Dämonen, Vamps und Hysterikerinnen: Geschlechter- und Rassenfigurationen in Wissen, Medien und Alltag um 1900. Festschrift für Christina von Braun [1. Aufl.] 9783839415726

Dieser Band geht Krisenphänomenen der Moderne um 1900 nach, in deren Deutung moderne Erfahrungen der Kontingenz und alte

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German Pages 278 Year 2014

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Dämonen, Vamps und Hysterikerinnen: Geschlechter- und Rassenfigurationen in Wissen, Medien und Alltag um 1900. Festschrift für Christina von Braun [1. Aufl.]
 9783839415726

Table of contents :
Inhalt
Vorbemerkung
Zum 65. Geburtstag von Christina von Braun
MEDIEN, ALLTAG UND WISSEN
Die Frau aus Chicago oder die Liebe und die Börse. Zu Murnaus CITY GIRL
Moderne Magie. Hysterikerinnen und Doppelgänger im frühen Film und okkulten Wissen
Die Bohemienne und ihr ›Imaginary Negro‹
Touching Ossi. Zur übertrieben-komischen Frauenfigur in Ernst Lubitschs DIE AUSTERNPRINZESSIN (1919)
Die Geschichte. Doppelt belichtet
Zwischen ranziger Butter und Kälte oder Alltag und Exzess in der Prosa Marieluise Fleißers
WISSENSCHAFT UND WISSEN
Hypnotisierte Heuschrecken
Jungfrauenmaschinen. Über die Zumutungen und Verheißungen der Bienenkönigin
Die Krise des Individuums und seine Heilung durch Vererbung
Zu aktuellen Konzeptualisierungen von deutscher Statisierung über muslimische und jüdische Ent_Religiosisierungen
Kontroversen zwischen Freud, Blüher und Hirschfeld. Zur Pathologisierung und Rassisierung des effeminierten Homosexuellen
Das ›Problem Judentum und Altes Testament‹: Literalismus und Antisemitismus im Bibelbund. Ein Textbeispiel aus den Jahren 1938/39
›Mit dem Fluss durch die Wand‹ – Widerstand, Kollektivkörper, Geschlecht und Repräsentation im Zeitalter der Globalisierung
KUNST UND WISSEN
Das Theater des Marquis de Sade
»The Cult of the Clitoris«. Der englische Salome-Skandal um 1900
Stefan Zweig, die Psychoanalyse und eine Frau, die nicht hineinpasst: Mary Baker Eddy und die Christliche Wissenschaft
AutorInnen und Herausgeberinnen

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Ulrike Auga, Claudia Bruns, Dorothea Dornhof, Gabriele Jähnert (Hg.) Dämonen, Vamps und Hysterikerinnen

| GenderCodes | Herausgegeben von Christina von Braun, Volker Hess und Inge Stephan Band 14

Festschrift für Christina von Braun

Ulrike Auga, Claudia Bruns, Dorothea Dornhof, Gabriele Jähnert (Hg.)

Dämonen, Vamps und Hysterikerinnen Geschlechter- und Rassenfigurationen in Wissen, Medien und Alltag um 1900

Für die finanzielle Unterstützung dieses Bandes danken wir ganz herzlich Prof. Dr. Renate Kroll und der Fonte Stiftung sowie dem Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie«, dem Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien, der Juniorprofessur »Wissenschaftsgeschichte und Geschlecht« am Institut für Kulturwissenschaft und der Juniorprofessur »Theologie und Geschlechterstudien« an der Theologischen Fakultät der HU.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Ulf Heidel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1572-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorbemerkung DIE HERAUSGEBERINNEN Zum 65. Geburtstag von Christina von Braun INGE STEPHAN

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MEDIEN, ALLTAG UND WISSEN Die Frau aus Chicago oder die Liebe und die Börse. Zu Murnaus CITY GIRL ASTRID DEUBER-MANKOWSKY

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Moderne Magie. Hysterikerinnen und Doppelgänger im frühen Film und okkulten Wissen DOROTHEA DORNHOF

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Die Bohemienne und ihr ›Imaginary Negro‹ GABRIELE DIETZE Touching Ossi. Zur übertrieben-komischen Frauenfigur in Ernst Lubitschs DIE AUSTERNPRINZESSIN (1919) JULIA B. KÖHNE Die Geschichte. Doppelt belichtet MARTIN BURCKHARDT Zwischen ranziger Butter und Kälte oder Alltag und Exzess in der Prosa Marieluise Fleißers BOĩENA CHOàUJ

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WISSENSCHAFT UND WISSEN Hypnotisierte Heuschrecken KERSTIN PALM Jungfrauenmaschinen. Über die Zumutungen und Verheißungen der Bienenkönigin EVA JOHACH Die Krise des Individuums und seine Heilung durch Vererbung BETTINA BOCK VON WÜLFINGEN Zu aktuellen Konzeptualisierungen von deutscher Statisierung über muslimische und jüdische Ent_Religiosisierungen ANTJE LANN HORNSCHEIDT Kontroversen zwischen Freud, Blüher und Hirschfeld. Zur Pathologisierung und Rassisierung des effeminierten Homosexuellen CLAUDIA BRUNS Das ›Problem Judentum und Altes Testament‹: Literalismus und Antisemitismus im Bibelbund. Ein Textbeispiel aus den Jahren 1938/39 JANA HUSMANN ›Mit dem Fluss durch die Wand‹ – Widerstand, Kollektivkörper, Geschlecht und Repräsentation im Zeitalter der Globalisierung ULRIKE AUGA

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KUNST UND WISSEN Das Theater des Marquis de Sade UTE FRIETSCH

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»The Cult of the Clitoris«. Der englische Salome-Skandal um 1900 ULRIKE BRUNOTTE

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Stefan Zweig, die Psychoanalyse und eine Frau, die nicht hineinpasst: Mary Baker Eddy und die Christliche Wissenschaft SABINE GRENZ

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AutorInnen und Herausgeberinnen

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Vorbemerkung

Aus Anlass des 65. Geburtstages von Christina von Braun und Inge Stephan fand vom 2. bis 4. Juli 2009 das Symposium »City Girls – Dämonen, Vamps und Bubiköpfe in den 20er Jahren« statt, das Kolleginnen des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien, des Instituts für deutsche Literatur und des Instituts für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin veranstalteten. Aus diesem Symposium gingen der Band City Girls. Bubiköpfe und Blaustrümpfe in den 1920er Jahren, herausgegeben von Julia Freitag und Alexandra Tacke, als Festschrift für Inge Stephan im Böhlau-Verlag sowie die vorliegende, um zusätzliche Beiträge erweiterte Publikation als Hommage an Christina von Braun hervor. Christina von Braun hat, seit sie 1994 auf die Professur »Kulturtheorie mit Schwerpunkt Geschlecht und Geschichte« berufen wurde, die Etablierung und Entwicklung der Gender Studies an der HU maßgeblich und mit großem Engagement beeinflusst und gestaltet. Die Initiative für den ersten interdisziplinären Magisterstudiengang Geschlechterstudien/Gender Studies in Deutschland ging auf sie ebenso zurück wie die zur Beantragung des Graduiertenkollegs »Geschlecht als Wissenskategorie« bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dessen Sprecherin sie seit 2005 ist. Inzwischen ist sie nicht nur stellvertretende Leiterin des Goethe-Instituts. Sie hat sich auch maßgeblich und mit Erfolg für die langfristige Etablierung Jüdischer Studien an den Berliner Universitäten eingesetzt. Seit 2009 leitet sie das Kollegium Jüdische Studien an der Humboldt-Universität. Die Breite ihrer Forschungsarbeiten zu Religion und Moderne, zum Alphabet, zur Körpergeschichte, zur jüdischen Geschichte, zum Antisemitismus, zur Psychoanalyse und zum Unbewussten der Kultur, zur Verschleierung der Frau und zum Film sowie ihr filmisches Schaffen inspirierten und inspirieren die Gendertheorien und die Genderforschung, aber auch die kulturwissenschaftliche und historische Forschung insgesamt, in vielfältiger und ungewöhnlicher Weise. Christina von Braun hat mit ihren Thesen immer 9

DIE HERAUSGEBERINNEN

verstanden zu überraschen, das historische Geschehen ›gegen den Strich‹ zu lesen und die Geschichte und die Denktraditionen des Abendlands in ihren unbewussten Dimensionen offenzulegen und sie damit radikal infrage zu stellen und zu verändern. Immer eigenwillig, mit einer atemberaubenden Fülle an Wissen, ungewöhnlich in ihren übergreifenden Schlussfolgerungen und provokativ, hat sie Generationen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern inspiriert, herausgefordert und zum Weiterdenken eingeladen. Die affirmative oder auch kritische Auseinandersetzung mit ihren Ideen war und ist nicht nur in der internationalen Öffentlichkeit immer intensiv geführt worden, sondern war auch für die nachfolgende und von ihr geförderte WissenschaftlerInnengeneration unendlich produktiv. Die vorliegende Publikation legt davon ein beredtes Zeugnis ab und soll ein großes Dankeschön sein. Für die finanzielle Unterstützung dieses Bandes danken wir ganz herzlich Prof. Dr. Renate Kroll und der Fonte Stiftung sowie dem Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie«, dem Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien, der Juniorprofessur »Wissenschaftsgeschichte und Geschlecht« am Institut für Kulturwissenschaft und der Juniorprofessur »Theologie und Geschlechterstudien« an der Theologischen Fakultät der HU. Ulrike Auga, Claudia Bruns, Dorothea Dornhof, Gabriele Jähnert Berlin im Januar 2011

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Zum 65. Geburtstag von Christina von Braun INGE STEPHAN

Beim Nachdenken darüber, was ich Christina von Braun zu ihrem Geburtstag sagen kann, habe ich in alten Büchern und Aufsätzen geblättert, an denen wir in den vergangenen 15 Jahren gearbeitet haben. Ich habe mir dann gemeinsame Situationen ins Gedächtnis zurückgerufen – die Rotweinabende am runden Tisch in der Gryphiusstraße, Wilhelmstraße und schließlich Wörtherstraße, die Lehrveranstaltungen, die Tagungen, die Gremien, das Graduiertenkolleg, die gemeinsamen Reisen in die weite Welt. Schließlich habe ich in Anthologien über Freundschaft und in Sammelbänden über Frauen und Wissenschaft nach etwas Passendem gesucht und bei city girls wie Djuna Barnes anzügliche Texte über Debütantinnen und die Schwierigkeiten des Älterwerdens gefunden, die für den heutigen Anlass jedoch nicht schicklich sind. Schließlich bin ich bei den Gebrüdern Grimm auf ein Märchen gestoßen, das voller Anspielungen auf Christina von Braun zu sein scheint. Es findet sich nicht in den gängigen grimmschen Hausmärchen, sondern in einem apokryphen Anhang, in den spätere Herausgeber Fragliches und Fragwürdiges verbannt haben. Da es viele nicht kennen dürften, möchte ich es zitieren: Die Prinzessin, die sich ihr eigenes Königreich schuf Es war einmal eine Königstochter, die war anders als ihre Geschwister. Sie spielte den lieben langen Tag mit ihren bunten Steinen, die sie im Garten gesammelt hatte und zu merkwürdigen Bildern zusammenlegte. Stundenlang konnte sie sich in die phantastischen Muster und Farben vertiefen, in denen sie bald Pflanzen und Tiere, bald Kobolde und Ungeheuer oder andere seltsame Mischwesen zu entdecken glaubte. Ihre Schwestern waren inzwischen lange verheiratet und mächtige Königinnen in fremden Ländern geworden. Nur die kleine Königstochter, die freilich noch jung war, saß immer noch zu Hause und spielte in dem prächtigen Garten ihres Vaters, versunken in die Geschichten, die sie sich ausdachte, wenn sie ihre bunten Steine mit glänzenden Augen betrachtete.

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INGE STEPHAN

Der alte König wurde langsam ungeduldig. Jede Woche lud er einen anderen Prinzen ein, der um die Hand der Prinzessin anhielt. Es waren viele bekannte Helden darunter, aber die Königstochter hob nicht einmal den Blick von ihren bunten Schätzen und sagte: Mein Held wird noch kommen. Der Vater wurde zornig und sprach: Du wirst deinen Eigensinn bereuen. Wenn du alle Freier zurückweist, wirst du eines Tages ganz allein sein und aus meinem Königreich mit Schimpf und Schande vertrieben werden. Die Prinzessin lachte: Mach dir keine Sorgen, lieber Vater. Ich habe keine Furcht vor der Zukunft. Als der Vater sie aber immer mehr bedrängte, fasste sie einen kühnen Entschluss. Sie raffte alle ihre bunten Steine in einem großen weißen Tuch zusammen, das sie sich kurzerhand als Bündel über die linke Schulter warf. Dann schlüpfte sie durch die hintere Tür des Schlossparkes und machte sich auf den Weg in die weite Welt. Es war eine finstere Nacht und sie kannte den Weg nicht. Sie hatte aber keine Angst und dachte bei sich: Etwas Besseres als den Tod findest du überall. Am nächsten Morgen wachte sie unter einem riesigen Ginkgobaum auf, unter dem sie sich erschöpft zum Schlafen gelegt hatte. Um sie herum standen drei Kinder, die sie neugierig anblickten. Die Prinzessin sah sie lächelnd an und öffnete das Bündel, das ihr in der Nacht als Kopfkissen gedient hatte. Vergnügt breitete sie ihre Schätze vor den Kindern aus, die sich nicht satt sehen konnten an den bunten Steinen, die in der Morgensonne wie Juwelen glänzten. Setzt euch doch und spielt mit mir, sagte die Prinzessin. Zuerst waren die Kinder schüchtern, aber schon bald waren sie in das gemeinsame Spiel vertieft. Sie legten die Steine zu Mosaiken zusammen, in denen sie Geschichten entdeckten, die ihnen vertraut und fremd zugleich vorkamen. Am Abend waren sie Freunde geworden. Gemeinsam legten sie sich unter den alten Ginkgobaum und die Bilder und Geschichten des Tages lebten in ihren Träumen fort. Als sie am nächsten Morgen ihre Augen aufschlugen, standen sechs Kinder um sie herum. Auch sie wurden in den Kreis der Freunde freundlich aufgenommen. Gemeinsam spielten sie mit den bunten Steinen und freuten sich über die Geschichten, die sie entdeckten. Als aber am nächsten Morgen zwölf weitere Kinder dazu kamen, erschrak die Prinzessin. Der Schatz bestand zwar aus sehr sehr vielen Steinen, aber sie reichten nicht für alle. Zusammen mit den Freunden hatte die Prinzessin schließlich die rettende Idee. Jedes Kind musste sich auf die Suche nach eigenen Steinen machen. Wo aber konnte man solche wunderbaren Steine finden? Gab es solche nicht nur im Garten des Palastes? Plötzlich fiel ein Lichtstrahl durch die Blätter des Ginkgobaumes und erhellte die Lichtung. Die Kinder blickten um sich. Die bunten Steine glänzten nicht nur auf dem weißen Tuch der Königstochter, sie blinkten unter den Blumen, Gräsern und Büschen, sie glitzerten an den Hängen der Hügel, am Ufer des Baches und auf dem Grunde des Wassers. Wohin die Kinder auch sahen, die Welt um sie herum war voller Schätze. Behutsam legten die Kinder die Steine, die ihnen vorher gar nicht als etwas Besonderes vorgekommen waren, in ihre Taschentücher, trugen sie zu der gemeinsamen Lagerstätte unter dem Baum und breiteten sie auf dem großen weißen Tuch aus. Es waren genug für alle da – auch für diejenigen Kinder, die noch dazu

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ZUM 65. GEBURTSTAG VON CHRISTINA VON BRAUN

kommen würden. Ungestört konnten sie alle in einem Reich der Phantasie und Freundschaft spielen, in dem die Zeit wie im Märchen aufgehoben war.

Natürlich fällt gleich auf, dass das Märchen nicht von den Gebrüdern Grimm stammen kann. Solche eigensinnige Kinder gibt es bei den Grimms nicht, und wenn, dann nehmen sie ein böses Ende. Es stammt nicht von mir, wie manche vielleicht vermuten, sondern von Bettina von Arnim, mit der mich und Christina von Braun eine eigene Geschichte verbindet. Unser Aufenthalt im Künstlerhaus Wiepersdorf, dem Stammschloss der von Arnims, wo wir beide als Stipendiatinnen einige Wochen verbrachten, war nicht nur eine Zeit der langen Spaziergänge, intensiven Gespräche und der gemeinsamen Arbeit, sondern auch eine Zeit, in der wir uns in einem größeren Kreis von Künstlerfreunden und -freundinnen wunderbar aufgehoben und angeregt fühlen konnten. Für uns alle war Wiepersdorf ein ganz besonderer Ort, der voller Überraschungen steckte. Hier stieß ich auf einem verstaubten Speicher zufällig auf Hinterlassenschaften von Bettina von Arnim, die offensichtlich den scharfen Augen der Familie und den späteren Herausgebern ihrer Werke entgangen waren. Jedenfalls hat das Märchen von der Prinzessin, die sich ihr eigenes Königreich schuf keine Aufnahme in die Werkausgabe gefunden. Ich habe die Handschrift damals – etwas außerhalb der Legalität – an mich genommen und kann sie heute Christina als ein Originalgeschenk zu ihrem Geburtstag präsentieren. Ich bin sicher, liebe Christina, du wirst die Handschrift als Geschenk einer Freundschaft schätzen, in der kleinere Schwindeleien erlaubt sind.

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Medien, Alltag und Wissen

Die Frau aus Chicago oder die Liebe und die Börse. Zu Murnaus C I T Y G I R L ASTRID DEUBER-MANKOWSKY DIE FRAU AUS CHICAGO oder CITY GIRL ist der dritte und zugleich letzte Film, den Friedrich Wilhelm Murnau in den USA drehte. Er drehte den Film, beendete ihn jedoch nicht. Zermürbt von den widrigen Produktionsumständen kündigte Murnau den Vertrag mit der Fox Film Cooperation vorzeitig am 23. Februar 1929 und reiste nach Tahiti, um dort zusammen mit Robert Flaherty an seinem letzten Film TABU. STORY OF THE SOUTH SEAS zu arbeiten. Die Produktion von TABU war die Realisierung eines schwierigen und ambivalenten Traumes, die Murnau schließlich selbst finanzierte.1 CITY GIRL erlebte seine Uraufführung 1930 in New York und wurde in deutscher Fassung auch in Berlin gezeigt, fand jedoch weder den Gefallen des Publikums noch die Zustimmung der Kritik. Der Grund dafür liegt zum einen darin, dass der Film, wie die Filmkritikerin Lotte H. Eisner bemerkte, 1930 als Stummfilm bereits als Anachronismus in die Kinos kam. Da in dieser Zeit schon viele Kinosäle für die Projektion von Tonfilmen umgerüstet waren, wurde aus dem vorhandenen Material eine auf 68 Minuten gekürzte Sprechfilmfassung, ein sogenannter ›part-talkie‹ hergestellt, wofür die Hälfte der Aufnahmen von der Produktionsfirma selbst nachgedreht sowie die Geschichte verändert und den vermeintlichen Wünschen des Publikums angepasst wurde. 2 Ein weiterer Grund für den Misserfolg des Films lag darin, dass die 1

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Robert Flaherty drehte und produzierte 1922 den Dokumentarfilm NANUK OF THE NORTH. Die Zusammenarbeit zwischen Murnau und Flaherty scheiterte, sodass Murnau Tabu alleine beendete. Murnau erlebte die Uraufführung im März 1931 allerdings nicht mehr, da er wenige Tage vorher bei einem Autounfall in Kalifornien ums Leben kam. Die ›part-talkie‹-Fassung ist verschollen. Sie wurde nach der Stummfilmversion im November 1929 fertiggestellt, vgl. Bergstrom, Janet: »Murnau in America. Chronicle of Lost Films (4 Devils, City Girl)«, in: Jon Lewis/Eric Smoodin (Hg.), Looking Past the Screen, Durham: Duke University Press 2007, S. 30317

ASTRID DEUBER-MANKOWSKY

Kritik – und allen voran Eisner – CITY GIRL mit Murnaus erstem in den USA gedrehten Film, dem technisch viel aufwendigeren und mit viel höherem Budget produzierten SUNRISE – A SONG OF TWO HUMANS (1927), verglich und dabei die inhaltliche und formale Differenz der beiden Filme verkannte.3 Dies zusammen hatte zur Folge, dass der Film bis heute nur wenig wahrgenommen und nicht adäquat gewürdigt wurde. 4 Daran änderte auch nur wenig, dass 1969 in den Archiven von Twentieth Century Fox eine 89-minütige 35mm-Kopie der verschollen geglaubten Stummfilmfassung gefunden wurde, die heute auf Video und DVD leicht zugänglich ist. Dabei zeigt diese Fassung, dass CITY GIRL, wie ich im Folgenden ausführen möchte, trotz oder vielmehr wegen der schwierigen Produktionsgeschichte ein komplexer und überraschend aktueller Film ist. Ursprünglich sollte CITY GIRL ein Film über die Geschichte des Getreides werden. Es wurde ein Film über eine ungleiche Liebe und die Macht der Börse, deren steigende und fallende Kurse nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land das Geschick der Menschen bestimmen. Die Figur des city girl ist in diesem Film weder ein Backfisch, noch ein Vamp, und steht auch nicht einer ländlichen Gretchenfigur gegenüber. Das city girl wird hier vielmehr zu jener Figur, welche die Grenzen zwischen Land und Stadt unterläuft und sich weder den traditionell patriarchalen Machtverhältnissen auf dem Land noch den offen kapitalistischen in der Stadt widerstandslos unterwirft. Der Film zeigt die relative Selbständigkeit der für Lohn arbeitenden Frauen in der Stadt, er zeigt jedoch zugleich die Abhängigkeiten, die mit der Lohnarbeit verbunden sind und die Karl Marx so treffend in dem Begriff des »doppelt freien Lohnarbeiters« zum Ausdruck gebracht hat. Der Lohnarbeiter ist frei, seine Arbeitskraft zu verkaufen, ist jedoch, da er zugleich ›frei‹ ist vom Besitz an den Produktionsmitteln, auch gezwungen, sie zu verkaufen. Das Gleiche gilt zunächst, bei allen geschlechterbedingten und weiteren Differenzen, auch für die Lohnarbeiterin. Auf dem Land wird andererseits die traditionell patriarchale, mit der Bibel und also religiös begründete Vorherrschaft des Vaters und Mannes über die Frau und die Familie, wie der Film in subtiler Weise vorführt, durch die ökonomische Abhängigkeit von der Börse unterspült. Denn auch hier wird das Getreide nicht für die Herstellung des täglichen Brotes, sondern für den Markt produziert. Christina von Braun und Bettina Ma-

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352, hier S. 331. Wenn im Folgenden von CITY GIRL die Rede ist, bezieht es sich immer auf die Stummfilmversion. Lotte H. Eisner: Murnau, der Klassiker des deutschen Films, Velber/Hannover: Friedrich Verlag 1967, S. 105. Vgl. J. Bergstrom: Murnau in America, S. 304; des Weiteren Danks, Adrian: »Reaching Beyond the Frame. Murnau’s City Girl«, in: Senses of Cinema 28 (2003), http://archive.sensesofcinema.com/contents/cteq/03/28/city_girl.html vom 7.5.2009.

DIE FRAU AUS CHICAGO

thes haben Elias Canettis Kommentar zur Inflation zitiert, um zu verdeutlichen, welche Folgen es für die symbolische Ordnung der Geschlechter hatte, dass Aktie und Papiergeld seit dem 19. Jahrhundert den Handel massiv zu bestimmen begannen und das Geld selbst reinen Symbolcharakter annahm. »Nicht nur gerät durch die Inflation alles äußerlich ins Schwanken, nichts ist sicher, nichts bleibt eine Stunde am Fleck – durch die Inflation wird er selber, der Mann, geringer.« 5 Parallel zu dem Schrecken vor dieser kastrierenden Macht des immer abstrakter werdenden Kreislaufs des Geldes wuchs die ökonomische und die symbolische Bedeutung der Prostitution.6 Was, wie der Film ebenfalls deutlich macht, damit verbunden war, dass die für Geld arbeitenden Frauen in der Stadt – anders als die männlichen Lohnarbeiter – selbst mit sexueller Prostitution assoziiert wurden. Murnaus CITY GIRL sucht dieser Macht die ästhetische Wirkung eines bisher nicht erahnten, erst durch den Film zugänglichen Lebens entgegenzusetzen. Die offenen Enden und die Symbolik, in der sich die Ökonomie der Liebe mit der Geschichte des Getreides und beide mit dem Geschehen an der Börse verflechten, verleihen diesem zu seiner Zeit anachronistischen Film heute eine eigentümliche Aktualität. Diese Aktualität resultiert nicht zuletzt daraus, dass der Film seine eigene Produktionsgeschichte und damit die Folgen reflektiert, die es für das Kino hatte, dass die Filme ebenso für den Markt produziert wurden wie das Getreide.

Das Werden und Vergehen eines bisher nicht erahnten Lebens Murnau war im Juli 1926 in die USA gekommen, nachdem er mit NOSFERA– EINE SYMPHONIE DES GRAUENS (D 1921), DER LETZTE MANN (D 1924) und FAUST – EINE DEUTSCHE VOLKSSAGE (D 1926) einige der wichtigsten Filme des deutschen expressionistischen Kinos gedreht hatte. Vor allem DER LETZTE MANN erlangte aufgrund seiner neuartigen und innovativen filmischen Ästhetik internationale Bekanntheit. Mitten in jener Zeit, als sich die Filmstudios in Berlin nach der Währungsreform 1923 in einer tiefen finanziellen Krise befanden, lud der amerikanische Produzent William Fox Murnau mit einem großzügigen, ja legendären Angebot in die USA ein. Fox, Sohn einer jüdischen Familie mit 13 Kindern, war als Wilhelm Fuchs aus Ungarn in die USA emigriert, hatte 1915 die Fox Film Cooperation gegründet und sie in kurzer Zeit zu einer der führenden

TU

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Zit. n. von Braun, Christina/Mathes, Bettina: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen, Berlin: Aufbau 2007, S. 374. Vgl. C. von Braun/B. Mathes: Verschleierte Wirklichkeit, S. 416ff. 19

ASTRID DEUBER-MANKOWSKY

Filmproduktionsgesellschaften Hollywoods ausgebaut. Mit der Einstellung von Murnau wollte Fox seine Filmproduktionen künstlerisch aufwerten. Den für seine Lichtführung bekannten deutschen Regisseur schätzte er insbesondere für seine ästhetische Ausdruckskraft und die filmtechnischen Innovationen, wie sie Murnau beispielhaft durch das Experimentieren mit der beweglichen Kamera zusammen mit dem Kameramann Max Freund in DER LETZTE MANN gelungen waren. Murnau und sein Filmteam hatten die Kamera für diesen Film vom Stativ gelöst und sie auf einem Fahrrad in einem Lift aus der Höhe in die Hotelhalle fahren lassen, um sie immer noch auf dem Fahrrad ebenerdig aus der Halle durch die Eingangstür hinauszufahren. Sie befestigten sie am Körper des Kameramanns, ließen sie an einem Kran in die Höhe schweben und versetzten sie in eine räumliche, trudelnde und pulsierende Bewegung. 7 Murnau wollte mit dem Medium des Films Raum in Rhythmus übersetzen, mit der neuen Technik reine, »lebendig durchflutete Bewegung« erzeugen. Mithilfe einer »frei im Raum sich bewegenden Aufnahmeapparatur« gelte es, so schrieb Murnau schon in den frühen 20er Jahren in einem Artikel, die Filmtechnik zu überwinden, das meint unwahrnehmbar zu machen, um dadurch ihren »letzten künstlerischen Sinn zu erfüllen«. 8 Der aus einem großbürgerlichen Haus stammende Regisseur, der bei Max Reinhardt studierte, im Ersten Weltkrieg mit 29 Jahren Kampfflieger wurde, der nach dem Zeugnis seiner Mutter acht Mal abstürzte, ohne sich lebensgefährlich zu verletzen,9 der wie alle Homosexuellen zu der Zeit im Schatten des Paragraphen 175 lebte, der seinen Familiennamen Plumpe in Murnau änderte und es auch im Krieg schaffte, Theater zu spielen, schwebte mit dem als Gesamtkunstwerk konzipierten Film nicht weniger als eine »Symphonie von Körpermelodie und Raumrhythmus« vor, »das Werden und Vergehen eines bisher nicht erahnten Lebens«. 10 Murnau wurde von William Fox mit einem Bankett empfangen, an dem 100 Mitglieder der besten New Yorker Gesellschaft teilnahmen und von dem der Radiosender WNYC life berichtete. Der solchermaßen geehrte Regisseur erhielt von seinem Produzenten für seinen ersten in den USA gedrehten Film 7

Zur Frage der Autorschaft des technischen Aufnahmeverfahrens der ›entfesselten Kamera‹ vgl. L.H. Eisner: Murnau, S. 36ff. 8 Zit. n. L.H. Eisner: Murnau, S. 44. Eisner zitiert hier aus einem »Entwurf für einen Artikel«, den sie auf die Jahre 1922/23 datiert, da er auf einem Schreibbogen der Decla Bioskop getippt war und Murnau in jener Zeit für die Decla Bioskop arbeitete. Der Artikel ist unter dem Titel »(… die frei im Raum zu bewegende Aufnahmeapparat)« erschienen in: Die Filmwoche Nr. 1 (1924), wiederabgedruckt in: Fred Gehler/Ullrich Kasten, Friedrich Wilhelm Murnau, Berlin: Henschel 1990. 9 L.H. Eisner: Murnau, S. 13. 10 Murnau zit. n. L.H. Eisner: Murnau, S. 44. 20

DIE FRAU AUS CHICAGO

SUNRISE – A SONG OF TWO HUMANS freie Hand, eine eigene Filmequipe und jede technische und unbegrenzte finanzielle Unterstützung durch die Fox Film Cooperation. SUNRISE wurde zu großen Teilen im Freien gedreht, was sowohl technisch als auch finanziell sehr aufwändig war. Der Film erlebte seine Uraufführung im September 1927 und gilt bis heute als einer wichtigsten Filme der Filmgeschichte – ungeachtet der Tatsache, dass er einem recht groben Geschlechterschema und einem einfachen Gut/Böse-Antagonismus folgt.

Eine der weitblickendsten weiblichen Figuren des amerikanischen Stummfilms Trotz der positiven Aufnahme durch die Kritik war SUNRISE kein kommerzieller Erfolg. Die investierten Kosten waren zu hoch und das eher düstere Melodram entsprach nicht den Erwartungen des amerikanischen Publikums. Dennoch behielt Murnau auch bei seinem folgenden, bis heute verschollenen Film FOUR DEVILS, einem aufwendig gedrehten Zirkusfilm, zunächst selbst die Kontrolle über die Produktion. Dass das Verhältnis zu Fox auch bei Beginn der Planungen für den Film, der CITY GIRL werden sollte, intakt war, zeigt ein Brief, den Murnau Ende Dezember 1927 an den Produzenten schrieb. In diesem Brief skizzierte er sein Vorhaben mit folgenden Worten: »Diesen Sommer möchte ich einen Film über Getreide drehen, über die Heiligkeit des Brotes, über die Entfremdung der modernen Großstadt und ihre Unwissenheit den wesentlichen Quellen der Natur gegenüber«. 11

In ihrer wegweisenden Studie über Murnau berichtet Eisner, dass der Regisseur dabei dokumentarisch vorgehen wollte: »Murnau sprach hier von einer Reihe von Einblendungen, die geradezu eine Geschichte des Getreides darstellen sollten, angefangen von dem Feld, auf dem es wächst, bis zur vollständigen Herstellung des Brotes. Hier wollte er die verschiedenen Phasen aufzeigen«. 12

Der Titel lautete damals noch OUR DAILY BREAD. Er änderte sich im Laufe der Realisierung jedoch ebenso wie die Geschichte und die Anlage des geplanten Films. In der Postproduktion wurde der Film von der Produktionsfirma ohne Rücksprache mit Murnau in CITY GIRL umbenannt. Der Film jedoch wurde im Zug seiner Realisierung von Murnau selbst neu konzipiert. Anders als in SUNRISE, in dem der Gegensatz von Stadt und Land sich in der 11 Zit. n. ebd., S. 103. 12 Ebd. 21

ASTRID DEUBER-MANKOWSKY

Gegenüberstellung einer als Vamp vorgestellten, verführerischen und mörderischen Frau aus der Stadt und einer unschuldigen, das Gute und die Liebe verkörpernden Gretchenfigur vom Land verdoppelte, fehlt in CITY GIRL die antagonistische Struktur, welche die früheren Filme von Murnau prägte und auch den unter dem Titel OUR DAILY BREAD in dem Brief an Fox skizzierten Film über das Getreide noch bestimmte. Stattdessen erfahren wir über die Figur der Stadtfrau die Kontinuität von Stadt und Land. Mit Kate, der Serviererin aus der Stadt, gespielt von May Duncan, die ihrem frisch angetrauten Ehemann Lem (Charles Farrell) auf die Farm seines Vaters folgt und dort die von Vorurteilen gegenüber der Stadt und den Stadtfrauen geprägten Gewaltverhältnisse am eigenen Leib erfährt, verliert man schnell die idealisierten Vorstellungen vom Land. Die Frau aus der Stadt ist hier weder Vamp noch lebenslustiges Nachtgewächs, sondern, wie Murnau formuliert, ein »hartgesottenes Serviermädel, das an Kämpfe mit Männern gewohnt ist« und unter harten Arbeitsbedingungen ihr Geld verdient.13 Das Land wiederum ist keine idyllische Projektion eines stadtmüden Touristen, sondern ein Ort der industriekapitalistischen Nahrungsmittelproduktion, wo sich die traditionell patriarchalen Familienverhältnisse in einen defensiven und trotzigen Fundamentalismus verwandeln, in dem Werte wie Gastfreundschaft keine Geltung mehr haben. Der Farmer (David Torrence) pflanzt, wie er seiner Tochter, der jüngeren Schwester von Lem, sagt, während er ihr die Ähren, mit denen sie spielt, aus der Hand reißt, das Getreide nicht zum Spielen, sondern um es zu verkaufen. Jedes Korn zählt. Anders als ihr Ehemann weigert sich Kate, sich diesen gewalttätigen Familienverhältnissen zu unterwerfen und setzt dafür auch ihre Ehe aufs Spiel. Sie erweist sich damit, wie der australische Filmwissenschaftler Adrian Danks unterstreicht, als eine der weitsichtigsten weiblichen Charaktere des amerikanischen Stummfilmkinos.14

Eine Art Dokumentarfilm Murnau habe sich, wie Eisner schreibt, über die Geschichte des Getreides und die Herstellung des Brotes vor Ort genau informiert: »[…] denn die Einblendungen sollten gewissermaßen eine Art von Dokumentarfilm bedeuten, der sich mit der Handlung verwebt. Murnau kannte zwar gut seine westfälische Heimat und ihre Felder; hier aber bemühte er sich genau, das Leben der Bauern des Weizenstaates Oregon zu studieren. Er wollte das Dickicht der Städte zu der Ruhe weiter Felder in Gegensatz setzen«.15 13 Zit. n. ebd., S. 104. 14 A. Danks: »Reaching Beyond the Frame«. 15 L.H. Eisner: Murnau, S. 103. 22

DIE FRAU AUS CHICAGO

Tatsächlich hatte sich Murnau, wie CITY GIRL deutlich zeigt, detailliert mit der Produktion, der Ernte und dem Verkauf des Getreides sowie mit der traditionellen und der industriellen Herstellung des Brotes bis hin zur Präsentation der maschinell geschnittenen Brotscheiben in den Schnellrestaurants der Stadt beschäftigt. Dabei stieß er jedoch auf die grundlegende Bedeutung, welche die kapitalistische Ökonomie und der ungebremste wirtschaftliche Wettbewerb der 20er Jahre in Nordamerika nicht nur für sein eigenes Metier, die Filmproduktion, hatten, sondern auch für die Produktion von Nahrungsmitteln und die Landwirtschaft, letztlich für die Gestaltung allen gesellschaftlichen Lebens, in der Stadt ebenso wie auf dem Land. Zu dem spezifischen Realismus von Murnaus Dokumentation der Geschichte des Getreides gehörte der Anspruch, an möglichst vielen authentischen Orten zu drehen: In Chicago sollten zu diesen Orten die in den Kellergeschossen befindlichen Werkhallen und Restaurants mit den für die hier arbeitenden Kellnerinnen unerträglichen Arbeitsbedingungen gehören. Auf dem Land die kleinen Farmerhäuschen in den unendlich sich erstreckenden Weizenfeldern, auf denen das Getreide mittels riesigen Landmaschinen, die sich, bedient von schlecht bezahlten Landarbeitern und gezogen von einem Gespann von mehr als 20 Mauleseln, wie bewegliche Fabriken durch die Getreidefelder wälzten, geerntet, gedroschen und in Säcke abgefüllt wurde. Während die Aufnahmen, die in der Stadt spielen, mit einem immer kleiner werdenden Budget im Studio gedreht werden mussten, konnten die Szenen auf dem Land tatsächlich im Freien aufgenommen werden. Lotte Eisner berichtet, dass Murnau gar ein Gut in Oregon gekauft habe, »um die Fahrkamera durch das weite Weizenmeer fahren zu lassen«.16 Die Geschichte beginnt damit, dass Lem, erwachsener und gleichermaßen unerfahrener Bauernsohn, von seinem Vater, einem hart arbeitenden Farmer, nach Chicago geschickt wird, um an der dortigen Börse die Ernte zu einem bestimmten Preis zu verkaufen. Der Kampf ums Überleben und das ständige Rechnen-Müssen hat den alten Bauern hartherzig werden lassen. Dass für ihn tatsächlich nichts anderes mehr zählt als der Preis, den er mit dem Getreide erzielen kann, setzt Murnau eindrücklich in Szene durch die Unendlichkeit der Weizenfelder und die Ausschließlichkeit, in der in dieser monokulturellen Landschaft nichts anderes zu sehen ist als Weizen. Das kleine Farmerhaus ertrinkt nahezu im Weizen. L.W. O’Connel, einer der Kameramänner erinnert sich:

16 Ebd., S. 104. Vgl. dazu den Bericht von Berstrom über die Dreharbeiten, J. Bergstrom: »Murnau in America«, S. 325f. Bergstrom schreibt zwar, dass eine Farm mit dem entsprechenden Land gemietet wurde, erwähnt jedoch keinen Kauf durch Murnau. 23

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»We took a whole apple orchard out and planted it in wheat. You’d take stubs of wheat and put them in plaster of Paris all around the house. The old man was so wheat hungry that he planted the wheat right up to the door … Such a perfectionist we had [in Murnau], everything had to be so real«. 17

Tatsächlich zeigt der Film in seiner fertigen Fassung nicht die Heiligkeit des Brotes, sondern er zeigt im Gegensatz, in welchem Ausmaß die Ökonomisierung, das Auf und Ab der Börsen und die Zirkulation des Geldes nicht nur das städtische Leben, sondern auch das bäurische Leben im modernen Amerika bestimmen. Der Film lässt erkennen, wie Land und Stadt aufeinander verwiesen sind, beide Projektionen des jeweils anderen und beide mitsamt ihrem vermeintlichen Antagonismus bestimmt durch die industrielle Produktion. Die Stummfilmfassung von CITY GIRL macht in eindrücklicher Weise die unsichtbare Macht der Warenproduktion sichtbar, ihr Einsickern in die Beziehungen der Geschlechter, die Korrumpierung der Tradition und die Veränderung der Beziehung der Generationen, und ist darin tatsächlich »dokumentarisch«.

Your Weight and Your Fortune Die Szene, welche die erste Begegnung von Lem und Kate einleitet, gibt einen Eindruck von der subtilen Kunst, mit der über Kameraführung, Schnitt, Rhythmus und Motive das komplexe Spiel ins Visuelle übersetzt wird, in dem sich die gegensätzlichen und gegenseitigen Projektionen von Stadt und Land herstellen und überlagern, und sie zeigt, wie diese Projektionen mit den unterschiedlichen Vorstellungen und Projektionen der Geschlechter, ihrer Auftritte, Aufgaben und Funktionen korrespondieren. Die Medien, über die der Kreislauf des industriellen Kapitals und seine Macht, Sinnliches in Übersinnliches und dieses wiederum in Sinnliches und erneut in abstrakte Werte zu verwandeln, visualisiert werden, sind die unterschiedlichen Spiel- und Erscheinungsformen von Geld und Zahl. Wir sehen die Wirkung dieser Macht in der Gleichung, die der alte Bauer in der Stube seines Hauses mit Handschrift auf einen Zettel notiert, um den Preis für sein Getreide auszurechnen. Wir sehen sie in der Schnelligkeit, mit der die Zahlen an alles überragenden Wandtafeln in der Börse nach den Handzeichen der Broker überschrieben werden. Wir sehen sie in den in Reihen aufgestellten und abgezählten Getreidebündeln auf den weiten Feldern, in der unterstellten Käuflichkeit der Kellnerin und last, but not least im Glückspenny, den Lem Kate als Trinkgeld hinlegt.

17 Zit. n. J. Bergstrom: »Murnau in America«, S. 325. 24

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Abb. 1: Die handschriftliche Rechnung des alten Bauern

Abb. 2: Das Auf und Ab der Zahlen an der Börse

Abb. 3.1: Die unterstellte Käuflichkeit des city girl

Abb. 3.2: Zwischentitel zu 3.1

Die Szenenfolge ist die einzige Parallelmontage des Films. Sie beginnt mit einer Einstellung in der Stube des Bauernhauses, in welcher der Vater den Preis berechnet, den er für sein Getreide erzielen kann, und wechselt dann unvermittelt in die Börse, in der die Zahlen im Rhythmus der Arme der Börsianer Abb. 4: Glückspenny rauf- und runtergehen. Ein Schnitt versetzt uns zurück zum Bauernhaus, vor dem der Vater seine Tochter beim Spiel mit ein paar Ähren erwischt. Er herrscht sie an: Jedes Korn zählt, das heißt, bringt Geld, reißt ihr die Ähren aus der Hand und legt sie in die Bibel. Das Gesetz des Geldes ist stärker als das Gesetz Gottes. Dem Dankgebet für das tägliche Brot folgt in einer kunstvollen Montage die automatische Ausgabe der Toastscheiben in Kates Schnellrestaurant. Wie Murnau in den folgenden Szenen deutlich macht, träumt sie von einer ländlichen Idylle, die ebenso als Projektion erkennbar wird, wie es auch die Postkarten mit Stadtmotiven sind, die Lem aus Chicago nach Hause schickt. 25

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Während Lem und Kate an der Theke schäkern, fallen, wie Lem auf dem Weg zu seinen Geschäften aus der Zeitung erfährt, die Kurse für das Getreide. Er glaubt der Prophezeiung eines weiteren Kursverfalls und verkauft, um dem zuvorzukommen, das Getreide des Vaters für einen niedrigen Preis. Lem folgt, wenn er Kate um ihre Hand bittet, ebenso wenig wie beim Verkauf des Getreides einer selbst getroffenen Entscheidung, sondern wieder einer Prophezeiung. Was die Liebe zu Kate angeht, sagt ihm eine Waage, welche verspricht, »Your Weight and Your Fortune« zu kennen, sein Schicksal voraus: »Wenn du die Frau, an die du denkst, heiratest, wird alles gut« – dies steht auf dem Ticket, das ihm die Waage mitsamt der Angabe seines Gewichts für die Münze herausgibt, die er in den Apparat gesteckt hat. Lems Entscheidung ist nicht frei und darin deutet sich bereits an, dass er nicht der Mann ist, den Kate in ihm sieht. Er kommt schließlich mit seiner frisch vermählten Braut in seinem Elternhaus an. Hier werden die beiden Abb. 5: Glückswaage zwar von der Mutter und der Schwester mit Freude aufgenommen, nicht jedoch vom Vater. Dieser demütigt seinen Sohn, der das Getreide nicht zu dem von ihm festgeschriebenen Preis verkauft hat, zunächst vor Kates Augen und beleidigt diese dann in einem Gespräch unter vier Augen. Er unterstellt Kate, liebesunfähig zu sein und seinen Sohn nur aus ökonomischen Erwägungen geheiratet zu haben, und will sie in die Stadt zurückschicken. Kate widerspricht. Das Gespräch endet in einer Schlägerei, die Lem mit einer heftigen Ohrfeige beendet. 18 Der Machtkampf zwischen Kate und Lems Vater ist nicht nur ein Kampf zwischen einem Bauern und einem city girl, sondern zugleich ein Kampf zwischen zwei Zeiten, zwei Generationen und zwei Geschlechterordnungen. Weiblichkeit, Großstadt und Moderne wurden, worauf Annette Brauerhoch hinweist, immer schon gerne in einem Atemzug genannt. Die tatsächliche Eroberung der Stadt durch die Frauen zeige hingegen erst der Film. 19 Und, so könnte man ergänzen, erst CITY GIRL zeigt den Kampf des Stadtmädchens 18 Eine der Änderungen, die Murnau in einem Brief an Fox vorgeschlagen hatte, die, wie er schreibt, »ich selbst ausgeführt hätte, wenn ich länger an diesem Film mitgearbeitet hätte«, betraf die Szene, in welcher Lems Vater Kate eine Ohrfeige gibt, zit. n.: L.H. Eisner: Murnau, S. 104. Murnau hätte sie, um der Glaubwürdigkeit der Geschichte willen, herausgeschnitten und an einer anderen Stelle später in der Geschichte hineinmontiert. 19 Brauerhoch, Annette: »Arbeit, Liebe, Kino«, in: Gabriele Jatho/Rainer Rother (Hg.), City Girls. Frauen im Stummfilm, Berlin: Bertz und Fischer 2007, S. 5887, hier S. 59. 26

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gegen die Schicksalhaftigkeit, mit der nicht nur die Tradition und die Generationenfolge ihren Tribut verlangen, sondern auch das Kapital. Wenn Kate, die selbst weder über eine Familie noch über eine Herkunft verfügt, selbstbewusst verkündet, dass sie aus Lem auch gegen den Willen des Vaters einen Mann machen werde, so verbindet sie damit die Vorstellung, dass Lem sich für sie und ihre Liebe entscheiden und sich gegen den Vater und dessen Autorität auflehnen werde. Kate macht damit nicht nur deutlich, dass sie auf ihre Liebe besteht, sondern auch, dass sie nicht gewillt ist, die Macht, die Selbständigkeit und Erfahrung aufzugeben, welche sie durch das Leben in der Stadt gewonnen hat. Anders als Lems Mutter, die ihren Sohn davon abhält, sich gegen den Vater aufzulehnen, weigert Kate sich, diese den Frauen zugeteilte stützende und systemerhaltende Funktion zu übernehmen. Lems Entscheidung für sie muss von ihm selbst kommen – genau dies macht den folgenden Konflikt so spannungsvoll. Denn Lem zieht es bis fast zum Schluss vor, dem Konflikt auszuweichen, dem Schicksal weiter zu folgen und sich dem Vater und dessen Gesetz zu unterwerfen. Erst als Kate schon auf dem Weg zurück in Stadt ist und der Vater, wenn auch versehentlich, auf Lem schießt, zieht dieser jene Konsequenzen, die Kate schon lange von ihm erwartet hatte. Der Film endet nach einem dramatischen, an die Eingangsszene von FAUST erinnernden Ritt auf zwei Zugpferden durch die Nacht, die nur durch eine Laterne erleuchtet ist, in einem Happy End. Kate bekommt schließlich den Mann, den sie sich gewünscht hatte, und der Vater entschuldigt sich bei ihr.

Welches Ende? Wie Janet Bergstrom überzeugend argumentiert, war, anders als Eisner es in ihrer Studie über Murnau darstellt, Fox während der Produktion von CITY GIRL nicht selbst in Kontakt mit Murnau.20 Es war nicht Fox, der, wie Eisner nahelegt, in einem eigenmächtigen Entschluss die Autonomie von Murnau so abrupt einschränkte und sich in die Produktion einmischte. Die Quellen, die Bergstrom erschlossen hat, deuten vielmehr darauf hin, dass zunächst Winfield Sheehan, der Manager der Fox Film Cooperation und spätere Gegenspieler von Fox, für die Produktion verantwortlich war und Murnau, bevor er im Februar 1929 kündigte, gezwungen war, mit Angestellten auf einer niedrigeren Leitungsebene zu verhandeln, die nicht davon überzeugt waren, dass Murnau mit seinen Stummfilmen und seiner Kunst viel zur aktuellen Entwicklung des Sprechfilms beitragen könne. 21

20 L.H. Eisner: Murnau, S. 104. 21 J. Bergstrom: »Murnau in America«, S. 331. 27

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William Fox war in den Jahren von 1928 bis 1929 viel zu beschäftigt mit der Expansion seines Unternehmens, um sich selbst um die Produktion von Murnaus Filmen zu kümmern. Dabei spielte der erbarmungslose Kampf um Rechte, Patente und Marktanteile, der mit der Einführung des Sprechfilms und der Bruch mit dem Stummfilm einhergingen, eine zentrale Rolle. Fox tat alles, um sich mit dem Lichttonverfahren, an dem er sich die Rechte gesichert hatte, gegen Warner Brothers und deren Vitaphone System durchzusetzen und seine Position auf dem Weltmarkt auszubauen. Im Oktober 1928 eröffnete er in der Nähe von Beverly Hills Movietone City, das modernste Tonfilmstudio seiner Zeit, das in nur vier Monaten von 1500 Menschen errichtet worden war. 1929 besaß Fox das weltweit größte Imperium im Bereich der Filmproduktion und -distribution mit mehr als 1000 Kinosälen. Allein der Kauf der britischen Firma Gaumont-British Picture Corporation brachte zusätzlich 300 Kinosäle in Großbritannien, die mit dem neuen Sound-System ausgestattet werden konnten. Kein Wunder, dass ein Journalist 1929 schrieb, der Sprechfilm sei über Nacht in die Kinos gelangt. Fox hatte daran und damit auch an der schnellen Verdrängung des Stummfilms einen großen Anteil. Das Reich, das Fox aufgebaut hatte, zerfiel freilich schneller, als es entstanden war. Im Sommer 1929 hatte er einen schweren Autounfall, der ihn für mehrere Wochen ans Krankenbett fesselte. Nach dem Börsencrash im Oktober 1929 fielen auch die Aktien der Fox Film Cooperation. Fox konnte die Schulden nicht mehr bezahlen und war gezwungen, eine Aktienmehrheit an seine Partner zu verkaufen.22 Die teure Umrüstung der Kinosäle für den Tonfilm und die rückläufigen Zahlen der Kinobesuche in der folgenden Weltwirtschaftskrise führten zu weiteren hohen Verlusten. Fox trat schließlich von der Präsidentschaft seines Unternehmens zurück; 1935 wurde die Fox Film Cooperation unter einem neuen Präsidenten mit der Twentieth Century Pictures zur 20th Century Fox zusammengeschlossen. Die Dreharbeiten von OUR DAILY BREAD/CITY GIRL waren Ende 1928 abgeschlossen. Nach den Außenaufnahmen, die am 1. November endeten, wurden die Szenen des ersten Teils, die in der Stadt spielen, unter erschwerten Bedingungen mit einem immer geringer werdenden Budget im Studio gedreht. Im Februar 1929 kündigte Murnau den Vertrag mit Fox. Es dauerte ein weiteres halbes Jahr, bevor die Stummfilmversion fertiggestellt war. Im Juli 1929 begannen Katherine Hilliker und H.H. Caldwell mit der Arbeit an dem von Murnau zurückgelassenen Film. Die beiden kannten Murnau seit 1926 und hatten sich in den Bereichen Schnitt und Untertitelung einen Namen gemacht. Sie hatten die Texte für die englische Version des FAUST geschrieben,

22 Die Einzelheiten können in der Dokumentation des Falls nachgelesen werden, die Fox bei Upton Sinclair in Auftrag gab, Upton Sinclair: Upton Sinclair presents William Fox, Los Angeles: Eigenverlag 1933. 28

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waren bei der Produktion von SUNRISE dabei gewesen und mit Murnau eng befreundet. Sie kannten, wie Bergstrom unterstreicht, die Arbeitsweise von Murnau gut genug, um den Film, so weit dies möglich war, in Murnaus Sinne zu beenden. 23 Doch selbst wenn sich die beiden an Murnaus Kino und seinen Vorstellungen von dem Film orientierten, so ist CITY GIRL in seiner fertigen Fassung – mehr als andere Filme – das Produkt einer kollektiven Zusammenarbeit. Im Abspann steht »edited and titled by« Hilliker und Caldwell, sie waren für den Schnitt verantwortlich und die Untertitel. Es scheinen zwar keine neuen Aufnahmen gemacht worden zu sein; wie weit ihr Anteil an der Gestaltung des Films dennoch reichte, belegt eine von Bergstrom zitierte Notiz, in der die beiden ein neues Ende vorschlagen. Das Memo endet mit dem Satz »As we have stated before, we believe the present end to be highly detrimental to the success of the production«. 24 Ihr Vorschlag wurde, wie Bergstrom schreibt, nicht realisiert. 25 Gleichzeitig weiß man jedoch auch nicht, ob das aktuelle Ende des Films jenes ist, das sie ändern wollten, oder ob es noch einmal eine andere Version darstellt. In der jetzigen Form endet der Film, wie Adrian Danks anmerkt, in einem Happy End, aber auch in einer subtilen Zweideutigkeit – was dem von Murnau gewünschten Charakter des Dokumentarischen wiederum entgegenkommen würde: »We think they’ll be all right but can’t help thinking of the world and the order just beyond the frame they must re-enter.« Das Drehbuch für OUR DAILY BREAD/CITY GIRL stammt von Berthold Viertel und Marion Orth, sie haben es nach der Vorlage des Bühnenstücks The Mud Turtle von Elliott Lester geschrieben. Der Film selbst ist im Vergleich zum Drehbuch direkter, weniger ausführlich, schlanker, weniger expressionistisch, stringenter. 26 Verantwortlich dafür sind zweifellos budgetäre Gründe. Dennoch hat sich diese Verschlankung auf die Narration und die Ästhetik des Films positiv ausgewirkt. Die Produktionsbedingen haben sich nicht nur in den Inhalt des Films, sondern auch in die Form und Ästhetik von CITY GIRL eingeschrieben. Dies verleiht dem Film eine eigene Stringenz und aus heutiger Perspektive eine besondere Aktualität und künstlerische Qualität. CITY GIRL ist – bei aller Zufälligkeit seines Zustandekommens – zugleich jener Film, der Murnaus Vision eines ›Architekturfilms‹ an einer Stelle besonders nahekommt, mehr noch, diese Vision geradezu einzulösen scheint.

