, wer handelt ist frei, wer frei ist, der handelt. In autonomen Handlungen gibt sich der Handelnde souverän: „Homo faber ist in der Tat ein Herr und Meister, nicht nur, weil er Herr der Natur ist oder verstanden hat, sie sich untertan zu machen, sondern auch, weil er Herr seiner selbst, seines eigenen Tuns und Lassens ist.“53

3) Fritz Giese (1890–1935), ein Philosoph und Psychologe auch der 1920er Jahre, hat 1932 eine Monographie zur Philosophie der Arbeit vorgelegt und versteht Arbeit als Königsweg zur Hervorbringung von Freiheit. Selbst dort, wo nach den entsetzlichen Katastrophen alles zerstört scheint, ist es menschliche Arbeit, die Neube48 49 50 51 52 53

Arendt, Vita activa, 27. Dazu: Otfried Höffe, Politische Ethik im Gespräch mit Hannah Arendt, in: Peter Kemper (Hg.), Die Zukunft des Politischen, Frankfurt a. M. 1993, 13–33, hier: 18–19. Arendt, Vita activa, 15. Ähnlich auch Emmanuel Lévinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1984, 20. Arendt, Vita activa, 27. Ob Arendt allerdings irrt, wenn sie sowohl dem Tier, als auch Gott die Fähigkeit zur Handlung abspricht, ist dabei eine andere Frage, vgl. ebda. Vgl. Simon, Aktivere Krankenbehandlung, 49. Vgl. Arendt, Vita activa, 180. Ebda. 131 und ferner Hannah Arendt, Freiheit und Politik, in: Die Neue Rundschau 69/1958, 670–678, hier: 675. Dazu auch Karl-Heinz Breier, Hannah Arendt zur Einführung, Hamburg 1992, 113: „Wer lediglich als Werkzeug eines anderen fungiert, ist weder unabhängig noch frei. Frei ist allein jemand, der befreit ist, d. h. Freiheit setzt Unabhängigkeit voraus.“ In diesem Zusammenhang ist auf die Kritik von Otfried Höffe zu verweisen, der konstatiert, der Begriff der Arbeit sei zu eng gefasst, so wie Arendt ihn als Überlebensstrategie vorstellt, vgl. Höffe, Politische Ethik, 23. Im Sinne einer Kritik an der Kritik ist allerdings weiter zu fragen, ob Höffe hier tatsächlich richtig liegt, oder ob Arendt nicht in der Betonung des sozialen Charakters von Arbeit längst die Sorge um das nackte Überleben hinter dem Begriff der Arbeit erweitert hat.

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ginn ermöglicht und Räume der Freiheit hervorbringt.54 Arbeit, so Giese, verheißt dem Menschen Freiheit.55 Anders gesagt, aber ebenso optimistisch, was die Potenz menschlicher Arbeit angeht: „Labora vincit omnes: sie besiegt die Armut und schafft Wohlstand, sie überwindet die Natur und schafft Zivilisation.“56 Arbeit ist dabei nur dann in ihrer Ambivalenz, in ihrer Inklination zum Bösen gebannt und wirkliche Verheißung, wenn sie den Menschen individualisiert.57 Genau deshalb war das Emblem „Arbeit macht frei“ über den Toren der Konzentrations- und Arbeitslager der Nazis Zynismus und Lüge, denn die Arbeit dort war nichts anderes als kahlgeschorener Totentanz zur Unkenntlichkeit geschundener und verhungerter Menschen, denen alle Individualität geraubt war. Summarisch kann Arbeit als menschliches Handeln, alles Obige aufnehmend, durch folgende Aspekte näher bestimmt werden: a) als geistige und körperliche Tätigkeit, b) als Vorgang der Totalisierung als Hineinheben einzelner, fragmentarischer Taten in ein Kontinuum und Ganzes, das Leben und Ichhaftigkeit heißt, c) als Novum-Erzeugung und d) als absichtsvolles Bewirken (Intentionalität).58 Giese, der 1932, am Ende der Weimarer Republik, seine Arbeitsphilosophie veröffentlicht hat, betont mit seinem Diktum von der „Blutwärme“59 menschlicher Arbeit vor allem die wirtschaftlich-wertschöpferische Dimension menschlicher Aktivität: „Die Arbeit als Tat hat jene Durchtränkung an Vitalität, an Leben, an innerem Werden an sich, die niemals der (…) plumpen Wirtschaft eigen sein kann.“60 Arbeitslosigkeit ist nicht nur ein monetäres, sondern ein existentielles Problem und das nicht allein, weil Menschen die Langeweile (horror vacui) fürchten. b) Die dehumanisierende Dimension von Arbeit Im Lauf der Geschichte der Philosophie wird Arbeit erst langsam als wesentlicher Modus des Existierens des Menschen erkannt. In der Antike galt Arbeit als Übel. Sie war zwar notwendig für Haushalt und Landwirtschaft, aber lenkte vom erwünschten Daseinszustand, der Muße, ab. Von ihr wird in der klassischen Latinität der Begriff der Arbeit als neg-otium, als Nicht-Muße, konzipiert.61 Anders als heute Arbeit, war

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Vgl. Giese, Philosophie der Arbeit, Halle 1932, 294. Vgl. ebda., 298. Aßländer, Von der vita activa, 255. Vgl. Giese, Philosophie, 300. Vgl. Barzel, Der Begriff Arbeit, 207. Giese, Philosophie, 295. Ebda., 293. Vgl. Aßländer, Von der vita activa, 10. Aßländer schlägt weiter vor, zwischen einem „aristokratischen“ und einem „bürgerlichen Arbeitsbegriff“ zu unterscheiden. Dabei fasst der aristokratische Arbeitsbegriff seiner Definition nach die eher reservierte Haltung gegenüber der Arbeit in der gesamten Antike bis zum christlichen Mittelalter. Bürgerlich-positiv wird der Arbeitsbegriff nach seiner sicher grob geratenen Geschichtsbetrachtung mit der Industrialisierung, vgl. ebda., 19.

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den Antiken Muße anthropo-ethischer Leitbegriff.62 Nichts wird dadurch deutlicher als die Kulturalität des Arbeitsbegriffs,63 der weder im griechischen noch im lateinischen Denken soziale Bedeutung besaß.64 Wieder zeigt sich auch in dieser historischen Perspektive die Ambivalenz der Arbeit, deren Beurteilung zwischen „Verachtung“ (Altertum) und „Verherrlichung“ (Neuzeit) oszilliert.65 1) Ein gravierender Fehler des neuzeitlichen Denkens über den Menschen bestehe in der einseitigen Bestimmung des Menschseins als Tätigsein, so eine geläufige Kritik insbesondere theologisch-ethischer Provenienz.66 Die Subjektphilosophie vergisst Facetten des Menschseins im Jenseits seiner Handlungskraft, denen wir ihr menschliches Format nie absprechen würden: wo immer der Mensch in Muße, Kontemplation und Traum in ein distanziertes Verhältnis zu sich und der Welt gerät,67 oder in Krankheit oder Verelendung schwach geworden ist. Auch hier bleibt anthropologische Zuschreibung weiter oder gerade möglich. Naphta aus Thomas Manns (1875–1955) Zauberberg immerhin nennt Krankheit das Wesen des Menschen.68 Allgemeiner gesagt: Vignette des Menschen ist auch seine Passivität, seine Abhängigkeit, sein Geworfensein. Dabei rahmt die Passivität seine Aktivität, von „schlechthinniger Abhängigkeit“ hat Friedrich Schleiermacher (1768–1834) gesprochen und qualifizierte so den Raum, in dem sich das handelnde Subjekt vorfindet, ohne ihn selbst hervorgebracht zu haben.69 Passivität als Ligatur des Lebens beschreibt nicht bloß Ränder menschlichen Daseins, sondern es ist bereits durch Natalität und Mortalität in einen Rahmen der Abhängigkeit und Verfügtheit gestellt.70 Der handelnde und arbeitende Mensch ist stets betroffen von der Mitwelt 62 63 64 65 66

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Vgl. Jürgen Dummer, Arbeitsethos in der Antike, in: Klaus-Michael Kodalle (Hg.), Arbeit, 69–79, hier: 72. Vgl. Aßländer, Von der vita activa, 20. Vgl. Moses I. Finley, Die antike Wirtschaft, München 1993, 91 und Ders., Die Sklaverei in der Antike, München 1993, 81. Vgl. Arendt, Vita activa, 85. Vgl. Ulrich H. J. Körtner, Solange die Erde steht. Schöpfungsglaube in der Risikogesellschaft, Hannover 1997, 77. Der Ethiker Wolfgang Huber hat mit Blick auf die an Bedeutung zunehmende Arbeit vor einer Überbewertung der Arbeit für die Bildung und Erhaltung menschlicher Identität gewarnt, vgl. Wolfgang Huber, Protestantismus und Protest. Zum Verhältnis von Ethik und Politik, Hamburg 1987, 118. Gegen die anthropologische Dominanz des Menschen als homo faber votiert auch Eberhard Jüngel, wenn er auf die moderne Last der Selbsterfüllung hinweist, vgl. Eberhard Jüngel, Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, München 1990, 92. Dazu auch: John Webster, Justification, Analogy and Action. Passivity and Activity in Jüngels’s Anthropology, in: Ders. (Hg.), The Possibilities of Theology. Studies in the Theology of Eberhard Jüngel in his Sixtieth Year, Edinburgh 1994, 106–142, hier: 107–108. Vgl. Christoph Türcke, Philosophie des Traums, München 2008, 68–73. Vgl. Mathias Wirth, Psychiatrie und Freiheit. Geschichte und Ethik einer Menschheitsfrage, in: Kirche und Gesellschaft 398/2013, 3–16, hier: 3. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, Erste Abteilung, Bd. 7/1, hg. v. HansJoachim Birkner, Berlin/New York 1980, 31. Dazu auch Körtner, Solange die Erde steht, 79. Vgl. Ulrich Eibach, Autonomie, Menschenwürde und Lebensschutz in der Geriatrie und Psychiatrie, Münster 2005, 19. Eibach betont besonders im Gespräch mit einer jüdisch-christlichen Schöpfungstheologie die primäre „Angewiesenheit“ des Menschen und bestimmt Beziehungs-

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mit samt ihren Forderungen, auch aktives Menschsein zeitigt sich im Dialog mit der Welt, der man auch passiv gegenüber steht: „Der Einzelne wird durch das Bezogensein zum Anderen, was er ist; die Qualität des Mitseins und dem zufolge die Qualität des Selbstseins ist die Funktion der Qualität des Bezogenseins.“71

2) Kehrseite des als humanisierend apostrophierten Aus-Sich-Heraustretens in Sprache und Arbeit ist das Hineingeraten in „fremde Welten“. Draußen in der Welt des Nicht-Ich liegt auch die Gefahr der Entfremdung. Die Exzentrik seines Wesens treibt den Menschen in die Praxis des Agierens mit der Welt. Einmal in der Welt, muss er seine Freiheit einsetzen. Er kann nicht bloß verharren. Die existentialistischen Philosophen, die sich besonders in die menschlichen Daseinsnöte einfühlen, bestimmen die Entfremdung des Menschen, besonders Jean-Paul Sartre (1905– 1980) hat das unterstrichen, als Verurteilung zur Freiheit.72 3) Vor allem die Psychiatriekritik Michel Foucaults hat auf das repressive und bemächtigende Moment in der Psychiatrie hingewiesen. Seine Beobachtungen können mutatis mutandis auch als Problemanzeiger für die Arbeitstherapie gelesen werden. Arbeit als Therapie ist nämlich besonders dazu angetan, die Selbstpraxis des Menschen zu regulieren, ob durch Konsens oder Gewalt, jedenfalls in dem Sinn, dass Macht über die Selbstpraxis des Menschen erlangt wird. Psychiatrischer Zwang stellt sich vielfach als verinnerlichte Bemächtigung dar, die nach dem Dafürhalten Foucaults der Logik der säkularisierten Pastoralmacht folgt.73 Ketten abzulegen, Betten und Bäder der psychiatrischen Stationen zu verlassen, um auf dem Feld, in der Werkstatt und in der Küche durch Mitarbeit Freiheit zu spüren, wird erst nach Internalisierung der Machtinstanz möglich. Die empirische Freiheit, wie sie sich auch in der Arbeitstherapie zeigt, ist tatsächlich, so Foucault, bemächtigte Freiheit. Diese Führung (conduite) der psychiatrischen Patientinnen und Patienten ist deshalb von so durchschlagender Wucht, weil sie beinahe unsichtbar ist und das Subjekt glauben macht, es wolle selbst.74 Dies gelingt durch die Methoden der disziplinierenden „Bio-Macht“, die Foucault als Techniken der Fungibilisierung und Annektion des Körpers enttarnt hat. Die Unterordnung des Einzelnen unter den Rhythmus von Kloster, Fabrik, Schule und Anstalt kreiert bemächtigte und disziplinierte Körper.75 Besonders im Zusammenhang mit Arbeit als Therapie in der Psy-

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haftigkeit und nicht Autonomie als Grundelement des Menschseins. Zur anthropologischen Bedeutung der Natalität und dem Schaffen einer immer neuen Welt, vgl. auch Hannah Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 2000, 276. Hierzu auch Elmar Willnauer, Heute das Böse denken. Mit Immanuel Kant und Hannah Arendt zu einem Neuansatz für die Theologie, Berlin 2005, 207. Barzel, Der Begriff Arbeit, 212. Vgl. ebda., 127. Vgl. Michel Foucault, Schriften IV, hg. v. Daniel Defert u. Francois Ewald, Frankfurt a. M. 2005, 277. Vgl. Michel Foucault, Sécurité, Territoire, Population, Paris 2004, 92–104 und Jörg Volbers, Selbsterkenntnis und Lebensform. Kritische Subjektivität nach Wittgenstein und Foucault, Bielefeld 2009, 257–258. Vgl. Hubert L. Dreyfus / Paul Rabinow, Michel Foucault Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim 1994, 164: „Das Hauptziel der Disziplinarmacht war es, einen Menschen

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chiatrie wird das von der Bio-Macht gewünschte produktive Moment des Körpers in den Vordergrund gerückt.76 Erklärtes Ziel der Kritik Foucaults war es, auf die Möglichkeiten der Freiheit in institutionellen Kontexten hinzuweisen, indem er auf Geschichtlichkeit und Kontingenz ihrer Methoden und Überzeugungen aufmerksam machte.77 Arbeit als „Technologie des Selbst“78 ist dann Ausdruck von Freiheit, wenn das Subjekt sich neu finden kann, da es wird, was es vorher nicht war.79 Dann ist Arbeit human und Ausdruck von Freiheit, ohne dass Arbeit bei Foucault das Wesen des Menschen konstituiert.80 Folgt man Foucaults Analysen zur Geschichte der Psychiatrie weiter, erweist sich Arbeitsunfähigkeit als Kriterium von Geisteskrankheit.81 Gelangt nun Arbeit als Therapie in die Psychiatrie, ist sie konfrontiert mit dem Paradox, dass bisher Arbeitsfähigkeit als Kriterium geistiger Gesundheit und Arbeitsunfähigkeit als Kriterium geistiger Krankheit fungierte.82 Hier macht Foucault auf einen ganz unerwarteten dehumanisierenden Zug der Arbeitstherapie in der Psychiatrie aufmerksam, wenn Arbeitsfähigkeit mit Gesundheit gleichgesetzt wird: „Wenn Arbeitsunfähigkeit das Hauptkriterium für Wahnsinn ist, genügt es, in der Anstalt arbeiten zu lernen, um vom Wahnsinn geheilt zu werden.“83 Insgesamt diente Arbeit als Therapie auch der Disziplinierung und Erziehung des psycho-physischen Habitus von Patientinnen und Patienten. Nimmt man Foucault beim Wort, bedarf es einer bestimmten Zeit in Arbeit, damit der Rhythmus der Arbeit zur Dressur des angepassten Körpers werden kann.84

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herzustellen, der als ‚fügsamer Körper‘ behandelt werden konnte. Dieser fügsame Körper hatte auch ein produktiver Körper zu sein. Die Disziplinartechnologie entwickelte sich und wurde in Werkstätten, Kasernen, Gefängnissen und Hospitälern vervollkommnet (…).“ Karl Jaspers (1883–1869) hat unter anderen denkerischen Voraussetzungen als Foucault an die Autorität des technischen Denkens erinnert, das den Menschen in Arbeitsprozessen der Neuzeit leicht nach dem Beispiel maschineller Abläufe bestimmt, vgl. Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München 1962, 66. Vgl. Foucault, Schriften IV, 960. Vgl. ebda., 984–999. Vgl. ebda., 960. Vgl. Foucault, Schriften III, 605. Vgl. Bernhard Waldenfels, Michel Foucault: Ordnung in Diskursen, in: Francois Ewald / Bernhard Waldenfels (Hgg.), Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a. M. 1991, 277–297, hier: 279. Vgl. Michel Foucault, Schriften II, hg. v. Daniel Defert u. Francois Ewald, Frankfurt a. M. 2002, 159: „Was die Arbeit angeht, gilt als wichtigstes Kriterium für die Feststellung, ob ein Mensch geisteskrank ist, selbst heute noch der Nachweis, dass er nicht arbeiten kann. Freud hat sehr präzise gesagt, der Geisteskranke (…) sei ein Mensch, der weder arbeiten noch lieben könne.“ Foucault fügt an, in dieser arbeitstheoretischen Interpretation von Wahnsinn zeige sich, „der Irre ist ein Missgeschick unserer kapitalistischen Gesellschaft“, ebda., 165. Dazu auch: Foucault, Schriften III, 617. Foucault, Schriften II, 164. Vgl. Honneth, Foucault, 138. Axel Honneth erinnert hier daran, Körperdisziplinierung als das Kernanliegen der Biomacht zu verstehen, die ab dem 19. Jahrhundert den Modus europäischer Kultur prägt. Ihr faktisches Ziel ist die Einpassung vitaler Antriebe in das Schema einer Disziplin, die Verschiedenheit in einen Habitus der Homogenität kehrt.

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4. ETHIK UND KRITIK DER ARBEITSTHERAPIE DER PSYCHIATRIE DER 1920ER JAHRE Welt entsteht durch Arbeit des Menschen. Die Fulminanz dieses Satzes ist erst dann voll eingeholt, wenn man sieht, dass selbst eine Welt, in der nur Böses geschaffen würde, dennoch Welt ist. Anders gesagt: Der Begriff der Arbeit bedarf notwendig einer Ethik der Arbeit.85 Die Gefahr der Bestimmung von Arbeit als Artikulation des Menschseins liegt in der Missachtung von Freude, Kontemplation, Faulheit und Muße, die ebenso Artikulationen des Menschlichen sind.86 Obwohl Arbeit aus guten Gründen eine Vermittlerrolle zwischen Welt und Ich zugesprochen wird, obwohl sie die Verwiesenheit des Menschen auf soziale Beziehungen und Zeit ausdrückt, obwohl sie dem aus sich herausgehenden, exzentrischen Charakter des Menschen zu entsprechen vermag, der wie Arnold Gehlen (1904–1976) gesagt hat, „chronische Bedürftigkeit“ ist, bedeutet Arbeit als basaler Modus menschlicher Praxis auch Last, Unfreiheit, Zwang und Not. In einer ethisch-anthropologischen Perspektive stellt sich die Frage, ob die monotone Praxis der Arbeitstherapie, trotz ihrer vielfachen therapeutischen Leistungen (Beruhigung, Beschäftigung etc.) das leistet, was ihr anthropologisches Programm verspricht: spezifische Praxis menschlichen Lebens zu sein. Möglicherweise stellt gerade die oft genug stupide Monotonie, der immer gleiche Rhythmus der Werkstatt und des Feldes einen reduzierten Begriff menschlicher Tätigkeit dar, in der Menschen wesentlich ersetzbar und mobil sind. Die Bedeutung von Arbeit hat man möglicherweise erst dort erfasst, wo sie in einem umfassenden Sinn als Tätigsein des Menschen verstanden wird. Die Lethargie, von der Psychiater berichten, wo immer Patientinnen und Patienten keine Beschäftigung finden, belegt zu Genüge die Sehnsucht des Menschen nach Präsenz in Raum und Zeit, die etwas völlig anderes ist als das hospitalistische Nichtstun im Aufenthaltsraum der Psychiatrie. Hermann Simon hat dies eindrücklich beschrieben und zuweilen harsch, direktiv und paternalistisch zu ändern gesucht.87 In ethischer Hinsicht stellt sich die Frage nach dem Selbstseinkönnen psychiatrischer Patientinnen und Patienten und nach dem konkreten Begriff von Arbeit, der das fundieren soll. Ob die Tätigkeiten der Arbeitstherapie in allen Fällen im Sinne Karl Jaspers Sinn- und Identitätsangebot sind, muss bezweifelt werden. Auch mit Blick auf die oben genannte Unterscheidung von Handlung und Herstellung, auf die Arendt verwiesen hat, ist die Frage legitim, ob Arbeitstherapie nicht bloße Beschäftigungstherapie ist, in der es nicht um Handlung, sondern fragmentierte Her85 86

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Vgl. Barzel, Der Begriff Arbeit, 203. Simon hat in seiner Psychiatrie neben Arbeit auch Erholung und Freizeit gestellt und offerierte seinen Patientinnen und Patienten nach eigenen Angaben ein breites Spektrum spielerischer und kultureller Abwechslung. Dazu gehörten Sport, Spiel und Bildung, sogar Unterricht empfiehlt er der aktiveren Psychiatrie für ihre Patientinnen und Patienten, vgl. Simon, Aktivere Krankenbehandlung, 43–45, 141. Vgl. ebda., 58, 62, 83, 134, 138. Letzteres Beispiel (138) sieht Verlegung in die geschlossene Abteilung vor, wenn männliche oder weibliche Patienten im Klinikpark Kontakt zu Patienten des anderen Geschlechts aufnahmen.

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stellung ging. So gesehen erscheint eine Kritik an den Konzepten der Arbeitstherapie der 1920er Jahre trotz allem Benefiz besonders für den Alltag der Psychiatrie berechtigt. Birgt die Arbeit in der psychiatrischen Arbeitstherapie nicht nur der 1920er Jahre aufgrund von „repetitiver Arbeit“, „Monotonie“ und monologischem Agieren die Gefahr der Entfremdung und des Verlusts von Identität und generiert den therapeutischen Erfolg schlicht durch Ablenkung und Betäubung?88 Natürlich ist das Herstellen von Papiertüten, Lederteppichen und Wichseschachteln, das „(…) Ausschneiden der Kerbe (…) Abschneiden des Zwickels mit den nämlichen Instrumenten (…) [d]as Falten des Blattes (…) [d]as Kleben der Düten“ allemal besser als Untätigkeit.89 Es besteht mit Blick auf dieses Beispiel kein Zweifel, dass hier sinnvolle Tätigkeiten ausgeübt werden, die mancher Patientin und manchem Patienten möglicherweise zur Erfahrung von Sinn und Identität wurden. Das kann aber nicht für alle Patientinnen und Patienten gelten. Die anthropologische Argumentation zur Arbeit als Therapie suggeriert aber, Arbeit an sich stille das Verlangen des Menschen nach aktiver, identitätsbildender Präsenz im Raum. Arbeitstherapie erliegt dann einem reduktionistischen Irrtum, wenn das Repertoire konkreter Arbeiten und Tätigkeit nicht ebenso divers ist wie es die Menschen sind, um im Maß psychischer Erkrankung als Selbst präsent zu sein.90 Das bedeutet keinesfalls Abwertung oder Geringschätzung einfacher Arbeit. Gesagt ist nur, dass die Arbeit, die die Arbeitstherapie der Weimarer Psychiatrien favorisiert, lediglich einfache handwerkliche und zumeist ökonomisch verwertbare Tätigkeiten als Arbeit versteht, um so einen sehr eingeschränkten Begriff von Arbeit zu sanktionieren, der keinesfalls in der Lage ist, die Weite menschlicher Tätigkeit, Hervorbringung und Handlung abzubilden. Gemessen an der oben vorgenommenen philosophischen Bestimmung von Arbeit als menschlichem Handeln im Gespräch mit Hegel, Marx, Arendt und der skizzierten Bedeutung geistiger und körperliche Tätigkeit als Vorgang der Totalisierung, als Hineinheben einzelner, fragmentarischer Taten in ein Ganzes, als Novum-Erzeugung und als absichtsvolles, intentionales Bewirken, fällt eine Bewertung der aktiveren Psychiatrie geteilt aus. Um es deutlich zu betonen, es geht hier nicht um eine „irrationale Geringschätzung der Handarbeit“, die Harry Hoefnagels in seiner Soziologie des Sozialen gerügt hat.91 Fest steht aber, „Mattenflechten, Klebarbeit, Spularbeit für die Weberei, Wolle-Aufzupfen“92 stellen nicht in jedem

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Vgl. Severin Müller, Phänomenologie und philosophische Theorie der Arbeit, Bd I/II, Freiburg/München 1992, 56. Es stellt sich die Frage, ob die reformpsychiatrische Methode der Arbeitstherapie nicht geeigneter als Beschäftigungstherapie zu bezeichnen ist, wie es übrigens Simon selbst vielfach getan hat, wie oben gezeigt, vgl. Thomas Beddies, Die „Reformpsychiatrie“ der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, in: Thomas Beddies / Kristina Hübener (Hgg.), Dokumente zur Psychiatrie im Nationalsozialismus, Berlin 2003, 11–13, hier: 11. Simon, Aktivere Krankenbehandlung, 49. Die in diesem Band enthaltenen Studien von Thomas Müller und Anna Urbach analysieren konkrete Formen der Arbeitstherapie. Vgl. Harry Hoefnagels, Soziologie des Sozialen, Essen 1966, 228. Simon, Aktivere Krankenbehandlung, 17.

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Fall eine angemessene Tätigkeit im Sinne der Hervorbringung des Eigenstands dar.93 Humanisierend wirkt die Arbeitstherapie, insofern mit ihrer Etablierung ein Abbau psychiatrischer Zwangsmaßnahmen korreliert. Offenbar hat die Praxis der Arbeitstherapie, etwa in Gütersloh bei Simon, alle Zwangsmaßnahmen, außer der „feuchten Ganzpackung“, erübrigt, wie er betont. Alle Zwangsmittel, von Zwangsjacke und Zwangshandschuhen, Kasten- und Gitterbetten gibt es in seiner Psychiatrie nicht, obwohl er sie nach eigenen Worten keineswegs völlig ablehnt.94 Insgesamt vergleicht Simon die positiven Auswirkungen der Arbeitstherapie mit denen nach Etablierung des non-restraint: Umgangsformen verbessern sich, Charaktere wirken milder, es kommt zu weniger Ausbrüchen und Exaltiertheit, sämtliche Sekundärtugenden wie Ordnung und Sauberkeit bilden sich deutlicher aus.95 Allerdings können Bemächtigung, Formung, Ausschalten von Eigenart und Devianz als Ingredienzien der Arbeitstherapie aufgrund des Konsens-Flairs dieser Therapieform schnell übersehen werden. Was vielleicht vorschnell als humaner Quantensprung der Psychiatrie erscheint, ist bei Licht besehen ebenso wenig frei von Machtbeziehungen wie andere Therapieformen zur Korrektur menschlichen Gebarens.96 5. RESÜMEE: EIN BLOSS ZWEIFELHAFTER ERFOLG DER ARBEITSTHERAPIE DER WEIMARER JAHRE? Den Alltagserfolg erkauft sich die Arbeitstherapie der Weimarer Psychiatrie auch durch ihren normativen Ausgriff auf Abweichungen der psychiatrischen Patientinnen und Patienten, denen im ermüdenden und ablenkenden Rhythmus der Arbeit konformes Verhalten injiziert wird.97 So gesehen steht die Arbeitstherapie in Tradition mit den Zuchthäusern des 17. Jahrhunderts, auch dort ging es ebenso wenig wie in der Arbeitstherapie im 20. Jahrhundert um Strafe, sondern um Erziehung durch Arbeit, die das oftmalige Andersheit annihilierende Wesen der Psychiatrie zeigt,98 das schon im Ziehen und Zerren des Begriffs der Er-Ziehung deutlich wird. Hier wurde gefragt, ob die faktische Arbeit in der Psychiatrie der 1920er Jahre, die aus einfachen Tätigkeiten besteht, in allen Fällen zur Identitäts- und Sinnbildung beitrug, oder ob die Monotonie des monologischen Arbeitens nicht auch als 93

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Unbestritten ist aber, dass alle Formen produktiver Tätigkeit aufgrund ihres Aktivitätsmoments und der Begegnung mit sich selbst als aktivem Subjekt ein Weg des Zu-sich-Kommens sein können, vgl. Sophie-Thérèse Krempl, Paradoxien der Arbeit. Oder: Sinn und Zweck des Subjekts im Kapitalismus, Bielefeld 2011, 67. Vgl. Simon, Aktivere Krankenbehandlung, 117–118. Vgl. ebda., 144 f. Vgl. Michel Foucault, Analytik der Macht, Frankfurt a. M. 2005, 255. Vgl. Heinz-Peter Schmiedebach, „Abweichen vom Durchschnitt im Sinne der Zweckmäßigkeit.“ Der psychiatrische Blick auf die psychische „Normalität“, in: Volker Hess (Hg.), Normierung der Gesundheit, Husum 1997, 39–56, hier: 39–42. Vgl. Blasius, Ambivalenzen, 256–257.

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Entfremdung empfunden werden konnte, obwohl sie fraglos zur Beruhigung des Anstaltslebens beitrug. Vielleicht bewirkte die Arbeitstherapie deshalb den „Erfolg“ der allgemeinen Beruhigung und Genesung, weil sie ablenkte und betäubte, zudem ermüdete, anstatt Sinn, Identität und Autonomie zu stärken. Eine monologische Existenz ist aber nicht das Ziel humaner Arbeit, die Dialogizität des Menschen mit der Umwelt evozieren soll. Die in der Neuzeit robust betonte sozialisierende und sinnstiftende Bedeutung von Arbeit kann nicht umstandslos auf alle Formen von Arbeit übertragen werden, noch dazu ohne Beachtung des psychiatrischen Einzelfalls.99 Vielleicht bedeutete die Zumutung der Last von Arbeit aber auch, psychiatrischen Patientinnen und Patienten die Wahrheit menschlicher Existenz wieder zuzutrauen.100 Im Horizont einer Welt, in der es das Spielen geben muss (homo ludens), das aber jäh durch den an allem und jedem nagenden Kiefer des Leids und des Todes irritiert und belehrt wird, kann es nicht nur und auch nicht eigentlich um das angenehme Sich-Spüren und Sich-Verwirklichen gehen. Dagegen steht die Autorität des Leids. Arbeit vollzieht sich nicht spielerisch ichverfallen, sondern mit Blick auf die Mitmenschen und dem Ziel einer menschenwürdigen Welt; eine Perspektive freilich, die die oftmals stupide Arbeit in therapeutischen Kontexten vermissen lässt. Jedenfalls ist das Ziel der Arbeit nicht die Überholung von Arbeit. Das Ende der Arbeit bedeutete sogleich das Ende von Kultur und Geschichte.101 Arbeit gehört zum Menschen. Sogar der paradiesische Mensch der Genesis arbeitete.102 Arbeit aber muss menschlich sein und dem Menschlichen dienen. Dazu hat die Arbeitstherapie der 1920er Jahre bei allen Einseitigkeiten und Paternalismen einen Beitrag geleistet, denn trotz ihrer Grenzen hat sie an einigen Stellen begonnen, Arbeit vom Menschen her zu konzipieren. 99 Vgl. Krempl, Paradoxien, 43. 100 Vgl. Lévinas, Die Zeit, 41: „Das Subjekt findet (…) in der Arbeit – das heißt in der Anstrengung, in seiner Mühe und in seinem Schmerz – die Last der Existenz wieder, die genau in seiner Freiheit eines Seienden enthalten ist.“ Damit ist aber auch gegen eine hyperbolische Interpretation des sinnstiftenden Charakters von Arbeit gesagt, dass sie keine letzte Bedeutung für den Menschen hat, nicht bereits als Antwort auf die Frage fungiert, die der Mensch sich selber ist, ohne bereits Antwort zu sein. Auch seine Arbeit bietet keine Antwort in praxi. Bei aller Bedeutung lässt die Arbeit als Arbeit Leere zurück, die Lévinas als das schiere ‚es gibt‘ oder ‚es west‘ („il y a“) besprochen hat, vgl. Emmanuel Lévinas, Ausweg aus dem Sein, Hamburg 2005, 9–10. Zum Zusammenhang von Arbeit und il y a, vgl. Bernd Casper, Denken im Angesicht des Anderen – Zur Einführung in das Denken von Emmanuel Levinas, in: Hans Hermann Henrix (Hg.), Verantwortung für den Anderen – und die Frage nach Gott. Zum Werk von Emmanuel Lévinas, Aachen 1984, 17–36, hier: 22. 101 Vgl. Barzel, Der Begriff Arbeit, 213–214. Zwar souffliert der Hedonismus das wohlige Ende der Arbeit, schließt so aber Arbeit und Leben in ein Paradox doppelter Negation ein, vgl. André Gorz, Kritik der ökonomischen Vernunft – Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft, Hamburg 1998, 91–92: „Das Arbeitsleben wurde zur Negation des Lebens außerhalb der Arbeit und umgekehrt.“ 102 Vgl. Friedrich Johannsen, „Umsonst ist’s, dass ihr früh aufsteht.“ Biblische Impulse zu einer Ethik der Arbeit, in: Ders. / Harry Noormann (Hgg.), Lernen für eine bewohnbare Erde. Bildung und Erneuerung im ökumenischen Horizont, Gütersloh 1990, 116–125, hier: 116.

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Sozial- und gesellschaftspolitische Debatten um die psychiatrische Arbeitstherapie

„(…) DASS DIESE HEILMETHODE AUCH VON ANDEREN ALS ÄRZTLICHEN GESICHTSPUNKTEN AUS BEWERTET UND BEURTEILT WERDEN MUSS.“

Zu den sozial- und gesellschaftspolitischen Debatten um die psychiatrische Arbeitstherapie in der Weimarer Zeit1 Monika Ankele 1. ZIRKULATIONSWEGE DES ARBEITSTHERAPEUTISCHEN KONZEPTES: ZUR FRAGESTELLUNG 1929 fordert der ehemalige Irrenpfleger und seit 1926 Leiter der Reichssektion Gesundheitswesen im Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter Paul Levy (1886– 1958),2 dass die Arbeitstherapie auch von anderen als ausschließlich ärztlichen Gesichtspunkten aus beurteilt werden müsse, da sich mit ihrer Durchführung Fragen eröffnen, die über den Bereich der Medizin hinausgehen: Fragen der Ethik, Fragen der Hygiene, Fragen der Sozialpolitik, Fragen der Volkswirtschaft. Der Wirkungskreis, den die Arbeitstherapie in den 1920er Jahren zieht, berührt viele zu dieser Zeit virulente Themen, die sich im Begriff der „Arbeit“ – in der Aktualität des Begriffes sowie in der mannigfaltigen Auslegung desselben (jeweils in Abhängigkeit zur Frage „wer spricht?“3) – überschneiden und verdichten, die sichtbar und sagbar werden.4 Die Forderung, die Levy stellt, bildet den Ausgangspunkt 1

2 3 4

Zum Zitat vgl. Paul Levy, Ein Gutachten zur Frage der Arbeitstherapie, in: Sanitätswarte. Zeitschrift für das Personal in Kranken-, Heil- und Pflege-Anstalten, Kliniken, Sanatorien, Badeund Massage-Instituten und Seebädern 19/1929, Nr. 19, 321–324, hier: 321. Der folgende Beitrag ist im Rahmen des von der DFG geförderten Projekts mit dem Titel „‚Familienpflege‘ und ‚aktivere Krankenbehandlung‘: eine multiperspektivische Betrachtung der Arbeitstherapie in der Weimarer Zeit“ (Projektleitung: Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach) entstanden. Zu Paul Levy vgl. , 17.11.2013. Vgl. zur Frage nach der Sprecherposition Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1981, 75. Hier seien einige für die Weimarer Republik charakteristische Schlagwörter genannt: Einsatz der Arbeitskraft zum „Wohl der Gesamtheit“ (Weimarer Reichsverfassung, Art. 163, Abs. 1), kollektives Arbeitsrecht (Art. 163, Abs. 2), Schutz der Arbeitskraft (Art. 157 und 158); Arbeitszeitregelungen (Einführung des Achtstundentages 1918, Aufweichung ab 1923), Personalabbauverordnung von 1923, Ausdehnung des Tarifwesens und Arbeitskämpfe zwischen 1919 und 1924, zwischen 11 und 32 Millionen Streiktage in den Jahren 1919 bis 1924, Arbeitslosenversicherung ab 1927 und Errichtung der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Vgl. zu einzelnen der genannten Punkte Heike Knortz, Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik, Göttingen 2010, v. a. 157–199.