23 24 25 26

J. Bergstrom: »Murnau in America«, S. 332. Ebd., S. 333. Ebd. Das zeigt zum Beispiel der Vergleich der beschriebenen Parallelmontage mit der Drehbuchvorlage von Viertel und Orth, vgl. J. Bergstrom: »Murnau in America«, S. 326f. 29

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Bewegungsbild und Zeitbild, Murnau und Antonioni In dem bereits oben zitierten Artikel über eine sich frei bewegende Aufnahmeapparatur zeichnet Murnau die Vision eines ›Architekturfilms‹, der nichts wäre als »fließende Architektur durchbluteter Körper im bewegten Raum, das Spiel der aufund absteigenden und wieder lösenden Linien, der Zusammenprall der Flächen, Erregung und Ruhe, Aufbau und Einsturz, Werden und Vergehen eines bisher nicht erahnten Lebens, die Symphonie von Körpermelodie und Raumrhythmus, das Spiel der reinen, lebendig durchfluteten, strömenden Bewegung«. 27

1930 schrieb Murnau, kurz vor seinem Tod, in einem Brief aus Haiti, wo er mit TABU seinen letzten Film ebenfalls als Stummfilm drehte, der Tonfilm bedeute einen großen Fortschritt im Filmwesen, er sei nur zu früh gekommen: »[…] wir hatten gerade angefangen, uns mit dem stummen Film zurechtzufinden, waren im Begriff, die ganzen Möglichkeiten der Kamera auszunutzen, dann kam der Tonfilm auf, und die Kamera war vergessen, während Ideen entwickelt wurden, wie das Mikrophon zu gebrauchen sei.« 28

Vor allem eine Szene in CITY GIRL zeigt, wie weit Murnau in der Ausnutzung der Möglichkeiten der Kamera ging und wie weit es ihm gelang die oben gezeichnete Vision einzulösen. Sie setzt ein, nachdem Lem und Kate auf dem Land angekommen, aus dem Zug ausgestiegen sind und Lem seiner Braut die Weite der Felder zeigt. Die beiden laufen spielend, sich fangend und voneinander lösend durch die unendlichen, sich im Wind bewegenden Weizenfelder, die Kamera begleitet sie, als ob sie Teil dieses Liebestanzes wäre, kommt ihnen näher, lässt sie wieder laufen, bis die Liebenden schließlich an der Wand eines Schuppens zum Stehen kommen. Eisner bezeichnet die Szene als jene »Murnau-Passage«, »wo das junge Paar durch die Weizenfelder läuft und der Wind die reifen Garben wie ein Meer fluten lässt«. 29 Die Passage zeigt nichts als die ungebundene Schönheit der Weizenfelder und das freie Glück des Liebespaars, sie hat keinen abstrakten Wert und keine übersinnliche Bedeutung. Sie lässt im Kontrast zur sonst allgegenwärtigen Macht des Ökonomischen und des Geldes umso deutlicher ahnen, was Murnau mit dem Architekturfilm in Sinne gehabt haben könnte, wie man sich eine »fließende Architektur durchbluteter Körper im bewegten Raum« und das 27 Zit. n. L.H. Eisner: Murnau, S. 44. 28 Zit. n. ebd., S. 114. 29 Ebd., S. 105. 30

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»Werden und Vergehen eines neuen, bisher ungeahnten Lebens« 30 vorstellen könnte. Sie setzt die Filmkunst als Kontrapunkt und gibt der Sehnsucht von Kate nach einer Utopie jenseits von Stadt und von Land ein Residuum im Film. Sie ist Bewegungs-Bild, aus den in Bewegung befindlichen Körpern gewonnene, reine Bewegung.31

Eine filmische Antwort findet die Geschichte von OUR DAILY BREAD/ CITY GIRL 33 Jahre später mit Michelangelo Antonionis L’ECLISSE (dt.: LIEBE 62) mit Monica Vitti und Alain Delon in den Hauptrollen. Statt mit einer »fließenden Architektur durchbluteter Körper im bewegten Raum« sehen wir uns konfrontiert Abb. 6.1-6.5: Ein bisher mit beliebigen und entleerten Räuungeahntes Leben men, welche die Figuren und Handlungen in sich zu absorbieren scheinen. Selbst die Börse – hier ist es die Börse in Rom – hat nicht mehr die Kraft, ein Schicksal zu sein, sie ist, wie die Liebe, nur ein Spiel. Die erste Begegnung zwischen den Liebenden findet hier

30 Zit. n. ebd., S. 44. 31 Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 42. 31

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nicht in einem Restaurant, sondern in der Börse selbst statt, kurz bevor die Glocke eine Pause ankündigt: Es ist eine Schweigeminute für einen verstorbenen Börsianer. Piero (Delon), der junge Börsenmakler, nutzt die Pause, um Vittoria (Vitti) zuzuflüstern: »eine Minute Schweigen, wie bei den Fußballern.« Auf deren Frage, ob er den Verstorbenen gekannt habe, antwortet er: »Natürlich, aber hier kostet eine Minute eine Milliarde.« Trotz der Aktivität und der aufgeregten Bewegung, die an der Börse herrscht, trotz der Souveränität, mit der Piero über den Boden schlittert, um die Informationen schneller weiterzugeben, wirkt die Börse doch nicht belebt. Sie scheint darin aufzugehen, die Stille zu übertönen, die während der Schweigeminute für einen Toten eintritt. Es ist eine lange Zeit, sie dauert auch im Film reale 60 Sekunden, sie ist ›Echtzeit‹, ein Einbruch des Realen in den Film. 32 »Ausgehend von L’ECLISSE«, so beschreibt Deleuze entlang von Antonionis Film den neuen Realismus unter der Überschrift Jenseits des Bewegungs-Bildes im zweiten Band seiner beiden Bücher über das Kino, »hat der beliebige Raum zweifellos eine zweite Gestalt angenommen, nämlich den leeren oder verlassenen Raum. Dies will besagen, dass sich die Figuren zusehends objektiv entleert haben: sie leiden weniger unter der Abwesenheit eines anderen als vielmehr unter einem mangelnden Bezug zu sich selbst […]. Von nun an verweist der Raum auf den verlorenen Blick des Menschen, der gegenüber der Welt und sich selbst abwesend ist.« 33

In einem Interview mit dem Corriera della Sera aus dem Jahr 1975 sagte Antonioni: »I would say that The Eclipse is still a modern film in that its protagonists are people who do not believe in feelings – that is, they limit them do certain things.« 34 Gezeigt wird nicht mehr das Leben, sondern der Tod.

32 Ich danke Gertrud Koch für diesen Hinweis. 33 Deleuze, Gilles: Das Zeitbild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 21. 34 Antonioni, Michelangelo: The Architecture of Vision. Writings and Interviews on Cinema, hg. v. Carlo di Carlo/Giorgio Tinazzi, amerik. Ausg. hg. v. Marga Cottino-Jones, Chicago: The University of Chicago Press 2007, S. 277. 32

Moderne Magie. Hysterikerinnen und Doppelgänger im frühen Film und okkulten Wissen DOROTHEA DORNHOF

Moderne Magie Der amerikanische Medienkünstler Raymond Salvatore Harmon stellte 2008 in der Londoner Horse Hospital Gallery seinen okkulten Film ALEISTER CROWLEY’S RITES OF ELEUSIS vor, in dem er die kinematographische Erfahrung als okkultes Ritual inszenierte. Seine experimentelle Videoperformance basiert auf der siebenteiligen Performance RITES OF ELEUSIS des britischen Okkultisten und Meisters der Sexualmagie Aleister Crowley, die er 1910 in der Londoner Caxton Hall öffentlich aufführte. 1 Harmon betont die kreativen Möglichkeiten okkulter kinematographischer Erfahrung für die Erprobung neuer Wahrnehmungsmöglichkeiten: »Pushing the mind outward beyond the normal state of awareness the transcendental (or occult) film possesses the ability to confront our latent ideas of reality and to alter our perceptions of the now.« 2 Mit der Idee der »absoluten Erfahrung« spielend, fließen in die Performance okkulte und magische Traditionen ebenso ein wie Antonin Artauds Idee des »absoluten Kinos«. 3 Was es bedeutet, Technik als Medium der Ma1

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Die Texte der Performance von Aleister Crowley sind nachzulesen in: Keith Richmond (Hg.), Rites of Eleusis: As Performed at Caxton Hall Illustrated by Dwina Murphy-Gibb, Thame: Mandrake Press 1990. Harmon, Raymond Salvatore: »On the Nature of Light. The Cinematic Experierence as Occult Ritual«, in: PAJ: A Journal of Performance and Art 31 (2009), S. 91-97, hier S. 92. Artaud, Antonin: »Die Muschel und der clergyman. Kino und Realität«, in: Horst Turk (Hg.), Theater und Drama: theoretische Konzepte von Corneille bis Dürrenmatt, Tübingen: Gunter Narr 1992, S. 591-599. 33

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gie zu inszenieren, zeigt die 49-minütige okkulte Videoperformance aus filmisch-musikalischen Improvisationen in Dreikanal und visueller Destillation von Crowleys magischer Zeremonie, die den Raum der Galerie in einen visuellen Meditationsraum verwandeln. Reflektiert werden dabei sowohl die Zauberkraft visueller Medien aus der Frühgeschichte des Films als auch spezifische Illusionsbildungen optischer Magie, die auf ein »medientechnisches Apriori« des Okkultismus verweisen. 4 Die Suche nach neuen, bisher verborgenen Erfahrungsdimensionen war bereits um 1900 bevorzugter Gegenstand jener Grenzwissenschaften, die sich am Rande anerkannter Disziplinen bewegten: Spiritismus, Okkultismus, Magie. Ihr Ziel war es, rational nicht erklärbare Phänomene mit mediumistischen Experimenten zu erschließen. Phänomene, die bis dahin jenseits der sichtbaren Welt lagen, wurden mit Fotografie und Kinematographie in eine »Ikonologie des Unsichtbaren« 5 verwandelt. Mit Körperexperimenten unter Hypnose gingen Physiker, Mediziner und Psychologen der Wirksamkeit verborgener psychischer Kräfte nach, die sich in Traumtänzen, Geistererscheinungen oder in der Produktion von amorpher Masse (Ektoplasma, Teleplasma) im Trancezustand offenbarten. Mit dem neuen Interesse am Verhältnis von Körper und Unbewusstem durchmischten sich moderne Wissenschaft und Okkultismus, Technologie und Magie in moderner Unterhaltungskultur. Zugleich wurden in zeitgenössischen juristischen und ethnologischen Diskursen zu kinematographischen Bildern dämonische Doppelgänger aufgerufen, die die Fähigkeit des kinematographischen Apparats verkörperten, lebende Filmbilder zu simulieren. Das Zusammentreffen von fotografischen Bildern und Okkultismus ist nicht nur von Bedeutung für das Verständnis der Beziehung zwischen Film und Okkultismus, sondern auch für den besonderen Charakter okkulter Bewegungen in der Moderne. Ausgehend von einer wechselseitigen Hervorbringung von Kino und optischer Magie soll hier die Spur dieses Zusammentreffens zurückverfolgt werden zu den gemeinsamen Orten und Schauplätzen von Kinematographie und Okkultismus, die um 1900 in den europäischen Metropolen die ZuschauerInnen ›verzauberten‹ und einen unbestimmten Schwellenraum zwischen Wissenschaft, Magie und Spektakel eröffneten. In diesen Zwischenwelten gehen traditionelle magische Techniken in neue Wissens- und Sehprogramme ein und stimulieren spektakuläre mediale Ereignisse, denen im diskursiven Kon4

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Hagen, Wolfgang: »Der Okkultismus der Avantgarde um 1900«, in: Sigrid Schade/Georg Christoph Tholen (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München: Fink 1999, S. 338-357, hier S. 346. Wyss, Beat: »Ikonologie des Unsichtbaren. Einleitung – Das Ende des Geistreiches«, in: Ders. (Hg.), Mythologie der Aufklärung. Geheimlehren der Moderne, München: Silke Schreiber 1993, S. 15-25.

MODERNE MAGIE

text von Rausch und Ekstase, Dämonen und gespenstischen Doppelgängern psychotische Spuren eingeschrieben sind. Die magische Dimension des frühen Films und die experimentellen Seelenerkundungen des Okkultismus eröffnen ein Wissensfeld, das Christina von Braun als Grenzgängerin zwischen den Medien und den Disziplinen mit ihren Forschungen zu Hysterikerinnen und Hysterikern, zu Kulturtechniken, Religionen und Geschlechterbildern schon sehr früh betreten hat. Von ihren kulturhistorischen Forschungen geht eine magische Anziehung aus, da sie die Wirkungsmacht des Unsichtbaren/Unbekannten als greifbare Realität entziffern, ohne jedoch der Illusion zu verfallen, zwischen Evidenz und Täuschung stets klare Grenzen ziehen zu können. 6 Die im ›archaischen Archiv‹ bewahrten Techniken der Magie wurden um 1900 kontrovers diskutiert; in der Debatte um das frühe Kino – psychische Ansteckung oder »Psychotechnik«7 – sah man in ihnen ein Mittel politischer Gemeinschaftsbildung und Kulturentwicklung. Ebenso wurden ihre bedrohlichen, die Gemeinschaft zersetzenden Implikationen verhandelt. Physiologisch und psychologisch begründete Theorien der kinematographischen Projektion und der okkulten Medien nahmen Wirkungsmechanismen zwischen technischem und psychischem Apparat in den Blick, diskutierten Hypnose und Hysterie und die damit einhergehende schädliche Suggestivkraft der kinematographischen Vorführung für das Publikum.8 Darüber hinaus führte die kulturelle Archäologie der neuen Medien zu Schauplätzen wie Jahrmärkten und Varietés, zu Phantasmagorien-Shows9 und Hypnosekabinetten, die mit der Lust an Verzauberung und Täuschung, mit Schwindel und Illusionen breite Publikumsmassen zu unterhalten vermochten. Bereits die ›Laterna Magica‹ als eine Vorform des Filmprojektors verweist

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Von Braun, Christina: Nicht ich. Logik – Lüge – Libido, Frankfurt a.M.: Verlag Neue Kritik 1985; dies.: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht. Zürich/München: Pendo 2001. Münsterberg, Hugo: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und andere Schriften zum Kino, Wien: SYNEMA-Gesellschaft für Film und Medien 1996. Hellwig, Albert: Schundfilms. Ihr Wesen, ihre Gefahren und ihre Bekämpfung, Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses 1911; ders.: Die Beziehung zwischen Schundliteratur, Schundfilms und Verbrechen: das Ergebnis einer Umfrage, Leipzig: Vogel-Verlag 1913; ders.: »Hypnotismus und Kinematographie«, in: Zeitschrift für Psychotherapie und medizinische Psychologie mit Einschluß des Hypnotismus, der Suggestion und der Psychoanalyse 5/6 (1916), S. 310-315. Vgl. Castle, Terry: »Phantasmagoria: Spectral Technology and the Metaphorics of Modern Reverie«, in: Critical Inquiry 15 (1988), S. 26-61; Nadis, Fred: Wonder Shows. Performing Science, Magic and Religion in America, New York: Rutgers University Press 2005. 35

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auf die enge Verwandtschaft von optischer Magie und Kino.10 Die visuellen Effekte der Geisterfotografie, Méliès’ Zauberkino und der ›hypnotische‹ Stummfilme eröffneten einen Raum säkularer Magie,11 dem die Faszination am Sehen und der Verblendung in doppelter Hinsicht eingeschrieben ist; okkulte Medien dienten als Kontrollapparate für wissenschaftliche Aufzeichnungen unerklärlicher Phänomene, indem sie deren teleplasmatische und elektroplastische Sichtbarkeit zutage förderten, und zugleich gingen mit dem Kino neue Möglichkeiten unterhaltsamer Verbreitung okkulten Wissens und seiner medialen Zirkulation einher. So wurde beispielsweise in Robert Wienes DAS KABINETT DES DR. CALIGARI (D 1920), in dem die kriminellen Machenschaften des zwielichtigen Schaustellers und Hypnotiseurs und seines somnambulen Mediums im Zentrum stehen, das Wahnhafte des Realen zur Wirklichkeit des Films. Bereits in der ersten Einstellung, die zwei weißgeschminkte Männer auf einer Bank sitzend zeigt, wird offensichtlich ihr Status als Phantome auf der Kinoleinwand zitiert: »Es gibt Geister – überall sind sie um uns herum.« Andererseits wurde in der Kinodebatte von medizinischer Seite beanstandet, dass durch hypnotische Darstellungen im Film die schlimmsten Vorurteile gegen Irrenärzte und Irrenhäuser genährt werden. 12 Als lustvolles Spiel mit Ver- und Entzauberung finden moderne Magie und neue visuelle Medien auf wahrnehmungstheoretischer und medizinischer Ebene zusammen und formieren Sphären einer modernen Spektakelkultur. Der unbestimmte Status der okkulten Medien erzeugt in den hypnotischen Experimenten eine immersive Dynamik, eine »Grauzone zwischen science und séance, in der Evidenzstrategien einer anderen Experimentalwissenschaft

10 Zglinicki, Friedrich von: Die Wiege der Traumfabrik. Von Guckkästen, Zauberscheiben und bewegten Bildern bis zur UFA in Berlin, Berlin: Transit 1986; Gunning, Tom: »Phantom Images and Modern Manifestations. Spirit Photographie, Magic Theater, Trick Films, and Photography’s Uncanny«, in: Patrice Petro (Hg.), Fugitive Images. From Photography to Video, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press 1995, S. 42-71. 11 During, Simon: Modern Enchantments. The Cultural Power of Secular Magic, Cambridge (MA)/London: Harvard University Press 2002; vgl. auch Saler, Michael: »Modernity and Enchantment. A Historical Review«, in: The American Historical Review 111 (2006), S. 692-716; Moore, Rachel O.: Savage Theory. Cinema and the Modern Magic, Durham/London: Duke University Press 2000; Meyer, Birgit/Pels, Peter (Hg.): Magic and Modernity. Interfaces of Revelation and Concealment, Stanford (CA): Stanford University Press 2003; Partridge, Christopher: The Re-Enchantment of the West, Bd.1, New York/London: T&T Clark International 2004; Schwartz, Vanessa R.: Spectacular Realities. Early Mass Culture in Fin-de-Siècle Paris, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1998; Schneider, Mark A.: Culture and Enchantment, Chicago/London: The University of Chicago Press 1993. 12 A. Hellwig: »Hypnotismus und Kinematographie«, S. 6. 36

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als theatrale Formen des Singulären aufscheinen«. 13 Dieses singuläre Erscheinen der Phantome in den okkulten Versuchen steht zunächst im Gegensatz zum Kino mit seiner Reproduktion lebender Bilder. Eine Verbindung zwischen Kino und okkulten Séancen stellt jedoch die Faszination und die Lust am Schauen her, da Fotografie und Film zugleich als Beobachtungsinstrumente und zur Bestätigung der realen Existenz der Phänomene dienen.14 Das Kino wiederum rückt durch die Schattenhaftigkeit und Immaterialität der Kino-Erscheinungen in die Nähe okkulter Phänomene und Praktiken wie Hypnose, Trance und Geisterbeschwörung. Im Folgenden sollen gemeinsame kulturelle Praktiken von Film und Okkultismus untersucht und die These aufgestellt werden, dass okkulte Experimente und frühes Kino mit den visuellen Phänomenen der Offenbarung und der Täuschung zugleich zugleich als Entertainment und als Performance in der Produktion theatraler Evidenz betrachtet werden können. Als filmische Wahrnehmungstäuschung und als technisch erzeugte Magie der Shows und der Spezialeffekte in den Séancen fand ›säkulare Magie‹ 15 im Feld des Wissens nicht zuletzt durch eine Flut populärer Abhandlungen zur ›Zauberkunst‹ 16 und über Anleitungsschriften für spiritistische Hobbyfotografen Eingang in die moderne Massenkultur, die damit skeptische und selbstreflexive LeserInnen und ZuschauerInnen hervorbrachte. So stellte der französische Varietékünstler Jean-Robert Houdin, der die magischen Praktiken in Europa und Amerika revolutionierte, Magie als eine selbstreflexive Form der Unterhaltung dar, während er den Magier als einen Akteur vorführte, der einen Ma-

13 Adamowsky, Natascha: »Mr. Home schwebt raus und wieder rein. Zur Bedeutung des Mediums für (okkulte) Wissenschaften«, in: Jörn Ahrens/Stephan Braes (Hg.), Im Zauber der Zeichen. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Mediums, Berlin: Vorwerk 8 (2007), S. 103-116, hier S. 115. 14 Geppert, Alexander C.T./Braidt, Andrea: »Moderne Magie – Orte des Okkulten und die Epistemologie des Übersinnlichen 1880-1930«, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 14 (2003), S. 7-36, hier S. 12. 15 Der Begriff ›säkulare Magie‹ wird hier im Anschluss an die Forschungen von Simon During verwendet: »In other words, we need modes of analysis which recognize and accept the fact that modern magic – or what I am calling secular magic – is different from the magic rituals, myths, and fetishes, as well as that of spirits, universal sympathies and antipathies, or of superstition or credulity. It is a self-consciously illusory magic, carrying a long history, organized around a still-beleaguered lightness or triviality, which it also massively exceeds. And it requires its own historiography, theory, and appreciation.« S. During: Modern Enchantments, S. 27. 16 Robert-Houdin, Jean-Eugène: Nouvelle Magie blanche dévoilée, 1853; Hoffmann, Lewis: Modern Magic. A practical treatise on the art of conjuring, London: George Routledge & Son 1876. Vgl. S. During: Modern Enchantments, S. 135. 37

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gier spielt. 17 Auch der Filmtheoretiker Tom Gunning sieht die enge Verbindung zwischen Kino und Okkultem in den Techniken der Illusionserzeugung. »Der rasante Zuwachs an Illusionstheatern im späten 19. Jahrhundert (mit solchen meisterhaften Selbstdarstellern wie Robert Houdin und Maskelyne) basierte sowohl auf der Faszination, die der Spiritismus auf das Publikum ausübte, als auch auf den neuerlich verfügbaren Möglichkeiten zur Erzeugung von Illusionen mit Hilfe des elektrischen Lichts und anderer moderner Erfindungen wie z. B. Elektromagneten.« 18

Im Folgenden sollen Okkultismus und früher Film als Schwellenraum moderner Magie diskutiert werden, die sich aus der Faszinationskraft neuer technischer Medien um 1900 und aus dem zunehmend visuellen und spektakulären Charakter okkulter Phänomene ergab. Magische Vorstellungen und Praktiken verschmelzen mit naturwissenschaftlichen, medientechnischen Wissensbeständen und religiösen Erfahrungen, sodass die technische Bildwelt seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert von Geistern und Seelenemanationen begleitet ist. Somit sind Phantasmen in der positivistischen Suche nach der Wahrheit optischer Phänomene auszumachen und die Trennung zwischen Glauben und Wissen erweist sich als ebenso instabil wie die zwischen Wissen und Wahn.19 Eine Perspektive auf moderne Magie als Schwellenraum in der Bearbeitung von fragwürdig gewordenen Hierarchien von Seele/Geist, Körper/Materie, Krankheit/Gesundheit, Leben/ Tod, Individuum/Gemeinschaft, von Geschlechtercodierungen und künstlerischer Produktion 20 macht damit auch die Dualität von regressiv und modern hinfällig. 21

17 Cook, James. W.: The Arts of Deception: Playing with Fraud in the Age of Barnum, Cambridge (MA): Harvard University Press 2001, S. 169. 18 Gunning, Tom: »Der frühe Film und das Okkulte«, in: Veit Loers (Hg.), Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915, Ausstellungskatalog der Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main, Ostfildern-Ruit: Ed. Tertium 1995, S. 558-561, hier S. 559. 19 Hahn, Torsten/Person, Jutta/Pethes, Nicolas (Hg.): Grenzgänge zwischen Wissen und Wahn. Zur Koevolution von Experiment und Paranoia 1850-1930, Frankfurt a.M.: Campus 2002; Pazzini, Karl-Josef/Schuller, Marianne/Wimmer, Michael (Hg.): Wahn – Wissen – Institutionen. Undisziplinierbare Näherungen, Bielefeld/Hamburg: transcript 2005. 20 Linse, Ulrich: Geisterseher und Wunderwirker. Heilssuche im Industriezeitalter, Frankfurt a.M.: Fischer 1996. 21 Pytlik, Priska: Okkultismus und Moderne. Ein kulturhistorisches Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900, Paderborn: Schöning 2005. 38

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Widergänger und Phantome Um 1900 war ›Okkultismus‹ als Sammelbegriff für paranormale Phänomene im Gebrauch, im Verbund mit ›Magie‹, ›Spiritismus‹, ›Parapsychologie‹ und ›Theosophie‹, die sich in einer Grauzone zwischen Wissenschaft und Grenzwissenschaft, zwischen Kunst und Spektakel etabliert hatten und von Körperexperimenten unter Hypnose, wie Traum- und Schlaftanzen, bis zur Produktion von Ektoplasma in Trancezustand reichten. »Okkult ist ein Grenzbegriff«, schrieb der deutsche Theosoph Henri Birven 1928 in Das Wunder. Zeitschrift für Astrologie, Okkultismus, Magie, Spiritismus und verwandte Gebiete, »dazu bestimmt, eine Klasse von Tatsachen solange zu umfassen, dass sie auf dem von der Wissenschaft noch nicht erforschten Grenzgebiet liegen. ›Okkult‹ ist mithin ein relativer Begriff, und darin liegt gerade seine Brauchbarkeit. Absolut gefasst wäre er um nichts besser als der Wunderbegriff im theologischen Sinne und wie dieser eine Schranke für die Wissenschaft. In der Fassung als Grenzbegriff kommt dem Begriff des Okkulten eine hohe wirklichkeitsphilosophische Bedeutung zu. Erscheint er doch geeignet, in der Mitte zwischen dem unkritischen Wunderbegriff und einer zu weit getriebenen rationalistischen Wunderscheu das weite Feld der natürlichen Erscheinungsmöglichkeit offen zu halten.« 22

Mit Geistererscheinungen auf Fotos und mediumistischen Phänomenen war für die experimentalpsychologische Forschung ein unbekanntes Grenzgebiet des Wissens entstanden, in dem es jedoch nicht nur um Tricks und das Vergnügen der BetrachterInnen ging. Das nüchterne Ergebnis zahlreicher wissenschaftlicher Kontrollkommissionen zur Aufdeckung von Schwindel und Betrug offenbarte die Erkenntnis, dass die Geisterfotografen exzellente Täuscher waren, die in jeder Phase der technischen Bilderzeugung Möglichkeiten zum Hervorbringen von ›Extras‹ entdeckt hatten. So konnte der erste professionelle Geisterfotograf, der amerikanische Graveur William H. Mumler, durch Doppelbelichtung im Fotoatelier eines Freundes die Gespenster erscheinen lassen. 23 Eines seiner berühmtesten Bilder, das um 1869 aufgenommen wurde, zeigt Mary Todd Lincoln mit dem Geist ihres Mannes, Abraham Lincoln. 24 22 Birven, Henri: »Der Sinn des ›Okkulten‹ als Grenzbegriff«, in: Das Wunder. Zeitschrift für Astrologie, Okkultismus, Magie, Spiritismus und verwandte Gebiete 1 (1928), S. 28-32, hier S. 28. 23 Rabe, Beate: »Für eine Dämonologie der Fotografie«, in: Julia Schmitt u.a. (Hg.), Fotografie und Realität. Fallstudien zu einem ungeklärten Verhältnis, Opladen: Leske + Budrich 2000, S. 89-121, hier S. 101. 24 Cloutier, Crista: »Mumler’s Ghosts«, in: Clément Chéroux/Andreas Fischer (Hg.), The Perfect Medium. Photography and the Occult, New Haven/London: 39

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Die experimentellen Naturwissenschaften wiederum nahmen die Materialisierungen und Visualisierungen von Botschaften aus unfassbaren Räumen zum Anlass, über die Magie des Unbewussten oder des Doppelbewusstseins zu reflektieren. 25 Als Varianten des Bildzaubers entstanden ›Widergänger‹ und ›Phantome‹ als künstliche Präsenzen zwischen psychischem und fotografischem Apparat. Sie sind zeit- und ortlose Begleiterscheinungen der technischen Medien und erhalten Gestalt erst in der Übertragung, wenn sie optisch, halluzinatorisch, nicht aber körperlich den Raum erfüllen. In dem Weder-Noch, der Unentscheidbarkeit sind Geister für Medienwissenschaftler wie Hubertus von Amelunxen, autokommunizierende Systeme, Medienschaltungen. »Das Geisterwesen bestünde in einem unfassbaren Oszillieren zwischen Erscheinung und Verschwinden, An- und Abwesenheit, Sichtbar- und Unsichtbarsein, Nähe und Ferne, der Welt gegenüber immanent und transzendent, folglich kommunikabel und inkommunikabel«. 26

Die Phantome korrespondierten mit dem mediumistischen Durchdringen der Materie durch die X-Strahlen, der drahtlosen Telegraphie und der Grammophonplatte. In den magnetischen Experimenten des Schwebens und Aufhebens von Gewichten, in Telepathie und der Kommunikation mit Verstorbenen wurden dazu äußerliche Analogien gesehen. So konnten die Geister und Phantome von den Okkultisten als materielle Form immaterieller Ideen oder supranormale psychische Funktionen wahrgenommen werden. In kulturwissenschaftlichen Medientheorien wird darauf verwiesen, dass zwischen Technikeuphorie und Geisterglauben im 19. Jahrhundert ein Zusammenhang bestand. Denn die technischen Bilder waren von Anfang an von Gespenstern und Seelenemanationen begleitet. »Ein Medium ist ein Medium ist ein Medium. Das Wort sagt es schon: zwischen okkulten und technischen Medien besteht kein Unterschied. Ihre Wahrheit ist die Fatalität, ihr Feld das UnbeYale University Press 2004, S. 20-28; vgl. auch Krauss, Rolf H.: Jenseits von Licht und Schatten, Marburg: Jonas 1992; Faber, Monika/Gröning, Maren/ Keller, Corey (Hg.): Fotografie und das Unsichtbare 1840-1900, Ausstellung Albertina Wien: C. Brandstädter 2009. 25 Staudenmaier, Ludwig: Die Magie der experimentellen Naturwissenschaft, Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft m.b.H. 1922; Danzel, TheodorWilhelm: Magie und Geheimwissenschaften in ihrer Bedeutung für Kultur und Kulturgeschichte, Stuttgart: Strecker und Schröder 1924; Prel, Carl du: Die Magie als Naturwissenschaft, Erster Teil: Die magische Physik, Jena: Hermann Gostenoble 1899. 26 Amelunxen, Hubertus von: »Prolegomena zu einer Phänomenologie der Geister«, in: Sehnsucht. Über die Veränderung der visuellen Wahrnehmung, Göttingen: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland/Steidel Verlag 1995, S. 210-220, hier S. 214. 40

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wusste«, so der Kulturwissenschafter Friedrich Kittler. 27 Und auch der Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen sieht in der Erfindung der Telegraphie ein verdrängtes »Medien-Apriori« des Okkultismus: »Genau an dieser Stelle artikuliert sich (neben allen technikgeschichtlich reellen Wirkungen) zunächst der spiritistische Diskurs. Am Ort der Geburt der Telegrafie (durch Hydesville sollen die ersten Telegrafieleitungen gegangen sein) entsteht das historisch erste Medien-Apriori der Elektrizität und klappt sofort spiritistisch um, spaltet und entfaltet die Geschichte des Okkultismus in eine ›ältere‹ (geistesoffenbarende) und ›neuere‹ (geisterkommunizierende) Epoche. Es gibt keine Chronik des Okkultismus, die diesen Epochenwechsel nicht mit den ›Fox-Raps‹ datiert; wir datieren sie, korrekter, mit dem dahinter- und etwas früher implementierten MedienApriori der Telegrafie.« 28

In den psychotechnischen Szenarien der okkultistischen Versuchsreihen wurde der Begriff des Mediumismus für Erscheinungen geprägt, deren Auftreten von ungewöhnlich veranlagten Menschen abhängig ist, die gemeinhin Medien genannt wurden. Okkulte Medien waren in der Lage, in hochgespannten seelischen Zuständen, etwa in der Hypnose, im Affekt oder in der Ekstase, physikalische Manifestationen wie Teleplasma oder andere Materialisationen hervorzubringen sowie psychische Eigenschaften wie Hellsehen, Psychometrie oder Telepathie zu entwickeln. Sowohl die Serienfotos bühnenreifer Delirien von Hysterikerinnen in der Pariser Klinik Salpêtrière als auch die okkulten Versuche mit den Trancemedien des Geisterbarons Albert von Schrenck-Notzing,29 der mehr als dreißig Jahre mit okkulten Medien arbeitete, basierten auf der medialen Technik der Hypnose. Im Kontext der experimentellen Erkundung der Psyche kann die Hypnose somit als eine Psychotechnik bezeichnet werden, die Hysterie und Okkultismus miteinander verband und zueinander in Beziehung setzte. Mit der experimentellen Fundierung magnetischer Praktiken erfuhr die Hypnose als künstlich erzeugte Hysterie durch Charles Richet und JeanMartin Charcot in Paris sowie Ambroise Auguste Liébauld und Hippolyte Bernheim in Nancy wissenschaftliche Anerkennung. Hypnose und Fotografie erlaubten es Charcot, die Symptome des hysterischen Anfalls, die sich dem bloßen Auge als zufällige konvulsivische Bewegungen darboten, experimentell im Labor zu reproduzieren und einzelne Zustände scharf getrennt zu isolieren, bevor sie in den Bildserien wieder belebt wurden. So verlieh die Hyp-

27 Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900, München: Fink 1987, S. 235. 28 W. Hagen: Der Okkultismus, S. 346. 29 Wolffram, Heather: The Stepchildren of Science. Psychical Research and Parapsychologie in Germany, c.1870-1939, Amsterdam/New York: Edition Rodopi B.V. 2009, S. 131. 41

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nose dem hysterischen Körper die Eigenschaft eines »Schalt-Körpers«,30 bei dem Gestik und Physiognomie miteinander korrelierten. Dabei sollte sich der Gesichtsausdruck automatisch nach der Körperhaltung richten. Um diesen Vorgang einzuleiten, versetzte Charcot die Hysterikerinnen in einen kataleptischen Zustand und verwandelte sie in den so erzeugten Körperhaltungen in ›expressive Statuen‹. Zusätzlich wurden die Gesichtsmuskeln mit einem Rheophor, einem elektrischen Pinsel, gereizt, um »ein unbewegliches Modell zu erzeugen, das mit einer ergreifenden Wahrhaftigkeit die verschiedensten Ausdrücke darstellt« und dem in dieser Unbeweglichkeit ein »hervorragende[r] Nutzen für die photographische Reproduktion«31 attestiert wurde. Die einzelnen wissenschaftlichen Bilder geben jedoch nichts zu sehen, sie sind immer nur Teil einer sicht- und lesbaren Kette, deren Bedeutungen sich nur im Kontext der gesamten Serie erschließen.32 Die sexuell ekstatische, hysterische Frau wird in dieser Kette zum Signifikanten für die Apparatur – die reproduzierende Apparatur – und sie repräsentiert zugleich auch das Produkt, das die Registratur hervorbringt, das Bild. Die hysterischen Medien stehen zugleich in funktionalem Zusammenhang mit dem Medium als Bild- und textproduzierender Maschine. Da die technologischen Verfahren selbst Auslöser für Hysterisierung sind, ist die Hysterikerin als Darstellerin ihres eigenen Wahnsinns eine aktive Instanz, die den wissenschaftlichen und künstlerischen Prozess stimuliert. »Die Auflösung des anthropomorphen, mimetischen Abbilds des Körpers bedingt eine ›Hysterisierung‹ der Form, die demnach immer auf die Methodik und den Effekt der technologischen Bilderzeugung verweist«. 33 Es waren also Aufnahmetechniken und Filmtricks, die Unbewusstes wahrnehmbar und Hysterikerinnen zu ihrem Medium werden ließen. Als Hysterisierung der Form können auch die elektroplastischen Phänomene der okkulten Medien betrachtet werden, die als einmalige Ereignisse erst in der Bildgebung zu wissenschaftlicher Evidenz gelangen. Der Okkultismus ist um 1900 ein umkämpftes und in sich zersplittertes Feld, auf dem wissenschaftliche Autoritäten verschiedenster Disziplinen um Anerkennung und Professionalisierung ringen. Zu den Befürwortern der sogenannten Parapsychologie34 gehörten der englische Physiker und Chemiker 30 Didi-Hubermann, Georges: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, München: Fink 1997, S. 221. 31 Charcot zit. n. Didi-Hubermann: Erfindung der Hysterie, S. 327. 32 Vgl. Latour, Bruno: Iconoclash. Gibt es eine Welt jenseits des Bilderkrieges? Berlin: Merve 2002, S. 67. 33 Eiblmayr, Silvia: »Die verletzte Diva. Hysterie, Körper, Technik in der Kunst des 20. Jahrhunderts«, in: Dies. u.a. (Hg.), Hysterie, Körper, Technik in der Kunst des 20. Jahrhunderts, München: Oktagon 2000, S. 11-28, hier S. 17. 34 Der Münchner Psychologe Max Dessoir (1867-1947) hat die Begriffe ›Parapsychologie‹ und ›parapsychisch‹ 1886 für alle neben (griech. para = neben) den 42

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William Crookes und der deutsche Astrophysiker Friedrich Zöllner, die Ende des 19. Jahrhunderts über ihre Versuche mit den Medien Daniel Dunglas Home, Florence Cook und Slade aufsehenerregende Fallstudien veröffentlichten. 35 Auch der russische Reflexologe Wladimir Michailowitsch Bechterew, der amerikanische Psychologe William James, der deutsche Psychiater Baron Albert von Schrenck-Notzing oder der österreichische Biologe Hans Driesch überschritten die Grenzen ihres Faches und erkundeten das unbekannte Terrain der Materialisationen. Die Gegner, wie der Wundt-Schüler und nach Amerika emigrierte amerikanische Psychologe Hugo Münsterberg oder der Begründer der Berliner Gesellschaft für experimentelle Psychologie Max Dessoir, analysierten die Phänomene der okkulten Medien hingegen als Betrug. Jenseits dieser Differenzen ging es allerdings nicht um Wahrheit oder Täuschung. Vielmehr wurde die Wahrnehmung von Täuschungen selbst verhandelt. Mit den großen Magie-Shows im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstanden neue Illusionstechniken, mit denen sich auch der Status von Täuschung veränderte. Die in den okkulten Wissenschaften produzierten einmaligen Ereignisse bildeten eine »Kette des Wahrsprechens eines Singulären«,36 das naturwissenschaftliche Evidenz beanspruchte, obwohl es sich wissenschaftlichen Kriterien wie Verallgemeinbarkeit und Wiederholbarkeit widervertrauten, mit den gewohnten Kategorien des Weltverständnisses begreiflichen Erscheinungen vorgeschlagen. Der Begriff Parapsychologie als Oberbegriff für okkulte Phänomene wurde international angenommen und hat in der akademischen Psychologie die Bezeichnungen ›Psychical Research‹ und ›Metapsychologie‹ ersetzt, vgl. Bender, Hans (Hg.): Parapsychologie. Entwicklung. Ergebnisse. Probleme, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980. Von besonderer Bedeutung für die Geschichte der Magie und ihre internationale Vernetzung war die Gründung der Society for Psychical Research im Jahre 1882 in London, der bereits im Jahr 1900 1500 Mitglieder angehörten. Sie setzte sich zur Aufgabe, alle vom Normalen abweichenden und über dasselbe hinausgehenden Vorgänge physischer und psychischer Natur zu erforschen, die Ergebnisse wurden in fortlaufenden Bänden, den Proceedings of Society for Psychical Research publiziert. Der Okkultismus wurde seit 1900 selbst zum Gegenstand wissenschaftsgeschichtlicher Untersuchungen, etwa in den drei Bänden der von Max Dessoir herausgegebenen Reihe Der Okkultismus in Urkunden, Bd. 1: Von Gulat-Wellenburg, Walter/von Klinckowstroem, Carl/Rosenbusch, Hans: Der physikalische Mediumismus, Berlin: Ullstein 1925; Bd. 2: Baerwald, Richard: Die intellektuellen Phänomene, Berlin: Ullstein 1925; Bd. 3: Moll, Albert: Suggestion und Hypnose, Berlin: Ullstein 1925; vgl. auch Kiesewetter, Karl: Geschichte des neueren Occultismus. Geheimwissenschaftliche Systeme von Agrippa von Nettesheim bis zu Karl du Prel, Leipzig: Altmann 1909. 35 Vgl. Schrenck-Notzing, Albert Freiherr von (Hg.): Die physikalischen Phänomene der grossen Medien. Eine Abwehr, Stuttgart/Berlin/Leipzig: Union Deutsche Verlagsgesellschaft 1926; Dessoir, Max: Vom Jenseits der Seele. Die Geheimwissenschaften in kritischer Betrachtung, Stuttgart: Enke 1931. 36 N. Adamowsy: Mr. Home, S. 113. 43

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setzte. Die Abwehrrhetoriken gegenüber dem Unverständlichen als Täuschung und Betrug zogen somit immer wieder klare Grenzen, die der Markierung eigener Territorien dienten. »Macht diese Einsicht etwa das Rätselhafte verständlich? Im Gegenteil, sie macht vielmehr das Alltägliche rätselhaft. Die ganze Welt des Psychischen ist, vom Standpunkt unserer gewohnten Begriffe betrachtet, unverständlich«.37 So wie der Philosoph und Schriftsteller Hermann Graf Keyserling hier betont, unterschied die Wissenschaft strikt zwischen dem Verständlichen und dem Unverständlichen, um die tatsächlichen Übergangszonen zwischen der als real erkannten Sphäre und dem Okkultismus nicht betreten zu müssen. »Deshalb muss anerkannt werden, dass die Forscher aus dem Kreis der Okkultisten der hintersinnlichen Wirklichkeit gegenüber insofern richtiger eingestellt sind als die aus dem Reich der Zunft, als sie wenigstens von der richtigen Voraussetzung ausgehen, dass jene besondere Begriffsmittel erfordert zu ihrer Bewältigung«.38

Es waren aber gerade die okkulten Medien, die in Hypnosetrance physikalisch unerklärliche Materialisationen hervorbrachten und damit ihren Körper selbst in einen Untersuchungsgegenstand verwandelten. Als Mittler im Experiment wurde auch ihr Körper einer Hysterisierung unterzogen, die jedoch notwendig war, um mit den modernen Naturwissenschaften bisher unbekannte Naturgesetze erfassen zu können. Der Berliner Ingenieur Fritz Grunewald, der in seinem Labor jahrzehntelang mediumistische Versuche durchführte und eine Phantomwaage konstruierte, um Gewichtsveränderungen von Medien während ihrer Produktion zu messen, betonte in einer Schrift zum Mediumismus das hysterische Moment. »Das Wesen der besonderen Veranlagung der Medien, der sogenannten Medialität, lässt sich, soweit man das mit wenigen Worten sagen kann, in einer gewissen Labilität der psychischen und physiologischen Konstitution dieser Menschen erblicken, […]. In seelischer Beziehung neigen die meisten von ihnen in mehr oder weniger ausgeprägter Weise zu Bewusstseinsspaltungen, und eine ganze Anzahl besitzt Erkenntnisfähigkeiten, die über die Leistungen der normalen Sinne hinausreichen.« 39

Wenn Christina von Braun darauf verweist, dass »der Moment, in dem Freud entdeckt, dass Hysteriker Sprache und Phantasmen mit ihrem Körper ausdrücken«, genau der Moment ist, »an dem sie selbst den Körper in Sprache oder

37 Keyserling, Hermann Graf/Happich, Carl/Hardenberg, Kuno Graf: Das Okkulte, Darmstadt: Reichl 1923, S. 24. 38 Ebenda, S. 26. 39 Grunewald, Fritz: Mediumismus. Die physikalischen Erscheinungen des Okkultismus, Berlin: Ullstein 1925, S. 10. 44

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ein Phantasma verwandeln«,40 so adressiert die in den Fotos fixierte Spur der Unmittelbarkeit den Körper selbst als Medium. Das Medium ist zur unheimlichen Verkörperung des experimentellen Vorgangs geworden. Die unberechenbaren mediumistischen Erscheinungen der okkulten Trancemedien sind ein interaktives Miteinander des meist weiblichen Mediums, des stets männlichen Versuchsleiters und des Publikums, das Natascha Adamowsky treffend als eine »Kollektiv-Performance« 41 beschrieben hat. In der Interaktion der suggestiblen Medien, der ZuschauerInnen, die berühren und Fragen stellen dürfen, und der Suggestion befähigter Experimentatoren dient der fotografische Akt nicht nur der Kontrolle der Phänomene, sondern gewährleistet vor allem deren Verfügbarkeit. Die Fotos zeigen jedoch letztendlich nur, dass Forscher aus unterschiedlichen Kontinenten mit verschiedenen Medien zu ähnlichen Resultaten gelangt sind. In den psychophysischen Experimenten wirken eine fachspezifische ärztliche Blickkultur42 mit einem an der populären Magie der Unterhaltungsindustrie geschulten Sehen des Publikums zusammen, das mit den neuen technischen Möglichkeiten zur Erzeugung von Illusionen vertraut war. Aus der Faszination an der Bewegungsillusion und dem Zusammenspiel von technischen und physiologischen Funktionen, Disziplinen und Apparaten ist die Kinematographie als Trancetechnik hervorgegangen. Mit der neuen medientechnischen Täuschung, die als psychophysische Technik die tatsächliche Diskontinuität der einzelnen Bilder zu einer fließenden Bewegung zusammenführt, werden die Wahrnehmung und die Wirklichkeit zugleich bearbeitet. »Kino gehört zu den Trancetechniken unserer Kultur, weil es die normativen und imaginären Zeiträume, in denen wir in der bewussten Tagesproduktion in allen Disziplinen des Körperwissens unterworfen bleiben, systematisch bearbeitet und verschiebt«. 43

Das Kino und der Doppelgänger In dem Jahr, als die Röntgenstrahlen entdeckt wurden, brachten die Brüdern Lumière mit dem cinématograph die ersten ›lebenden Bilder‹ zur Aufführung. Mit ›lebenden Bildern‹ wurde in der Frühzeit des Kinos die Aufführungspra-

40 C. v. Braun: Nicht ich, S. 456. 41 N. Adamowsky: Mr. Home, S. 113. 42 Regener, Susanne: Visuelle Gewalt. Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts, Bielefeld: transcript 2010, S. 20. 43 Holl, Ute: Kino, Trance & Kybernetik, Berlin: Brinkmann & Bose 2002, S. 23. 45