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Monika Ankele

des folgenden Beitrages, der den sozial- und gesellschaftspolitischen Zirkulationswegen des arbeitstherapeutischen Konzeptes folgt, die den Binnenraum der Anstalt verlassen und damit den Blick auf das öffnen, was der Historiker Urs Germann als das „[A]usserhalb der Psychiatrie“5 beschreibt. Der zeitliche Fokus ist eingegrenzt und konzentriert sich auf die Jahre zwischen 1927 und 1929, in denen die für die Bearbeitung des Themas ausgewählten Quellentexte verfasst, veröffentlicht und diskutiert wurden und die in der zeitlichen Kohärenz ihres Erscheinens Ausdruck der Virulenz des Themas sind. Die vielfach politisch motivierten Texte werden daraufhin befragt, auf welche Weise in ihnen das arbeitstherapeutische Konzept für spezifische Intentionen funktionalisiert wurde, wobei zwei Aspekte für die Analyse der Argumentationsstrategien eine gesonderte Beachtung erfahren sollen: Das ist zum einen der jeweilige Arbeitsbegriff, der von den Autoren entworfen und verwendet wurde, um bestimmte Positionen und Zielsetzungen deutlich zu machen; und zum anderen ist es die Frage danach, auf welche Weise einzelne Akteurinnen und Akteure (die Behandelten; die Pflegenden; die Ärzte) als Idealtypen konstruiert wurden, um diese mit entsprechenden argumentativen Funktionen besetzen zu können. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie und warum die Arbeitstherapie – die in erster Linie angetreten war, um auf das Individuum und die Anstaltsgemeinschaft positiv zu wirken – zum argumentativen Vehikel verschiedenster (politischer) Protagonistinnen und Protagonisten werden konnte? Wie und warum erreichte sie das „Außerhalb“ der Psychiatrie? 2. „VIEL ZU LANGE HABEN WIR HINTER DEN ANSTALTSMAUERN GEARBEITET.“6 ZUM HISTORISCHEN KONTEXT DER PSYCHIATRIE IN DER WEIMARER ZEIT „Jetzt weiß niemand was werden wird. Die erhöhten Taxen treiben die Kranken hinaus, die erhöhten Betriebskosten, Gehaltsanforderungen usw. treiben die Ausgaben in schwindende Höhen und die Finanzminister treiben notgedrungen eine Sparpolitik, welche am liebsten die Anstalten als scheinbar nicht produktive Betriebe auflassen möchte.“7

Wehmütig sehnte sich der Medizinalrat Walter Fuchs (1868–1941) in den Anfangsjahren der Weimarer Republik nach der goldenen Ära der Anstaltspsychiatrie, als diese noch „von den Gesichtspunkten des materiellen, hygienischen und ästheti5 6

Urs Germann, Psychiatrie und Strafjustiz. Entstehung, Praxis und Ausdifferenzierung der forensischen Psychiatrie in der deutschsprachigen Schweiz 1850–1950, Zürich 2004, 87. Zum Zitat vgl. [Eduard] Reiß, Die aktivere Beschäftigungsbehandlung der Heil- und Pflegeanstalten, in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 31/1929, Nr. 9, 105–111, hier: 106. Forschungen zur Psychiatrie der Weimarer Zeit bilden nach wie vor ein Forschungsdesiderat, auch wenn es einige wichtige, v. a. strukturgeschichtliche Arbeiten gibt, auf die ich mich in den folgenden Ausführungen beziehe: Hans-Ludwig Siemen, Menschen blieben auf der Strecke… Psychiatrie zwischen Reform und Nationalsozialismus (zugl. Univ.-Diss.), Gütersloh 1987 sowie Ders., Die Reformpsychiatrie der Weimarer Republik: Subjektive Ansprüche und die Macht des Faktischen, in: Franz-Werner Kersting / Karl Teppe / Bernd Walter (Hgg.), Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft im 20. Jahrhundert (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 7), Paderborn 1993, 98–108; Bernd Walter, Psychiatrie und Gesell-

Sozial- und gesellschaftspolitische Debatten um die psychiatrische Arbeitstherapie

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schen7Überflusses ihren blitzenden Stempelglanz erhielt“,8 wie er in Erinnerungen schwelgend formulierte. Und er war mit seinen Reminiszenzen an (scheinbar) bessere Zeiten nicht alleine. Doch diese Zeiten waren nun, nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, nach dem massiven Hungersterben in den Anstalten, nach den wirtschaftlichen Nöten und den politischen Umwälzungen – der Zusammenbruch der Monarchie, der Ausrufung der Republik, der Errichtung der parlamentarischen Demokratie, den bürgerkriegsähnlichen Zuständen auf den Straßen – ein für allemal besiegelt. Der Kaiser musste verrückt geworden sein, anders war diese Entwicklung für viele nicht zu erklären: Vor Kurzem war man noch freudig und siegessicher in den Krieg gezogen und nun stand man wie paralysiert vor den Trümmern der „Welt von gestern“9. Doch jene, die das Vergangene nach wie vor als Kompass der eigenen Verortung bedurften, ließen auch über den Kaiser nichts kommen. So stellte der Psychiater Emil Kraepelin (1856–1926) 1919 in seinen „Psychiatrische[n] Randbemerkungen zur Zeitgeschichte“ klar, dass „aus den bekannt gewordenen Wesenszügen Wilhelms II. ein Schluß auf das Bestehen einer ausgeprägteren geistigen Störung bei ihm schlechterdings nicht gezogen werden kann“.10 Bedenklicher schien dem renommierten Psychiater, angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse, die geistige Gesundheit des deutschen Volkes, das jenen Kaiser nicht mehr wollte und ihn zur Abdankung drängte. Dass der „gewaltige seelische Druck, der während der langen Kriegsjahre auf unserem Volke lastete, nicht ohne Wirkung auf sein inneres Leben bleiben konnte“, schien ihm allerdings „selbstverständlich“.11 Hier ortete Kraepelin die eigentliche Ursache für den „unerwarteten Zusammenbruch

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schaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 16; zugl. Habil.-Schrift), Paderborn 1996; darüber hinaus: Cornelia Brink, Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860–1980 (Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 20), Göttingen 2010; Werner Faulstich, Hungersterben in der Psychiatrie 1914–1949: mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, Freiburg i. Breisgau 1998, 69–100; Michael Burleigh, Death and Deliverance. ‚Euthanasia‘ in Germany c. 1900–1945, Cambridge u. a. 1994 (reprint 1995), 11–42; eine quellennahe Darstellung der Verhältnisse am Beispiel der Wittenauer Heilstätten findet sich in Thomas Beddies / Andrea Dörries (Hgg.), Die Patienten der Wittenauer Heilstätten in Berlin. 1919–1960 (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Bd. 91), Husum 1999, 52–76; zu gesundheitspolitischen Themen dieser Zeit allgemein, mit einem Exkurs zur Psychiatrie: Thomas Saretzki, Reichsgesundheitsrat und Preußischer Landesgesundheitsrat in der Weimarer Republik (zugl. Univ. Diss.), Berlin 2000, 446–468; zum Umgang mit den „Kriegsneurotikern“: Stephanie Neuner, Politik und Psychiatrie. Die staatliche Versorgung psychisch Kriegsbeschädigter in Deutschland 1920–1939 (zugl. Univ.-Diss), Göttingen 2011. W[alter] Fuchs, Wirtschaftliche Neurorientierung in der Anstaltspsychiatrie, in: PsychiatrischNeurologische Wochenschrift 24/1922 u. 1923, Nr. 1/2, 2–8, hier: 2. Ebda. Vgl. Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers (Orig. 1944), Frankfurt a. M. 1982. Emil Kraepelin, Psychiatrische Randbemerkungen zur Zeitgeschichte, in: Süddeutsche Monatshefte 10/1919, 171–183, hier: 172. Ebda., 173 f. Vgl. dazu David Freis, Die „Psychopathen“ und die „Volksseele“: Psychiatrische Diagnosen des Politischen und die Novemberrevolution 1918/19, in: Hans-Walter

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Monika Ankele

und die sich an ihn schließenden Umwälzungen“.12 Wenn das ganze Volk für pathologisch erklärt werden konnte, erweiterten sich damit die Zuständigkeitsbereiche der Psychiater nicht ins Unermessliche? Waren sie die neuen Führer, die das Volk brauchte? Immerhin schien auf die ursprünglichen „Führer“ sowie auf die „Massen“ kein Verlass mehr zu sein, haben doch diese die „Ruhe des Urteils und die Entschlossenheit des Willens“ unter dem Eindruck des Krieges augenscheinlich verloren.13 Doch bevor weitere Größenideen gesponnen und die Blicke in eine megalomanische Zukunft gerichtet wurden,14 holte die Nachkriegsrealität die Psychiatrie alsbald wieder ein. Denn bevor diese zur Rettung des Volkes antreten konnte, musste sie zuallererst sich selbst retten und ihre materielle Existenz und berufliche Legitimation sichern. Denn die Zustände in den Anstalten nach dem Ersten Weltkrieg waren verheerend: Der Hungertod Tausender Patientinnen und Patienten ab dem Kriegswinter 1916/17,15 den Emil Kraepelin als Erleichterung der „wirtschaftlichen Last“16 gedeutet wissen wollte – als ob die „unheilbaren Geisteskranken“ im Sterben liegend nichts anderes als endlich auch ihren „Dienst am Volk“ leisteten, wie die Soldaten in der Schlacht – hinterließ Misstrauen gegenüber den Psychiatern und, nicht zu Unrecht, gegenüber der Versorgung in den Anstalten; es hinterließ aber auch eine Vielzahl leerstehender Gebäude, die, wenn nicht zur Umnutzung, so zur Schließung einzelner Einrichtungen führte.17 Die Kritik am überdimensionierten Anstaltswesen, jenem Überbleibsel des Kaiserreichs, nahm zu, Anträge auf Entlassungen mehrten sich, Einweisungen gingen zurück. Als „Verwahranstalt“ hatte die Psychiatrie ganz offensichtlich ausgedient – im Vergleich zu den Verhältnissen vor dem Krieg gab es kaum noch etwas oder jemanden zu verwahren.18 Hans Roemer (1878–1947),19 seit 1921 Obermedizinalrat im badischen Ministerium des Innern, brachte die missliche Lage der Psychiatrie nach dem Ersten Weltkrieg auf den Punkt, wenn er in seinen Ausführungen zu den „sozialen Aufgaben des Irrenarztes“ explizierte, dass sich „[e]in verarmtes Staatswesen (…) eine Irrenanstalts-

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Schmuhl / Volker Roelcke (Hgg.), „Heroische Therapien“: Die deutsche Psychiatrie im internationalen Vergleich 1918–1945, 48–68. Kraepelin, Randbemerkungen, 175. Ebda. Zu den Bestrebungen, die Kompetenzen und Zuständigkeiten der Psychiater auszuweiten, vgl. u. a. [Gustav] Kolb, Inwieweit sind Änderungen im Betriebe der Anstalten geboten?, in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 21 u. 22/1920 u. 1921, 163–176, sowie allgemein die Diskussion um das Konzept der „offenen Fürsorge“. Vgl. dazu auch den Beitrag von Kai Sammet in diesem Band. Vgl. Faulstich, Hungersterben. Vgl. Kraepelin, Randbemerkungen, 175: „Mag auch hier im Augenblicke die wirtschaftliche Last, die unheilbare Geisteskranke bedeuten, erleichtert worden sein (…).“ Siemen schreibt, dass mehr als 100 Einrichtungen schließen mussten. Vgl. hier und im Folgenden: Siemen, Menschen, 33. Vgl. ebda.: Wurden 1913 noch 239.583 Personen in Anstalten verpflegt, so reduzierte sich diese Zahl bis 1919 auf 172.870. Zu Hans Roemer vgl. Anna Plezko, Handlungsspielräume und Zwänge in der Medizin im Nationalsozialismus: Das Leben und Werk des Psychiaters Dr. Hans Roemer (1878–1947), med. Diss., Gießen 2012.

Sozial- und gesellschaftspolitische Debatten um die psychiatrische Arbeitstherapie

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fürsorge, wie sie sich in den meisten Gebieten vor dem Kriege in breiter Ausdehnung entwickelt hatte, künftig nicht mehr leisten“ könne. Daraus erwachse dem Irrenarzt die Aufgabe, „an der dringlichen Vereinfachung der Irrenfürsorge von vornherein mitzuarbeiten, damit eine solche mit ihm und nach seinem sachverständigen Gutachten und nicht ohne ihn oder gar gegen ihn zustande kommt. Von dem Erfolg dieser Bemühungen wird es abhängen, ob unser hochentwickeltes Irrenwesen die volkswirtschaftlichen Erschütterungen einigermaßen glimpflich überstehen oder für lange Zeit auf überwundene Stufen seiner Entwicklung zurücksinken wird“.20

Gefragt war eine Profilierung der Psychiatrie, ein Zurückerlangen ihrer institutionellen Autorität, eine Neuorientierung psychiatrischen Handelns. Vor allem der wirtschaftliche Druck zwang die Anstaltsleiter, aktiv zu werden und nach entsprechenden Lösungskonzepten zu suchen, in denen das volkswirtschaftliche Gebot der Sparsamkeit und eine (nachweisbare) therapeutische Kompetenz ergänzend zueinander finden würden. Entsprechende Zielvorstellungen verlangten aber auch eine Anpassung der Psychiatrie an die veränderten politischen Gegebenheiten und damit eine Ausrichtung auf die zentralen Säulen des neu begründeten Sozialstaates:21 Dieser war vor allem auf die Arbeitsfähigkeit seiner Bürgerinnen und Bürger angewiesen, um die entsprechenden – und versprochenen – sozialen Leistungen erbringen zu können. In der Weimarer Reichsverfassung wurde es als „sittliche Pflicht“ formuliert, seine „geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert“.22 In diesem Sinne konnte therapeutisches Handeln, das auf die Wiederherstellung der Arbeitskraft bzw. auf eine raschere Rückführung der Patientinnen und Patienten in die erwerbstätige Gesellschaft gerichtet war, für Staat und Psychiatrie gleichermaßen von Bedeutung sein. Als Schlagwörter genannt seien in diesem Kontext die Entlastung des Staatshaushaltes, die Anpassung der Psychiatrie an Bedingungen des Sozialstaates, die Rückgewinnung des öffentlichen Vertrauens, die Legitimation therapeutischer Kompetenz. Zugleich konnte die Psychiatrie hier auf Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg aufbauen: Zum einen zeigte sich in dieser Zeit, dass die „Anstaltsbedürftigkeit (…) unter den Verhältnissen des Friedens überschätzt“ wurde, wie Hans Roemer konstatierte,23 und Entlassungen von Patientinnen und Patienten früher möglich waren, als lange Zeit angenommen. Zum anderen war psychiatrisches Handeln unter den Bedingungen des Krieges darauf ausgerichtet, die psychisch erkrankten Soldaten so rasch wie möglich wieder fronttauglich bzw. arbeitsfähig zu machen. Damit wurde im 20 21

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Hans Roemer, Die sozialen Aufgaben des Irrenarztes in der Gegenwart, in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 45 u. 46/1920 u. 1921, 343–351, hier: 344. Vgl. zu dieser These auch Walter, Psychiatrie und Gesellschaft, und Hans-Walter Schmuhl, Die Tücken der Reformpsychiatrie. Das Beispiel Westfalen 1920–1960, in: Michael Prinz (Hg.), Gesellschaftlicher Wandel im Jahrhundert der Politik. Nordwestdeutschland im internationalen Vergleich 1920–1960 (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 58), Paderborn u. a. 2007, 261–286. Die Verfassung des Deutschen Reiches („Weimarer Reichsverfassung“) vom 11. August 1919, Art. 163, 1 zit. n.: , 02.07.2014. Roemer, Aufgaben des Irrenarztes, 344.

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Ersten Weltkrieg der Grundstein für die Reformen der Psychiatrie in der Weimarer Zeit gelegt, wie der Historiker Hans-Ludwig Siemen ausführt.24 Es waren vor allem drei Konzepte, mit denen die Psychiatrie ab Mitte der 1920er Jahre eine Neuausrichtung unter den genannten Gesichtspunkten anstrebte: die „aktivere Krankenbehandlung“, die „Familienpflege“ und die „offene Fürsorge“. Alle drei Konzepte können als Versuche interpretiert werden, die engen Grenzen der Anstalt zu überwinden, indem sich die künftigen Ziele und Visionen psychiatrischen Handelns auf das Jenseits der Anstaltsmauern – auf die Gesellschaft, den Staat, die Bevölkerung – richteten und in diesem Sinne eine „moderne, effektive und ökonomische Form der Psychiatrie“25 repräsentierten, die sich nicht länger auf das Innerhalb der Anstaltsmauern beschränken lassen würde. „Die Sparpolitik und der ökonomische Druck auf die Psychiatrie wurden zum Vehikel der Reformer“, wie Siemen ausführt.26 Zugleich waren die genannten Konzepte Ausdruck einer Phase der Konsolidierung der Psychiatrie, die ab 1923/2427 – parallel zur (vorübergehenden) Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse der Weimarer Republik – einsetzte. In den Jahren der Konsolidierung ließ der politische Druck auf die Anstalten nach, die Psychiater gewannen merklich an Selbstvertrauen, die Anstaltsaufnahmen stiegen wieder, die durchschnittliche Verweildauer sank kontinuierlich.28 In den Jahren 1927 bis 1929, die im Fokus der folgenden Ausführungen stehen, erfuhren die genannten Konzepte eine breite Akzeptanz unter den Psychiatern sowie eine Ausweitung bzw. eine erweiterte Anwendung in den Anstalten. Das Ende der Reformära zeichnete sich ab 1929 ab, als auf die Weltwirtschaftskrise mit einem rigiden Sparprogramm reagiert wurde. Rassenhygienische Konzepte sowie eine Ausdifferenzierung zwischen jenen Patientinnen und Patienten, die (Arbeits-)Leistungen erbrachten und damit als therapiefähig galten, und jenen, die sich dem politisch-ökonomischen Diktat von Arbeit und Leistung nicht (mehr) beugen konnten oder wollten,29 prägten nun zunehmend psychiatrisches Denken und Handeln. 3. INTERDEPENDENTE EREIGNISSE: EINE VERLAUFSSKIZZE 1927 legte der Psychiater Hermann Simon (1867–1947) in einer ausführlichen Darstellung, publiziert in der „Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie“, seine Erfahrungen mit dem von ihm an der Wende zum 20. Jahrhundert in der Anstalt Warstein entwickelten und nach dem Ersten Weltkrieg in der Anstalt Gütersloh ausgebauten 24 25 26 27 28 29

Zur Bedeutung des Ersten Weltkrieges für die Psychiatrie vgl. Siemen, Menschen, v. a. 26–33. Siemen bezieht diese Formulierung auf das Konzept der offenen Fürsorge, es ist aber auch auf die anderen beiden Konzepte übertragbar, vgl. Siemen, Menschen, 47. Ebda. 48. Vgl. hier und im Folgenden: Ebda. Ebda. 61. Vgl. zu dieser Ausdifferenzierung unter den Bedingungen des Nationalsozialismus den Beitrag von Maike Rotzoll in diesem Band.

Sozial- und gesellschaftspolitische Debatten um die psychiatrische Arbeitstherapie

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Modell der Arbeitstherapie dar.30 Dieses sollte im Kontext der psychiatrischen Reformbestrebungen der Weimarer Zeit zu einer Ausweitung und Systematisierung der bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert praktizierten Anwendung von Arbeit und Beschäftigung als Heilmittel zur Behandlung psychisch Kranker führen. Ärzte, Politiker und Interessierte reisten nach Gütersloh, um sich vor Ort von den Erfolgen der Behandlungsmethode überzeugen zu lassen: Im Jahr 1927 erreichte die Anzahl an Besuchern bzw. Besuchergruppen in Gütersloh ihren vorläufigen Höhepunkt.31 1929 wurde Simons Text – um einen weiteren Teil mit dem Titel „Erfahrungen und Gedanken eines praktischen Psychiaters zur Psychotherapie der Geisteskrankheiten“ ergänzt32 – in dem vielfach zitierten Buch „Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt“ einem breiteren Fachpublikum zugänglich gemacht.33 Ebenfalls im Jahr 1927 wurden von gewerkschaftlicher Seite zwei Schriften verfasst, die sich beide der in den Heil- und Pflegeanstalten praktizierten Arbeitstherapie widmeten: Das war zum einen die von der Reichssektion Gesundheitswesen im Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter verfasste 12-seitige „Denkschrift zur Frage der ‚Arbeitstherapie‘ in den Heil- und Pflegeanstalten Deutschlands mit besonderer Berücksichtigung der ‚pflegerlosen Abteilungen‘“34 sowie zum anderen die 56 Seiten umfassende Broschüre mit dem Titel „Die Beschäftigungstherapie in den Heil- und Pflege-Anstalten“,35 die vom „Deutschen Verband für die berufliche Kranken- und Wohlfahrtspflege“ herausgegeben wurde. Während die Reichssektion Gesundheitswesen eine Unterorganisation der Freien – und damit den Arbeiterparteien nahestehenden – Gewerkschaften36 war, war letzterer an den Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften angegliedert. In den beiden Schriften wurden jeweils unterschiedliche Schwerpunkte der Arbeits- bzw. Beschäftigungstherapie ausgearbeitet und vor allem die in der Denkschrift formulierten Kritikpunkte sollten nicht ohne Folgen bleiben: Sie wurden 1928 im Reichstag diskutiert. Darüber hinaus wurde, 30 31 32

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Hermann Simon, Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 87/1927, 97–145. Vgl. Walter, Psychiatrie und Gesellschaft, 264: Das dargestellte Diagramm zeigt die Anzahl der Besucherinnen und Besucher in Gütersloh zwischen 1924 und 1933, erstellt nach dem Gästebuch. Der zweite Teil des Buches stellte den Versuch dar, die „aktivere Therapie“ in biologische und psychologische Zusammenhänge einzuordnen. Wie Walter formuliert, erhielt dieser Ansatz seine besondere Brisanz dadurch, dass darin „die Zielrichtung psychiatrischen Handelns mit der allgemeinen Entwicklung der menschlichen Kultur und Zivilisation“ verknüpft wurde, vgl. Walter, Psychiatrie und Gesellschaft, 268, zu Simons Ansatz der Psychiatrie als angewandte Biologie vgl. ebda., 267–280. Hermann Simon, Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt (Werkschriften zur Sozialpsychiatrie, Bd. 41; Nachdruck aus dem Jahre 1929), Bonn 1986. Staatsarchiv Hamburg (StAHH) 352–3, Sig. II L 15: Denkschrift zur Frage der „Arbeitstherapie“ in den Heil- und Pflegeanstalten unter besonderer Berücksichtigung der „pflegerlosen Abteilungen“ (hg. v. der Reichssektion Gesundheitswesen im Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter), Berlin 1927. Deutscher Verband für die berufliche Kranken- und Wohlfahrtspflege (Hg.), Die Beschäftigungstherapie in den Heil- und Pflege-Anstalten, Köln 1927. Vgl. Walter, Psychiatrie und Gesellschaft, 291.

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ebenfalls ausgelöst durch die Denkschrift, vom Reichsministerium des Innern eine Stellungnahme zur Arbeitstherapie in Auftrag gegeben, die von den zu dieser Zeit renommierten Psychiatern Gustav Kolb (1870–1938), Wilhelm Weygandt (1870– 1939), Robert Sommer (1864–1937) und den bereits genannten Hans Roemer und Hermann Simon im Namen des „Deutschen Verbandes für psychische Hygiene“37 verfasst werden sollte. Des Weiteren forderte der Reichstag die Länder und Provinzen auf, Erfahrungsberichte über die Anwendung der Arbeitstherapie in den Heilund Pflegeanstalten einzuholen, um sich ein Urteil über Vor- und Nachteile der praktischen Anwendung dieser therapeutischen Maßnahme bilden zu können.38 In Hamburg wurde die Arbeitstherapie in diesen Jahren zur Zielscheibe kommunistischer Agitation: Berichte, die von Patienten psychiatrischer Einrichtungen verfasst wurden und Überschriften wie „Schreckenstation Langenhorn“39, „Wir verblöden hier völlig“40 oder „Was man unter Arbeitstherapie versteht“41 trugen, wurden in kommunistischen Zeitungen veröffentlicht und sollten Argumente für einen politischen Umsturz liefern. Doch auch andere Zeitungen, wie das Hamburger Fremdenblatt, berichteten in ausführlichen Beiträgen über die Arbeitstherapie und illustrierten ihre überwiegend positiven Darstellungen mit Bildern aus dem Arbeitsalltag der Patientinnen und Patienten. 42 Diese Entwicklungen sollen im Folgenden anhand ausgewählter Quellentexte skizziert und abschließend am Beispiel Hamburgs lokalgeschichtlich kontextualisiert werden.

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Zu Aufgaben und Zielen des Verbandes vgl. Siemen, Menschen, 89–94 und Walter, Psychiatrie und Gesellschaft, 286–296; zu den Inhalten der ersten Tagung des Verbandes vgl. Hans Roemer (Hg.), Bericht über die Erste Deutsche Tagung für Psychische Hygiene in Hamburg am 20. September 1928 (Veröffentlichungen des Deutschen Verbandes für Psychische Hygiene), Berlin u. a. 1929. Siehe dazu die Erfahrungsberichte unterschiedlicher deutscher Anstalten unter der Signatur HA Rep. 76 VIII B Nr. 1851 im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin sowie die Erfahrungsberichte deutscher und holländischer Anstalten unter den Signaturen 926/144 bis 926/152 im Archiv des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) im Nachlass von Hermann Simon. StAHH 352–3, Sig. II L 15: Zeitungsausschnitt: [o. V.], Schreckenstation Langenhorn, in: K. P. D. Wahlzeitung Nr. 3 (14.11.1929), o. S. StAHH 352–3, Sig. II L 15: Zeitungsausschnitt: [o. V.], Wir verblöden hier völlig, in: Hamburger Volkszeitung Nr. 106 (30.06.1931), o. S. StAHH 352–3, Sig. II L 15: Zeitungsausschnitt: [o. V.], Was man unter Arbeitstherapie versteht, in: Hamburger Volkszeitung Nr. 258 (05.11.1931), o. S. StAHH 352–8/7, Sig. 166: Zeitungsausschnitt: Erna Satz, Werktätigkeit in der Staatskrankenanstalt Langenhorn, in: Hamburger Fremdenblatt Nr. 341 (10.12.1927, Abendausgabe), 20. 352–3, Sig. II L 15: Zeitungsausschnitt: [o. V.], Die Staatskrankenanstalt Langenhorn, in: Hamburger Anzeiger 32/1929 (Illustrierte Wochenbeilage), o. S.

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4. DEBATTEN UM DIE ARBEITSTHERAPIE: EINE CHRONOLOGIE DER EREIGNISSE IN DEN JAHREN 1927 UND 1928 1927: Hermann Simon stellt in der „Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie“ die „Aktivere Krankenbehandlung“ vor 1927 erschien in der „Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie“ ein ausführlicher Text von Hermann Simon über die „aktivere Krankenbehandlung“.43 Er bezog sich darin auf Vorträge, die er in den Jahren zuvor im In- und Ausland gehalten hatte und in denen er von seinen praktischen Erfahrungen mit der Arbeitstherapie in der von ihm geleiteten Anstalt Gütersloh berichtete, die 1919 eröffnet wurde. Zwar fanden arbeitstherapeutische Ansätze seit langer Zeit Anwendung in den Heil- und Pflegeanstalten, doch schienen sie gerade in den 1920er Jahren, unter den veränderten politischen und ökonomischen Verhältnissen, Lösungskonzepte für die Anforderungen der Zeit anzubieten und wurden, angefacht durch Simons Entwurf einer „aktiveren Krankenbehandlung“, erneut intensiv diskutiert. Simon führte zwei wesentliche Neuerungen der arbeitstherapeutischen Behandlung ein, mit dem sein Konzept beispielhaft für die Weimarer Zeit werden sollte: Zum einen betraute Simon nicht nur rekonvaleszente oder chronisch kranke Patientinnen und Patienten mit ausgewählten Arbeiten, wie es bislang in den Anstalten üblich war, sondern auch Kranke, die sich in einem akuten Krankheitsstadium befanden. Zum anderen ging Simon dazu über, die Arbeitstherapie entsprechend der Leistungsfähigkeit der Kranken zu systematisieren. Er entwickelte hierfür ein fünfstufiges System. Jeder Stufe wurden entsprechende Arbeiten zugeordnet, beginnend bei „allereinfachsten Betätigungen ohne jede Anforderung an Selbständigkeit und Aufmerksamkeit“, bis hin zu Arbeiten, die die „volle normale Leistungsfähigkeit eines Gesunden aus gleichem Stande“ erfordern.44 Die letzte Stufe sollte in eine versuchsweise Entlassung übergehen. Bei der Auswahl der Arbeiten sollte sich der Arzt an der oberen Grenze der Leistungsfähigkeit der Kranken orientieren, nur so könne die Therapie ihre Wirksamkeit entfalten und den Kranken die Rückführung in ein selbstständiges und selbstverantwortliches Leben außerhalb der Anstaltsmauern ermöglichen. Orientierte sich der erste Teil seiner Ausführungen über die „aktivere Krankenbehandlung“, wie sie 1927 publiziert wurde, an den praktischen Erfahrungen der Arbeitstherapie, so lieferte Simon 1929 eine sozial-darwinistische Theorie seines Ansatzes nach, die auch als Entwurf einer Gesellschaftstheorie gelesen werden kann, mit dem er den Nerv der Zeit zu treffen schien. „Erziehung“ wurde zu einem Schlüsselbegriff seiner „psychischen Therapie“, wobei die Beschäftigung einen elementaren Teil dieser „Erziehungsarbeit“ darstellte: „Erziehung des Kranken mit dem Ziele, ihm den Willen und die Kraft zu einer geordneten und nützlichen Selbstführung wieder zu verschaffen“,45 um sich an die Notwendigkeiten des Gemeinschaftslebens anzupassen, um den eigenen Willen dem Willen der Gemeinschaft unterzuordnen, um Ins43 44 45

Hermann Simon, Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 87/1927, 97–145. Simon, Aktivere Krankenbehandlung, 27. Ebda., 34.

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tinkte, Triebe und Affekte zu unterdrücken.46 Ein normiertes Subjekt, das sich widerstandslos in den Rhythmus der Gemeinschaft einfüge, sollte – als Reaktion auf die politische Heterogenität des demokratischen Staates, auf die Unordnung einstmals als geordnet empfundener sozialer Verhältnisse? – geschaffen werden. Ohne Erziehung sei der Mensch – nicht nur der psychisch erkrankte – unsozial, egoistisch, rücksichtslos, brutal; jede Erziehung sei daher ein Kampf „um die Einfügung des biologisch-widerstrebenden Einzelwesens in die Notwendigkeiten des Gemeinschaftslebens“.47 Für Simon waren es weniger die Psychosen, als überwiegend die „Versäumnisse der Kinderstube“, die die „häßlichsten Krankheitsbilder“ hervorbrachten und gestalteten. Die Patientinnen und Patienten setzte er mit „ungezogenen Kindern“ gleich. Erst wenn diese für ihr Tun und Handeln wieder zur Verantwortung gezogen wurden – denn lange Zeit herrschte in der Psychiatrie der Grundsatz, dass die Kranken für ihr Tun und Handeln unverantwortlich sind –, könnten sie aus ihren Erfahrungen lernen und ihr Verhalten am Gemeinschaftssinn – worüber sich dieser auch immer definieren möge – ausrichten und diesem anpassen. Die Krankheit zu überwinden, erschien in diesem Konzept vordergründig als eine Frage der Willensstärke. Auch wenn Simon selbst den Begriff der „Arbeit“ bisher vermied, da er des Öfteren zu einer Diskreditierung der therapeutischen Bemühungen der Psychiater führte, so wollte er in seinen Ausführungen diesen Begriff – im Gegensatz zum Begriff der Beschäftigung – wieder stark machen, da „nur in der Arbeit, in kämpfender Betätigung ums Dasein, die Grundlage unserer Kraft und unseres menschenwürdigen Daseins liegt“.48 Erst der Begriff der „Arbeit“ macht deutlich, dass auch das Tätigsein der Patientinnen und Patienten, der erkrankten Bürgerinnen und Bürger, in dem gemeinsamen „Kampf ums Dasein“49 verankert ist, an dem jede und jeder, obwohl mit unterschiedlichen Möglichkeiten ausgestattet, so doch zu gleichen Teilen beteiligt ist und vor allem: beteiligt sein muss. Krankheit enthebt nicht von (der Pflicht der Teilnahme an) diesem „Kampf ums Dasein“. Kritisch äußerte sich Simon gegenüber jenen, die dem Begriff der „Arbeit (…) feindselig eingestellt“ sind und die es „für das größte Unglück [halten], zur Arbeit verdammt und für die größte Seligkeit, von jeder Notwendigkeit einer Arbeit befreit zu sein“.50 Für Simon begründete erst die Arbeit den „Menschenwert des Kranken“: Erst über das Tätigsein erhalte der Kranke seinen Wert als Mensch in dem Sinne, dass er erst über das Tätigsein Teil der Gemeinschaft – und/ weil für dieselbe von Nutzen – wird. Der Nutzen des Individuums definierte sich demzufolge über den Nutzen, den es für die Gemeinschaft hatte und für diese erbrachte. Das Konzept des Sozialstaates, der auf der Erwerbstätigkeit des Einzelnen 46 47 48 49

50

Ebda., 67. Ebda., 71. Ebda., 43. Die Formulierung „Kampf ums Dasein“ verwendet u. a. auch Kraepelin in Anlehnung an Charles Darwin (1809–1882), vgl. Eric J. Engstrom, Emil Kraepelin – Leben und Werk des Psychiaters im Spannungsfeld zwischen positivistischer Wissenschaft und Irrationalität, (Magisterarbeit) München 1990, in: , 24.11.2013. Simon, Aktivere Krankenbehandlung, 43.

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basierte, verstärkte, vor allem in Zeiten der Krise, diese ideologische Gewichtung, die in ihrer menschenverachtenden Form ihren Höhepunkt im Nationalsozialismus finden sollte.51 Sommer 1927: Die Gewerkschaften reagieren auf die Praxis der Arbeitstherapie I. Der „Deutsche Verband für die berufliche Kranken- und Wohlfahrtspflege“ publiziert eine Broschüre über „Die Beschäftigungstherapie in den Heil- und Pflege-Anstalten“ Im Juli 1927 erschien die vom „Deutschen Verband für die berufliche Kranken- und Wohlfahrtspflege“52 herausgegebene Broschüre zum Thema „Die Beschäftigungstherapie in den Heil- und Pflegeanstalten“, die aus einer Sondernummer der Zeitschrift „Deutsche Krankenpflege“ hervorgegangen war. 1919 zählte der Verband, die Konkurrenzorganisation der weitaus größeren Reichssektion Gesundheitswesen, 2.500 Mitglieder und wurde 1920 dem christlichen „Gesamtverband deutscher Beamtengewerkschaften“ angeschlossen.53 Wie die Reichssektion Gesundheitswesen forderte auch der Verband die soziale und wirtschaftliche Besserstellung des Pflegepersonals sowie die Professionalisierung des Pflegeberufs. So deckten sich einige Ansichten der beiden Organisationen zur Frage der Arbeitstherapie – wenn auch in der Broschüre der christlichen Gewerkschaft der „hohe Wert und die Bedeutung der Methode“54 stärker betont wurden. Ziel der Broschüre war es, am Beispiel der „aktiveren Therapie“ praxisnah über die „Fortschritte in der Irrenbehandlung und Irrenpflege“55 zu informieren und „neue Freunde“ für die Beschäftigungsbehandlung zu gewinnen.56 Eine besondere Herausforderung wurde darin gesehen, dass als Autoren der elf Beiträge Ärzte, Pflegekräfte und Handwerksmeister zusammengeführt werden konnten, die aus unterschiedlichen, doch sich ergänzenden Perspektiven von ihren Erfahrungen mit der Arbeitstherapie berichteten.57 Dies war 51 52

53 54 55 56 57

Zur Arbeitstherapie im Nationalsozialismus vgl. den Beitrag von Maike Rotzoll im vorliegenden Band. Zur Geschichte des Verbandes vgl. Christian Ley, Beiträge der Reichssektion Gesundheitswesen im Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter zur Professionalisierung der Pflege zwischen 1918 und 1933, Dipl. Arb., Münster [o. J.], in: , 10.11.2013, 70 f. Georg Streiter, in: Gerechte der Pflege, in: , 24.11.2013. Carl Wickel, Vorwort, in: Deutscher Verband für die berufliche Kranken- und Wohlfahrtspflege (Hg.), Die Beschäftigungstherapie in den Heil- und Pflege-Anstalten, Köln 1927, 5–6, hier: 6. Emil Kandzia, [Vorwort zur Broschüre], in: Die Beschäftigungstherapie in den Heil- und Pflege-Anstalten, Köln 1927, o. S. Wickel, Vorwort, 6. Die Ärzte, die als Autoren der Broschüre fungierten, waren Sanitätsrat Dr. Carl Wickel (1870– 1949), Direktor des Landeshospitals Haina, Hessen, Sanitätsrat Dr. [Johannes] Herting (1863?), Düsseldorf-Grafenberg, Dr. [Franz] Sioli (1882–1949), Düsseldorf; vgl. Alma Kreuter, Deutschsprachige Neurologen und Psychiater. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon von den Vorläufern bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, 3 Bde., München 1996. Die Autoren

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umso bemerkenswerter, da sich vor allem in den Anfangsjahren der Weimarer Republik – ausgelöst durch eine erstarkte Arbeiterschaft, durch das Einsetzen von Betriebsräten, durch Tarifverhandlungen und Arbeitsniederlegungen in den Anstalten – die Fronten zwischen den Pflegenden und den Ärzten mehr und mehr verhärteten. Dass in der Broschüre Pfleger gleichberechtigt neben Ärzten zu Wort kamen, war Ausdruck der Intention der Herausgeber, die eine stärkere Zusammenarbeit zwischen beiden Berufsgruppen sowie eine Aufwertung des Pflegeberufs anstrebten. Begründet wurde dies mit der Arbeitstherapie, durch die sich das Aufgabenfeld und damit auch der Verantwortungsbereich der Pflegenden ausgeweitet hätten, die im Umgang mit den Kranken nun nicht „nur“ als Pfleger, sondern auch als Erzieher, Lehrer, Psychologe und Pädagoge fungieren sollten. Sie mussten die Kranken bei den jeweiligen Arbeiten anleiten, anlernen, motivieren und korrigieren. Dies setzte ein bestimmtes Wissen voraus, das die Durchführung der Arbeiten (seien es landwirtschaftliche, häusliche oder handwerkliche) genauso umfasste wie die Vermittlung der einzelnen Arbeitsschritte, das Einführen der Kranken in den Arbeitsrhythmus – und damit über den bisherigen Aufgabenbereich der Pflegerinnen und Pfleger weit hinausging. Kritische Äußerungen zu dieser Entwicklung finden sich in der Broschüre nur vereinzelt. So merkte der Pfleger Rieger aus der Anstalt Süchteln an, dass durch die Arbeitstherapie „der ohnehin schon schwere Beruf gewiß nicht erleichtert“58 werde, und dennoch das Pflegepersonal „sowohl was Entlohnung, Arbeitszeit und gesellschaftliche Stellung anbelangt, nicht die Position einnimmt, die ihm auf Grund der geforderten Leistungen zukommt“.59 Bewusst entschieden sich die Herausgeber der Broschüre bei der Wahl des Titels für die Bezeichnung „Beschäftigungsbehandlung“. Die Bezeichnung „Arbeitstherapie“ grenze den Fokus der Aktivitäten, die von ärztlicher und pflegerischer Seite zum Wohl der Kranken unternommen werden, zu sehr ein und erwecke den Eindruck, „als würde nunmehr alles Heil von der Arbeit allein erwartet und als wäre man auf dem besten Wege, die Krankenhäuser für Geisteskranke in Arbeitshäuser zu verwandeln“.60 Um das zu vermeiden, gab es auch den Vorschlag, von „Ablenkungstherapie“ zu sprechen, da die Arbeit vor allem Ablenkung von der Fokussierung auf das eigene Innere schaffen solle.61 Dies könne aber nur eine Arbeit gewährleisten, die nicht mechanisch durchgeführt werde. In einer mechanischen Verrichtung der Arbeit wurde eine „große Gefahr“ gesehen, denn diese verhindere, dass die Beschäftigungstherapie, die durch eine (den Körper und den Geist) anre-

58 59 60 61

waren in folgenden Anstalten tätig: Düsseldorf-Grafenberg, Düsseldorf, Haina, Bonn, Frankfurt a. M., Marburg, Marsberg, Süchteln, Eickelborn, Göttingen, Gütersloh. [?] Rieger, Die Beschäftigungstherapie und das Pflegepersonal, in: Deutscher Verband für die berufliche Kranken- und Wohlfahrtspflege, 27–31, hier: 27. Ebda., 31. [Carl] Wickel, Betätigungsbehandlung, in: Deutscher Verband für die berufliche Kranken- und Wohlfahrtspflege, 42–47, hier: 42. Hier und im Folgenden: R. Mayerhofer, Die Beschäftigungstherapie in der Theorie, in: Deutscher Verband für die berufliche Kranken- und Wohlfahrtspflege, 11–13, hier: 11; [Johannes] Herting, Zur Geschichte der Beschäftigungstherapie, in: Deutscher Verband für die berufliche Kranken- und Wohlfahrtspflege, 7–10, hier: 12.

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gende Tätigkeit innerliche Befriedigung schaffen soll, ihr heilendes Potenzial entfaltet.62 Um therapeutisch wirken zu können, musste gewährleistet sein, dass die ausgewählte Arbeit den Kranken auch sinn- und identitätsstiftende Elemente offerierte63 – es sei daher naheliegend, die Kranken mit Arbeiten zu betrauen, die „ihrem Berufe entsprechen“, da ihnen dadurch ein gewisses Maß an Sicherheit und Vertrautheit geboten werde, wodurch die Behandelten auch „dem ärztlichen Einfluß“ zugänglicher werden.64 Die Arbeit sei allerdings – und hier folgte man dem Ansatz Simons – nur der Teilaspekt einer Gesamttherapie im Sinne einer umfassenden Erziehung der Kranken. Nicht allein auf die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, sondern auf die Abgewöhnung aller „üblen Angewohnheiten“, müsse sich therapeutisches Handeln richten. Für diejenigen Patientinnen und Patienten, die unheilbar erkrankt sind, gelte es, zu verhindern „daß sie immer tiefer sinken, und erreichen, daß sie Menschen und sozial brauchbar bleiben oder wieder werden“.65 Ziel der Therapie sei es, aus dem Kranken „ein nützlich schaffendes Mitglied der Gesellschaft zu machen“.66 Insofern sollten sich die erzieherischen Bestrebungen darauf richten, den Willen bzw. das Pflichtgefühl zur Arbeit, das einem natürlichen Trieb des Menschen entspreche, wieder zu wecken.67 Die Beschäftigungstherapie wurde für die christliche Gewerkschaftsorganisation zu einem wichtigen Argument für eine Aufwertung und soziale wie wirtschaftliche Besserstellung des Pflegeberufs. In diesem Punkt stimmte sie mit der Reichssektion Gesundheitswesen überein, auch wenn sie in der Formulierung ihrer Interessen wesentlich zurückhaltender und kompromissbereiter schien. Primäres Ziel der Broschüre war es schließlich auch, die Öffentlichkeit an der Neuorientierung des „Irrenwesens“ teilhaben zu lassen – eine Aufgabe, die vor allem in der Zeit der Weimarer Republik von zunehmender Bedeutung für die Psychiater wurde.68 II. Die „Reichssektion Gesundheitswesen“ kritisiert die „Auswüchse der Arbeitstherapie“69 Ebenfalls im Sommer 1927 verfasste Paul Levy im Namen der Reichssektion Gesundheitswesen eine Denkschrift zur Frage der Arbeitstherapie.70 Die Reichssektion Gesundheitswesen im Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter war den 62 63 64 65 66 67 68 69 70

W. Böttcher, Die Beschäftigungstherapie und die Kranken, in: Deutscher Verband für die berufliche Kranken- und Wohlfahrtspflege, 23–26, hier: 25. Vgl. dazu den Beitrag von Mathias Wirth in diesem Band. Böttcher, Beschäftigungstherapie, 26. Ebda., 45. Mayerhofer, Beschäftigungstherapie, 12. Meine Hervorhebung. Ebda., 12. Vgl. u. a. Reiß, Die aktivere Beschäftigungsbehandlung. In der „Sanitätswarte“ 19/1929, Nr. 19 schrieb Levy, dass die Denkschrift im Sommer 1927 herausgegeben wurde. Vgl. dazu auch die Ausführungen zur Reichssektion Gesundheitswesen im Zusammenhang mit dem „Deutschen Verband für psychische Hygiene“ bei Walter, Psychiatrie und Gesellschaft, 286–296.

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Freien Gewerkschaften angegliedert und fungierte als Interessensvertretung des Pflegepersonals: Im Jahr 1927 zählte sie 36.582 Mitglieder und stellte damit 16,3 % der Mitglieder des Gesamtverbandes.71 Die Denkschrift warf die Frage auf, ob der Durchführung der Arbeitstherapie nicht „gewisse Schranken zu setzen“ seien und ob nicht gegen „die vielfach vorhandenen Auswüchse derselben“ von politischer Seite vorgegangen werden müsse.72 Da aus Sicht der Reichssektion die Arbeitstherapie auch ethische, hygienische, sozialpolitische und volkswirtschaftliche Fragen berührte, sollten entsprechende Experten aus den genannten Bereichen in eine Beurteilung der Behandlungsmethode miteinbezogen und sie damit der Ausschließlichkeit psychiatrischer Expertise und Zuständigkeit enthoben werden. Die in der Denkschrift formulierten Kritikpunkte basierten auf den Berichten einer Studienkommission,73 die verschiedene Anstalten Deutschlands besucht hatte, um die Arbeitstherapie „an der Quelle zu studieren“. Im Fokus der Denkschrift standen die Verhältnisse in der „größten Anstalt Deutschlands“, der 1912 eröffneten Rheinischen Provinzial- Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau, in der 1927 2.600 Kranke untergebracht waren und in der die Arbeitstherapie intensiv Anwendung fand. So äußerte Levy, dass eine private Kartonnagenfabrik der Anstalt Bedburg-Hau Maschinen für die fabrikmäßige Produktion von Verpackungskartons zur Verfügung gestellt hatte, an denen die Kranken – ohne Entlohnung – arbeiteten, während in besagter Fabrik die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer wegen Mangel an Arbeitsaufträgen gekürzt und einige von ihnen entlassen worden waren. Daran knüpften sich weitere Kritikpunkte an: Zum einen, dass gewerbliche Produkte hergestellt wurden, die nicht für den Eigenbedarf der Anstalt gedacht waren; zum anderen, dass es keine „hygienische[n] und sonstige[n] gesetzliche[n] Schutzbestimmungen“ für die Kranken gab: Weder wurden die Arbeitsräume auf hygienische Standards hin kontrolliert, noch waren die Kranken, die an Maschinen oder mit Werkzeugen arbeiteten, gegen Unfälle versichert. Dasselbe galt für das Pflegepersonal, das ebenfalls von der Reichsunfallversicherung ausgenommen war,74 sich aber auf Grund der Ausweitung der Arbeitstherapie einer erhöhten Unfallgefahr ausgesetzt sah. Hier, wie auch bei der Forderung nach Aufstockung des Pflegepersonals, war das Arbeiten der Kranken mit Werkzeugen oder an Maschinen, das eine erhöhte Aufmerksamkeit und bessere Ausbildung vom Personal erforderte, ein wichtiges Argument. So lautete die Entschließung der Reichssektion: „Verbot der Herstellung industrieller Produkte, soweit sie nicht dem Eigenbedarf der Anstalten dienen“, „Gewährung 71 72 73 74

Marie Friedrich Schulz, Werden und Wirken der Reichssektion Gesundheitswesen im Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter (Schriften zur Aufklärung und Weiterbildung, Nr. 40), Berlin [ca. 1927 – eher 1928], 65. Vgl. hier und im Folgenden: StAHH 352–3, Sig. II L 15: Denkschrift zur Frage der „Arbeitstherapie“. Aus den Quellen geht nicht hervor, wer zu dieser Studienkommission gehörte und welche Anstalten sie besuchte. Das Unfallversicherungsgesetz, das eine soziale Absicherung in Folge eines Betriebsunfalls gewähren sollte, trat am 01.10.1885 in Kraft und richtete sich bei seiner Einführung nur auf einzelne Betriebe und Gewerbe. Die Krankenanstalten waren von der Versicherung ausgeschlossen.

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bestimmter Garantien für Kranke und Personal bei Betriebsunfällen im Mindestausmaß der reichsgesetzlichen Unfallversicherung“, „Unterlassung jeder Strafe für Kranke, die nicht freiwillig an der Arbeit teilnahmen“ – u. a. wurde auch die Praxis kritisiert, dass nicht arbeitende Kranke weniger Essensbeilagen erhielten –, „Durchführung der staatlichen Ausbildung und Prüfung und Vermehrung des Personals zum Zwecke der Erreichung größerer Sicherheit“, „Festsetzung einer Arbeitszeit, die den erhöhten Anforderungen, die an das Personal gestellt werden, Rechnung trägt“, „Beseitigung der pflegerlosen Abteilungen“75 und aus hygienischen Gründen „[k]eine Verwendung von Kranken bei der Zubereitung oder Herstellung von Lebensmitteln“. Die Arbeitstherapie eröffnete der Reichssektion Gesundheitswesen eine argumentative Grundlage, um die von ihr seit langer Zeit formulierte Forderung nach einer Professionalisierung des Pflegeberufs und einer Einbindung des Pflegepersonals in die Reichsunfallversicherung zu untermauern. Beispiele aus dem Anstaltsalltag sowie Unfallberichte, die in der „Sanitätswarte“, der „Zeitschrift für das Personal in Kranken-, Pflege- und Irren-Anstalten, Kliniken, Sanatorien, Bade- und Massage-Instituten, Seebädern“,76 oder den vom Verband herausgegebenen „Schriften zur Aufklärung und Weiterbildung“77 veröffentlicht wurden, sollten die Notwendigkeit der Umsetzung ihrer Forderungen anschaulich machen: Darin wurde ein spezifisches Bild der Patientinnen und Patienten konstruiert, das diese als gefährlich, gewaltbereit, unkontrolliert, als selbst- und fremdgefährdend darstellte, um so die Dringlichkeit einer Aufnahme der Pflegenden in die Reichsunfallversicherung zu unterstreichen. Die Patientinnen und Patienten waren in dieser Argumentation nur mehr Mittel zum Zweck.

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Zur Diskussion um die pflegerlosen Abteilungen vgl. Saretzki, Reichsgesundheitsrat, 461–468. Erste Versuche, pflegerlose Abteilungen einzurichten, unternahm Otto Mönkemöller (1867– 1930) ab 1925 in der Heil- und Pflegeanstalt Hildesheim, die er ab 1919 leitete. Von Seiten der Pflegenden wurde befürchtet, dass es im Zuge der Einführung pflegerloser Abteilungen zu einem Personalabbau kommen würde. In der „Sanitätswarte“, dem vierzehntägig erscheinenden „Organ des Verbandes der Gemeindeund Staatsarbeiter“ (ab 1928: „Organ der Reichssektion Gesundheitswesen und des Reichsbundes der Beamten und Angestellten“), wurden zahlreiche Berichte veröffentlicht, in denen „eine Reihe von ‚Unglücksfällen‘, die auf das Konto dieser übertrieben und rücksichtslos angewandten Heilmethode [der Arbeitstherapie, M. A.]“ gingen, „an das Licht der Oeffentlichkeit gebracht“, vgl. Paul Levy, Arbeitstherapie und pflegerlose Abteilungen vor den deutschen Parlamenten, in: Sanitätswarte. Zeitschrift für das Personal in Kranken-, Pflege- und Irren-Anstalten, Kliniken, Sanatorien, Bade- und Massage-Instituten, Seebädern, 28/1928, Nr. 4, S. 57–60, hier: 57. Oskar Kurpat, Die Unfallgefahren des Krankenpflegepersonals und die Unfallversicherungsgesetzgebung (Schriften zur Aufklärung und Weiterbildung, Nr. 21), Berlin [1927], vgl. v. a. den Abschnitt „Unfälle durch Angriffe Geisteskranker“, 19–31.

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1928: Die Politik reagiert – Debatten über die Arbeitstherapie im Reichstag, ein Gutachten und seine Folgen I Im Februar 1928 wurde die Arbeitstherapie im Reichstag bei der Beratung des Etats des Reicharbeitsministeriums auf Antrag der sozialdemokratischen Fraktion behandelt:78 Da es aus sozialdemokratischer Sicht u. a. um Fragen des Arbeitsschutzes ging, sollte die Anfrage beim Reichsarbeitsministerium und nicht beim Reichsgesundheitsamt vorgebracht werden79 – eine nicht unwesentliche Verlagerung von Zuständigkeiten, die auch der Arbeitstherapie eine neue Gewichtung geben und unterstreichen sollte, dass sie nicht nur gesundheitspolitische Belange im engeren Sinne, sondern auch Fragen des Arbeitsschutzes und des Arbeitsrechtes berührte. In ihren Ausführungen und ihrer Kritik orientierte sich die sozialdemokratische Abgeordnete Clara Bohm-Schuch (1879–1936) deutlich an der von der Reichssektion Gesundheitswesen verfassten Denkschrift. Ihre Argumente bauten auf einer Differenzierung und Abgrenzung der „gesunden Arbeiter“ von den arbeitenden Patientinnen und Patienten auf, da – wie die Entwicklungen in einzelnen Regionen zeigten – Letztere auf dem Arbeitsmarkt zunehmend als Konkurrenz gegenüber den „gesunden“ Arbeiterinnen und Arbeitern wahrgenommen wurden, eine Tendenz, die sich unter dem Einfluss der Weltwirtschaftskrise sowie im Nationalsozialismus noch verstärken sollte. Als „Interessensvertretung“ ursprünglich aller Arbeitender, entschied sich die SPD hier den Interessen der „gesunden“ Arbeiterinnen und Arbeitern – und damit der stimmenstärkeren Gruppe – Vorzug zu geben. BohmSchuch legte in ihren Ausführungen dar, dass die Kranken in den Anstalten durch die industrielle Produktion im Rahmen der Arbeitstherapie zu einer „Konkurrenz für die gesunden Arbeiter“ werden, und sie forderte das Reichsarbeitsministerium auf, zu prüfen, inwieweit hier auch eine Gefährdung der freien Wirtschaft und des freien Arbeitsmarktes vorliege. Sollte sich der Verdacht der „Konkurrenz und Schädigung der Gesunden und Kranken“ bestätigen, müssten arbeitende Kranke der Sozialversicherung unterstellt werden – und damit ihre „sittliche Pflicht“ zum Wohl der Gemeinschaft leisten, wie es in der Reichsverfassung formuliert wurde, im Gegenzug dazu aber auch (Arbeits-)Rechte erhalten. Auch die Ausweitung der Unfallversicherung auf das Pflegepersonal wurde mit dem Argument der erhöhten Unfallgefahr durch die Arbeitstherapie eingefordert. Da der Reichsarbeitsminister erklärte, nur für die arbeitsrechtliche Seite der vorgebrachten Fragen zuständig zu sein, trugen die sozialdemokratischen Abgeordneten Clara Bohm-Schuch, Julius Moses (1868–1942)80, Anna Stegmann (1871–1936) und Wilhelm Sollmann 78 79

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Vgl. hier und zu den folgenden Ausführungen: Reichstagsprotokolle, 1924/28, 12 (381. Sitzung, Dienstag, 14.02.1928), in: , 10.11.2013. Vgl. Ebda.; Vgl. [o. V.], Die Behandlung der Arbeitstherapie im Reichstage, in: Sanitätswarte 28/1928, Nr. 8, 134–136, hier: 134. Auf Initiative der Reichssektion Gesundheitswesen wurde die Arbeitstherapie auch in einzelnen Landtagen behandelt, vgl. u. a. Sanitätswarte 28/1928, Nr. 14, 245–249. Der Gesundheitspolitiker Julius Moses wurde 1942 ins KZ Theresienstadt deportiert, wo er im selben Jahr starb. Heinz-Peter Schmiedebach: Politische Positionen und ethisches Engage-

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(1875–1951) ihre Forderung, „die Auswüchse bei Anwendung der Arbeitstherapie in den Heil- und Pflegeanstalten zu beseitigen“, schließlich auch dem Reichsgesundheitsamt beim 5. Ausschuss des Reichstages beim Etat des Reichsministeriums des Innern vor.81 Der Präsident des Reichsgesundheitsamtes räumte ein, dass der Reichsregierung – bevor sie eine Entscheidung treffen könne – Gelegenheit gegeben werden müsse, „sich zunächst durch eine Umfrage über die Verhältnisse zu vergewissern, bevor man mit einer Reihe von Reglementierungen in diese neue Behandlungsart eingreife“.82 Unter Zustimmung des Reichstages wurde daraufhin beschlossen, „Maßnahmen mit den Ländern zu treffen, die folgende Forderungen erfüllen“: „Beseitigung der pflegerlosen Abteilungen“ und „Sicherung von Gesundheit und Leben des Personals und der Kranken, soweit Gefahren mit der Anwendung der Arbeitstherapie verbunden sind“.83 Darüber hinaus sollten Anstalten Auskunft geben, „welche Erfahrungen (…) mit der Anwendung der Arbeitstherapie gemacht worden sind“. Die Reichssektion Gesundheitswesen betrachtete diese Entschließung des Reichstages als Teilerfolg ihrer Denkschrift. Gustav Kolb und Hermann Simon, die über die Entscheidung des Reichstages schriftlich miteinander korrespondierten, äußerten sich herablassend über das parlamentarische System, das Symbol der Demokratie, und über die Bemühungen der Reichssektion Gesundheitswesen. So schrieb Simon in einem Brief an Kolb im Mai 1928: „Ich bin der Meinung, jedes Volk hat das Recht, sich seine öffentlichen Belange – zu denen ja auch die öffentliche Irrenfürsorge gehört – einzurichten, wie es ihm passt; (…) Will der Reichstag, der ja den Volkswillen autentisch [sic!] interpretiert, die deutsche Irrenfürsorge nach den sachverständigen Impulsen des Gemeinde- und Staatsarbeiterverbandes, statt nach denen erfahrener Irrenärzte einrichten, dann ist auch das sein Recht. Wir werden dann genau die Irrenfürsorge haben, die wir – als Gesamtvolk – verdienen! (…) Ich werde meine Arbeit hier weiter schaffen im gleichen Sinne wie bisher (…). Von den Vorgängen im Reichstag habe ich bisher hier noch keine Auswirkungen gespürt. Es gibt so viel unendlich wichtigere Dinge, über die der Reichstag aburteilt ohne die geringste Spur von Sachkenntnis zu haben oder auch nur zu suchen.“84

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ment: Julius Moses und die Medizin im 20. Jahrhundert, in: Michael Schneider (Hg.), Julius Moses. Schrittmacher der sozialdemokratischen Gesundheitspolitik in der Weimarer Republik (Reihe Gesprächskreis Geschichte, Bd. 65), Bonn 2006, 9–37. Am 07.02.1929 erreichte ein Schreiben von Julius Moses die Hamburger Staatskrankenanstalten, in dem dieser bat, folgende Fragen „zur Verwendung in der Öffentlichkeit die Arbeitstherapie betreffend“ zu beantworten: „1. Halten Sie die fabrikmässige Herstellung industrieller Produkte, die über den Eigenbedarf der Anstalten hinausgehen, für zweckmässig? 2. Dürfen nach Ihrer Meinung Anstaltsinsassen an Maschinen, insbesondere an Maschinen mit motorischer Kraft, beschäftigt werden? 3. Halten Sie es für angängig, dass Geisteskranke mit der Zubereitung oder Herstellung von Lebensmitteln betraut werden?“, in: StHA, Sig. 352–3 II L 15. [o. V.], Die Behandlung der Arbeitstherapie im Reichstage, in: Sanitätswarte 28/1928, Nr. 8, 134–136, hier: 136. Ebda. Ebda. Vgl. Reichtagsprotokolle 1928/30, 12, Beschlüsse des Reichstages/Schreiben des Präsidenten des Reichstages (4. Februar/30. März 1928), in: , 01.12.2013. WKfP Gütersloh, Nachlass Simon, Korrespondenz deutscher Verband für psychische Hygiene, Simons Antwortschreiben an Kolb vom 15.05.1928, zit. n. Walter, Psychiatrie und Gesell-

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Aber auch andere Psychiater äußerten sich kritisch darüber, dass die Arbeitstherapie zu einem Thema im Reichstag und damit zu einem Politikum wurde. Für den Psychiater Eduard Reiß (1878–1957) zeugte dieser Umstand von der mangelnden Aufklärungsarbeit seiner Fachkollegen, die es verabsäumten, die Öffentlichkeit von den Neuerungen in der Psychiatrie in Kenntnis zu setzen, „sonst könnte es nicht sein, daß gesetzgebende Versammlungen in die ureigensten Rechte des Arztes, in die Behandlung des Kranken eingreifen können“.85 Hier flackerte noch einmal die Existenz- und Legitimationsangst der Psychiater auf, wie sie die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg geprägt hatte: Hier ging es (nach wie vor) um die Anerkennung ihrer Expertise, um den Kampf um Entscheidungshoheit sowie um die Absicherung ihres Einflussbereiches. Juli 1928: Der „Deutsche Verband für psychische Hygiene“ erstellt im Auftrag des Reichsministers des Innern ein Gutachten zur Frage der Arbeitstherapie86 Als Reaktion auf die Denkschrift der Reichssektion Gesundheitswesen zur Frage der Arbeitstherapie wurde vom Reichsminister des Innern, Walter von Keudell (1884–1973),87 ein diesbezügliches Gutachten an den 1924 gegründeten „Deutschen Verband für psychische Hygiene“88 in Auftrag gegeben, das am 29. Juli 192889 – als von Keudell schon nicht mehr im Amt war – von den Verfassern unterzeichnet und 1929 in der „Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie“ veröffentlicht

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schaft, 294. Der Nachlass von Hermann Simon findet sich mittlerweile im Archiv des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe unter der Signatur 926. Reiß, Die aktivere Beschäftigungsbehandlung, 106. Eine weitere Kritik an der Denkschrift formulierte der Psychiater Johannes Bresler (1866– 1942) im Juni 1928 in der von ihm herausgegebenen Psychiatrisch-Neurologischen Wochenschrift: J[ohnannes] Bresler, Äußerung zu der „Denkschrift zur Frage der Arbeitstherapie in den Heil- und Pflegeanstalten Deutschlands mit besonderer Berücksichtigung der pflegerlosen Abteilungen“ der Reichssektion Gesundheitswesen im Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter, 1927, in: Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift 28/1928, Nr. 26, 273–276. Eine Replik darauf verfasste Paul Levy in der Sanitätswarte unter dem Titel: Eine vergebliche Widerlegung unserer Denkschrift zur Arbeitstherapie, in: Sanitätswarte 6/1928, Nr./18, 102–104. Walter von Keudell war Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) und von Januar 1927 bis Juni 1928 Reichsminister des Innern im Kabinett Marx IV. Zum Kabinett Marx IV. vgl. , 05.12.2013. Zu den Aufgaben des Deutschen Verbandes für psychische Hygiene vgl. Wilhelm Weygandt, Über die Aufgaben des deutschen Verbandes für psychische Hygiene und die erste deutsche Tagung, in: Hans Roemer (Hg.), Bericht über die Erste Deutsche Tagung für psychische Hygiene in Hamburg am 20. September 1928, Berlin/Leipzig 1929, 8–12. StAHH 352–3, Sig. II L 15: Abschrift. Deutscher Verband für psychische Hygiene. Zur Frage der Arbeitstherapie in den Heil- und Pflegeanstalten. Stellungnahme zu der Denkschrift der Reichssektion Gesundheitswesen im Verbande der Gemeinde- und Staatsarbeiter. Gießen, 29. Juli 1928. Gez. Sommer, Weygandt, Römer [sic!], Kolb, Simon.

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wurde.90 Als Gutachter fungierten die renommierten Psychiater Wilhelm Weygandt, Hans Roemer und Robert Sommer sowie Gustav Kolb und Hermann Simon, die sich zuvor noch herablassend über die Entscheidung des Reichstages äußerten. Die Gutachter waren zu diesem Zeitpunkt bereits mehrheitlich für ihre Bemühungen um eine Ausweitung der „offenen Fürsorge“ wie auch arbeitstherapeutischer Ansätze bekannt. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass Paul Levy, Verfasser der Denkschrift, Kritik an diesem aus seiner Sicht alles andere als neutralen Gutachten äußerte.91 Hätte der Minister ein objektives Urteil gewünscht, dann hätte dieses, so Levy, „von einem Gremium (…) erstattet werden müssen, dem nicht nur Aerzte, sondern auch Sozialpolitiker und Volkswirtschafter angehört hätten. Das erscheint deswegen notwendig, weil wir ja das Hauptgewicht unserer Stellungnahme zur Frage der Arbeitstherapie darauf legen, daß diese Heilmethode auch von anderen als ärztlichen Gesichtspunkten aus bewertet und beurteilt werden muß“.92

In seinem Gutachten verwies der Verband auf die lange Tradition von Arbeit in der Behandlung psychisch Erkrankter und betonte, dass erst die Arbeit in ihrer therapeutisch angewandten Form die bis dahin verwendeten Zwangsmittel obsolet hatten werden lassen. Erst die regelmäßige Beschäftigung ermöglichte eine freiere Behandlung der Kranken, wie sie derzeit – sprich in den Jahren der Weimarer Republik – vermehrt angestrebt werde: Die arbeitstherapeutische Behandlung käme also zuallererst dem Kranken zugute. Auf den erweiterten Bewegungsraum, der durch die Arbeitstherapie den Patientinnen und Patienten geboten werden könne, verwies auch Johannes Bresler in seiner Kritik an der Denkschrift93 und warf Levy vor, diesen Aspekt in seiner Beurteilung völlig außer acht zu lassen. Den Vorwurf des Arbeitszwanges wiesen die Verfasser des Gutachtens zurück: Es gehe nicht darum, den nicht arbeitenden Kranken Essen zu entziehen, sondern darum, den arbeitenden Kranken u. a. aus physiologischen Gründen Kostzulagen zu gewähren. Auch hier wurde Partei für die Patientinnen und Patienten ergriffen – zumindest für diejenigen, die arbeiteten und in diesem Sinne Leistung erbrachten. Was die in der Denkschrift formulierte Kritik an der industriellen Produktion im Rahmen der Arbeitstherapie betraf, so räumten die Gutachter ein, dass überall dort, wo die Arbeitstherapie intensiv betrieben werde, es oft schwer sei, ausreichend Arbeitsmöglichkeiten zu finden, wodurch auf Angebote aus der Privatwirtschaft zurückgegriffen werden müsse. Dem Vorwurf, dass es durch die ausgedehnte Arbeitstherapie zu einer Belastung des freien Arbeitsmarktes komme, entgegneten die Gutachter mit dem Argument, dass Arbeiten, die mit der Hand ausgeführt werden, nie in Konkur90 91 92 93

Zur Frage der Arbeitstherapie in den Heil- und Pflegeanstalten. Gutachten des Vorstandes des Deutschen Verbandes für psychische Hygiene, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 90/1929, 50–60. Vgl. Paul Levy, Ein Gutachten zur Frage der Arbeitstherapie, in: Sanitätswarte. Zeitschrift für das Personal in Kranken-, Heil- und Pflege-Anstalten, Kliniken, Sanatorien, Bade- und Massage-Instituten und Seebädern. 19/1929, Nr. 19, 321–324. Ebda., 321. Bresler, Äußerungen.

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renz mit der Maschine treten könne – und die Arbeit mit mechanisch angetriebenen Maschinen auch nicht im Sinne der Arbeitstherapie liege, die darauf ausgerichtet sei, „die verbliebenen körperlichen und geistigen Kräfte der Kranken durch eigene zweckmässige Betätigung rege zu halten und zu bessern und nicht durch mechanische Maschinenarbeit hohe Gewinne zu erzielen“.94 Von den sich im Zuge der Industrialisierung und Modernisierung verändernden Arbeitsprozessen, -abläufen und -techniken, von einer Mechanisierung der Arbeit, sollten die Grundsätze sowie die Praxis der Arbeitstherapie unberührt bleiben. Was mögliche wirtschaftliche Ersparnisse durch die Arbeitstherapie anbelangte, so würde man diese zwar begrüßen, da dadurch die Lasten der Öffentlichkeit gesenkt werden könnten, diese lägen aber nicht im primären Interesse der Ärzte. Es seien, so die Gutachter, viel mehr die Verwaltungen, die Druck auf die Anstalten ausübten und sich durch die Ausweitung der Arbeitstherapie wirtschaftliche Vorteile erhofften.95 Diese manifestierten sich aber eher indirekt, als Folge des „therapeutischen Fortschritts“, indem durch die Beruhigung, die mit der Beschäftigung einsetzte, weniger Dauerbäder und Medikamente verabreicht wurden, weniger Möbel zerstört und Wäsche zerrissen wurde, frühere Entlassungen möglich wurden und so der Gesamtaufwand für die öffentliche „Geisteskrankenfürsorge“ insgesamt eingeschränkt werden konnte. Wie die Reichssektion Gesundheitswesen befürworteten auch die Verfasser des Gutachtens die Ausweitung der Reichsunfallversicherung auf das Pflegepersonal, lehnten die Aufnahme der Kranken in dieselbe aber mit dem Argument ab, dass die dafür aufzuwendenden Kosten in keiner Relation zu den tatsächlichen Gefahren stünden. Ebenfalls befürwortet wurde – mit dem Argument des durch die Arbeitstherapie erweiterten Aufgabenspektrums – eine bessere Ausbildung des Pflegepersonals, wie sie auch von der Reichssektion Gesundheitswesen und der christlichen Gewerkschaft gefordert wurde. Abschließend ermahnten die Gutachter, dass die durch die Beschäftigungstherapie erzielten Fortschritte, dass die „individualisierende seelische Behandlung der Kranken“, die in der „ganzen Kulturwelt“ Anerkennung finde, nicht durch „gesetzgeberische Maßnahmen“ beschränkt werden dürfe96 – und gaben damit der Reichsregierung einen Leitfaden zur Beurteilung der Arbeitstherapie an die Hand. Wie Bernd Walter festhält, profitierte der Verband für psychische Hygiene von dieser Gutachtertätigkeit: Das Gutachten erlangte eine große Öffentlichkeit, die Arbeitstherapie erfuhr von Regierungsseite Zustimmung, die Sachkompetenz des Verbandes wurde anerkannt. Damit konnte das Gutachten für den noch jungen Verband als strategischer Erfolg verbucht werden.97

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StAHH 352–3, Sig. II L 15: Abschrift. Deutscher Verband für psychische Hygiene. Zur Frage der Arbeitstherapie, 8. Vgl. den Beitrag von Anna Urbach in vorliegendem Band. StAHH 352–3, Sig. II L 15: Abschrift. Deutscher Verband für psychische Hygiene. Zur Frage der Arbeitstherapie, 16. Vgl. Walter, Psychiatrie und Gesellschaft, 296.