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xis bezeichnet, mittels derer stehende Bilder durch einen Transportmechanismus in Bewegung versetzt und so zum Leben erweckt wurden. Wie bei einer Trance fasziniert im Film die Bewegungsillusion, die als Effekt der Technik auf der Leinwand erscheint. Nerven- und Kinotechnik wirken zusammen und setzen eine Lenkung der Aufmerksamkeit und Rezeption in Gang, die sich unterhalb der Schwelle bewusster Wahrnehmung vollzieht. Die Grundfunktionen der Kinotechnik – Kameraeinstellungen, Schnitt, Überblendungen, Zeitraffer und Projektion – sind zwar psychophysische Techniken bewusster Bearbeitung von Wahrnehmung und Wirklichkeit, sie entziehen sich jedoch einer bewussten Wahrnehmung. Wie in all seinen Filmen setzte Georges Méliès z.B. in LES RAYONS DE RÖNTGEN (FR 1898) auf den Unterhaltungseffekt der neuen Technik; ein Mann lässt sich vom Arzt röntgen, sein Skelett löst sich vom Körper und wird zum Doppelgänger, am Schluss ist der Wissenschaftler Opfer seiner explodierenden Gerätschaften. Bevor Méliès die special effects, die Tricks und Täuschungen im Film auf meisterhafte Weise einsetzte, hatte er am Théâtre Houdin in Paris Programme wie Les Phénomènes du Spiritisme oder Les Merveilleuses de l’Occultisme aufgeführt, für die er spezielle Vorrichtungen für Geisterauftritte konstruierte. 44 In Méliès’ »Kino der Attraktionen«45 wird – der Versuchsanordnung der okkulten Séance vergleichbar – ein direkter Bezug zu den ZuschauerInnen hergestellt. Die SchauspielerInnen, die sich über die Kamera an das Publikum wenden, und der in die Vorführung eingreifende Schausteller konfrontieren die ZuschauerInnen mit dem eigenen Sehen, in einem Spektakel der Technologie mit Tricks und Spezialeffekten. Im Unterschied zum voyeuristischen Aspekt des narrativen Kinos verfährt das Kino der Attraktionen (bis 1906/07) exhibitionistisch, indem es seine Sichtbarkeit zur Schau stellt. 46 Mit seinem Zauberkino gelang es Georges Méliès, Illusion und Fabrikation gleichsam vorzuführen und damit an die Imaginationskraft der ZuschauerInnen zu appellieren. Eingebettet in ein komplexes Gefüge von Ereignissen und Phänomenen technisch produzierter Magie, ähnlich der Ma-

44 Vgl. Fischer, Andreas: »Ein Nachtgebiet der Fotografie«, in: V. Loers (Hg.), Okkultismus und Avantgarde, S. 503-544, S. 509. 45 Gunning, Tom: »Das Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde« [1990], in: Meteor. Early Cinema 4 (1996), S. 25-34. Gunning bewirkte mit seinem Begriff ›Kino der Attraktionen‹ eine Umwertung historischer Szenarien, indem er eine bisher vernachlässigte Facette der frühen Spielfilmproduktion herausarbeitete: die Inszenierung des Spektakels, dem der Plot untergeordnet wird. Er stellte eine Verbindung zwischen dem volkstümlichen Jahrmarktskino und der Avantgarde her. Für die Fortsetzung der filmgeschichtlichen Debatte um den frühen Film siehe Strauven, Wanda (Hg.): The Cinema of Attraction Reloaded, Amsterdam: Amsterdam University Press 2006. 46 T. Gunning: »Das Kino der Attraktionen«, S. 27. 46

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gie der Zaubershows des 19. Jahrhunderts, erzeugt das Kino Formen reflexiver Illusion, die Einsichten und Vergnügen gleichermaßen vermitteln. Auch in den Experimenten mit okkulten Medien wird das Publikum in die Rationalität der Phänomene eingeführt, was Skeptizismus erforderte und permanente Überprüfbarkeit. ZuschauerInnen in den Erkenntnisprozess einzubinden, bedeutet ein konsequentes Wahrnehmungstraining für die Unterschiede zwischen dem Realen und dem Imaginären, das sich gegen die Favorisierung von Wahrheit und Authentizität im massenkulturellen Kontext richtet. Jede Entlarvung eines Mediums führte beispielsweise dazu, dass die verwendeten fototechnischen Verfahren und die Informationen aus dem Jenseits für weitere Aufführungen ungeeignet wurden, was strengere Überprüfungsmaßnahmen, technische Verbesserungen der Kameras, neue Kombinationen von Linsen und Glasplatten und immer neue Täuschungsmöglichkeiten zur Folge hatte. Doch die Verfahren, auch wenn von Kontrollkommissionen als betrügerisch entlarvt, konnten nun vom Publikum erkannt und selbst angewandt werden. Erfahrungen mit dem neuen Sehen werden auch im Kontext anthropologischer und ethnologischer Diskurse um 1900 verortet, in denen sogenanntes ›primitives‹ Denken und Erleben nicht nur als kulturell Fremdes an die Ränder der Welt zurückgedrängt wird, sondern im zeitgenössischen Verständnis die Frühgeschichte der eigenen Kultur repräsentieren. Mit den neuen Kommunikationstechnologien konnte die moderne Erfahrung gleichzeitiger Verfügbarkeit verschiedener Kulturen zur Alltagserfahrung gemacht werden.47 In den okzidentalistischen Definitionen unterschiedlichster Mechanismen von Betrug und Täuschung nahm die Magie einen promineten Platz ein: »Magic seems to be the largest common denominator in this field, although this by no means implies that a definition of the world can substitute for all the relevant distinctions within this field designated by its affiliated concepts – between individual optimistic action, collective explanations of misfortune, the workings of the subconscious, the interplay of suggestion and deception, and so forth. It is perhaps even more important to recognize that the conceptual slippage from magic to other notions (the occult or even the irrational) is itself constitutive of modern discourses on magic, whether they involve the demarcations of philosophy, the fantasies of popular culture, or the playfulness of modernist lierature.«48

Die unterschiedlichen Konzepte von Magie, die in anthropologischen Theorien mit den Begriffen des Okkulten, der Hexerei, des Fetischismus oder 47 Vgl. Baxmann, Inge: Mythos Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne, München: Fink 2000, S. 61. 48 Pels, Peter: »Introduction. Magic and Modernity«, in: B. Meyer/P. Pels (Hg.), Magic and Modernity, S. 1-38, hier S. 16. 47

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Schamanismus gefüllt wurden, sind historisch in der abendländischen Tradition des Christentums und okzidentalistischer Wissenschaften verankert. Es ist jedoch interessant darauf zu achten, welche Praktiken und Machtkonstellationen jeweils mit dem Begriff der Magie beschrieben werden. Freud stützt sich in seiner Studie Totem und Tabu (1913) auf magiegeschichtliche Untersuchungen ›primitiver‹ Kulturen,49 vor allem auf die »Allgemeine Theorie der Magie« von Henri Hubert und Marcel Mauss, die Magie 1902 als soziales Phänomen und als funktionales Element von Technik beschrieben haben.50 »Ist eine Technik zugleich magisch und technisch, so ist es der magische Teil, der sich dieser Definition entzieht.« 51 Die simulierten Techniken das Magiers gehören nach Mauss derselben Ordnung an wie das Verhalten, das man bei neurotischen Zuständen beobachtet und bei Menschen, die sich im Besitz besonderer Kräfte glauben. »Vergessen wir nicht, daß all diese Individuen, Krüppel und Ekstatiker, Nervöse und Vagabunden in Wirklichkeit Arten sozialer Klassen bilden. Was ihnen magische Kräfte verleiht, ist nicht so sehr ihr individueller psychischer Charakter als vielmehr die von der Gesellschaft ihrer ganzen Art gegenüber eingenommene Haltung.« 52 Magie ist für Mauss anders als für James George Frazer (erste Stufe der geistigen Evolution) und Edward B. Tylor (survival untergegangener Kulturen) überall identisch und ragt tief in die europäische Kultur hinein, als eine Technik, die mit der Wissenschaft zusammenhängt und die Realität durch Bilder ersetzt. Magische Techniken sind Handlungen und in eminentem Maße wirksam, sie tun etwas, wobei Handlungen und Handelnde in ein Geheimnis eingehüllt sind. Im Unterschied zu religiösen Handlungen, die als Teil eines organisierten Systems vorgeschrieben und offiziell betrachtet werden müssen, werden magische Riten als irregulär, anormal und kaum achtungsgebietend angesehen. »Wie das Geheimnis ist die Isolation ein nahezu eindeutiges Zeichen der intimen Natur des magischen Ritus«.53 Der hier beschriebene intime Charak-

49 Frazer, Sir James George: The Golden Bough. A Studie in Magic and Religion, New York: Macmillian 1922 [1911]; Taylor, Edward Burnett: Primitive Culture. Researches into the Developement of Mythology, Philosophy, Religion, Art, and Custom, New York: Brentanos 1924 [1873]; Lévy-Bruhl, Lucien: L’âme primitive, Paris: Félix Alcan 1927. 50 »So wie die Religion zum Abstrakten, tendiert die Magie zum Konkreten, und sie arbeitet in der Richtung unserer Techniken, unserer Gewerbe, der Medizin, Chemie, Mechanik etc.«, Mauss, Marcel: Soziologie und Anthropologie I. Theorie der Magie, München: Hansa 1974 [1902/03], S. 173. 51 M. Mauss: Soziologie, S. 54 52 Ebd., S. 61. Der Anthropologe Michael Taussig analysiert abstrakte soziale Formationen als magische Begriffe der Anziehung und Abstoßung, vgl. Taussig, Michael: The Magic of the State, New York: Routledge 1997. 53 M. Mauss: Soziologie, S. 57. 48

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ter des magischen Rituals definiert auch das Verhältnis der ZuschauerInnen zueinander, die im Kinosaal paradoxerweise isoliert und zugleich Teil einer anonymen Masse sind. Die psychosozialen Auswirkungen und vor allem die Abwehr der unsichtbaren magischen Techniken im Kino werden in zahlreichen medizinischen Abhandlungen beschrieben. Vor allem geht es um die Suggestivkraft der kinematographischen Vorführungen und die unheimliche Macht der Hypnose im Film. So behauptet der Jurist Albert Hellwig, dass Kinobilder bleibende Eindrücke hinterließen und zerstörerische Gedanken auslösten, die in manchen Fällen sogar zu Wahnsinn und Verbrechen führen könnten. 54 In den medizinischen und psychologischen Diskussionen zum ›Schundfilm‹ und zu den gefahrvollen Wirkungen des Kinematographen werden die Mühelosigkeit des Genusses und die unmittelbaren Einwirkungen der Bildform auf das Auge zur Erklärung des Siegeszugs des Kinos zum beliebtesten Unterhaltungsmittel herangezogen. Die Darstellung elementarer seelischer Vorgänge und Leidenschaften – so der Psychiater Robert Gaupp – nähere sich dem Geschmack des ungebildeten, primitiven Menschen, der starke Kontraste und heftige Gemütsbewegungen liebe, das Sentimentale, das Grauenvolle und das Schwül-Sinnliche bevorzuge, ohne die geistige Mitarbeit zu aktivieren. 55 Schon der schwüle, dunkle Raum, in dem die Masse vor der apparativen Reproduktion auf der Leinwand über weite Strecken in Hypnose verfalle und exzessiven Reizungen, auch sexuellen, unterliege, löse ungute Gefühle und den Verlust an Gemeinschaft aus. 56 Während demgegenüber Sergej Eisenstein mit der Montage auf das sinnlich-phantastische Vorstellungsvermögen der RezipientInnen, auf Attraktionen und das Einwirken auf Sinne und Psyche setzte, die er bewusst in die Nähe von Zirkus und Varieté stellte, bezog sich der medizinische Diskurs zum Film auf eine Affinität zwischen Kinematographie und Hypnose in einer gefahrvollen Abwehr. Die Interventionen der Beobachter visueller Lust, die sich unter dem Dach der Kinoreformbewegung zusammenfanden, 57 richteten ihre psychologische, 54 A. Hellwig: »Hypnotismus und Kinematographie«, S. 313; vgl. auch Hellwig, Albert: »Über die schädliche Suggestivkraft kinematographischer Vorführungen«, in: Ärztliche Sachverständigen-Zeitung 6 (1914), S. 119-124. 55 Gaupp, Robert: »Der Kinematograph vom medizinischen und psychologischen Standpunkt«, in: Ders./Konrad Lange (Hg.), Der Kinematograph als Volksunterhaltungsmittel, München: Dürerbund 1912, S. 1-12, hier S. 3f. 56 Ebd. 57 Kümmel, Albert: »Ein Zug fährt ein – Anmerkungen zur Kinodebatte«, in: Albert Kümmel/Leander Scholz/Eckhard Schuhmacher (Hg.), Einführung in die Geschichte der Medien, München: Fink 2004, S. 151-173. Vgl. die Dokumentation und Kommentierung der Debatte in Schweinitz, Jörg (Hg.): Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, Leipzig: Reclam 1992. 49

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juristische und pädagogische Abwehr gegen die moderne Magie des Kinos. Zugleich wurde in der Kinodebatte auch deutlich, dass der Kinematograph als ein okkultistisches Medium der Präsenz wahrgenommen wurde, das Abwesendes auf unheimliche Weise zur Erscheinung bringen konnte. Die Figur des Doppelgängers spielte in den filmtheoretischen Debatten eine zentrale Rolle als Reflexionsmedium. Freud kommt in seiner Theorie des Doppelgängers in dem Aufsatz Das Unheimliche (1919)58 auf die Weltauffassung des Animismus und die Technik der Magie zu sprechen. Wenn auch unterschwellig, so beschwört der Ausdruck ›Technik der Magie‹ gleichzeitig das moderne Medium Kino als eine magische Praxis. Die Referenz auf den ›Animismus der Primitiven‹ verweist auf eben jene vermeintlich primitiven Vorstellungen, die auch den juristische Diskurs um das Recht am eigenen Bilde innewohnen, in dem die bewegten Bilder des frühen Kinos als gespenstische Doppelgänger beschrieben werden. 59 Die Figur des gespenstischen Doppelgängers wird vom Film als eine selbstreferenzielle Darstellung der Kinematographie verwendet, wie es Willi Haas 1922 formuliert: »Das Doppelgängerproblem – wir wissen es von Wegeners ›Student von Prag‹ her – ist überhaupt das eigentlich dämonische, eigentlich geistige Filmproblem: das Filmproblem aller Filmprobleme«. 60 In dem Film DER ANDERE (D 1912/13) von Max Mack 61 verselbständigt sich der Doppelgänger eines Staatsanwalts als Ganove, der einen Einbruch in seiner eigenen Villa verübt und im somnambulen Zustand einem Automaten gleich agiert. Noch vor seiner Spaltung wird ein Text von Hyppolyte Taine eingeblendet, mit dem das Phänomen des Doppelbewusstseins als medizinisches eingeführt wird, welches darin bestehe, dass sich Menschen nach einem Sturz oder im Zustand der Überanstrengung in ein gesundes und ein krankes Wesen spalten könnten und Dinge zu tun imstande seien, die sie bei ›normaler‹ Verfassung vermeiden würden. So führt der Staatsanwalt im somnambulen Zustand ein dämonisches Eigenleben, in dem er sich als Anderer gegenübertritt. Die zeitgenössischen juristischen und ethnologischen Diskussionen zu kinematographischen Bildern als dämonischen Doppelgängern finden sich in 58 Freud, Sigmund: »Das Unheimliche«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 12, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 227-268. 59 Andriopoulos, Stefan: »Dämonische Doppelgänger. Frühes Kino und das Recht am eigenen Bild«, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 4 (2006), S. 509-528, hier S. 519; vgl. auch Bär, Gerald: Das Motiv des Doppelgängers als Spaltungsphantasie in der Literatur und im deutschen Stummfilm, Amsterdam/New York: Rodopi 2005. 60 Zit. n. S. Andriopoulos, »Dämonische Doppelgänger«, S. 518. 61 Der Film hatte am 21. Januar 1913 in den Berliner Lichtspielen Premiere und basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Paul Lindau, der auch das Drehbuch für den Film schrieb. 50

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der Inszenierung des Doppelgängers als Anderem wieder, der nicht zuletzt durch ein Bild – das Foto einer Frau – und in der Einsamkeit jenseits der Großstadt wieder genesen kann. Das banale Happyend als wiedererlangte Kontrolle über den Doppelgänger täuscht nicht darüber hinweg, dass hier die unkontrollierte Reproduzierbarkeit bewegter Bilder des Kinematographen in Szene gesetzt wird. Die magische Wirkung des kinematographischen Apparats tritt den ZuschauerInnen personifiziert gegenüber, indem die Figur des Anwalts den hypnotischen, im Doppelgänger mündenden Akt performativ herstellt. Ebenso wie der dämonische Doppelgänger die unheimliche Fähigkeit des kinematographischen Apparats, lebende Filmbilder zu simulieren, verkörpert, kommentiert er zugleich die Abwehr der Angst vor ihrer Eigenmächtigkeit, was dessen Faszination für die ZuschauerInnen noch erhöht. In einer zeitgenössischen Filmkritik, die besonders die schauspielerische Leistung Albert Bassermanns hervorhob, wird mehr nebenbei auf das ›Gespenstische‹ der Fotografie verwiesen: »Im Zuschauerraum saß übrigens auch Asta Nielsen. Man erschrickt, wenn man sieht, dass sie nicht bloss eine Schöpfung der Photographie ist«. 62 Kino als magische Praxis erfährt mit der Einbindung psychoanalytischer Szenarien in den Stummfilm eine gesteigerte Wirkung auf die ZuschauerInnen. In dem Film GEHEIMNISSE EINER SEELE (D 1926, R: G.W. Pabst) versucht ein Chemiker im Traum seine Frau zu erdolchen. Nach dem Erwachen kann er keine Messer und Klingen mehr berühren, bis er eines Tages so sehr dem Wahn verfällt, dass er seine Frau tatsächlich ermorden will. Im letzten Moment hält seine Hand inne und er flieht aus dem Haus. Durch eine Psychoanalyse kann er von seinem Wahn befreit werden. Der Traum ist so bizarr in Szene gesetzt, dass die psychischen Verdrängungen bildförmig werden. Als ein Sehen mit den Augen des Traums richtet sich der Film hier direkt an das Unbewusste und macht dessen Bildwelten darstellbar. Mit dem frühen Film haben sich die Spiegelbilder von den Menschen gelöst, sie sind reproduzierbar geworden und werden einem Publikum vorgeführt, dessen Wahrnehmung durch die zunehmende Internalisierung von Fiktionen der modernen Massenkultur, wie Illusionen, Wahn oder Täuschung, geprägt ist. Das Wissen, das durch die unmöglichen Visualisierungen der Okkultisten produziert wurde, 63 und die Kinematographie haben an dieser Zu62 Faktor, Emil: Die stumme Premiere. Mit Lindau und Bassermann im Kintop, in: J. Schweinitz (Hg.), Prolog vor dem Film, S. 347-350, hier S. 350. 63 Vgl. Dessoir, Max: Das Doppel-Ich, Leipzig: Günthers 1896. Dessoir schlägt hier für die experimentelle Untersuchung der Psyche unter veränderten Bewusstseinsverhältnissen den Begriff »experimentelle Pathopsychologie« vor und setzt sich kritisch mit den okkulten Phänomenen auseinander: »Ausser an sich selbst kann der Psychologe für Fragen der hier zu behandelnden Disziplin an Hypnoti51

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nahme von künstlicher Täuschung mitgewirkt, die als säkulare Magie Teil einer selbstreflexiven, fiktionalen Welt geworden ist, eine Verzauberung mit ironischem und skeptischem Ausblick.

Schluss Es zeigt sich also, dass Kino und okkulte Experimente gegensätzliche und dennoch verwobene Aspekte moderner Magie in der Massengesellschaft zur Anschauung bringen.64 Auf der Suche nach neuen Wahrnehmungsdimensionen ermöglichen sie die Aufzeichnung flüchtiger, bewegter Ereignisse und die Darstellung unsichtbarer, geheimnisvoller Vorgänge, verbunden mit lustbetonter Unterhaltung und emotionaler Befriedigung für die BetrachterInnen. Der Reiz an magisch geltenden Kulturtechniken zielt vor allem darauf, dass eine Welt mit scheinbar festgelegten, unüberwindbaren Grenzen zwischen Geist und Körper, Materiellem und Immateriellem, Wissen und Nichtwissen sowie zwischen den Geschlechtern zugunsten visueller Imaginationsräume verlassen wird, in denen konventionelle Gegensätze in Bewegung geraten und lustvolle Spannungen gerade durch technisch erzeugte Illusionen entstehen. Diese Übertragungen und Spiegelungen medialer Techniken und okkulter Phänomene bringen Unsichtbares, Wahnhaftes hervor und ermöglichen Seh-Erfahrungen in einer imaginär gewordenen massenkulturellen Realität, in der Illusion auch als Illusion wahrgenommen werden kann. Dank Kinematograph und okkulter Wissensproduktion hat sich um 1900 ein Publikum mit der Fähigkeit gebildet, simultan der Ver- und Entzauberung zu verfallen und mit dieser Verführung reflexiv umzugehen, weil bisher unbekannte Bildwelten, wie Traum und unbewusste psychische Zustände, zur kollektiven sinnlichen Erfahrung geworden sind. So schreibt Hugo Münsterberg 1916 in seiner psychologischen Studie Photoplay: »Es sieht magisch aus […]. Jeder Traum wird wirklich, unheimliche Geister erscheinen aus dem Nichts und verschwinden im Nichts«. 65 In den 70 Jahren, in denen die Geister als fotografisches Sujet dienten, verwandelten sie sich allmählich in Reflexionsfiguren der Medialität selbst. Mit der Psychotechnik der Hypnose wurde über die Hysterisierung nicht nur das Medium zur unheimlichen Verkörpesierten experimentieren. An ihnen beobachtet er par excellence den seelischen Automatismus, die Herabsetzung oder Erhöhung einzelner Fähigkeiten, die Ausschaltung von Vorstellungen, die Merkmale des Traumbewusstseins, die Entstehung einer gesonderten Gedächtniskette und einer zweiten Persönlichkeit.« Ebd., S. 5. 64 Einen ausgezeichneten Überblick über neuere historische Forschungen zum Thema Moderne und Verzauberung gibt M. Saler: »Modernity and Enchantment«. 65 H. Münsterberg, Das Lichtspiel, S. 61. 52

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rung des experimentellen Vorgangs. Im Zusammenwirken von technischen und okkulten Medien wird auf Effekte technologischer Bilderzeugung verwiesen. Mit zunehmenden Forderungen nach Überprüfung der Phänomene in den okkulten Séancen erhöhte sich die wissenschaftliche Autorität der SitzungsteilnehmerInnen. Gleichzeitig zeichnete sich aber auch eine grundlegende Verschiebung in der Betrachtungsweise der Experimente an, bei der die ›Echtheit‹ der Phänomene letztlich nebensächlich wurde.66 Stattdessen rückten die Sexualität des Mediums, die Beobachtungsfähigkeit des Publikums sowie die vermeintliche Psychopathologie des Forschers in den Fokus der Debatten. Im frühen Kino gibt es ebenfalls den direkten Publikumsbezug, der die ZuschauerInnen mit dem eigenen Sehen konfrontiert und die Sichtbarkeit des Kinos zur Schau stellt. So führt die kulturelle Archäologie von Okkultismus und frühem Film nicht nur zu gemeinsamen Schauplätzen wie Phantasmagorien-Shows, Jahrmärkten und Hypnosekabinetten. Es ist die hypnotische Kraft des Kinos, die sich in dem technischen Vorgang zeigt, Bilder zu beleben und sie mit Illusionen von Bewegung auszustatten. Mit dieser magischen Kraft hatte sich der Film neue Wahrnehmungsdimensionen erschlossen, die es ermöglichten, okkulte Seiten der Realität sichtbar zu machen und das Publikum in die Lage zu versetzen, den Verzauberungen mit Einsichten und Vergnügen gleichzeitig zu begegnen.

66 Vgl. Haas, Wilhelm: Die Probleme des Mediumismus, Stuttgart: Julius Püttmann Verlagsbuchhandlung 1923, S. 16; Bruhn, Christian: Gelehrte in Hypnose. Zur Psychologie der Überzeugung und des Traumdenkens, Hamburg: Parus 1926, S. 15. 53

Die Bohemienne und ihr ›Imaginary Negro‹ GABRIELE DIETZE

»ICH (n)ich(t)« Der Aufsatztitel Die Bohemienne und ihr ›Imaginary Negro‹ enthält zwei Voraussetzungen: Zum einen geht er davon aus, dass es sinnvoll ist, innerhalb der städtischen Boheme-Kulturen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts eine spezifische weibliche Figuration, die Bohemienne, zu beschreiben, die jenseits des Rollenrepertoires von Muse und Geliebter eine Äußerungsform findet. Zum anderen verweist die Bezeichnung ›Imaginary Negro‹ auf vorgestellte, ausgedachte Figurationen von Schwarzen 1 Männern – wobei diese auch Phantasmen bezüglich ›realer‹ Gegenüber umfassen können. Es handelt sich also um die Erkundung spezieller Konstruktionsmechanismen, die in diesem Zeitabschnitt von bestimmten Akteurinnen vorgenommen werden. Ich werde im Folgenden vier von mir als Bohemiennes bezeichnete Künstlerinnen aus jenen antibürgerlichen Szenerien in Berlin und Paris herausgreifen – Else Lasker-Schüler, Claire Goll, Nancy Cunard und Hilda Doolittle – und an fiktiven und autobiographischen Äußerungsformen die Fragestellung entfalten. Wann immer ich die Bezeichnungen ›Negro‹ oder ›Neger‹ verwende, referiere ich auf den zeitgenössischen Sprachgebrauch der Autorinnen, denen, wie übrigens auch den zeitgenössischen afroamerikanischen männlichen Intellektuellen (W.E.B. DuBois, Paul Robeson), keine freundlichere Bezeichnung für Schwarze Menschen zur Verfügung stand – unfreundlichere wohl. Vorausgeschickt werden muss weiterhin, dass zwischen 1912 bis 1930 – in diesem Zeitraum entstanden die betrachteten künstlerischen Arbeiten – Schwarzen Menschen unter kolonialen (Afrika, diskutierbare Ausnahme Äthiopien) oder postkolonialen (Südamerika) Verhältnissen oder in segregier1

Für die Farben ›Schwarz‹ und ›Weiß‹ wird durchgängig Großschreibung verwandt, um auf die kulturellen Konnotationen aufmerksam zu machen, die der einfachen Farbbezeichnung anhaften. 55

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ten Post-Sklaverei-Gesellschaften (USA) lebten, also nur unter bestimmten Diasporabedingungen, z.B. in Paris, ›frei‹ waren. Und als letzte Vorbemerkung ist zu sagen, dass es sich bei dem gewählten Zugang zum Gegenstandsbereich um einen Seitenweg der etablierten Forschung zu Boheme-Milieus und Blackness handelt, die unter kritischen Termini wie ›Primitivism‹, ›Schwarzer Orientalismus‹, ›Negrophilia‹ bedeutende Studien hervorgebracht hat. 2 Es ist hier nicht mein Anliegen, ein weiteres Mal die zeittypischen Rassismen der Boheme herauszuarbeiten – diese setze ich voraus und erwähne sie, wenn nötig –, sondern ich möchte der Seltsamkeit einer Kommunikation Raum geben, die mit Niklas Luhmann als ›unwahrscheinlich‹ bezeichnet werden kann: 3 einer Kommunikation der Bohemienne mit ›Imaginary Negroes‹. Diese Kommunikation ist auch eine der Bohemienne mit der androzentrischen Gesellschaft und zudem eine mit sich selbst. Solcherart Kommunikation ist auch immer eine verfehlte oder ver-rückte, denn ausnahmslos alle hier beschriebenen Bohemiennes wurden von den Zeitgenossen und Zeitgenossinnen als wahnsinnig oder als hysterisch betrachtet. Stellvertretend hier ein literarisches Urteil zu Else Lasker-Schülers im Folgenden diskutierten Text Mein Herz: »Wer eine Irrenzelle neben der Giftecke in seiner Bücherei hat, mag dieses Buch hineinstellen. […] Mein Herz ist ein Wahnsinnsprodukt. Hier ist alles verrückt, nirgends ein Zentrum mit Schwergewicht. […] Selbst als phantastische Dichtung […] ist das Unzulängliche und Unerträgliche nur pathologisch zu rechtfertigen. Narren dürfen so schreiben. Hysterische vom Mann und Arzt aufgegebene dürfen sich in dieser Art Literatur ausleben«. 4

Motto der folgenden Erkundung soll die geistvolle Verdichtung von Christina von Braun zur weiblichen Hysterie sein:

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Zum Primitivismus vgl. Torgovnik, Marianna: Gone Primitive. Savage Intellects and Modern Lives, Chicago: Chicago University Press 1990; zu ›Schwarzem Orientalismus‹ vgl. Kirschnick, Sylke (2007): Tausend und ein Zeichen. Else Lasker-Schülers Orient und die Berliner Alltags- und Populärkultur, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 59, sowie Said, Edward: Orientalism, New York: Vintage Books 1978, S. 284; zur ›Negrophilia‹ vgl. Archer-Straw, Petrine: Negrophilia. Avantgarde-Paris and Black Culture in the 1920s, London: Thames & Hudson 2000. Niklas Luhmann spricht von Liebe als ›unwahrscheinlicher Kommunikation‹, Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1999, S. 28. Anonym, in: Deutsches Literaturblatt 3 (1913), S. 12, zit. n. Lasker-Schüler, Else: Mein Herz. Ein Liebesroman, Frankfurt a.M.: Insel Verlag 2006 [1912], S. 209.

DIE BOHEMIENNE UND IHR ›IMAGINARY NEGRO‹

»Die Hysterie kann nicht den (ungeplanten) Prozess der Planbarmachung des Menschen und der Natur verhindern, […] indem sie einzelnen […] ichs dazu verhilft, dem Logos ihr ›ICH (n) ich (t)‹ entgegenzuhalten«. 5

Es wird hier von weiblicher ›Nicht-Ich(igkeit)‹ die Rede sein oder besser von Figurationen ›rassisch‹ Anderer, die gleichzeitig Ich und ›Nicht-Ich‹ sind. Als zentrale Hypothese wird angenommen, dass die von den Künstlerinnen gewählten ›Neger‹-Figuren, -Schreibrollen, fotografischen und poetischen Inszenierungen Masken der Weißen Bohemienne sind, ironische ›Nicht-ichs‹, oder blackface-Inszenierungen 6 , die ich unter einer überschriebenen Palimpsest-Schicht des gewaltsamen und überdeterminierten Zeichensystems (Black) Race hervorschaben möchte.

Else Lasker-Schüler – »Meine beiden Neger heulen wie Weiber«7 Eine der vielen Anekdoten über exzentrische Selbstinszenierungen von Else Lasker-Schüler erzählt folgende Geschichte. Einen lästigen Caféhausbesucher, der sich an ihren Tisch setzen wollte, herrschte sie an, er habe soeben ihrem ›Neger‹ auf die Füße getreten. Wie der berühmte zwei Meter große weiße Hase, den James Stewart im Hollywood-Film MEIN FREUND HARVEY 8 spazieren führt, waren auch Else Lasker-Schülers zwei ›Neger‹ für niemand anderen als sie selbst zu sehen. Einer von ihnen, ein ›Prinz von Theben‹, schmückt als Zeichnung den Schutzumschlag als große dienende und schützende Gestalt hinter der Autorin. Mit ihm hatte sie sich ein neues Alter Ego geschaffen: »Eben regierender Prinz geworden […]. Meine Neger liegen schon seit Sonnenaufgang vor mir auf den schwarzen Bäuchen und werden am Abend unter die Leute gehen, sie das Wort Hoheit lehren, bis das Wort tanzt in ihren Mündern«. 9 Über zwei Romane, mehrere Prosastücke und Briefe an wirklich lebende Personen verteilt, erschließen sich als Else Lasker-Schülers ›Neger‹ zwei Per5 6

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Von Braun, Christina: Nicht ich. Logik – Liebe – Libido, Frankfurt a.M.: Verlag Neue Kritik 1985, S. 446. ›Blackface‹ ist eine weitgehend rassistische Form US-amerikanischer Populärkultur, in der Weiße Schauspieler und Schauspielerinnen in schwarzer Schminke typische ›Negercharaktere‹ wie Jim Crow oder Coon aufführen. Zur Ambivalenz dieser Performanz-Kunst vgl. Lott, Eric: Love and Theft. Blackface Minstrelsy in the American Working Class, New York: Oxford University Press 1995. E. Lasker-Schüler: Mein Herz, S. 117. Mein Freund Harvey (USA 1950, R.: Henry Koster). E. Lasker-Schüler: Mein Herz, S. 119. 57

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sönlichkeiten: Tecofi Temanu, der Königssohn, dessen Vater gelegentlich nach Berlin kommt, um im Varieté aufzutreten, und dabei auf dem Balkon der Erzählerin zu Gast ist, 10 und der Kannibale Ossmann mit spitzgefeilten Zähnen: »Ossmann, mein jüngerer Neger, sieht aus wie ein sinnender Gorilla im Pflanzenkübel. Böse Spezies, herrlich zu schauen, aber man muss ihn in Ruhe lassen, seit kurzem pfeiff’ ich auch nicht mehr, wenn er jemandem den Kopf abbeißen soll, er ist zu schade, zu wertvoll, um zu gehorchen, selbst mir«. 11

Der Prinz von Theben schenkt Ossmann einmal im Jahr einen Regierungstag, um ihn fürs Gehorchen zu entschädigen: »Er saß auf Meinem Dach in Meinem Mantel mit der Spielkrone […] auf dem Ossmannhaupte […]. Ich selbst werde des Dunkelhäutigen Untertan sein inmitten seines Eintagsvolks«.12 Lasker-Schüler treibt ein komplexes Spiel mit fiktiver und fiktionaler Herrschaft und Unterwerfung, die auch die Trennung von ›Leben‹, Autorschaft, Text und Figur aufhebt. So wie ihre ›Neger‹ im wirklichen Caféhaus ausschließlich für sie sichtbar zu Diensten stehen und ihre Korrespondenz mit wirklichen Menschen bevölkern, hat sie sich auch zum wirklichen Prinzen Jussuf von Theben stilisiert und trägt Kostüm und Herrschergeste gelegentlich im Berliner Alltag. Gleichzeitig teilt sie im Text (Mein Herz, Der Malik) ihre (Selbst-)Erhebung zum regierenden Prinzen mit und inszeniert ›ihre‹ ›Neger‹ als Künder ihrer Herrschaft. Und zuletzt dekonstruiert sie die ganze aufwendige Arbeit der Herrschaftsinstallation, indem sie sie für einen Tag an Ossmann herschenkt. Mit diesem ironischen Künstler-Aristokratismus überspielt Else LaskerSchüler gewissermaßen den Nicht-Raum einer literarisch kreativen Frau inmitten der expressionistischen ›Brüderhorde‹ der Zeit, in der sie häufig die einzige weibliche Person war. Um das zu bewerkstelligen, greift sie auf drei Strategien zurück: Erstens die der Umkehrung von Anerkennung, zweitens die des ›ethnic drag‹ 13 und drittens die der Selbstautorisierung.

10 Der Name Tecofi Temanu verdankt sich einem um 1910 in Berlin lebenden afrikanischen Studenten, der auf der Einladungsliste einer Lesung von LaskerSchüler bei Antelmann im Kolonialhaus Lützowstrasse auftaucht, E. LaskerSchüler: Mein Herz, S. 155/Anm. 11 Lasker-Schüler, Else: »Der Malik« [1917], in: Dies., Werke und Briefe, Bd. 3: Prosa 1903-1920, bearb. v. Ricarda Dick, Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag 1998, S. 266. 12 Ebd., S. 473f. 13 Zum Begriff ethnic drag vgl. Sieg, Katrin: Ethnic Drag. Performing Race, Nation, Sexuality in West Germany, Ann Arbor: University of Michigan Press 2002. 58

DIE BOHEMIENNE UND IHR ›IMAGINARY NEGRO‹

Erstens: In unzähligen Widmungen und spielerischen Nobilitierungen installiert sie sich selbst als Anerkennungsinstanz ihrer männlichen Kollegen, wie ein Hochstapler, der als König falsche Orden vergibt, so nennt sie z.B. Karl Kraus abwechselnd ›Kardinal‹ oder ›Dalai Lama‹. Die paradoxe Inszenierung von Anerkennung scheitert in der ›Realität‹ am systematischen androzentrischen Missverständnis, sie nur als Liebende oder schwärmerisch Verehrende lesen zu können/wollen. Etliche Erhöhte wie Karl Kraus oder Gottfried Benn verbitten sich weitere öffentliche Idolisierung. In soziohistorischer Modellierung bedeutet das nach Gayatri Spivak, dass die Subalterne nicht sprechen kann, weil sie nicht gehört wird 14 oder, wie in der Einleitung entwickelt, für verrückt erklärt wird. In psychoanalytischer Modellierung bedeutet es, wie Jessica Benjamin ausgeführt hat, dass die Choreographie abendländischer Sexualität über die Erotisierung von Eroberung (männlich) und Unterwerfung (weiblich) funktioniert und deshalb dem unterworfenen Part versagt bleibt, als Anerkennungsinstanz zu fungieren.15 Indem aber Lasker-Schüler selbst die Anerkennung von ›Realität‹ verweigert und sich als fiktive Figur aufführt, übergeht sie das Nichtgelingen ihres Anerkennungsspiels, bzw. verkehrt das vergeschlechtlichte Szenario von Anerkennung und Unterwerfung. Die Aufführung entwickelt eine solche performative Stärke, dass sie wirkmächtig wird. Das jedenfalls bezeugt Claire Goll, der man sonst weder Bewunderung für noch Sympathien mit dem eigenen Geschlecht nachsagen kann: »Auf der einen Seite sehe ich Else Lasker-Schüler, strahlend, umschmeichelt, die Königin von Berlin. Man erkannte sie in den Straßen, niemand zog ihre dichterische Oberhoheit in Zweifel. Sie beherrschte ihre Bewunderer und genoss ihren Ruhm mit lässigem Hochmut. Ein Blick von ihr ließ alle Schranken fallen, mit einem Lächeln erfüllte sie alle Wünsche […]. Sie war die Heldin einer ganzen Generation […], als lebendes Denkmal schien sie auf einem Piedestal der Zeit zu trotzen«.16

Zweitens: Ihre Figur bzw. ihr Alter Ego Prinz Jussuf von Theben ist ein ethnic drag in doppelter Verfremdung. Mit ihr migriert die Autorin aus Geschlecht, ›Rasse‹ und interessanterweise auch aus der Lokalität ›Abendland‹. DragPerformances wurden in Gender- und Queer-Theorie vorwiegend im Hinblick auf die Bedeutung der Konstruiertheit von Weiblichkeit für das »hegemoniale Geschlecht« diskutiert. 17 Else Lasker-Schülers Drag-King-Performance dage14 Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak. Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia & Kant 2007. 15 Vgl. Benjamin, Jessica: Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht, Frankfurt a.M.: Fischer 1993. 16 Goll, Claire: Ich verzeihe keinem. Eine literarische Chronique Scandaleuse, München: Scherz 1976, S. 7. 17 Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 178. 59

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gen gestaltet/parodiert männlichen Machtanspruch. Eine Rolle, für die es kein Schauspielerinnenfach gibt. Die ethnische Verschiebung ins morgenländische Prinzentum erfüllt so gesehen die Aufgabe, die Unmöglichkeit der Figuration einer Frau, die einen autokratischen Herrscher darstellt und lebt, so zu verfremden, dass man sie als ›Fremdes‹ heimisch machen kann. Drittens: Autorisierung verschafft sich Lasker-Schüler über ihre imaginierten ›Neger‹.18 Jene haben die Funktion, das Zeichensystem der angemaßten königlichen Herrschaft durch Unterwerfung und Loyalität zu evozieren Sie sind es aber auch, die die Lächerlichkeit von Autoritätsanmaßung absoluter Herrschaft verkörpern. Die ›Imaginary Negroes‹ der Dichterin sitzen am zentralen Drehpunkt einer komplexen Verschiebungs- und Unterlaufungsoperation des herrschenden Androzentrismus. ›Neger‹ müssen sie sein, um im ethnic drag glaubhaft untergeordnet zu erscheinen. Imaginär – aber Respekt erheischend – sind sie im Berliner Café des Westens. Mit ihrer ›unheimlichen Präsenz‹ spielt sich die Autorin vor, eine sie behindernde Geschlechterordnung phantasmatisch re-arrangiert zu haben.

Claire Goll – »Neurasthenie der Erniedrigung« Bei der nächsten ›Imaginary Negro‹-Konstellation handelt es sich um eine Figur von Claire Goll: Jupiter Djilbuti, Kabinettschef im französischen Kolonialministerium, aus dem Roman Der Neger Jupiter raubt Europa von 1926.19 Auch hier ist der ›Neger‹ eine Figur weiblicher Ermächtigung. Diesmal ist er allerdings nicht Künder weiblicher Selbstautorisierung, sondern der ›Neger Jupiter‹ soll als avancierter Funktionär der französischen Staatsmacht selbst das Trittbrett sein, das der kleinbürgerlichen Schwedin Alma über eine Heirat zu gehobenem Kasten- und Klassenstatus verhilft. Der Doppeldeal des Whitening von Jupiter durch seine Frau und der Erhebung Almas in die beste Gesellschaft scheitert an Jupiters gesellschaftlich induziertem Gefühl von Min-

18 Es ist in den letzten Jahren, besonders nach dem Siegeszug der postkolonialen Theorie, viel über Else Lasker-Schülers Orientalismus geschrieben worden. Ihre ›Imaginären Neger‹ werden dort häufig umgangen oder finden eher verlegene Randerwähnung: »Auch wenn bei Lasker Schüler die Afrikaner immer noch zu Dienern degradiert sind, so doch wenigstens innerhalb eines arabischen Herrschaftssystems und nicht als Sklaven der weißen Europäer«, Hallensleben, Markus: Avantgardismus und Kunstinszenierung, Tübingen: Francke 2000, S. 51. Oder ›die Neger‹ werden bei zugestandener rassistischer Ikonographie als ironische Modi gelesen, vgl. S. Kirschnik, Tausend und ein Zeichen, S. 208. 19 Goll, Claire: Der Neger Jupiter raubt Europa, Berlin Argon 1987 [1926]. 60

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derwertigkeit 20 und Almas nicht unterdrückbarem aversiven Rassismus und mündet schließlich in einen Eifersuchtsmord à la Othello. Während die Pseudonaivität von Else Lasker-Schülers sprechendem ›Herzen‹ geradezu schamlos die Diener- oder Sklavenposition ihrer ›Neger‹ unterstreicht, zeigt sich Golls Kolportageroman reflektierter. Die Hauptfiguren Alma und Jupiter wissen um den verletzenden Charakter des Wortes ›Neger‹, und Alma umgeht es oder benutzt es im späteren Verlauf der Handlung in beleidigender Absicht. In der Autorinnenstimme sprich sie von der »Neurasthenie der Erniedrigung«. 21 Modischer weißer Primitivismus und Negrophilie der Pariser 20er Jahre – »augenblicklich waren die Neger modern«22 – werden ebenso kritisch beleuchtet wie die Zurschaustellung von ›Negern‹ zur Volksbelustigung auf dem Jahrmarkt in Paris, wo in einer Show namens »Negro Down« Weiße mit Holzbällen einen Auslösemechanismus zu treffen suchen, die einen Schwarzen Mann ins Wasser plumpsen lassen. 23 Interessanterweise verweigert Goll aber Jupiter, dem sie fast den ganzen Roman über die third-person narrative überlässt, die Empathie der Opfererzählung. Im Gegenteil, der gekränkte Gatte, immer mehr des rassistischen Ressentiments seiner Frau gegen seine Farbe, seine Gewohnheiten und seinen Geruch gewahr werdend, gibt – gelegentlich unterstützt durch eine allwissende Erzählerin – eine erstaunliche Liste von Vorurteile gegen ›Neger‹ wieder: Wie alle Schwarzen sei er »hypersensibel und mißtrauisch«, fröne dem »primitivsten Aberglauben«, er sei voll »kindisch[er] Eitelkeit«, »prahle wie ein Abkömmling aller Rassen, die noch im Pubertätsstadium steckengeblieben sind«, und habe eine »Vorliebe für gleißenden Schmuck«. 24 Der Text ist offensichtlich kein antirassistisches Manifest in Gestalt eines Unterhaltungsromans wie etwa Onkel Toms Hütte. Was soll dann aber diese krude Romanze, die gewagt zwischen Geschmacksgrenze und perfider Ironie schwankt? Um dieser Frage näherzukommen, ist es sinnvoll, das Vexierbild zu kippen, die Pupillen anders einzustellen und die Farben zu vertauschen: Einer der Gründe, warum Claire Goll in der Rekanonisierung weiblicher Leistung durch die feministische Literaturwissenschaft nicht oder wenig präsent ist, liegt in ihrem grimmigen Antifeminismus, ihrer rigiden Devaluierung von Weiblichkeit einschließlich der eigenen Person und ihres Werkes. In der bitteren Autobiographie Ich verzeihe Keinem schreibt sie: 20 Claire Golls psychologisch-literarische Analyse einer wegen ihrer Hauptfarbe diskriminierten Persönlichkeit wirkt hier wie eine Vorstudie zu Frantz Fanons psychoanalytischer Studie zur rassistischen »sociogeny« von Minderwertigkeit; Fanon, Frantz: Black Skin, White Masks, London: Pluto Press 1986 [1952], S. 13. 21 C. Goll: Der Neger Jupiter, S. 12 22 Ebd., S. 66. 23 Ebd., S. 120. 24 Ebd., S. 12, 14, 19, 30 und 51. 61

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»Die Frau ist eine Null, nichts als eine Anhäufung von Eierstöcken, und ich nehme mich nicht aus. Trotz meiner kleinen Erfolge bin ich nichts […], wir sind mindere Geschöpfe, gerade gut genug zur Unterordnung. […] weil [die Frau] in narzisstischer Pose verharr[t], ohne die schöpferische Leidenschaft kennengelernt zu haben«. 25

Zurück zur Vexierbildmetapher: Man ersetze Weiß durch Schwarz und männlich durch weiblich. Wenn man Golls unterdrückt zornige Einschätzung zur Position von Weiblichkeit mit Jupiters rassismusbedingtem Selbsthass in Beziehung setzt, der aus der absoluten Unmöglichkeit entsteht, trotz Bildung, Klassenstatus und Kultiviertheit Anerkennung durch die Weiße Elite zu erfahren, so kann man den Text auch als eine Etüde zur normativen Gewalt der männlichen Suprematie und der daraus entspringenden weiblichen Selbstgeringschätzung lesen. Die Weiße Suprematie lässt ›ihre Neger‹ nur aus der Haut, um sie doppelt abzustrafen. Durch Klasse und Position fast Weiß, darf Jupiter Alma heiraten, nur um dann umso härter Spott und Verachtung ausgesetzt zu sein. Goll findet ein merkwürdig beklemmendes Bild für die Unmöglichkeit, dem epidermischen oder chromatischen Rassismus zu entkommen. Um der Beschimpfung ›stinkender Neger‹ zu entgehen, verfällt Jupiter einem Waschzwang: »Diese peinliche Säuberung jedes Millimeters seines Körpers und diese Hingabe an die Seife, aus deren weißem Schaum er sich ein dickes Kleid anlegte, so daß er ganz den Lynchopfern des KuKluxKlan ähnelte, die zuerst geteert und dann in weiße Federn gerollt werden.« 26

Nancy Cunard – »I dreamed of a dark continent« Während Claire Golls identitäts- und anerkennungsberaubter Schwarzer Mann als eine Allegorie für Androzentrismus nur retrospektiv erschlossen werden kann,27 ist eine fotografische Selbstinszenierung der britischen Bohemienne und Mäzenatin afrikanischer, afrokaribischer und afroamerikanischer Kunst Nancy Cunard als schwarze ›gelynchte‹ Person unmittelbar bild25 C. Goll: Ich verzeihe keinem, S. 146f. 26 C. Goll: Der Neger Jupiter, S. 73. Das Bild des weiß zu waschenden ›Negers‹ ist in der Seifenwerbung im Kolonialismus populär geworden und wird von Ann McClintock »commodity racism« genannt, vgl. das Kapitel Soft-Soaping Empire aus McClintock, Ann: Imperial Leather. Race, Gender, and Sexuality in the Colonial Contest, New York: Routledge 1995, S. 207-230. 27 Vgl. Hausdorf, Anna: »Claire Goll und ihr Roman ›Der Neger Jupiter raubt Europa‹«, in: Neophilologus 74 (1990), S. 265-278. 62

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lich evident. In der Fotografie lehnt Cunard abwesend (ohnmächtig/tot) mit nackten Schultern an einem Sessel. Um den extrem verlängerten – weil nach hinten gebeugten – Hals sind in dichten Reihen mehrere Perlenschnüre geschlungen, sodass es aussieht, als werde sie gewürgt. Die kurze, androgyne Haarfrisur und das fotografisch erzeugte ›Schwarze Gesicht‹ tragen zur Assoziation mit einem Gehenkten oder einem Gelynchten bei. Das Negativ wird bei der hier verwendeten Technik direkt auf Papier abgezogen und nicht in den Schwarz/Weiß-Werten wie sonst üblich zu einem Positiv ›umgekehrt‹. Die deutsche Fotografin Barbara Ker-Seymer nutzt bei diesem Vorgang eine Erfindung des Negativabzugs ihres amerikanischen Kollegen Man Ray. Jane Marcus fragt zu dieser Bildinszenierung: »What does it mean, when Nancy Cunard switches roles and performs ›the white woman lynched‹ when in reality black men were lynched in the name of revenge for white women’s lost honor? […] When a white women claims the victim status of the lynched black man, can we read the performance of ›cross-racial‹ and ›cross-sexual‹ lynching drag as an attack of white males?« 28

Die hier von Marcus aufgespannte Komplexität ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht auflösbar. Trotzdem kann eine kulturbiographische Kontextualisierung ein wenig Licht in die drastische Inszenierung bringen. Nancy Cunards Selbst-Ethnisierung als blackface – auch hier kann man von ethnic drag sprechen, da eine Geschlechtsambivalenz zumindest angedeutet ist – antwortet auf eine vielschichtige biographische Positionierung. Die Erbin des Cunard Reederei-Vermögens, transatlantisches It-Girl und skandalisierte Lebensgefährtin des afroamerikanischen Ragtime-Pianisten und -Komponisten Henry Crowder, focht einen öffentlichen Kampf mit ihrer amerikanischen, in England verheirateten Mutter Lady Emerald aus. Folgendes Ereignis war der skandalösen Auseinandersetzung vorausgegangen: Eine Freundin des Hauses hatte sich bei Lady Emerald ironisch nach Nancys Cunards Befinden erkundigt: »Well, what’s Nancy up to now? Is it drink, dope or niggers?« 29 Daraufhin versucht die Mutter, den Schwarzen Freund ihrer Tochter aus England deportieren zu lassen, und kürzte ihre Apanage. Cunard denunzierte daraufhin Lady Emerald öffentlich als Rassistin mit dem privat gedruckten und an deren Freunde und Freundinnen versandten Pamphlet Black Men and White Ladyship:

28 Marcus, Jane: »Bonding and Bondage: Nancy Cunard and the Making of the Negro Anthology«, in: Mae G. Henderson (Hg.), Borders Boundaries, and Frames, New York: Routledge 1995, S. 34-64, hier S. 44f. 29 Ford, Hugh: Nancy Cunard. Brave Poet, Indomitable Rebel, 1896-1965, Philadelphia: Chilton Books Company 1968, S. 16. 63

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»[…] your Ladyship, you cannot kill or deport a person from England for being a Negro and mixing with white people. You may take a ticket to the cracker Southern states of the U.S.A. and assist at some of the choicer lynchings which are often announced in advance. […] No, with you it is the other old trouble – class.« 30

Das oben beschriebene Lynchbild entstand in diesem Kontext. Cunard rearrangiert die Intersektionalitätsmatrix von Gender, Race, Class und Lokalität anders als z.B. Lasker-Schüler, die sich mithilfe ihrer ›Imaginary Negroes‹ in feudale Autokratie hinein- und aus dem Abendland herausinszeniert, um den strukturellen Nachteil ›Weiblichkeit‹ zu kompensieren. Obwohl Cunards Beziehung zu dem afroamerikanischen Musiker Crowder durchaus ›real‹ ist, lässt sich auch eine ›imaginäre‹, vereinnahmende und überwältigende Version dieser Beziehung erzählen: Cunard nutzte afrikanischen Schmuck zur Verführung ihres künftigen Liebhabers. In seiner Autobiographie berichtet Henry Crowder, dass Cunard ihm bei ihrer ersten Einladung die Sammlung ihrer Elfenbeinreifen vorführte: »They were the first of the kind I’ve seen, but in a peculiar manner they elicited my warmest admiration.«31 Sie verführte ihn gewissermaßen mit ihrer Idee von ›seiner‹ Kultur. Er selbst lehnte immer jede Assoziation mit Afrika ab – »I ain’t African, I am American«, 32 wird er später sagen. Cunard will sich mittels der skandalisierten Beziehung mit Crowder aus ihrer Klasse herausarbeiten, die sie mental als unvital und borniert erlebt. Blackness wird dabei zu einem Fluchtpunkt. Sie berichtet von einem Kindertraum »about […] ›The Dark Continent‹ – with Africans dancing and drumming around me, and I one of them, though still white, knowing mysteriously enough, how to dance in their own manner«. 33 Die oben angesprochene Fotoinszenierung verdichtet diese Momente. Die Abgebildete wird von kostbaren mehrreihigen Perlenschnüren erstickt, sozusagen von ihrem Privileg erdrosselt. Auf das Lynchszenario greift sie dabei einerseits als bereitstehende Opfertrope zurück, andererseits nutzt sie es auch als Fanal. 1932 wird ihr eine Affäre mit dem berühmten afroamerikanischen Sänger und Schauspieler Paul Robeson nachgesagt. Sie bestellt sensationslüsterne ZeitungsreporterInnen zu einer Pressekonferenz und funktioniert diese – statt sich zu angeblichen Amouren zu äußern – zu einer Polemik gegen 30 Cunard, Nancy: »Black Man and White Ladyship« [1930], in: Bonnie Kime Scott (Hg.), The Gender of Modernism, Bloomington: Indiana University Press 1990, S. 68-73, S. 69. 31 Crowder, Henry/Speck, Hugo: Wonderful as All that. Henry Crowders Memoir of his Affair with Nancy Cunard, 1928-1935, Navarro: Wild Tree Press 1987, S. 64. 32 Ebd., S. 98. 33 Cunard, Nancy: Grand Man. Memories of Norman Douglas, London: Secker & Warburg 1954, S. 140. 64

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den Justizskandal der Prozesse gegen die Scottsboro Boys um.34 In diesem versuchten Justiz(lynch)mord sollten neun Schwarze Jugendliche zum Tode verurteilt werden, weil sie angeblich zwei Weiße Mädchen in einem Zug vergewaltigt hatten, die sie aber in Wirklichkeit gar nicht getroffen hatten. Erst nach vielen Prozessen und mehrjährigen internationalen Protesten wurden die fälschlich Angeklagten freigesprochen.