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1928/29: Die Politik reagiert – Debatten über die Arbeitstherapie im Reichstag, ein Gutachten und seine Folgen II Nachdem das Gutachten im Juli 1928 erstellt worden war, wurde am 20. Dezember 1928, rückwirkend zum 1. Juli 1928, die Ausweitung der Reichsunfallversicherung auf sämtliche Betriebe des Gesundheitswesens beschlossen, wodurch alle in diesen Betrieben Beschäftigte, unabhängig von ihrer jeweiligen Berufsgruppenzugehörigkeit, in die Versicherung aufgenommen wurden.98 Einen großen Anteil an dieser für das Pflegepersonal wichtigen Errungenschaft trug die Reichssektion Gesundheitswesen, die die Diskussion darüber ins Rollen gebracht hatte, sodass sie schließlich – vor allem durch ihre Nähe zur Sozialdemokratischen Partei – im Reichstag behandelt wurde.99 Die Patientinnen und Patienten dieser Anstalten blieben allerdings von einer Unfallversicherung ausgeschlossen, ihnen fehlte eine entsprechende Vertretung, die sich explizit für ihre Rechte einsetzte. Die Arbeitereigenschaft war ihnen auf Grund ihrer Erkrankung, und da die Beschäftigung therapeutisch begründet wurde, abgesprochen worden.100 Auch erhielten sie für die von ihnen geleisteten Arbeiten keinen fixen Lohn, ein Umstand, der ebenfalls gegen die Arbeitereigenschaft sprach. Etwaige Verletzungen der Kranken in Folge von Arbeitsunfällen, wie sie vielfach von der Reichssektion Gesundheitswesen geschildert wurden, sollten anstaltsintern geregelt werden.101 Anfang 1929 richtete sich der Reichsminister des Innern an die außerpreußischen Landesregierungen sowie der preußische Minister für Volkswohlfahrt an sämtliche Oberpräsidenten der Provinzen, mit der Aufforderung, Auskunft über die Erfahrungen mit der Arbeitstherapie in den Heil- und Pflegeanstalten zu geben und darüber zu berichten, welche Maßnahmen zur Vermeidung oder Beseitigung etwaiger Missstände bei ihrer Anwendung getroffen worden sind.102 Den Schreiben wurde das Gutachten der Verbandes für psychische Hygiene beigelegt. In ihren Antwortschreiben äußerten sich die Anstaltsleiter äußerst positiv über die Arbeitstherapie, die in den meisten Anstalten, wie diese anmerkten, schon seit ihrer Grün98 Vgl. Ley, Reichssektion Gesundheitswesen, 49. 99 Vgl. ebda. 100 Vgl. Reichsversicherungsordnung, 3. Buch Unfallversicherung von Stehpan Moesle und Wilhelm Rabeling, 1. Abschitt § 544 (Umfang der Versicherung), zit. n. Denkschrift zur Frage der „Arbeitstherapie“. 101 Vgl. dazu folgenden Artikel: [o. V.], Wichtiges Urteil über Entschädigungspflicht, wenn sich Geisteskranke bei der Arbeit verletzen, in: Sanitätswarte 30/1930, Nr. 17, 281–282. In diesem Artikel wird der Unfall einer Patientin in der Provinzialheilanstalt Jerichow geschildert, die sich an der Plättmaschine die Hand so stark verbrannt hatte, dass diese ihr abgenommen werden musste. Der Vormund der Patientin klagte gegen die Provinzialverwaltung auf Schadensersatz wegen Erwerbsunfähigkeit und Schmerzensgeld. Der Klage wurde laut Artikel stattgegeben, die Provinz verurteilt. 102 Vgl. StAHH 352–3, Sig. II L 15: Schreiben des Reichsministers des Innern vom 11.01.1929 an die außerpreußischen Landesregierungen; Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Sig. I HA Rep. 76, VIII B, Nr. 1852: Schreiben des preußischen Ministers für Volkswohlfahrt vom 15.02.1928 an die Oberpräsidenten. Die Antwortschreiben der einzelnen Provinzen finden sich ebenfalls unter der genannten Signatur.

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dung im späten 19. Jahrhundert praktiziert wurde. Eine Zunahme von Unfällen auf Grund einer intensiver betriebenen Arbeitstherapie wurde in den Anstalten nicht beobachtet. In ihrer Darstellung der Arbeitstherapie orientierten sich viele der Anstaltsleiter – oft sogar wortwörtlich – an Simons praktischen Ausführungen zur „aktiveren Krankenbehandlung“. 5. EINE LOKALGESCHICHTLICHE KONTEXTUALISIERUNG DER ZIRKULATIONSWEGE AM BEISPIEL DER STAATSKRANKENANSTALT HAMBURG-LANGENHORN Die von der Reichssektion Gesundheitswesen verfasste Denkschrift erreichte die Anstalt Langenhorn im Dezember 1928.103 Im Jänner 1929 kam der Direktor der Anstalt Langenhorn, Gerhard Schäfer (1874–?), dem oben erwähnten Ansuchen des Reichsministers des Innern nach und berichtete kurz und pointiert von den Erfahrungen der Anwendung der Arbeitstherapie in der Staatskrankenanstalt Langenhorn, indem er festhielt, dass eine „(m)öglichst ausgedehnte Arbeitstherapie (…) ein unentbehrliches Mittel der Irrenbehandlung“ sei; „Wenn in Langenhorn bei dem ausgesucht schwierigen Krankenmaterial Erfolge erzielt worden sind, so sind diese zum weitaus größten Teil der Arbeitstherapie zu verdanken.“ An Missbräuche sowie Unfälle auf Grund der Arbeitstherapie könne er sich nicht erinnern.104 Seit ihrer Gründung im Jahr 1893 war die Staatskrankenanstalt Langenhorn, die 15 Kilometer vom Hamburger Stadtkern entfernt in einer nahezu unbesiedelten Gegend lag, auf arbeitstherapeutische Ansätze in der Behandlung der Kranken ausgerichtet. Als landwirtschaftliche Kolonie im Pavillonstil errichtet, waren die Aufnahmen in den Anfangsjahren arbeitsfähigen Frauen und Männern der dritten Verpflegungsklasse vorbehalten, die zudem ruhig und chronisch krank waren. Für 200 Patientinnen und Patienten konzipiert, erreichte Langenhorn vor dem Ersten Weltkrieg nach baulichen Erweiterungen eine Belegungskapazität von 2.000 Personen. 1929 umfasste die Anstalt 112,34 Hektar an „Gesamtlandbesitz“.105 Arbeitsmöglichkeiten boten sich auf den Feldern, in den Gärten, auf dem Wirtschaftshof, in den Häusern, in den Schälküchen, in den Näh- und Webstuben sowie in den für arbeits-

103 Vgl. StAHH 352–3, Sig. II L 15: Denkschrift zur Frage der „Arbeitstherapie“. 104 StAHH 352–3, Sig. II L 15: Schreiben Dr. Schäfer vom 28.01.1929. Im Gegensatz zu Schäfers Antwort fiel die Antwort Wilhelm Weygandts, Direktor der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg, umfassender aus. Auch wenn er die Arbeitstherapie für die „segenreichste Einrichtung in der Irrenpflege und -behandlung“ hielt, räumte er ein, dass ihre Durchführung in Friedrichsberg auf Grund der meist akuten Krankheitssymptome kaum möglich sei. Dies wurde später als Argument für eine Schließung der Anstalt Friedrichsberg verwendet. Vgl. Peter von Rönn, Die Entwicklung der Anstalt Langenhorn in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Peter von Rönn / Klaus Böhme (Hgg.), Wege in den Tod. Hamburgs Anstalt Langenhorn und die Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus (Forum Zeitgeschichte, Bd. 2), Hamburg 1993, 27– 136, hier: 35. 105 Vgl. Schreiben des Verwaltungsdirektors Schubert vom 17.01.1929. StAHH 352–8/7, Sig. 125.

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therapeutische Zwecke eingerichteten Werkstätten. Für den Eigenbedarf notwendige Produkte wie Bürsten, Stoffe, Körbe, Mützen, Hosen, Strick- und Webwaren, Schuhe etc. wurden in der Anstalt, unter Mitarbeit der Kranken, gefertigt. Reparaturen wurden ebenfalls überwiegend anstaltsintern ausgeführt. Ein industrielles Arbeiten oder ein ausgedehntes Arbeiten an Maschinen war in Langenhorn nicht vorgesehen. Die in den Anstalten hergestellten Erzeugnisse seien auf Grund ihrer händischen Fertigung, wie Erna Satz,106 technische Leiterin der Webereiwerkstätten in Langenhorn, im „Hamburger Fremdenblatt“ hervorhob, „im Allgemeinen (…) dauerhafter als die Fabriksware“.107 Auch wurden die Kranken „nur mit solchen Arbeiten beschäftigt, die weniger einförmig sind, als Federnschleissen, Falten von Papierservietten, Sortieren von Zigarettenpapier usw.“108 – wie es in anderen Anstalten, so beispielsweise in Gütersloh,109 praktiziert wurde. Paul Levy soll sich bei seinem Besuch in Langenhorn lobend über die Arbeitstherapie ausgesprochen haben: „Ich habe in Langenhorn auf dem Gebiete der Beschäftigungstherapie nur Vorbildliches gesehen“, wurde Levy zitiert.110 Ein Verkauf der hergestellten Waren war in Langenhorn – zumindest in den Jahren der Weimarer Republik – nicht vorgesehen. Dennoch sahen sich lokale Betriebe – vor allem, als die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auch in Hamburg durch vermehrte Arbeitslosigkeit und den Rückgang an Arbeitsaufträgen spürbar wurden – zunehmend in Konkurrenz mit der Anstalt, die kaum Arbeits- oder Reparaturaufträge an externe Betriebe vergeben musste. So wandte sich im Dezember 1929 die Schuhmacherinnung von Hamburg an den Senat mit Verweis auf die schwierige Auftragslage der letzten Jahre und forderte, dass sämtliche Aufträge aus staatlichen Verwaltungen an sie übergeben werden sollten.111 Die Direktion der Anstalt erhob Einspruch gegen diese Forderung und argumentierte, dass auf Grund der staatlich verordneten Einsparungsmaßnahmen kein fertiges Schuhwerk mehr bestellt und sämtliche Schuhe in den eigenen Werkstätten hergestellt und repariert werden müssten.112 Zudem hätte das Schuhhandwerk einen wichtigen therapeutischen Charakter, auf den man im Rahmen der Behandlung nicht verzichten könne. Therapeutische und ökonomische Gründe bedingten sich und zwangen die Anstaltsdirektion gleichermaßen für die Beibehaltung der Schuhmacherei einzutreten. Für die von den Kranken geleistete Arbeit war in Langenhorn im Allgemeinen keine finanzielle Entlohnung vorgesehen, sehr wohl gab es aber eine Entlohnung 106 Lebensdaten unbekannt. 107 StAHH 352–8/7, Sig. 166: Satz, Werktätigkeit in der Anstalt. 108 StAHH 352–3, Sig. II L 15: Schreiben des Betriebsrates der Staatskrankenanstalt Langenhorn an Senator Eisenbarth vom 16.12.1930. 109 Vgl. u. a. den Bericht von Ernst Rittershaus (1881–1945), der ab 1927 leitender Oberarzt der Anstalt Friedrichsberg und ab 1938 Oberarzt in Langenhorn war, über eine Dienstreise in die Anstalt Gütersloh, 30.07.1930: StAHH 352–3, Sig. II L 15. 110 Ebda.: Schreiben des Betriebsrates der Anstalt Langenhorn an den Senator Eisenbarth vom 16.12.1930. 111 StAHH 352–8/7, Sig. 126: Schreiben der Schuhmacher-Innung an den Hohen Senat vom 12.12.1932. 112 Ebda.

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materieller Art sowie Kostzulagen für arbeitende Patientinnen und Patienten – in der Denkschrift der Reichssektion wurde diese in vielen Anstalten übliche Handhabung als indirekte Form von Arbeitszwang interpretiert. Die unentgeltlich zu leistenden Arbeiten der Kranken wurden auch für die Kommunisten zur Angriffsfläche, die sich, als Fürsprecher aller „Ausgebeuteten und Entrechteten“113 – und im Gegensatz zur SPD – auch den in den Psychiatrien tätigen, aber erkrankten Arbeiterinnen und Arbeitern annahmen, um ihre politischen Ziele zu verfolgen: In der Hamburger Volkszeitung sowie der K. P. D. Wahlzeitung wurden anonyme Artikel veröffentlicht, in denen Patienten an Hand ihrer Erlebnisse in den Hamburger Staatskrankenanstalten Friedrichsberg und Langenhorn die Arbeitstherapie als eine Form von Arbeitszwang und Ausbeutung ihrer Arbeitskraft verurteilten. Im Fokus der Kritik standen auch allgemein die Psychiatrien als Orte bürgerlicher Macht, in denen die „kapitalistische Gesellschaftsordnung“114 ihren Ausdruck finde. 1929 berichtete ein Patient in der K. P. D. Wahlzeitung wie folgt über seine Erfahrungen in Langenhorn: „Nachdem ich nach mehrjähriger Internierung und Ausbeutung in der Schusterei des Männerhauses 9 des Staatskrankenhauses Langenhorn in ein etwas freieres Haus verlegt wurde, kam ich als Hausbursche in Dienst bei einem Anstaltsarzt. Auch für diese Dienstmädchenarbeit bekam ich keinen Pfennig. Meine Arbeitszeit betrug pro Tag 10 ½ Stunden (…). So galt ich auf der einen Seite als Geisteskranker und auf der anderen Seite als normal.“

Und er schloss daran seine politische Forderung: „Mit einem solchen System muß aufgeräumt werden. Sturz der bürgerlichen Klassenordnung heißt auch Beseitigung dieser Folteranstalten. Wer sich dazu bekennt, wählt (…) nur Kommunisten!“ Dieser Zeitungsbericht zirkulierte und blieb nicht ohne Folgen: Die Gesundheitsbehörde schaltete sich ein und forderte die Anstaltsdirektion auf, zu den geäußerten Vorwürfen – in diesem Fall die im Bericht erwähnte unentgeltlich geleistete Arbeit der Patientinnen und Patienten in den privaten Haushalten der Ärzte – Stellung zu beziehen.115 Zu dieser Zeit wurde aber auch in anderen Hamburger Zeitungen über die Arbeitstherapie in Langenhorn berichtet. Darin wurden die mit der Arbeitstherapie einhergehenden Behandlungserfolge betont, etwaige Kritik an der Anstalt sollte entkräftet werden. In ihrem Bericht über „Werktätigkeit in der Staatskrankenanstalt Langenhorn“ merkte die Autorin Erna Satz dementsprechend gleich zu Beginn ihrer Ausführungen an, dass „von einem ökonomischen Nutzen bei einem gänzlich unregelmäßigen Arbeitenden absolut keine Rede sein kann“116 und beschwichtigte damit die gegen Ende der 1920er Jahre vermehrt vorgebrachten Befürchtungen der wirtschaftlichen Konkurrenz durch die arbeitenden Patientinnen und Patienten. Was die von der Reichssektion Gesundheitswesen sowie dem Deutschen Verband für psychische Hygiene geforderte Professionalisierung des Pflegeberufs anbe113 StAHH 352–3, Sig. II L 15: Hamburger Volkszeitung, Zeitungsausschnitt vom 06.12.1929. 114 Ebda. 115 StAHH 352–3, Sig. II L 15: u. a. Schreiben der Anstalt vom 24.11.1929; Schreiben der Gesundheitsbehörde vom 03.12.1929. 116 StAHH 352–8/7, Sig. 166: Satz, Werktätigkeit in der Anstalt.

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langte, so wurde bereits 1921 an den hamburgischen Staatskrankenanstalten Friedrichsberg und Langenhorn staatliche „Irrenpflegeschulen“ eröffnet.117 In der auf dem Langenhorner Anstaltsgelände errichteten Schule konnte eine einjährige Ausbildung zum „Irrenpfleger“ bzw. zur „Irrenpflegerin“ absolviert werden. Unterrichtet wurden die Auszubildenden von den Oberärzten und einem Abteilungsarzt auf Basis des „Leitfadens für Irrenpfleger“ von Ludwig Scholz (1868–1918),118 des 1923 in fünfter Auflage erschienenen „Schwestern-Lehrbuches zum Gebrauch für Schwestern und Krankenpfleger“ von Walter Lindemann (1886–1940)119 sowie des „Lehrbuches der Irrenheilkunde für Pfleger und Pflegerinnen“ von Hermann Haymann (1879– ?).120 Neben der praktischen Ausbildung waren die Schülerinnen und Schüler zur Teilnahme an 200 theoretischen Unterrichtsstunden verpflichtet. Ein Teil der Ausbildung widmete sich auch der „Pflege arbeitender Geisteskranker“.121 6. RESÜMEE Als „Anpassung der Institution Anstalt an die Bedingungen des Sozialstaates“ beschreibt der Historiker Bernd Walter die „aktivere Therapie“ der Weimarer Zeit, auf die der Beitrag fokussierte: „Nachdem sie [die „aktivere Therapie“, M. A.] zunächst zur inneren Stabilisierung der Anstalt beigetragen hatte, erhöhte sie nun die Anpassungsfähigkeit an die gesellschaftlichen Anforderungen.“122 Zugleich vollzog sich durch die nach dem Krieg notwendig gewordene Anpassung psychiatrischer Behandlungskonzepte an Entwicklungen, die außerhalb der Anstaltsmauern von sozialer, ökonomischer und politischer Relevanz waren, eine Öffnung der Psychiatrie in die Gesellschaft, wie das Beispiel der Arbeitstherapie und der Zirkulationswege, die sie nahm – und denen der Beitrag folgte –, zeigt. Dadurch wurde diese im Umkehrschluss auch durchlässiger, die Expertise und Sachkompetenz der Psychiater, ihre Autorität und Zuständigkeit – die mit den reformerischen Konzepten ausgeweitet werden sollten – wurden umkämpft. Folgt man den Debatten, die um die Arbeitstherapie geführt wurden, so zeigt sich das Konfliktpotenzial, das der Begriff der „Arbeit“ in sich barg, sehr deutlich. Er stellte ein ideologisches Instrument dar, 117 StAHH 352–8/7, Sig. 46: Ausschnitt aus dem Hamburger Echo vom 31.08.1921. Vgl. zu den folgenden Ausführungen: StAHH, HS (Handschriftensammlung), Sig. 2957: Christine Schröder, Zur Geschichte der Irrenpflegeschule an der Staatskrankenanstalt Langenhorn in Hamburg von 1921–1946 [Hausarbeit?], Charité Berlin 1999. 118 Ludwig Scholz, Leitfaden für Irrenpfleger (6. Aufl.), Halle 1909. 119 Walter Lindemann, Schwestern-Lehrbuch zum Gebrauch für Schwestern und Krankenpfleger, Wiesbaden 1918. 120 Hermann Haymann, Lehrbuch der Irrenheilkunde für Pfleger und Pflegerinnen, Berlin 1922. 121 Ausbildungs- und Prüfungsverordnung über die staatlichen Krankenpflegeschulen an den Allgemeinen Krankenhäusern St. Georg, Eppendorf und Barmbeck und am Hafenkrankenhaus vom 19. Januar 1922 und über die Irrenpflegeschulen an den Staatskrankenanstalten Friedrichsberg und Langenhorn vom 8. September 1921 und in der Fassung vom 1. Oktober 1924, zit. n. Schröder, Irrenpflegeschulen. 122 Walter, Psychiatrie und Gesellschaft, 267.

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das für viele vieles meinen konnte, daher auch für vieles einsetzbar war und eine dementsprechend große Angriffsfläche bot. Die Psychiater versuchten über den Begriff der „Arbeit“ Anschluss an die veränderten sozialen und politischen Verhältnisse zu finden; als Heilmittel aktualisiert, interpretierten sie „Arbeit“ als Konstituens des Menschen, wirtschaftliche Aspekte seien zwar wichtig (und wurden immer wichtiger), waren aber aus psychiatrischer Sicht (lange Zeit) nachrangig; für die Reichssektion Gesundheitswesen als politische Interessenvertretung der Pflegenden sowie für die Arbeiterparteien stand der ökonomische Aspekt von Arbeit im Vordergrund, selbst wenn diese therapeutisch begründet wurde; wenn Arbeit im Sozialstaat ein Recht darstellte, das in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit nicht immer gewährt werden konnte, so sah man in der Arbeit als Therapie eine Verquerung der Verhältnisse, wo Arbeitsrechte und Versicherungspflichten – Errungenschaften des Sozialstaates – außer Kraft gesetzt wurden; zugleich eröffnete die Arbeitstherapie die Forderung nach einer Ausweitung der Reichsunfallversicherung auf die Pflegenden: denn dort, wo gearbeitet wird, gibt es auch Unfälle – die Patientinnen und Patienten schienen eine geeignete Argumentationsgrundlage für diese Forderung zu bieten, man musste lediglich bestimmte Stereotype – wie die vom gewaltbereiten „Irren“ – wachrufen. Ziel des vorliegenden Beitrages war es, die politischen Debatten um die Arbeitstherapie in den Jahren zwischen 1927 und 1929 in den Blick zu nehmen, den Zirkulationswegen zu folgen, den dieses therapeutische Konzept nahm und die den Binnenraum „Anstalt“ überschritten, und die (politischen) Inhalte, die sich an die Arbeitstherapie jeweils andocken ließen, zu beleuchten. Die sozialen und politischen Umwälzungen der Weimarer Republik stellten dabei die entscheidenden Möglichkeitsbedingungen für die in den Ausführungen beschriebenen Entwicklungen und Dynamiken dar. ARCHIVALIEN Staatsarchiv Hamburg (StAHH): Bestände: 352–3, Sig. II L 15; 352–8/7, Sig. 16a, 46, 125, 126, 166; HS, Sig. 2957 Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL): Bestand: Nachlass von Hermann Simon, Sig. 926 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin: Bestand: HA Rep. 76 VIII B Nr. 1851

LITERATURVERZEICHNIS Beddies, Thomas / Dörries, Andrea (Hgg.): Die Patienten der Wittenauer Heilstätten in Berlin. 1919–1960 (Abhandlungen zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Bd. 91) Husum 1999. Böttcher, [?]: Die Beschäftigungstherapie und die Kranken, in: Deutscher Verband für die berufliche Kranken- und Wohlfahrtspflege (Hg.): Die Beschäftigungstherapie in den Heil- und Pflegeanstalten, Köln 1927, 23–26. Bresler, Johannes: Äußerung zu der „Denkschrift zur Frage der Arbeitstherapie in den Heil- und Pflegeanstalten Deutschlands mit besonderer Berücksichtigung der pflegerlosen Abteilungen“

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ARBEIT IN DER PSYCHIATRIE IM NATIONALSOZIALISMUS – LEISTUNGSPARAMETER UND SELEKTIONSKRITERIUM

RHYTHMUS DES LEBENS. ARBEIT IN PSYCHIATRISCHEN INSTITUTIONEN IM NATIONALSOZIALISMUS ZWISCHEN NORMALISIERUNG UND SELEKTION Maike Rotzoll

Abb. 1: Franz Xaver Fuchs: „Hoch die Arbeitstherapie: sie erzieht mich zum Genie/ Liebe Pfleg’rin, o gar nie brenn ich durch, I lieb ja sie!“ Sammlung Vierzigmann, medbo-KU, Standort Bezirksklinikum Regensburg (mit freundlicher Genehmigung von Bruno Feldmann)

„Leben ist Tätigkeit!“1 Mit diesem Ausruf begann Herman Simon (1867–1947) zwar nicht sein 1929 erschienenes Werk „Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt“, doch erscheint die Parole einige Seiten später – an einer Stelle, die deutlich macht, welche Missstände im psychiatrischen Anstaltswesen der Autor mit 1

Hermann Simon, Aktivere Krankenbehandlung in der Irrenanstalt (Nachdruck der Ausgabe von 1929; Werkstattschriften zur Sozialpsychiatrie, Bd. 41), Bonn 1986, 7.

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einer intensivierten Arbeitstherapie zu bekämpfen wünschte. So stellte er den eigenen Ansatz der „zum System erhobenen Bettbehandlung“, wie sie sich in vielen Anstalten eingebürgert habe, gegenüber und identifizierte Untätigkeit als „Wurzel allen Übels“: „Müßiggang ist nicht nur aller Laster – bei unseren Kranken nennen wir es ‚unsoziale Eigenschaften‘ – sondern auch der Verblödung Anfang.“2 Arbeit in der Institution Psychiatrie war also nach Simon nicht nur geeignet, dem Anstaltsalltag seinen Rhythmus aufzuprägen, sie galt ihm darüber hinaus als Synonym für Lebendigkeit, als Gegensatz zur „Ruhe des Grabes“ oder des „Friedhof[s] der Geister“ eines ruhigen Wachsaals für chronisch Kranke ohne Beschäftigungsmöglichkeit.3 Gleichzeitig beugte sie jedoch im Sinne der Disziplinierung einer allzu großen „Unruhe“ vor, sie führte zu einer Milieuverbesserung.4 Die Anstalt sollte durch Arbeit auch der akut Kranken und Überwachungsbedürftigen letztlich zu einem „normaleren“ Ort werden, weniger Platz für „Pathologisches“ und stattdessen Anknüpfungspunkte für mögliche Wiedereingliederungen in die ebenfalls durch Arbeit bestimmte Außenwelt bieten. Dabei sollte die „Normalität“ machtvoll durchgesetzt werden, was neben begeisterter Zustimmung auch kritische Kommentare hervorrief. Einer der zahlreichen Besucher, die sich in Simons Anstalt Gütersloh über die neuartige „aktivere Krankenbehandlung“ informierten, zitierte ihn unter anderem mit den Worten: „Wir treiben aggressive Psychiatrie, statt in der Defensive zu bleiben. Wir haben die Pflicht alles Krankhafte zu hemmen, alles Gesunde zu fördern. Es wird daher kein Material zu krankhafter Tätigkeit geliefert. Verrückte Bilder dürfen bei uns nicht gemalt werden. Ein Vergleich der modernen Künstler mit unseren Kranken ist eine Beleidigung für unsere Kranken. Die Prinzhornsche Sammlung ‚Bildnerei der Geisteskranken‘ ist eine Sammlung ärztlicher Kunstfehler!“5

Ein anderer Besucher bezweifelte, dass diese eher Dressur als Therapie zu nennende Methode die „Genesungschancen“ verbessern könne.6 2 3 4

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Ebda., 6–7. Ebda., 6. Thomas Beddies, „Aktivere Krankenbehandlung“ und „Arbeitstherapie“. Anwendungsformen und Begründungszusammenhänge bei Hermann Simon und Carl Schneider, in: Hans-Walter Schmuhl / Volker Roelcke (Hgg.), „Heroische Therapien“. Die deutsche Psychiatrie im internationalen Vergleich, 1918–1945, Göttingen 2013, 268–287, hier: 272. Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA), 463 Zug. 1983/9 Nr. 106 (Besichtigung fremder Anstalten und Abfassung von Reiseberichten), Bericht aus Wiesloch von Walter Fuchs (1868– 1941) vom 28.10.1926. Fuchs kam zu dem zu dem Schluss, es handle sich um eine „genial individualisierende Neubelebung der (…) Arbeitstherapie“. Adolf Gross (1868–1962) aus Emmendingen schrieb nach dem Besuch 1926 eher kritisch: „Weiterhin bin ich nicht überzeugt, daß man die Simon’sche Methode mit der Bezeichnung ‚Erziehung‘ richtig benennt, ich habe eher den Eindruck, daß sie mehr dem entspricht, was wir bei Tieren ‚Dressur‘ nennen. Das wäre keine ‚therapeutische‘ Methode. (…) Man möchte sagen: die Kranken sind überdiszipliniert, übererzogen, fast wie erdrückt von der Wucht der entwickelten Autorität. Die ‚aktive Therapie‘ hat alle Spontaneität bei ihnen wie ausgelöscht. Es erscheint mir zum Mindesten zweifelhaft, ob damit die Genesungschancen der Kranken verbessert werden.“ GLA, 463 Zug. 1983/9 Nr. 106 (Besichtigung fremder Anstalten und Abfassung von Reiseberichten), Bericht aus Emmendingen (Adolf Gross) vom 17.2.1926. Vgl. Maike Rotzoll, Soziale Psychiatrie. Einblicke in die Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch im Kon-

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An diesem Punkt jedoch, der angestrebten Genesung und Wiedereingliederung, traf die Zielrichtung der „aktiveren Krankenbehandlung“ zusammen mit derjenigen eines zweiten in der Weimarer Zeit umgesetzten psychiatrischen Reformansatzes, der psychiatrischen Außenfürsorge.7 Die große nationale und internationale Strahlkraft von Simons „Musteranstalt“ Gütersloh nach der Einführung der „aktiveren Therapie“ in den 1920er Jahren war sicher auch durch die stärker geordnete Atmosphäre bedingt, deren disziplinierender Charakter allerdings für Individualität wenig Raum ließ: „Das Gemeinsame der Arbeit fördert die Einfügung auch widerstrebender Kranker in eine geordnete Gemeinschaft.“8 Dabei war Arbeit in psychiatrischen Institutionen an sich kein neues Phänomen, im Gegenteil gehörte sie seit Entstehen der Anstalten im 19. Jahrhundert zum Alltag.9 Neu war allerdings der Anspruch, dass möglichst die gesamte Anstaltspopulation in Arbeitsprozesse eingebunden werden sollte. Das Wiederaufleben von Reformideen und Reformkonzepten in der Psychiatrie nach dem Ersten Weltkrieg stand jedoch auch in engem Zusammenhang mit der schwierigen ökonomischen Lage der Republik und des Anstaltswesens: Sowohl

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text der Modernisierungsbestrebungen der Psychiatrie bis 1933, in: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 159/2011, 439–463, hier: 457–458. Bernd Walter, Hermann Simon – Psychiatriereformer, Sozialdarwinist, Nationalsozialist, in: Der Nervenarzt 73/2002, 1047–1054, hier: 1050. Gustav Kolb (1867–1943) hatte das Konzept seit 1903 entwickelt, auf breitere Akzeptanz stieß es jedoch erst nach dem Ersten Weltkrieg. Gustav Kolb, Die offene psychiatrische Fürsorge, in: Oswald Bumke / Gustav Kolb / Hans Roemer / Eugen Kahn (Hgg.), Handwörterbuch der psychischen Hygiene und Psychiatrischen Fürsorge, Berlin 1931, 117–120. Vgl. Heinz-Peter Schmiedebach / Stefan Priebe, Social Psychiatry in Germany in the Twentieth Century: Ideas and Models, in: Medical History 48/2004, 449–472, zu Kolbs Reformansatz 457. Zum Reformkonzept der offenen Fürsorge vgl. auch Heinz-Peter Schmiedebach / Thomas Beddies / Jörg Schulz / Stefan Priebe, Offene Fürsorge – Rodewischer Thesen – Psychiatrie-Enquete: Drei Reformansätze im Vergleich, in: Psychiatrische Praxis 27/2000, 138–143, hier: 139–140. Beddies, „Aktivere Krankenbehandlung“, 271– 272 weist darauf hin, dass Simon im Gegensatz zu Eugen Bleuler (1857–1939) die „Bewährung“ unter Anstaltsbedingungen zur Bedingung der Frühentlassung machte und sich eher vorsichtig über vermehrte Entlassungen äußerte. Hermann Simon, Beschäftigungsbehandlung, in: Oswald Bumke / Gustav Kolb / Hans Roemer / Eugen Kahn (Hgg.), Handwörterbuch, 108–113, hier: 112. Vgl. Hans-Ludwig Siemen, Die Reformpsychiatrie der Weimarer Republik: Subjektive Ansprüche und die Macht des Faktischen, in: Franz-Werner Kersting / Karl Teppe / Bernd Walter (Hgg.), Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft im 20. Jahrhundert (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 7), Paderborn 2003, 98–108, hier: 104 und Sabine Hanrath, Zwischen ‚Euthanasie‘ und Psychiatriereform. Anstaltspsychiatrie in Westfalen und Brandenburg: Ein deutschdeutscher Vergleich (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 41), Paderborn u. a. 2002, 29– 35. Zu Simon vgl. auch Alma Kreuter, Deutschsprachige Neurologen und Psychiater. Ein Biographisch-Bibliographisches Lexikon von den Vorläufern bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, Bd. 3, München 1996, 1357. Zur Ausstrahlung von Simons Konzept vgl. Walter, Hermann Simon, 1049; zur „aktiveren Therapie“ Bernd Walter, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 16), Paderborn 1996, 253–277. Vgl. dazu die Beiträge von Thomas Müller, Kai Sammet und Heinz-Peter Schmiedebach / Eva Brinkschulte in diesem Band.

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Frühentlassungen, wie sie nach Aufbau einer Außenfürsorge möglich wurden, als auch Arbeitstherapie versprachen Einsparungen im Gesundheitswesen.10 Simon wies allerdings deutlich darauf hin, dass die Beschäftigungsbehandlung nicht ausschließlich unter finanziellen Aspekten zu betrachten sei. Zwar erscheint gerade im landwirtschaftlichen Bereich der Nutzen der Arbeit für die Anstalt offensichtlich, doch Simon betonte, dass man nicht nach rein „landwirtschaftlichen Grundsätzen“ wirtschaften könne. Das Gut müsse dagegen „irrenanstaltsmäßig“ betrieben werden: Ziel sei, „auf geringem Raume viel Arbeit“ möglich zu machen.11 Auch bei handwerklichen Auftragsarbeiten komme finanziell „nicht viel heraus, da wir fast überall mit Handarbeit gegen die Maschine konkurrieren müssen“. Dennoch müsse man froh sein über solche Aufträge, „bei denen die Bezahlung kaum die Belohnungen deckt, welche die fleißigen Kranken erhalten (…), um überhaupt unsere schwächeren Kranken beschäftigen zu können“.12 In den belebenden und Lebendigkeit beweisenden Rhythmus der Arbeit sollten bei Simon also vom Prinzip her alle Patientinnen und Patienten einbezogen werden. Es stellt sich bereits hier die Frage nach den Anstaltsinsassinnen und -insassen, die sich diesem neuen „System“ mit oder ohne Absicht entzogen, die Frage nach dem Leben und Lebensrecht auch ohne Tätigsein. So schrieb Simon von chronisch Kranken im ruhigen Wachsaal, „wo selbst das körperliche Dahinvegetieren kaum noch Leben genannt werden kann“.13 Im Jahr 1929 kam Simon in diesem Punkt zu dem Schluss, dass „die Konservierung des Schwachen und Minderwertigen um jeden Preis“ vom bevölkerungspolitischen Standpunkt zwar „unerwünscht und sogar widersinnig“ sei: „Aber vom Standpunkte der heutigen Zivilisation ist eine Änderung ebensowenig diskutierbar, wie vom Stande der geltenden ärztlichen Ethik.“14 In der wirtschaftlichen Krise wandte er sich 1931 deutlich radikaler gegen eine „starke Rücksichtnahme auf die Kranken und Schwachen“ als „Grausamkeit“ gegen die Gesunden und folgerte sogar, dass „wieder gestorben werden“ müsse, eine Äußerung, die er 1946 nicht mehr als opportun ansah.15 Inzwischen waren zahllose „chronische“, nicht arbeitsfähige Patientinnen und Patienten dem nationalsozialistischen Krankenmord zum Opfer gefallen. Simon fasste seine seit 1905 in Warstein und nach dem Ersten Weltkrieg in Gütersloh erprobte praktische Herangehensweise an die „Beschäftigungsbehandlung“ gegen Ende der Weimarer Zeit zusammen und gab ihr die Form eines in sich geschlossenen Konzeptes.16 So stellt sich die Frage, wie in der nationalsozialistischen Psychiatrie mit dem Themenkomplex Arbeit umgegangen wurde – sowohl auf der Ebene der Lehrbuchpsychiatrie, als auch im Alltag der psychiatrischen An10 11 12 13 14 15 16

Heinz Faulstich, Von der Irrenfürsorge zur „Euthanasie“. Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945, Freiburg 1993, 95–96. Zu Simons Einstellung gegenüber dem „wohlfahrtstaatlichen Versorgungsdenken“ des Weimarer Sozialstaates vgl. Walter, Hermann Simon, 1048. Simon, Aktivere Krankenbehandlung, 46–47. Ebda., 48. Ebda., 6. Ebda., 147. Vgl. Walter, Hermann Simon, 1053. Walter, Hermann Simon, 1053. Ebda., 1048 und 1050.

Rhythmus des Lebens. Arbeit in psychiatrischen Institutionen im Nationalsozialismus 193

stalten. In einem ersten Abschnitt dieses Beitrags soll daher zunächst das umfängliche Lehrbuch des einflussreichen Heidelberger Ordinarius Carl Schneider (1891– 1946), das sich in weiten Teilen auf Arbeit als Therapie bezieht, im Fokus stehen.17 In der Folge werden einzelne Ergebnisse einer quantitativen Untersuchung von Krankengeschichten psychiatrischer Anstalten des Deutschen Reiches und des ab 1938 angeschlossenen Österreich aus der Zeit des Nationalsozialismus präsentiert und kontextualisiert, soweit sie sich auf das Thema Arbeit beziehen.18 Diese Einblicke in den Alltag der Arbeitstherapie im Nationalsozialismus ermöglichen Erkenntnisse zu ihrer Übereinstimmung oder zu ihren Diskrepanzen mit den Forderungen des Schneiderschen Lehrbuchs. CARL SCHNEIDER, DIE ARBEITSTHERAPIE UND DIE PSYCHIATRISCHE UNIVERSITÄTSKLINIK HEIDELBERG Bevor der überzeugte Nationalsozialist Carl Schneider im November 1933 auf das psychiatrische Ordinariat in Heidelberg berufen wurde, hatte er das Anstaltswesen kennengelernt: Seit 1922 hatte er zunächst an der sächsischen Heil- und Pflegeanstalt Arnsdorf, dann von 1930 bis 1933 als Chefarzt der von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel gearbeitet.19 Während seiner Tätigkeit in Bethel fand Schneider einige Male – zu selten, wie er selbst im Nachhinein konstatierte – Gelegenheit, Hermann Simon bei der Ar17 18

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Carl Schneider, Behandlung und Verhütung der Geisteskrankheiten. Allgemeine Erfahrungen – Grundsätze – Technik – Biologie, Berlin 1939. Es handelt sich dabei um Krankengeschichten von Opfern und Überlebenden der nationalsozialistischen Krankenmord-Aktion „T4“, die zwischen 2002 und 2006 im Rahmen eines DFGProjektes analysiert wurden. Der Titel des Projektes lautete „Wissenschaftliche Erschließung und Auswertung des Krankenaktenbestandes der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Aktion ‚T4‘ im Bundesarchiv Berlin“ (DFG-Förderkennzeichen HO 2208-2-1-3). Antragsteller waren Gerrit Hohendorf, Christoph Mundt und Wolfgang U. Eckart, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen Petra Fuchs und Maike Rotzoll. Die statistische Betreuung erfolgte durch Paul Richter, wissenschaftliche und studentische Hilfskräfte waren Christine Dewitz (geb. Hoffmann), Annette Hinz-Wessels, Philipp Rauh, Babette Reicherdt, Stefanie Schmitt, Sascha Topp und Nadin Zierau. Allen Beteiligten sei an dieser Stelle nochmals herzlich gedankt. Für einen Literaturüberblick zum nationalsozialistischen Krankenmord vgl. Hans-Walter Schmuhl, „Euthanasie“ und Krankenmord, in: Robert Jütte (Hg.), Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011, 214–255. Zu Schneiders Biografie vgl. Christine Teller, Carl Schneider. Zur Biographie eines deutschen Wissenschaftlers, in: Geschichte und Gesellschaft 16/1990, 464–478; Bernd Laufs, Die Psychiatrie zur Zeit des Nationalsozialismus am Beispiel der Heidelberger Universitätsklinik, Diss. med., Homburg/Saar 1989; Götz Aly, Der saubere und der schmutzige Fortschritt, in: Götz Aly / Karl Friedrich Masuhr / Maria Lehmann / Karl-Heinz Roth / Ulrich Schultz (Hgg.), Reform und Gewissen. „Euthanasie“ im Dienst des Fortschritts, 2. Aufl., Berlin 1989, 9–78, zu Carl Schneider insbesondere 49–63; Hans-Walter Schmuhl, Ärzte in der Anstalt Bethel 1870–1945, Bielefeld 1998; Maike Rotzoll / Gerrit Hohendorf, Krankenmord im Dienst des Fortschritts? Der Heidelberger Psychiater Carl Schneider als Gehirnforscher und „therapeutischer Idealist“, in: Der Nervenarzt 83/2012, 311–320; Beddies, „Aktivere Krankenbehandlung“, 275–279.

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beitstherapie zu beobachten. Er war außerordentlich beeindruckt von dessen „Gesamtpersönlichkeit“, die er als biologischen Einflussfaktor auf das Gelingen der Therapie ansah.20 Simon hatte in Bethel vor dem Beginn von Schneiders Tätigkeit regelmäßige „Aufsichtsgänge“ durchgeführt. Doch Schneider schreibt sich in seiner Monographie selbst das Verdienst zu, dort vor 1933 eine strukturierte Arbeitstherapie eingeführt zu haben.21 Nach Heidelberg berufen, gestaltete er alsbald die Universitätsklinik arbeitstherapeutisch um.22 Hatte Simon die „aktivere Krankenbehandlung“ auch für akut Kranke im Anstaltskontext gefordert und umgesetzt, so dehnte Schneider diese Forderung auf eine Klinik aus, die programmgemäß auf nur vorübergehenden Aufenthalt der Patientinnen und Patienten eingestellt war. Im Kern ging es dabei um die Widerlegung des laut Schneider „ursprünglich versuchte[n] Einwand[s]“, die Arbeitstherapie eigne sich nur für die „chronisch Kranken der Anstalt“, nicht für Patientinnen und Patienten in akuten Stadien der jeweils diagnostizierten Erkrankungen.23 Auf das mögliche Problem der Zusammenstellung geeigneter Gruppen bei geringerer Patientenzahl geht Schneider nicht ein. Dagegen schildert er ausführlich und offenbar zur Nachahmung („weil die Arbeitstherapie an den Kliniken außer in Heidelberg noch wenig durchgebildet ist“), wie es in einer kleineren klinischen Einrichtung gelingen kann, genügend geeignete Arbeitsmöglichkeiten auch im Freien zu schaffen, über die Anstalten aufgrund ihrer Größe und ländlichen Lage ohnehin verfügen.24 Immer wieder nimmt Schneider Bezug auf Simon, dessen militärische Ausstrahlung er imitiert haben dürfte.25 20

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Schneider, Behandlung und Verhütung, 129: „Wer beobachtend die Art SIMONs, die Kranken anzufassen, verfolgte – leider habe ich trotz der relativen räumlichen Nähe zwischen Bielefeld und Gütersloh nur wenige Male Gelegenheit dazu gehabt –, der musste bald erkennen, daß entscheidend für den Einfluss SIMONs auf den Kranken nicht so sehr die Grundsätze waren, die er zur Begründung der erreichten Wirkung aufstellte, sondern die biologische Einwirkung, die sowohl von der Gesamtpersönlichkeit SIMONs selbst in instinktiver Übertragung ausging, als auch von der in der gleichen biologischen Gesamtstruktur SIMONs begründeten und ihr nur besonderen Ausdruck verleihenden Lebensordnung der Gütersloher Anstalt.“ Ebda., 115. Schneider stellt dar, dass vor seiner Zeit jeweils die erregten, akut kranken oder schwierigen Epilepsie-Patientinnen und -Patienten aus der Arbeitstherapie herausgefallen seien. Deshalb hätten 1930 bei seinem Amtsantritt „trotz dem Eingreifen SIMONs bei seinen Aufsichtsgängen“ ziemlich „trostlose Verhältnisse“ geherrscht. Einige Beispiele im Text von Schneiders Buch stammen aus Schneiders Zeit in Bethel, so u. a. 92–93 und 94. Maike Rotzoll / Gerrit Hohendorf, Die Psychiatrisch-Neurologische Klinik, in: Wolfgang U. Eckart / Volker Sellin / Eike Wolgast (Hgg.), Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus, Heidelberg 2006, 909–939, hier: 914–920. Schneider, Behandlung und Verhütung, 58: Widerlegt sei dieser Einwand durch „das Vorgehen von v. d. Scheer in Holland und durch die Erfahrung der Heidelberger Klinik seit 1933“. Auf der folgenden Seite 59 berichtet Schneider von Widerständen gegen die Arbeitstherapie besonders bei den Leitern einzelner psychiatrischer Kliniken (er nennt Ferdinand Kehrer (1883– 1966), Münster, und Fritsche (Vorname und Lebensdaten nicht bekannt) aus der Klinik von Hans Bürger-Prinz (1897–1976), Hamburg), er schreibt von „Misstrauen, (…) Missachtung und Verständnislosigkeit“, in Münster sei er „mehr oder weniger offen belächelt worden“. Ebda., 191–192. Walter, Hermann Simon, 1049: Nach der Charakterisierung eines Kollegen habe Simon die Haltung eines „Kriegsschiffskommandanten“ eingenommen.

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Schneider schätzte das Militärische und war überzeugt, der Arzt müsse dem Patienten in der Arbeitstherapie jederzeit seine Überlegenheit und seine Macht demonstrieren können.26 Eine Kontinuität zwischen Simons „aktiverer Therapie“ und der Arbeitstherapie in der NS-Zeit liegt nah: Die Kranken, auch im akutesten Stadium, sollten in Schneiders Klinik aus ihren krankhaften Erlebnisformen herausgerissen und in das ordnende Milieu der Arbeit hineingedrängt werden. Dies betraf zunächst den individuellen Rhythmus im Tagesablauf: „Besonders auf den Abteilungen für schwer Kranke muß der Wechsel zwischen Ruhe, Tätigkeit und Nahrungsaufnahme den Tagesablauf im biologisch nötigen Rhythmus gliedern. Der Mensch bedarf dieser Gliederung, die in der Krankheit nur zu leicht verloren geht.“27

Hinter diesem therapeutischen und rehabilitativen Anspruch stand darüber hinaus der Zwang zur Anpassung an ein Gemeinschaftsleben, das Schneider wesentlich durch Arbeit und produktive Leistung bestimmt sah.28 Dies sollte für das Individuum, aber auch für das psychiatrische Anstaltswesen als Ganzes gelten: So hieß es in dem von Schneider mitgestalteten Memorandum „Gedanken und Anregungen betr. die künftige Entwicklung der Psychiatrie“ von 1943, bei der Auswahl von Anstalten sei bezüglich ihrer Lage zu beachten, dass „zur volkswirtschaftlichen Nutzbarmachung der Beschäftigungstherapie in ausreichendem Maße industrielle und landwirtschaftliche Arbeit zugewiesen werden kann“.29 Hinzu kam im Sinne einer Radikalisierung wenige Jahre später die Selektionsfunktion der Arbeit für den nationalsozialistischen Krankenmord: Patientinnen und Patienten, die nicht wieder in irgendeiner Weise zu tätigen Mitgliedern der Volksgemeinschaft werden konnten oder wollten, liefen Gefahr, in die „Euthanasie“ zu geraten.30 Das lässt sich für die von Berlin aus zentral gesteuerte „Aktion T4“, für die neben anderen auch Carl Schneider als Gutachter fungierte, statistisch nachweisen.31 26

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Schneider, Behandlung und Verhütung, 153. Der Arzt müsse die „Überlegenheit des Gesunden“ bezüglich der Arbeitsanforderungen auch beweisen, denn: „Nur wer mehr kann, ist überlegen. (…) Dem handwerklichen Mehrkönnen ordnet sich der Kranke unter, und es ist immer wieder einmal nötig, daß auch der Arzt im Umgang mit den Kranken dies an dieser oder jener Arbeit beweist.“ Ebda., 174. Beddies, „Aktivere Krankenbehandlung“, 285; Rotzoll / Hohendorf, Krankenmord im Dienst des Fortschritts, 312. Die „Denkschrift“, die Paul Nitsche (1876–1948) und Maximinian De Crinis (1889–1945) gemeinsam mit Ernst Rüdin (1874–1952), Carl Schneider und Hans Heinze (1895–1983) formuliert hatten, ist abgedruckt in Aly, Der saubere und der schmutzige Fortschritt, 42–48, hier: 47. Gerrit Hohendorf / Volker Roelcke / Maike Rotzoll, Innovation und Vernichtung. Psychiatrische Forschung und „Euthanasie“ an der Heidelberger Psychiatrischen Klinik 1939–1945, in: Der Nervenarzt 67/1996, 935–946, hier 940; Rotzoll / Hohendorf, Krankenmord im Dienst des Fortschritts, hier: 314. Gerrit Hohendorf, Die Selektion der Opfer zwischen rassenhygienischer „Ausmerze“, ökonomischer Brauchbarkeit und medizinischem Erlösungsideal, in: Maike Rotzoll / Gerrit Hohendorf / Petra Fuchs / Paul Richter / Christoph Mundt / Wolfgang U. Eckart (Hgg.), Die nationalso-

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Für Heidelberg zeigt sich dieser Zusammenhang auch am Beispiel von Carl Schneiders Forschungsabteilung der Jahre 1943/44. Die Forschungen an Kindern zu unterschiedlichen „Schwachsinnsformen“ verfolgten unter anderem das Ziel, Selektionskriterien für den Krankenmord wissenschaftlich zu untermauern. Zu dem umfangreichen Untersuchungsprogramm gehörte die Beurteilung der Leistungen in der Arbeitstherapie ebenso wie der Sektionsbefund des Gehirns – die Ermordung der Kinder war demnach konzeptionell eingeplant.32 Was das bedeuten konnte, zeigt die Geschichte der Brüder Walter und Günther: Ende März 1944 nahm man die beiden aus dem Schwarzacher Hof bei Mosbach als „Forschungskinder“ in der Heidelberger Klinik auf.33 Der 12jährige Walter und der 7jährige Günther galten als „angeboren schwachsinnig“, und sie verbrachten 1944 gemeinsam etwa sechs Wochen in der Heidelberger Klinik. Bei der arbeitstherapeutischen Beobachtung schnitt der ältere Bruder besser ab. Er wurde im Test beim „Bindenwickeln“ sowohl in Handarbeit als auch an der Maschine geprüft: „er stellt sich dabei sehr geschickt an und ist fleißig und eifrig.“ Günther dagegen „kann leitlich [sic!] die Binden mit der Hand verwickeln, bei der Maschine kann er nur die Kurbel bedienen.“ Immerhin bescheinigte man auch Günther Fleiß und Interesse an der Arbeit. Walter überlebte den Krieg, vielleicht, weil man ihn als besser für einfache Arbeiten verwendbar einstufte.34 Günther wurde am 28.12.1944 in der Heil- und Pflegeanstalt Eichberg ermordet und ist damit eines der letzten Opfer des Heidelberger Forschungsprojektes.35 Er starb im Namen einer „verbrecherischen medizinischen Forschung“, wie es auf dem seit 1998 vor der Heidelberger Klinik an die ermordeten „Forschungskinder“ erinnernden Mahnmal heißt, doch ein Zusammenhang zur prognostizierten Arbeits(un-)fähigkeit deutet sich zumindest an. In Umkehrung zu Simons Ausspruch „Leben ist Tätigkeit“ verloren die nicht arbeitenden Psychiatriepatientinnen und -patienten in der NS-„Euthanasie“ ihr Lebensrecht. Nicht in jeder Hinsicht schließt Schneider mit seinem arbeitstherapeutischen Konzept an Simon an. Er war überzeugt, dass eigentlich erst er selbst (und dies am Beispiel der Heidelberger Klinik) eine wissenschaftliche Grundlage für die Arbeitstherapie geschaffen hatte. Erst damit konnte man sie seiner Auffassung nach symptomorientiert einsetzen, bzw. auf „Symptomverbände“ beziehen. Zuvor habe man wahllos herumprobiert und damit der Ausbildung und dem Konzept einer im ei-

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zialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2010, 310–324. Dies zeigt auch das den Akten der „Forschungskinder“ beiliegende eigens konzipierte Formular „Akteninhaltsverzeichnis“: Unter Punkt 12a werden die Beobachtungen bei der Arbeitstherapie und unter Punkt 16 der Sektionsbefund des Gehirns erwähnt. Vgl. Hohendorf et al., Innovation und Vernichtung, 944. Hans-Werner Scheuing, „… als Menschenleben gegen Sachwerte gewogen wurden.“ Die Geschichte der Erziehungs- und Pflegeanstalt für Geistesschwache Mosbach/Schwarzacher Hof und ihrer Bewohner 1933–1945, Heidelberg 2004, 367–436. Historisches Archiv der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, Bestand „Forschungskinder“-Akten, F 32 (Günther) und F 33 (Walter). Die beiden Jungen waren vom 30.03.–09.05.1944 stationär in der Heidelberger Klinik, die arbeitstherapeutische Beurteilung ist nicht datiert. Rotzoll / Hohendorf, Krankenmord im Dienst des Fortschritts, 318–320.

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gentlichen Sinne biologischen Heilweise geschadet.36 Schneider grenzte sich deutlich von Simon ab, der ihm zwar als Beispiel für die biologische Wirkung der Persönlichkeit auf andere Menschen galt, aber die Indikationen für den Einsatz der Arbeitstherapie nicht theoretisch fundiert herausgearbeitet habe.37 Wie viele andere, so verweist auch diese Textstelle auf den für Schneider zentralen Biologiebegriff. Er verstand darunter nicht ausschließlich körperliche Vorgänge, sondern sah die „Vollendung des Umbaus der Psychiatrie“ gerade darin, dass sie „eine biologische Auffassung seelischer Tatsachen“ einschließen sollte.38 Dabei „biologisierte“ er auch die soziale Dimension, ordnete sie ein in eine „biologische Gesamtauffassung des menschlichen individuellen und allgemeinen Lebensgeschehens“.39 Gerade die Arbeitstherapie galt ihm als Beispiel, das „biologische“ Zusammenspiel der körperlichen, seelischen und sozialen Funktionen beobachten und wissenschaftlich untersuchen zu können.40 Schneider distanzierte sich daher vom rein fürsorgerischen Aspekt der Arbeitstherapie in der Anstalt. Nach dieser Deutungsweise diene Arbeitstherapie dazu, „das Leben der Kranken mit Tätigkeit zu erfüllen, soll ihm menschliche Befriedigung gewähren, soll das Bewusstsein seiner menschlichen Würde heben (…). Sie soll ihm in der Anstalt eine geistige Heimat und einen inneren Ruhepunkt geben und den Leerlauf seines Daseins unterbrechen“.41 Auch eine rein ökonomische Argumentation erschien Schneider nicht hinreichend für die „biologische Heilweise“, wenn er auch „die Berücksichtigung wirtschaftlicher Gesichtspunkte in der Arbeitstherapie einfach unerlässlich“ nennt.42 36

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Schneider, Behandlung und Verhütung, 108–110; 114. Auf Seite 126 legt er dar, dass sich die Arbeitstherapie trotz Simon als „Bahnbrecher“ nicht grundlegend gegenüber dem zuvor verfolgten Ansatz verändert habe, über den „doch erst unsere in Heidelberg entwickelten Heilverfahren hinausgingen“. Ebda., 129 (Simons biologische Gesamtwirkung), 125–126: Simon sei missverstanden worden, weil er von „Verantwortung“ der Kranken statt „biologischer Verpflichtung“ gesprochen habe, und weil er seine Begründungen nicht mit den Anschauungen der Fachgenossen in Einklang gebracht habe, weil er klinische Differenzierungen nicht beachtet habe, weil manches den Eindruck erweckt habe, es handle sich um „Redressement“, nicht Therapie. Am wichtigsten erscheint Schneider „die Begründung der einzelnen Heilanzeige aus dem Zustandsbild. Simon hat sie nicht gegeben“. Er habe also zwar die biologische Heilweise erkannt, es aber unterlassen, „die biologisch brauchbare Psychologie für sein Vorgehen zu schaffen“. Ebda., 1. Ebda., 2. Vgl. Hohendorf et al., Innovation und Vernichtung, 938–939. Vgl. Schneider, Behandlung und Verhütung, 91: „Man muß sich von allem Anfang darüber klar sein, dass die sog. Arbeitstherapie alle ärztlichen Maßnahmen umfasst, welche der Herstellung einer biologisch wirksamen Gesamtsituation zur Bekämpfung einzelner oder sämtlicher Erscheinungen einer Geistesstörung dienen, ohne dass dabei andere Heilverfahren mitzuwirken brauchen.“ Ebda., 115 zur Arbeitstherapie als Fürsorgemaßnahme. Ebda., 117. In seinem Buch finden sich häufige Hinweise auf den wirtschaftlichen Erfolg, so 102, 103–105 (Einsparen von Arznei), 117 (Tabelle über die wirtschaftlichen Ergebnisse der Heidelberger Arbeitstherapie). Hier führt er aus, warum akut Kranke zuvor aus ökonomischen Motiven gewöhnlich von der Arbeitstherapie ausgenommen blieben: Man vertraute ihnen kein wertvolles Material an.

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Keine der beiden Argumentationen, weder die fürsorgerische noch die ökonomische, rechtfertigte nämlich den Einsatz von Arbeitstherapie im akuten Stadium der „Krankheit“.43 Doch um diese geht es Schneider insbesondere: Um epileptische Dämmerzustände, um akute Verwirrtheitszustände, um den „katatonen Stupor“ oder die „Manie“ (und darum, wie sich der Einsatz der Arbeitstherapie bezogen auf diese Krankheitsbilder begründen ließ).44 Er führt zwecks Überzeugung und Veranschaulichung neben klinischen Beispielen einen etwa zehn Jahre zurückliegenden Selbstversuch mit Meskalin an: „Ich habe damals auf den verschiedenen Höhepunkten der Vergiftung mich selbst der Arbeitstherapie unterziehen lassen, um selbst einen Überblick über die Sachlage aus eigenem Erleben zu bekommen. Ich habe teils Gutachten durchgesehen, teils psychiatrische Probleme referiert und habe im Laboratorium Gefrierschnitte gemacht u. a. m. (…) Keines der immer wieder angeführten psychologischen Momente war greifbar, als die Wirkungen des Mescalins auf die Sinnestätigkeit bei mir durch die Arbeit am Gefriermikrotom völlig verschwanden.“45

Der Meskalinrausch wird so zum Paradefall für Schneiders Anliegen, die Wirksamkeit der Arbeitstherapie in akuten psychischen Ausnahmesituationen zu untermauern. Die Orte der Arbeitstherapie in diesem speziellen Fall – der Schreibtisch des Psychiaters und das Gefriermikrotom – waren dagegen ungewöhnlich. Die für die Patientinnen und Patienten in der Heidelberger Klinik entstandenen Arbeitsmöglichkeiten unterschieden sich im Prinzip nicht von denen in der Anstaltspsychiatrie üblichen. Eingerichtet wurden Tischlerei, Buchbinderei, Sattlerei, Schuhmacherei, Schlosserei, Weberei und Handwäscherei, daneben wurden Maurer- und Malerarbeiten nach Bedarf sowie Arbeit in Gärten, Gewächshäusern, im Haus und in Handarbeitsstuben durchgeführt. Als Besonderheit kann die eigens konstruierte, einfach zu bedienende Vorrichtung zum „Bindenwickeln“ gelten, an der später auch manche „Forschungskinder“ getestet wurden.46 Aus Schneiders Beispielen wird immer wieder deutlich, wie personalintensiv diese als Akutmaßnahme verstandene Arbeitstherapie gewesen sein muss: Für das Zurücklegen weniger Meter mit einem stuporösen Patienten wird eine halbe Stunde (unter Einsatz mehrerer Personen) veranschlagt, zwei Stunden dauert es für mindestens einen Pfleger und einen Arzt, Hände führend, beruhigend, befehlend und mitarbeitend einen Patienten im Dämmerzustand in den richtigen Arbeitsrhythmus zu bringen.47 Wollte man den Erfolg der Maßnahme auf das ungewöhnliche Maß an Zuwendung zurückführen, so hätte Schneider dieser Vermutung seine biologistische Sichtweise entgegengehalten, die auch Zwischenmenschliches biologisierte.48 Rein ökonomisch konnte er schon aufgrund des Zeit- und Personalaufwands seine 43 44

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Ebda., 118. Schneider führt zahlreiche Beispiele für Akutbehandlungen an: Ebda., 99–101 (differenzierte Beschreibung des Vorgehens bei epileptischen Dämmerzuständen), 114 (Manie), 123 (organische Verwirrtheitszustände), 95–98 (Stupor). Vgl. zu dem letztgenannten Beispiel Hohendorf et al., Innovation und Vernichtung, 939–940. Schneider, Behandlung und Verhütung, 124. Ebda., 191–192. Ebda., 96 und 101. Rotzoll / Hohendorf, Krankenmord im Dienst des Fortschritts, 314.

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Abb. 2: Patienten der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg bei der Gartenarbeit, in: Schneider, Behandlung und Verhütung, 107.

Abb. 3: Patientinnen der Heidelberger Klinik beim Sticken und Stricken, in: Schneider, Behandlung und Verhütung, 110.

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Arbeitstherapie nicht begründen: Es könnte sich „irgendein Sparkommissar“ einmischen, befürchtete Schneider, weil die „Bemühungen zuviel Geld gekostet haben“.49 Die im akuten Stadium einsetzbare und symptomspezifische Therapie musste also bei der Rechtfertigung im Vordergrund stehen. Was die Neuartigkeit der auf einzelne „Symptomverbände“ ausgerichteten Arbeitstherapie betrifft, so könnte man diese durchaus anzweifeln. So schrieb Georg Ilberg (1862–1942) schon 1904: „In früherer Zeit waren die Irrenärzte glücklich darüber, im Wäschereibetrieb eine Tätigkeit zu haben, bei der maniakalische Frauen beim Waschen und Spülen ihren erhöhten Bewegungsdrang in nützlicher Weise betätigen können.“50

Angesichts der „Vervollkommnungen der Technik“, die ihn offensichtlich begeisterten, empfahl Ilberg dennoch Dampf und Elektrizität. Er beschrieb im Übrigen eine differenzierte Arbeitstherapie, allerdings nicht explizit an psychiatrischen Symptomen orientiert, sondern eher an Neigung, Begabung oder auch Vorbildung der Pfleglinge sowie an den Möglichkeiten der Anstalt ausgerichtet. Schneider dagegen entwickelte ein differenziertes System der Zuordnung von psychiatrischer Symptomatik und spezifisch eingesetzter Arbeitstherapie. PATIENTENARBEIT UNTER ERSCHWERTEN BEDINGUNGEN IN DER NATIONALSOZIALISTISCHEN PSYCHIATRIE Die Frage der Kontinuität in der Arbeitstherapie zwischen Weimarer Zeit und NSZeit lässt sich unter einem weiteren Blickwinkel betrachten: Der Frage nach der Entwicklung der „Beschäftigungsbehandlung“ in den immer schlechter finanzierten Anstalten. In Schneiders Universitätsklinik dürfte die Verknappung zumindest vor dem Krieg weniger spürbar gewesen sein.51 Der Regensburger Anstaltsdirektor Karl Eisen (1873–1943) besuchte die Anstalt Gütersloh im Mai 1927, um sich fünf Tage lag mit der „aktiveren Krankenbehandlung“ vertraut zu machen. Danach führte er dieses Konzept in eine ohnehin auf landwirtschaftliche Arbeit ausgerichtete Anstalt ein, die Bettbehandlung verschwand nun auch aus den Wachabteilungen.52 Schon in den Jahren zuvor hatte er die Voraussetzungen für eine ausgedehnte Arbeitstherapie geschaffen, ein Gut hin49 50

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Schneider, Behandlung und Verhütung, 118. Georg Ilberg, Irrenanstalten, Idioten- und Epileptikeranstalten mit besonderer Berücksichtigung des Arztes in derselben, Jena 1904, 29. Vgl. auch Simon, Aktivere Krankenbehandlung, 20: „Stärker erregte, kräftige, weibliche Schizophrene und Manische stellen wir mit Vorliebe an die Waschbütte, wo sie ihren überschüssigen Bewegungsdrang etwas nach der nützlichen Seite ausarbeiten können.“ Zur Veränderung der therapeutischen Optionen an der Heidelberger Klinik im Krieg vgl. Beddies, „Aktivere Krankenbehandlung“, 282–283. Clemens Cording, Die Regensburger Heil- und Pflegeanstalt Karthaus-Prüll im „Dritten Reich“. Eine Studie zur Geschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus (DWV-Schriften zur Geschichte des Nationalsozialismus, Bd. 2), Würzburg/Boston 2000, 38.

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zugepachtet und auf Selbsterhalt der Anstalt hingewirkt: Die Erinnerung an die Hungerwinter des Ersten Weltkriegs und der Wunsch nach Vermeidung solch katastrophaler Zustände galten hierbei als besonderes Motiv.53 1927 stellte der Oberpfälzer Kreistag den Anstaltsbetrieb auf Selbsterhaltung um, im gleichen Jahr erfolgte die Einführung der „aktiveren Therapie“.54 Im Jahr 1932 arbeiteten in Regensburg 96 Prozent der Insassinnen und Insassen.55 Schon Ende 1932 wurde, unabhängig vom erfolgten Ausbau der Arbeitstherapie, der Pflegesatz erstmals gesenkt (von 3,60 RM auf 3,40 RM, am 01.02.1933 dann auf 3,00 RM), hinzu kamen im Jahr 1934 „Pflegefälle“ mit niedrigerem Satz aus einer geschlossenen Filiale. Die finanzielle Situation in der Regensburger Anstalt Karthaus-Prüll verschlechterte sich stetig.56 Dies zog weitreichende Veränderungen nach sich, vor allem im personellen Bereich. In seinem letzten Jahresbericht 1936 versuchte Eisen, die politisch Verantwortlichen aufzurütteln: „Es ist durchaus nationalsozialistisch gedacht, alle Kranken werktätiger Arbeit zuzuführen, um rascher Besserung und Genesung herbeizuführen, die zur Entlassung kommenden Kranken als arbeitsgewohnt und arbeitsfreudig der Familie zurückzugeben und die übrigen uns verbleibenden zu nützlichen Menschen zu erziehen, indem man ihnen nutzbringende Arbeit unentbehrlich macht und sie fühlen läßt, daß sie auch als langjährige Anstaltsinsassen (…) immer noch nützliche Geschöpfe sind und keine unnützen Esser. (…) Aus diesem Grund möchte ich warnend meine Stimme erheben, nicht aus kleinlichen oder mißdeuteten Sparprinzipien durch Dezimierung des Pflegepersonals die so segensreiche Simon’sche Arbeitstherapie unmöglich zu machen, und damit wieder das alte Tollhaus neu erstehen zu lassen, wie wir es vor 100 und noch vor 50 Jahren zu sehen gewohnt waren. Videant consules!“57

Seine Mahnung zeigte nicht die erhoffte Wirkung. Eisen ließ sich im November 1937 frühzeitig pensionieren, als er den circulus vitiosus aus Personalabbau, weniger Arbeitstherapie, dadurch steigender Kosten für den Kreis mit der Folge weiteren Personalabbaus nicht durchbrechen konnte.58 Eine Abnahme der in den Anstalten geleisteten Arbeit in den 1930er Jahren mutet zunächst paradox an. So könnte man vermuten, dass nicht nur Anstaltsleiter, sondern auch die vorgesetzten Behörden während der NS-Zeit auf eine noch weiter gehende Leistungssteigerung hätten hinarbeiten müssen. Und doch war Regensburg in dieser Hinsicht kein Einzelfall. So wurden im pfälzischen Klingenmünster zwischen 1927 und 1932 im Durchschnitt 91 Prozent der Patientinnen und Patien53 54 55 56 57 58

Ebda., 34–36. Ebda., 41. Ebda., 55. Ebda., 50–52. Bezirksklinikum Regensburg, Jahresbericht 1936, zit. n. Cording, Die Regensburger Heil- und Pflegeanstalt, 52. Ebda., 53. Laut Jahresbericht von 1940 führte Schneider dagegen die Arbeitstherapie in Heidelberg sogar noch unter Kriegsbedingungen fast unvermindert weiter, da „der verbleibende Teil der Pfleger zum größten Teil arbeitstherapeutisch schon eingearbeitet war“. Er weist auch darauf hin, dass kein „arbeitstherapeutischer Betrieb lahmgelegt“ werden musste. Allerdings habe man im Sinne einer Konzession einige besonders unruhige Patientinnen und Patienten in die Anstalt Wiesloch verlegt. Historisches Archiv der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, IX, 2b, vgl. Beddies, „Aktivere Krankenbehandlung“, 283.

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ten beschäftigt. Danach sank der Beschäftigungsgrad im Zusammenhang mit Personalabbau kontinuierlich, bis er im Jahr 1938 einen Tiefstand von 58,6 Prozent erreichte. Wahrscheinlich ließ man nur noch diejenigen Kranken arbeiten, bei denen dies nicht personalintensiv begleitet werden musste. Arthur Schreck (1878– 1963), in den 1930er Jahren Leiter der badischen „Sparanstalt“ Rastatt,59 brachte die „neue Art einer selektierenden Arbeitstherapie“ in dem Ausspruch auf den Punkt, „er sehe nicht ein, warum ein Karren von zehn Patienten gezogen werden sollte, wenn zwei dies genau so gut könnten“.60 Als man in Klingenmünster 1940 im Zeichen der Kriegswirtschaft die Arbeitstherapie wieder steigern wollte, bemühte man sich jedenfalls um eine höhere Pflegerquote zur Durchführung dieser Maßnahme: 1:4 statt 1:7.61 „Nun galt das Interesse jedoch nicht mehr der Therapie der Anstaltsinsassen, sondern eindeutig der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft!“62 Diese Schlussfolgerung in der Geschichte der Anstalt Klingenmünster aus dem Jahr 1998 legt nahe, zuvor sei eine rein therapeutische, sozusagen „gute“ Beschäftigungstherapie eingesetzt worden, ausschließlich zum Wohle des Kranken, in der NS-Zeit dagegen die „schlechte“ Variante zum Wohl der Volksgemeinschaft. Es dürfte allerdings für die Arbeitstherapie jeder Epoche schwierig sein, therapeutische und finanzielle Aspekte strikt voneinander zu trennen, zumal sie keinen prinzipiellen Gegensatz bilden mussten.63 Wie auch immer es jedoch genau mit der „Produktivität“ der Heil- und Pflegeanstalten bestellt war, die angesichts sinkender Pflegesätze auch noch in steigendem Maße auf die eigene Landwirtschaft angewiesen waren, eines wird deutlich: Durch den Rückgang der Arbeitstherapie zumindest in den genannten Anstalten öffnete sich die Schere zwischen den mehr, da selbständig und nicht personalintensiv arbeitenden, und den weniger nützlichen Patientinnen und Patienten immer weiter. Dies war wenig später die faktische Grundlage für die Selektion im Krankenmord. Das spiegelt sich in den Krankengeschichten wider, wie ein Vergleich zwischen den Beurteilungen der Klingenmünsterer Patienten Hugo Sch. und Ludwig Cornicius (1868–1941) deutlich macht. Hugo Sch. wurde bezüglich Arbeit lapidar als „brauchbar“ eingestuft.64 Bei der Evakuierung der Anstalt 1939 gelangte er nach

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Faulstich, Von der Irrenfürsorge zur „Euthanasie“, 161–175. Heinz Faulstich, Hungersterben in der Psychiatrie 1914–1949. Mit einer Topographie der NSPsychiatrie, Freiburg 1998, 237. Karl Scherer / Ottfried Linde / Roland Paul, Die Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster 1933– 1945 (Beiträge zur pfälzischen Geschichte, Bd. 14), Kaiserslautern 2003 (1. Auflage 1998), 41–44; vgl. Christof Beyer, Von der Kreis-Irrenanstalt zum Pfalzklinikum. Eine Geschichte der Psychiatrie in Klingenmünster, Kaiserslautern 2009, 141. Scherer / Linde / Paul, Klingenmünster, 44. Vgl. hierzu die Beiträge von Anna Urbach und Thomas Müller in diesem Band. Hugo Sch. aus Ludwigshafen wurde am 06.06.1886 geboren. Die Krankengeschichte ist im Bundesarchiv Berlin erhalten unter der Nummer R 179/20487. Die Einträge mit der genannten Einstufung der Arbeitsleistung stammen vom 29.02.1928 und vom 14.03.1931. Für das Exzerpt aus der Akte danke ich Babette Reicherdt.

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Eglfing-Haar, wo er nicht mehr arbeitete. Von dort wurde er zur Ermordung nach Hartheim gebracht. Dagegen hieß es in der Akte von Ludwig Cornicius, einem aus Speyer stammenden Gärtner, von dem einige Zeichnungen in die Sammlung Prinzhorn Eingang gefunden haben, 1934 ungewöhnlich empathisch: „Arbeitet fleissig in der Gärtnerei, wo er zwar sehr eigensinnig, aber mit großer Sachkenntnis und Liebe seine Pflanzen betreut.“ Der geschätzte Gartenarbeiter hatte 1926 sogar den Abteilungsschlüssel erhalten, da er sich „vollkommen einwandfrei und als äußerst tüchtiger Gärtner in der Anstalt zeigt“.65 So wurde er 1940 bei der Evakuierung Klingenmünsters nicht nach Eglfing, sondern mit 27 anderen arbeitenden Männern in die städtische Einrichtung St. Getreu in Bamberg verlegt. Einige Monate später gehörte Cornicius zu jenen 82 Patienten, die bereits am 15. März 1940 nach Klingenmünster zurückkehrten, um die Anstalt zu bewirtschaften – man schätzte ihn also als „produktiv“. Allerdings wird schon im April 1940 eine Herzschwäche beschrieben, von der sich Cornicius nicht mehr erholte. Am 26. März 1941 starb der 73jährige in Klingenmünster.66 ARBEIT ALS SELEKTIONSKRITERIUM IM NATIONALSOZIALISTISCHEN KRANKENMORD Arbeitsfähigkeit war ein entscheidendes Selektionskriterium im nationalsozialistischen Krankenmord, das lässt sich insbesondere für die „Aktion T4“ zeigen. Dieser nach der Planungszentrale der NS-„Euthanasie“ in der Berliner Tiergartenstraße 4 benannte Phase des Mordes an Anstaltspatientinnen und -patienten fielen 1940 und 1941 rund 70.000 Menschen zum Opfer – sie starben in sechs eigens eingerichteten „Tötungsanstalten“ in Gaskammern an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung. Den Krankengeschichten der Opfer, die heute im Bundesarchiv Berlin aufbewahrt werden, widmete sich im Rahmen eines DFG-Projektes ein größeres Team von For-

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Die Krankengeschichte von Ludwig Cornicius, geb. am 1868 in Speyer, ist in Kopie in der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg, der ehemaligen Lehrsammlung der Psychiatrischen Universitätsklinik, einzusehen. Als sogenannter „Künstler-Patient“ der heutigen Sammlung entfällt die Anonymisierung seines Namens. Cornicius kam erstmals 1911 als Aufnahme aus dem Bürgerhospital Speyer nach Klingenmünster. Handgreifliche Szenen zu Hause hatten zur Hospitalisierung geführt. Die Diagnose lautete „Dementia praecox“. 1912 wurde er probeweise entlassen, 1918 erfolgte die zweite und dauerhafte Aufnahme. Zu den beiden Zitaten sind nur die Jahreszahlen, nicht das genaue Datum des Eintrages aus der Krankenakte ersichtlich. Es stellt sich die Frage, ob Cornicius ein Opfer des Hungersterbens in Klingenmünster wurde. 1941, im Todesjahr von Cornicius, betrug die Sterberate dort 9 % (1945 sollte sie 36 % erreichen). Faulstich berechnet eine Übersterblichkeit von 4 % (das bedeutet 64 NS-Opfer in diesem Jahr), etwas weniger als die Hälfte der 1941 dort Verstorbenen sind also als NS-Opfer anzusehen. Vgl. Faulstich, Hungersterben, 336–337; Scherer / Linde / Paul, Klingenmünster, 105. Zu den Evakuierungstransporten vgl. Beyer, Von der Kreisirrenanstalt zum Pfalzklinikum, 143 und 145 zur Rückkehr von Patienten am 15.3.1940 zur Bestellung der Felder und Instandsetzung der Einrichtung.