H.D. – A Tall God Standing (Dream Justice) Ebenfalls an eine lynching-Trope schließt Hilda Doolittle, genannt H.D., mit ihrem Avantgarde-Film BORDERLINE (GB 1930) an, den sie zusammen mit Kenneth MacPherson, ihrem Liebhaber und Gatten ihrer Geliebten Bryher, als Regisseur und dem bereits erwähnten Paul Robeson sowie dessen Frau Eslande drehte. Die Geschichte spielt in einem Schweizer Dorf. Es geht um einen Weißen Mann, der ein Verhältnis mit einer Schwarzen Frau hat (Eslande Robeson) und deshalb von seiner Weißen Frau (H.D.) an den Schwarzen Ehemann seiner Liebhaberin (Paul Robeson) verraten wird. Der erzürnte Weiße Liebhaber ersticht seine sich deutlich rassistisch gebärdende Ehefrau, und die Weiße Gesellschaft vertreibt daraufhin nicht etwa den mörderischen Weißen Ehemann, sondern den unbeteiligten Schwarzen Mann aus dem Dorf. Das Drehbuch ist hiermit ein nicht vollendetes, aber durch die Androhung von Mob-Gewalt deutlich lesbares Lynchszenario. 35 Bemerkenswert ist, dass die im freiwilligen europäischen Exil lebende US-Amerikanerin H.D. als Drehbuchautorin sich selbst die Rolle der Rassistin Astrid auf den Leib schreibt. In ihrem Begleittext zum Film, The Borderline Pamphlet, heißt es zu einer Szene: »Astrid rises in abstraction of fiend rage and claws the air shouting ›nigger lover‹ […].« 36 In der nächsten Bildeinstellung wird der untreue Weiße Gatte – beide Szenen sind identifizierbar 34 Nancy Cunard kommentiert diesen Zusammenhang in einem polemischen Artikel und dokumentiert Hassbriefe an sie und Lynching-Drohungen gegen Robeson. Sie resümiert: »Any interest [in Negro culture] manifested by a white person […] is immediately transformed into a sex-scandal […] to stir up as much fury as possible against Negros and their white friends. As in the South, it is always the ›rape‹ of white women by black men, so in the North it is always the ›scandal‹ of interracial relations.« Cunard, Nancy: »The American Moron and the American of Sense – Letters on the Negro« [1938], in: Hugh Ford (Hg.), Negro. An Anthology, New York: Frederick Ungar Publishing Co. 1970, S. 120-124, hier S. 121. 35 Debo, Annette: »Interracial Modernism in Avant-Garde Film: Paul Robeson and H.D. in the 1930 Borderline«, in: Quarterly Review of Film and Video 18 (2001), S. 371-381, hier S. 373f. 36 H.D.: »The Borderline Pamphlet« […], in: B.K. Scott (Hg.), The Gender of Modernism, S. 111-125, hier S. 123. 65

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als Traumsequenzen inszeniert – als an einer Schlinge von der Decke hängend gezeigt: »If a black man is lynched for loving a white woman why should not a white man be likewise lynched for loving a black one.« H.D. spricht von dieser Inszenierung als »dream justice«, Traumgerechtigkeit. 37 Von allen Figuren ist sicherlich Paul Robeson als der Kellner Pete mit der größten Empathie besetzt. In H.D.s Beschreibung der Mise en Scène – Robeson ist vor weißen Kumuluswolken fotografiert und die weißen Charaktere vor Gewitterwolken – liest sich das so: »The giant Negro is in the high clouds of white cumulus cloud banks in a higher heaven. Conversely the white fellow men are in the shadows of white, are dark, neurotic […].« 38 Trotz Besetzungen, die dem herrschenden Rassismus entgegenlaufen – der Weiße Mann wird gelyncht –, und dem ›against typecasting‹ der liberalen H.D. als Rassistin und Lynchapologetin bleibt die Farbsymbolik Weiß = gut/Schwarz = schlecht intakt. Wie alle bisher gesichteten ›Imaginary Negro‹-Konstruktionen Weißer Bohemiennes hat auch H.D.s Projekt neben der paradox vorgetragenen Rassismuskritik dort eine ›Nicht-Ich‹-Komponente, wo sie im Schwarzen Künstler ein ureigenes Problem liest: »[…] though he was complete, she was strikingly deficient. She was deficient, you might even say, crippled in some psychic song-wing; his song flowed toward all the world, effortless, full of benign power, without intellectual gap or cross purpose of hypercritical consciousness to blend in.« 39

Im Gedicht Red Roses for a Bronze imaginiert sich das lyrische Ich von H.D. als Bildhauerin, die in einer Begegnung mit ihrem zukünftigen Modell sowohl eine erotische Überwältigung verspürt – es phantasiert, ihm die Kleider vom Leib zu reißen – und zugleich eine Verbindung mit ihrem innersten Ich für möglich hält und erzwingen will: »[I] force you to grab my soul’s sincerity / and single out / me, / me, / something to challenge and handle differently.«40 In einer Art umgekehrter Pygmalion-Geschichte zieht das lyrische Ich das widerstrebende Modell in das Atelier, um sogleich die Form für die Bronze auszuarbeiten. Während im Pygmalion-Mythos der Künstler sich in die Skulptur verliebt und sie mit Leben erfüllen will, verliebt sich hier die Künstlerin in die in ihrer Vorstellung schon existierende Skulptur und sieht die Vollendung ihrer Liebe im Artefakt. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 112. 39 H.D.: »Two Americans«, in: Hilda Aldington (H.D.) (Hg.), The Usual Star, Ann Arbor/London: University Microfilms 1930, S. 94. 40 H.D.: Red Roses for Bronze, in: Dies., Collected Poems, New York: New Directions 1983, S. 211-215, hier S. 213. 66

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Besser könnte das Projekt der Faszination der Weißen Libertine durch den Schwarzen Mann nicht allegorisiert werden. Es kommt nicht auf seine lebendige Präsenz an, sondern er ist ihr Artefakt, das sie nur in ihrer Konstruktion interessiert. Von der Perfektion der fertigen Skulptur geblendet – »the tall god standing« – wird die Bildhauerin kurzfristig von Eifersucht auf zukünftige fremde Betrachter und Betrachterinnen überflutet. Dann glaubt sie aber, durch ihre Kunstfertigkeit eine dermaßen undurchdringliche Aura geschaffen zu haben – »I would clear so fiery a space« 41 –, dass nur ihr eigenes Begehren als unsterbliche, rot leuchtende Rose Bestand haben wird. Die Bewunderung anderer Frauen, symbolisiert durch blassere weiße Blumen, wird dagegen zu einem kleinen Staub- und Aschenhaufen verwittern. Wie schon bei Nancy Cunard – die H.D. im Übrigen gut kannte und die mit zwei (Weißen) Männern Beziehungen führte, mit denen zuvor H.D. liiert gewesen war – versprach die Liebe zu einem Schwarzen Künstler, die sich im Fall Robeson weitgehend in H.D.s Phantasie abspielte, jenen direkten Zugang zur Kreativität, den die eigene Seelenarbeit hervorzubringen nicht imstande war.

Coda – ethnic drag im Männertheater ›Imaginary Negroes‹ dienen der Bohemienne als Markierung von Exzentrizität. Ich meine dabei mit Exzentrizität einerseits den performativen Exzess, mit dem sie sich als vorsätzlich skandalöse Regelverletzerin inszeniert. Anderseits verstehe ich Exzentrizität auch im wörtlichen/literalen Sinne als außerhalb des Zentrums positioniert. In letzterem Sinne verweigern die vorgestellten Bohemiennes sich der Natur/Kultur-Binarisierung, die sowohl dem Weiblichen wie dem Nicht-Weißen zugemutet wird. Damit machen sie Verfugungen von Sexismus und Rassismus sichtbar. Obwohl sie in zeitgenössische primitivistische und exotistische Diskurse eingebunden sind und damit zweifellos nach unseren Kriterien rassistische Vorannahmen machen, ist es ihnen je nach Kontext in Momentaufnahmen möglich, mit künstlerischer Produktion und Selbstinszenierung die Produktionsweise von Rassismus und Sexismus zu reflektieren. In einer Zeit, als das weibliche Rollenrepertoire zwischen Muse und Meduse – um einen Buchtitel Inge Stephans zu zitieren 42 – wenig Alternativen bot, fungieren einige Bohemiennes als queere Feen oder Poltergeister im Männertheater. Sie nehmen den Umweg über die Race-Form von Otherness,

41 Ebd., S. 215. 42 Siehe Stephan, Inge: Zwischen Musen und Medusen. Mythos und Geschlechtsdiskurs in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Köln: Böhlau 1997. 67

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um Problemlagen von Gender, Kulturkreis/Lokalität und Klasse zu artikulieren. Anders ausgedrückt: Indem sie von, als und für Schwarze(n) Subalterne(n) sprechen, überspielen sie ihre eigene Subalternität (und ihr Nicht-gehört-Werden). Technik und Ziel sind allerdings unterschiedlich. Else LaskerSchüler tut das, um sich zu autorisieren oder die eigene Autorisierungsgeste ironisch vorzuführen, Claire Goll versucht, den eigenen Zorn und weiblichen Selbsthass zu maskieren. Nancy Cunard bringt eine Melange aus Revolte gegen Klassenprivileg und Narzissmus auf einen bildlichen Punkt. Und die psychoanalytisch geschulte H.D. – sie hatte eine Analyse bei Freud gemacht und sich dort »annoyed« geäußert, »that women did not creatively amont to anything« 43 – nimmt eine rassisierte Vorstellung vom ›dark continent‹ für eine Kreativitätsutopie in Anspruch. Als orientalisierte Prinzen mit Schwarzen Dienern (Lasker-Schüler) oder blackface-Dragkings (Goll, Cunard) oder mit der Filmrolle als weiße Rassistin disidentifizieren sie weibliche Sprechpositionen.

43 H.D.: Tribute to Freud by H. D., New York: New Directions 1984, S. 149. 68

Touching Ossi. Zur übertrieben-komischen Frauenfigur in Ernst Lubitschs D I E A U S T E R N P R I N Z E S S I N (1919) JULIA B. KÖHNE

Lubitsch-Touch und re-touching Die Erstaufführung der deutschen Stummfilmkomödie DIE AUSTERNPRINZESSIN – einer frühen Regiearbeit Ernst Lubitschs – fand am 20. Juni 1919 im Ufa-Theater am Kurfürstendamm in Berlin statt. 1 Die Produktion des satirisch-kritischen Vierakters fiel in die kurze Zeitspanne des Wegfalls staatlicher Zensur nach dem Kriegsende. 2 In dieser historischen Phase der vielfachen Krisen, in Form von Inflation und Hungersnot, und zugleich des Aufschwungs und der Neuorganisation konnten Filme künstlerische Experimente wagen und sich über Konventionen und traditionelle Werte hinwegsetzen. In der filmwissenschaftlichen Forschung wurde der ›frische Stil‹ Lubitschs in DIE AUSTERNPRINZESSIN mit seinen filmästhetischen Innovationen begründet; deren Besonderheit liege in der Choreographie der Figuren und Dialoge, der Visualisierung und Vitalisierung des Dekors, im Timing der Ein-

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DIE AUSTERNPRINZESSIN wurde von einem 20 Musiker und Musikerinnen umfassenden Orchester begleitet, vgl. Weinberg, Herman G.: The Lubitsch Touch. A Critical Study, New York: Dover 1977, S. 326. Die DVD in der ErnstLubitsch-Collection (Transit-Film, Friedrich Murnau-Stiftung, München 2006) zeigt die restaurierte Fassung (60 min.), auf die ich mich im Weiteren beziehe, mit neuer Musik. Vgl. z.B. Kracauer, Siegfried: »Der Schock der Freiheit«, in: Ders., Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979 [1947], S. 53. Am 5.3.1921 wurde der Film schließlich von der Zensur geprüft und unter Jugendverbot gestellt, Akteneintrag Nr. B.01473. 69

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stellungen sowie in der elliptischen Erzählweise. 3 Die bekannte Formel »Lubitsch-Touch«, bezogen vor allem auf seine späteren Hollywood-Filmkomödien, wurde von Kritikerinnen und Kritikern in unterschiedlicher Weise definiert. Während B.E. Lüthge am 22.6.1919, kurz nach der Premiere, im FilmKurier über das besondere ›Wie‹ der Ideenführung und Darstellungsform schrieb, sprachen spätere Filmkritikerinnen und -kritiker von einer ebenso ironischen wie komplexen Technik der Andeutungen, Aussparungen und des indirekten Kommentars. Der leichter erkennbare als beschreibbare Touch bestehe in einer geistreichen Mischung aus charmantem Witz, subtiler Frivolität und unerwarteten Wendungen, die die »kinematographische Choreographie« der Gags unterbreche.4 In Was Lubitsch berührt stellte Frieda Grafe fest: »Die Nebensächlichkeiten der anderen sind seine Schwerpunkte.« 5 Thomas Ballhausen nennt den Touch das »Sympathetische im orchestrierten Schau-Spiel«. Der Kunstbegriff bestehe zum einen in »flüchtigen symbolischen, metaphorischen, wie unbewusst und traumartig geschehenden Andeutungen«; zum anderen in einer zugleich »pointierenden, vereinfachenden Darstellung des sprachlich Unformulierbaren oder auch des (vermeintlich) Unschicklichen. Keiner sprach (angeblich) diese Sprache, verstanden wird sie heute noch.« 6 Die Ausstattung diene dem gewitzten Regisseur als Verweissystem, als ein objektorientiertes Linkangebot. Die Ellipsen und Auslassungen könnten so selbständig interpretiert werden, wobei nach François Truffaut das »Lachen [der Zuschauenden] die Brücke von einer Szene zur anderen schlägt«.7 Lubitsch erklärte in einem Gespräch mit dem Filmhistoriker Theodore Huff: »Ich lasse die Zuschauer von ihrer Einbildungskraft Gebrauch machen. Kann ich etwas dafür, wenn sie meine Anspielungen missdeuten«?8 Neben den genannten Elementen beherbergt DIE AUSTERNPRINZESSIN noch einen anderen innovativen Faktor: seine weibliche Protagonistin mit Namen Ossi, genannt die »Austernprinzessin« und gespielt von Ossi Oswalda. Der Titel dieses Essays, Touching Ossi, referiert einerseits auf den 3

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Vgl. Prinzler, Hans Helmut/Patalas, Enno (Hg.): Lubitsch, München/Luzern: Bucher 1984. Frieda Grafe schreibt, dass sich die Objekte verselbständigten, Grafe, Frieda: »Was Lubitsch berührt«, in: H.H. Prinzler/E. Patalas: Lubitsch, S. 81. Brandlmeier, Thomas: »Anmerkungen zu Ernst Lubitsch«, in: epd Film. Das Kino-Magazin 1 (1984), online: http://www.filmzentrale.com/essays/lubitschtb. htm vom 15.7.2010. F. Grafe: »Was Lubitsch berührt«, S. 82. Ballhausen, Thomas: »Lubitsch/Touch/Screen«, in: Katalog zum Jüdischen Filmfestival Wien 2007, S. 22, online als PDF zu finden auf http://www.jfw.at/ 2007/info.htm vom 15.7.2010. Truffaut zit. n. Renk, Herta-Elisabeth: Ernst Lubitsch. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992, S. 144, vgl. Truffaut, François: »Lubitsch était un prince«, in: Cahiers Du Cinéma (1968). Zit. n. Th. Ballhausen: »Lubitsch/Touch/Screen«, S. 1.

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Lubitsch zugewiesenen speziellen Erzähl- und Ästhetikstil, seinen Touch, und andererseits auf diese besonders berührende Frauenfigur. Im Weiteren wird die Figur Ossi analysiert, die im Film mit Lubitschs Touch touchiert bzw. konfrontiert wird und zum Teil sogar mit ihm verschmilzt. In Bezug auf die rührige und anrührende Ossi passt sowohl die Wortbedeutung des Berührens, denn Ossi ist eine aktiv und physisch Begehrende und Anfassende, als auch die des lediglich flüchtigen Streifens, da die Protagonistin durchaus für Leichtigkeit, Oberflächlichkeit, Komödienhaftigkeit und das Spektakuläre steht. Im Folgenden soll die auf den ersten Blick in ihren Ambivalenzen nicht leicht lesbare Figur Ossi im Hinblick auf ihre Fähigkeit, klassische Formen von Weiblichkeitsentwürfen zu repetieren und ihnen zugleich durch das Spiel mit Weiblichkeitsmustern wie dem ›Vamp‹, der ›Hysterikerin‹ oder der ›Neuen Frau‹ zu widerstehen, retuschiert und kontaktiert, abgetastet und bewegt werden. Es wird nach beweglichen Identifikationskonzepten und Geschlechterrepräsentationen gefragt, die über streng duale Geschlechtervorstellungen hinausweisen. Die Filmhandlung von DIE AUSTERNPRINZESSIN spielt im palastähnlichen Haus der Quakers, das mit einer kapriziösen, manieristischen Innenausstattung versehen ist und zugleich einem antiken Labyrinth gleicht, für das eine nicht eingeweihte Person einen Orientierungsplan benötigte. Die visuell überzeichnete Szenerie, in der viele Gegenstände multipliziert vorkommen – Säulen, Diener und Dienerinnen, Störche und Pferde –, wird gleichsam zum Spielplatz delikat inszenierter menschlicher Fehler, Schwächen und Eitelkeiten, die im Film aber nicht verurteilt werden.9 Das Lustspiel dreht sich um Ossi, Tochter des amerikanischen Milliardärs Mr. Quaker (Victor Janson), der sein Vermögen mit den kostbaren Meeresfrüchten verdient hat. Die neureiche Miss Ossi Quaker ist blindwütig auf der Suche nach einem adeligen Ehemann und dessen symbolischem Kapital. Vordergründig sucht sie damit die Tochter des Schuhcremekönigs zu übertrumpfen, die zuvor einen Grafen geehelicht hat. Auf den zweiten Blick sucht sie jedoch ihr sexuelles Begehren zu stillen und mit der Prinzenheirat ihrem Vater zu imponieren. Denn diesen kann offenbar nichts mehr beeindrucken. Sein den Großteil des Films refrainartig wiederkehrender komischer Spruch lautet: »Das imponiert mir garnicht!« Als idealen Ehemann wählt der spontan eingeschaltete Heiratsvermittler einen mittellosen Prinzen aus. Der deutsche Prinz Nucki (Harry Liedtke) ist ein Vertreter des verarmten alteuropäischen Hochadels und wird als Ehemann quasi an-/eingekauft. Er trägt Monokel, Statussymbol höherer Gesellschaftsschichten, wäscht ansonsten seine Wäsche jedoch selbst. Um die absente 9

Siehe Bilddokumente zur Geschichte des Films. Der klassische deutsche Stummfilm, 1919-1929, München: Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht 1970 [Auswahl, Zusammenstellung und Redaktion Dorothea Gebauer u.a.]. 71

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Herrschaftsfülle zu visualisieren, wird der Prinz auf einer Kohlenkiste sitzend gezeichnet, sekundiert von seinem Freund und Diener Josef (Julius Falkenstein), der sich mit einem Besen bewaffnet hat (Abb. 1). Letzterer wird vorgeschickt, um den unverhofft an Prinz Nucki herangetragenen Heiratsantrag und die Zukünftige zu prüfen. In der Annahme, einen echten Prinzen vor sich zu haben, heiratet die ungestüme Milliardärstochter den Diener, dessen Identität mit der des Prinzen verwechselt wird, im Schnelltrauungsverfahren. Erst am Ende des Films wird die Abb. 1: Prinz Nucki auf der Kohlenkiste auf dem Papier mit dem Prinzennamen vollzogene Ehe auch mit der Person des Prinz Nucki verbunden. Ausgehend von dieser Dreieckskonstellation (Ossi, Josef, Prinz Nucki) wird eine turbulente Ereigniskette in Gang gesetzt, die jede Menge Verwechslungen und Entgleisungen, einen Damenboxkampf, den Ausbruch eines Foxtrottfiebers – die tanzenden Beine im die sozialen Schichten vereinenden Triptychon-Splitscreen gefilmt –, Alkoholexzesse und eine verkehrte Urszene umfasst. Lubitschs zynisch-kritische Darstellungstaktik setzte der harten äußeren Realität des Jahres 1919 eine irreale Traumwelt entgegen. In seinen frühen Komödien und Historienfilmen spiegelte er gerade nicht die angespannte, krisengeschüttelte Nachkriegszeit wider. Die ökonomische Not der Nachkriegszeit inspirierte Lubitsch vielmehr zu opulenten Ausstattungsfilmen, wie zum Beispiel MADAME DUBARRY oder eben DIE AUSTERNPRINZESSIN, 10 was von Siegfried Kracauer in From Caligari To Hitler 1947 als introvertierte Psychologisierung und Geschichtsnihilismus kritisiert wurde. 11 Gerade weil er Lubitschs kunstfertigen Humor/Touch nicht einbezog, verkannte Kracauer in Komödien wie DIE AUSTERNPRINZESSIN die Mittel der Überzeichnung und übersah daher, wie beispielsweise das vermeintlich verschwenderische Filmdekor – im Zusammenspiel mit den Filmfiguren – differenzierte medien- und sozialkritische Bedeutungen transportierte. Neben Lubitschs ironisierender Ästhetik und seinem konstruktiven Skeptizismus kann der kritischen Lesart

10 H. H. Prinzler/E. Patalas: Lubitsch, S. 53, und Th. Brandlmeier: »Anmerkungen«. 11 S. Kracauer: »Der Schock der Freiheit«, S. 49-67. 72

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Kracauers noch ein anderer Punkt entgegengehalten werden: seine besonders rebellisch-transgressiv ausfallenden Frauenfiguren. Um sie als weibliche Repräsentations- und Identifikationsfigur vorzuführen, werden im Weiteren die Funktionen der Figur der Ossi anhand von vier Filmszenen dargestellt, die sie zwischen Anpassung und Transgression changieren lassen. Sie zeigen Ossi bei einem ihre adelige Position unterminierenden Tobsuchtsanfall, beim sie sexualisierenden Baden, beim transgressiven Puppenbaden und in der ihr aktives Begehren artikulierenden letzten Schlüssellochszene.

Verpflichtet Adel? Ossi als fehlerhaftes Luxusgeschöpf In den Filmrezensionen wurden Ossi vielfältige Eigenschaften zugewiesen: Einerseits wurde sie als jähzornig, cholerisch, temperamentvoll, verzogen, missraten, verludert, übermütig, ungeduldig, unberechenbar, launisch, hysterisch, geil, aufgekratzt, wieselflink, quecksilbrig, tollkühn, schrill und schnell gelangweilt charakterisiert. Andererseits galt sie als intelligent, eigensinnig, selbstsicher und weltoffen. Zugleich wurde sie als kindlich, sogar kindisch wahrgenommen. Die Charakterisierung Ossis als grotesk und infantil – sie will ihren Prinzen sofort haben, nicht in wenigen Tagen, sondern in wenigen Stunden! Abb. 2: Die »Austernprinzessin« in Rage – wird erreicht, indem ihre Figur mit Mitteln der Überzeichnung, Wiederholung und Komik gekoppelt wird. Neben diesen drei poetologischen Techniken soll auch gezeigt werden, wie durch die spezielle Bauart der Figur der Ossi festgefahrene geschlechterspezifische Codierungen aufgedeckt und in Szene gesetzt werden. Bei ihrem ersten Auftritt im Film ist Ossi ganz außer sich und zerstört das Palastinventar: Vasen und Papierstapel, Büsten und Tische. Der Tobsuchtsanfall, im Gestus der Übertreibung bis zur ›Pathosformel‹ gesteigert (Abb. 2), ist zum einen ihrem jugendlichen Übermut geschuldet. Zum anderen basiert er jedoch auf Neid, den Ossi in Anbetracht der Vermählung der Tochter des Schuhcremekönigs mit einem Grafen empfindet. Damit ist Ossis Stellung als

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»tobsüchtiger Lockenkopf« und »vasenzertöppernde Dollarmiß« etabliert, 12 der der übertrieben dargestellte Reichtum ihres Milliardärsvaters wenig wert zu sein scheint bzw. die ihn für selbstverständlich und unerschöpflich hält. Diese groteske Destruktionsszene, zu der ihr Vater alarmiert hinzueilt, endet mit folgendem Satz desselben: »Ich kaufe Dir einen Prinzen!« In dieser Szene werden gleichermaßen Ossis fehlende Contenance, ihre Verschwendungssucht und der Fake-Adel der neureichen Quakers vorgeführt. Ossis möchtegern-adeliger Charakter bietet hier einerseits eine Projektionsfläche für etwaige Wunschvorstellungen und Sehnsuchtspotenziale der Zuschauenden der Nachkriegszeit. Andererseits entmythisiert und dekonstruiert er die Sinnhaftigkeit und damit den Traum vom Wohlstand. Allegorisch betrachtet steht Ossi im Film dem resignierten aristokratischen Europa bzw. der krisengeschüttelten Weimarer Republik gegenüber, die von dem mittellosen deutschen Adeligen Prinz Nucki verkörpert wird. Im Film wird der Adel von seinem Ende her gedacht: Während die Quakers die Selbsttechniken und Lebensformen dieser privilegierten Gesellschaftsschicht nachahmen, sie performativ und ethisch jedoch immer wieder verfehlen, spielt Prinz Nucki sein ehemaliges Adelig-Sein im Schatten der Entthronung des europäischen Adels nach. In DIE AUSTERNPRINZESSIN wird ein Abgesang auf eine untergehende Gesellschaft angestimmt, die aus »schlawinernden Adeligen, widerwärtigen Kapitalisten und lächerlichen Wohlfahrtsattitüden« besteht.13 Im Film verschmelzen die beiden oppositionellen Positionen, der Adel und die Neureichen, letztlich, genau wie die ihnen zugeordneten Filmfiguren. Die Quasi-Adelige wird durch die Prinzenheirat geadelt, und der blaublütige, jedoch entmachtete Prinz Nucki kann sich bei den Quakers endlich satt essen und sich am Ende des Films im luxuriösen Bett der Milliardärstochter wärmen. Indem DIE AUSTERNPRINZESSIN diese beiden Formen von Aristokratiedisplay, verarmte Europäer und neureiche Amerikaner – Ossi figuriert als geschlechtsbetonte Neuauflage untergegangener Adelsgeschlechter –, miteinander konfrontiert, werden sie zugleich persifliert und kritisierbar. Thomas Brandlmeier schreibt hierzu, der böse Blick Lubitschs entlarve den »Schein der offiziellen Moral«, die den »nackten Kampf der Bevölkerung ums Überleben« in Zeiten von Arbeitslosigkeit, Hunger und Unordnung maskiere. Durch »rapierschnelle Kamerakommentare« 14 – so Lewis Jacobs – schlitze Lubitsch der Moral den Bauch auf. In Verbindung mit den Alliierten-Kriegsgewinn(l)ern, den amerikanischen Neureichen kollabiert das Politische in DIE AUSTERNPRINZESSIN zugunsten der erotischen Sehnsucht der transgressiven Ossi, wobei eine Erfüllung jedoch immer wieder verschoben wird. 12 Vgl. Lichtbild-Bühne Nr. 25 vom 21.6.1919, online auf http://www. filmportal.de vom 15.7.2010. 13 Spaich, Herbert: Ernst Lubitsch und seine Filme, München: Heyne 1992, S. 63. 14 Zit. n. Th. Brandlmeier: »Anmerkungen«. 74

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Fungiert Ossi einerseits als ins Groteske gezogene Verkörperung der Neureichen, die so viel besitzt, dass sie sich um Besitz nicht zu scheren scheint, so sind es andererseits gerade ihre Fehlerhaftigkeit, Offenheit und Extrovertiertheit, die sie befähigen, sich durch die Standeszwänge einer quasihöfischen Gesellschaft hindurchzulavieren. Außer mit Macht und Luxus ist sie mit Leichtigkeit und Lebensfreude verbunden sowie mit Verführungstechniken. Norbert Elias, der in seinem Buch Die höfische Gesellschaft (1969) den Fürstenhof des Ancien Régime als soziales Gebilde beschrieben hat, zeigt die in dieser Gesellschaft herrschende Mischung aus Rangordnung, Machtverteilung, Etikette, Verhaltenszwängen und willkürlicher Herrschaft des Königs auf, die sich auf die involvierten Individuen eigentümlich mechanisierend und automatisierend ausgewirkt habe.15 Elias’ »Soziologie des Königtums« besagt, dass sich Individuen am Fürstenhof letztlich wie Puppen verhielten. Ossi stellt durch ihre Dysfunktionalität und Verstöße gegen die Regeln des guten Benehmens die von Elias beschriebenen gesellschaftlich gezüchteten Bedürfnisse und Abhängigkeitsverhältnisse in ihrer Künstlichkeit aus und setzt sie – zumindest partiell und temporär – außer Kraft. Durch ihr Vorhaben, einen echten Prinzen zu heiraten, affirmiert sie zwar das Adelssystem, dem sie als Neureiche nur in simulierter Form ›angehört‹. Die zum Lachen reizende Weise, in der sie ihrem Wunsch nachgeht, transformiert jedoch immer wieder unflexible Verhaltenskodizes und korsettartige Handlungszwänge. Henri Bergson hat in seiner Theorie des Komischen und Schöpferischen, in Das Lachen von 1899, ausgeführt, dass es genau diese verkrustenden Mechanismen und Automatismen seien, die in Gegensatz zum sich stets in Bewegung befindlichen Leben geraten seien, die den Effekt des Komischen bewirkten.16 Das Komische an Ossi ist, dass sie das Komische an der Konvention sichtbar macht: durch ihre überzeichnete Spontaneität, Rührigkeit und Flexibilität und durchaus im antirationalistischen und -deterministischen Sinn. Die Überzeichnungsstrategien machen sie gleichsam zum Medium des Komischen und zum Medium der Neureichen- und Adelskritik. So dient die Protagonistin letztlich dazu, wenn auch unfreiwillig, da sie nicht aus ihrer Haut kann, die Zuschauenden an ihre geistige Beweglichkeit zu erinnern. Sie wird zum Motor und zur Komplizin einer Dynamik, die Bergson zufolge im befreienden Lachen über die Erstarrungen des praktischen Lebens besteht.

15 Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft: Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Neuwied/Berlin: Luchterhand 1969. 16 Bergson, Henri: Das Lachen, Jena: E. Diederichs 1921 [1899], S. 41. 75

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Im Bad: Ossi wird berührt Um Ossi für die Begegnung mit Josef, dem vermeintlichen Prinzen, zu rieren, wird sie in einer ausführlich dargestellten Badeszene von gleich zwei Dutzend Zimmerdienerinnen entkleidet und eingeseift, gebadet und parfümiert, eingeölt und massiert sowie neu eingekleidet. Da die Figuren in DIE AUSTERNPRINZESSIN in einem imaginären Raum platziert sind und Ossi mit einer unverkrampft wirkenden Sinnlichkeit ausgestattet gezeichnet ist, gibt die Szene dem Publikum nackte, exzessive Körperlichkeit zu sehen. Auf den ersten Blick scheint Ossi hier re-feminisiert und in die weibliche Rolle gedrängt zu werden, die zum chauvinistischvoyeuristischen Angeblickt-Werden einlädt – in diesem Fall durch die Zuschauenden. Dieses PassivMachen als Sexobjekt scheint den Status Ossis als (anti-)adeliges Transgressionssubjekt vorerst auszuhebeln. Auf den zweiten Blick wird die Sexualisierung jedoch durch die Demonstration ihrer Lust am Gebadet-Werden und das Sichdarüber-lustig-Machen sowie einen übertreibenden Gestus konterkariert. Durch die Multiplikation von Abb. 3 und 4: Dienerinnen Menschen und Gegenständen werals Medusenhaupt den Dienerinnen und ihre Hände, Schwämme und Parfumflakons zu lustbesetzten Zeichen. Diese medusenhaupthafte 17 Akkumulation von mal geordnet auftretenden, mal durcheinander wimmelnden Frauen (Abb. 3 und 4) hat durchaus etwas Bedrohliches bezüglich der männlichen Subjektposition; sie lässt den voyeuristisch

17 Vgl. Freud, Sigmund: »Das Medusenhaupt« [1922], in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 17: Schriften aus dem Nachlaß, 1892-1938, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1993, S. 45-48, hier S. 47. Freud analogisiert hier das haarige weibliche Genital mit dem abgetrennten schlangenbesetzten Haupt der Gorgone Medusa aus der griechischen Mythologie, deren Anblick ihr Gegenüber erstarren lässt. Die Vielheit und Unübersichtlichkeit der Schlangen markieren einen Gegensatz zur Position des phallischen Einen, das sich durch jene bedroht sieht. Das Viele spricht von der Absenz des Einen und der Möglichkeit seiner Kastration. 76

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interessierten Blick abprallen. Damit changiert die Figur der Ossi im kinematographischen Spektakel zwischen Affirmation und Subversion der symbolischen und sexuellen Ordnung. In diesem Sinn konstatiert auch Sabine Hake in Passions and Deceptions, 18 dass der Figurenentwurf der Ossi als »waywardwoman« 19 mit ihrem wirren Haar, ihrer freiheitlichen Selbstbestimmtheit, ihrem Körperbewusstsein und Despotismus die traditionellen weiblichen Attributierungen, das »weibliche Schicksal« – Schönheit, Sexualität und Soziabilität – zugleich zu verkörpern und zu verschieben vermag. Ossis Beitrag zum Thema moderne Weiblichkeit sei ein ambivalenter, gebrochener, da er von Übertreibung, Parodie, Humor, Maskerade und Spektakulärem geprägt sei, also von Elementen, die mit Widerständigkeit verknüpft würden.20 Diesen Gedanken weiterführend kann gesagt werden, dass die Neuordnung der Geschlechtszuweisungen hier keineswegs eindeutig und schablonenhaft, sondern hybrid ist. Ähnlich wie der demonstrierte Reichtum in der filmischen Fiktion ermöglicht die vorgeführte Sinnlichkeit beim Publikum ein (Mit-)Genießen. So wie realer Reichtum durch die Übertreibungsgeste als sinn- und maßlos markiert wird, wird die Position des begehrlichen Anblickens hier unterminiert.

Puppenbadeszene: Ossi – weder Mutter noch ›Neue Frau‹ Die Verweigerung der Annahme der weiblichen bzw. mütterlichen Rolle in Gesellschaft und Familie wird in der Szene deutlich, in der Ossi – von ihrer Monokel tragenden Gouvernante kritisch beäugt – die Mutterrolle einüben soll, indem sie fachgerecht eine Babypuppe badet. Die traditionelle Übungsstunde unterfordert und langweilt Ossi sichtlich. Unwissend pudert sie, anstatt des Hinterns, das Gesicht der Puppe (Abb. 5). Auf die Kritik der Gouvernante erwidert sie ungeduldig: »Vorläufig ist es ja noch nicht so weit«, und wirft die Puppe quer durchs Zimmer. Die klassische Rollenver- Abb. 5: Am falschen Ende gepudert 18 Hake, Sabine: Passions and Deceptions. The Early Films of Ernst Lubitsch, Princeton (NJ): Princeton University Press 1992. 19 S. Hake: Passions and Deceptions, S. 81. Der Begriff »wayward« kann übersetzt werden mit launisch, missraten, eigensinnig und/oder unberechenbar. 20 Ebd. 77

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teilung – in Form einer quasi-naturalen Kopplung von Weiblichkeit gleich Mütterlichkeit, Intuition, Fürsorglichkeit, Altruismus und Passivität einerseits und Männlichkeit gleich Aggressivität, Subjektivität und Aktivität andererseits –, das heißt, die Geschlechtermatrix wird hier gesprengt.21 Anders als in zeitgenössischen Melodramen zielen Ossis Aktivitäten nicht primär auf die große romantische Liebe, Stillstellung in der Ehe und Fortpflanzung ab. Sie zeigt sich vielmehr interessiert an flüchtigen Gefühlen, an Vergnügen, Lust, Erotik und Exzess sowie einer erfüllten Sexualität und allenfalls einer spontanen familialen Bindung oder Wahlverwandtschaft. Ossi tritt gewissermaßen aus dem familialen System aus, indem sie sich beispielsweise nicht mehr vom Vater an den Ehemann übergeben lässt, sondern die Sache selbst in die Hand nimmt. Weitaus wichtiger als alle äußerlichen, modischen und habituellen Gebärdungen ist Ossi nämlich, sich als Handelnde erleben zu können und nicht mehr einem – wie Gertrud Koch schreibt – »verhängnisvollen Kreislauf der Gefühle« unterworfen zu sein.22 Ossi ist eine Künstlerin der Verwechslung, des Unruhe-Stiftens; sie ist Akteurin und zugleich der Motor, der das Verwirrspiel in DIE AUSTERNPRINZESSIN allererst in Gang setzt: Sie will vor allen Dingen ihre eigene Kraft und ihr Talent spüren, alle zu verwirren. Mit Ossi wird keine Frauenfigur entworfen, wie sie der neuen Positionierung von Frauen in den 1920er Jahren als moderne, urbane und medieninteressierte Erwerbstätige in einer urbanen Lebens- und Arbeitswelt entspräche, wie sie etwa Koch beschrieben hat. Der Entwurf der exzentrisch-starken Protagonistin in DIE AUSTERNPRINZESSIN setzt zwar an dieser Nahtstelle der neuen weiblichen Eigenständigkeit und Mächtigkeit an.23 Der Film verweist jedoch darüber hinaus auf die Fragilität, Antastbarkeit und Fehlbarkeit der Konzeption ›Neue Frau‹, indem er Ossis Handlungsoptionen auf private, intime Bereiche verlagert, anstatt etwa ihre Leistungsfähigkeit und Selbstverwirklichung auf der neuen beruflichen und politischen Bühne auszuloten. Ossi ist nicht in Deckungsgleichheit mit dem Mythos der ›Neuen Frau‹ zu bringen; sie konterkariert diesen vielmehr. DIE AUSTERNPRINZESSIN zieht hier eine Differenz ein, überzeichnet und ironisiert Ossi eher in ihrer Girliehaftigkeit, als dass die ›Neue Frau‹ durch Idealisierung und Fetischisierung überhöht würde. Darum ist der Film keine Hommage an moderne Frauenentwürfe wie den Vamp, Flapper oder die Aufsteigerin, ist nicht deren Eins-zu-eins-Spiegelung im 21 Vgl. Koch, Gertrud: »Die neue Frau im neuen Medium. Zur Retrospektive ›City Girls. Frauenbilder im Stummfilm‹ der Berlinale 2007« vom 5.2.2007, (idw) Freie Universität Berlin, http://www.uni-protokolle.de/nachrichten/id/132242/ vom 15.7.2010. 22 Ebd. 23 H.-E. Renk: Ernst Lubitsch, S. 32: Renk schreibt, in Lubitsch-Filmen würden »Frauen […] männlich oder kindlich, Männer monströs oder feminin« dargestellt. Der Regisseur habe diese Typisierungsverdrehungen aus dem Berlin der 20er Jahre nach Hollywood mitgenommen. 78

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Stummfilm, sondern stellt den Fortschritts- und Modernisierungsgedanken an sich zur Disposition. Ossi probiert aus, wer sie sein kann – mit ihrem »instinktiven Talent für Kunstgriffe, dem Spiel mit verschiedenen Erscheinungsweisen«24 und im Rahmen der Entfaltungsmöglichkeiten einer wenigstens teilweise anarchischen Heldin.

Diesseits und jenseits des Schlüssellochs: Ossi begehrt Neben der der Komik förderlichen poetischen Figuration Überzeichnung wird in DIE AUSTERNPRINZESSIN das Mittel der Wiederholung erzählerisch-dramaturgisch eingesetzt. Nach Bergson ist die Wiederholung ein geläufiges Verfahren der klassischen Komödie, ein lustbringender Vorgang, in den hier Ossi verstrickt ist. Das Schlüsselloch, das den Flurbereich visuell mit Ossis Schlafgemach verbindet, wird im Film insgesamt dreimal inszeniert. Der voyeuristische Part des Heimlich-durchs-Schlüsselloch-Spähens wird zweimal von Josef belegt, der einmal die selig neben ihrem Teddybär schlafende Ossi und ein anderes Mal den wider Erwarten allein schlafenden Prinz Nucki sieht. Als zweiter Spanner schaut Ossis Vater durchs Loch, um den sexuellen Akt zwischen seiner Tochter und ihrem Ehemann Prinz Nucki zu beobachten – eine Art umgekehrte Urszene (Abb. 6). Hierbei wird ein Close-up seines schelmisch-lachenden Gesichts gezeigt, begleitet von Mr. Quakers im Filmverlauf vielfach wiederholter Aussage: »Das imponiert mir …!« Diesmal lässt er jedoch das »garnicht« aus, wodurch das Wiederholen-Müssen als Ausdruck für statische Langeweile endlich aufgehoben wird. Die mechanisch vorgetragene Redewendung wirkt in ihrer letzten, von Lachen begleiteten Ausführung aufweckend, elasti- Abb. 6: Umgekehrte Urszene sierend und die starren Gewohnheiten vitalisierend. Ein (Mit-)Lachen der Zuschauenden wird ermög-

24 Silberman, Marc: »Revolution, Power, and Desire in Ernst Lubitsch’s Madame Dubarry«, in: Dietrich Scheunemann (Hg.), Expressionist Film. New Perspectives, Rochester (NY) u.a.: Camden House 2003, S. 73-85. 79

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licht – genau in dem positiven Sinn, in dem Bergson dieses als wichtiges soziales Instrument definiert hat, um Erstarrungen, Rituale und andere Anzeichen von Deflexibilisierung aufzubrechen. Die Szene zeigt auch, dass sich die indifferente und gelangweilte Haltung des Vaters gegenüber seiner Tochter in Bewunderung transformiert hat – Bewunderung für ihren geschlechterspezifischen Übertritt und das stringente Verfolgen ihrer Ziele. Auch wenn das Schlüsselloch weniger hält, als es verspricht, steht es dennoch für Ossis Positionierung als Begehrende. Im heterosexuellen Geschlechterspiel übernimmt die unbefriedigte Ossi den aktiven Part und setzt damit die innerfilmischen, diegetischen Konflikte mit denjenigen in Gang, die dieser Verführung verfallen: Werbende, Ehemänner und Väter. Sie konkurriert in dieser Hinsicht mit den Männern, die sie zum Akt antreiben will. Ossis Stärke richtet sich also auf die Demontage der Geschlechterkategorie selbst: Sie blickt an, sie begehrt, sie verhält sich lasziv, sie hat sexuelle Gelüste. Mit Phantasie, Geld und unwiderstehlicher Erotik schaffe sie sich eine Welt mit eigenen Gesetzen, schreibt Herta-Elisabeth Renk.25 Dagegen werden die Männer, Josef und Prinz Nucki, als dem weiblichen Geschlecht gegenüber zurückhaltend, als indifferent bis impotent charakterisiert – Josefs kulinarisches Genießen am Hochzeitsabend kann als Surrogat für Sex gelesen werden. Lubitsch widersteht hiermit der klassischen Narrationsweise, in der Handlungsdynamik und Entscheidungskraft häufig vom männlichen Part ausgehen, sowie tradierten Bildern inaktiver Weiblichkeit. Nach Brandlmeier ist Lubitsch ein »Ökonom des Unterleibs«: Libidinöse Versuchungen würden gegen gesellschaftliche Normen ausgespielt. Sex erweise sich als subversiv in Bezug auf Stand, Macht, Moral und Ehe. Aus dem Überfluss kommend begehrt Ossi nur das Eine: einen Mann. Dieses Eine wird im Filmverlauf aber immer wieder metonymisiert und ersetzt: Mann, Diener, Ehemann, Teddybär, Prinz, Phallus, ein durch die Ehe legitimierter Bettgefährte, Penis oder auch Ossis Vater. Am Ende begehrt Ossi vielleicht nur das Begehren an sich – latent in Kombination mit Heirat. DIE AUSTERNPRINZESSIN installiert weibliches Begehren und Lust als dasjenige, was die Dynamiken des Unbewussten, hier in Form des Filmgeschehens, immer wieder anregt. 26 Die Lüste werden jedoch weder ausagiert noch filmisch ausbuchstabiert. Wie in anderen Filmen dieser Zeit, etwa den subtilen Homosexualitätsdarstellungen in Anders als die Anderen (D 1919) von Richard Oswald oder Geschlecht in Fesseln – Die Sexualnot der Gefangenen (D 1928) von Wilhelm Dieterle, ist die Darstellung des Begehrens in eine besondere Filmsprache der feinen Andeutungen, der ausge-

25 H.-E. Renk: Ernst Lubitsch, S. 33. 26 Siehe in Zusammenhang mit den »Aspekten des Begehrens«, »subjekthafter Sexualität« und »objekthaftem Fetisch der Dinge« auch Naumann, Michaela: Ernst Lubitsch. Aspekte des Begehrens, Marburg: Tectum 2008. 80

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sparten und ausgeblendeten Gesten eingelassen. 27 Diese zeichenhaften Momente des Begehrens, die anstelle von expliziten körperlichen Akten gezeigt wurden, wirken vor der Folie späterer, wesentlich offenerer Sichtbarkeitsverhältnisse eher verhalten, bedeuteten aber ebenso viel. Sex wird indirekt und leicht inszeniert, sodass er schwer fassbar scheint. Die Indirektheit funktioniert in DIE AUSTERNPRINZESSIN durch das ›Spiel zu dritt‹ zwischen Lubitsch, dem Film und dem Publikum, das den Film im »hermeneutischen Schichtbetrieb des Verstehens« 28 durch seine Rezeption und Bedeutungszuweisung allererst herstellt. In DIE AUSTERNPRINZESSIN wird die Ausgangskonstellation, welche die Geschlechter auf klassische Weise in dichotomer, binärer Spannung zueinander anordnet, am Ende des Films in der Vereinigung des heterosexuellen Liebespaars, das durch die Ehe legitimiert wird, affirmiert. Auf dem Weg hierhin werden hegemoniale Identitätskonstruktionen durch eine verschlungene Geschichte vielschichtiger Verkörperungen und Maskierungen Ossis und durch ihre Position als aktiv Begehrende teilweise umgeschrieben.