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scherinnen und Forschern.67 Um auf der Basis von 3.000 der insgesamt rund 30.000 erhaltenen Akten von „T4“-Opfern Schlüsse über mögliche Selektionskriterien ziehen zu können, wurden zusätzlich ca. 550 Akten von „T4“-Überlebenden für eine so genannte Vergleichsstichprobe erhoben.68 Diese Erkenntnis war insofern nicht überraschend, als auch zuvor bekannte Quellen auf die Bedeutung der Arbeitsfähigkeit für die Selektion hinwiesen. So erwähnt das Merkblatt, das die Anstalten mit den Meldebogen zum Ausfüllen erhielten (ohne den genauen Zweck der Meldung genannt zu bekommen), Fragen nach der Produktivität und Arbeitsfähigkeit an prominenter Stelle. Vor allem sollten auf den Meldebogen, die den Tätern des Krankenmordes als Basis der Selektion dienten, Patientinnen und Patienten mit bestimmten Diagnosen gemeldet werden, die länger als fünf Jahre in Anstaltsbehandlung waren und die nicht „produktiv“ arbeiteten. Auch die bereits im Nürnberger Ärzteprozess als Beweismaterial vorliegenden „T4“-Meldebögen legen die Selektion der Anstaltsinsassinnen und -insassen nach dem Kriterium der Arbeitsleistung nahe, zumal die unterschiedlichen Versionen der Meldebögen im Laufe des Krieges die Arbeitsfähigkeit der Patientinnen und Patienten immer differenzierter erfassten.69 So fragen die Meldebogenversionen von 1941 dezidiert nach dem „Wert der Arbeitsleistung (nach Möglichkeit verglichen mit der Durchschnittsleistung Gesunder)“.70 Nicht zuletzt formulierten die beiden „Euthanasiebeauftragten“, Hitlers „Begleitarzt“ Karl Brandt (1904–1948) und der Leiter der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler (1899–1945), im Jahr 1941 Richtlinien zur Begutachtung der Meldebögen, in denen es hieß, es gehe um die Ausschaltung der „Unproduktiven“, nicht ausschließlich der „geistig Toten“.71 Um die Dimension Arbeit aus den Akten möglichst detailliert und zeitnah an der „Aktion T4“ zu erfassen, wurden in der Studie verschiedene Variablen gebildet. Eine nimmt die Arbeitsbereiche in den Blick, also Hausarbeit (Arbeit auf der Station und in der Küche), Außenarbeit etc.72 Eine zweite Variable klassifiziert auf der 67 68 69

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Vgl. Anm. 18. Zur Methodik der Studie vgl. Gerrit Hohendorf, Der Tod als Erlösung vom Leiden. Geschichte und Ethik der Sterbehilfe seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Göttingen 2013, 96. Philipp Rauh, Medizinische Selektionskriterien versus ökonomisch-utilitaristische Verwaltungsinteressen. Ergebnisse der Meldebogenauswertung, in: Maike Rotzoll / Gerrit Hohendorf / Petra Fuchs / Paul Richter / Christoph Mundt / Wolfgang U. Eckart (Hgg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“, 297–309, hier: 300. Vgl. beispielsweise den Abdruck des Meldebogen 1 in der dritten Version von 1941 in Rotzoll et al. (Hgg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“, Abbildungsteil Abb. 25; Hohendorf, Die Selektion der Opfer, 317. Entscheidungen der beiden „Euthanasie“-Beauftragten hinsichtlich der Begutachtung (unter Einbeziehung der Ergebnisse der Besprechung in Berchtesgaden am 10.3.1941), zit. n. Ernst Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a. M. 1983, 328. Die Arbeitsbereiche konnten im Lauf der Zeit wechseln, besonders während langer Verläufe schon aus Altersgründen. Falls dies in der jeweiligen Akte der Fall war, sollte der Bereich erfasst werden, in dem die Patientin/der Patient so kurz wie erfassbar vor der Ermordung tätig war (da der Fokus auf der Selektion lag). Der Überblick über die Arbeitsbereiche bezieht sich

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Basis eines Textfeldes die zur Bewertung der Arbeitstätigkeit verwandten Begriffe in der zeitgenössischen Diktion wie „fleißig“, „leidlich brauchbar“, „nur unter Aufsicht zu verwenden“, „spärliche Arbeitsleistung“ und „arbeitsunwillig“. Da für die „T4“-Gutachter wohl vor allem die „produktive“ Arbeitsleitung für das Überleben zählte, wurden in einer dritten Variablen die Arbeitsbereiche und die Bewertung der Arbeitstätigkeit zu einem Gesamteindruck zwischen den Polen „produktiv“ und „unbeschäftigt“ zusammengefasst.73 Zudem wurde in die Auswertung einbezogen, ob sich die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit kurz vor der Ermordung verändert hatte.74 Welche große Rolle man der Arbeitstherapie zuschrieb, lässt sich schon daraus entnehmen, dass entsprechende Informationen nur selten fehlen. Wenn jemand nicht arbeitete, so ging dies gewöhnlich klar aus der Akte hervor, und auch der Einsatzbereich konnte nur in etwa einem Fünftel (in 640 von 3.510 Akten) nicht zugeordnet werden.75 An dieser Stelle sollen zunächst die Arbeitsbereiche im Spiegel der „T4“-Studie dargestellt werden, weil sich hieran die Frage der medizinischen Indikation, wie sie Carl Schneider gefordert hatte, diskutieren lässt. Die meisten der arbeitenden Anstaltspatientinnen und -patienten waren in zwei Bereichen tätig: der Hausarbeit und der Außenarbeit, jeweils über 20 %. Häusliche Arbeit besorgten 42,3 % der bis zuletzt arbeitenden „T4“-Opfer und 24,2 % der „T4“-Überlebenden.76 Gleiches gilt, nur von der Häufigkeit in umgekehrter Verteilung, für die Außenarbeit: 34,5 % der „T4“-Überlebenden waren hier tätig, auch 20,4 % der Opfer arbeiteten in Gärtnereien, in Feld-, und Bau- oder Kohlenkolonnen. Wäscherei und Nähstuben waren auch wichtige Arbeitsbereiche, wobei sich hier die „T4“-Opfer (17,2 % der bis zuletzt Arbeitenden) und die „T4“-Überlebenden (14,4 %) weniger unterscheiden. Geschätzt wurden die selteneren Büro- und Handwerksarbeiten. Für manche Tätigkeiten benötigte man eine entsprechende Ausbildung oder berufliche Erfahrung (oder musste zumindest angelernt werden), so als Schuhmacher, Schlosser, Buchbinder, Bäckerin bzw. Bäcker oder Schneiderin bzw. Schneider. Auch in den Büros konnte man durchaus zu viel Vertrauen voraussetzender Arbeit eingeteilt werden:

73 74 75

76

also im Wesentlichen auf die zweite Hälfte der 1930er Jahre, genauer wird man es aufgrund der Seltenheit der Einträge in den Akten nicht spezifizieren können. Die Operationalisierung sieht folgende Möglichkeiten der Einordnung vor: „produktive Arbeitsleistung“, „mittlere Arbeitsleistung“, „mechanische Arbeitsleistung/wenig brauchbar“, „keine Arbeit, nicht zuzuordnen“. Diese Variable „Deutlicher Bruch in der Bewertung der Arbeitsfähigkeit ab 1939“ wurde aufgrund eines Zwischenergebnisses in der Einarbeitungsphase des Projektes eingefügt, nach welchem sich die Bewertung der Arbeitsfähigkeit häufig kurz vor der Ermordung radikal änderte. Im Vergleich zu gut zwei Drittel der Akten, in denen keine Medikation erwähnt wurde! Bei 44,2 % der Patientinnen und Patienten der Opferstichprobe ergibt sich aus der Akte, dass sie nicht arbeiteten, dagegen nur bei 12,9 % der Vergleichstichprobe. „Keine Arbeit (Kind)“ wurde zusätzlich in insgesamt 70 „Fällen“ angegeben, 57 (2,4 %) unter den Opfern und 13 (2,8 %) unter den Überlebenden. In diese Analyse wurden 1.679 Akten einbezogen, 397 von „T4“-Überlebenden und 1.282 von „T4“-Opfern. Ausgeschlossen wurden die Akten der nicht arbeitenden Patientinnen und Patienten und der nicht arbeitenden Kinder, sowie die „nicht zuzuordnenden“.

206

Maike Rotzoll

„fleißig, willig, unverdrossen in der Kassenverwaltung“ heißt es in einer Akte, „zuverlässig und arbeitsam, führt im Büro die Besoldungsliste“ in einer anderen.77 Über eine Patientin aus Arnsdorf (sie hatte eine höhere Schule besucht) heißt es sogar: „arbeitet in der erbbiologischen Abteilung.“78 Wegen der Hochschätzung differenzierter Arbeiten in Handwerk und Büro finden sich die Patientinnen und Patienten dieser Gruppe häufiger unter den Überlebenden, in 13,9 % gegenüber 3,7 % der „T4“-Opfer. Umgekehrt ist die Verteilung bei dem berüchtigten „Zupfen“ (Sortieren von textilem Material) und anderen so genannten mechanischen Arbeiten wie „Federn schleißen“ oder „Tütenkleben“ (2 % der Überlebenden und 10,3 % der Opfer). Außenarbeit, Handwerk und Büroarbeiten waren also diejenigen Bereiche, die die größten Überlebenschancen eröffneten. Tabelle 1: Verteilung auf die Arbeitsbereiche: „T4“-Opfer und „T4“-Überlebende (nicht arbeitende Patientinnen und Patienten ausgeschlossen), Prozentwerte auf Zehntel gerundet; N = 1.679 (1.282 Opfer; 397 Überlebende), χ2=139,52; p< 0,005

Arbeitsbereich

„T4“-Opfer

„T4“-Überlebende

Haus und Küche

42,3 %

24,2 %

Feld und Garten

20,4 %

34,5 %

Handwerk und Büro

3,7 %

13,9 %

Nähstube

17,2 %

14,4 %

„Mechanische Arbeit“

10,3 %

2,0 %

Andere Arbeit

6,2 %

11,1 %

Σ

100 %

100 %

Nun waren die Arbeitsbereiche aber auch geschlechtsspezifisch verteilt, wie es sich auch für die Heidelberger Klinik unter Carl Schneider zeigen lässt: Offenbar stand dies für ihn nicht im Widerspruch zu seinem symptomorientierten Ansatz. In der Hausarbeit waren die Unterschiede nicht so groß, wie man zunächst vermuten könnte. Unter den „T4“-Opfern, die bis zuletzt arbeiteten, waren 45,8 % der Frauen, aber auch 38,3 % der Männer in diesem Bereich tätig. In der Außenarbeit sind die Unterschiede deutlicher: Nur 7,2 % der weiblichen „T4“-Opfer waren diesem Bereich zuzuordnen, aber 35,3 % der Männer: Etwa 80 % aller Außenarbeiter unter den Opfern waren Männer. Nicht einmal 1 % der ermordeten Frauen arbeiteten in einem Handwerk oder im Büro, dagegen 6,8 % der Männer (die somit 87 % der dort 77

78

Das erste Zitat stammt aus der Akte eines Überlebenden des Krankenmordes aus Großschweidnitz, Ernst Q., der am 17.02.1890 geboren wurde und am 11.12.1974 verstarb (Akte zum Zeitpunkt der Erhebung noch in Großschweidnitz). Das zweite Zitat stammt aus der Akte eines am 17.01.1872 geborenen Patienten der Anstalt Görden, der die „Aktion T4“ überlebte und 1945 starb, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, Signatur Gö 101. Bundesarchiv Berlin, R 179/12145. Die Patientin der Anstalt Arnsdorf wurde am 26.08.1889 geboren und wurde am 27.9.1940 in Pirna-Sonnenstein ermordet.

Rhythmus des Lebens. Arbeit in psychiatrischen Institutionen im Nationalsozialismus 207

Beschäftigten stellten). Handwerk, Büro und Außenarbeit waren also eindeutig Männerdomänen. Frauen wurden dagegen wesentlich häufiger in der Wäscherei und in der Nähstube eingesetzt (30,3 % der Frauen gegenüber 2,3 % der Männer unter den Opfern). Besuchte man also eine Nähstube, so traf man auf über 90 % Frauen. Mechanische Arbeit, das sogenannte „Zupfen“, war mit jeweils etwa 10 % der Frauen und der Männer ungefähr gleich verteilt.79 Tabelle 2: Verteilung der „T4“-Opfer auf die Arbeitsbereiche: Männer und Frauen, nicht arbeitende Patientinnen und Patienten ausgeschlossen, Prozentwerte auf Zehntel gerundet; N = 1.1.282 (681 Frauen, 601 Männer); χ2=304,14; p< 0,005

Arbeitsbereich

Frauen

Männer

Haus und Küche

45,8 %

38,3 %

Feld und Garten

7,2 %

35,3 %

Handwerk und Büro

0,9 %

6,8 %

Nähstube

30,3 %

2,3 %

„Mechanische Arbeit“

10,0 %

10,7 %

Andere Arbeit

5,9 %

6,7 %

Σ

100 %

100 %

Doch wie verhielt es sich in der Praxis mit den therapeutischen Intentionen? Hatte die Diagnose einen Einfluss auf die Arbeitsbereiche, in denen man die Patientinnen und Patienten einsetzte? Man findet die Insassinnen und Insassen mit der Diagnose „Schwachsinn“ etwas häufiger bei der Haus- oder Außenarbeit, diejenigen mit „progressiver Paralyse“ am ehesten in der Hausarbeit oder beim „Zupfen“. Die Patientinnen und Patienten mit „Alterserkrankungen“ teilte man offenbar gerne für die Nähstuben oder zum „Zupfen“ ein, diejenigen mit der Diagnose „Epilepsie“ häufig für die Außenarbeit und die „Schizophrenen“ für Hausarbeit und Nähstuben. Die selteneren Handwerks- und Büroarbeiten waren in allen größeren Diagnosegruppen fast gleich verteilt, hier ging es offenbar um die Fähigkeiten, die man mitbrachte oder erlernt hatte. Trotz der Unterschiede wird auch deutlich, dass aus allen Diagnosegruppen Menschen in allen Bereichen tätig waren.80 Es drängt sich der Eindruck auf, dass der Nutzen für die Anstalt im Vordergrund stand. Nicht so bedeutsam dagegen 79

80

In diese Analyse wurden 1.282 Akten einbezogen (ausgeschlossen waren in diesem Fall die nicht (mehr) arbeitenden Patientinnen und Patienten, die nicht arbeitenden Kinder, die keinem Arbeitsbereich Zuzuordnenden und die „T4“-Überlebenden). Die Geschlechtsverteilung in den Nähstuben, Wäschereien und Küchen unterscheidet sich für „T4“-Opfer und „T4“-Überlebende kaum. Die unterschiedliche Verteilung der Arbeitsbereiche wird signifikant. Einbezogen wurden hierfür nur die Diagnosegruppen 1, 3, 6, 13 und 14 sowie die Bereiche Hausarbeit, Außenarbeit, Handwerk, Nähstube und Zupfen. Für die Hauptstichprobe war N=1.127 (Chi-Quadrat = 47,1258, p< 0,005), für die Vergleichsstichprobe N=305 (Chi-Quadrat = 36,3504, p=0,003).

208

Maike Rotzoll

scheint gewesen zu sein, was für wen aufgrund seiner Erkrankung therapeutisch besonders nützlich sein könnte, wie Carl Schneider es gefordert hatte, abgesehen davon, dass man den Einfluss von Arbeit pauschal für heilsam hielt. Tabelle 3: Verteilung der „T4“-Opfer auf die Arbeitsbereiche: Hauptdiagnosen, nicht arbeitende Patientinnen und Patienten ausgeschlossen, Prozentwerte auf Zehntel gerundet (1 = „Schwachsinn“; 3 = „Progressive Paralyse“; 6 = „Alterserkrankungen“; 13 = „Epilepsie“; 14 = „Schizophrenie“); N= 1.127; χ2=47,12; p< 0,005

Arbeitsbereich/Diagnose Würzb. Schlüssel

1

3

6

13

14

Durchschnitt

Haus und Küche

52,4 %

49,2 %

43,8 %

30,9 %

45,3 %

45,9 %

Feld und Garten

27,0 %

18,5 %

12,5 %

27,7 %

19,6 %

21,7 %

Handwerk und Büro

2,0 %

3,1 %

6,3 %

4,3 %

3,7 %

3,4 %

Nähstube

8,7 %

7,7 %

25 %

20,2 %

21,1 %

17,6 %

„Mechanische Arbeit“

9,9 %

21,5 %

12,5 %

17,0 %

10,3 %

11,5 %

Σ

100 % (252)

100 % (65)

100 % (16)

100 % (94)

100 % (700)

100 % (1.127)

Sucht man weiter Antworten auf die Frage, ob die Patientinnen und Patienten unabhängig von ihrer Diagnose gezielt nach ihrer Symptomatik – bzw. „Symptomverbänden“ nach Carl Schneider, der präzise Vorschläge einer differenzierten Einteilung vorlegte81 – in die Arbeitsbereiche eingeteilt wurden, so ist es sinnvoll, die Arbeitsbereiche mit den Verhaltensbeschreibungen zu korrelieren.82 Dabei fällt auf, dass „ruhige“ und „angenehme“ Patientinnen und Patienten besonders häufig in Haus und Küche eingesetzt wurden, allerdings auch die „Gefährlichen“. Für die ersteren mag dies bezogen auf die Küchenarbeit eine Belohnung gewesen sein (denn dort konnte man möglicherweise zusätzlich zur üblichen Ration etwas zu essen bekommen). Die als „gefährlich“ eingeschätzten werden jedoch vor allem dann auf den Stationen eingesetzt worden sein, wenn man sie nicht hinauslassen wollte. Das galt offenbar nicht für alle und jederzeit, denn viele (potenziell) „Gefährliche“ waren auch in der Außenarbeit zu finden. Hierin könnte man die medizinische Indikation der „Beruhigung“ sehen. War es für überwiegend „Ruhige“ jedoch auch aus medizinischen Gründen notwendig, in Handwerk oder Büro zu arbeiten? Oder stand hier der Nutzen für die Anstalt im Vordergrund? In den Nähstuben waren die „störenden“ und „unruhigen“ (überwiegend) Frauen einge81 82

Schneider, Behandlung und Verhütung, 199–218. In diese Auswertung wurden 1.553 „T4“-Opfer einbezogen (ausgeschlossen die nicht zuzuordnenden, die nicht Arbeitenden oder mit einer „anderen Arbeit“ beschäftigten). 521 aus dieser Gruppe (45,2 %) arbeiteten in Haus und Küche, 250 (21,7 %) in den Außenbereichen, 43 (3,7 %) in Handwerk und Büro, 210 (18,2 %) in den Nähstuben, 129 (11,2 %) waren mit mechanischen Arbeiten beschäftigt (Ergebnisse siehe Tabelle). Die Auswertung wird signifikant: χ2=63,85; p< 0,005.

Rhythmus des Lebens. Arbeit in psychiatrischen Institutionen im Nationalsozialismus 209 Tabelle 4: Verteilung der „T4“-Opfer auf die Arbeitsbereiche nach Verhaltenskategorien, nicht arbeitende Patientinnen und Patienten ausgeschlossen, Prozentwerte auf Zehntel gerundet; N = 1553; χ2=63,85;p< 0,005 (Abweichungen vom „Durchschnitt“ hervorgehoben)

„T4“-Opfer Arbeitsbereich/ Verhalten

stumpf

störend gefährlich

unruhig

ruhig

angenehm

Durchschnitt

Haus und Küche

39,6 %

45,1 %

47,0 %

36,2 %

48,2 %

58,2 %

45,2 %

Feld und Garten

26,4 %

17,7 %

26,7 %

12,8 %

20 %

19 %

21,7 %

Handwerk und Büro

3,9 %

2,9 %

3,5 %

0%

6,2 %

3,8 %

3,7 %

Nähstube

12,9 %

24,9 %

11,9 %

36,2 %

18,5 %

12,7 %

18,2 %

„Mechanische Arbeit“

17,1 %

9,4 %

10,9 %

14,9 %

7,2 %

6,3 %

11,2 %

Σ

100 % (280)

100 % (350)

100 % (202)

100 % (47)

100 % (195)

100 % (79)

100 % (1.553)

setzt, hier liegt am ehesten ein geschlechtsspezifisches Auswahlkriterium nahe. Ganz am Ende der Hierarchie, unter denen, die mit Zupfen beschäftigt wurden, fanden sich die „Stumpfen“ (wohl diejenigen, die man zur Außenarbeit nicht verwenden konnte) und die „Unruhigen“. Durchgehend medizinische Kriterien sind also nicht festzumachen, jedoch eine „Gemengelage“, bei der fachspezifische Erwägungen durchaus eine Rolle spielen konnten. Für die „T4“-Überlebenden ergibt sich ein nur leicht abweichendes Gesamtbild. Allerdings ist festzuhalten: „Stumpfe“ und „unruhige“ Patientinnen und Patienten, die mit Zupfen beschäftigt wurden, fanden sich unter den „T4“-Überlebenden überhaupt nicht, sie waren offensichtlich besonders typische „T4“-Opfer.83 Es gab also eine klare Hierarchie der Arbeitsbereiche – sicherlich mit Auf- und Abstiegsmöglichkeiten und unter Benachteiligung älterer Patientinnen und Patienten.84 So gehörte der 87jährige Karl Ahrendt zum Schluss zu den „Zupfern“, nachdem er viele Jahre in anderen Bereichen gearbeitet hatte – bei der „Karrengruppe“ 83

84

In diese Auswertung wurden 315 „T4“-Überlebende einbezogen (ausgeschlossen die nicht Zuzuordnenden, die nicht Arbeitenden oder mit einer „anderen Arbeit“ Beschäftigten). In Haus und Küche (insgesamt 85 bzw. 27 %) waren immer noch besonders viele „ruhige“ und „gefährliche“ Patientinnen und Patienten gemischt, in der Außenarbeit (insgesamt 125 oder 39,7 %) überwogen die „Stumpfen“ und „Unruhigen“, in Büro und Handwerk (insgesamt 50 bzw. 15,9 %) überwogen die „Angenehmen“, die „unruhigen“ und „störenden“ Patientinnen und Patienten waren immer noch in die Nähstuben (insgesamt 47 bzw. 14,9 %) eingeteilt. „Zupfer“ gab es kaum noch (insgesamt 8 bzw. 2,5 %), keiner von ihnen war als „stumpf“ oder „unruhig“ eingeordnet worden. Die Auswertung wird nicht signifikant, ergibt jedoch eine Tendenz: ChiQuadrat = 37,55; p = 0,010. So lässt sich zeigen, dass Patientinnen und Patienten, die mit über 70 Jahren noch arbeiteten, seltener positiv beurteilt wurden als die über 60jährigen Beschäftigten. Von den 1.638 Akten, denen man eine Arbeitsbewertung entnehmen konnte, gehörten 331 zu Personen über 60 Jahren (75 Überlebende und 256 Opfer) und 90 zu Personen über 70 Jahren (18 Überlebende und 72 Opfer). Bei den Überlebenden ging der Anteil der positiv Bewerteten von 69,3 % auf 61,1 % zurück, bei den Opfern von 39,1 % auf 31,9 %.

210

Maike Rotzoll

und als Helfer des Friseurs, wie er in einem seiner zahlreichen „Zirkularschreiben“ berichtet.85 Bei der Selektion für die „Aktion T4“ ging es um „Produktivität“. Doch welche Patientinnen und Patienten waren diejenigen, die als „produktiv“ geschätzt wurden? Geschlechtsspezifische Unterschiede lassen sich für diesen Punkt nicht herausarbeiten.86 Größere Abweichungen der diagnostischen Gruppen bezüglich des Gesamturteils über die Arbeit sind ebenfalls nicht festzustellen. Es gab jedoch einen Bereich, mit dem die Gesamtbewertung der Arbeitstätigkeit stark korrelierte: die ärztliche Einschätzung des Verhaltens ihrer Patientinnen und Patienten. Wer in den Akten als „ruhig“ oder „angenehm“ beschrieben worden war, der hatte bessere Chancen, auch als „produktiv“ arbeitend eingestuft zu werden – so kam es letztlich zu einer Synergie zweier Selektionskriterien.87 Nicht selten gewinnt man aus den „T4“-Akten den Eindruck, dass die Bewertung der Arbeitstätigkeit sich kurz vor dem Ende der Akte ins Negative verkehrte. In Krankengeschichten, die jahrzehntelange, kontinuierliche Arbeit in der Anstalt dokumentieren, liest man unvermittelt „zu keiner Arbeit zu bewegen“. Es ist naheliegend, dass Personalmangel dazu beitrug, keine Zeit mehr auf die Motivation der Patientinnen und Patienten aufzuwenden, zumal nach Kriegsbeginn. Tatsächlich findet sich in fast 30 % der Akten von „T4“-Opfern ein deutlicher Bruch in der Bewertung der Arbeitsfähigkeit ab 1939, während dies bei den „T4“-Überlebenden nur in 6,5 % der Fall war. Es gibt auch die umgekehrte Entwicklung, eine Veränderung zum Positiven – als hätten die Patientinnen und Patienten gespürt, dass es nun darauf ankam, so gut wie möglich zu arbeiten – etwa gleich häufig bei Opfern und Überlebenden (in ca. 5 % der Akten), in der Hälfte der „Fälle“ also vergeblich.88 85 86

87

88

Zu Karl Ahrendt vgl. Bettina Brand-Claussen / Maike Rotzoll, Schikaniert und schaponiert. Karl Ahrendt, Kutscher ohne Gnadenbrot, in: Rotzoll et al. (Hgg.), Die nationalsozialistische „Euthanasie“-Aktion „T4“, 214–219, hier: 217. Zwar waren Frauen insgesamt etwas häufiger „unbeschäftigt“ (etwa 48 % der Frauen gegenüber 44 % der Männer unter den Opfern). Wenn Frauen jedoch arbeiteten, waren die Unterschiede in der Beurteilung der Produktivität nicht groß. 20 % der Frauen und 21,6 % der Männer wurden als produktiv eingeschätzt, 27,4 % der Frauen als mittelmäßig gegenüber 32,1 % der Männer, 53,6 % der Frauen als „wenig brauchbar“ gegenüber 46,2 % der Männer. Ein hier vermuteter Unterschied findet sich nur in der Gruppe der Überlebenden. So sah man unter den „T4“-Opfern fast 40 % der als „angenehm“ beschriebenen auch als „produktiv“ an (der Durchschnitt lag bei 19,6 %). Unter den „T4“-Überlebenden sind fast 80 % der „Angenehmen“ auch „produktiv“. Unter den Opfern waren erstaunlicherweise die anteilmäßig wenigsten „Produktiven“ nicht unter den „Störenden“ und „Gefährlichen“ zu finden, sondern mit knapp 11 % unter den „Stumpfen“, die sich für ihre Umwelt und somit wohl auch für die Arbeit häufig nicht mehr ausreichend zu interessieren schienen. In diese Berechnung wurden 1.166 „T4“-Opfer über 14 Jahren einbezogen, die arbeiteten und bei denen aus der Akte die Zuordnung zur Gesamtbewertung sowie eine Verhaltensbewertung zu entnehmen waren. ChiQuadrat = 66,5291, p< 0,005. In der Vergleichsstichprobe sind die Zahlenverhältnisse vom Prinzip her ähnlich (ebenfalls signifikant), insgesamt haben, wie beschrieben, mehr „Produktive“, „Ruhige“ und „Angenehme“ überlebt. In diese Berechnung wurden 2.186 Akten von „T4“-Opfern und 430 Akten von „T4“-Überlebenden einbezogen (nicht auswertbare ausgeschlossen). Eine deutliche Veränderung zum

Rhythmus des Lebens. Arbeit in psychiatrischen Institutionen im Nationalsozialismus 211

„Das hat mit Arbeitsfaehigkeit und Arbeitsunfaehigkeit nichts zu tun“: Ausdrücklich wehrte sich der frühere „Euthanasie“-Beauftragte Karl Brandt als Angeklagter in Nürnberg 1947 gegen die Annahme, es sei beim nationalsozialistischen Krankenmord um die Beseitigung der Arbeitsunfähigen unter den Anstaltspatientinnen und -patienten gegangen.89 Dass dies nicht der Wahrheit entsprach, lässt sich nun auf quantitativer Basis nachweisen.90 Während Carl Schneider in seiner Klinik noch die wissenschaftlich fundierte und symptomorientiert angewandte Arbeitstherapie propagierte, zählten in den Anstalten bei der Verteilung und der Bewertung von Arbeit sowie bei der Selektion offenbar im Wesentlichen zweckrationale Motive. KONTINUITÄT? ANSTALTSARBEIT BIS IN DIE ZEIT DER „ZUSAMMENBRUCHGESELLSCHAFT“ In den psychiatrischen Anstalten des Deutschen Reichs wurde Simons „aktivere Krankenbehandlung“ als Aufbruch wahrgenommen, als eine Reformmaßnahme die prinzipiell alle Patientinnen und Patienten betraf, das Milieu der Anstalten wie ihr Ansehen verbesserte sowie eine Annährung an die „normale“ Außenwelt ermöglichte, auch im Sinne früher und häufiger möglicher Entlassungen. Während Carl Schneider als einer der einflussreichsten Universitätspsychiater der NS-Zeit Simons Konzept aufgriff, wissenschaftlich zu untermauern und auf den klinischen Bereich, der traditionell kurzfristiger Behandlung diente, auszuweiten versuchte, setzte zumindest in einigen Anstalten eine Gegenbewegung ein. Aufgrund der Sparmaßnahmen der NS-Psychiatrie, die zu erheblichem Personalmangel führte, wurde die Arbeitstherapie zunehmend auf diejenigen Patientinnen und Patienten beschränkt, die „produktiv“ arbeiteten. Schneiders Vorstellungen einer komplexen differenziellen Indikation der Arbeitstherapie nach „Symptomverbänden“ dürfte sich in der Anstaltspraxis kaum widergespiegelt haben. Die Unterscheidung zwischen „produktiven“ und „unproduktiven“ Anstaltsinsassinnen und -insassen dagegen bot kurz nach Erscheinen von Schneiders Lehrbuch die faktische Grundlage der Selektion im nationalsozialistischen Krankenmord. Die Anstaltsarbeit stand seit ihrer Reform durch Simon bis in die Zeit des Krieges und des Krankenmords im Zentrum weitreichender Diskussionen und einschneidender Veränderungen. Nicht immer scheint sie den Alltag von Langzeitpatientinnen und -patienten verändert zu haben. Der Regensburger Patient Edmund Träger (1875–1957) beispielsweise überlebte den Krankenmord und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in der Anstalt vielleicht noch dringender gebraucht als je-

89 90

Negativen fand sich bei 501 Opfern (22,9 %) und bei 28 Überlebenden (6,5 %). Eine Veränderung zum Positiven ab 1939 fand sich bei 110 Opfern (5 %) und bei 29 Überlebenden (6,7 %). Hohendorf, Die Selektion der Opfer, 310. Petra Fuchs, Die Opfer als Gruppe: Eine kollektivbiographische Skizze auf der Basis empirischer Befunde, in: Petra Fuchs / Maike Rotzoll/ Ulrich Müller / Paul Richter / Gerrit Hohendorf (Hgg.), „Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst.“ Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“, Göttingen 2007, 53–72, hier: 62–64; Hohendorf, Die Selektion der Opfer, 317–319.

212

Maike Rotzoll

mals zuvor: 1918 aufgenommen, arbeitete er über die Jahrzehnte im Haus, als Maler und Schreiner, als Maurer, Pflasterer und Anstreicher. Auch sonst galt er als „zu mancherlei Arbeiten zu gebrauchen“.91 Ob Träger das Jahr 1927 aufgrund der intensivierten Arbeitstherapie ebenso wie die Anstaltsärzte als Wendepunkt im Anstaltsleben angesehen hätte, ist fraglich: Arbeit ist das Hauptthema seiner Krankengeschichte, vor und nach 1927. Da konnte man ihm seine „kindisch-primitive[n] Aquarellmalereien“ verzeihen und auch seine Größenideen: „Ihm gehört die Anstalt. Er ist der größte Dichter der Welt. Er ist ein viel größerer Psychiater als Kraepelin.“92 Aus Trägers Akte erfährt man nichts über die einschneidenden politischen Ereignisse in der Regensburger Klinik im Nationalsozialismus. Die Anzahl der ärztlichen Einträge verringerten sich, der Inhalt änderte sich nicht: Träger blieb ein zuverlässiger, unauffälliger, brauchbarer Arbeiter ohne „Beanstandung“. Er überlebte diese Zeit sehr wahrscheinlich deswegen. Fast zehn Jahre lang wurde kein Eintrag in seiner Krankengeschichte vorgenommen. Erst 1948 wurde über den immer noch Arbeitenden berichtet, er „bleibe gerne hier, weil er draußen keinen Anhaltspunkt und keine Mittel habe“.93 Edmund Träger, ein typischer, jahrzehntelang arbeitender Langzeitpatient, starb 1957. Ob er als Patient für die Nachkriegszeit immer noch typisch war, wie sich das „Anstaltsklientel“ und damit auch der Themenkomplex Arbeit in Anstalten und Kliniken nach 1945 veränderte, werden weitere Forschungen zeigen müssen.94 UNGEDRUCKTE QUELLEN Bundesarchiv Berlin: R 179/12145 (Krankenakte) R 179/20487 (Krankenakte) Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam: Signatur Gö 101 (Krankenakte) Sammlung Prinzhorn (Heidelberg): Krankenakte Ludwig Cornicius, ohne Signatur Historisches Archiv der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg: Jahresbericht der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg 1940, IX, 2b Bestand „Forschungskinder“-Akten, F 32 (Günther) und F 33 (Walter) Generallandesarchiv Karlsruhe: 463 Zug. 1983/9 Nr. 106 (Besichtigung fremder Anstalten und Abfassung von Reiseberichten) 91 92 93 94

Bezirksklinikum Regensburg, Archiv, Krankengeschichte Edmund Träger, Eintrag aus dem Jahr 1924. Ebda., Eintrag aus dem Jahr 1923. Ebda., Eintrag vom 28.6.1948. Im DFG-Projekt „Nach dem Krankenmord. Struktur und Alltagsleben ehemaliger Tötungsanstalten in den vier Besatzungszonen 1945–1955“ (Maike Rotzoll, Georg Lilienthal, Wolfgang U. Eckart, Ingo Harms, Dietmar Schulze) finden sich erste Hinweise, dass die Anzahl der „typischen Langzeitpatientinnen und -patienten“ in der Nachkriegszeit deutlich abnahm und sich für den Bereich Arbeit deutliche Konsequenzen ergaben.

Rhythmus des Lebens. Arbeit in psychiatrischen Institutionen im Nationalsozialismus 213

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AN DER SCHWELLE VON INKLUSION UND EXKLUSION: ZUR BEDEUTUNG DER KATEGORIE „ARBEIT“ IN DER PSYCHIATRISCHEN EINWEISUNGSPRAXIS 1941–1945 Stefanie Coché Arbeit stellt in mehrfacher Hinsicht eine zentrale Kategorie für das Verständnis von psychiatrischen Anstalten dar. Für das Innere der Anstalten spielte Arbeit im Rahmen der Arbeitstherapie zweifellos eine wichtige Rolle. Aber auch darüber hinaus ist eine Untersuchung von Arbeit im psychiatriehistorischen Kontext aufschlussreich. Gerade für die Zeit des Zweiten Weltkriegs können über die Kategorie Arbeit psychiatriegeschichtliche und gesellschaftsgeschichtliche Fragen im Kontext thematisiert werden. Denn Arbeit und Arbeitsfähigkeit waren während des Zweiten Weltkriegs in mehrfacher Hinsicht von zentraler Bedeutung. Sowohl in der Forschung zum Holocaust als auch in der zum Krankenmord ist herausgearbeitet worden, dass Arbeitsfähigkeit ein wichtiges, wenn auch keinesfalls eindeutiges – und gewiss nicht das einzige – Kriterium bei der Selektion zur Ermordung in den Anstalten und Konzentrationslagern war.1 Gleichzeitig war die extreme Betonung der Nützlichkeit des Einzelnen ein integrativer Bestandteil des Rassismus nach innen, der sich im Zusammenhang mit der Kategorie Arbeit etwa in den Aktionen gegen sogenannte „Asoziale“ und „Arbeitsscheue“ im direkten Vorfeld des Zweiten Weltkriegs manifestierte.2 Zudem war die betriebliche Arbeitswelt durch eine extreme Leistungsideologie geprägt, die vor allem mit Hilfe der betrieblichen Gesundheitsfürsorge umgesetzt wurde.3 Weniger bekannt ist jedoch, ob und wie Arbeit und 1

2 3

Zu den drei Dimensionen von Arbeit im Kontext der „Endlösung“ (Vernichtung durch Arbeit, Rettung durch Arbeit, Vernichtung als Arbeit) siehe: Thomas Sandkühler, „Endlösung“ in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Berthold Beitz 1941–44, Bonn 1996, 11–14; zur Arbeitsunfähigkeit als Selektionskriterium zur Ermordung in den Konzentrationslagern insbesondere gegen Ende des Krieges siehe den Beitrag von Stefan Hördler auf der Tagung „Arbeit im Nationalsozialismus“, in: Tagungsbericht „Arbeit im Nationalsozialismus.“ 13.–15.12.2012, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 25.02.2013, ; zu diesem Thema vgl. auch die Ergebnisse des DFGProjekts „Wissenschaftliche Erschließung und Auswertung des Krankenaktenbestandes der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Aktion ‚T4‘ im Bundesarchiv Berlin“ (DFG-Förderkennzeichen HO 2208-2-1-3; Antragsteller: Gerrit Hohendorf, Christoph Mundt, Wolfgang U. Eckart, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen: Petra Fuchs, Maike Rotzoll, Projektlaufzeit: 2002– 2006); vgl. dazu auch den Beitrag von Maike Rotzoll in diesem Band. Wolfgang Ayaß, „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995, 156 ff. Mit Beginn des Kriegs fand die Konzentration auf das Kriterium der Arbeitsfähigkeit, dem auch bereits die Präventivmedizin diente, ihren Höhepunkt in der Umstellung auf die betriebliche Gesundheitsfürsorge. Der gesamte alltägliche Gesundheitsbereich wurde zunehmend an den Betrieb gekoppelt und an ihm ausgerichtet. So durften etwa ab 1940 in kriegswichtigen

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Stefanie Coché

Arbeitsfähigkeit das Alltagsleben der Deutschen in den Familien und im weiteren sozialen Umfeld prägte.4 Welche Vorstellungen von Arbeit im Alltag der Kriegsgesellschaft von Bedeutung waren, wird im Folgenden durch das Prisma der psychiatrischen Einweisungspraxis analysiert.5 Die Aufnahme in eine psychiatrische Anstalt spiegelt und generiert eine flexible und handlungsoffene Schwelle, an der ausgehandelt wurde, welche Personengruppen oder welches Verhalten als nicht mehr tolerierbar oder handhabbar galten. An dieser Schwelle werden Menschen auf Grund von zeitspezifischen Sicherheits-, Sittlichkeits- und Krankheitsvorstellungen in einem sozialen Aushandlungsprozess räumlich von der „Gesellschaft“ getrennt. In diesem Zusammenhang soll die Untersuchung der Einweisungspraxis für die Geschichte des Nationalsozialismus einen Beitrag zur Analyse der deutschen Kriegsgesellschaft und zur Volksgemeinschaftsdebatte leisten. Dabei wird angenommen, dass die Herstellung von „Volksgemeinschaft“ wesentlich auch durch die Beteiligung an Grenzziehungen in Alltagsbereichen stattfand. Weder wird davon ausgegangen, dass es eine klar umrissene Volksgemeinschaft in der NS-Zeit gab, noch dass sie ein reines Verheißungsmodell gewesen ist, sondern, dass sie eine Veränderung sozialer Praktiken und gesellschaftlicher Normen mit offenem Ende beschreibt, die nicht entlang von klaren Regeln verlief. Hierbei wird an eine praxeologische Verwendung von Volksgemeinschaft als Analysekategorie angeschlossen. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass gesellschaftliche Normvorstellungen sich vor allen Dingen in den Handlungen der Akteurinnen und Akteure ausdrücken und dort modifiziert und reproduziert werden.6 Dieser von Pierre Bourdieu (1930– 2002) abgeleitete Ansatz wird im Folgenden verwendet,7 um Praktiken von Inklusion und Exklusion im nationalsozialistischen Kriegsalltag zu untersuchen. Denn es erscheint vielversprechend und wichtig, Inklusions- und Exklusionsprozesse auch in alltäglichen Bereichen der nationalsozialistischen Gesellschaft zu identifizieren,

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Betrieben nur noch Betriebsärzte krankschreiben. Außerdem „arbeitete die DAF (Deutsche Arbeitsfront, S. C.) systematisch darauf hin, Kranke statt in der Familie in betriebseigenen Einrichtungen zu pflegen, um auf diese Weise die Kontrolle über sie zu verdichten“. Winfried Süß, Der „Volkskörper“ im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland, 1939–1945, München 2003, 261; zusammenfassend zur betrieblichen Gesundheitsvorsorge siehe: Wolfgang Uwe Eckart, Medizin in der NS-Diktatur. Ideologie, Praxis, Folgen, Wien/Köln/Weimar 2012, 176 ff. So haben Alf Lüdtke und Michael Wildt auf einer Tagung zum Thema „Arbeit im Nationalsozialismus“ gefordert, die Praxis von Inklusion und Exklusion am Beispiel von „Arbeit“ zu untersuchen, siehe: Tagungsbericht Arbeit im Nationalsozialismus. Der Frage nach der Praxis der Einweisung gehe ich in meinem Promotionsprojekt für den Zeitraum von 1941 bis 1963 in NS, DDR und BRD nach (Arbeitstitel: Psychiatrische Einweisungspraxis in NS, DDR und BRD, 1941–1963), siehe: . Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007; Frank Bajohr / Michael Wildt, Volksgemeinschaft. Neue Forschungen zur Gesellschaft des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2009; Michael Wildt, „Volksgemeinschaft“. Eine Antwort auf Ian Kershaw, in: Zeithistorische Forschungen 8/2011, 102–109. Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1987.

An der Schwelle von Inklusion und Exklusion

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auch um die Gewaltexzesse und ihre Akteurinnen und Akteure nicht isoliert vom Alltagsleben zu verorten. Vor diesem Hintergrund soll danach gefragt werden, welche Rolle Arbeit in der psychiatrischen Einweisungspraxis in der Argumentation von Patientinnen und Patienten, ihren Familien und ihrem sozialen Umfeld in der Zeit von 1941 bis 1945 spielte. Das Jahr 1941 bietet sich in doppelter Hinsicht als Ausgangspunkt an. Denn das Jahr 1941 stellte erstens für den Kriegsverlauf und in diesem Zusammenhang auch für die Gesellschaft an der Heimatfront eine entscheidende Wende dar.8 Gleichzeitig kann man zweitens spätestens nach dem offiziellen Abbruch der „Aktion T4“9 davon ausgehen, dass in der Bevölkerung ein Wissen um die Krankenmorde existierte.10 Zum einen werden daher Entscheidungsspielräume und ihre unterschiedliche Nutzung nachgezeichnet. Darüber hinaus werden diese Entscheidungen als Spiegel gesellschaftlicher Verhaltenserwartungen während des Krieges analysiert. Auf eine Definition von Arbeit wird an dieser Stelle bewusst verzichtet, um sich der Thematik von verschiedenen Seiten nähern und von den Quellen aus ein differenzierteres Bild zeichnen zu können.11 Im Folgenden erschließt der Beitrag den Untersuchungsgegenstand in zwei Schritten: Zuerst wird die unterschiedliche Verwendung von Einweisungsargumentationen mit Arbeitsfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit in den Blick genommen. Anschließend wird der Kategorie Arbeit anhand des spezifischen Umgangs mit nicht mehr arbeitenden älteren Menschen nachgegangen.

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Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, dem Scheitern des Blitzkriegkonzepts und schließlich dem Kriegseintritt der USA veränderte sich die gesamte Kriegsdynamik und im Zusammenhang mit der Verstetigung des Krieges auch die Situation an der „Heimatfront“. Im Gesundheitswesen war etwa ab 1941/42 die Krankenhausversorgung der Zivilbevölkerung nicht mehr gesichert, vgl. Süß, Volkskörper im Krieg, 210. Die „Aktion T4“, der staatlich organisierte Mord an körperlich und geistig Behinderten, begann um die Jahreswende 1939/1940 und wurde offiziell am 23. August 1941 eingestellt, wohl auch durch öffentliche Proteste katholischer Geistlicher. Allerdings gab es ab August 1942 eine Wiederaufnahme der Morde, diesmal nicht staatlich zentral, sondern dezentral, unterschiedlich nach Region und Anstalt, siehe u. a.: Dieter Pohl, Verfolgung und Massenmord in der NS-Zeit 1933–1945, Darmstadt 2003, 30 f. Zu den Krankenmorden gibt es eine kaum mehr zu überschauende Zahl an Studien, u. a.: Michael Burleigh, Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900–1945, Zürich/München 2002; Heinz Faulstich, Hungersterben in der Psychiatrie, Freiburg 1993; Henry Friedländer, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997; Ernst Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a. M. 1983; Angelika Ebbinghaus / Klaus Dörner (Hgg.), Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen, Berlin 2002; einen umfassenden Überblick gibt Robert Jütte, Medizin im Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011. Zum Wissen um die Krankenmorde siehe z. B. Götz Aly, Die Belasteten. „Euthanasie“ 1939– 1945. Eine Gesellschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2013, 266 ff. Da die Geschichte der Arbeit seit den 1980er Jahren inhaltlich und methodisch deutlich breiter geworden ist, wird seitdem meist auf eine allgemeine Definition verzichtet. Siehe hierzu: Joseph Ehmer / Edith Sauer, Art. Arbeit, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart 2005, 507–533, hier: 508.

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ARBEIT IN DER EINWEISUNGSPRAXIS Arbeit, Arbeitsfähigkeit und Arbeitswille waren anders als Selbst- und Fremdgefährdung oder eine psychiatrische Erkrankung offiziell zwar keine Gründe für eine Einweisung in die Psychiatrie, wurden jedoch sehr häufig im Kontext von Einweisungen zur Begründung herangeführt. Dass die mangelnde Arbeitsleistung als Argument für eine Anstaltseinweisung von den Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen benutzt wurde, war keineswegs ein Phänomen, das erst im Zweiten Weltkrieg auftrat.12 Jedoch wird dieser Argumentationsstrang in der Zeit von 1941 bis Kriegsende aus zwei Gründen kriegsspezifisch: Zum einen wurden Krieg und Arbeit oftmals direkt verknüpft, und zum anderen muss eine Einweisung in den Jahren 1941 bis Kriegsende vor dem Hintergrund eines verbreiteten Wissens um die Krankenmorde interpretiert werden.13 Die Unterscheidung von Arbeitsfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit markierte eine Schwelle von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, die nahezu alle Lebensbereiche tangierte und deswegen von enormer Bedeutung für ein Verständnis von Volksgemeinschaft als sozialer Praxis ist. In der Praxis der Einweisung manifestierten sich an der Frage der Bedeutung von Arbeitsfähigkeit nationalsozialistische, kriegsspezifische und utilitaristische Normvorstellungen. Die Arbeitskraft der Patientin oder des Patienten und auch deren Beurteilung durch die Angehörigen spielte in der Aushandlung der Einweisung sowie in der Aushandlung der Länge des Aufenthalts eine vielfältige und wichtige Rolle. Angehörige argumentierten – manchmal mit und manchmal ohne Erfiolg –, dass die Patientin oder der Patient zu Hause gebraucht werde, um zu arbeiten, dass sie oder er nicht zu Hause bleiben könne, da sie oder er nicht arbeitsfähig sei, oder dass der Arbeitsbeitrag eines Familienmitgliedes für die Gemeinschaft durch die Einweisung beeinträchtigt sei. Dies soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden: Marie H.14 wurde 1942 in die Psychiatrische und Nervenklinik Leipzig eingewiesen und von dort in die Heil- und Pflegeanstalt Untergöltzsch überwiesen. 1942 12

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14

Joost Vijselaar weist etwa auf die große Bedeutung von ökonomischen Umständen und familiären Arbeitsverhältnissen in einer Langzeitstudie für die Niederlande hin: Joost Vijselaar, Out and In: The Family and the Asylum. Patterns of Admission and Discharge in Three Dutch Psychiatric Hospitals 1890–1950, in: Marijke Gijswijt-Hofstra (Hg.), Psychiatric Cultures Compared, Amsterdam 2006, 277–295; zum Aspekt der Arbeit und Arbeitsfähigkeit im Kontext der Einweisungs- wie auch der Alltagspraxis in den Anstalten um 1900 siehe: Monika Ankele, Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900. Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn, Wien/Köln/Weimar 2009, 110–130; im Zuge meiner Dissertation hat sich ebenfalls gezeigt, dass „Arbeit“ im Sinne von Arbeitsfähigkeit und -leistung auch für die Einweisungspraxis in der BRD und der DDR eine Rolle spielte, jedoch teilweise in deutlich anderen für die jeweiligen politischen Systeme spezifischen Argumentationskontexten. Zur Notwendigkeit gesundheitspolitischer Inklusion und Exklusion, die zwar nicht genuin nationalsozialistisch war, im Kontext des Nationalsozialismus anders zu bewerten, siehe: Malte Thießen, Medizingeschichte in der Erweiterung. Perspektiven für eine Sozial- und Kulturgeschichte der Moderne, in: Archiv für Sozialgeschichte 53/2013, 535–599, hier: 562. Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Chemnitz, Bestand 32810 Sächsisches Krankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Rodewisch, Landeskrankenhaus, Sig. 6707. Alle Namen der Patientinnen und Patienten sowie ihrer Angehörigen wurden anonymisiert.

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war Marie H. 28 Jahre alt, verheiratet und hatte zwei Kinder, ihr Mann war als Soldat an der Front. Sie wurde von ihrer Schwester in die Klinik nach Leipzig gebracht; die Schwester gab an, die Patientin rede „lauter dummes Zeug“15 und sei überzeugt, von ihrem Mann betrogen zu werden. Marie H. selbst sagte aus, „sie fühle sich hypnotisiert“.16 Nach sieben Tagen wurde sie wieder entlassen, dazu ist vermerkt: „Der Ehemann, der aus dem Felde gekommen war, nahm seine Frau auf eigenen Wunsch gegen Revers mit nach Hause. Er wurde davon unterrichtet, dass es sich um eine beginnende Geisteskrankheit handele.“17

Zwei Monate später brachte der Ehemann seine Frau zurück in die Psychiatrische und Nervenklinik Leipzig. Unter den Angaben des Ehemanns ist notiert: „Er habe die Pat. am 9.9.1942 nach wenigen Tagen Klinikaufenthalt auf seine eigene Verantwortung herausgenommen. Es sei aber nur schlecht zu Hause gegangen. Sie habe den Haushalt vernachlässigt, habe die Kinder nicht besorgt, alles sei liegen geblieben und die Pat. selbst sei vollkommen uneinsichtig und gleichgültig gewesen, habe sich in keiner Weise betroffen gefühlt. Sie hätten Verkehr zusammen gehabt, aber die Pat. sei kalt dabei gewesen, ganz anders als früher. Jetzt müsse er wieder an die Front, da habe er die Pat. lieber wieder in die Klinik gebracht. Das gehe zu hause nicht allein. Die 2 Kinder seien bei den Großeltern.“18

Die Patientin gab am selben Tag an: „Es sei zu Hause aber doch ganz gut gegangen. Sie wisse gar nicht, was ihr Mann nur wolle, sie habe alles gut versorgt. Sie habe gar nicht mehr das Gefühl krank zu sein. Sie wolle gern wieder heim, um ihrer Mutter waschen zu helfen. (…) Sie wisse aber gar nicht, weshalb sie hier eingesperrt werde, wo sie zu hause soviel arbeiten könnte (…).“19

Nachdem der Ehemann seine Frau trotz der Vorwürfe des Ehebruchs auf eigene Verantwortung aus der Klinik mit nach Hause genommen hatte, brachte er sie nach dem Ende seines Fronturlaubs wieder zurück. In seiner Argumentation spielt die Vernachlässigung ihrer Arbeitspflichten im Haushalt eine wesentliche Rolle. Der Ehemann thematisierte die Arbeitsleistung im häuslichen und familiären Bereich, die er als defizitär ansah, in direktem Zusammenhang mit einem seiner Meinung nach „abnormale[n] Sexualverhalten“. Auf der anderen Seite führte die Ehefrau – erfolglos – an, sie habe zu Hause „alles gut versorgt“ und sie werde zur Arbeit benötigt. Es wird deutlich, dass Arbeitsfähigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit in der Argumentation von Patientin und Ehemann für oder gegen einen Anstaltsaufenthalt eine Rolle spielte. Sie verwiesen auf ihre Einschätzung der Arbeitsfähigkeit der Patientin. Damit akzeptierten sie die Bedeutung von Arbeitsfähigkeit und Arbeitswille als Inklusionsmerkmal und reproduzierten es zugleich. Dies ist insofern besonders aussagekräftig, als dass Arbeits(un)fähigkeit eben kein offizielles Einweisungskriterium darstellte und damit tiefere Einblicke in gesellschaftlich normierte Verhaltens15 16 17 18 19

Ebda., Eintrag 02.09.1942 Ebda. Ebda., Eintrag 09.09.1942. Ebda., Eintrag 28.11.1942. Ebda.

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erwartungen gewährt werden. Arbeitsfähigkeit als ein von der Patientin und den Angehörigen vorgebrachtes Argument ist dabei eine mögliche gesellschaftliche und alltagsgebundene Konkretisierung von Anstaltsbedürftigkeit. Wesentliche Merkmale dafür, tragbar für die Gesellschaft zu sein, waren Arbeitsfähigkeit und Arbeitswille, zwar nicht nur, aber in besonderem Maße unter Kriegsumständen. Der Ehemann führte seine Rückkehr an die Front als Grund an, warum die Haushaltsführung seiner Frau nun endgültig nicht mehr tragbar sei. Das Argument, das er, ob kalkuliert oder unbewusst, für sagbar und schlagkräftig hielt, entsteht durch die Verbindung der „Arbeitsunwilligkeit“ seiner Frau und seine durch den Krieg bedingte familiäre Abwesenheit bzw. seinen kriegsbedingten Fronteinsatz. Ganz anders verlief die Einweisung von Minna W.20, die im März 1944 als gemeingefährlich in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar eingeliefert wurde. Aus dem amtsärztlichen Gutachten, das die Gemeingefährlichkeit begründen sollte, geht folgendes hervor: Die Frau war schon seit 1941 mehrfach dem Gesundheitsamt von ihren Nachbarinnen gemeldet worden. Ihr wurden Wahnideen attestiert, die unter anderem damit begründet wurden, dass sie überzeugt gewesen sei, die Nachbarn planten ein Attentat auf sie. Der Ehemann der Patientin, der zur Zeit der Einweisung Soldat an der Front war, schrieb einen Brief an die Anstaltsleitung. Er berichtete, dass er seit 1939 an der Front sei, um, wie er schrieb, „Heimat und Familie zu schützen“.21 In diesem Kontext erklärte er das Verhalten seiner Frau: „Dass meine Frau in diesen schweren Zeiten mit den Nerven runtergekommen ist, ist leicht zu verstehen. Es war die Sorge um mich.“22 Im Fortgang des Schreibens bittet er mit folgendem Wortlaut um die Entlassung seiner Frau: „Da ich durch den Fall meiner Frau sehr schwer darunter leide und meine Leistungen daher bedenklich nachgelassen haben, wurden mir zwölf Tage Sonderurlaub gegeben, um für meine Frau zu sorgen. Ich bitte sie sehr geehrte Direktion meinen Kindern die Mutter wieder zugeben durch die Entlassung aus der Anstalt, mir dadurch die alte Kraft meinen Posten so auszufüllen zu können, wie es sein muss, um den Endsieg für uns alle zu erringen.“23

Diese Quelle zeigt den Argumentationsspielraum, der bei psychiatrischen Einweisung- und Entlassungspraktiken auch während der NS-Zeit existierte. Es ist ein Beispiel dafür, wie Familienangehörige diesen Raum nutzen konnten, um zu versuchen, eine Einweisung ihrer Verwandten zu verhindern oder zu verkürzen. Ganz anders als im Fall der Marie H. zuvor, geht es diesmal nicht primär um die Arbeitsfähigkeit der Patientin, sondern um die ihres Ehemanns. Die erfolgreiche Argumentation hiermit weist erneut auf die Bedeutung von Arbeitsfähigkeit hin, jedoch aus einer etwas anderen Richtung. Während die Quelle davor die Unterscheidung Arbeitsfähigkeit/Arbeitsunfähigkeit als Ausbuchstabierung der abstrakteren Grenze „tolerierbar/nicht-tolerierbar“ zeigte, weist diese Quelle auf eine andere Funktion von Psychiatrie hin. Die Tatsache, dass die Arbeitsfähigkeit eines „Nicht-Patienten“ angeführt wird, weist auf ein Verständnis von Psychiatrie, das auf das Funktionie20 21 22 23

Archiv des Bezirks Oberbayern, Bestand: Patientenakten Eglfing-Haar, Sig. 10389. Ebda., Brief vom 12.04.1944. Ebda. Ebda.

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ren der Gesellschaft ausgerichtet ist. Psychiatrische Einweisungen könnten in diesem Sinne auch als (Selbst-)Regulierung der Gesellschaft interpretiert werden. Regulierung durch Einweisung wäre als Reaktion darauf zu interpretieren, dass mit bestimmten Menschen nicht umgegangen werden konnte oder wollte. Bestimmte Verhaltensweisen und Äußerungen werden von jeweils spezifischen sozialen Umfeldern oder institutionellen Akteurinnen und Akteuren als nicht handhabbar eingestuft – unter Umständen auch von den Patientinnen und Patienten selbst. Wenn die Einweisung zu einem Funktionieren der Gesellschaft, zum reibungslosen Ablauf in als wichtig erachteten gesellschaftlichen Teilbereichen beitragen sollte, dann wäre es kontraproduktiv, wenn durch eine Einweisung an anderer Stelle Funktionseinbußen hingenommen werden müssten. Diese Lesart legt das Argument des Ehemannes nahe, der auf das Nachlassen seiner Leistung durch die ihn belastende Situation hinweist. Da der Mann Soldat ist, wird hier ein auch sonst oft vorgebrachtes Argument besonders deutlich: Die Arbeit der Familie der eingewiesenen Person und damit ihr Beitrag zum Wohl der „Volksgemeinschaft“ wird angeführt, in diesem Fall, konkret zur Erlangung des „Endsiegs“. Der Ehemann beschreibt seine Tätigkeit als Soldat mit Begriffen aus der Arbeitswelt, wenn er etwa von „nachlassender Leistung“ spricht.24 Gleichzeitig betont er die Bedeutung seiner Tätigkeit für die Gemeinschaft, indem er forumliert, dass er den „Endsieg für uns alle erringen“ wolle. Die Akzeptanz des Arguments der Arbeitsbeeinträchtigung ist auch daran zu erkennen, dass der Ehemann Sonderurlaub bekommt, ganz explizit um sich um seine Frau kümmern zu können. Arbeit ist Teil eines größeren Argumentationskomplexes, der auf unterschiedliche Lebensbereiche verweist. So wird ebenso auf die Hausarbeit der Frau hingewiesen, insbesondere auf die Kindererziehung, wie auch auf die Arbeit im Krieg. Zu den beiden Beispielen ist zusammenfassend zu sagen, dass die Bezugnahme auf „Arbeit“ als Argument zugunsten oder zuungunsten der Patientinnen genutzt, also zur Exklusion und zur Inklusion angeführt werden konnte. Hier ist erstens der Handlungsspielraum der Verwandten, in diesen beiden Fällen der Ehemänner, zu betonen. Zweitens muss auf die Bedeutung direkter pragmatischer Anliegen während des Krieges hingewiesen werden, die gerade unter den gegebenen Bedingungen mitunter ausschlaggebender waren als Ideologie oder psychiatrisches Wissen. Auf diese Besonderheit wurde auch in der Forschung zum Krankenmord bereits mehrfach hingewiesen, wenn es um Arbeitsunfähigkeit als Kriterium für die Ermordung ging.25 In sehr vielen Fällen wurden Arbeitsverweigerung oder Arbeitsunfähigkeit im kriegsspezifischen Kontext seitens der Laien als Hauptgrund für die Einweisungen in die Anstalt angeführt. Sie zeigen, wie konsensfähig diese Denkfigur war. Es wird deutlich, dass sich in der argumentativen Verwendung der Kategorie „Arbeit“ im Kontext psychiatrischer Einweisungspraxis die Normvorstellungen eines nützlichen und arbeitsfähigen Menschen in der Kriegszeit spiegelten, und dass Arbeitsfä24 25

Zum Thema Krieg als Arbeit aus der Perspektive der Soldaten, siehe: Sönke Neitzel / Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a. M. 2011, 411 ff. Etwa in: Süß, Der „Volkskörper“ im Krieg, 318 ff.

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higkeit und -wille in besonderem Maße zum Kriterium für die Zugehörigkeit zur „Volksgemeinschaft“ wurden.26 Nützlichkeit und Leistungsfähigkeit avancierten damit im Krieg nicht ausschließlich im Kontext des Krankenmordes zum Selektionskriterium von besonderer Bedeutung,27 sondern auch in der Bewältigung des NS-Alltagslebens. EINWEISUNGEN NICHT MEHR ARBEITENDER ALTER MENSCHEN Schon vor Kriegsbeginn wurden alte Menschen in der neu aufkommenden, politisch forcierten Altersforschung stark unter utilitaristischen Aspekten behandelt. So war eine der wichtigsten Fragen der Altersforschung, wie ältere Menschen möglichst lang – bis mindestens zum Alter von 75 Jahren – der „Arbeiterfront“ erhalten werden konnten.28 Im Zuge der mit dem Kriegsverlauf verstärkten Umwandlung von Altersheimen in Ersatzkrankenhäuser wurden zudem alte Menschen zunehmend in psychiatrische Anstalten eingegliedert.29 Auch sind Fälle bekannt, in denen bei Schließung eines Altenheims größere Gruppen von alten Menschen insgesamt in Heil- und Pflegeanstalten transferiert wurden.30 Zugleich gab es insbesondere in den letzten beiden Kriegsjahren in der Bevölkerung Gerüchte über eine schlechtere 26

27 28

29 30

Dabei ist zu beachten, dass die Thematisierung von Arbeit durch die Patientinnen und Patienten in der Anamnese möglicherweise durch Fragen von Ärzten beeinflusst wurde. Eine mögliche Steuerung des Gesprächs in diese Richtung weist darauf hin, dass das Kriterium der Arbeitsfähigkeit für die Ärzte ebenfalls zentral war, um Anstaltsbedürftigkeit festzustellen. Allerdings sollte in diesem Zusammenhang zweierlei nicht übersehen werden: Erstens waren trotz der potentiellen Vorstrukturierung des Gesprächs durch die Ärzte die Angaben der Patientinnen und Patienten sowie der Angehörigen nicht vollständig determiniert. Auch in diesem Kontext sind Aneignungsprozesse von Seiten der Patientinnen und Patienten sowie Angehörigen in die Bewertung mit einzubeziehen, denn auch bei einer entsprechenden Frage war es keineswegs zwingend, ausführlich darauf einzugehen. Zweitens weist auch die vielfältige Thematisierung von Arbeit in den Ego-Dokumenten von Patientinnen, Patienten und Angehörigen darauf hin, dass es sich dabei zumindest nicht ausschließlich um eine von Außen herangetragene Thematik handelt. Siehe zur Debatte um die Aussagefähigkeit von Patientenakten und zur Problematik des Arzt-Patient-Verhältnisses: Flurin Condrau, The Patient’s View Meets the Clinical Gaze, in: Social History of Medicine 3/2007, 525–540; zum Konzept der Aneignung siehe: Alf Lüdtke, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 2007, 628–650. Siehe hierzu Anm. 1. Rebecca Schwoch, „…leider muss ich feststellen, dass man mich hier abgestellt hat.“ Alte Menschen in den Wittenauer Heilstätten 1945 und 1946, in: Thomas Beddies / Andrea Dörris (Hgg.), Die Patienten der Wittenauer Heilstätten in Berlin: 1919–1960, Husum 1999, 462– 498; Susanne Hahn, Pflegebedürftige alte Menschen im Nationalsozialismus, in: Christoph Kopke (Hg.), Medizin und Verbrechen: Festschrift zum 60. Geburtstag von Walter Wuttke, Ulm 2001, 131–142, hier: 131; Benjamin Möckel, „Mit 70 Jahren hat kein Mensch das Recht, sich alt zu fühlen.“ – Altersdiskurse und Bilder des Alters in der NS-Sozialpolitik, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 22/2013, 112–134, hier: 119 ff. Süß, Der „Volkskörper“ im Krieg, 297 ff. Siehe konkret zur Schließung des Altersheims in Borna: Hahn, Pflegebedürftige alte Menschen im Nationalsozialismus, 132.

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Versorgung im medizinischen System und über die Tötung alter Menschen.31 Anhand der psychiatrischen Einzelfallakten kann zusätzlich zu diesen Veränderungen nun auch die Toleranz gegenüber alten Menschen im Kriegsalltag in den Blick genommen werden. Denn der konkrete Umgang mit alten Menschen während des Krieges bildet ein Forschungsdesiderat.32 Im Folgenden sollen hierzu die Einweisungen von nicht mehr arbeitenden älteren Menschen analysiert werden, die auf Grund von Gemeingefährlichkeit eingewiesen wurden, um die Stellung dieser Menschen in ihrem sozialen Umfeld und in medizinischen Einrichtungen zu untersuchen. Damit soll sich der konkreten Praxis von Inklusion und Exklusion alter, nicht-arbeitender Menschen in der auf Leistung und Nützlichkeit des Einzelnen ausgerichteten NS-Gesellschaft im Krieg angenähert werden. Das Potential der Selbst- oder Fremdgefährdung war in den Einweisungen ein Argument, das während des Zweiten Weltkrieges an traditionelle Funktionen der Verwahrung in der Heil- und Pflegeanstalten anschließen konnte. Sicherheit als Einweisungsgrund ist somit nicht NS-spezifisch, also auch in diesem Kontext mit Vorsicht zu interpretieren.33 Allerdings gewann Sicherheit als Begründung eine spezifisch kriegsbedingte Anwendung. Während zum einen immer mehr Verhaltensweisen als „Gefahr“ deklariert und akzeptiert wurden, wurde zum anderen lediglich potentielle Gefährlichkeit als Einweisungsgrund angeführt. Es lassen sich – etwas verkürzt – drei Varianten unterscheiden, wie alte Menschen mit dem Hinweis, eine Gefahr für die Gemeinschaft zu verkörpern, eingewiesen wurden.34 In einigen Fällen wurden Menschen in verwirrtem Zustand von der Polizei auf der Straße aufgegriffen. Des Öfteren wurden ältere Patientinnen und Patienten auch von chirurgischen Abteilungen nach Operationen in Heil- und Pflegeanstalten verlegt. Dies wurde entweder mit einer zunehmenden Überlastung der Krankenhäuser legitimiert oder mit der Verweigerung von Verwandten, ihre älteren Angehörigen wieder zu Hause aufzunehmen, begründet. Bei der Überlastungsargumentation handelte es sich meistens um Fälle, in denen die Patientinnen oder Patienten auf der Station störten und es keine Verwandten in der Nähe gab. In diesen Fällen ist das Vorgehen an sich nicht spezifisch durch die Ideologie des Nationalsozialismus geprägt. Solche Fälle gab es z. B. auch nach 1945 besonders häufig im Zusammenhang mit Flüchtlingsströmen aus den ehemaligen Ostgebieten, aber auch noch in späterer Zeit. Allerdings wurde dieses Vorgehen kriegsbedingt legitimiert und die Analyse der Einzelfallakten kann eingebettet werden in die Beobachtung, dass alte Menschen im Krankenhaus allgemein als „Ressourcenverschwendung“ angesehen wurden. So meldet Anfang 1944 der stellvertretende Amtsarzt in Leipzig dem säch31 32 33 34

Hierzu siehe die Auswertung der SD-Berichte in: Götz Aly, Die Belasteten, 259 ff. Süß, Der „Volkskörper“ im Krieg, 297. Zur immer wieder auftauchenden Diskussion über ungerechtfertigte Zwangseinweisungen, siehe zahlreiche Beispiele in: Cornelia Brink, Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860–1980, Göttingen 2010. Inwiefern diese kriegsspezifischen Begründungsmuster zugleich NS-spezifisch waren, müsste über einen Vergleich zur Einweisungspraxis in anderen kriegführenden Gesellschaften erforscht werden.

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sischen Innenministerium 111 Pflegefälle, „die die Krankenhäuser verstopften“.35 Manche Angehörige, die jahrelang mit einem psychisch auffälligen Familienmitglied zu Hause gelebt hatten, weigerten sich nach einem chirurgisch indizierten Krankenhausaufenthalt des psychisch erkrankten Familienmitgliedes, dieses danach wieder nach Hause zu nehmen. Im September 1942 wurde die 69jährige Meta C. wegen Gemeingefährlichkeit nach Eglfing-Haar eingewiesen.36 Dies wurde im Gutachten des Obermedizinalrats folgendermaßen begründet: „C. war schon von 1928–30 in der Heil- und Pflegeanstalt Stralsund, dann lebte sie jahrelang bei ihrem Bruder. Im Mai oder Juni 1942 wurde sie wegen eines offenen Beines in das Krankenhaus Pasing gebracht, von wo sie wegen ihres psychisch auffälligen Verhaltens in die Nervenklinik verlegt wurde. Es handelt sich um ein manisches Zustandsbild bei Cerebralsklerose. (…) Die Angehörigen weigern sich die Pat. bei sich aufzunehmen. Sie muss deshalb wegen Gemeingefährlichkeit in einer geschlossenen Anstalt verwahrt werden.“37

In diesem Fall bleibt unklar, warum die Angehörigen sich weigern, die Frau wieder mit nach Hause zu nehmen. Deutlich wird jedoch die entscheidende Rolle der Angehörigen. Universitätsnervenkliniken waren ein Scheidepunkt in der Frage, ob jemand langfristig in eine Heil- und Pflegeanstalt kam oder nicht. Es handelte sich keineswegs um einen Automatismus. Die meisten Patientinnen und Patienten einer Universitätsklinik konnten auch nach längerem Aufenthalt aus ärztlicher Sicht wieder nach Hause, wenn ihre Angehörigen sie aufnahmen, und dies passierte auch. Es kam darüber hinaus – wenn auch selten – vor, dass Angehörige ihre älteren Verwandten sogar gegen ärztlichen Ratschlag wieder aus der Anstalt mitnahmen. So wurde die 76jährige Ina. M. von ihrem Neffen gegen Revers aus der Landesheilanstalt Marburg mit nach Hause genommen, nachdem sie wegen eines Suizidversuchs im Juli 1941 dorthin eingeliefert worden war.38 In vielen Fällen wurden die Einweisungen aber auch von den Gesundheitsämtern gemeinsam mit dem sozialen Umfeld überhaupt erst in Gang gesetzt. In diesem Zusammenhang wurde oft angeführt, dass ältere Menschen, die noch rüstig waren, aber leichte Anzeichen von Senilität zeigten, ohne Betreuung zu Hause eine Gefahr darstellten. Sie könnten etwa nicht ordentlich gekleidet das Haus verlassen, die Nachbarschaft durch das Erzählen wirrer Geschichten stören, die Verdunklung bei Bombenangriffen nicht einhalten oder das zügige Erreichen des Luftschutzraums behindern. Das Gefahrenargument wurde sehr oft in direktem Zusammenhang mit der spezifischen Konstellation des Krieges angeführt. Es soll hier nicht argumentiert werden, dass es sich dabei seitens der Familien grundsätzlich um eine instrumentalisierte Anwendung handelte. Es kann jedoch gezeigt werden, dass das Gefahrenargument bei alten Menschen zunehmend auch in anderen Kontexten genutzt und ausgeweitet wurde und auf potentielle Sicherheitsrisiken hingewiesen wurde.