Schluss: Ossi oszilliert zwischen Emanzipation und Regression Das re-touching der Ossi-Figur hat gezeigt, dass in DIE AUSTERNPRINZESSIN traditionelle Geschlechtercodes überschritten werden – darin besteht die komödiantische und parodistische Qualität des Films, die die Extravaganzen, die Badeorgie und die sexuelle Freizügigkeit touchiert, ohne jedoch im Komödiantischen oder Parodistischen aufzugehen. Durch die märchenhafte Rahmung kann die filmische Erzählung eine Imagination präsentieren, die Machtrelationen als Prozess konfiguriert, der sexuelle Rollenverteilungen und -umverteilungen involviert. Hierdurch – und durch Lubitschs Touch – entsteht in DIE AUSTERNPRINZESSIN ein Raum, der ein gleichsam konsequenzfreies Übungsfeld für neuartige ambivalente, androgyne Positionierungen weiblicher Bildlichkeit und sich verändernde Geschlechteridentitäten und -definitionen bietet. Gerade durch die Dopplung von erotischer Erscheinung und jungenhaftem Benehmen platziert sich Ossi in einer Zone des Dazwischen: »Her position is inside and outside traditional femininity«29 . Ins Außerhalb setzen Ossi ihre spektakulären Momente des Exzesses und der Rollenübertretung, ih27 Siehe auch Köhne, Julia B.: »Moving Sex/Gender Images: Homosexualität und Cross-Dressing in deutschsprachigen Spielfilmen der 1920er- bis 1950er-Jahre«, in: Mitteilungen des Filmarchivs Austria 31 (2006): Sex is Cinema. Aufklären und Aufbegehren im Film der 1920er- und 1930er-Jahre, S. 51-62. 28 Vgl. Th. Ballhausen: Lubitsch/Touch/Screen, S. 1. 29 S. Hake: Passions and Deceptions, S. 93. 81

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re ›befreite Weiblichkeit‹, im Zuge derer sie als Subjekt begehrt. Ossi verbleibt innerhalb traditioneller weiblicher Rollengrenzen in Bezug auf ihr Fleisch-Zeigen, das Erscheinung-, Bild- und Schein-Sein in besonderem Maß verkörpert – zum Beispiel in der Badeszene. In DIE AUSTERNPRINZESSIN werden Ambivalenzen enthüllt, die den sozialen Umbruch, die Suche nach geschlechterspezifischer und nationaler Identität sowie Mythisierungen der ›Neuen Frau‹ in der Nachkriegszeit begleiteten. DIE AUSTERNPRINZESSIN erzählt im Wortsinn aus der Schlüssellochperspektive. Bleibt der sexuelle Akt per se durch Verhinderung, Aussparung und Andeutung auch unsichtbar und dem Blick der Zuschauenden entzogen, so entsteht mittels dieser Techniken Raum für neue geschlechtliche Bedeutungsproduktionen. Oberflächlich betrachtet sprach Lubitsch damit die eskapistischen Wünsche seines Publikums an, wie Kracauer vermutete. 30 DIE AUSTERNPRINZESSIN fährt jedoch (mindestens) doppelgleisig: Einerseits ermöglicht der Film eine imaginäre Sehnsuchtsbefriedigung in der identifizierenden, projizierenden Wahrnehmung des luxuriös und erotisch aufgeladenen Leinwandgeschehens – Adel, Prunk, Erotik, Exzess. Andererseits wählt er eine emanzipierte Frauengestalt mit exzeptionellem Status, die die ›männliche Blickperspektive‹, die fetischisierende, idealisierende Betrachtung, mal erlaubt und mal vereitelt, was sie anschlussfähig für heutige feministische (Film-)Theorien und Geschlechterforschung macht. Das Vereiteln ist in den hyperemanzipierten Gebärden Ossis begründet, die mit ästhetisch-narrativen Taktiken der Wiederholung, Überzeichnung und Transgression gekoppelt werden und das der weiblichen Position zugewiesene Fläche-Sein verwehren. In DIE AUSTERNPRINZESSIN wird durch die Surrealität des Filmentwurfs das ästhetische Spiel mit den Geschlechterrollen und Zeichensystemen befördert. Durch Ironisierungen und Verwechslungen werden starre Identitätsfunktionen infrage gestellt, die identitäre Beweglichkeit der Zuschauenden ermöglicht und Geschlechterkonstruktionen als soziale Mythen und, mit Judith Butler gesprochen, »kulturelle Fiktionen« ausgestellt und damit kritisierbar gemacht. Am Ende bleibt die Frage offen, ob die (temporäre) Erschütterung von Rollenfunktionen DIE AUSTERNPRINZESSIN in die Nähe von Subversion und Transgression der Geschlechterkategorie rückt oder ob die übertrieben-komische Figur Ossi dem Dekonstruktionsanspruch feministischer Theorie etwas schuldig bleibt.

30 S. Kracauer: »Der Schock der Freiheit«, S. 64. 82

Die Geschichte. Doppelt belichtet MARTIN BURCKHARDT

Man habe, so hat ein Fotokünstler einmal gesagt, die Fotografie erfunden, um die Existenz von Geistern beweisen zu können. Neigt man der Meinung zu, dass die Geschichte in säkularer Absicht voranschreitet, ja, dass die Wissenschaft ein Säurebad ist, in dem sich die alten Glaubensweisheiten in nichts auflösen, verkündet dieses Diktum das Gegenteil: eine befremdliche Neigung zum modernen Phantasma. Hier von Aufklärung zu sprechen, wäre absurd, ebenso wie es unangebracht wäre, solch aufgeklärten Spiritismus als Paradies der Ewiggestrigen zu denunzieren. Bietet uns die Technosophie des späten 19. Jahrhunderts tatsächlich eine Vielzahl höchst befremdlicher Exempel (fliegende Jungfrauen, transluzente Geisterwesen und dergleichen), so wissen wir seit Altmeister Hitchcock, dass nichts so unmöglich ist wie die filmische Darstellung eines Zaubertricks. Denn das Publikum hat längst gelernt, dass der Film eine Maschine zum Träumen darstellt und von daher ein grundlegender Zweifel geboten ist. Hat unser Alltagsverstand sich daran gewöhnt, die special effects auf der Kinoleinwand nicht für bare Münze zu nehmen, ist es vergleichsweise schwer, den intellektuellen Selbstverzauberungsformeln auf den Grund zu kommen. Dies hat auch damit zu tun, dass man es hier nicht mit plumpen Fotomontagen und raunender Geisterbeschwörung zu tun hat, sondern mit dem Willen der reinen Vernunft und einem Logozentrismus, der einen Großteil seiner Energie darauf verschwendet, seine blankgeputzten Begriffe von jeglicher Wirklichkeitsanhaftung freizuhalten. Insofern haben die Geister, die unsere Systemdenker zu beweisen versuchen, nichts gemein mit den Spukgestalten unserer Kindheitsalpträume. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass es den fraglichen Geistern an Körperlichkeit fehlt. So besehen trifft das kleine Aperçu des Fotokünstlers durchaus ins Schwarze, macht es doch klar, dass man es bei der Fotografie nicht mit einem Widerspiegelungsmedium, sondern vielmehr mit einem Bildgebungsverfahren zu tun hat, bei der die Wunschgebilde des Geistes in eine sichtbare, beweiskräftige Form überführt 83

MARTIN BURCKHARDT

werden. So wie der Spiritist kein Interesse daran hat, seine Fälschung als solche entlarvt zu sehen, hat der Systemdenker kein Interesse daran, seine schönen Gebilde als bloße Bildeffekte bloßgestellt zu sehen. Wo das 19. Jahrhundert fliegende Jungfrauen sah, herrschen nunmehr abstrakte Konzepte – Geistwesen, deren Signatur es ist, dass sie immer schon dagewesen sein sollen. Wesen ohne Geschichte. Es ist kein Zufall, dass einer der vielen Filme, die die junge Regisseurin Christina von Braun gemacht hat, sich mit dem Machbarkeitswahn des ewigen Lebens beschäftigt, namentlich mit jener sonderbaren Sekte der Cryonics, die sich einfrieren ließen, um sich später, im Vertrauen auf den Fortschritt der Wissenschaft, zur Verewigung ihres Erdenlebens wieder auftauen zu lassen. Wenn dieser Film den wunderbaren Titel Zum Sterben muss man geboren sein trägt, so beschreibt er nicht nur seinen Gegenstand, sondern stellt darüber hinaus so etwas wie eine Grundposition oder genauer die Widerstandshaltung der Autorin dar. Denn in der geduldigen, fast kommentarlosen Schilderung der technoiden Ewigkeitsphantasie tritt die Absurdität des Unterfangens hervor. Das Publikum begreift, wovor die Cryonics die Augen verschließen: Alle Geschichte spielt sich zwischen Geburt und Tod ab, es ist eine Geschichte, die ohne den Körper nicht auskommt. Genau diese Verheißung aber ist es, welche die Spiritisten der Aufklärung predigen. Wenn in der radikal säkularisierten Geschichte nur Rationalität, Logik und Wissenschaft gelten, wenn allein die (Begriffs-)Maschinen des reinen Geistes surren sollen, so läuft dies auf die Verleugnung des pathetischen Selbst hinaus, das mit der eigenen Sterblichkeit leben muss. Mehr noch: Es erfordert die Verleugnung jener Geschichte, in der man zum Sterben geboren sein muss. Und weil sich letztlich alle Geschichten auf Geburt und Tod, Aufstieg und Niedergang reimen, ist verständlich, dass die Geschichte selbst zum Fremdkörper werden muss, zu einer Widrigkeit, die es für alle Ewigkeit zu suspendieren gilt. Jedoch sind es nicht nur die, befremdlicherweise als Lebenswissenschaften titulierten, Naturwissenschaften allein, die zum Angriff auf die übrige Zeit ansetzen. Auch in jener Disziplin, die sich der Vergangenheitsbewältigung annimmt, der Geschichte selbst, waltet eine Tendenz, die Vergangenheit gleichsam kaltzustellen. In einem übertragenen Sinne entspricht die retroaktive Aneignung der Vergangenheit dem cryonischen Vereisungsmodell, besteht das Erkenntnisinteresse vor allem darin, das tote Material zur Befestigung gegenwärtiger Begriffe zu instrumentalisieren. So besehen ist es nicht verwunderlich, dass in den Bildern, die wir uns von der Geschichte machen, eine bedenkliche Neigung zur einfältigen Unzweideutigkeit herrscht. Hier die Epoche der Renaissance, das Mittelalter, dort die Antike. Alles an seinem Platz, indiziert, lexikalisiert, erledigt. In diesem Sinn ist der gnadenlose Geschichtspositivismus, in dem sich Sammel- und Zergliederungswut paaren, vor allem eine Barrikade, die gegen das Geschehene in Stellung gebracht 84

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wird. Aber wenn das Bild seinem Gegenstand nur so nah kommen kann, wie der Entomologe dem aufgespießten Schmetterling nahekommt, so besteht seine eigentliche Absicht – im Abwehrzauber. Oder im Bannfluch. Und so seine eigentliche, unterschwellige Botschaft: Das bin nicht ich. Das hat mit mir nicht das Geringste zu tun! Aber ein Abwehrzauber bleibt doch immer noch Zauber, ein Bannfluch bleibt der Beleg dafür, dass man noch immer unter dem Bann steht. Mag man in Fußnoten leicht über Gräber dahinschreiten, mag das ausgebreitete Material jene exotische Fremdheit atmen, die an das schöne Kleid des Schmetterlings gemahnt, so lauert hinter dem Ornament doch eine finstere Drohung. Denn eine Geschichte, in der weder Leben noch Sterben vorkommen darf, kann nicht zu Ende gehen. Also kehrt sie zurück, wie das Verdrängte zurückkehrt, hinterrücks, in anderer und unverhoffter Gestalt. Wie der ewige Jude, der vom antisemitischen Ressentiment in die unterschiedlichsten Kostüme gesteckt und auf seine Irrfahrt durch Zeit und Raum geschickt worden ist, hat man es bei vielen der zeitgenössischen Konzepte mit gedanklichen Dauerbrennern zu tun, Treppenwitzen der Kulturgeschichte, die sich von Generation zu Generation weitergeschrieben und so eine Art mächtiger Unterströmung erzeugt haben. Dieser Strom bildet ein soziales Magma, das die Gesellschaft eruptiv heimsucht, in Gestalt eines namenlosen Bilder- und Gedankenstroms, der sich mit Macht über die Lebenden ergießt. Tatsächlich ist der Ewigkeitswahn keine Erfindung der Moderne allein, sowenig wie die Moderne sich der Verführungen der Vergangenheit entschlagen kann. Schaut man genauer hin, sieht man, dass die Träume der Gegenwart schon Generationen alt sind, ja, dass sie so lange geträumt worden sind, dass sie irgendwann als Realität haben durchgehen können. In diesem Sinne ähnelt, was die Kultur als objektive Wahrheit vor sich ausbreiten mag, jenem Wahrheitsspiegel, in den die böse Königin des Märchens hineinschaut – und dessen Funktion allein darin besteht, die eigene Schönheit (und Unvergänglichkeit) zu testieren. Vielleicht sollte man, wie der Volksmund von einem zweiten Gesicht spricht, auch in der Sphäre des Intellektuellen von einem zweiten Blick sprechen (was, wörtlich genommen, ohnehin auf dasselbe hinausläuft). Nur verrät dieser zweite Blick kein besonderes Sensorium, oder sollte man sagen: keine besondere Anfälligkeit? für das Übersinnliche. Ganz im Gegenteil: Der zweite Blick entsteht im blinden Fleck der Betrachtung. Er entsteht dort, wo die Stimme des Vortragenden vom globus hystericus heimgesucht wird, er blitzt dort auf, wo der nüchterne Diskurs des Virologen plötzlich in den Mutterschoß flüchtet oder die Misogynie zur Philosophie adeln will. In diesem Sinn fügt der zweite Blick der Sache nicht das Geringste hinzu, sondern kehrt einfach die Blickrichtung um. Weshalb, so lautet seine Frage, taucht genau an dieser Stelle dieses Bild, diese Metapher auf? Wie kommt es überhaupt, dass hier, wo man sich auf die Ausnüchterung der Begriffe geeinigt hat, plötzlich 85

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durchsexualisierte Metaphern aufscheinen? Könnte es sein, dass die Metapher überhaupt konstitutiv für den Diskurs ist? Mag sein, dass der brave Wissenschaftsarbeiter, der sich ein Leben lang mit seinem höchst begrenzten Vorgarten beschäftigt hat, hier eine gewisse Überheblichkeit monieren wird, mag sein, dass er dagegen protestieren und erklären wird, wie unerhört gewagt es doch sei, die DNS mit dem Alphabet und dem mittelalterlichen Transsubstantiationswunder zusammenzudenken. Aber dieser Einwand ist falsch, denn er geht an der Tatsache vorbei, dass der Diskurs sich genau dieser metaphorischen Batterien bedient – und dass allein sie es sind, die diesen Zusammenhang herstellen. Die Bilder, die man zur Exemplifizierung einer These heranzieht, sind so bedeutsam wie die Geistererscheinungen auf den Fotografien, denn sie geben dem Gesamtbild die Lesart vor. Insofern die Metapher den Ordnungsrahmen setzt, markiert sie das Feld des Erfahrbaren selbst, die Episteme. So wie es keine Geschichte gibt ohne Leben und Tod, gibt es keine Wissenschaft ohne die, die sie betreiben – denn es sind ihre Phantasien und Wünsche, die sich in ihre Arbeiten einschreiben. Und in dem Maße, in dem dies unkontrolliert und ohne Selbstreflexion geschieht, schmuggeln sich die Geister der Vergangenheit in das Bild. Insofern geht es (auch wenn sich der Eindruck gelegentlich einstellen mag) nicht um irgendeine Form der Geschichtsphilosophie, sondern im Gegenteil: um die Erdung der Geschichte, um ihre Rückführung an das körperliche Erleben. Vielleicht aber ist die Unmittelbarkeit, das Beharren auf dem eigenen Blick, die größte aller Unmöglichkeiten. Wie viele Filme haben sich unserer Netzhaut eingeschrieben, wie viele Bücher haben sich unserer Phantasie und unserer Träume bemächtigt, wie häufig schon sind wir aus unserer Haut gefahren? Ja, ist nicht gerade dieses Aus-der-Haut-Fahren, diese emphatisch bejahte Uneigentlichkeit, der eigentliche Alltagszustand? Insofern wäre die radikalste aller Entfremdungsvorstellungen vielleicht, dass man beim Blick in den Spiegel schon gar nicht mehr merkt, dass hier nicht der eigene Blick, sondern eine fremde Macht waltet. Wenn es eine Unwahrscheinlichkeit gibt, die noch unwahrscheinlicher ist als das Märchen, so liegt sie in dem Augenblick, in dem die Königin in ihren Spiegel schaute und begriffe, dass dieser Wahrheitsspiegel nichts anderes als der lügnerische Souffleur der eigenen Todes- und Vergänglichkeitsangst ist. Hat man dies vor Augen, begreift man, dass das Eigene und das Fremde, Ich und Nicht-Ich nicht so sehr Körpergewissheiten sind als vielmehr Gesellschaftskostüme, Bilder, die man begehrt und verwirft, bejaht und verneint. Wenn sich der zweite Blick also der Geschichte zuwendet, so kann es hier nicht so sehr um das Individuum gehen, als vielmehr um jene großen Projektoren, die ihm vorausgehen, ja die das Verständnis, was das Eigene und das Fremde ist, überhaupt erst modellieren. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Geschichte der Christina von Braun mit einer Kamera beginnt. Die Kamera ist kein Mittel, sondern – wie das la86

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teinische medium – ein öffentlicher Raum. So wie es keine Privatsprache gibt, so wenig gibt es ein Bild, das sich nur auf eine einzelne Person bezieht. Bilder sind, in den Zeiten der Massenmobilmachung zumal, soziale Verständigungsformen. Lässt man sich auf sie ein, führen sie notwendig in jene dunkle Kammer hinein, die unsere Geheimnisse birgt, bricht und strahlend verformt wieder ans Licht treten lässt. Spätestens im Schneideraum begegnet man der Zweideutigkeit des Bildes, seiner Biegsamkeit, den Schnittmustern des kollektiven Bildverständnisses. Wenn ein Bild mehr sagt (oder mehr lügt) als tausend Worte, so weil die Bilder bereits geronnene Theorien sind. Nein, der Schneideraum ist kein unschuldiger Ort, so wenig wie die Dunkelkammer noch als platonische Höhle durchgehen kann. Nicht das Licht eines Gottes scheint hier, sondern Fragen der kollektiven Bestrahlung stehen auf dem Panier. Die Bilder und Gleichnisse, die in dieser Kunstlicht-Höhle entstehen, fallen auf ihren Urheber zurück. Wie leicht ist es doch, jene Bilder zu produzieren, die alle Welt kennt! Und wie schwer, den Zweifel am Bild zum Bild selbst werden zu lassen. Tatsächlich nimmt die besondere Kunst der Christina von Braun hier ihren Ausgang. Hier, wo der Schnitt und der theoretische Akt gewissermaßen ins eins fallen, wo jede Kamera-Einstellung auch eine moralische Einstellung darstellt, formt sich etwas ganz Unerhörtes, gelingt es ihr doch, die Bilder zum Sprechen zu bringen. Mag die Fotografie erfunden worden sein, um die Existenz von Geistern beweisen zu können, ihre Filmessays lassen sich als fortgesetzte Bildentschlüsselungen lesen, als ebenso gelungene wie seltene Versuche, aus der Macht der Bilder (und des kollektiven Unbewussten) herauszutreten. Tatsächlich hat Christina von Brauns Unempfindlichkeit, was theoretische Großentwürfe und Zauberformeln anbelangt, tief mit dieser filmischen Selbsterziehung zu tun, mit der Tatsache, dass sie es sich niemals erlaubt hat, mit den Schnittmustern des kollektiven Unbewussten bloß zu spielen. Gleichwohl ist die mediale Frage (als Möglichkeit und Verführungsapparatur) von Anbeginn präsent, steht die Frage im Raum, ob und inwieweit man den Kinosaal als Reperkussion, vielleicht sogar als Geburtsstätte eines kollektiven Unbewussten auffassen kann. Vergegenwärtigt man sich, wie schwer sich Freud mit dieser Frage getan hat, wie leichtfertig sich demgegenüber andere Denker in die Verewigung von Archetypen (und Geschlechtsmustern) geflüchtet haben, kommt hier ein Bereich der Psychoanalyse in den Blick, der in der Fixierung auf das Individuum wenig Beachtung gefunden hat: die Medien als Aggregate, wenn nicht gar als Träger eines kollektiven Unbewussten. Wenn der Film die Imago ist, in der sich der Einzelne wiederfindet, steht man dem Schnittmuster eines modernen Unbewussten gegenüber. Dieses Unbewusste freilich hat nur zum Teil mit der Heiligen Familie zu tun, dem klassischen Setting von Papa, Mama und Kind. Es wird vielmehr sichtbar als eine

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kollektive Bildgebungsapparatur, die den Gesetzen des Mediums gehorcht und nur die Geister zulässt, die den Gesetzen des Mediums entsprechen. Gleichwohl führt uns die Geschichte der Medien doch vor, dass die je historischen Techniken unterschiedliche Befindlichkeiten und Phantasmen auf den Plan rufen. Wenn die Geister, die man ruft, sich mit Vorliebe der je avanciertesten Medien und Gadgets bedienen, bezeugt dies im Umkehrschluss, dass das Unbewusste nicht immer schon Kinogänger gewesen ist. Mehr noch: Es bezeugt, dass die Idee eines perennierenden Unbewussten, das sich aller Welt und Geschichte verschließt (die Urhorde wie uns, wie Freud selbst dieses Gebilde genannt hat), auf die letztlich unhaltbare Verewigung eines Deutungsmusters hinausläuft. Gewiss: ein solches Deutungsmuster ist cool (nicht zuletzt deswegen, weil es Macht über den Gegenstand verheißt), aber an dieser Macht ist der Theoretikerin so wenig gelegen, wie sie den Verheißungen der Cryonics hat Glauben schenken können. Nicht darum, die Existenz eines Geistes zu beweisen, geht es ihr, sondern allein darum, sich der Macht der Geister zu entledigen. Wäre das Attribut nicht schon so abgenutzt, könnte man tatsächlich von einem aufklärerischen Impuls sprechen – einer solch rechtschaffenen Skepsis jedenfalls, dass sie nicht davor zurückschreckt, sich auch über die Phantasmen der ›Aufklärung‹ aufklären zu wollen. Ist Christina von Braun schon in ihrem Nicht ich den Weg zu den Ursprüngen der ›Phallosophie‹ gegangen, so beginnt nun so etwas wie eine mediale Anamnese: die gründliche Rekonstruktion jener Phantasmen, die die Gegenwart beherrschen. Dieser Weg führt tief in die Kulturgeschichte zurück, in Bereiche, die ansonsten eher als terra incognita gelten und die man, weil es allzu peinlich sein könnte, allzu gern in die Welt der Bilder verweist. Da geht es um die Mythen des Blutes und die Mythen der Schrift, um die Trennung von Soma und Sema, um die Frage, was der jüdische und der christliche Monotheismus mit dem jeweiligen Alphabet gemein haben. Mögen die Wissensfelder mit einem bloß positivistischen Blick nur schwer auf einen Nenner gebracht werden, so erschließt sich die Fragestellung doch unmittelbar, wenn man sich die junge Filmemacherin vor Augen hält, die sich über die Selbstverewigungsphantasien ihrer Zeitgenossen verwundert. Dabei bezieht sich diese Verwunderung nicht bloß auf die bizarre Coolness einiger weniger Zeitgenossen, sondern nimmt die Verewigungsansprüche des Kollektivkörpers in den Blick. Und plötzlich fügt sich, was vorher Geistesgegenwart war, ein ebenso schnelles wie tiefes Erfassen verschiedenster Einzelgegenstände, zu einer großen kulturwissenschaftlichen Fragestellung. Mit der Frage des Antisemitismus, der Gender-Problematik, den Selbstermächtigungsphantasien im Zeichen der Schrift entsteht ein Tableau, das es in dieser Form zuvor nicht gegeben hat – und das mit der üblichen akademischen Kleingärtnerei wenig gemein hat. Mögen sich viele Kulturgeschichten am Exotismus ihres Gegenstands delektieren, hat man es bei Christina von Braun stets mit einer radikal gegenwärti88

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gen Fragestellung zu tun. Aber genau dies ist ihr Ziel: Geistesgegenwart, im umfänglichsten, vieldeutigsten Sinne des Wortes. Insofern schließt diese Geistesgegenwart nicht nur die intellektuelle Reaktionsfähigkeit ein, sondern bedeutet vor allem: ein Wissen um die Präsenz jener Geistergebilde, die unsere Kultur, in ihrem Fortgang, in die Welt entlassen hat und die uns auch heute (wenn auch gelegentlich in stummer, institutionell-versteinerter Form) noch immer umgeben. In der Kulturgeschichte der Christina von Braun verwandelt sich der erkaltete Strom der Überlieferung zu einer heißen Frage zurück, gelingt es ihr doch deutlich zu machen, dass vieles, was wir für bare Münze nehmen, noch immer eine offene Frage, nicht selten gar eine klaffende Wunde ist. Denn das Magma des Sozialen ist weder Gottesgabe noch Naturtatsache, sondern vor allem das Werk der Menschen. Begreift man dies, tritt man aus dem Bann der Geschichte heraus. Aber nur indem dies geschieht, verlieren Geister jene unheimliche Macht, die uns zwingt, jene WiedergängerGeschichte zu wiederholen, in der es weder den Tod noch das Leben geben darf. Ich weiß nicht, ob es richtig wäre, zu sagen, dass ihr Denken Schule gemacht hat. Zweifellos gibt es kaum einen Aufsatz mehr, in dem nicht von der ›Zuschreibung‹, von ›sozialen Konstrukten‹ und dergleichen die Rede ist. In diesem Sinne spricht die Reperkussion, das intellektuelle Echo, das ihrem Denken und Lehren beschieden ist, eine eindeutige Sprache, könnte sie Referenzen vorweisen, die mancher Forscherkarriere als das Höchste, ja als Ziel aller akademischen Wünsche vorkommen könnten. Nun sollte man sich keinesfalls anheischig machen, der Universität eine ihrer größten Zierden abzusprechen. Dennoch würde ich diesen Beitrag nicht der Universität, sondern ausschließlich der Person widmen wollen. Als intellektuelles und zugleich körperliches Ereignis verrät der zweite Blick der Christina von Braun etwas ganz anderes, Hochpersönliches: einen Akt der Widerspenstigkeit, eine Unbestechlichkeit und eine Autonomie, die sich der schnellen kollektiven Einverleibung entzieht. Mag ihr Schreiben, wie sie einmal gesagt hat, dem Impuls entsprungen sein, sich die Welt vom Leib zu halten, so gibt es doch so etwas wie eine Leidenschaft dahinter: die Bereitschaft, jede Frage nicht mit der professionellen Kälte der Wissenschaftlerin anzugehen, sondern mit der ganzen Person. Darin aber liegt das Unerhörte, die große Wirkung, die ihrer Arbeit, aber vor allem ihrer Person beschieden ist. Denn ihr Denken ist aus einem radikalen, hochpersönlichen Zweifel hervorgegangen. Mögen die meisten Theorien, die ans Tageslicht treten, sich an lichtlosen Ungeheuern aus der Bibliothek genährt haben, gibt es in ihrem Denken keinen anderen Vorläufer als – das eigene Leben. Und die Bereitschaft, sich den Fragen auszusetzen, so wie sie kommen, radikal und persönlich und ohne Zuflucht zu einer sanftgnädigen Mutter oder einem strafenden Vater nehmen zu müssen. Insofern atmen ihre Gedanken eine große Freiheit. Es ist – und das ist vielleicht das 89

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Schönste, was man von einem Menschen sagen kann – die Freiheit, mit dem Herzen denken zu können.

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Zwischen ranziger Butter und Kälte oder Alltag und Exzess in der Prosa Marieluise Fleißers BOĩENA CHOàUJ

Theo Buck weist in seinem Artikel über Marieluise Fleißers Sprache auf das Konkret-Alltägliche hin, aus dem die Autorin »das Exemplarische herausbe1 kommt«, welches sie »sprachlich dingfest macht«. »Untergangsgeschichten aus dem Alltag« nennt Moray McGowan Fleißers Erzählungen aus den Jahren 2 1923-26. »Verhangen in ihrem gegenwärtigen Alltag, entziffert sie dessen Schwere in den Leibern und Stimmen ihrer Figuren«, schreibt Günther Rühle. 3 Keiner dieser Autoren führt seine Bemerkungen über die Alltagsproblematik in Fleißers Schriften jedoch detailliert aus. Sogar Gisela von Wysocki, die Marieluise Fleißer die »genaueste Analytikerin« des Alltagslebens nennt, beschäftigt sich nicht näher mit diesem Thema. Die Alltagsproblematik ist aber gerade das, wodurch Fleißers Schaffen Ende der 60er Jahre besonders interessant wurde, obwohl sie die meisten ihrer Werke vor dem Zweiten Weltkrieg geschrieben hatte. Einer der Gründe dafür ist, dass das Lese- und Theaterpublikum politischer Auseinandersetzungen in den Werken etwa von Heinar Kipphardt, Martin Walser und Peter Weiss müde wurde und sich vom politischen Drama abzuwenden begann. Fleißer konnte daher mit Fassbinders Inszenierung ihres 1928 uraufgeführten Stücks Pioniere in Ingolstadt 1968 wieder ins Licht der Aufmerksamkeit rücken. Ihre längere Schweigepause4 1 2 3

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Buck, Theo: Interpretationen zu Bertolt Brecht. Parabel und episches Theater, Stuttgart: Klett-Cotta 1979, S. 35. McGowan, Moray: Marieluise Fleißer, München: Beck 1987, S. 38. Rühle, Günther: »Rückblick auf das Leben und Schreiben der Marieluise Fleißer. Nachwort«, in: Marieluise Fleißer, Gesammelte Werke, Bd. 4, hg. von Günther Rühle, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 549-570, hier S. 549. Fleißers Schweigen war meiner Meinung nach nicht nur damit verbunden, dass sie im nationalsozialistischen Regime unter einem Schreibverbot lebte. Sie vergrub sich für diese Zeit in die Ehe mit einem Tabakhändler, Bepp Haindl, dessen 91

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hatte sie zwar Anfang der 60er Jahre mit der Erzählung Avantgarde gebrochen. Diese wurde jedoch einzig als Angriff auf Brecht missverstanden und konnte daher keine intensivere Rezeption ihres bisherigen Schaffens initiieren. Dazu bedurfte es einer Anknüpfung an die Vorkriegsphase, als sie mit der von Brecht stark beeinflussten Aufführung der Pioniere in Ingolstadt großes Aufsehen erregt hatte. 1968 sollte sich der Theaterskandal von 1929 – verursacht durch die explizite Darstellung von Sexualität auf der Bühne – jedoch nicht wiederholen.5 Das bundesrepublikanische Publikum wusste Fleißers Darstellung des kleinstädtischen Milieus zu schätzen. Das Odium der Nestbeschmutzerin war ihr somit genommen. In ihren Werken konzentrierte sich Fleißer stets auf ihre persönlichen Erlebnisse. Da sie diese kaum zu verschlüsseln suchte, wird ihr Schaffen immer wieder in engem Zusammenhang mit ihrer Biographie gesehen.6 Die feministische Literaturforschung nimmt das als Beleg dafür, dass sie das Postulat der Schöpfung aus der persönlichen Erfahrung realisiert habe, bevor es in der Frauenforschung programmatisch formuliert worden war. Ihre Literarisierung des Selbsterlebten verlieh dem Individuellen ansatzweise bereits jene öffentliche Bedeutung, die ihm erst später unter der Losung ›Das Private ist politisch‹ in größerem Umfang zuteil werden sollte. Auch in der nichtfeministischen Forschung wird immer wieder betont, dass Fleißer als Betroffene geschrieben habe, was entweder als Vorteil oder als Nachteil ausgelegt wird, je nachdem, welche ästhetischen Prinzipien von den jeweiligen ForscherInnen und InterpretInnen vertreten werden. Günther Rühle findet, dass es wegen des persönlichen Bezugs in Fleißers Werk »nichts an literarischer Planung, an Konzeption, an zusammenhängenden Entwürfen« gebe.7 Diese Feststellung scheint mit

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Haushalt sie bis zu seinem Tode führte und dem sie im Geschäft half, wo sie keinen interessanten Stoff für ihr literarisches Schaffen finden konnte. Das Stück wurde am Berliner Schiffbauerdamm-Theater unter der offiziellen Regie von Jakob Geis aufgeführt, der alle Eingriffe Brechts hineingearbeitet hatte. Brecht gewann auch Fleißer dafür, auf eine durchgehende Handlung zu verzichten. Er radikalisierte all die Szenen, in denen es um die Geschlechterproblematik geht, und setzte auch durch, dass auf der Bühne ein Geschlechtsakt in einer Kiste inszeniert wurde, was das Publikum besonders schockierte. Siehe u.a. Rühle, Günther (Hg.): Materialien zum Leben und Schreiben der Marieluise Fleißer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973; Schonauer, Franz: »Marieluise Fleißer aus Ingolstadt«, in: Text + Kritik 64 (1979), Themenheft »Marieluise Fleißer«, S. 3-11; Cocalis, Susan L.: »Weib ohne Wirklichkeit, Welt ohne Weiblichkeit. Zum Selbst-, Frauen- und Gesellschaftsbild im Frühwerk Marieluise Fleißers«, in: Irmela von der Lühe (Hg.), Entwürfe von Frauen in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Berlin: Argument 1982, S. 64-85. Den Bezug auf Fleißers Biographie, die inzwischen von Rühle, McGowan und Tax ausführlich behandelt worden ist, lasse ich bewusst außer acht, denn er versperrt oft den Zugang zu Strukturen, die in Fleißers Werken erst dann zum Vorschein kommen, wenn man sich nicht auf ihre Biographie konzentriert. G. Rühle: »Rückblick«, S. 550.

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ihrem Bekenntnis von 1963 zu korrespondieren: »Meine Geschichten kommen aus dem Dunkeln. Ich kann mir nichts mit Absicht vornehmen, ich kann nichts erzwingen. Es sind Menschen und Situationen in mir, sie bedrängen mich«. 8 Die Bedrängnis hat wenig mit dem ›Es‹ und dem ›Unbewussten‹ im freudschen Sinne zu tun, wie Rühle suggeriert, sondern sie ergibt sich eher – wenn wir bei Freuds Kategorien bleiben wollen – aus dem ›Über-Ich‹, das heißt den verinnerlichten Normen, die die Frauen in der Gesellschaft benachteiligen, und aus dem Leid, von dem die Autorin selbst mehrmals betroffen wurde. Dieses Leid ergab sich meistens aus dem Konflikt zwischen dem Wunsch danach, literarisch aktiv zu sein, und den Alltagspflichten von Frauen ihren Familien gegenüber. Dieser Konflikt, wie Fleißer zeigt, ist für die weibliche und nicht für die männliche Existenz charakteristisch. Der Alltag der Frauen ist ein Raum für Reproduktionsarbeit, für Haushalt und Familie, für künstlerische Tätigkeit gibt es darin keine Kapazitäten mehr.

»In die Enge geht alles«. Die Suche nach Freiräumen Günther Rühle meint, dass Fleißer sich etwas »von der Seele« 9 geschrieben habe. Und darin ist er keine Ausnahme unter den LiteraturwissenschaftlerInnen, die ihre Erzählungen deswegen als weniger bedeutend einschätzen, weil sie zu persönlich seien. Sie erkennen nicht, dass sie mit der Überakzentuierung des Biographischen die Erzählart aus dem Blickfeld verlieren. Diese beruht darauf, dass zu dem Dargestellten jedesmal eine besondere Distanz aufgebaut wird. Fleißer bewerkstelligt dies, indem sie immer wieder direkte, verallgemeinernde Bemerkungen über die Lebenssituation der Frauen insgesamt oder die einer bestimmten Protagonistin formuliert. Ihre auktoriale Erzählweise trägt dazu bei, dass man sich bei der Lektüre des Eindrucks nicht erwehren kann, man habe es mit einer besonderen Diagnose, ja Erkenntnis zu tun, die paradoxerweise im Gegensatz zu dem dargestellten Schicksal und der Verhaltensweise der fleißerschen Frauenfiguren steht. Zwischen dem erzählerischen Zugriff und der Handlung besteht eine Kluft. Die Erzählerin ist in den meisten Texten klüger als die dargestellten Frauen, die mit ihren jeweiligen Schicksalen ringen.10 Trotz guter Vorsätze geraten sie permanent in Unter-

8 G. Rühle: Materialien, S. 342. 9 Ebd., S. 140. 10 Fleißers Prosatexte können deswegen als ein Stück weiblicher Mentalitätsgeschichte gelesen werden. Peter Beicken schreibt, dass »der allgemeine gesellschaftliche Bewusstseinsprozess dem Demokratisierungsversuch freilich noch stark hinterherhinkte, wie die Widerspiegelung dieser Verhältnisse und vor allem der noch vorherrschenden Mentalität Frauen gegenüber in den Werken der 93

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werfung und Abhängigkeit, um dann ihre stillen Kämpfe um Autonomie zu führen, wie das in dem Roman Mehlreisende Frieda Geier (1931) der Fall ist, wo eine Frau den Haushalt vernachlässigt und meint, dass Männer zugrunde gerichtet werden müssten, bevor sie die Frauen vernichteten, oder in dem Romanfragment In die Enge geht alles (1961/62), in welchem eine Frau beschrieben wird, die abends spazieren geht, bis ihre Familie im Bett ist. Erst dann kehrt sie nach Hause zurück, um endlich das »Zimmer allein« 11 zum Lesen zu haben. Obwohl diese Wendung suggestiv an den Titel von Virginia Woolfs Essay Ein Zimmer für sich allein erinnert, 12 enthält sie mehr als nur den Traum von einem Raum für geistige Aktivität. Bei Woolf wird die Einschränkung der Frauen durch die weiblichen Pflichten kaum thematisiert, die bei Fleißer im Hintergrund permanent gegenwärtig ist.13 Ihre Protagonistin will das Zimmer für sich allein haben, das heißt ohne die anderen, die sonst da sind. Wenn diese wach sind, hat sie ihre häuslichen Pflichten zu erfüllen. Erst abends kann sie dem nachgehen, was sie wirklich mag. Während ihrer abendlichen Spaziergänge riskiert sie Einiges, wie die Erzählerin andeutet. Sie setzt sich »sogar auf die einsame Bank« und hat, wie es einen Satz früher heißt, »keine Angst«. Wovor sollte sie Angst haben? Eine Seite weiter lesen wir: »Auf der Bank schaute sie nicht links und nicht rechts, bloß den schwachen Hang hinunter über die gleitende Donau hinweg, sie hörte nicht auf die Tritte, hielten sie einen Augenblick ein, kamen sie zögernd nah und gingen dann doch vorüber, sie saß in ihrem Kern und nach innen gewandt«. 14

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Autorinnen belegen«. Beicken, Peter: »Weiblicher Pionier Marieluise Fleißer – oder Zur Situation schreibender Frauen in der Weimarer Zeit«, in: die horen 132 (1983), S. 45-61, hier S. 45. Während er diese Situation von der Außenperspektive charakterisiert, die zum »Verwirrspiel der Alternativen«, zu den »Positionsverschiebungen der zerfallenden bürgerlichen Gesellschaft« geführt habe, tat es Fleißer von der Innenseite, indem sie Geschlechterbeziehungen in Bezug auf die Lebenssituation von Frauen schilderte. Beicken nennt Fleißers Werk »Pioniertat weiblicher Emanzipation«, vgl. ebd. Fleißer, Marieluise: »In die Enge geht alles«, in: Dies., Gesammelte Werke, Bd. 3, hg. v. Günther Rühle, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 301. Eine Gemeinsamkeit mit Virginia Woolfs Ein Zimmer für sich allein sieht Inge Stephan vor allem in dem Riss, der durch Fleißers Sprache geht. Dieser Riss »entsteht aus der Erfahrung, dass die herrschende Sprache mit ihren tradierten Mustern und Bildern und ihrer festgefügten grammatischen Ordnung eine ›fremde‹ Sprache für Frauen ist«. Auf diese Besonderheit der Sprache verwies auch Walter Benjamin, zit. n. Rühle: Materialien, S. 141f. M. Fleißer: »In die Enge geht alles«, S. 301. Ebd., S. 302.

ZWISCHEN RANZIGER BUTTER UND KÄLTE

Obwohl sie nicht auf die Schritte hört, sind sie da, wodurch eine Spannung entsteht, die suggeriert, dass das Alleinsein am Abend auf einer einsamen Bank draußen für eine Frau gefährlich sein kann. Die Welt draußen wird hier als für Frauen feindlich gekennzeichnet, und zwar nicht nur wegen der abendlichen Gefahr, sondern auch wegen des Drucks der Umgebung, sich für traditionelle Lebensmodelle zu entscheiden. So nimmt es nicht wunder, dass die Protagonistin auf jener einsamen Bank an Männer als Lebenspartner denkt. Zum Beispiel an einen Mann, der ihr Bücher zum Lesen gibt, der aber als Partner nicht infrage kommt. Er besteht in ihren Augen nur aus einem Steckenpferd, der Astrologie. Deswegen war ihr sein »Geschlecht« nicht wichtig.15 Außerdem versteht er kaum etwas von der Dichtung, die ihr wichtig zu sein scheint, obwohl wir darüber nichts Näheres erfahren. So kann sie zu ihm keine nähere Beziehung eingehen. Sie liest nur die von ihm entliehenen Bücher »wie eine Droge«. Durch diese hat er aber eine stille Macht über sie, wie die Erzählerin bemerkt. Die Frau fürchtet sie aber nicht, denn er war für sie »nie ganz wirklich«. Viel wirklicher wirkt auf sie ein Mann, der in ihrer Jugend mehr von ihr wollte und gegenüber dem sie »die Gescheitere sein« musste. An ihn erinnert sie eine Stimme, die sie hört, während sie auf der Bank sitzt. Die Erinnerung reicht bis zu ihrer Rückkehr aus der Großstadt. Damals hatte sie in ihrem Heimatstädtchen zu spüren bekommen, dass sie ein Fremdling geworden war. Dies konnte sie nur durch ihre Ehe aufheben. Die Entscheidung dazu war ihr nicht leicht gefallen: »[…] es ist eng geworden um mich, die Luft fehlt mir zum Atmen«. 16 Von den Männern, die sie für potenzielle »Retter« hielt, wählte sie jenen aus den alten Zeiten. Er ist zwar »ein Brocken«, jemand, der »überhaupt kein Gespür für eine Frau« hat,17 von den anderen unterscheidet ihn jedoch die Tatsache, dass er kein Spieler und Angeber ist und nicht in einem abgelegenen Dorf wohnt, wo sie sich vom Leben, von der Stadt abgeschnitten gefühlt hätte. Sie wünscht sich nicht zu heiraten, denn sie weiß alles nur in freier Beziehung im Griff zu behalten. Sie beugt sich jedoch dem Druck der Umgebung, den sie stets spürt: »Ich handle jetzt nicht normal, ich bin umstellt«. 18 Sie beginnt mit der Ehe ein Leben, das sie nicht mag. »Wie ich will, darf ich nicht mehr. In die Enge geht alles«, heißt es fast am Ende der Erzählung. Diese Worte drücken einen Verzicht auf eine Lebensweise aus, die die Protagonistin am liebsten gewählt hätte, die einer Alleinstehenden. In die Enge geht jetzt all das, was vor der Heirat für sie Freiheit und Luft zum Atmen war. Es überrascht nicht, dass Fleißers Protagonistin in der Ehe die Erwartungen des Mannes nicht erfüllen kann: »[…] ich war langsam, 15 16 17 18

Ebd., S. 301. Ebd., S. 303. Ebd., S. 304. Ebd., S. 305. 95

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langsam, Herrgott, viel zu langsam, etwas hielt mich gebunden«. Außerdem wird ihr bewusst, dass ihr etwas anderes wichtiger ist: »Er war bloß nicht primär, das andere war das Primäre in mir, kein Mann verzeiht einem das«. 19 Was dieses »andere« ist, wird nicht gesagt. Der Anfang des Textes deutet nur an, dass es wahrscheinlich Lesen und intellektuelle Aktivität sein könnten. Obwohl sie sich gegen die Enge der traditionellen Lebensweise sträubt, verlässt sie die kleinstädtische Umgebung nicht. Sie vergleicht sich sogar mit einem Baum, der »an der Wurzel« gefesselt bleibt, und fragt: »Wie sieht es aus in einem Baum, will er fort?« Diese Frage verweist darauf, dass sie nicht fort kann und es eigentlich auch nicht will. Darauf deutet die rhetorische Frage hin, die die Protagonistin sich stellt: »[…] und wer tat mir das an, oder tat ich es selber mir an und war ich verhext?«20 Es ist eine Fragestellung, die erst in der Debatte um die Definition des Weiblichen in den 70er Jahren eine wichtige Rolle spielen sollte. Silvia Bovenschen meinte 1979, dass das Weibliche keine universelle Kategorie sein könne, denn die »Grenzen zwischen Fremddefinition und eigener Interpretation sind nicht mehr auszumachen«.21 Für Fleißer scheint diese Grenze noch dicht an der Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu liegen, was in dem Erzählband Avantgarde von 1962 besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Bis dahin variierte sie zwar das Thema der Abhängigkeit der Frauen von ihrer Umgebung und der Vorstellung, dass sie ohne männliche Stütze nicht durchkommen könnten, konzentrierte sich dabei aber vor allem auf die private Sphäre. In keinem ihrer Werke beschreibt Fleißer den Alltag direkt. Doch in fast jedem deutet sie Aspekte des Alltäglichen an. In die Enge geht alles zeigt deutlich, dass Frauen im Alltag fremd und ortlos bleiben. Die Enge, in die sie sich getrieben, hineingezwängt fühlen, ist nichts anderes als der Alltag, der nur aus der Verrichtung zugeschriebener weiblicher Rollen besteht. Sie haben vor ihm Angst, denn sie wollen nicht, dass in ihrem Leben die häuslichen Pflichten und die Erwartungen des Ehemannes dominieren. Das Zuhause ist nicht der Ort, an dem sie sich wohl fühlen. Draußen lauert dagegen eine unbestimmte Gefahr, eine Bedrohung. Drinnen muss sich die Frau einen Freiraum suchen, in dem sie das tun kann, was sie am liebsten macht, z.B. lesen. Ihr Alltag besteht damit aus Pflichterfüllung und aus permanentem Warten auf ruhige Stunden für Aktivitäten, für die es im weiblichen Alltag keinen Platz gibt. Fleißers Frauenfiguren leben ihren Alltag in einem Konfliktbereich, in dem ihre Erwartungen sich meistens an den Erwartungen ihrer

19 Ebd. 20 Ebd. 21 Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Repräsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp1979, S. 41. 96

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Partner, Liebhaber, Ehemänner zerschlagen. Dadurch kommen sie vom weiblichen Alltag, den sie eindeutig als Enge empfinden, kaum los.

»Fröste der Freiheit …« In der Erzählung Avantgarde von 1962 wird der Versuch einer schriftstellerisch talentierten Frau dargestellt, in der Öffentlichkeit einen Platz für sich zu finden. Er endet mit einer bitteren Erkenntnis: Cilly Ostermeier »kannte die Freiheit in ihrem Leben, es war die von Räubern und war für die Weiber hart, wenn sie den Männern es gleichtun mußten, und ging nicht gut für sie aus. Etwas Mörderisches war in dieser Freiheit«. 22 Dies war auch die Erkenntnis der Autorin, die in dieser Erzählung ihre Erlebnisse nach der Aufführung der Pioniere in Ingolstadt und dem anschließenden Skandal verarbeitete.23 Brechts Änderungen und die Inszenierung radikalisierten das Drama so sehr, dass das Publikum die Aufführung als unanständig und anstößig empfand, aber vor allem deswegen, weil das Stück von einer Frau geschrieben worden war. 24 Fleißer wurde überschüttet mit Briefen voller Vorwürfe. Unvorbereitet auf solche Attacken fand sie bei Brecht, dem eigentlichen Verursacher des Skandals, keine Unterstützung. Die feindliche Einstellung des Publikums konnte sie nicht verkraften. Sie verließ Brecht, hörte aber nicht auf zu schreiben. Ihre Cilly kann dagegen ihre Lust zum Schreiben in der feindlichen Welt der Freiheit nicht realisieren: »Er [der Dichter] verlangte ihr ab, was nicht drin war. Sie spürte, da war was falsch, an ihr mußte es liegen oder lag es nicht einmal an ihr? Was ihr zu eigen war, wurde verletzt, gerade das ließ er gelten«.25 Für diese Welt sind nur Männer zuständig, kommentiert die Erzäh-

22 Fleißer, Marieluise: »Avantgarde«, in: Dies., Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 117168, hier S. 147. 23 Es ist ein schonungsloses Bild Brechts, in dem gezeigt wird, wie er als Mann Frauen und KünstlerInnen ausbeutete. Dieses Thema klammere ich aus, denn Avantgarde wurde mehrfach nur als Abrechnung mit Brecht behandelt und auch zum Teil missverstanden, vgl. Töteberg, Michael: »Porträt einer Mitarbeiterin«, in: Merkur 30 (1976), S. 695-700; ders.: »Abhängigkeit und Förderung. Marieluise Fleißers Beziehungen zu Berthold Brecht«, in: Text + Kritik 64 (1979), Themenheft »Marieluise Fleißer«, S. 74-87. Ich werde mich auf Cilly Ostermeiers Weg in der Erzählung konzentrieren. 24 Franz Schonauer schreibt, dass Brecht »sich die junge Schriftstellerin ganz nach seinem Gusto und für seine Zwecke zurechtzubiegen gedachte«, vgl. F. Schonauer: »Marieluise Fleißer aus Ingolstadt«, S. 5. Auf die Aufführung 1929 reagierten einzig Alfred Kerr und Herbert Ihering positiv. Sonst gab es nur Angriffe, etwa wie: »vor diesem alles zersetzenden Frauengemüt hält keinerlei Wert noch Sitte stand«, (ebd.). Die Attacken gingen so weit, dass es sogar zu einem Prozess kam. 25 M. Fleißer: »Avantgarde«, S. 128. 97

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lerin. Dazu kommt noch die Beobachtung, dass Cilly sich in der großen Stadt verloren fühlt, und sobald sie in der Öffentlichkeit allein zu agieren beginnt, überkommt sie Ratlosigkeit, ja Fieber, sodass sie in die Arme des nächsten Mannes flüchtet. Sie vergisst sehr schnell die neu gewonnene Erkenntnis, dass sie die »Fröste der Freiheit« »frieren« lernen muss,26 und ist bereit, ihrem neuen Partner zu glauben, er würde sie beschützen und beim Schreiben nicht stören. Sie ringt ihm nur das eine Versprechen ab, dass sie keine Hausarbeit leisten muss. Sie will nicht, dass diese triviale Aktivität ihr wichtigster Lebensinhalt wird. Der Haushalt war in der Beziehung mit dem Dichter kein Thema, eher war es selbstverständlich, dass sie ihm »seinen täglichen Kram« abnahm. Auf diese Weise kaufte sie sich bei ihm ein, um schreiben zu können, auch wenn es nur für sein Theater sein sollte. Sie »arbeitet für Fremde zwischenhinein, damit sie für ihn umsonst arbeiten konnte«.27 Sie ist bereit, auf vieles zu verzichten, wenn sie nur literarisch aktiv sein darf. Bei dem Dichter war sie eine von vielen Frauen, sie rang sich Texte für sein Theater ab, die sich mit ihrer apolitischen Haltung nicht vertrugen, sie genoss die kurzen sexuellen Akte mit ihm, obwohl sie von ihm mehr erwartete. Sie war imstande, all das zu ertragen, weil sie spürte, dass sie dank ihrer Ergebenheit von ihm zum Schreiben animiert wurde. Ihre Kräfte versagten aber, sobald sie sich der Welt allein stellen musste. Sie verließ den Dichter, konnte aber zu ihrem ehemaligen Bräutigam, Nickl, nicht zurückkehren. Beim Abschied behandelte er sie wie früher, als wäre sie sein »Besitz« und nicht eine »Person«. 28 Sie nahm unter Erpressung zum zweiten Mal den Verlobungsring von Nickl an. Nachdem sie sich voneinander getrennt hatten, ging sie zum nächsten: »Es war derselbe Sog noch immer und aus dem nämlichen Grund, eine Wirklichkeit musste sie haben […]«. 29 Mit Wirklichkeit meint die Erzählerin eine neue Beziehung: »Ohne einen festen Mann konnte sie anscheinend gar nicht mehr sein«. 30 Die Angst vor der Öffentlichkeit nach dem negativen Erlebnis mit der Aufführung ihres Stückes schränkt ihren Alltag auf die private Sphäre ein. Sie ist ihre letzte Fluchtmöglichkeit. Aus ihr gibt es keinen anderen Ausweg, und das nennt die Erzählerin beim Namen: »Sich verloben war verheerend für eine Frau, wenn sie schreibt. Aber wie kam eine da herum und wie kam sie sonst an ein Leben mit Senkblei heran? Sie mußte eben hoffen, dass sie es überstand. Ja, das mußte sie hoffen«. 31

26 27 28 29 30 31 98

Ebd., S. 120. Ebd., S. 118. Ebd., S. 150. Ebd., S. 168. Ebd. Ebd.