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Zit. n. Hahn, Pflegebedürftige alte Menschen im Nationalsozialismus, 136. Archiv des Bezirks Oberbayern, Bestand: Patientenakten Eglfing-Haar, Sig. 6528. Ebda., Schreiben vom 15.09.1942. Archiv des Landeswohlfahrtsverband (Abkürzung: LWV) Hessen, Bestand 16K, vorl. Sig. 9903F.

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So wandte sich etwa ein Hauseigentümer brieflich ans Gesundheitsamt Chemnitz.39 Er schrieb 1940: „An das Wohlfahrtsamt Chemnitz! Mitte 6/4552 Teile Ihnen hierdurch mit, daß der bei mir als Untermieter wohnhaft gewesene, sich z. Zt. im Krankenhaus befindliche Herr N., die von mir gemietete Kammer nicht wieder beziehen kann. Und bitte Sie, für seine Unterbringung in ein Altersheim oder Fürsorgeanstalt Sorge zu treffen. Herr N. ist wohl in folge seines hohen Alters nicht mehr im vollen Besitz seiner Gedanken – was sich vor allem durch sehr leichtsinnigen Umgang mit Feuer und offenem Licht bemerkbar macht! – Er beleuchtet die Kammer mit einer Petroleumlampe und kocht zum Teil auf Spiritus. Dazu kommt noch die große Unsauberkeit, (…). Da nun auch große Gefahr besteht, daß sich das Ungeziefer auch im Hause verbreitet, und durch seinen Umgang mit Petroleum und Feuer die Gefahr eines Brandes besteht, sind deswegen die Hausbewohner schon mehrere Male bei mir vorstellig gewesen, zumal kleine Kinder im Haus sind – bin ich gezwungen Herrn (N.) fristlos zu kündigen. Heil Hitler!“40

Das Gesundheitsamt übernahm diese Argumentation und Herr N. wurde direkt aus dem Krankenhaus in die Heil- und Pflegeanstalt Zschadraß eingewiesen. Der Hinweis auf den Umgang mit Petroleum reichte als Verdachtsmoment dafür, dass Feuer ausbrechen könnte, und Ungeziefer in der Wohnung des alten Mannes konnte plausibel als Gefahr für Kinder in anderen Wohnungen des Hauses dargestellt werden. An den Einweisungsargumentationen, in denen alte Menschen mit Hinweis auf den Krieg zumindest auf argumentativer Ebene als Gefahr für die Gemeinschaft beschrieben wurden, zeigt sich eine Tendenz zur Exklusion älterer Menschen aus der Kriegsgesellschaft. Dabei ist die Tatsache ausschlaggebend, dass alte Menschen als Gefahr für die eigene Familie sowie für den „Volkskörper“ als ganzen hingestellt werden konnten, unabhängig davon, ob an diese Gefährdung de facto geglaubt wurde oder ob sie rein instrumentellen Charakter hatte. Das Gefahrenargument war in jedem Fall stark genug, um eine Aufnahme in die Anstalten zu erzwingen. Hierbei spielten die Krankenhäuser und Gesundheitsämter eine große Rolle, gleichzeitig ging ein Impuls aber auch „von unten“ aus, da das soziale Umfeld viele dieser Einweisungen initiierte oder wissentlich tolerierte. In den beiden Beispielfällen fanden die Einweisungen ohne Unterstützung der Anstaltsärzte statt. Es gab durchaus auch Fälle, in denen der Anstaltsarzt in der Krankenakte vermerkte, dass es sich nicht um psychiatrische Fälle handele, sondern eigentlich um Fälle für ein Altersheim, oder dass versucht werden sollte, die Patientin oder den Patienten wieder in der Familie unterzubringen.41 Dies musste nicht unbedingt auf eine besondere Rücksichtnahme der Ärzte zurückgehen, sondern konnte auch daran liegen, dass die Anstalten ohnehin überfüllt waren und aus ärztlicher Sicht die Aufnahme 39 40 41

Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Chemnitz, Bestand. 32810, Krankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Rodewisch, Landeskrankenhaus, Sig. 10857. Ebda., ohne Datierung (Ende 1940). Beispielsweise in: Archiv des Bezirks Oberbayern, Bestand: Patientenakten Eglfing-Haar, Sig. 6212, Eintrag vom 18.12.1942.

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alter Leute als Verwahrungsfälle der von den Ärzten intendierten Ausrichtung der Anstalten auf effiziente medizinische Versorgung und psychiatrische Behandlung zuwiderliefen.42 Die Grenzen des Sagbaren und Machbaren, die Grenzen dessen, was toleriert wurde, wurden neu ausgelotet und an den zeitspezifischen Verhältnissen ausgerichtet. Es wurde legitim und sagbar, dass Familien und Krankenhausärzte ihre Zeit und Kraft für Angelegenheiten einsetzten, die als wichtiger galten, als sich um ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger zu kümmern: für Krieg, für Erwerbsarbeit, für junge Familien.43 Trotzdem blieb es für Angehörige auch weiterhin möglich, sich anders zu entscheiden und alte Menschen wieder nach Hause zu holen, wie der erwähnte Fall aus der Landesheilanstalt Marburg zeigt. Von anderen wurden diese Verschiebungen des Sagbaren und veränderte Gelegenheitsstrukturen aber umstandslos genutzt. Denn die Entscheidung, ältere Menschen in Heil- und Pflegeanstalten unterzubringen, konnte so als unausweichlich und gerade während des Krieges letztlich dem Volkswohl dienend rationalisiert werden.44 Dies blieb jedoch nicht folgenlos: Alte Patientinnen und Patienten starben in den Jahren von 1941 bis 1945 oft sehr schnell in den Anstalten, auch wenn sie bei Eintritt in die Psychiatrie als rüstig sowie zeitlich und örtlich gut orientiert beschrieben wurden, vielleicht nur auf einen Platz im Altersheim warteten. Denn neben den dezentralen Krankenmorden (z. B. durch Hungertod) war die Versorgungslage in den Anstalten grundsätzlich schlecht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass neben der Umwandlung vieler Altersheime in Ersatzkrankenhäuser auch die breite Anwendung des Gefährdungsargumentes eine Entdifferenzierung der Anstalten ermöglichte: Die durch die Professionalisierung der Psychiatrie entstandene Differenzierung zwischen psychisch Kranken und Alten wurde im Zweiten Weltkrieg zum Teil wieder unscharf. Dies ging – ohne unbedingt von allen Seiten intendiert zu sein – von Gesundheitsämtern, Krankenhäusern und Angehörigen ebenso aus wie von zentralen Stellen und Personen, etwa im Zuge der „Aktion Brandt“.45

42 43 44 45

Siehe etwa zum Interesse Hermann Pfannmüllers (1886–1961), von 1938 bis 1945 Direktor der Anstalt Eglfing-Haar, an kurzen Klinikaufenthalten und effizienter Nutzung der Anstalten im Zusammenhang mit der Arbeitskraft der Patientinnen und Patienten: Aly, Die Belasteten, 197. Siehe auf allgemeiner Ebene zu jungen Familien und Rüstungsarbeitern als Gewinner des Krieges im Gegensatz zu älteren Menschen: Süß, Der „Volkskörper“ im Krieg, 292 ff. Als Parallele hierzu zur Prägung des Gesundheitssystems durch Kriegsnotwendigkeiten, siehe ebda., 41 u. 275 ff. Die „Aktion Brandt“ diente vor allem dazu, Sonderkrankenhäuser zur Behandlung verletzter Soldaten und „Volksgenossen“ zu schaffen, indem etwa Altenheime und Psychiatrien einen Teil ihrer Betten zur Verfügung stellen mussten. Es handelte sich bei der Aktion Brandt zwar wohl nicht um eine Weiterführung der Krankenmorde, sie trug jedoch trotzdem wesentlich zur Verschlechterung der Lage der Patienten in den Anstalten bei. Zur Aktion Brandt siehe u. a. Süß, „Volkskörper“ im Krieg, 76 ff.

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FAZIT Insgesamt spielt die Kategorie Arbeit für ein Verständnis von Verhaltenserwartungen im Alltag und „Volksgemeinschaft“ als sozialer Praxis während des Zweiten Weltkrieges eine zentrale Rolle. Wie gezeigt wurde, gewannen Arbeit und Arbeitsfähigkeit als Argument in der Einweisungspraxis zum einen gerade durch die Verbindung mit Kriegsaufgaben und -umständen besondere Überzeugungskraft. Zum anderen war diese Argumentation konstitutiv für die Konstruktion und den Ausschluss von „Psychopathen“ oder „Asozialen“. Trotzdem ist festzustellen, dass Argumente um den Komplex „Arbeitsleistung und -fähigkeit“ keineswegs starr verwendet wurden. Bei der Einweisungspraxis spielte die Kategorisierung der Arbeitskraft eine entscheidende Rolle. Zudem liefen die Begründungen oft gleichzeitig entlang bestimmter thematischer Linien, wie Selbst- und Fremdgefährdung. Gerade die argumentative Verflechtung bestimmter Themenbereiche mit bestimmten Personengruppen, die als nicht leistungsfähig eingeordnet wurden, macht eine Analyse von Arbeit, Arbeitsfähigkeit und Arbeitswille besonders relevant. Das Paradigma des arbeitsfähigen und -willigen Volksgenossen öffnete den Argumentationsspielraum in alle Richtungen. So konnten die Angehörigen die Grenze des Tolerierbaren im Einklang mit ideologischen Versatzstücken und Kriegszwängen sehr eng ziehen. Argumente aus dem Bereich „Arbeitswille und Leistungsfähigkeit“ konnten aber nicht nur für Exklusionspraktiken verwendet werden, sondern auch für Inklusionsversuche. Es konnte darauf hingewiesen werden, dass eine Einweisung negative Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit einer anderen Person haben und sich damit auch auf die Funktionsfähigkeit der „Volksgemeinschaft“ auswirken konnte. Die vielfältige Bedeutung und die kontextspezifische Rolle, welche die Kategorie Arbeit in den Einweisungsargumentationen der Kriegszeit einnahm, zeigt, dass Arbeit nicht nur in der Anstalt und in den Vernichtungsprozessen des Zweiten Weltkrieges eine zentrale Rolle spielte, sondern auch in den zeitgebundenen alltäglichen Vorstellungen von Zugehörigkeit und Tolerierbarkeit. UNGEDRUCKTE QUELLEN Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Chemnitz: Bestand 32810, Sächsisches Krankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Rodewisch, Landeskrankenhaus: Sig. 6707; Sig 10857 Archiv des Bezirks Oberbayern: Bestand Patientenakten Eglfing-Haar: Sig. 10389; Sig. 6528; Sig. 6212 Archiv des Landeswohlfahrtsverband Hessen: Bestand 16, Zentrum für soziale Psychiatrie Mittlere Lahn, Standort Marburg, Nr. K: Sig. 9903F

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PERSONENREGISTER Alt, Konrad (1861–1922) 14, 61, 73–76, 82, 84, 96, 98 Arendt, Hannah (1906–1975) 15, 140, 143–145, 150 f. Baginsky, Adolf (1843–1918) 121–123 Ball, John (1338–1381) 137 Berze, Josef (1866–1958) 95 Bleuler, Eugen (1857–1939) 191 Bohm-Schuch, Clara (1879–1936) 172 Bouhler, Philipp (1899–1945) 204 Bourdieu, Pierre (1930–2002) 216 Brandt, Karl (1904–1948) 204, 211 Bratz, Emil (1868–1934) 103 f., 128 Bresler, Johannes (1866–1942) 174 f. Brodmann, Korbinian (1868–1918) 38 Bürger-Prinz, Hans (1897–1976) 194 Camerer, Rudolf (Lebensdaten unbekannt) 53, 59 Cornicius, Ludwig (1868–1941) 202 f. Crinis, Maximilian De (1889–1945) 195 Darwin, Charles (1809–1882) 166 Eisen, Karl (1873–1943) 200 Elias, Norbert (1897–1990) 140 Elser, Andreas (?-1837) 54 Engels, Friedrich (1820–1895) 24, 143 Esquirol, Jean-Étienne Dominique (1772– 1840) 35 Faltlhauser, Valentin (1876–1961) 44 Flechsig, Paul (1847–1929) 37 Foucault, Michel (1926–1984) 114, 135, 148 f. Friedrich I. von Württemberg (1754–1816) 53, 55 Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) 111 Fritsche (Vorname und Lebensdaten nicht bekannt) 194 Fuchs, Walter (1868–1941) 158, 190 Gehlen, Arnold (1904–1976) 150 Gerhardt, Carl (1833–1902) 76 Gerstmann, Josef (1887–1969) 31 Giese, Fritz (1890–1935) 145 Goffman, Erving (1922–1982) 32 Griesinger, Wilhelm (1817–1868) 23 f., 31, 61, 71, 76 Gross, Adolf (1868–1962) 31, 190 Gutzmann, Albert (1837–1910) 122 Gutzmann, Hermann sen. (1865–1922) 122 f.

Hasse, Paul (1830–1898) 33 Haymann, Hermann (1879–?) 181 Hebold, Otto (1896–1975) 98 Hegar, August (1866–1926) 95 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831) 15, 23, 40, 143, 151 Heinroth, Johann Christian August (1773– 1843) 23, 36 Heinze, Hans (1895–1983) 195 Herting, Johannes (1863–?) 167 Horn, Ernst (1774–1848) 21, 23, 38 Ideler, Carl Wilhelm (1795–1860) Ilberg, Georg (1862–1942) 23, 110 Jacobi, Maximilian (1775–1858) 37 Jaspers, Karl (1883–1869) 149 f. Kaes, Theodor (1852–1913) 38 Kant, Immanuel (1724–1804) 23, 137, 143 Kehrer, Ferdinand (1883–1966) 194 Keudell, Walter von (1884–1973) 174 Koch, Julius L.A. (1841–1908) 55 Kolb, Gustav (1870–1938) 44 f., 164, 173, 175, 191 Kraepelin, Emil (1856–1926) 33, 159, 160, 166, 212 Krimmel, Emil (?-1935) 53, 59 Lafargue, Paul (1842–1911) 26 Landenberger, August (1838–1915) 60 Langermann, Johann Gottfried (1768–1832) 54 Legel, Otto (?-1919) 86 f. Leube, Wilhelm Oliver (1842–1922) 76 Lévinas, Emmanuel (1906–1995) 143, 153 Levy, Paul (1886–1958) 157, 169 f., 174 f., 179 Lindemann, Walter (1886–1940) 181 Ludwig, Georg (1826–1910) 37 Luther, Martin (1483–1546) 137 Mann, Thomas (1875–1955) 147 Marx, Karl (1818–1883) 15, 24, 26, 143, 151 Mendel, Emanuel (1839–1907) 122 Moeli, Carl (1849–1919) 121 Mönkemöller, Otto (1867–1930) 171 Moses, Julius (1868–1942) 172 f. Muck, Otto (1871–1942) 11 Muss, Richard (?-1930) 38 Nitsche, Paul (1876–1948) 33, 195 Paetz, Albrecht (1851–1922) 40 f., 76, 78 Pfannmüller, Hermann (1886–1961) 226

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Personenregister

Pinel, Philippe (1745–1826) 41, 138 Piper, Hermann (1846–1943) 15, 104–107, 111–114, 117–128 Reiß, Eduard (1878–1957) 174 Rittershaus, Ernst (1881–1945) 179 Roemer, Hans (1878–1947) 160 f., 164, 175 Roller, Christian Friedrich Wilhelm (1802– 1878) 30 f., 34, 36, 56, 59 Rüdin, Ernst (1874–1952) 195 Sander, Wilhelm (1838–1922) 110, 121 f. Sartre, Jean-Paul (1905–1980) 148 Satz, Erna (Lebensdaten unbekannt) 179 f. Schaeffer, Carl von (1808–1888) 54–60 Schäfer, Gerhard (1874–?) 178 Schäfer, Karl Ludolf (1866–1931) 122 Schiller, Hans (Lebensdaten unbekannt) 139 Schleiermacher, Friedrich (1768–1834) 147 Schneider, Carl (1891–1946) 16, 193–198, 200 f., 205 f., 208, 211 Scholz, Ludwig (1868–1918) 181 Schönlein, Lukas (1793–1864) 25 Schramm, August (Lebensdaten unbekannt) 104

Schreck, Arthur (1878–1963) 202 Schreiber, Narciß (1774–1817) 54 Simon, Hermann (1867–1947) 11, 14, 29, 41–43, 45 f., 68, 76, 138–142, 150–152, 162–166, 169, 173–175, 178, 189–197, 201, 211 Sioli, Franz (1882–1949) 167 Sollmann, Wilhelm (1875–1951) 172 Sommer, Robert (1864–1937) 164, 175 Starlinger, Josef (1862–1943) 94 Stegmann, Anna (1871–1936) 172 Träger, Edmund (1875–1957) 211 f. Utz, Friedrich (Lebensdaten unbekannt) 10 Virchow, Rudolf (1821–1902) 25 Weber, Max (1864–1920) 22, 32, 137 Weygandt, Wilhelm (1870–1939) 31, 164, 175, 178 Wickel, Carl (1870–1949) 167 Württemberg, Carl von (1728–1793) 54 Zeller, Albert (1804–1877) 59 f.

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ORTSREGISTER Aachtal 60, 63 Altmark 73 f., 98 Alt-Scherbitz 74, 76 Amerika 127 Amsterdam 76 Arnsdorf 193, 206 Backnang 59 Bamberg 203 Barby 85 Bayreuth 54 Bedburg-Hau 170 Beeskow 112 Berlin 15, 21, 88, 103, 105, 107 f., 111 f., 121–123, 126–128, 195, 203 Berlin-Pankow 122 Berlin-Wittenau 107 Bethel 193 f. Bicêtre 107 Borna 222 Borsigwalde 127 BRD 216, 218 Breslau 123 Charité (Berlin) 21, 121 f. Chemnitz 225 Chicago 126 Dalldorf 103, 106, 108, 110–114, 116, 118, 120 f., 123–128 Dänemark 127 DDR 216, 218 Deutschland 40, 54, 87, 104 f., 107, 110, 127, 163, 170 Düsseldorf 88, 126, 167 f. Düsseldorf-Grafenberg 167 f. Eglfing-Haar 203, 220, 224, 226 Eichberg 196 Eickelborn 168 Emmendingen 190 Finnland 127 Franken 44 Frankfurt a. M. 168 Frankreich 71, 107 Freiburg 87 Friedrichsberg (Hamburg) 25, 31, 178–181 Fürth 44 Gabersee 10 Gardelegen 75, 97

Griechenland 39 Groß-Salze 85 Großschweidnitz 206 Görden 206 Göttingen 168 Gossenzugen 52, 60 f., 63 Gütersloh 138, 152, 162 f., 165, 168, 179, 190–192, 194, 200 Haina 167 f. Hamburg 9, 31, 125, 164, 173, 178–181, 194 Hartheim 203 Heidelberg 16, 123, 193 f., 196–198, 200 f., 203, 206 Heppenheim 37 Herzberge (Berlin) 121 Hessen 167 Hildesheim 171 Hubertusburg 112 Idstein 72 Illenau 56, 59, 87 Italien 26 Japan 127 Jerichow 75, 84, 177 Karthaus-Prüll 201 Kassel 126 Kierling-Gugging 84 Klingenmünster 201–203 Klosterneuburg 87 Königslutter 33, 35 Konstanz 139 Langenhorn (Hamburg) 9, 164, 178–181 Leipzig 218 f., 223 Loretto (Zwiefalten) 52, 61 f. Lothringen 84 Ludwigsburg 53 Marburg 31, 168, 224, 226 Marsberg 168 Merseburg 81 Mosbach 196 Münsingen 65 Münster 194 Neustadt-Holstein 87 Niederlande 218 Niederösterreich 84 Nietleben 74 Norwegen 127

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Ortsregister

Nowawes bei Potsdam 89 Nürnberg 44, 204, 211 Ochsenhausen 30 Österreich 193 Paris 26, 107 Pasing 224 Pirna-Sonnenstein 54, 206 Potsdam 111 Pretzsch 111 Preußen 71, 74 Rastatt 202 Rauhe Alb 53, 62 Ravensburg 52, 56, 61, 63 Ravensburg-Weissenau 56 Regensburg 200 f., 211 f. Russland 127 Sachsen 14, 73 f. Sachsen-Anhalt 14, 111 Sachsenberg bei Schwerin 54 Salpêtrière 35 Schleswig 54, 88, 139 Schussenried/Schußenried 52, 56, 63, 67, 87 Schwarzacher Hof (bei Mosbach) 196 Schweden 127 Schweiz 96, 127 Siegburg 37 Sowjetunion 217 Speyer 203

Stadtfeld 54 Stendal 9 Stralsund 224 Stuttgart 55 St. Andreas im Elsass 107 St. Gallen 139 St. Getreu 203 St. Louis, Missouri 126 Süchteln 168 Tirol 127 Uchtspringe 5, 9, 14, 61, 71, 73–98 Ungarn 127 Untergöltzsch 218 USA 217 Warstein 76, 178, 162, 192 Weissenau/Weißenau 52, 61, 63, 66, 87 Wiesloch 190, 201 Wilhelmseich 75 f. Wil (St. Gallen) 139, 142 Winnenthal 59, 67 Wittenau (Wittenauer Heilstätten) 5, 15, 103 f., 107, 126, 128 f., 159 Wittenberg 111 Württemberg 14, 30, 52–56, 63, 64 Würzburg 76 Zschadraß 225 Zürich 96 Zwiefalten 14, 52–57, 59–64, 66–68, 83

VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN Dr. phil. Monika Ankele Seit 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (DFG-Projekt „‚Familienpflege‘ und ‚aktivere Krankenbehandlung‘ eine multiperspektivische Betrachtung der Arbeitstherapie im Alltag psychiatrischer Anstalten der 1920er Jahre“, Projektleitung: Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach; Laufzeit: 2012–2015); Studium der Geschichtswissenschaft in Graz, Wien, Berlin; 2008 Promotion mit einer Arbeit zum Thema „Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900. Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn“; Forschungsschwerpunkte: PatientInnengeschichte, Psychiatriegeschichte des 19./20. Jahrhunderts, Frauen- und Geschlechtergeschichte, Alltags- und Kulturgeschichte, Praxeologie. Prof. Dr. phil. Eva Brinkschulte Seit 2003 Leiterin des Fachbereichs Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg; Studium der Geschichtswissenschaften und Soziologie an der FU Berlin; 2002 Habilitation zum Thema „Körperertüchtigung(en) – Sportmedizin zwischen Leistungsoptimierung und Gesundheitsförderung 1895–1933“; Forschungsschwerpunkte: Historische Frauen- und Geschlechtergeschichte in der Medizin, Patienten- und Krankenhausgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichte der Sportmedizin und Orthopädie, Medizin und Öffentlichkeit, mediale Kultur der Medizin. Stefanie Coché, M. A. Seit 2011 Dissertationsprojekt zum Thema „Psychiatrische Einweisungspraxis in Nationalsozialismus, DDR und BRD (1941–1963)“ an der Universität Köln im Fach Mittlere und Neuere Geschichte; 2012–2015 Promotionsstipendium der A. R. T. E. S. Forschungsschule Universität zu Köln; 2003–2010 Studium der Mittleren und Neueren Geschichte, Philosophie, Systematische Theologie, Westslawistik an der Universität Köln; Thema der Magisterarbeit: „Widerstand und christliche Religion in Ostmitteleuropa. Der polnische Katholizismus zu Beginn der 1980er Jahre.“ Dr. phil. Petra Fuchs Seit Januar 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Alice Salomon ASH in Berlin, Forschung zu weiblichen Netzwerken der Sozialen Arbeit; wissenschaftliche Mitarbeiterin in DFG-Forschungsgruppen und -projekten: 2009–2013 „Kulturen des Wahnsinns“ am Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin der Charité Berlin; 2002–2006 Auswertung der „Euthanasie“-Patientenakten im Bundesarchiv Berlin; 2000–2002 „Patientenbilder – Zur Geschichte des Körper- und

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Menschenbildes des orthopädisch Kranken“ am ZHGB Berlin; Studium der Fächer Deutsch, Geschichte, Pädagogik (Lehramt) an der Universität Bielefeld und M. A. Erziehungswissenschaften an der TU Berlin; Promotion zum Thema „‚Körperbehinderte‘ zwischen Emanzipation und Selbstaufgabe. Selbsthilfe, Integration, Aussonderung“; Forschungsschwerpunkte: Dis/abiliy History, Geschichte der Sonderpädagogik, NS-Geschichte („Euthanasie“ und Zwangssterilisation), Patientengeschichte, Biographieforschung. Priv.-Doz. Dr. med. Thomas Müller, M. A. Arzt und (Medizin-)Historiker. 1998–2006 Forschung und Lehre an der Charité Berlin (Freie Universität und Humboldt-Universität zu Berlin). 2007 Begründung eines Forschungsbereichs für Geschichte der Medizin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm / Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg. Leitung des Württembergischen Psychiatriemuseums und des Verlags Psychiatrie und Geschichte, Zwiefalten. Koordinator „Historische Forschung“ der Zentren für Psychiatrie in Baden-Württemberg. Mitgestaltung des Reformcurriculums der Humanmedizin der Charité Berlin zw. 1988–1996 und 1999–2006, sowie der Universität Ulm, 2006–2007; Forschungsschwerpunkte: Soziale und Vergleichende Geschichte der Medizin mit Schwerpunkt Psychiatrie und Psychotherapie, Wissenschaftswandel und internationaler Wissenstransfer, Medizin und Judentum. Priv.-Doz. Dr. med. Maike Rotzoll Seit 2005 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Medizinischen Fakultät Heidelberg; seit 2009 akademische Oberrätin; 2014 Habilitation zum Thema „Gefährdetes Leben. Eine kollektive Biografie von Langzeitinsassen psychiatrischer Anstalten bis zur nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Aktion ‚T4‘“; 2002–2005 Mitarbeiterin im DFG-Projekt zur „Wissenschaftlichen Erschließung und Auswertung des Krankenaktenbestandes der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Aktion T4 (Bestand R 179 im Bundesarchiv Berlin)“; Forschungsschwerpunkte: Psychiatrie in der NS-Zeit, Geschichte der Sozialpsychiatrie, künstlerische Tätigkeit in der Psychiatrie in historischer Perspektive, Medizin in der frühen Neuzeit. Dr. med. Kai Sammet Seit 1998 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf; Promotion zum Thema „‚Ueber Irrenanstalten und deren Weiterentwicklung in Deutschland‘ – Wilhelm Griesinger im Streit mit der konservativen Anstaltspsychiatrie 1865– 1868“; Forschungsschwerpunkte: Geschichte der deutschen Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts – Gewalt in der Psychiatrie, Geschichte der Psychiatrie in Hamburg 1880–1920, Psychiatrie im Ersten Weltkrieg, Patientengeschichte, Forensische Psychiatrie seit 1950, Wilhelm Griesinger (1817–1868).

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Prof. Dr. med. Heinz-Peter Schmiedebach Seit 2003 Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf; 1993–2003 Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin an der EMAU Greifswald; Habilitation über den Mediziner Robert Remak (1815–1865); stellvertretender Sprecher der DFG-Forschergruppe 1120 „Kulturen des Wahnsinns (1870–1930). Schwellenphänomene der urbanen Moderne“; Forschungsschwerpunkte: Medizingeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, Psychiatriegeschichte, Geschichte der Deontologie und Medizinethik. Anna Urbach Seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg; 2002–2009 Studium der Humanmedizin an der Medizinischen Fakultät in Magdeburg; Stipendiatin des Evangelischen Studienwerkes Villigst e. V.; Promotionsprojekt zur Geschichte von Epilepsie-Betroffenen um 1900 anhand von Krankenakten der Landes-Heil- und Pflege-Anstalt Uchtspringe 1894–1922; Forschungsschwerpunkte: Psychiatriegeschichte, Patientengeschichte, Gender Studies. Dr. des. Mathias Wirth, Dipl.-Theol. Lehrbeauftragter und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf; seit 2014 Vikar der Landeskirche Hannover; philosophisch-theologisches Studium in Bonn und Rom; Promotion zum Thema „Distanz des Gehorsams. Theorie, Ethik und Kritik einer Tugend“ an der Leibniz Universität Hannover (Abteilung Evangelische Theologie), ausgezeichnet mit dem Wissenschaftspreis Hannover 2014; Forschungsschwerpunkte: philosophisch-theologische Ethik (u. a. der Medizin und der Psychiatrie, Autonomiedebatte), philosophisch-theologische Anthropologie (u. a. Verhältnis von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, Technikphilosophie, Geschlechtsdiskurse), philosophisch-theologische Grenzfragen der Medizin (u. a. das Böse, Mitleid, Tod, Geisteskrankheit), interdisziplinäre Forschung zur sexualisierten Gewalt.

Anna Bergmann

Der entseelte Patient Die moderne Medizin und der Tod Dürfen Patienten für den medizinischen Erkenntnisgewinn als bloße Objekte missbraucht werden? Anna Bergmann geht dieser Grundfrage der medizinischen Ethik in unserer „Kultur der Nebenwirkung“ nach. Sie spannt den historischen Bogen von der Leichenzergliederung im Anatomischen Theater über medizinische Menschenexperimente z. B. an unehelich schwangeren Frauen und Menschen in Kolonialgebieten bis hin zu der vom Körper, Sterben und Tod ihrer eigenen Patienten abhängigen Transplantationsmedizin. Sie hinterfragt das Menschenbild der modernen Medizin, das zu einer Entseelung führt, und untersucht die zum Zweck des Heilens unverzichtbare Gewaltanwendung im Tier- und Humanversuch. Anna Bergmann plädiert für ein neues medizinisches Konzept, das den Menschen nicht in einzelne Organe zerlegt, sondern Patienten in ihrer individuellen Ganzheit wahrzunehmen versteht. ............................................................................. Anna Bergmann Der entseelte Patient 2. Auflage 2015. 448 Seiten mit 21 Abbildungen. Gebunden mit Schutzumschlag. & 978-3-515-10760-0 @ 978-3-515-10765-5

Aus dem Inhalt Das „große Sterben“: Klimakatastrophen, Hunger und Pest im 14. und 17. Jahrhundert | Isolieren, Räuchern, Verbrennen und der Zusammenbruch des Totenkults | Jagd auf Seuchenverdächtige und die Militarisierung in Zeiten der Pest | Das Pestsystem im kulturellen Gedächtnis des 20. Jahrhunderts | Die Geburt der Anatomie aus Riten des Totenkults und der Hinrichtung | Schafottmedizin und die sakrale Organisation der Hinrichtung | Todesbemächtigung und Zergliederungsspektakel im Anatomischen Theater | Die Verwandlung von Hingerichteten in Objekte des medizinischen Erkenntnisfortschritts | Das Häftlingslager für zum Tode Verurteilte als medizinisches Laboratorium im aufklärerischen Diskurs | Wissen um jeden Preis: Menschenexperimente in Krankenhäusern, Gefängnissen und Konzentrationslagern | Der „Leben-machende Tod“: Die Praxis der Transplantationsmedizin | Resümee | Anmerkungen | Quellen und Literatur

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Philipp Teichfischer / Eva Brinkschulte (Hg.)

Johann Lukas Schönlein (1793–1864): Unveröffentlichte Briefe Zum 150. Todestag

Philipp Teichfischer / Eva Brinkschulte (Hg.) Johann Lukas Schönlein (1793-1864): Unveröffentlichte Briefe 2014. 243 Seiten mit 4 Abbildungen sowie 11 Tafeln mit Faksimiles. Kart. & 978-3-515-10856-0 @ 978-3-515-10859-1

Der aus Bamberg stammende J. L. Schönlein zählt zu den profi liertesten deutschen Medizinern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als führender Vertreter der sogenannten Naturhistorischen Schule hat Schönlein die deutsche Klinik durch Einführung naturwissenschaftlicher Methoden modernisiert. Große Bekanntheit hat er als Leibarzt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. erlangt. Schönlein hat sich aber nicht nur bleibende Verdienste als Arzt und akademischer Lehrer erworben, ebenso gewichtig war sein Einfluss als Hochschulpolitiker und Förderer der Wissenschaften. Anlässlich der Wiederkehr von Schönleins 150. Todestag werden in diesem Band insgesamt 151 Schönlein-Briefe präsentiert und erschlossen, die sein umfangreiches Schaffen und Wirken dokumentieren. Diese kritisch edierten Schreiben sind besonders wertvoll, da bislang kaum etwas über Schönleins ausgedehntes Korrespondenznetzwerk und seine Briefpartner bekannt ist. Die Briefe erschließen eine Vielzahl neuer Quellen und bieten damit einen Ausgangspunkt für weitere Forschungen. .............................................................................

Aus dem Inhalt Danksagung | Vorwort | Einführung t Schönleins akademischer Werdegang | Schönleins Briefe | Herkunft der Briefe | Zur Echtheit der Briefe | Briefe nach Schaffensperioden | Die Briefempfänger | Thematische Zuordnung der Briefe | Textgattung „Brief“ | Editionsprinzipien | Erschliessung: Kommentare, Regesten und Register | Faksimiles | Ausblick: Briefe an Schönlein t Alphabetisches Verzeichnis der Briefempfänger | Chronologisches Verzeichnis der Briefe | Die Briefe | Verzeichnis bereits veröffentlichter Briefe | Personenregister | Ortsregister | Sachregister | Literaturverzeichnis

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Wolfgang U. Eckart

Die Wunden heilen sehr schön Feldpostkarten aus dem Lazarett 1914–1918 Postkarten und Briefe waren für Soldaten im Ersten Weltkrieg die einzige mögliche Verbindung zur Heimat. So wurden zwischen 1914 und 1918 etwa 11 Milliarden Postsendungen an Familien und Freunde geschickt, oft auch aus dem Lazarett.

Wolfgang U. Eckart Die Wunden heilen sehr schön 22 x 28 cm. 210 Seiten mit zahlreichen farbigen Abbildungen und Fotos. Kart. & 978-3-515-10459-3 @ 978-3-515-10615-3

Eine einmalige Sammlung von bisher unveröffentlichten Bildpostkarten aus dem Lazarett im Ersten Weltkrieg präsentiert dieses Buch. Die Motive sind vielfältig – Verwundete in Einzel- oder in Gruppenaufnahmen, mitunter gemeinsam mit Schwestern, Ärzten und Pflegern, in Zimmergemeinschaften, im Krankenbett, aber auch beim Essen und Trinken. Eindrucksvoll vermitteln die Karten bestimmte Einblicke in das Lazarettleben, das neben der Pflege und Behandlung von Kranken auch eine Art „Gemeinschaftsleben“ umfasste, vom Kartenspiel und gemeinsamen Musizieren bis hin zum Lazarett-Theater. Die Botschaft der Absender ist immer die gleiche: „Ich bin noch am Leben, mir geht es gut“ – auch wenn zwischen den Zeilen oft etwas anderes zu lesen war … Wolfgang U. Eckart erschließt mit diesem Bildband – er umfasst ca. 300 Abbildungen von Postkarten – eine einzigartige, bisher wenig erforschte historische Quelle in ihrer sozial- und kulturhistorischen Bedeutung.

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Wie kein anderes Behandlungskonzept hat die Arbeit als therapeutisches Mittel die Anstaltspsychiatrie von Beginn an begleitet und hat noch heute – wenn auch in stark veränderter Form – ihren festen Platz im Therapieangebot psychiatrischer Einrichtungen. Trotz dieses herausragenden Stellenwerts, den sie einnahm und einnimmt, ist sie bisher kaum erforscht. Dieser Band bietet nun erstmals einen historischen Überblick über das therapeutische Konzept von Arbeit und dessen Bedeutung für die Behandlung psychisch Kranker seit dem frühen 19. Jahrhundert bis in die NS-Zeit.

Die Beiträge beleuchten quellennah und mit unterschiedlichen Schwerpunkten die Praxis der Arbeitstherapie in einzelnen Anstalten und setzen diese in den Kontext der politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungen ihrer Zeit. So werden Brüche und Kontinuitäten des arbeitstherapeutischen Konzepts, sich wandelnde Zielsetzungen wie auch die vielfältigen Effekte seiner Anwendung sichtbar. Soziologische und philosophische Annäherungen erweitern zudem den Blick auf die unterschiedlichen Konzepte von Arbeit und ihrer Funktionalisierung durch die Psychiatrie.

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