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Der Ton klingt hier 1962 ebenso resignativ wie in den Texten von 1933/34. Ihre Protagonistinnen vertragen das Leid im Privaten viel leichter als die ›Freiheit‹. Die Unfähigkeit, Konflikte in der Öffentlichkeit auszutragen, und die Leidensbereitschaft, sogar bis zur Lebensgefahr, führen dazu, dass sie in der privaten Sphäre bleiben, obwohl sie auch in ihr keine Harmonie und – wie im Fall Cilly Ostermeier – keine Bedingungen für ihr Schreiben finden können.

Wiederholungszwang Als Fleißer 1971 gefragt wurde, welche Problematik sie in einem neuen Stück behandeln könnte, antwortete sie: »Ich könnte natürlich immer nur etwas zwischen Männern und Frauen machen«. 32 Diesem Thema der Beziehung zwischen den Geschlechtern hat sie auch fast alle ihre Prosawerke gewidmet. Dabei bleibt sie nicht bei diesem Thema, sondern schreibt über das Phänomen der Abhängigkeit der Frauen von Männern auf unterschiedlichste Weise, als suchte sie nach deren Grund. Ihre Protagonistinnen pendeln halbschlafwandlerisch von den Männern, die sie nicht in Obhut nehmen (wie der Dichter), zu denen, die das – wie die Frauen immer wieder erfahren müssen – vortäuschen (wie Nickl). Susan L. Cocalis verallgemeinert diese Verhaltensweise mit den Worten: »[D]iese Heldinnen verlassen einen Mann, der sie momentan ausbeutet, niemals aber den Mann«.33 Über Frauenschicksale berichtet Fleißers Erzählerin meistens in lakonischen Sätzen, mit denen sie ihre Leser und Leserinnen vor dem Mitleid schützt. 34 Sie können zusammen mit der Erzählerin verfolgen, was mit Frauen passiert, wenn sie bei Männern Schutz suchen. Refrainartig wiederholt sie es, wie in der Erzählung Die Ziege von 1926: »[…] einer war wie der andere und hatte für die Mädchen ein System ohne Gnade«. 35 Die Männer sind brutal, wie in Avantgarde, wo Nickl Cilly mit dem Messer bedroht und sie so zur erneuten Verlobung nötigt. Sie lügen, um sich einen bequemen Lebensunterhalt bei Frauen zu sichern, wie in der Erzählung Der Jongleur von 1929/32, wo ein Mann auf Kosten berufstätiger Frauen leben will, was ein häufiges Motiv bei Fleißer ist. Da es immer negative Er32 So in einem Interview mit den Stuttgarter Nachrichten, zit. n. Rühle: Materialien, S. 49. 33 S. Cocalis: »Weib ohne Wirklichkeit«, S. 75. 34 Theo Buck meint dagegen: »Der Zwang zu auktorialer Haltung bringt die Erzählerin in perspektivische Schwierigkeiten und beeinträchtigt so ihre Spontaneität«, vgl. T. Buck: Interpretationen zu Bertolt Brecht, S. 43. Er scheint nicht zu sehen, dass Fleißers Erzählweise bewerkstelligt, dass ihre Erzählungen keine Klage mehr, sondern eine Anklage bilden. 35 M. Fleißer: »Die Ziege«, in: Dies., Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 76-81, hier S. 79. 99

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fahrungen sind, die sie literarisiert, entsteht der Eindruck, ihr Schaffen sei ein Ruf nach einem idealen Mann. Günther Rühle charakterisiert diesen Idealmann als jemanden, »der ihr nicht nur Schutz und Geborgenheit gab, sondern ihrer Liebesbereitschaft Ziel sein und auch die Mütterlichkeit der Frau freisetzen konnte«. 36 Für Fleißer als Person mag das stimmen. Aber sie wandte sich schließlich immer wieder solchen Männern zu, die im täglichen Umgang sehr kompliziert waren. Gerade das scheint sie angezogen zu haben.37 Sie waren für sie die besten Garanten, dass sie mit ihnen nicht das traditionelle Lebensmodell führen musste. Cocalis bezeichnet Fleißer »als Typus der Braut, niemals der Ehefrau oder der Mutter von Kleinkindern«. 38 Diese Einordnung wiederum trifft eher auf ihre Protagonistinnen zu, denn sie selbst war ja von 1934 bis 1958 mit einem Mann verheiratet. Fleißers Literarisierung der negativen Erfahrungen mit Männern dokumentiert, dass es außerhalb des traditionellen geschlechtsspezifischen Alltags keine anderen Verhaltensmuster gab, auf die die beiden Geschlechter zurückgreifen konnten. Jeder Versuch, von solch einem Alltag abzuweichen, verwandelt die Liebesbeziehung quasi gesetzmäßig in Unglück, denn auch wenn die Liebenden keinen familiären Raum schaffen, entwickeln sie Erwartungen und Verhaltensweisen, die auf die traditionelle Familie verweisen: Dem Mann wird die Beschützerrolle und der Frau die Rolle der Betreuerin zugewiesen. Der Mann tritt an die Stelle des Kindes und die Frau versucht ihn in jeder Hinsicht wie eine Mutter zu verstehen. Beide transportieren somit unabsichtlich traditionelle Geschlechterrollen in ihre Beziehung. Sie reproduzieren den Familienalltag, ohne ihn direkt zu leben. Cocalis sieht darin eine TochterVater-Konstellation. Damit kann sie aber nur die Schutzbedürftigkeit von Fleißers Frauenfiguren erklären, die immer Außenseiterinnen sind. Während Fleißer mit ihren Erzählungen weit mehr, nämlich auch die zweite Seite, die Verhaltensweisen der Männer, erfasst. Sie spielen in den Beziehungen nie die Vaterrolle, sondern verlangen nach Bedienung und Betreuung. Von Kindern unterscheiden sie nur sexuelle Aktivität und Brutalität. Fast in jeder FrauMann-Beziehung, die Fleißer beschreibt, vergegenwärtigt sich der häusliche Alltag. Beim Namen wird er jedoch nur dann genannt, wenn er sich zum Leidensgrund der dargestellten Frau entwickelt, wie im Falle von Cilly Ostermeier oder der Protagonistin in der Erzählung Die im Dunkeln von 1965. Aber auch dann wird er nicht detailliert beschrieben. Darin sieht Cocalis bei Fleißer eine Art Widerstand:

36 G. Rühle: »Rückblick«, S. 565. 37 Rühle banalisiert unabsichtlich das Problem, wenn er schreibt: »Vor Brecht floh sie, weil sie nicht eine unter vielen Freundinnen sein wollte, an dem exzentrischen Draws fesselte sie, dass er sie als einzige besitzen wollte«, ebd., S. 566. 38 S. Cocalis: »Weib ohne Wirklichkeit«, S. 79. 100

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»Nur die Ehe, die Gründung einer Familie, die Eingliederung in das bürgerliche Leben für eine Frau ist in ihrem Frühwerk nicht vorhanden. Ebenso wenig wie das bürgerliche Erwerbsleben. Sie leistet Widerstand gegen diese systemerhaltenden Momente in dem, was sie schreibt, indem sie diese Momente aus ihren Schriften verschwinden lässt«. 39

Da sie diese Sphäre nicht zeigt, kann gegen sie nicht der Verdacht erhoben werden, dass sie in negativen Bildern des Familienlebens die Sehnsucht nach einem Ideal ausdrückt, wie es im Falle ihrer Männerfiguren geschieht. Der familiäre Alltag erscheint aber bei ihr als eine unvermeidbare Struktur der Geschlechterbeziehung, deren Beschreibung hier und da von der Frage begleitet wird, ob das erlebte Unglück selbst- oder fremdverschuldet ist. Diese Frage bleibt im Werk Fleißers und blieb allem Anschein nach auch für sie persönlich ungelöst. Obwohl die meisten ihrer Protagonistinnen versuchen, den Bereich der Haushaltsführung von Anfang an zu vermeiden, weil sie wissen, dass diese sie einschränkt, verrennen sie sich ständig in Lebensgemeinschaften mit Männern, für die das Führen eines Haushalts zu den zentralen Aufgaben der Frauen gehört. Dies tun sie nicht, weil sie sich ein Leben außerhalb des familiären Bezugsrahmens nicht vorstellen können, sondern weil sie in den Beziehungen mit ihren Partnern nach Schutz suchen und zu spät merken, dass sie dadurch den Freiraum für ihre eigenen Aktivitäten verlieren. Die Spannung zwischen ihrem emanzipatorischen Anspruch und dem verinnerlichten Streben nach Anpassung können sie nicht ertragen. Trotz dieser Erfahrung suchen sie immer wieder nach einer neuen Beziehung und erwägen kaum die Möglichkeit einer Single-Existenz, die übrigens um die Entstehungszeit der Werke von Fleißer zwar schon diskutiert, jedoch noch nicht üblich war. 40 Am Ende von Avantgarde lesen wir: »Sie war frei, wieder frei, vogelfrei sogar. Und doch mußte sie Schutz haben durch einen Mann«.41 Dieses Werk stammt zwar aus dem Jahre 1962, betrifft aber Fleißers Erfahrungen aus der Vorkriegszeit. Alle ihre Frauenfiguren stammen aus dieser Zeit und entsprechen jener persönlichen Überzeugung Fleißers, die sie in dem Essay Jahrhundert – gedrittelt 1932 formulierte: Die Frauen »wußten recht gut, dass sie den Schutz des Mannes nicht entbehren konnten. Sie wollten neben ihm

39 Ebd., S. 83. 40 Erst 1904 beginnt die Debatte, ob es möglich ist, dass alleinstehende Frauen Mütter sein dürfen. 1909 erschien Erich Mühsams Drama »Die Freivermählten«, in dem die freie Lebensgemeinschaft als Alternative zum traditionellen Ehemodell diskutiert wird. 1918 kritisierte Alexandra Kollontais »Die neue Moral und die Arbeiterklasse« die Ehe als Rechtsform. 41 M. Fleißer: »Avantgarde«, S. 168. 101

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ganze und richtige Frauen werden, mit der freudig getragenen Pflicht des Freien an Stelle der Fron des Sklaven«. 42 Mit ihrem Bedürfnis nach Nähe konkurriert sehr oft das nach künstlerischer Aktivität und Selbstständigkeit. Es sorgt dafür, dass die Frauen ihre Orientierung im Leben nicht verlieren und zum Partnerwechsel bereit sind, um ihre Hoffnung auf eine gelungene Beziehung zu erfüllen, was zu Fleißers Zeit eine häufig anzutreffende Lebenseinstellung war. Sie reichte jedoch nur für permanente Ausbrüche, nicht für den Aufbau einer Alternative zum rollengebundenen weiblichen Alltag.

Protokoll einer Enge Der Prosatext Tiefseefisch, in dem Fleißer ihre Erfahrungen mit dem Schriftsteller und Journalisten Hellmut Draws-Tychsen verarbeitete, ist eines ihrer originellsten Werke, obwohl es nur eine Vorstudie43 zu ihrem gleichnamigen Stück von 1930 darstellt, das lediglich in einer vorläufigen Fassung existiert. Als Vorstudie hat es eine Form behalten, die es zu einer interessanten Ausnahme in Fleißers Gesamtwerk macht. Es ist eine lange, analysierende Beschreibung eines Mannes durch seine Partnerin. Er wird als Lebenspartner für die Protagonistin und als Thema für die Erzählerin zur Obsession. Der Text enthält keine Handlung, nur Sätze, die den Mann charakterisieren. Manche wiederholen sich oder werden zu längeren Passagen aus erweiterten Wiederholungen, die einerseits die manisch-depressive Struktur der Psyche des Mannes betonen und andererseits das Von-ihm-nicht-weggehen-Können der Protagonistin beziehungsweise der Erzählerin andeuten. In den ersten Absätzen des Textes sind die Sätze kurz und unvollständig, meistens ohne Prädikat: »seine Unberührtheit, seine Starrheit, sein Kulthaftes. seine Augen wie Wismut. der stechende Blick. […] seine Reinlichkeit, Pedanterie. Diszipliniertheit. Fremdkörper machen ihn fassungslos. sein ausschweifender Zorn, aber er ist nicht nachtragend. sein grotesker Spieltrieb, sein Hüpfen«. 44 42 Fleißer, Marieluise: »Jahrhundert – gedrittelt«, in: Dies., Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 427-429, hier S. 428. 43 Die Fleißer-Forschung bezeichnet diesen Text meistens als Notizen, z.B. M. Töteberg: Abhängigkeit und Förderung, S. 81. McGowan beschäftigt sich in ihrer Monographie über Fleißer nur mit der vorläufigen Dramenfassung, vgl. M. McGowan: Marieluise Fleißer, S. 72-87. 44 M. Fleißer: »Der Tiefseefisch«, in: Dies., Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 103132, hier S. 103. 102

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Am Satzanfang verwendet Fleißer konsequent die Kleinschreibung, als sollten es protokollierte Notizen zur Charakteristik der Hauptfigur sein. Prädikate erscheinen massiver erst dann, wenn die Sätze sich auch auf die Frau und nicht mehr nur auf den Mann beziehen: »Er rächt sich an ihr für seine soziale Schwäche, wirft ihr vor, dass sie keine Psychologin ist, sie müsste das riechen, was er eigentlich will. sie soll gleichzeitig seine Schwächen überwachen, abbremsen, abändern und es ihn nicht merken lassen, sie soll es hinterher immer besser gewusst haben, aber er ist störrisch, ihren Bedenken, wenn sie sich mit ihm über was aussprechen will, unzugänglich«.45

In solchen Sätzen werden die Forderungen des Mannes an die Frau dargestellt. Wir können verfolgen, wie die Frau durch den Mann konstruiert wird und dass diese Konstruktion in einem großen Widerspruch zu ihr steht. Die Erzählerin schreibt über sie in der dritten Person. Die Frau wird ihm hörig, »darf sich nicht selbst befriedigen«, bleibt auf seinen Wunsch asexuell, keusch wie die heilige Maria, lässt sich von ihm »immer mehr Terrain wegnehmen« und duldet ohne Widerstand seine Brutalität gegen ihren Körper.46 Ihr »Sichhineingeben in ihr Mütterliches« 47 ihm gegenüber nimmt kein Ende, auch nicht mit einem missglückten Selbstmordversuch. Die Kraft zu diesem sadomasochistischen Verhältnis gibt ihr einerseits sein Bekenntnis: »ich bin dein bis zum letzen Haar«, und andererseits die Vorstellung, dass er ohne sie nicht auskommen kann. Auf diese Weise lebt sie eine besondere Symbiose, zu der sie von ihm jeden Tag abgerichtet wird. Ganz unverhofft kommt eine Passage über die Frau: »wenn ich am Meer bin, bin ich reglos wie ein Klippstein, an dem das Wasser anläuft und abläuft. dann brauche ich nichts mehr. dann bin ich aufgetan wie eine Muschel.« 48 Er verhält sich am Meer ganz anders, will eintauchen, wie ein Tiefseefisch im Wasser verschwinden. In Tiefseefisch gibt es keine Konkurrenz zwischen der Abhängigkeit der schreibenden Frau von dem Mann und ihrem Drang zum Schreiben. Sie fallen hier zusammen. Die Abhängigkeit wird diesmal nicht nur beschrieben, sondern protokolliert und geschrieben. Sie verselbstständigt sich zu einem Thema und zu einer Form, wie sie Fleißer in keinem ihrer früheren Werke ausprobiert hat. Die Protagonistin ordnet sich einerseits den Wünschen ihres Mannes unter, aber andererseits entgeht sie ihm durch die Spaltung in die Frau, wie er sie sich wünscht, und in diejenige, die ihn beschreibt, ihn in Literatur verwandelt und sich dadurch von ihm geistig emanzipiert. Darin drückt sich die Eigenständigkeit der Frau in ihrer schreibenden Existenz aus. Das Schreiben 45 46 47 48

Ebd., S. 117. Ebd., S. 112. Ebd., S. 115. Ebd., S. 120. 103

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entwickelt sich auf diese Weise zu einer Alternative zum gelebten Alltag, ohne dass dieser in Frage gestellt wird. Man könnte Rühles Feststellung »Ihr [Fleißers] Leben – als Ausbruch aus der Provinz in die Literatur – war ein Experiment und der Verlauf ein Paradigma fürs Jahrhundert«49 variieren und sagen, dass es Fleißer im Entwurf Tiefseefisch gelingt, den Ausbruch aus dem rollengebundenen Alltag und den Eintritt in die literarische Reflexion über ihn darzustellen. Das, was Fleißer in diesem Entwurf erreicht hat, hat sie nicht zu schätzen gewusst. Dazu war sie als experimentierende Autorin viel zu unsicher. Dies ist vor allem daran zu erkennen, dass die Vorstudie in der vorläufigen Fassung des Dramas nur zum Teil wiederzuerkennen ist. In dem Drama baut sie mehrere Figuren auf, anhand derer sie lebenspraktische Probleme in den Vordergrund stellt: Schulden, Konflikte mit einem Verlag, Beziehungen der Protagonistin zu anderen Menschen. Auf diese Weise kehrt Fleißer zum Thema der Geschlechterbeziehung mit traditionellen Verhaltensmustern zurück. Der Mann verlangt von ihr nicht nur Abhängigkeit, sondern tut alles, damit sie ganz auf ihn angewiesen ist. In der Vorstudie dagegen dominiert die Erzählerin als Erzählinstanz und dadurch gestalten sich die Machtverhältnisse im Text entschieden anders. Im Drama fällt der Frau wieder eine verlorene Position zu. Sie wird sogar zeitweise zum Spielball zwischen zwei Männern. Liegt es an der Textgattung des Dramas, in dem Körper präsenter sind als in anderen Gattungen? Diese werden, wie Christina von Braun betont, durch geschriebene Sprache – man könnte ihren Gedanken weiterdenken und sagen: auch durch ästhetische Formen – geformt. 50 Erst 1972 ist es Fleißer möglich, der dramatischen Fassung die letzte Szene hinzuzufügen, in der die Frau ihren Lebensgefährten verlässt und sagt: »Ich lasse mich nie wieder fressen«.51 Bis dahin stellt der Alltag einen Beziehungsalltag dar, in der heteronormative Moralvorstellungen und der innere Zwang der Protagonistinnen, sich ihnen anzupassen, trotz exzessiver Lust zum Schreiben dominieren. Einen Schritt zum Kollektiv der schreibenden Frauen schafft Fleißer jedoch auch in den 70er Jahren nicht, weder in der literarischen noch in der außerliterarischen Welt.

49 G. Rühle: »Rückblick«, S. 565. 50 Von Braun, Christina: »Gender, Geschlecht und Geschichte«, in: Dies./Inge Stephan (Hg.), Gender Studien. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000, S. 16-57, hier S. 31. 51 Fleißer, Marieluise: »Der Tiefseefisch. Schauspiel in vier Akten. Vorläufige Fassung«, in: Dies., Gesammelte Werke, Bd. 1, hg. v. Günther Rühle, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 289-356, hier S. 356. 104

Wissenschaft und Wissen

Hypnotisierte Heuschrecken KERSTIN PALM

Kleine Vorbemerkung Was könnte eine gendertheoretisch arbeitende Kulturhistorikerin der Biologie zu Frauen der 1920er Jahre sagen? Und wie könnte sie dabei das unglaublich umfangreiche Werk von Christina von Braun angemessen würdigen und integrieren, obwohl sie von den ihm zugrunde liegenden psychoanalytischen Methoden und Theorien so gut wie keine Kenntnisse besitzt? Diese und ähnliche Fragen beschäftigten mich anlässlich der Planungen zu einem Symposion zu Ehren von Christina von Braun, denn es war mir als ihrer langjährigen wissenschaftlichen Assistentin ein Herzenswunsch, Christina für ihre große und freundschaftliche Unterstützung, ihre vielen intellektuellen Anregungen und nicht zuletzt für ihr Vertrauen in meinen von ihrem recht verschiedenen Ansatz mit einem Beitrag zu danken. Da fiel mir ein kleiner Vortrag im Rahmen einer vor vielen Jahren in Wien abgehaltenen Konferenz zu Wissenschaftsforschung ein, der sich mit der Hypnose von Tieren um 1900 beschäftigt hatte und dem ich damals verwundert und interessiert zugehört hatte. Da die Hypnose als wertvolles Hilfsmittel zum Studium der Hysterie galt, gab es hier mit etwas Phantasie einen gewissen Bezug zu Christinas ausführlichen Studien zu Hysterie, auch wenn diese auf Menschen bezogen waren. Vielleicht, so meine Überlegungen, könnte ich, wenn schon nicht mit einem fachinternen, so doch zumindest kuriosen und etwas abseitigen Thema einen kleinen Beitrag zu Christinas Würdigung leisten und damit zugleich auch ein wenig an die schelmischen und experimentellen Seiten ihres Werkes anknüpfen … Die Recherchen zu dem anvisierten Thema förderten zwar keine besonders umfangreichen Materialien zutage, die zudem recht schwer zu beschaffen und gendertheoretisch nicht besonders ergiebig waren, sodass ich auf diesbezügliche Spekulationen weitgehend verzichtet habe. 107

KERSTIN PALM

Der nachfolgende Text versucht trotzdem, die aufgespürten Studien in einen Sinnzusammenhang zu stellen, der Psychoanalyse und Biologie zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt in eine eigenartige Verbindung zueinander bringt. Damit soll zugleich ein bestimmter ideengeschichtlicher Aspekt skizziert werden, der das intellektuelle Milieu der 1920er Jahre beeinflusste.

Homo animalis »Im Verlaufe von Hypnosestudien an verschiedenen Tierarten fand ich, dass der Ohrwurm Forficula auricularia L. aus technischen ebenso wie aus biologischen Gründen ein selten günstiges Versuchsobjekt zur Lösung einer Reihe von Fragen aus dem Gebiete der Hypnose ist.« 1

So der Zoologe Wolfgang Weyrauch 1929 in seiner an der FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin eingereichten Dissertation über die Hypnose des Ohrwurms. Der hypnotische Zustand des Ohrwurms trete beispielsweise sofort ein, wenn dieser vorsichtig mit der Pinzette an einer seiner Antennen gefasst und etwas von der Unterlage abgehoben würde. Dann gehe der Wurm in ein Stadium der absoluten Bewegungslosigkeit, ja Starre über, welches wenige Sekunden oder Minuten, in seltenen Fällen sogar Stunden anhalte und auch durch weitere Berührungen nicht aufgehoben werden könne. Als Ursache vermutet Weyrauch eine Überreizung des zentralen Nervensystems durch eine gleichmäßig starke Erregung, die zu einem nervösen Ermüdungszustand führe. Der hypnotische Zustand sei so etwas wie eine Abwehrreaktion gegen Überreizung. Die Experimente und Erwägungen von Weyrauch sind Teil einer zentralen Debatte Anfang des 20. Jahrhunderts, die um die Frage kreist, inwieweit nicht nur der Körper des Menschen, sondern auch seine Psyche animalischen Ursprungs ist. Die Überlegungen zur Animalisierung der menschlichen Psyche beginnen schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Evolutionstheorie Darwins und der Psychoanalyse und durchziehen seitdem in wechselnden Spielarten bis zum heutigen Tag sowohl die kultur- als auch die naturwissenschaftlichen Anthropologien. 2 Wenn der Mensch vom Affen abstamme und daher in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zu diesem stehe,

1 2

Weyrauch, Wolfgang: Die Hypnose bei Forficula auricularia L., Berlin: Springer 1929, S. 110. Vgl. zum Konflikt zwischen den traditionellen, christlich geprägten Anthropologien und den neuen, psychoanalytisch-naturalistischen Anthropologien, mit deren Aufkommen eine Rehabilitierung des als Hypnosevorläufer verstandenen animalischen Magnetismus von Franz Anton Mesmer erfolgte, auch den Aufsatz von Sabine Grenz in diesem Band.

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HYPNOTISIERTE HEUSCHRECKEN

sei die Differenz zwischen beiden, so der grundlegende Gedanke, möglicherweise nicht mehr als fundamentaler Qualitätssprung zu sehen, sondern allenfalls als graduelle Verschiedenheit zu begreifen. Tiere seien dann nicht mehr das niedere Andere des Menschen, sondern verwiesen mit ihrem Verhalten auf dessen innersten, archaischen psychischen Kern, der die tierische Natur weiterhin als menschliche Triebstruktur aufbewahre. Daher könnten zoologische Verhaltensstudien nicht nur etwas über Tiere, sondern letztlich auch über Menschen aussagen, und umgekehrt könnten an Tieren psychologische Untersuchungen und Behandlungen vorgenommen werden, die bisher nur an Menschen ausgeführt würden.

Tiere unter Hypnose Der russische Physiologe Iwan Pawlow gilt gemeinhin als einer der Ersten, der sich in diesem Sinne um 1900 explizit mit dem Hypnotisieren von Tieren beschäftigt, einer Behandlungsweise also, die bis dahin nur am Menschen erprobt wurde. 3 Er geht davon aus, dass Hypnose ein intermediärer Zustand zwischen Wachen und Schlafen ist, der bei Tieren gleichermaßen wie bei Menschen hervorgerufen werden könne. Davon überzeugt, dass die Lösung vieler wichtiger Fragen über den Mechanismus und über die Heilung der menschlichen Neurosen – oder zumindest ein wichtiger Schritt hin zu einer solchen Lösung – im Tierexperiment liege, bemerkt er in Bezug auf seine Hundeexperimente: »Die beschriebenen Neurosen der Hunde lassen sich am natürlichsten mit den Neurasthenien des Menschen vergleichen, und zwar umso mehr, da manche Neuropathologen auf zwei Formen der Neurasthenie bestehen: der erregten und der depressiven Form. […] Man kann annehmen, dass die Anerkennung zweier Signalsysteme der Wirklichkeit beim Menschen speziell zum Verständnis des Mechanismus zweier menschlicher Neurosen, der Hysterie und der Psychasthenie führt.« 4

Pawlow sollte nicht der einzige Tierhypnotiseur bleiben. Seit Ende des 19. Jahrhunderts häufen sich Berichte zu erfolgreich durchgeführten Hypnosen der unterschiedlichsten Tiere. So verfasst der Italiener Vincenco Robimarga 1926 eine Schrift über die Hypnose bei Vögeln und Säugetieren 5 und kurze Zeit später erscheinen Berichte des Holländers Ten Cate über die erfolgreiche 3 4 5

Vgl. Pawlow, Iwan P.: Sämtliche Werke, Bd. 4, Berlin: Akademie Verlag 1953. Ebd., S. 545. Vergl. Robimarga, Vincenco: »Contributo allo studio dell’ipnosi in alcuni animali domestici«, in: Annali dello Facoltà di Medicina e Chirurgia Perugia 28 (1926), S. 45-60. 109

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Hypnose von Rochen, Tintenfischen, Feuersalamandern, Kaninchen und nicht zuletzt der großen amerikanischen Küchenschabe. 6 Schon um 1900 berichten Forschende verschiedener Länder von der Hypnose von Spinnen, Flusskrebsen, Muscheln, Seeanemonen, Kröten und Fröschen, Schlangen und Geckos, Schwänen, Pinguinen, Meerschweinchen, Ratten, Löwen, Ziegen, Kühen und Elefanten oder auch Kleinkrebsen wie Shrimps oder Kellerasseln und schließlich von Insekten wie Käfern7 , Wasserwanzen oder auch Heuschrecken 8 . Heuschrecken wie beispielsweise die Gottesanbeterinnen seien dabei schon durch die bloße Anwesenheit einer Person hypnotisierbar – sie erstarrten sofort in einer bestimmten Haltung, wenn sie ihrer angesichtig würden. 9 Bei Wasserwanzen hingegen reiche eine leichte Berührung oder gar ein Atemhauch um die Tiere in Erstarrung zu versetzen.10 Spinnen ließen sich hypnotisieren, indem man an ihrem Netz rüttle, dann zögen sie rasch die Beine ein und hingen wie eine leblose Kugel in ihrem Netz. Die meisten Wirbeltiere, wie viele Reptilien, Amphibien, Vögel und auch Säugetiere, ließen sich zudem durch ein plötzliches Drehen in die Rückenlage in einen hypnotischen Zustand versetzen. Einige Autoren und Autorinnen beschreiben auch bei Menschen hypnotische Zustände, nachdem diese ruckartig auf den Rücken geworfen worden seien. 11 Eine ausführliche Wiederholung dieser Experimente in den 1970er 6

Vgl. Ten Cate, J.: »Zur Frage nach dem Entstehen der Zustände der sogenannten tierischen Hypnose«, in: Biologisches Zentralblatt 48 (1928), S. 664-679; Ten Cate, J.: »Sur la production de ce qu’on apelle L’état d’hypnose animale chez la raie«, in: Archives Néerlandaises de Physiologie de l’Homme et des Animeaux 12 (1927), S. 188-190. 7 Vgl. Bleich, Otto E.: Thanatose und Hypnose bei Coleopteren: Experimentelle Untersuchungen. Berlin: Springer 1927. Bleich untersuchte diesbezüglich 82 Käferarten aus dem Berliner Umland. 8 Vgl. zu Spinnen Heymons, Richard: Biologische Beobachtungen an asiatischen Solifugen nebst Beiträgen zur Systematik derselben, Berlin: Akademie Verlag 1902, und Robertson, Thorburn B.: »On the ›sham-death‹ reflex in spiders«, in: Journal of Physiology 31 (1904), S. 410-417; zu Amphibien, Kellerasseln, Insekten u.v.a.m. Holmes, Samuel Jackson: »Death-feigning in terrestrial amphipods«, in: Biological Bulletin 4 (1903), S. 191-196, ders.: »Death-feigning in Ranatra«, in: Journal of Comparative Neurology and Psychology 16 (1906), S. 200-216, und Hase, Albrecht: »Zur Fortpflanzungsphysiologie der blutsaugenden Wanze Rhodnius pictipes (Hemipt. Heteropt.)«, in: Zeitschrift für Parasitenkunde 6 (1933); außerdem zu Flusskrebsen u.a. Mangold, Ernst: Hypnose und Katalepsie bei Tieren im Vergleich zur menschlichen Hypnose, Jena: Fischer 1914. 9 Vgl. zusammenfassend Crane, Jocelyn: »A comparative study of innate defensive behaviour in Trinidad mantids (Orthoptera, Mantodea)«, in: Zoologica 37 (1952), S. 259-293. 10 Vgl. S.J. Holmes: »Death-feigning in Ranatra«. 11 Vgl. Hoagland, Hudson: »On the Mechanism of tonic Immobility in Vertebrates«, in: The Journal of General Physiology 11 (1928), S. 715-741. 110

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Jahren mit anschließenden Interviews ergab, dass die Testpersonen von Benommenheit, Schwindel oder sogar Ohnmachtsanfällen berichteten, einige konnten nach dem Experiment eine Zeit lang nicht richtig sprechen.12 Auch könnten manche Tiere, wie beispielsweise Pferde oder Elefanten, ähnlich wie Menschen durch einen bestimmten Blick einer Person oder auch den suggestiven Einsatz der menschlichen Stimme hypnotisiert werden. Alle diese Tiere würden aus der Hypnose, so wird es immer wieder beschrieben, durch träge, schläfrige Bewegungen erwachen. Die ausführliche, fast zweiseitige Darstellung beispielsweise des Erwachens der Ohrwürmer beginnt bei Weyrauch wie folgt: »Das erste Zeichen beginnenden Wiederauflebens äußert sich in anfangs kaum merklichen zitternden Bewegungen der Maxillartaster und der Antennen. Anschließend beschreiben die Antennen langsam kreisende Bewegungen, die allmählich immer schneller werden; gleichzeitig beginnt der Kopf sich nach allen Richtungen zu drehen. Darauf führen die Vorderbeine eine oder mehrere schlagende Bewegungen aus; daran anschließend beginnen sich die Mittelbeine und dann die Hinterbeine zu bewegen, häufig auch beide Paare gleichzeitig.« 13

Hypnosetheorien als Verhandlungsfeld für die Mensch/Tier-Grenze Die Hypnoseexperimente mit Tieren werden begleitet von Mutmaßungen über den ›biologischen Sinn‹ hypnotischer Zustände bei Tieren. Viele Forschende vermuten, dass es sich bei den Hypnosestadien um sinnvolle Schreckreaktionen gegenüber angreifenden Fressfeinden handelt, eine Idee, die schon Darwin vertrat und auch Pawlow übernahm. Durch die Immobilität werde das Beutetier quasi unsichtbar und hätte bessere Chancen, dem Angriff zu entgehen, als durch einen Fluchtversuch. Andere sehen die beschriebene Reaktion hingegen als funktionsloses Nebenprodukt eines höher entwickelten, reizempfindlichen Nervensystems an, das allen höheren Tieren von den Insekten über die Amphibien, Reptilien und Vögel bis zu den Säugetieren zu eigen sei. Schließlich ist auch noch die Theorie der schockartigen Furchtreaktion in Umlauf, die davon ausgeht, dass Tiere bei Berührung oder beim Erblicken eines gefährlichen Tieres gewissermaßen vor Schreck erstarrten. 14 Der amerikanische Zoologe Samuel J. Holmes diskutiert demgegenüber in einer Studie

12 Vgl. Ratner, Stanley C.: »Immobility of invertebrates: what can we learn?«, in: The Psychological Record 1 (1977) , S. 1-13. 13 Vgl. W. Weyrauch: Hypnose bei Forficula auricularia L., S. 140. 14 Vgl. bilanzierend zu den hier behandelten Hypnosetheorien I.P. Pawlow, Sämtliche Werke, Bd. 4. 111

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über die Hypnose kleiner Strandkrebse die Frage, ob es sich bei dem hypnotischen Zustand gar um ein bewusstes Täuschungsmanöver der Tiere gegenüber ihren Fressfeinden handle oder ob diese komplexe Fähigkeit bei Krebsen noch nicht ausgebildet sei. 15 Hypnose komme aber nicht nur bei Beutetieren vor, die ihre Fressfeinde erblickten, sondern, wie einige Forschende betonen, auch zwischen den Geschlechtern einer Art. So berichtet der Spinnenforscher Richard Heymons, dass bei der Paarung einer bestimmten Spinnenart das wesentlich kleinere Männchen das Weibchen zunächst hypnotisierte, dann schnell zur Paarung schreite und anschließend sofort fliehe, bevor das Weibchen wieder aufwache, um nicht gefressen zu werden. 16 In den Diskussionen um die verschiedenen Erklärungsansätze des hypnotischen Zustand bei Tieren wird, wie anfangs erwähnt, die Frage verhandelt, inwieweit die menschliche und die tierische Psyche miteinander vergleichbar sind, wobei es sich nicht nur um einen rein komparativen Aspekt handelt, sondern vor allem um einen genealogisch-evolutionären Aspekt. Wie viel Tier steckt noch in der menschlichen Psyche, oder auch umgekehrt, wie viel Menschliches steckt schon in der tierischen Psyche? Und lässt sich möglicherweise ein animalischer Kern von einer menschlichen Peripherie unterscheiden? Die meisten Vertreter und Vertreterinnen der pawlowschen Schule sehen die Hypnotisierbarkeit in der Perspektive des phylogenetischen Kontinuums, demzufolge sie bei Menschen und Tieren gleichermaßen auf einem bestimmten physiologischen Hemmungsmechanismus im Gehirn beruhe.17 Tierische Hypnose stelle eine adaptive Reaktion des Tieres auf seine Umwelt dar, nämlich eine Schutzfunktion, die sich in höheren evolutionären Formen erhalten habe, dort aber ihre Signifikanz verloren habe und nur noch eine atavistische Reaktion darstelle. 18 Der hypnotische Zustand von Menschen ist also aus dieser Perspektive ein archaisch-animalischer Zustand im Leerlauf. Freud hingegen betont, dass menschliche Hypnose ein komplexerer Vorgang sei als Hypnose bei Tieren und rückt damit Tiere und Menschen weiter auseinander als die pawlowsche Schule. Andere ziehen die Grenze gar nicht mehr zwischen Mensch und Tier, weil für sie der Auslöser der Hypnose zum entscheidenden Kriterium wird, der in Termini einer traditionellen dualistischen Geist/Mechanismus-Ordnung formuliert wird, die als Operator für die Mensch/Tier-Grenze fungiert. Danach werden Menschen und sogenannte höhere Tiere in eine gemeinsame Gruppe suggestionsfähiger Lebewesen eingeordnet und von sogenannten niederen Tieren separiert, die nur durch mecha15 16 17 18

Zusammenfassend dazu E. Mangold, Hypnose und Katalepsie bei Tieren. Vgl. R. Heymons: Biologische Beobachtungen. So z.B. W. Weyrauch: Die Hypnose bei Forficula auricularia L. Atavismus: Merkmal, das aus früheren Entwicklungsstufen der Evolution stammt und unvermittelt in jüngeren Entwicklungsstufen wieder auftritt.

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nische Stimulation zu hypnotisieren seien. Der Berliner Zoologe Ernst Mangold unterscheidet demgegenüber strikt zwischen menschlicher und tierischer Hypnose bzw. zwischen der menschlich-mentalen und der tierisch-körperlichen Hypnose. 19 Wiederum andere schließlich betonen, dass auch bei Menschen zwei Arten von Hypnose möglich seien, die mentale und die mechanische. Die mechanisch ausgelöste Hypnose sei dabei allerdings wiederum ein Relikt aus vergangenen Zeiten, eine Regression oder ein Atavismus, und damit ein wahrhaft animalisches Element im Menschen. Im Sinne dieser Atavismusthese argumentieren Anfang des 20. Jahrhunderts auch die Forschenden, die den Winterschlaf bei Tieren ebenfalls als eine Art hypnotischen Zustand auffassen.20 Dabei fielen, so die These einiger Biologen und Biologinnen, die Tiere evolutiv zurück vom Status eines warmblütigen Tiers in den eines kaltblütigen Tiers, andere mutmaßen den regressiven Rückfall in ein embryonales Stadium. Der Prager Biologe Franz Mares schließlich vergleicht ein Tier im Winterschlaf mit einem bestimmten Zustand einer hysterischen Frau, insofern sich auch bei dieser ein enormer Abfall der Körpertemperatur zeige. 21

Schluss Die Rede von der Hypnose von Tieren beginnt etwa um 1870 und verschwindet erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts langsam wieder aus der komparativen Psychologie zugunsten anderer eher funktional ausgerichteter Begriffe wie Totstellreflex, Immobilisationsstadium und Schreckreaktion. Ganz ist der Begriff der tierischen Hypnose allerdings bis heute nicht aus der psychologischen Fachsprache verschwunden. 22 Die Frauen der 1920er Jahre jedenfalls bewegen sich inmitten einer Wolke intensivster Auseinandersetzungen um die psychische Animalität des Menschen. Inwieweit sie selbst in ihren verschiedenen Figurationen, z.B. als It-Girl, integraler Teil der Verhandlungen über die Grenze zwischen Mensch und Tier werden, wäre über literatur, medien- und kulturwissenschaftliche Studien noch einmal ganz neu zu sondieren. 19 Vgl. E. Mangold: Hypnose und Katalepsie bei Tieren. 20 Vgl. z.B. Polimanti, Oswald: »Über die Natur des Winterschlafs«, in: Pflügers Archiv für Physiologie 155 (1914), S. 252. 21 Vgl. Mares, Franz: »Zur Frage über die Natur des Winterschlafs«, in: Pflügers Archiv für Physiologie 155 (1914), S. 411-420. 22 Vgl. Voelgyesi, Ferenc: Hypnose bei Mensch und Tier, 3. Aufl., Leipzig: Hirzel 1969; Jones, Charles: Hypnose an Mensch und Tier, Lindau: Rudolphsche Verlagsbuchhandlung 1957; Rothweiler, Hugo: Hypnose an Mensch und Tier, Lindau: Rudolph 1961; The Psychological Record 27 (1977), Sonderheft: »Animal Hypnosis: Research and Theory«. 113

Jungfrauenmaschinen. Über die Zumutungen und Verheißungen der Bienenkönigin EVA JOHACH

Die Biene gehört zu jenen Tieren, die sich seit jeher für eine moralisierende Betrachtung besonders anboten. Dass sich ihre augenscheinlichen ›Tugenden‹ wie Fleiß, Gehorsam und Treue gegenüber ihrem Oberhaupt mit vermeintlicher ›Keuschheit‹ verbanden, zeichnete sie nicht nur vor den anderen Tieren, sondern selbstredend auch vor dem Menschen aus. Generationen pastoraler Bienenzüchter bewunderten an ihren Nutztieren ihren »feinen/züchtigen/jungfräulichen unbefleckten Leib/dan sie ihre Jungen nit zeugen per libididem, wie andere Thier oder Geflügel«. 1 Ihre Keuschheit war Ausdruck einer göttlichen Gabe an die Biene, die sie zum Exempel für den Menschen machte und lediglich mit der conceptio immaculata, der unbefleckten Empfängnis Mariens vergleichbar war. So heißt es bei Kirchenvater Ambrosius: »Apes nullo concubitu nascuntur nec libidine, nec partus doloribus quariuntur, sed integritatem corporis virginalem servantes subito filiorum Examen emittunt, quid mirum videtur, si Virgo Maria conceperit.« 2 »Die Bienen werden weder durch Beischlaf geboren noch durch Geschlechtsbegierde, noch jammern sie unter Schmerzen der Geburt, vielmehr stoßen sie, indem sie die jungfräuliche Unversehrtheit des Körpers bewahren, plötzlich einen Schwarm Kinder aus, was so wunderbar erscheint, als wenn die Jungfrau Maria empfangen hätte.«

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Colerus, Johannes: Oeconomia Ruralis Domestica, Frankfurt a.M. 1680, S. 527. Zit. n. Overbeck, Johann Adolf: Glossarium Melliturgicum oder BienenWörterbuch, in welchem die bisher bey der Bienenpflege bekannt gewordene oder gebräuchliche Kunstwörter und Redensarten nach alphabetischer Ordnung erkläret werden, Bremen: Georg Ludewig Foerster 1765, S. 149 (Übersetzung E.J.). 115

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Das Rätsel ihrer Fortpflanzung findet demnach sein Pendant in der unbefleckten Empfängnis Mariens; anders als die christliche Gottesmutter bringen die Bienen jedoch nicht nur ein einzelnes Kind, sondern gleich einen ganzen Schwarm hervor. Ambrosius beschreibt dies, nicht ohne auf den Aspekt der ›Schmerzfreiheit‹ bei dieser Form der Fortpflanzung hinzuweisen. Die Bienen vermitteln so nicht nur die andauernde Aufforderung an den Menschen, seine Tugenden zu entwickeln und sich in Keuschheit zu üben, sondern sie verweisen durch das Privileg der Unversehrtheit auch auf das verlorene Paradies und den Sündenfall. Im Zuge der Transformation der Reproduktionsvorstellungen im 18. Jahrhundert erhält die vermeintliche Keuschheit der Bienen eine neue Deutung. Anstatt jedoch als Ding der Unmöglichkeit verworfen zu werden, kommt nun jener Begriff auf, der die mythologischen Vorstellungen in biologische überführt: Parthenogenese oder ›Jungfernzeugung‹. Der Mythos von der unbefleckten Empfängnis klingt darin deutlich an. Nun aber geht es tatsächlich um einen Modus autonomer weiblicher Selbstzeugungsfähigkeit und nicht, wie in christlich fundierten Zeugungstheorien, um eine nahezu aufs Asexuelle reduzierte geschlechtliche Zeugung, bei der ein männlicher Same die passive weibliche Matrix schwängerte, ohne dabei in eine Kopulation verwickelt zu werden. Ironischerweise nähert sich das, was im Zuge der biologischen Reformen als Parthenogenese definiert wird, den älteren mythischen Bedeutungen: weibliche Zeugung ohne männliche Befruchtung. 3 Am Komplex der Parthenogenese verdichten sich zahlreiche Phantasmen, aber auch das utopische Potenzial, das der Bienenstock für seine menschlichen Betrachter und Betrachterinnen bereit hielt. Da sich im Fall der Bienen und anderer sozialer Insekten die vermeintliche ›Jungfernzeugung‹ nicht auf einzelne Weibchen, sondern auf ein ganzes Gesellschaftswesen erstreckt, konnte sie in besonderer Weise zum neuralgischen Punkt dessen werden, was ich als ›matriarchale Versuchung‹ bezeichnen möchte. 4 Der Aufsatz geht den Spuren dieser ambi-

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»Parthenogenesis (griech. Jungfernzeugung), eine Art der Fortpflanzung, bei der sich das Ei ohne Befruchtung durch den Samen entwickelt. Bei der P. muß also wie bei der zweigeschlechtlichen Fortpflanzung ein weibliches Tier vorhanden sein, aber nur dieses allein, weshalb man sie auch der eingeschlechtlichen Fortpflanzung zurechnet.« Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 15, 6. gänzl. umgearb. u. verm. Aufl., Leipzig/Wien: Bibliographisches Institut 1906, S. 469. Zum Vergleich mythologischer und theologischer Vorstellungen von ›jungfräulicher‹ Empfängnis immer noch lesenswert Lafargue, Paul: »Der Mythos von der unbefleckten Empfängnis. Ein Beitrag zur vergleichenden Mythologie«, in: Ders., Geschlechterverhältnisse. Ausgewählte Schriften, Berlin: Argument 1995, S. 153-160. Vgl. hierzu Johach, Eva: Die matriarchale Versuchung. Von Insekten, Menschen und der Konkurrenz der politischen Tiere, in: Sophia Könemann/Anne Stähr (Hg.): Das Geschlecht der Anderen. Eine Wissensgeschichte der Alterität: Kri-

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valenten Faszination nach und verfolgt diese diese von der Bienenzucht des 18. Jahrhunderts bis in die bio-politischen Utopien des 20. Jahrhunderts.

Von der Keuschheit zur Parthenogenese. Reproduktionsgeschichten Im 17. und 18. Jahrhundert gerieten die Insekten, ihre Anatomie und insbesondere ihre Fortpflanzung in den Fokus eines neuen Aufmerksamkeitsregimes. 5 Die von Lorraine Daston und anderen beschriebene passionierte Aufmerksamkeit für die Insekten und ihr ›Geschlecht‹ kann mit Michel Foucault als eine produktive Macht betrachtet werden, als ein »Wille zum Wissen«, der nun überall ›Sexualität‹ erkennt, wo zuvor keine war. Und zusammen mit den ubiquitären und vermeintlich ›normalen‹ Modi der Fortpflanzung traten sogleich die Abweichungen auf den Plan. So brachten die Blattlausstudien Charles Bonnets von 1745, die musterhaft den von Daston konstatierten Aufmerksamkeitskult belegen, als zentrales Ergebnis die Fähigkeit der Läuse ans Licht, sich über mehrere Generationen hinweg ungeschlechtlich fortzupflanzen. 6 Auch die Bienen wurden nun zum Gegenstand beherzter anatomischer Untersuchungen, mit der naturkundliche Laien, die Imker, noch früher begannen als professionelle Naturforscher – hatten sie sich doch durch die lange Tradition der Zucht praktisches Wissen über diese Tiere erworben. Einer jener pastoralen Bienenzüchter, die sich unerschrocken mit den Geschlechterverhältnissen seiner bewunderten Nutztiere auseinandersetzte – und darüber auch den intensiven Austausch mit internationalen Naturforschern wie Bonnet suchte –, war der Lausitzer Adolf Gottlob Schirach. Schirach verfasste zahlreiche physikotheologische Schriften, u.a. die Melitto-Theologia von 1767, gewidmet der »Verherrlichung des glorwürdigen Schöpfers aus der wundervollen Biene«. 7 Das Lob der Biene, ihrer ökonomischen Nützlichkeit und moralischen Vorbildhaftigkeit für den Menschen geht hier Hand in Hand mit einem ›Willen zum Wissen‹, der auch vor den anatomischen Geheimnissen der

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minologie, Psychiatrie, Ethnologie und Zoologie, Bielefeld: transcript 2011 (im Erscheinen). Vgl. Daston, Lorraine: »Attention and the Values of Nature in the Enlightenment«, in: Dies./Francisco Vidal (Hg.), The Moral Authority of Nature, Chicago/London 2004, S. 100-126. Bonnet, Charles: Traité d’Insectologie, ou Observations sur les pucerons [1745], in: Ders.: Œuvres de l’histoire naturelle et de philosophie, Bd. 1, Neuchatel: Samuel Fauche 1779-1783. Schirach, Adam Gottlob: Melitto-Theologia. Die Verherrlichung des glorwürdigen Schöpfers aus der wundervollen Biene, Dresden: Waltherische Hof-Buchdruckerey 1767. 117

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Schöpfung nicht Halt macht und sich zu ihrer Enträtselung der modernsten Mikroskope bedient. Diese »vergrößernden Gläser« öffnen, so Schirach, »das geheime Cabinet Gottes, und lassen uns Wunder über Wunder, und oft neue Welten erblicken«.8 Obwohl Schirach unerschrocken zur Tat schritt und aufgrund der akribisch dokumentierten anatomischen Zeugungsapparate in beigefügten Bildtafeln zu der Auffassung hätte kommen ›müssen‹, dass die Befruchtung durch Kopulation vonstatten geht, hielt er dennoch an der Swammerdam’schen Auffassung fest, dass für die Befruchtung der weiblichen Bienen ein pneumatischer »Saamen-Dampf« verantwortlich sei, der während des »Hochzeitsflugs« in die Königin eindringe. René-Antoine Ferchault de Réaumurs Behauptung, er habe eine echte Befruchtung beobachtet, war für Schirach hingegen nicht überzeugend. 9 Die lange, über viele Generationen hinweg anhaltende Dauer der Fruchtbarkeit der Königin schrieb er der besonders »durchdringenden« Qualität des (männlichen) Samens zu. Dadurch, dass dieser »den Organismus der Biene belebt und gleichsam erwärmt, kann [er] in der Bienen-Mutter ein ganzes Jahr hindurch seine Wirkung thun«. 10 Wenig später jedoch musste das paradoxe Modell einer geschlechtlichen Zeugung ohne den Akt einer Kopulation verworfen werden. Die anatomischen Einblicke in den Befruchtungsapparat und diverse andere Befunde machten die Folgerung zwingend, dass beim Schwärmen in luftigen Höhen eine Begattung zwischen Königin und Drohne stattfinde. Dies bedeutete vor allem auch das Ende ›pneumatischer‹ Vorstellungen von der Befruchtung nach Art einer Bestäubung. Im Gegensatz dazu musste nun auch für die Bienen von einer Kopulation ausgegangen werden, mit dem denkbar ungünstigsten Ausgang für die beteiligten Männchen. Obwohl das neue biologische Wissen über die Reproduktion der Lebewesen die sexuelle, zweigeschlechtliche Fortpflanzung zur Norm und Normalität erhob, musste für die Bienen dennoch ein teilweise selbstreproduktiver Zeugungsmodus konstatiert werden, und dies sogar in zweifacher Hinsicht: Zum

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A.G. Schirach: Melitto-Theologia, S. XXII. Anders als Jan Swammerdam hatte Réaumur kleine Öffnungen in den Zeugungsorganen der Drohnen bemerkt und wollte auch erstmals eine Begattung beobachtet haben. Dabei habe er, so Schirach, beobachtet, »daß die männlichen Zeugungsglieder herausgedrungen, und daß beyde Thiere unten am Bauche zusammengefügt, eine Zeitlang sich befunden hatten, und gleich nach dieser Begattung sey das Männchen todt gewesen. Wann ich meine Erfahrung mit dieser beyden Meinungen vergleichen soll; so muß ich mich eher auf des Swammerdams, als Reaumurs Seite wenden.« Seine eigenen Beobachtungen überzeugten ihn davon, dass die Bienenkönigin nicht ›direkt‹ penetriert, sondern eher in eine Wolke aus Samenstaub gehüllt werde, A.G. Schirach, Melitto-Theologia, S. 175. 10 Ebd., S. 176f. 118

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einen wurde festgestellt, dass auch die vermeintlich geschlechtslosen Arbeitsbienen unter Umständen Nachkommen hervorbringen und zumindest Drohneneier legen konnten. Zum andern schien auch die Bienenkönigin die Fähigkeit der Parthenogenese zu besitzen, sofern sie sowohl zur geschlechtlichen wie zur ungeschlechtlichen Fortpflanzung in der Lage war. Eine Begattung sei zwar notwendig, wenn auch nur ein einziges Mal,11 wobei der männliche Same lediglich zur Produktion von weiblichen Larven bzw. Arbeiterinnen benötigt werde; Drohnen bzw. männliche Geschlechtstiere hingegen kann eine Insektenkönigin auch in unbefruchtetem Zustand, ja selbst eine Arbeiterin mit verkümmerten Geschlechtsorganen hervorbringen. Die Durchsetzung dieser letzteren Tatsache muss als Verdienst des Lausitzer Pastors Schirach angesehen werden, der somit selbst zur Revision des Mythos von der ›keuschen‹, das heißt kopulationsfreien Fortpflanzung der Bienen beitrug. Die ›Parthenogenese‹ der Bienenkönigin erforderte darüber hinaus den neuen Blick auf ein bereits bekanntes Organ: einen Anhang der weiblichen Eierstöcke, die sich keineswegs nur in speziell disponierten, sondern in allen eierlegenden Insektenweibchen findet. 12 Bereits Réaumur hatte es beschrieben, aber als Indiz für Hermaphroditismus aufgefasst. Die sich schließlich durchsetzende Interpretation dieses Anhangs als Samentasche (auch »Spermathek« genannt), worin der männliche Same bei der Befruchtung »gesammelt« werde, 13 steht dann jedoch nicht nur im Widerspruch zu dieser Vorstellung, sondern auch zur Auffassung, ein männlicher Same müsse dauerhaft die Reproduktionskraft des Bienenstocks und seiner Königin garantieren. Nach der neuen Deutung ist es eben jenes Organ, das der Königin die optionale Befruchtung jedes aus ihrem Körper austretenden Eies erlaubt. 14 11 Dezidiert festgestellt wird dies von François Huber: »[I]ch habe mich überzeugt, daß eine einzige Begattung hinreichend ist, alle die Eyer bey einer Königin zu befruchten, welche sie zum wenigsten in einem Zeitverlauf von 2 Jahren legen soll. Ich habe selbst guten Grund zu glauben, daß ein einziger Actus hinlänglich sey, alle die Eyer zu befruchten, welche sie ihre ganze Lebenszeit hindurch legen wird: allein ich habe nur sichere Proben auf 2 Jahr hinaus«. Huber, François: Neue Beobachtungen über die Bienen: in Briefen an Herrn Carl Bonnet, aus dem Französischen übersetzt, mit Zusätzen und mit einigen Kupfern vermehrt von Johann Riem’en, Leipzig: Waltherische Hofbuchhaltung 1793, S. 107. 12 Dies vermuteten William Kirby und William Spence bereits Anfang des 19. Jahrhunderts: »It is not improbable that in all insects whose eggs are gradually laid, this provision for their gradual fecundation, if carefully sought for, might be detected.« Kirby, William/Spence, William: Introduction to Entomology, Bd. 4, 5. Aufl. London 1824, S. 154. 13 Diese geht zurück auf den französischen Naturforscher und Entomologen M. Victor Audouin, vgl. ders.: »Lettre sur la generation des Insectes«, in: Annales des Sciences Naturales 2 (1824), S. 281-285. 14 Aufgrund der »Samentasche«, so schreibt Johann Dzierzon, »hat die Königin es in ihrer Gewalt, ein zu legendes Ei so abzusetzen, wie es aus dem Eierstocke 119

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Die Tatsache der optionalen Befruchtung macht um die Mitte des 19. Jahrhunderts sogar eine Revision bisheriger Zeugungsvorstellungen notwendig. Die Potenz des männlichen Samens muss eingeschränkt, die der weiblichen Matrix aufgewertet werden. Erkennbar wird dies an folgendem bemerkenswerten Fazit, das Rudolf Leuckart in seinem Aufsatz »Zur Kenntniss des Generationswechsels und der Parthenogenesis bei den Insekten« von 1858 zieht: »Die Geschichte der Zeugungslehre zeigt in deutlicher Weise, wie die Rolle, welche die Samenkörperchen bei der Befruchtung zu spielen scheinen, durch die Fortschritte der Wissenschaft immer mehr und mehr beschränkt ist. Anfänglich war das Samenkörperchen der junge Keim, der das Ei nur als Wiege und den Dotter nur als Nahrung bedurfte; später wurde er ein dem Ei gewissermassen gleichberechtigtes Element, das sich mit demselben verbinden und durch diese Verbindung den Keim erst erzeugen sollte; jetzt ist das Ei zum Keim geworden, wenn auch vielleicht nicht ohne Weiteres zum entwicklungsfähigen Keime. Das Ei repräsentirt nach dem heutigen Stande unserer Wissenschaft […] ein System von Massen und Kräften, das sich unter gewissen Verhältnissen und Bedingungen durch eine fortlaufende Reihe von Veränderungen zu einem Embryo entwickelt. Zu der Erfüllung dieser Bedingungen bedarf es in der Regel auch einer Befruchtung d. h. eines Contactes mit den Samenfäden; wo die Befruchtung unnöthig wird (bei der Parthenogenese), da ist der Kreis der Entwickelungsbedingungen entweder schon von vorn herein geschlossen oder er wird es durch Hinzufügung gewisser anderer, uns einstweilen noch unbekannter Factoren, die dann in gewisser Beziehung an die Stelle des befruchtenden Contactes zwischen Ei und Samenkörperchen treten.« 15

Der männliche Same ist damit nicht mehr im aristotelischen Sinne der »erste Lebendigmacher«, sondern lediglich ein Faktor unter vielen anderen, der zwar »in der Regel« einen wesentlichen Beitrag zur Zeugung leistet, prinzipiell jedoch als ersetzbar gelten muss. Um 1900 entdecken Forscher gar die chemische Substituierbarkeit des Samens (durch so unspezifische Substanzen wie Chloroform oder Benzol) an Experimenten mit Eiern von Seeigeln, Würmern, Schnecken, ja sogar Fischen und Amphibien und bezeichnen dies als »künst-

kommt und wie es die unbefruchteten Mütter legen, oder ihn durch Einwirkung des Samenhalters, bei welchem es vorbeistreichen muß, einen höheren Grad, eine höhere Potenz der Fruchtbarkeit zu verleihen, und den Keim zu einem vollkommneren Wesen, nämlich zu einer Königin oder Arbeitsbiene, darin zu wecken.« Dzierzon, Johann: Neue nützliche Bienenzucht, 6. Aufl., Quedlinburg/Leipzig: Verlag der Ernst’schen Buchhandlung 1861, S. 121. 15 Leuckart, Rudolf: »Zur Kenntniss des Generationswechsels und der Parthenogenesis bei den Insekten«, in: Untersuchungen zur Naturlehre des Menschen und der Thiere 4 (1858), S. 327-438. Vgl. auch Leuckarts einschlägigen Artikel »Zeugung«, in: Wagner’s Handwörterbuch der Physiologie, Bd. 4, Braunschweig: Vieweg 1853, S. 707-1000. 120

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liche Parthenogenese«. 16 Die Befruchtung ist damit im Umkehrschluss nur noch wenig mehr als eine Erregung des Eis, die auch auf anderem Wege erreichbar ist. Wie begrenzt der Beitrag des männlichen Samens ist, wird bei den sozialen Insekten in besonderer Weise deutlich. Zwar ließ sich die Speicherbarkeit und jahrelange Wirksamkeit auch als Indiz für die besonders langlebige ›Potenz‹ des männlichen Samens deuten.17 Letztlich aber war es gerade diese Potenz, die ihre Träger, die Männchen, für das Gemeinwesen überflüssig machte: Die Drohnen spielen in der neuen Reproduktionsordnung und in der vielbewunderten Arbeitsteilung keine nennenswerte Rolle mehr. Mehr noch als das der weiblichen Bienen beschränkt sich ihr Dasein auf eine rein reproduktive Funktion. Dass die ›Funktion‹ des Weibchens in Bienengesellschaften ›geteilt‹ ist und die Königin sich gewissermaßen auf die eines Eierstocks beschränkt, wurde schon zuvor festgestellt. So schrieb etwa Lorenz Oken, bei den Bienen sei »der weibliche Charakter« in sich gespalten, »ein Theil hat die Bläschenstöcke, den Uterus, das Empfangen, und das Geschäft des Legens in sich aufgenommen, der andere aber den Dotter, das Milchorgan, das Geschäft der Bebrütung und Ernährung. Erstes ist die Königinn, das zweite die Arbeitsbiene, als die individualisirte Brust ihrer Schwester.«18

Nun aber wird der – weiterhin unscharf als Parthenogenese bezeichnete – Zeugungsmodus der Bienen zum Modell für ein Reproduktionssystem, das nahezu vollständig auf einer solchen (inner-)weiblichen Arbeitsteilung beruht und für dessen Betrieb Männchen, abgesehen von der punktuellen Befruchtung, entbehrlich sind. Im Wesentlichen herrscht hier nicht die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, sondern die zwischen funktional differenzierten Weibchen.

16 Vgl. dazu Loeb, Jacques: »Versuche über künstliche Parthenogenese«, in: Archiv für Entwicklungsmechanik 13 (1902); ders.: Untersuchungen über künstliche Parthenogenese und das Wesen des Befruchtungsvorgangs, Leipzig: Barth 1906. 17 So war Huber der Ansicht, »dass der männliche Samen von vorn herein auf die Gesammtmasse der Eier einwirke«; Dzierzon wiederum korrigierte diese Ansicht dahingehend, dass »bei der Begattung der Königin nicht der Eierstock befruchtet, sondern jenes Bläschen oder jener Samenhalter mit dem männlichen Samen durchdrungen oder gefüllt« werde, J. Dzierzon: Neue nützliche Bienenzucht, S. 119. 18 Oken, Lorenz: Die Zeugung, Bamberg/Würzburg: Joseph Anton Goebhardt 1805, S. 114. 121

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Die matriarchale Versuchung Die Gesellschaften der Insekten verdanken ihre Stabilität der Tatsache, dass sie den männlichen Einfluss auf ein Minimum begrenzt hätten, »by reducing him to a certain convolute of sperm«, einen Samenspender, der abgesehen von seiner einmal im Jahr notwendigen Begattungsfunktion mit dem sozialen Leben nichts zu tun habe. Zu diesem Schluss kommt der renommierte amerikanische Entomologe und Harvard-Professor William Morton Wheeler 1933 in einem Vortrag mit dem schlichten Titel Animal Societies vor dem Kongress der American Society of Naturalists an der Harvard University. Nicht nur das Studium der sozialen Insekten, sondern auch die Ergebnisse der von ihm verfochtenen »vergleichenden Soziologie« zwischen Säugetieren und Menschen, zeugen für Wheeler von der Tatsache, dass das männliche das unsoziale, wenn nicht antisoziale Geschlecht ist. Und es sei genau dieses »Problem«, das für die Instabilität der menschlichen Gesellschaften verantwortlich sei und sie in »constant turmoil« halte. 19 Und so lässt sich die Differenz zwischen den beiden so unterschiedlichen Gesellschaftsformen für Wheeler folgendermaßen auf den Punkt bringen: »The important difference lies, I believe, in what I shall call the ›problem of the male‹, which has been successfully solved by the social insects but not by mammal or human societies.« 20 Insektengesellschaften können auf einen langen Prozess der sozialen Evolution zurückblicken, der bereits im Tertiär (also etwa vor 80 Mio. Jahren) begann, während unsere eigene Spezies überhaupt erst seit etwa 1 Mio. Jahren existiert und erst erheblich später damit begonnen hat, Gesellschaften oder Staaten zu bilden. Entsprechend hätten die sozialen Insekten, so die Darstellung Wheelers, ausreichend Zeit gehabt, das Stadium der »Unreife« zu überwinden, in dem sich die ungleich jüngeren menschlichen Gesellschaften nach wie vor befänden. Was die Insekten uns voraushätten, sei jedoch nicht nur das Alter, sondern seien »gewisse Eigenarten«, die erst für soziale Stabilität gesorgt hätten, nämlich ihre spezielle Reproduktionsordnung. Wie um den »inferiority complex« der Männchen noch zu verstärken, so Wheeler, hätten die Weibchen begonnen, selbst aus unbefruchteten Eiern Nachkommen zu erzeugen. Die eigentliche ›Zumutung‹ bestand aber wohl in einem anderen Punkt: jener sinnreichen Einrichtung, der oben erwähnten Spermathek, in der der männliche Same über Jahre hinweg fruchtbar gehalten werden konnte und zur quasi-autonomen Befruchtung verfügbar blieb. Für Wheeler ist die Spermathek das anatomische Symbol der »Lösung« dessen, was er als »problem of the male« bezeichnet. Das »Geheimnis« des evolutio-

19 Wheeler, William Morton: »Animal Societies«, in: Ders., Essays in Philosophical Biology, New York: Russell & Russell 1966, S. 233-261. 20 Ebd, S. 240f. 122

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nären Erfolgs bestehe darin, dass es den Weibchen (das heißt der Mutter und ihren zahllosen unfruchtbaren Töchtern, den »Hilfsweibchen«) gelungen sei, den Beitrag der Männchen auf das absolut Notwendigste zu reduzieren. Dass sich die Instabilität menschlicher Gesellschaften im Kern der sozialen Sprengkraft des männlichen Sexualtriebs verdankt – in dieser Annahme wusste sich Wheeler einig mit einem eher unbekannten deutschen Philosophen, der ein Jahr zuvor sein Buch Erkenntnisgeist und Muttergeist. Eine Soziosophie der Geschlechter veröffentlicht hatte:21 Ernst Bergmann, der seit 1916 als außerordentlicher Professor für Philosophie in Leipzig lehrte und im Erscheinungsjahr des Buches, 1932, Mitglied der NSDAP wurde. Bergmann lässt sich einer deutschreligiösen Erneuerungsbewegung zuordnen, die sich der weltanschschaulichen Fundierung der völkischen Bewegung verschrieb, was für ihn auch mit einer Aneignung des Matriarchatsgedankens verbunden war. 22 Zwei Jahre nach Erscheinen seiner Soziosophie verfasste er für das Deutsche Ärzteblatt den Aufsatz Die Deutung des nationalsozialistischen Gedankens aus dem Geiste des Mutterrechts. 23 Der Mensch der Gegenwart solle sich, so der wiederkehrende Appell in Bergmanns Schrift, am Matriarchat und damit am Vorbild des Bienenstaates orientieren, denn dessen»Muttergeist« sei der einzige Garant für ein integriertes Gemeinwesen; 24 der menschliche Staat hingegen sei in seiner jetzigen Form »geschaffen und bewegt von der männlichen Geschlechtstragödie in ih-

21 Bergmann, Ernst: Erkenntnisgeist und Muttergeist. Eine Soziosophie der Geschlechter, Breslau: Ferdinand Hirt 1932. 22 Vgl. dazu Johach, Eva: »Weiblicher Urgrund des Sozialen. Zur Bio-Politik des Unbewussten in Ernst Bergmanns ›Erkenntnisgeist und Muttergeist‹ (1932)«, in: Christina von Braun/Dorothea Dornhof/Eva Johach (Hg.), Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften, Bielefeld: transcript 2009, S. 264-280. 23 Bergmann, Ernst: »Die Deutung des nationalsozialistischen Gedankens aus dem Geiste des Mutterrechts«, in: Deutsches Ärzteblatt 64/1 (1934), S. 35-37. Zur Rezeption der Mutterrechtstheorie im Nationalsozialismus vgl. Ziege, EvaMaria: »Die Bedeutung des Antisemitismus in der Rezeption der Mutterrechtstheorie«, in: A.G. Genderkiller: Antisemitismus und Geschlecht, Münster: Unrast 2005, S. 143-170, sowie dies., Mythische Kohärenz. Diskursanalyse des völkischen Antisemitismus, Konstanz: UVK 2002. 24 Auch Bergmann führt das Problem sozialer Desintegration auf den Charakter des männlichen Sexualwesens zurück: »Der tragische Grundton seines Urwesens, beruhend auf seiner dramatischen, fragwürdigen, ungeschützten und ungesicherten, stets auf den Kampf und die Verdrängung des Nebenbuhlers angelegten Existenz, wird stets ein Hinderungsgrund sein für das Durchbrechen einer frohen und sonnigen Gemeinschaftsidee, wie sie uns der völlige Sieg des Muttergeistes bei den sozialen Hautflüglern in seiner Ordnungsfreude, seinem jubelnden Dienstwillen am Volksganzen so eindringlich veranschaulicht.« E. Bergmann, Erkenntnisgeist und Muttergeist, S. 131. In Übersetzung zitiert bei W.M. Wheeler: Animal Societies, S. 259f. 123

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rer ganzen schauerlichen Pracht und Größe«.25 In einer Fußnote lässt Wheeler erkennen, dass er zwar Bergmanns typisch deutschen »dionysischen« Tonfall bei der Übersetzung um einige Grad habe abkühlen müssen, inhaltlich aber mit ihm übereinstimme: Wenn es nicht gelänge, die männlich dominierten westlichen Gesellschaften »im Geiste des Mutterrechts« umzugestalten, dann, so wird Bergmann zitiert: »finis humanitatis«! Diese Folgerung sei aber, so fügt Wheeler ironisch hinzu, »still too warm for presentation to a male scientific gathering«. 26 So ganz unrecht könnte er damit nicht gehabt haben, denn Wheeler geht nun daran, mit der ganzen Autorität der Biologie den Nachweis zu führen, das zentrale Problem menschlicher Gesellschaften liege im asozialen Charakter männlicher Sexualität begründet. 27 Was Wheeler wie auch Bergmann als »matriarchale Umgestaltung« begreift, zielt dann freilich nicht in erster Linie auf einen verstärkten gesellschaftlichen Einfluss von Frauen, sondern auf eine von den Männern selbst zu gestaltende Gesellschaftsreform »im Geiste des Mutterrechts«. Dies aber bedeutet ein Programm durchgreifender staatlicher Biopolitik. Während Bergmann dabei hauptsächlich die Steigerung der Geburtenrate, ja einen »Gebärzwang« für Frauen im Auge hatte, stellt Wheeler die Notwendigkeit einer »Domestizierung« der männlichen Gesellschaftsmitglieder in den Vordergrund – unter Aufbietung von allem, was die zeitgenössischen Naturwissenschaften zu bieten haben: »We seem to be confronted with the trilemma of either finding some means of socializing our males more completely, or of returning to a more unprogressive bisexual society like that of the termites (Russia already shows a suspicious approach to such a society), or of lapsing into something like Spengler’s Fellahin Society. For thousands of years attempts have been made to socialize the unsocial and antisocial males by fasting, prayer, sermonizing, systems of ethics, idealistic philosophies, legislation, prohibition, punishment, and discipline, but with very indifferent success. […] Fortunately, the youthful sciences of endocrinology, genetics, eugenics, penology, and psychiatry are beginning to provide us not only with this knowledge but also with suggestions for its practical application.« 28

25 E. Bergmann, Erkenntnisgeist und Muttergeist, S. 131. 26 W.M. Wheeler: Animal Societies, S. 259. 27 Da das weibliche Geschlecht niemals selbst »Geschichte, Weltanschauung und Staat machen« werde, sei es die – nahezu titanische – Aufgabe des männlichen Erkenntnisgeistes, seine eigene Dominanz abzuschaffen und sich im ›Geiste‹ des Mutterrechts umzugestalten. »Vollbringt der männliche Erkenntnis- und Führergeist nicht die große Wendetat der Menschheitskultur, unter Umgehung seiner eigenen Wesensveranlagung … dann: Finis humanitatis.« E. Bergmann, Erkenntnisgeist und Muttergeist, S. 131. 28 W.M. Wheeler, »Animal Societies«, S. 251f. 124

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In Bezug auf Wheelers eigenes Unterfangen ließe sich ein weiteres Dilemma hinzufügen: Es gilt, den zwingenden Gesetzen von Insektengesellschaften zu entkommen und zugleich deren zentrale ›biopolitische‹ Errungenschaft auf besserem Wege zu verwirklichen: die Männchen dem sozialen Ganzen »assimilierbar« zu machen.

Die parthenogenetische Maschine und der abendländische Logos Gerade im 20. Jahrhundert entfaltet sich im Studium sozialer Insekten eine Konkurrenzdynamik, der gemäß der Mensch in seiner politischen und sozialen Evolution den Vorsprung der Insekten erst noch einzuholen hat – und dabei Sorge tragen muss, nicht auf dystopische Zustände zuzusteuern. Die imaginäre Annäherung menschlicher an Insektengesellschaften, ob nun als propagierte gesellschaftspolitische Option oder als gesellschaftskritische Diagnose, erweist sich dabei als ein höchst ambivalentes Unterfangen, in dem sich sowohl die Sehnsucht nach einem ›organischen‹ Staatswesen als auch Ängste vor einer rationalisierten und biopolitisch umgestalteten Gesellschaft artikulieren können. Vielen Beobachtern drängt sich beim Blick in Insektengesellschaften die verzerrte Spiegelung menschlicher Staatenbildung auf. So schrieb der belgische Symbolist und Literaturnobelpreisträger Maurice Maeterlinck, der Termitenstaat (mehr noch als der Bienen- und Ameisenstaat) zeige das Bild einer »von der Vernunft beherrschten Lebensform, einer politischen und wirtschaftlichen Organisation, die, von der grundlegenden Vereinigung von Mutter und Kind ausgehend, stufenweise […] zu einem furchtbaren Gipfel gelangt ist, zu einer Vollkommenheit, welche, vom rein praktischen und Nützlichkeitsstandpunkt aus betrachtet […], also vom Standpunkt der Kräfteausnutzung, der Arbeitsverteilung und der materiellen Ertragsfähigkeit, von uns noch nicht erreicht worden ist«. 29

Aus Maeterlincks Äußerung geht hervor, dass er im Insektenstaat die Überzeichnung oder Pervertierung einer natürlichen Entwicklung sieht. Die grundlegendste und natürlichste aller sozialen Beziehungen, die zwischen »Mutter und Kind«, ist in die bedrohliche Gestalt eines ökonomischen Verhältnisses umgeschlagen, eine gleichsam ›industriell‹ organisierte, pervertierte Form der Arbeitsteilung. In einer eigenartigen Überblendung von naturgeschichtlichen und gesellschaftsgeschichtlichen ›Logiken‹ erscheint die Insektenkönigin als 29 Maeterlinck, Maurice: Das Leben der Termiten [1926], in: Nobelpreis für Literatur. Maeterlinck: Das Leben der Termiten und Das Leben der Ameisen, Zürich: Chronos 1967, S. 183. 125

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eine maschinenhafte ›große Mutter‹, die ihre Fortpflanzung zu einem ›Staatswesen‹ ausgeweitet und scheinbar nach den Gesetzen ökonomischer Rationalität organisiert hat. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts dient die Auseinandersetzung mit Insektengesellschaften Inszenierung einer Konkurrenz zwischen ›Matriarchat‹ und ›Patriarchat‹, bei der die Hierarchie beider Modelle keineswegs im vorhinein feststeht; vielmehr umfasst die Inszenierung auch, dass das menschliche Patriarchat in Konfrontation mit dem matriarchalen Erfolgsmodell der Insekten seine Schwachstellen zu offenbaren und seine Überlegenheit mühsam zu verteidigen hat. Wie an Wheeler ersichtlich wurde, leistet der enorme evolutionäre Erfolg der sozialen Insekten mitunter einem negativ-andrologischen Narrativ Vorschub, wonach sich die männliche Dominanz in menschlichen Gesellschaften als Faktor sozialer Destabilisierung erwiesen habe. Im Einklang mit Christina von Braun ist dabei freilich festzuhalten, dass auch die euphorische »Wiederentdeckung des Matriarchats« um die Wende zum 20. Jahrhundert »keineswegs im Widerspruch zum patriarchalischen Geist der Zeit steht, sondern vielmehr dessen Ergänzung darstellt«.30 Vor dem Hintergrund ihrer Analysen erweisen sich Insektengesellschaften gleichsam als Überzeichnung tragender Phantasmen abendländischer Patriarchatsmythen – sei es etwa des Mythos von der alleinigen Zeugungskraft des männlichen Samens oder auch desjenigen vom Patriarchat als einer »Emanzipation vom Reich der Mütter«. 31 Die Insektenkönigin, diese Ikone einer ins Gesellschaftliche ausgeweiteten Mutterschaft tritt ihren Betrachtern und Betrachterinnen wie eine verzerrte Ansicht jenes patriarchalen Logos entgegen, der für ihren wissenschaftlichen Blick prägend ist. In der Insektenkönigin verdichtet sich – neben einer unbezweifelbaren Abwehr – auch das Begehren nach der »messianischen Mutter«, das sich in der Wiederkehr von »Mutterikonen« im Zuge gesellschaftlicher Utopien vom Frühsozialismus bis zur NS-Biopolitik niederschlägt. 32 Wie in einer Karikatur jener Phantasmen, die Christina von Braun dem abendländischen Logos attestiert hat, steht das ›parthenogenetische‹ Regime der Insektenkönigin für die Aufhebung sowohl des männlichen wie des weiblichen Se30 Von Braun, Christina: Nicht ich. Logik, Lüge, Libido, Neuaufl., Berlin: Aufbau 2009 [1985], S. 224. 31 Ebd., S. 217. 32 Einer solchen Suche nach der »messianischen Mutter«, wie Christina von Braun sie nennt, weihten sich etwa die Saint-Simonisten. Aber auch in der Gesellschaftsutopie von Auguste Comte spielt diese eine wesentliche Rolle, Comte, Auguste: Système de Politique Positive, ou Traité de Sociologie, Instituant la Réligion de l’Humanité, Paris 1851-1854, Nachdruck Osnabrück: Otto Zeller 1967, Bd. 4, hier bes. Kap. 12, S. 86-158. Vgl. dazu C. von Braun: Nicht ich, S. 200-202 und S. 221-222, sowie Kofmann, Sarah: Aberrations. Le Devenirfemme d’Auguste Comte, Paris: Flammarion 1978. 126

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xualwesens und ihre Synthetisierung in einem ›Androgyn‹. 33 Die Imagination der Insektenkönigin beschreibt damit gleichsam die Rückseite jenes Aneignungswunsches, den von Braun in der Symbolik der Maschine am Werk sieht: eine parthenogenetische, eine Jungfrauenmaschine, die nicht erst vom Logos in technischer Form verbessert nachgebaut werden muss, sondern bereits von der Natur selbst kreiert wurde. Mit dem Konkurrenzmodell Insektenstaat hat die Natur nicht nur den fehlbaren, schwachen Körper, sondern selbst die Maschine geschaffen, und zwar gerade über die Ausweitung der Parthenogenese zum Reproduktionsprinzip einer hocheffizienten ›Gesellschaft‹. Die besondere Qualität des Phantasmas besteht somit in einer paradoxen imaginären Überblendung, in der diese tierischen Gesellschaftsgebilde nicht als ›Natur‹, sondern gleichsam wie ein ›Nachbau‹ menschengeschaffener Maschinen anmuten. Die Parthenogenese, die für den reproduktiven ›Betrieb‹ dieser Gesellschaften kennzeichnend ist, bedeutet dabei keineswegs nur eine leicht pathologisierbare Abweichung, sondern sorgt für eine Verschärfung der Konkurrenzdynamik. Im Kontext des modernen Reproduktionswissens ist sie nicht länger Ausdruck einer ›keuschen‹ Weise der Befruchtung, bei der das Weibchen so unberührt wie eine Jungfrau bleibt und auch das Männchen nicht aktiv kopulieren muss. Eher erscheint sie nun als ein (bedrohliches) Potenzial, das dem ›normalen‹ Zeugungsapparat der Weibchen zahlreicher Tierklassen eigen ist, aber lediglich bei den sozialen Insekten zur reproduktiven Grundlage eines matriarchalen ›Staatswesens‹ geworden ist. Die evolutionäre Anpassung hat gewissermaßen zur ›Optimierung‹ eines bereits vorhandenen Organs geführt, das dem befruchteten Weibchen die Aneignung des männlichen Samens ermöglicht. Keimzelle und Triebmotor des Insektenstaates ist eine omnipotente Mutter, der es gelungen ist, sich in den Besitz des männlichen Samens zu bringen und somit von der sozialen Vaterschaft unabhängig zu machen. Die anatomisch durch die Samentasche gewährleistete ›Autonomie‹ und Monopolisierung ihrer Zeugungskraft hat eine Sozialform entstehen lassen, in der Teilfunktionen ihrer Mutterschaft ausgelagert sind und eine auf das Prinzip ›Ersatzmutterschaft‹ gegründete gesellschaftliche Arbeitsteilung herrscht. 34 Das sprichwörtliche ›Matriarchat‹ der Bienen ist auf eine biologi33 An anderer Stelle beschreibt Maeterlinck den sogenannten Hochzeitsflug der Bienenkönigin als Synthetisierung eines Androgyns – dieser entstehe dadurch, dass sich die Königin den männlichen Samen einverleibe und ihr so die »Fähigkeit beider Geschlechter untrennbar verliehen« werde, Maeterlinck, Maurice: Das Leben der Bienen, Jena: Diederichs 1919, S. 183. 34 Es war gerade dieser Punkt, an dem sich die neodarwinistische Evolutionsbiologie in den 1960er Jahren die Zähne ausgebissen hat: Wie konnte sich eine Sozialordnung evolutionär durchsetzen, die auf dem ›Verzicht‹ individueller Reproduktion beruht? Dieses (selbstgeschaffene) Problem bildet keineswegs eine Randerscheinung des Insektenstudiums, sondern geradezu den Kern neodarwi127

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sche Basis gestellt – und zwar auf eine höchst effiziente Weise, wie Biologen halb lust-, halb qualvoll immer wieder konstatieren mussten. Es ist nicht zu übersehen, dass die biologischen Tatsachen der Parthenogenese immer wieder mit Klischees angeblich ›feministischer‹ Traumvorstellungen gewürzt werden. 35 Weit wesentlicher die Erkenntnis, dass parthenogenetische Fortpflanzung im Tierreich gerne als ›primitiv‹, pathologisch oder sekundär abgewertet wird – was unbestritten stattfindet –, ist jedoch meines Erachtens, dass ihr Vorkommen tiefe Verunsicherung auslöst: Die sukzessive Ausweitung der Parthenogenese als reproduktive Option erschüttert die Basis der alten aristotelischen Zeugungstheorien, die auf der Unentbehrlichkeit oder gar alleinigen Zeugungskraft des männlichen Samens aufbauen – ein Mythos, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nur noch schwer zu halten ist. Dennoch: So manchem zeitgenössischen Beobachter erscheint der im Tierreich verbreitete parthenogenetische Fortpflanzungsmodus gar als Vorschein dessen, was dank der neuen Reproduktionstechnologien, jenen Ausgeburten des Logos, in naher Zukunft auch den menschlichen Gesellschaften drohen könnte. So finden sich in einer populärwissenschaftlichen Darstellung über Parthenogenese in der Tierwelt, unvermittelt eingestreut in ein Kapitel über Radiolarien (Rädertierchen), bange Fragen wie die folgenden: »Werden Männer jetzt völlig überflüssig? Genetik und Reproduktionsmedizin entwickeln sich rasant. Eine friedliche, sexlose Mutter-Tochter-Gesellschaft, in der die Frauen unter sich bleiben, wird zur machbaren Utopie«.36 Ein Hinweis auf die Insektengesellschaften hätte freilich den Nagel erst wirklich auf den Kopf getroffen. Als Option scheint sich übrigens die Parthenogenese in den Tierklassen immer weiter nach oben zu arbeiten. Im Mai 2007 melden Zoologinnen und Zoologen in der Zeitschrift Biology Letters, DNA-Analysen hätten zweifelsfrei ergeben, dass in Gefangenschaft gehaltene Hammerhaie zur Parthenogenese fähig seien. 37 Und mit einer Mischung aus Bewunderung und Sorge nistischer Evolutionstheorien, die sich am ›Altruismus‹ der sozialen Insekten (sprich: der sterilen ›Hilfsmütter‹) abarbeiten und versuchen, den reproduktiven ›Nutzen‹ für die sterilen Individuen zu errechnen. Vgl. hierzu exemplarisch: Hamilton, W. D.: »The genetical evolution of social behaviour«, in: Journal of Theoretical Biology 7 (1964), S. 1-52. 35 Vgl. hierzu Ebeling, Smilla: »Amazonen, Jungfernzeugung, Pseudomännchen und ein feministisches Paradies. Metaphern in evolutionstheoretischen Fortpflanzungstheorien«, in: Dies./Schmitz, Sigrid (Hg.), Geschlechterforschung und Naturwissenschaften, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 75-94. 36 Von Buddenbrock, Wolfgang: Das Liebesleben der Tiere, Bonn: Athenäeum 1953, S. 52. Den Hinweis verdanke ich Smilla Ebeling. 37 Chapman, Demian D. u.a.: »Virgin birth in a hammerhead shark«, in: Biology Letters 3 (2007), http://rsbl.royalsocietypublishing.org/content/3/4/425.full vom 3.7.2010. 128

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wurde bereits 2006 gemeldet, ein weiblicher Komodowaran habe ohne Paarung mehrere Junge hervorgebracht, »jedes von ihnen eine Jungfrauengeburt«. Die warnende Botschaft: Die Praxis vieler Zoos, Männchen und Weibchen dauerhaft getrennt voneinander zu halten, müsse überdacht werden – »um zu verhindern, dass Parthenogenese ausgelöst« und dadurch die notwendige Durchmischung des Erbguts gefährdet werde.38 Der Mythos von der Unentbehrlichkeit des männlichen Samens überlebt damit nicht länger als Grundprinzip von Zeugung schlechthin, sondern lediglich als Bürge für genetische Vielfalt. Die Bienenkönigin hat hierfür allerdings längst eine Lösung gefunden: Sie versichert sich dieser Bürgschaft schlicht dadurch, dass sie in ihrer Spermathek den Samen verschiedener Drohnen mischt.

38 Schmitt, Stefan: »Ohne Sex zum Drachenbaby«, in: Spiegel Online, 21.12.2006, http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,455910,00.html vom 3.7.2010; »Jungfernzeugung. Hammerhaie beherrschen Single-Trick«, in: Spiegel Online, 23.05.2007, http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,484353,00.html vom 3.7.2010. 129

Die Krise des Individuums und seine Heilung durch Vererbung BETTINA BOCK VON WÜLFINGEN

Für das Ende des 19. Jahrhunderts werden in den Industrienationen kulturelle Verunsicherungen konstatiert, 1 die in der Geschlechterforschung auch als Krise des (männlichen) Individuums beschrieben werden2 und für die, so argumentiert dieser Beitrag, mit dem psychoanalytischen Konzept des Unbewussten sowie dem Konzept des im Zellkern verorteten Unbewussten der Natur durch die Naturforschung Lösungen präsentiert wurden. Können beide Konzepte zunächst als Maßnahme der materiellen Fixierung des Individuums verstanden werden, zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass das, was die besondere Parallele zwischen beiden ausmacht, die Trennung zwischen Zeichen und Materie ist: Die materiellen ›Spuren‹, die das Vergangene hinterlässt, werden zum späteren Kapital, zur Potenzialität für die Zukunft.

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Vgl. Bollenbeck, Georg/Köster, Werner (Hg.): Kulturelle Enteignung – die Moderne als Bedrohung, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003; Frevert, Ute (Hg.): Das neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000; Bollenbeck, Georg (1999): Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880-1945, Frankfurt a.M.: S. Fischer. Vgl. Brunotte, Ulrike/Herrn, Rainer (Hg.): Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, Bielefeld: transcript 2008; Frevert, Ute: »Mann und Weib, und Weib und Mann«. Geschlechter-Differenzen in der Moderne, München: C.H. Beck 1995. 131

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Allgemeines Befremden an der Jahrhundertschwelle Die Jahrhundertwende war (besonders in Europa) von einem apokalyptischen und pessimistischen Interesse an Niedergang, Verlust, Destabilisierung und Degeneration begleitet. 3 Die Mehrzahl der Europäer und Europäerinnen am Fin de Siècle betrachteten die Modernisierung und beschleunigte Industrialisierung besonders in den USA, die Individualisierung (gesellschaftlichen ›Atomismus‹), die »›force and fraud‹ pecuniary values of American post-Civil War era« 4 ebenso wie die Demokratisierung, den ›Sittenverfall‹ und die neuen Geschlechterrollen, die von dort aus auch Europa zu ergreifen schienen, mit ›Befremden‹. 5 So sorgte denn auch die erste Welle des Feminismus für eine Geschlechterdestabilisierung innerhalb der Nationen und der Kolonien, die nicht zuletzt zu einem demographischen Problem stilisiert wurde.6 Die Diskussionen um das Frauenstudium und die allgemeine Gleichberechtigung auch von verschiedenen Sexualitäten drehten sich schnell um das Kernproblem, ob das Sexualverhalten (auch des ›Homosexuellen‹) biologisch (und somit unveränderbar) oder kulturell bedingt sei, ob Frauen also aus biologischen Gründen aus dem Studium auszuschließen seien oder ob es sich bei (vermeintlichen) Unterschieden zwischen den Geschlechtern um kulturelle und mithin transformierbare Unterschiede handle. 7 Es seien vor allem die Problematik der sich beschleunigenden Industrialisierung und der damit verbundene Wandel der Vorstellungen vom staatlichen Gemeinschaftskörper, im deutschsprachigen Raum im 19. Jahrhundert überwiegend als ein organismisches Ganzes beschrieben,8 aufgrund derer, so Christina von Braun, »die Fra3

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Vgl. Pache, Walter: Degeneration – Regeneration. Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte zwischen Dekadenz und Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000; Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München: C.H. Beck 2007; G. Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion; Pick, Daniel: Faces of degeneration. A European disorder, c. 1848-1918, Cambridge: Cambridge University Press 1989; G. Bollenbeck/W. Köster, Werner (Hg.): Kulturelle Enteignung; U. Frevert (Hg.): Das neue Jahrhundert; W. Pache: Degeneration – Regeneration. McFarland, Floyd B.: Economic philosophy and American problems: Classical mechanism, Marxist dialectic, and cultural evolution, Savage (MD): Rowman & Littlefield 1991, S. 88. U. Frevert (Hg.): Europäische Zeitdiagnosen; G. Bollenbeck/W. Köster (Hg.): Kulturelle Enteignung. Vgl. Frevert, Ute: Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986; U. Brunotte/R. Herrn (Hg.): Männlichkeiten und Moderne; U. Frevert: »Mann und Weib«. Vgl. C. Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1996. Vgl. Bockenförde, Ernst-Wolfgang u.a.: »Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.),

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DIE KRISE DES INDIVIDUUMS UND SEINE HEILUNG DURCH VERERBUNG

ge einer Definition des ›Körpers‹ um die Jahrhundertwende in Deutschland – mehr als anderswo – eine derartig politische Brisanz angenommen«9 habe. Der von Blut angetriebene und zusammengehaltene, von innerer Reinheit abhängige Volkskörper sei um die Jahrhundertwende durch ein Modell des Körpers als paralleles und offenes Kommunikationssystem, wie es das Nervensystem darstellte, herausgefordert worden. Die Emanzipation von Frauen und die, besonders von jüdischen Wissenschaftlern vorangetriebenen, Sexualforschungen wurden mit der bedrohlichen Moderne gleichgesetzt. Viele Frauen und viele Sexualwissenschaftler setzten sich für eine kulturelle Definition des Körpers und von (Homo-)Sexualität ein. Selbst da, wo z.B., wie in den Schriften von Helene Lange, eine speziell zu erhaltende Mütterlichkeit ausgemacht wird, wurde diese als soziale Eigenschaft beschrieben und so mit einer »geistigen« Weiblichkeit der neue »Trend« verstärkt, »Psyche und biologisches Geschlecht als voneinander getrennt zu sehen«. 10

Multiple Persönlichkeiten und die Trennung von Zeichen und Bedeutung Insofern vermengt sich Ende des 19. Jahrhunderts die Problematik der modernen Zweiteilung des Individuums 11 in einen Körper, den man hat, und einen Körper, der man ist, letztlich also die Problematik des Doppelgängers, mit der Race- und Geschlechterfrage. Einer materialisierenden Bewegung einerseits entspricht andererseits eine Entkopplung von materieller Basis und Zeichen, wie sie sich am stärksten im Film ausdrückt, wo Phantasien von der »Verschmelzung der Geschlechter und der Aufhebung des Ich«12 umgesetzt werden: »Schon in den 20er Jahren bezeichnete Alfred Polgar das Kino deshalb als Region, wo ›das Individuum aufhört, Individuum‹ zu sein.«13 Nicht

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Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart: Klett-Cotta 1978, S. 561-622; Mannheim, Karl: »The concept of the state as an Organism. A Social Analysis«, in: Ders., Essays in Sociology and Social Psychology, hg. v. Paul Kecskemeti, London/New York: Routledge 1953, S. 105-182. Von Braun, Christina: »Warum Gender-Studies? Vortrag anläßlich der feierlichen Eröffnung des Studiengangs Gender-Studies«, in: Hans Meyer (Hg.), edoc der Humboldt-Universität zu Berlin, Heft 92 (1998), S. 3-25, http://edoc.huberlin.de/humboldt-vl/braun-christina-von/PDF/Braun.pdf vom 3.7.2010, S. 14. C. von Braun: »Warum Gender-Studies?«. Vgl. Link-Heer, Ursula: »Doppelgänger und multiple Persönlichkeiten. Eine Faszination der Jahrhundertwende«, in: Christina von Braun/Gabriele Dietze (Hg.), Multiple Persönlichkeit. Krankheit, Medium oder Metapher? Frankfurt a.M.: Verlag Neue Kritik 1999, S. 32-59. C. von Braun: »Warum Gender-Studies?«, S. 20. Ebd. 133

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nur verlagern sich literarische Doppelgänger – wie Adelbert von Chamissos verstörende »Erscheinung«, 14 die ihn 1828 von seinem eigenen Schreibtisch aus zum Duell forderte, oder Guy de Maupassants Phantom des eigenen Ichs von 1889, das ihm mit fremder Stimme den eigenen Text diktierte – in den Film, 15 sondern der Film bietet den Zuschauerinnen und Zuschauern, insofern sie sich mit dem Objekt der Betrachtung identifizieren, die Möglichkeit, die Subjekt/Objekt-Trennung aufzulösen und somit auch verschiedene Geschlechterpositionen einzunehmen. Mag der Doppelgänger auch als ein Phänomen zu verstehen sein, das weniger in dem Sinne historiographisch zu fassen ist, dass es hergeleitet aus romantischer Literatur seinen Endpunkt im Film fände, denn als gleichzeitig auftretende Erscheinung mit hohen Konjunkturen in Rechtswissenschaft, Medizin und Literatur bis zur Jahrhundertwende,16 so wird doch deutlich, dass der Doppelgänger im 19. Jahrhundert eine Verständnislücke füllt und sich nach der Jahrhundertwende als deutlich weniger virulent zeigt – weil er nämlich von anderen Bedeutungsträgern ersetzt oder übernommen wird, wie im folgenden Abschnitt dargestellt wird. Ohnehin, für Christina von Braun sind diese Doppelgänger als männliche Aneignungen der weiblichen Hysterie anzusehen: »Die Hysterie verließ im 19. Jahrhundert ihren seit Jahrhunderten im kranken weiblichen Körper anberaumten Platz und ließ sich im männlichen Körper nieder.«17 Schon Flaubert, in diesem Sinne auch zitiert bei von Braun, teilte sich so kreativ entzwei: »Also habe ich zu meinem persönlichen Gebrauch die Welt und mich klar in zwei Hälften geteilt: auf der einen Seite das äußere Element, das ich mir vielfältig, vielfarbig, harmonisch, großartig wünsche […] und das ich genießen will; auf der anderen Seite das innere Element, welches ich konzentriere […] und in das ich in vollen Strömen die reinsten Strahlen des Geistes durch das geöffnete Fenster der Intelligenz eindringen lasse.« 18

Flaubert nehme, so von Braun, vorweg, was später (im Zusammenhang mit dem Internet) als ›virtuelle Realität‹ verhandelt werde. Von Braun findet da-

14 Derjanecz, Agnes: Das Motiv des Doppelgängers in der deutschen Romantik und im russischen Realismus: E.T.A. Hoffmann, Chamisso, Dostojewskij, Marburg: Tectum 2003. 15 Vgl. Kittler, Friedrich: »Romantik – Psychoanalyse – Film: Eine Doppelgängergeschichte«, in: Ders. (Hg.), Draculas Vermächtnis. Leipzig: Reclam 1993. 16 Vgl. Andriopoulos, Stefan: Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos, München: Fink 2000. 17 C. von Braun: »Le petit mal du grand Mâle«, in: U. Brunotte/R. Herrn (Hg.), Männlichkeiten und Moderne, S. 131-141, hier S. 131. 18 Zit. n. ebd., S. 132; Flaubert, Gustave: »Brief an Louise Colet, 31. August 1846«, in: Jean Bruneau (Hg.), Correspondance, Paris: Gallimard 1973. 134

DIE KRISE DES INDIVIDUUMS UND SEINE HEILUNG DURCH VERERBUNG

mit im Doppelgängertum ein Phänomen, das, so führe ich im Folgenden aus, um 1900 in der Vererbungsforschung diskutiert wird, wenn sie betont: »[…] ›virtuell‹ bedeutet in etwa ›der Anlage nach als Möglichkeit vorhanden‹«.19 Der Anlage nach vorhanden sind um die Jahrhundertwende immer mehr Möglichkeiten. So meint von Braun, Flaubert beschreibe zugleich bereits im Ansatz das Phänomen der ›multiplen Persönlichkeit‹20 (das späterhin zur Jahrhundertwende und mit dem Aufkommen des Films immer häufiger auftritt): »Heute zum Beispiel bin ich als Mann und Frau zugleich, als Liebhaber und Geliebte […] durch einen Wald geritten.« 21 So wurden also zunehmend medial (virtuell) verschiedene Identitäten, entkoppelt von der körperlichen Materialität, lebbar gemacht. Nicht nur der Film, auch und besonders das Geld wirke, so von Braun mit Bezug auf Georg Simmel, um 1900 an der Trennung von virtuell und materiell, von Zeichen und materialer Umsetzung.22 In seinem 1900 veröffentlichten Werk Philosophie des Geldes deklamiert Simmel: »Man macht sich im allgemeinen selten klar, mit wie unglaublich wenig Substanz das Geld seine Dienste leistet«, denn inzwischen trete »an die Stelle der Vermehrung der Geldsubstanz, die durch die Steigerung des Umsatzes erfordert scheint, immer mehr die Vermehrung seiner Umlaufsgeschwindigkeit«.23 Mit dem Geld hätten Beziehungen, die eigentlich ideeller Art seien, nun ein substanzielles Gefäß erhalten: »Das praktische Bewusstsein aber hat die Form gefunden, um die Vorgänge der Beziehung oder der Wechselwirkung, in der die Wirklichkeit verläuft, mit der substanziellen Existenz zu vereinigen, in die die Praxis eben die abstrakte Beziehung als solche kleiden muss. Jene Projizierung bloßer Verhältnisse auf Sondergebilde ist eine der großen Leistungen, des Geistes, indem in ihr der Geist zwar verkörpert wird, aber nur um das Körperhafte zum Gefäß des Geistigen zu machen und diesem damit eine vollere und lebendigere Wirksamkeit zu gewähren. Mit dem Gelde hat die Fähigkeit zu solchen Bildungen ihren höchsten Triumph gefeiert.« 24

Von Braun bringt eine Dynamik auf den Punkt, die ich als Doppelbewegung von Materialisierung und Entmaterialisierung bezeichne, die in dieser »Schöpfung aus dem Zeichen« angelegt ist: Das Geld habe sich »im späten 19. Jahrhundert endgültig von jeder Bindung an materielle Tauschwerte ge19 C. von Braun: »Le petit mal du grand Mâle«, S. 133. 20 Vgl. C. von Braun/G. Dietze (Hg.): Multiple Persönlichkeit. 21 Flaubert, Gustave: »Brief an Louise Colet, v. 14. August 1853«, in: Maurice Nadeau (Hg.), Œuvres de Gustave Flaubert, Lausanne: Edition Rencontre 1964. 22 Vgl. C. von Braun: »Le petit mal du grand Mâle«. 23 Simmel, Georg: Philosophie des Geldes, Leipzig: Duncker & Humblot 1900, S. 185. 24 Ebd., S. 99. 135

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löst«, 25 und »dieses Geld wurde im 19. Jahrhundert nicht nur potent, sondern sogar zeugungsfähig.« 26

Der Zellkern als der wahre Doppelgänger bei Freud So dürfte vor diesem Hintergrund eine größere Bereitschaft zur gedanklichen Trennung von Zeichen und Bedeutung gewachsen sein; darüber hinaus waren Zeichen in der Lage, materielle Vermehrung zu bedeuten. Zugleich boten sich mit Konzepten der Reproduktion als ›Erinnerung‹ aller organismischen Vorgänge oder, um mit dem Zoologen und Evolutionsbiologen Richard Semon zu sprechen, dem »Mnem« 27 sowohl im Psychischen als auch im Biologischen Lösungen zum Problem des gespaltenen Subjekts. Das zweite Ich wurde, wie ich im Folgenden darlege, als normaler, ständiger Anteil des Selbst in dieses hinein verlegt, wurde zu einem Kern, zu einer verdichteten nicht-bewussten Information aus der Herkunft, zu vor-subjektivem Wissen, zu einer Spur eines (oder mehrerer) anderer Selbste. Die Verbindung zwischen Psyche und Erinnerung, sprich dem Gehirn einerseits und Vererbungsmaterial, also dem Zellkern, andererseits, lagen dabei um 1900 weit näher, als es heute auf den ersten Blick scheinen mag. Freud wies selbst auf diese Verbindung hin, als er 1917 von der Kränkung sprach, die der Mensch durch die Psychologie erfahre: »Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche Grössensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht«. 28

Als die davorliegenden Kränkungen nennt er zuerst die kopernikanische Wende und als zweite dann jene, die stattfand, »als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies. Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen

25 C. von Braun: »Le petit mal du grand Mâle«, S. 137; vgl. Michaels, Walter Benn: The gold standard and the logic of naturalism. American literature at the turn of the century, Berkeley: University of California Press 1987. 26 C. von Braun: »Le petit mal du grand Mâle«, S. 137. 27 Semon, Richard: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, 3. Aufl. Leipzig 1911 [1904]; mehr dazu im letzten Abschnitt des vorliegenden Beitrags. 28 Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt a.M.: Fischer 1977 [1917], S. 226. 136

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unter dem Einfluss von Ch. Darwin, Wallace und ihren Vorgängern nicht ohne das heftigste Sträuben der Zeitgenossen vollzogen.«29

Neben dieser Verbindung mit der Einordnung des Menschen in eine lange (vertikale) Reihe von recht andersartigen Vorfahren enthält Freuds Theorie des Unbewussten auch eine enge Verbindung zur Theorie der (materiellen) Vererbung: Nämlich im Bezug des Unbewussten zum Zellkern, von dem sich zeigen lässt, dass er in seinen von Freud selbst verbal und im Wortsinne bildlich skizzierten Eigenschaften große Ähnlichkeit mit dem Kern des Unbewussten, so wie es in Freuds topographischem Modell erscheint, besitzt. 30 So scheint Freud versucht zu haben, die Psychoanalyse durch naturwissenschaftliche Anleihen zu stärken, die ihm als Histologen und zellbiologischem Mikroskopiker kaum schwer fielen. Ist in späteren Analysen von Freuds Werk bisher eher der energetische Aspekt, also Maschinismus und Thermodynamik, herausgestellt worden, lässt sich zeigen, dass seine Arbeiten aus neun Jahren zellbiologischer Forschung (bis zu seinem Besuch bei Charcot 1895, der seine psychologische Karriere begründete) unter anderem zum Aufbau von Zellkern und Zellplasma in seine frühe psychologische Modellbildung einflossen.31 Dies geschieht im Wesentlichen in der Traumdeutung, seiner Verdrängungstheorie, in der das Bewusste strikt vom Unbewussten getrennt wird, wobei aber Letzteres im nicht nur epistemisch, sondern ontologisch zu verstehenden psychischen »Primärprozess« den »Kern« bildet. 32 Mit dieser Festlegung des Unbewussten auf den im Primärprozess verdichteten Kern erfährt und erklärt das psychoanalytische Programm im topographischen Modell des Unbewussten eine Verlagerung von Wesenseigenschaften ins Innerste des Individuums.

Der Zellkern als der wahre Doppelgänger in der Vererbungstheorie Auch wissenschaftsgeschichtliche Arbeiten zur Vererbungsforschung verweisen auf eine grundsätzliche Verunsicherung des Individuums durch die Prozesse der Moderne. Es zeigt sich damit eine theoretische Verbindung zwischen (geographischer und sozialer) Mobilisierung einerseits und einem

29 Ebd. 30 Vgl. Bock v. Wülfingen, Bettina: »Der Kern des Unbewussten in Freuds Mikroskop – Apparatur und Vorverständnis in der Wissensgenese«, in: Christina von Braun/Dorothea Dornhof/Eva Johach (Hg.), Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften. Über das Verhältnis von Wissen und Geschlecht, Bielefeld: transcript, 2009, S. 62-79. 31 Vgl. ebd. 32 Vgl. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, Frankfurt a.M.: Fischer 1991 [1900]. 137

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›Bedarf an Fixierung‹ andererseits. 33 Dieser wird vor dem Hintergrund der späten Kolonialsituation und der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts gesehen, was auch den Bedarf an einer Internalisierung von Identität als einer Rückversicherung in Situationen sich ständig verändernder Umgebungen zu reflektieren scheint34 wie auch teils als bereits strategisch-rassistischer Zug im Verlust der Plausibilität von Sklaverei zu verstehen sein dürfte. 35 So beziehen sich auch in Hinsicht auf die Vererbungsforschung Hans-Jörg Rheinberger und Staffan Müller-Wille auf diesen zeitgenössischen Hintergrund: Als epistemische Bestandteile für die Theorie der Heredität mittels einer materiellen Struktur machen sie erstens die Idee der ›Rasse‹ aus (in die Lebenswissenschaften eingeführt und übertragen vom castas-System in den frühen spanischen und portugiesischen Kolonien); zweitens die Übertragung des Begriffs der Heredität (bzw. dann seit Ende der 1870er ›Vererbung‹) aus dem rechtlichen Diskurs in die Lebenswissenschaften um 1800 – nach oder begleitend zu einer Problematisierung bestimmter Erbrechtsformen in den Jahren der Revolution; drittens und vor allem aber die Mobilisierung von Organismen (zunächst durch den Import von Pflanzen in die botanischen Gärten Europas im 18. Jahrhundert) wie von Menschen (durch verstärkte Kolonisierung, ›Merkantilismus‹ und Expansion).36 Diese Faktoren kulminierten in einem Wandel des Verständnisses von ›Generation‹ als einer sowohl vertikalen wie auch vor allem horizontalen Perspektive hin zu einer Perspektive, die sich vor allem vertikal ausprägte, also zu einer der ›historisierenden‹ Ableitungen. Auch wenn zunächst noch vitalistische Konzepte und solche der Prägung von Organismen durch die Umwelt mit jenen der Vererbung konkurrierten, betrieb die Biologie letztlich Ende des 19. Jahrhunderts die generelle Bewegung, individuelle Charakteristika als nicht in Interaktion gewachsen zu betrachten und nicht als eingebettet und bedingt durch die Umgebung, sondern als fixiert in dem Individuum selbst liegend.37 Die Metapher des Gedächtnisses spielte dabei früh eine Rolle. Der Physiologe Claude Bernard beschrieb die »Erinnerung« als eine dem ›Ei‹ innewohnende »Kraft der Vererbung«, einen diesem eigenen und doch schon »vorausgegangenen Zustand«, der einen »ursprünglichen Anstoß« zur weiteren Entwicklung gebe. 38 Mit der Verwen33 Vgl. McClintock, Anne: Imperial leather. Race, gender and sexuality in the colonial contest, New York: Routledge 1995; Müller-Wille, Staffan/Rheinberger, Hans-Jörg: Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts, Frankfurt a.M.: Fischer 2009. 34 Vgl. Greenblatt, Steven: Marvellous possessions. The wonder of the new world, Chicago: University of Chicago Press 1988. 35 Vgl. A. McClintock: Imperial leather. 36 Vgl. S. Müller-Wille/H.-J. Rheinberger: Vererbung. 37 Vgl. Foucault, Michel: Il faut défendre la société. Cours au Collège de France, 1976, Paris: Gallimard 1997. 38 Bernard, Claude: La science expérimentale, Paris: Baillière 1878, S. 133. 138

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dung neuer Färbemethoden Ende des 20. Jahrhunderts ging diese Aufgabe der Organisierung, Formgebung und schließlich Vererbung auf das Chromatin des Zellkerns über und wurde somit gleichermaßen in Eizelle und Spermium verortet. 39 Noch August Weismann, dessen Name in den Geschichtsschreibungen der Genetik oft als einer der ersten fällt, bezog sich auf die Erinnerungsmetapher: In einem umfassenden und soliden Theoriegebäude propagierte er seit Ende der 1880er Jahre chemische Substanzen, so genannte Ide , die das von ihm so bezeichnete ›Keimplasma‹ bildeten, welches er als für die Weitergabe von individuellen oder artspezifischen Merkmalen verantwortlich ansah. Dabei verglich er »latente Ide«, das waren bei ihm solche, die sich in Organismen nur unter besonderen Bedingungen in Merkmalen manifestierten, mit dem Schlafzustand des Gehirns. 40 So fand auch mit der Vererbungsforschung das Individuum sein Wesen restauriert – zwar in einer Zweiheit, aber zumindest im biologischen Normalzustand des eigenen Körpers selbst. Diese Nach-innen-Verlagerung des Wesens der zuvor durch Umgebungsfaktoren wie etwa Ernährung geprägten Organismen durch die materialistische Vererbungstheorie beschrieb Thomas Hunt Morgan, der als der Begründer der systematischen experimentellen Chromosomenforschung ausgemacht wird. Dabei deutete er zugleich eine Erhöhung von Produktivität durch die Genetik an: »Until within recent years scientific agriculture has to do almost solely with the feeding of plants and animals. […] It is now evident, however, that […w]hat an animal or a plant produces is fundamentally determined by what that plant or animal is.« 41

Der Zellkern als Spur und Gedächtnis der Natur In seiner Notiz über den »Wunderblock« beschrieb Freud 1925 die zwei wesentlichen Bedingungen, die das menschliche Gedächtnis zu leisten in der Lage sein müsse: »Unbegrenzte Aufnahmefähigkeit und Erhaltung von Dauerspuren«. 42 Als Modell diente ihm der Wunderblock, eine Wachsplatte, die immer neu beschrieben und gelöscht werden kann, wobei Spuren alles zuvor Geschriebenen als kaum sichtbare Vertiefungen erhalten bleiben.43 Die Denk39 Vgl. Jacob, François: Die Logik des Lebenden. Eine Geschichte der Vererbung, Frankfurt a.M.: Fischer 2002. 40 Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung, Jena: Gustav Fischer 1892, S. 101. 41 Vgl. Morgan, Thomas Hunt: Manuscript from Morgan Folder, Raymond Pearl Papers, American Philosophical Society Library, um 1918. 42 Freud, Sigmund: »Notiz über den ›Wunderblock‹« [1925], in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 14, 4. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer 1968, S. 2-18, S. 4. 43 Vgl. ebd. 139

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figur der Spur war da bereits nicht mehr neu, eine ähnliche Denkfigur hatte bereits 1845 der Essayist Thomas De Quincey im Vergleich des Gehirns mit einem Palimpsest, einem wieder und wieder be- und überschriebenen Pergament verwendet: »What else than a natural and mighty palimpsest is the human brain? Such a palimpsest is my brain; such a palimpsest, O reader! Is yours. Everlasting layers of ideas, images, feelings, have fallen upon your brain softly as light. Each succession has seemed to bury all that went before. And yet in reality not one has been extinguished.« 44

Seit den 1870ern, der Zeit, in der die Naturforschung mit zunehmender Intensität eine materielle Grundlage für die Übermittlung von Eigenschaften zwischen den Individuen suchte, begannen sich Vergleiche zwischen Heredität und Gedächtnis zu mehren, in denen schließlich 1914 auch die Metapher der Spur bemüht wurde: Zunächst machte besonders der Wahrnehmungsphysiologe Ewald Hering 45 um 1870 die Idee stark, das Gedächtnis sei eine allen Zellen eigene Funktion und damit eine dem Organischen wesentliche Eigenschaft, die ihre besondere Ausprägung in Nerven und Gehirn habe. Diese ontologisierende Analogie von Gedächtnis und Heredität wurde von Ernst Haeckel weitergeführt46 und von anderen Autoren aus seinen Schriften übernommen, insbesondere, um die Annahme einer Vererbung erworbener Eigenschaften zu verteidigen. Besonders der bereits genannte Zoologe Richard Semon propagierte die Theorie einer physiologischen Spur, die Außenreize als Erlebniseindruck, in seiner Begrifflichkeit »Engramme« (›Dispositionen‹ im Wortgebrauch der Psychologie seiner Zeit, Leibniz folgend), hinterlassen würden. Auch er folgte dem Ansatz Herings, diese reproduzierbaren Reizeinwirkungen als erblich zu verstehen und bezeichnete sie in jedem Fall als ›Mneme‹ (und ihre Gesamtheit als »Schatz«, als eine Kapitalie also, wie weiter unten ausgeführt wird). 47

44 De Quincey, Thomas: »Suspiria de Profundis« [1845], in: Ders., Confessions of an English Opium-Eater and Other Writings, London: Penguin Books 2003, S. 89-190, S. 150. 45 Vgl. Hering, Ewald: Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie. Vortrag, geh. in Wien den 30. Mai 1870, 2. Aufl., Leipzig: Engelmann 1912. 46 Vgl. Häckel, Ernst: Die Perigenesis der Plastidule, Berlin: G. Reimer 1876. 47 R. Semon: Die Mneme; Semon, Richard: »Der Engrammschatz des Gedächtnisses« [1904], in: Uwe Fleckner (Hg.), Schatzkammern der Mnemosyne, Dresden: Verlag der Kunst 1995, S. 206-212. 140

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Schließlich machte der deutsche Zoologe Valentin Haecker 1914 in einer Denkschrift für August Weismann 48 einen ernsthaften Versuch, die Tauglichkeit des Vergleichs zwischen der »geistigen Reproduktion«49 und der körperlichen, zwischen Gedächtnis und Vererbung zu untersuchen. Zwar kommt Haecker in seiner Analyse zu keinem positiven Schluss für die Vererbung erworbener Eigenschaften. Allerdings ließ er sich von seinen Vorgängern und Vorgängerinnen zu einem zwischen Neo-Lamarckismus und dessen Gegnern und Gegnerinnen vermittelnden Konzept der Potenz inspirieren. Oscar Hertwig hatte beispielsweise bereits mit neuen Begrifflichkeiten auf die Möglichkeit hingewiesen, dass womöglich sämtliche Zellen des Organismus die »wenigstens virtuelle Fähigkeit« besäßen (die sich also nicht in jedem Fall ausdrücken muss), »Zustände des übergeordneten Organismus mittels eigener materieller Veränderungen festzuhalten und dieses Bild beim Entwicklungsprozeß aus inneren Ursachen zu reproduzieren. Hertwig sieht darin ›eine Analogie zum Vermögen der Hirnsubstanz, Zustände der Außenwelt, die ihr durch die Sinnesorgane in Bildern, Klängen und anderen Empfindungen zugetragen werden, in das ihr eigene materielle System aufzunehmen und durch Zeichen in ihm festzuhalten‹.« 50

Haecker folgte nun zwar nicht dieser Gleichsetzung von Gehirn und Vererbungsmaterial. Doch ließen sich ihm zufolge einige Phänomene des plötzlichen Auftretens vermeintlich neuer Eigenschaften bei einem Individuum damit erklären, dass sie virtuell in der Anlage bei allen Individuen (einer Art, oft aber auch artübergreifend) vorhanden sein könnten und aufgrund spezifischer Bedingungen zum Vorschein kämen. »Die Abänderungen sind gewissermaßen vor ihrer Verwirklichung in potentia gegeben, sie sind, wovon später ausführlicher die Rede sein wird, durch die Gesamtpotenz oder den Potenzschatz des Keimplasmas bedingt und begrenzt.« 51 Vermitteln ließen sich die immanenten Potenzen sowohl mit der materialistischen und nicht-lamarckistischen Vererbungstheorie wie auch mit vitalistischen Konzepten: »Es sei hier nur an die bekannten Vorstellungen von Roux und Weismann bezüglich der Existenz eines Reserveidioplasmons oder Reservekeimplasmas und andererseits an die Anschauungen von Driesch über das Wesen der organischen Regulationen erinnert.«52

48 Vgl. Haecker, Valentin: Über Gedächtnis, Vererbung und Pluripotenz. August Weismann zum achtzigsten Geburtstag gewidmet, Jena: Fischer 1914. 49 E. Häckel: Die Perigenesis der Plastidule, S. 22. 50 V. Haecker: Über Gedächtnis, Vererbung und Pluripotenz, S. 6 (Hervorh. B.B.v.W.). 51 Ebd., S. 22 (Hervorh. B.B.v.W.). 52 Ebd., S. 32. 141

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Als besonders treffliches Beispiel für die latente Potenz in Fällen, die nichts mit Eigenschaften anderer Arten (und Vorfahren) zu tun haben, dient Haecker die Variabilität des Geschlechts: »Nun kennen wir […] Fälle, in welchen bei jedesmaliger Entfaltung einer latenten Potenz ein vollständig angepaßter Merkmalskomplex in Erscheinung tritt: es handelt sich hier um die Äußerungen des latenten Hermaphroditismus, des Di- und Polymorphismus und der Plastizität. […] Schon Darwin war zu der Ansicht gelangt, daß in vielen, wahrscheinlich in allen Fällen die sekundären Sexualcharaktere eines Geschlechts im entgegengesetzten Geschlecht im latenten Zustand ruhen und durch besondere Umstände sogar noch am ausgewachsenen Organismus zur Entwicklung gebracht werden können […]. Es soll die Frage nicht weiter erörtert werden, ob Ähnliches auch für die primären Geschlechtscharaktere gilt […]. Jedenfalls können aber beim teilweisen Umschlagen des einen Geschlechts in das andere die sekundären Geschlechtsmerkmale des letzteren in voller Ausbildung und Funktionsfähigkeit zur Entfaltung kommen und, wenn sie vielleicht auch ihrem augenblicklichen Träger nicht von Nutzen sind, so können sie doch den Charakter von komplexen Anpassungseinrichtungen haben.« 53

Für all solche Fälle führte Haecker schließlich den (heute verstärkt in der Embryonal- und Stammzellforschung gebräuchlichen) Begriff der »Pluripotenz« ein als »die in jedem einzelnen Organismus vorhandene virtuelle Fähigkeit, unter besonderen, die Lebensfähigkeit nicht berührenden Bedingungen verschiedene Entwicklungsrichtungen einzuschlagen.« 54 Da es sich bei Pluripotenz um weit mehr als »[…] nur Dispositionen bestimmter Natur […] und nicht bloß ganz allgemein um die Gesamtheit dessen handelt, was im Laufe der Stammesgeschichte von dem Artplasma erlebt und erlitten wurde und Spuren irgendwelcher Art in ihm hinterlassen hat«, sei der »Pluripotenzschatz« 55 sogar noch umfassender als Semons »Engrammschatz«. Dass sich im Genom wahre Reichtümer verbergen, zeigten nicht zuletzt um das Jahr 2000 herum die auch finanziell aufwendigen Wettläufe der Human-Genom-Projekte diverser Unternehmen und Institute sowie auch alle folgenden und noch laufenden Vorhaben der ›Decodierung‹ verschiedenster Genome. Genau dieses Merkmal des Genmaterials, durch wenige Zeichen eine Fülle von materiellen Ausdrucksmöglichkeiten zu bergen, macht seinen Reichtum aus. Es war nicht erst der Physiker Erwin Schrödinger, der wie etwa der Philosoph Hans Blumenberg oder die Wissenschaftshistorikern Lily Kay schreiben, die Metapher des Codes für das Funktionieren der Gene aufbrach-

53 Ebd., S. 87f. 54 Ebd., S. 67 (Hervorh. B.B.v.W.). 55 Ebd., S. 82. 142

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te, die somit erst in den 1940er Jahren aufgetaucht wäre. Sondern bereits Haecker verglich die in den Zellen liegenden Potenzen mit einem Code: »Im Signal- und Chiffreverkehr, z. B. bei dem an der See gebräuchlichen Wettersignaldienst, ist es möglich, mittels einer verhältnismäßig geringen Zahl von Zeichen sich zu verständigen, da die Zahl der in Betracht kommenden Mitteilungen eine begrenzte und jede einzelne im Schlüssel des Empfängers vorgemerkt ist. Ebenso wird auch die somatische Induktion, d. h. die Signalisierung zwischen Soma [dem Körper, B.B.v.W.] und Keimzellen eine wesentlich einfachere sein, […] wenn die äußeren Reize im Soma nur eine spezifisch begrenzte Zahl von Reaktionen hervorzurufen vermögen, für welche in den Keimzellen je eine latente Potenz gewissermaßen bereitliegt.« 56

So können also die wissenschaftlich konzeptualisierten Gedächtnisformen des im Körper materialisierten Unbewussten, jenes der Psychoanalyse und jenes der Biologie, als zeitgemäße Antworten auf drängende Fragen des frühen 20. Jahrhunderts verstanden werden. Mit den Konzepten des Unbewussten und den Vererbungssubstanzen wird das aufgrund von Selbstreflexivität, Autonomieanspruch, Individualisierung und gesellschaftlicher Entbettung sowie des steigenden Anspruchs an Flexibilität gespaltene Subjekt ›normalisiert‹. Dabei werden beide Konzepte unterstützt von der Doppelbewegung der Materialisierung und zugleich Entkopplung von Materie und Zeichen: Im Unbewussten leben vergangene reale Bedingungen als umsetzbare Deutungsmöglichkeiten der gegenwärtigen Realitäten fort. Partikel der Vererbung sind ihrerseits, wie Geld, Schätze: virtuelle – nicht reale, aber realisierbare – Potenzialitäten verborgen im Inneren der Individuen. Beide Konzepte bergen als Antwort auf die Verunsicherung und Spaltung der Persönlichkeit die Möglichkeit, viele Verschiedene (auch Geschlechter) in sich selbst zu sein, und dabei doch nicht krank, sondern naturwissenschaftlich verbrieft ganz ›normal‹ zu sein.

56 Ebd., S. 59f. 143

Zu aktuellen Konzeptualisierungen von deutscher Statisierung über muslimische und jüdische Ent_Religiosisierungen 1 ANTJE LANN HORNSCHEIDT

Jüdisch-Sein ist heute im hegemonialen deutschen gesellschaftlichen Kontext und Selbstverständnis nicht selbstverständlich in ein deutsches kollektives Selbstbild inkludiert, sondern steht häufig implizit oder explizit als dessen Gegenpol, was sich zum Beispiel in gängigen Formulierungen wie ›die Deutschen und die Juden‹ oder ›deutsche und jüdische Menschen‹ zeigt.2 In diesen 1

2

Eine detailliertere Version vieler, wenn auch nicht aller der hier vorgestellten Thesen und mit anderer Schwerpunktsetzung findet sich in Hornscheidt, Antje Lann: »Statisierungskritik: Überlegungen zu einem dekonstruierenden Analysekonzept deutscher statisierter Normalisierungen im Kontext von Rassismus und Migratismus«, in: Adibeli Nduka-Agwu/Antje Lann Hornscheidt (Hg.), Rassismus auf gut Deutsch, Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel 2010, S. 421-446. In Ergänzung zum vorliegenden Artikel wird dort die Frage feministischer Vereinnahmungen in deutscher Selbststatisierung ausführlich diskutiert und an Beispielen aufgezeigt. Die für diesen Artikel zentrale Konzeptualisierung von Kritischer Statisierung ist ganz maßgeblich geprägt von und steht in engem Zusammenhang mit dem von Alyosxa Tudor im selben Band vorgestellten Ansatz des Migratismus, vgl. Tudor, Alyosxa: »Rassismus und Migratismus. Die Relevanz einer kritischen Differenzierung«, in: A. Nduka-Agwu/A. L. Hornscheidt (Hg.), Rassismus auf gut Deutsch, S. 396-420. Entsprechend bezieht sich dieser Artikel auch stark auf Tudors Ideen und Definitionen und schließt an sie an. Ein relativ aktuelles, erschreckendes Beispiel ist eine sozialwissenschaftliche Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung mit dem Titel Deutsche und Juden. Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart? von 2007 (http://www. bertelsmann-stiftung.de/bst/de/media/xcms_bst_dms_20241_20275_2.pdf vom 10.9.2010), in der es immer wieder zu einer Gegenüberstellung von Deutschund Jüdisch-Sein kommt, u.a. auch in der Benennung der herausgebenden Institution: »deutsch-jüdischer Dialog«. Dies ist nicht der einzige mögliche Kritikpunkt an dieser aus meiner Perspektive in vielfacher Weise Antisemitismus reProduzierenden und normalisierenden Studie. 145

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und vergleichbaren Phrasen wird Jüdisch-Sein immer wieder einer nationalen Identitätsbenennung – Deutschsein – gegenübergestellt und auf diese Weise zu einer entsprechenden, potenziell nationalen Zugehörigkeitsklassifikation gemacht. Oder es wird – ausgehend von der Idee, dass Jüdisch-Sein eine religiöse Kategorisierung ist – in der Gegenüberstellung von Jüdisch-Sein und Deutschsein Letzteres zu einer implizit ausschließlich christlichen Kategorisierung gemacht. Das implizite Aufrufen des Chri_stinnentums als Norm des Deutschseins verstärkt seine naturalisierte Vorstellung als Nicht-Religion im aktuellen deutschen öffentlichen Diskurs. Dieses vermeintlich nicht-religiöse Christin_nentum, so eine These dieses Artikels, wird dabei momentan über vor allem zwei eng miteinander verknüpfte religiosisierende3 Verhandlungen hergestellt: Zum einen über die bereits angesprochene Verhandlung in Bezug auf Jüdisch-Sein, zum anderen auch über eine Konstruktion von MuslimischSein in Abgrenzung zum Deutschsein. Deutschsein ist dabei in der Regel entnannt 4 christlich. Jüdisch- und Muslimisch-Sein werden dabei als sowohl nationale wie auch religiöse Positionen bzw. als ambivalent zwischen diesen befindlich hergestellt. Es ist hier also eine Inter- 5 bzw. Transdependenz6 von religiosisierenden und nationalisierenden Kategorisierungen feststellbar, die in eins gesetzt und synonymisiert werden und dadurch austauschbar erscheinen. Sie sind zudem transdependent mit rassistischen und (hetera-)sexistischen Norm(al)vorstellungen. In diesem Artikel diskutiere ich spezifische rhetorische Realisierungen einer deutschen Normalvorstellung über unterschiedliche Verhandlungen von Jüdisch-Sein. Diese deutsche Normvorstellung fasse ich unter dem Konzept der deutschen Statisierung. Die Begriffsneubildung Statisierungskritik ist ein analytisch-reflektierender Ansatz zur Erforschung der kontinuierlichen Herstellungen nationalisier3

4

5 6

Vgl. Brunner, Claudia: Wissensobjekt Selbstmordattentat: Epistemische Gewalt und okzidentalistische Selbstvergewisserung in der Terrorismusforschung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011. Für die Begrifflichkeit der EntNennung vgl. auch Hornscheidt, Antje Lann/Nduka-Agwu, Adibeli: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Rassismus auf gut Deutsch, S. 11-49. Durch die Großschreibung im Wort wird deutlich gemacht, dass eine Entnennung auch als eine Nennung aufgefasst wird. Vgl. Walgenbach, Katharina u.a. (Hg.): Gender als interdependente Kategorie. Intersektionalität – Diversität – Heterogenität, Opladen: Budrich 2007. Der Begriff Transdependenz bzw. das Adjektiv transdependent werden hier als Weiterentwicklung des Ansatzes Interdependenz (vgl. K. Walgenbach u.a. [Hg.]: Gender als interdependente Kategorie) verwendet und soll noch stärker den Aspekt der nur analytischen Trennbarkeit verschiedener Diskriminierungsformen und –aspekte auf analytischer Ebene des Dispositivs zum Ausdruck bringen und ihre gegenseitige Bedingtheit betonen. Darüber hinaus wird damit die analytische Konstruiertheit von Kategorisierungen als trennbar konzeptuell deutlicher zum Ausdruck gebracht als mit dem Begriff der Interdependenz.

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ZU AKTUELLEN KONZEPTUALISIERUNGEN VON DEUTSCHER STATISIERUNG

ter hegemonialer Normalitäten. Bezogen auf einen deutschen Kontext sind diese Statisierungen in der Regel auch weißmachend 7 ; Weißsein ist damit aktuell eine Voraussetzung für die deutsche Statisierung. Damit sind Statisierungen in Bezug auf Deutschland immer auch privilegierende rassistische Handlungen mit rassistischen Effekten gegenüber den so als diskriminiert Hergestellten. Das Konzept wird hier ausgehend von meiner weiß statisierten deutschen Positionierung vorgestellt und ist damit für mich konkret ein Konzept der kritischen Reflexion und Ent_Normalisierung eigener privilegierter, weiß statisierter Positionierungen im deutschen Kontext. Mit dem Konzept der Statisierungskritik wird die Perspektive auf die privilegierenden und sich immer wieder dynamisch hegemonialen Norm(alis)ierungen anpassenden Prozesse deutscher hegemonialer Selbst- und auch Fremdherstellungen ausgerichtet. Das analytische Konzept der Statisierung legt den Schwerpunkt auf die Untersuchung von Herstellungsprozessen von De_Lokalisierungen 8 und vermag dadurch, Schnittstellen und Transdependenzen zwischen rassistischen, migratistischen und okzidentalistischen Diskriminierungen und Privilegierungen aufzuzeigen. Durch die Be_Nennungsform9 Statisierungskritik soll sogleich verhindert werden, dass eine Symmetrie zwischen Migratisierung und Statisierung nahegelegt bzw. begrifflich hergestellt wird. Wie bei allen strukturellen Diskriminierungsverhältnissen verstehe ich eine Herstellung und Verwendung vorgeblich paralleler Begrifflichkeiten für die diskriminierte und für die privilegierte Positionierung als eine PseudoSymmetrisierung, die die Macht- und Unterdrückungsverhältnisse als potenziell auf einer Ebene darstell- und damit auch als aufhebbar konstruiert. ›Lediglich‹ die privilegierte Positionierung zusätzlich zu be_Nennen, verändert noch keine Machtverhältnisse und legt keine Privilegien offen oder macht sie angreifbar.

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Die Verwendung der Begrifflichkeit ›weiß‹, klein und kursiv geschrieben, geht zurück auf die Verwendung Schwarzer Critical Whiteness Forschung. Vgl. hierzu Eggers, Maureen Maisha u.a. (Hg.): Mythen, Masken, Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster: UnRast 2007. Vgl. für eine genauere Definition dieses Begriffs A. Tudor: »Migratismus und Rassismus«. DeLokalisierung kann nicht nur über das Absprechen von StaatsbürgerInnenschaft hergestellt werden. Diese hier verwendete Schreibweise weist auf die Konstruiertheit auch offenbar selbstverständlicher Begrifflichkeiten hin. Durch die interne Großschreibung eines Buchstabens wird das Zusammengesetztsein der Form aus mehreren Teilen deutlich gemacht und die scheinbar so klaren Bedeutungen deKonstruiert bzw. auf mehrfache Weise lesbar. Der Unterstrich zeigt dabei gleichzeitig Lücken in der angenommenen Eindeutigkeit der Begrifflichkeiten auf. 147

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Definition Statisierung Unter Statisierung verstehe ich die im analytischen Konzept des Migratismus erfasste privilegierte Positionierung als Pendant zur diskriminierten Positionierung über Migratisierung in Transdependenz mit Rassismus und Religiosizismus. Statisierung ist die in der Regel indirekt und entnannt aufgerufene privilegierte Normalvorstellung im aktuellen deutschen hegemonialen Kontext, vor deren Folie Migratisierungen, Rassifizierung und Religiosisierungen vorgenommen werden und diskriminierend wirken. Der Begriff Statisierung impliziert den Anschein von Unbeweglichkeit, ein feststehendes Sein, eine Station, die jedoch genauso ein diskursiver Herstellungsprozess ist wie eine Migratisierung, die eine Bewegung von einem Ort weg zu einem anderen Ort hin als impliziert und zuschreibt. Entsprechend ist eine Statisierung auch immer eine Lokalisierung, die so selbstverständlich erscheint bzw. als so selbstverständlich und als jeglicher Be_Nennung vorgängig hergestellt wird, dass sie auch nicht begrifflich und argumentativ aufgerufen wird, sondern die entnannte Voraussetzung von über rassistisch, migratistisch und religiosizistisch geschaffenen De_Lokalisierungen ist. Der Fokus dieses Artikels ist die Analyse von Herstellungsprozessen einer statisierten deutschen Normalvorstellung in Bezug auf unterschiedliche Formen jüdischer De_Religiosisierungen. 10

Statisierung und Selbstokzidentalisierung Als ein transdependentes Element einer aktuellen deutschen Statisierung neben einer als zentral analysierten Weißmachung sowie einer ebenfalls sehr wichtigen Entmigratisierung analysiere ich eine bestimmte Form der Selbstokzidentalisierung in Weiterentwicklung des Konzepts des Kritischen Okzidentalismus. 11 Dies fasse ich nicht für jegliche Form aktueller deutscher Statisierung als relevant auf, es macht aber gegenwärtig in vielen Diskursen ein wichtiges Element deutscher Statisierung aus. Meines Erachtens erweisen sich für diese spezifische Form der deutschen Statisierung insbesondere drei Aspekte als relevant: eine christliche Normsetzung über Ent_Muslimisierung

10 Zu einer ausführlicheren Diskussion der Herstellung statisierten Deutschseins über Weißsein und Ent_Migratisierung sowie zu Muslimisch-Sein und Genderung, vgl. A. L. Hornscheidt: »Statisierungskritik«. 11 Vgl. Hornscheidt, Antje/Dietze, Gabriele: »Kritischer Okzidentalismus – Ein Zwischenruf«, in: Kommune 2 (2006), S. 58-60; vgl. auch die Beiträge in Dietze, Gabriele/Brunner, Claudia/Wenzel, Edith (Hg.): Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld: transcript 2009. 148

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von Deutschsein, eine christliche Normsetzung über spezifische Umgänge mit Jüdisch-Sein und Jüd_innentum sowie eine androzentrische Normalisierung.

Deutsche Statisierung über Okzidentalisierung und Muslimisierung Eine okzidentale deutsche Selbstvergewisserung 12 und Normalisierung findet unter anderem durch eine starke Muslimisierung von Migratisierten in Deutschland statt oder durch eine Migratisierung von Muslimisierten. Hier kommt es zugleich auch zu einer komplexen Verknüpfung von Rassifizierungen und religiösen Differenzierungen, sogenannten Religiosisierungen, in denen eine christlich-säkularisierte Positionierung zur entnannten und damit nur schwer und selten hinterfragbaren Norm re_produziert wird. Ganz im Gegenteil ist es sogar so, dass diese Norm ent- oder vielfach sogar weg_Religiosisiert 13 wird, wie ich nachfolgend durch konkrete sprachliche Beispiele deutlich mache. Durch die EntReligiosisierung christlicher Normen und Selbstpositionierungen, die ich hier als eine wichtige Form einer spezifischen aktuellen deutschen Statisierung analysiere, werden andere Religionen in Bezug auf ihre Ideologien, Praktiken und Glaubenssätze zu Religionen und das Chris_tinnentum zur Nicht-Religion. Letzeres wird auf diese Weise häufig entnannt und zu einer neutralisierten Folie, auf der dann davon abweichende religiöse Praktiken und Vorstellungen als nicht-säkularisiert klassifiziert werden können. Säkularisierung wird also in dieser Perspektive gedeutet als die hegemoniale Ent-Religiosisierung des Chris_tinnentums. Dieses wird dadurch in eine machtvolle, da nahezu unangreifbare öffentliche Diskursposition versetzt für die Diskurse, in denen Säkularisierung als Norm fungiert. Die pauschalisierende Herstellung eines muslimischen Anderen als orientales Anderes innerhalb eines als deutsch hergestellten Raumes führt so zu einer spezifischen Form des Statisierens deutscher Norm(al)vorstellungen. Eine zentrale, häufig kollektive Figur der ent_normalisierenden Migratisierung oder auch des aus einer dominanten Position Ent_Selbstens14 mit Bezug auf eine Normalisierung einer statisierten deutschen Position in aktuellen deutschen medialen Diskursen ist die von ›Mus_liminnen‹, ›muslimischer 12 Das analytische Konzept der Selbstvergewisserung entlehne ich bei C. Brunner: Wissensobjekt Selbstmordattentat. 13 Unter EntReligiosisierung fasse ich hier die EntNennung hegemonialer privilegierter religiöser Positionierungen, unter Weg_Religiosisierung die Ent_Erwähnung diskriminierter und marginalisierter religiöser Positionierungen. 14 Aus einer analytischen Perspektive mit Fokus auf ›das Andere‹ als Othering bezeichnet. Hier geht es hingegen um die Selbstherstellung hegemonialer privilegierter Positionen, womit auch der analytische Fokus und die entsprechenden Begrifflichkeiten verändert werden müssen. 149

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Kultur‹, Werte, Positionen oder Identität. Diese Figur nimmt häufig eine Schlüsselstellung für die implizite wie explizite Ausformung statisierender deutscher Positionierungen ein. Sie ist aktuell von hoher Relevanz, da sie in Bezug auf Deutschsein nicht ausschließlich und häufig nicht einmal vornehmlich die Position eines territorialen Außen besitzt, welches geographischmetaphorisch aus westlich-europäischer Perspektive als ›Orient‹ klassifiziert wird, sondern auch als innerhalb des als okzidental definierten Territoriums befindlich konstruiert wird – und dadurch als für die Hegemonie umso bedrohlicher. Dies führt dazu, dass diskursive Strategien des in Bezug auf die Herstellung Deutschlands ent- oder de_Lokalisierenden Ent-Statisierens oder Ent_Selbstens sowie Strategien der vorgeblichen Integration miteinander kombiniert werden. Mu_sliminnen werden, so eine These der nachfolgenden Analyse, in den vorherrschenden öffentlichen Diskursen der letzten zehn Jahre in Deutschland auf verschiedene Arten deutsch ent-statisiert und dadurch und damit strukturell diskriminiert. Sie werden neben der weiter oben vorgestellten grundlegenden (rassistischen) Entweißung und Migratisierung auch religiosisiert. Ein deutsch-statisiertes Selbstbild wird damit gleichzeitig entreligiosisiert und als säkulare Norm re_Präsentiert. Hier findet sich eine transdependente strukturelle Diskriminierung durch ein Zusammenspiel von spezifisch islamisierendem Religiosizismus, muslimisierendem Rassismus und orientalisierendem Migratismus. Musl_iminnen in Deutschland werden migratisiert und gleichzeitig damit auch rassifiziert durch pauschalisierende Zuschreibungen eines Andersseins, welches nicht ausschließlich auf islamisch-religiosisierenden 15 Konstruktionen beruht, sondern darüber hinaus auch als allgemeine Kultur- und Wesenszüge reProduziert wird, sodass diese Diskurse als gegen muslimisiert hergestellte Personen gerichteter Neo-Rassismus 16 verstanden werden können. Am Beispiel dieser diskriminierenden Strategien kann darüber hinaus deutlich gemacht werden, wie solche Diskurse zu einer Vorstellung deutscher Statisierung führen. Musli_minnen als Kategorie sind in offiziellen deutschen staatlichen Veröffentlichungen, wie zum Beispiel in den Statistischen Jahrbüchern, eine neue Form der offiziellen Kategorisierung, die ungefähr um das Jahr 2000 eingeführt worden ist. Dies geschah also zu einem Zeitpunkt, in dem das deutsche StaatsbürgerInnenschaftsrecht verändert wurde und viele in den vorangegangenen Jahrzehnten nach Deutschland auf der Suche nach Arbeit migrierte Personen und deren Angehörige die deutsche StaatsbürgerInnenschaft angenommen haben. Es handelt sich hier um eine Veränderung der hegemonialen Perspektive auf diese Personen von einer Klassifizierung als ›Ausländer_in15 Vgl. hierzu auch den Artikel von Hanna Acke: »›Religion‹ – ›Weltreligion‹«, in: A. Nduka-Agwu/A. L. Hornscheidt (Hg.), Rassismus auf gut Deutsch, S. 375386. 16 Vgl. für eine Definition A. L. Hornscheidt: »Statisierungskritik«. 150

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nen‹ hin zu Muslim_innen. Das heißt zu einem Zeitpunkt, an dem die deutsche StaatsbürgerInnenschaft ausgeweitet worden ist und ein Ent_Selbsten aus einer deutsch statisierten Perspektive nicht mehr nur über ein territoriales Außen bzw. Veräußern stattfindet, hat die Kategorisierung ›Musl_iminnen‹ im deutschen hegemonialen Kontext eine neue Relevanz bekommen, um Grenzziehungen im räumlichen Inneren vollziehen zu können. Ein weiteres Beispiel sind die Einführung der sogenannten Islamkonferenz 17 , die von staatlicher Seite, dem Innenministerium, geschaffen worden ist und ihre öffentliche Dar- und Herstellung. Schiffer zeigt, dass auch in den Medien eine Kategorisierung nach Musliminne_n vor allem in Opposition zu einer nach Chris_tinnen einerseits und andererseits in Opposition zu westlicher Sphäre und ›Zivilisation‹ hergestellt wird.18 Ich ergänze hier, dass es sich im zweiten Fall um die Herstellung einer statisierten Norm handelt, die in den Medientexten als solche entnannt ist und auf diese Art umso machtvoller und nachhaltiger wirkt.

Statisierung über Selbstokzidentalisierung und Ent_Erwähnung von Antisemitismus Mus_liminnen sind neben Jüd_innen die beiden polar zu Chr_istinnen gesetzten religiosisierenden Kategorisierungen des öffentlichen Raumes in deutschen hegemonialen medialen Darstellungen zwischen 2001 und 2006. Andere religiöse Gruppierungen und Klassifizierungen werden gleichzeitig in der Regel ent_erwähnt, das Chr_istinnentum wird in der Regel entnannt, wenn es nicht in expliziter dichotomisierender Opposition zum Islam oder zum Jüdinn_entum gesetzt wird. Der Islam wird auf diese Weise im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in hegemonialen Medien zu einem binären Anderen des für die deutsche Statisierung entnannten Christi_nnentums gemacht.19 Interessant zu beobachten ist die zeitgleich damit einhergehende Ent_Erwähnung des

17 Vgl. für eine Analyse der Islamkonferenz Amir-Moazami, Schirin: »Die Produktion des Tolerierbaren.Toleranz und ihre Grenzen im Kontext der Regulierung von Islam und Geschlecht in Deutschland« in: G. Dietze/C. Brunner/ E. Wenzel (Hg.), Kritik des Okzidentalismus, S. 151-167. 18 Schiffer, Sabine: Die Darstellung des Islams in der Presse. Sprache, Bilder, Suggestionen. Eine Auswahl von Techniken und Beispielen, Würzburg: Ergon 2005. 19 Vgl. für eine Definition von Ent_Erwähnung und WegBenennung A. L. Hornscheidt/A. Nduka-Agwu: »Einleitung«. Die Begrifflichkeit EntErwähnung geht zurück auf Lockward, Alanna: »Diaspora«, in: A. Nduka-Agwu/A. L. Hornscheidt (Hg.), Rassismus auf gut Deutsch, S. 56-71. Der Unterstrich in der hier verwendeten Version des Begriffs macht deutlich, dass es auch immer Lücken zwischen Erwähnung und Enterwähnung gibt. 151

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Jüd_innentums in Bezug auf deutsche aktuelle Statisierung im Kontext der Explizitmachung von Religiosisierung über Muslimisierung. Durch die Ent_Erwähnung des Jüdi_nnentums wird gleichzeitig auch Antisemitismus als Teil deutscher Statisierung unwahrnehmbar(er) gemacht und entnannt – und die Rolle von Antisemitismus als deutsche Wirklichkeit strukturierende Diskriminierungsform wegge_Nannt bzw. häufig auch zeitgleich muslimisierten Personen Antisemitismus zugeschrieben und damit ebenfalls für deutsch statisierte Positionen entnannt. Das Konzept Religion ist in hegemonialen Medien momentan vor allem mit ›dem‹ Islam besetzt, dieser wird dabei häufig zum Problem gemacht, fundamentalisiert und über diese Fundamentalisierung religiös im deutschen Wertekanon ent-normalisiert, während Antisemitismus damit aus dem Fokus genommen wird. Gleichzeitig wird das Christ_innentum als NichtReligion im öffentlichen Diskurs als wichtiger Teil deutscher Statisierung installiert und zu einem vagen und pauschalen Bild von gemeinsamen westlich globalisierten, ›zivilisierten‹ Werten und Normen gemacht. Darüber hinaus spielt die Herstellung von Jüdisch-Sein als Figur, die jenseits einer Vorstellung sowohl religiöser als auch nationaler Dichotomisierung in Eigenes und Fremdes besteht, eine herausragende Rolle für eine deutsche Statisierung. 20 Holz diskutiert, inwiefern deutsch statisierter Antisemitismus ein Gegenentwurf zum Konzept einer ›Nation an sich‹ ist, welcher eine wichtige Rolle in der Etablierung einer deutschen Selbstherstellung spielt, indem die antisemitische Figur des Jüdischen als nicht-nationale Identität etabliert wird und auf diese Weise jenseits von nationalen Dichotomisierungen platziert wird, ausgedrückt in der Formel »[Eigene Nation vs. Andere Nationen] vs. [Jude]«. 21 Jüdisch-Sein ist die Negierung der Unterscheidung in Nationen, das Außen zum Konstrukt nationaler Identität. Es stellt sich mir hier die Frage, ob die analytische Herstellung von Jüdisch-Sein als nicht präzise Greifbares an der Schnittstelle zwischen Nation und Religion nicht auch genau die Form des nationalen Antisemitismus re_Produziert, der von Holz als ambivalent, paradox und nicht-identisch charakterisiert wird – das heißt, ob sich in die Forschung als Voraussetzung bereits eine bestimmte Vorstellung von klar trennbaren Kategorisierungen eingeschrieben hat, über die Jüdisch-Sein immer auch in dieser ambivalenten Positionierung aus statisierter deutscher Perspektive wieder bestätigt wird – auch wenn es sich um kritisch-reflektierende Forschung handelt. Meine These wäre hier also, dass antisemitische Vorstellungen ganz grundlegende Konzeptualisierungen einer Differenzie20 Die Überlegungen dieses Abschnitts sind inspiriert durch die Diplomarbeit von Silke Schissler: Formen postkolonial- postnazistischer Wirkmächtigkeiten im deutschen Kontext (Universität Potsdam Dezember 2010). 21 Holz, Klaus: Die Figur des Dritten in der nationalen Ordnung der Welt, in: Soziale Systeme 6 (2000), S. 269-290. 152

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rung in Analysekategorisierungen wie Religion und Nation bilden, die dann in der einschlägigen Forschung als vorgängig und selbstverständlich genommen werden und in und mit denen wie selbsterfüllend dem Jüdisch-Sein eine ambivalente Position immer wieder neu zukommt und sich dadurch auch von den Forschungsvoraussetzungen her die Wahrnehmung einer Ambivalenz zu Jüdisch-Sein aus einer deutsch statisierten hegemonialen Positionierung immer wieder bestätigt. 22 Die Ambivalenz der deutsch statisierten Positionierung zu jüdischen Personen liegt auch in dem Spannungsverhältnis des Ausschlusses aus dem Deutsch-statisiert-Sein und seiner gleichzeitigen Inkorporierung.23

Einverleibung von Jüdisch-Sein in ein deutsches, christlich-entnanntes Selbstbild Die Strategie der hegemonialen statisierenden deutschen Einverleibung des Jüd_innentums ist ein Aspekt, der zu der zuvor diskutierten Ambivalenz gehört. In den von mir gefundenen konkreten, explizierten Beispielen handelt es sich dabei immer um Belege, in denen Jüdisch-Sein über Religiosisierung hergestellt wird, und zwar durch eine Klassifizierung zusammen mit dem Christ_innentum. Die hier diskutierte Strategie konkretisiert sich beispielsweise in einer Einverleibung des Jüd_innentums in einen als allgemein darund hergestellten deutsch-statisierten Wertekanon, was zahlreiche Phrasen für deutsche Formen von Institutionalisierungen auf unterschiedlichen Ebenen zeigen (zum Beispiel die bei einer Internetsuche frequenten Phrasen »jüdischchristliche Arbeitsgemeinschaft«, »jüdisch-christliche Bibelwoche«, »jüdischchristlicher Dialog«). Als konkretes Beispiel verweise ich auf eine Rede von Angela Merkel aus dem Jahre 2003, in der sie sagt, »Europa beruht auf gemeinsamen Werten und geistigen Wurzeln. Die religiösen Wurzeln: unser jüdisch-christliches Erbe, sind ein prägender Teil unserer Gesellschaft.« 24

22 Zu fragen wäre hier, ob und wie sich dies auf andere Kategorisierungen in Forschungen zu strukturellen Machtverhältnissen übertragen ließe, wie beispielsweise Gender bzw. Sexismus. Darüber hinaus ist auch die Ent_Erwähnung von Antiziganismus in aktuellen deutschen Statisierungen genauer zu reflektieren. Für den Hinweis auf Letzteres danke ich Alyosxa Tudor. 23 Für eine weitere Ausdifferenzierung der Idee, dass die deutsche Ideologisierung von Nation biopolitisch antisemitisch argumentiert, vgl. S. Schissler: Formen postkolonial- postnazistischer Wirkmächtigkeiten. 24 Merkel zit. n. Dietze, Gabriele: »Okzidentalismuskritik. Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektivierung«, in: Dies./C. Brunner/E. Wenzel (Hg.), Kritik des Okzidentalismus, S. 23-54, hier S. 30. Dietze analysiert im Rahmen einer Okzidentalismuskritik mit einer anderen Schwerpunktsetzung. Interessant an diesem Zitat ist über die hier vorgenommene Analyse hinaus auch 153

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Jüdisch-christliche Werte als deutsches oder gar europäisches Erbe sprachlich herzustellen, ist eine frequent zu findende Diskursfigur deutscher Statisierung. Besonders kritikwürdig ist die sprachlich hergestellte Verknüpfung von ›jüdisch‹ mit ›Erbe‹ im deutschen Kontext. Diese Zusammenziehung wird in fast allen Zusammenhängen auf Werte und Traditionen bezogen und auf diese Weise entpersonifiziert. Es wird dadurch eine historische Kontinuität jüdischer Traditionen und Werte in Deutschland suggeriert und der Holocaust so ent_erwähnt, mit der konkreten Folge der weitgehenden und bis heute währenden Nicht-Anwesenheit und Nicht-Selbstverständlichkeit von jüdischen Menschen in Deutschland und als Deutsche. Diese Diskursfiguren werden hier analysiert als eine Strategie der Ent_Erwähnung von deutschem statisiertem Antisemitismus, der in dem konkreten Beispiel von deutsch_christlich_ statisierter Seite über die Einverleibung eines Konzepts ohne selbstkritische Reflexion und ohne eine selbstkritische Positionierung, ohne eine Reflexion des konkreten persönlichen und kollektiven deutsch-statisierten finanziellen Reichtums, der auf Enteignungen und Ermordungen von Jüd_innen beruhte, einhergeht. Die rhetorische Aneinanderreihung und Ineinssetzung von Ch_ristinnentum und J_üdinnentum ist entpersonalisiert. Die Strategie der Einverleibung des Jüdi_nnentums auf einer abstrakten, sich auf ›Kultur‹ und ›Werte‹ beziehenden, nicht konkret auf Personen bezogenen Ebene durch deutsche institutionalisiert agierende Pol_itikerinnen (in Nachfolge des Nationalsozialismus, dessen Kontinuitäten auf vielen gesellschaftlichen Ebenen bis heute ungebrochen sind) wird hier von mir analytisch als eine mögliche verdeckte Form von Antisemitismus befragt, da durch diese Einverleibung eine kritische Reflexion von internalisiertem deutschen Antisemitismus verunmöglicht wird, denn dies wäre ein Paradox in dieser rhetorischen Logik. Den westlich-ideologischen Prozess der Säkularisierung des öffentlichen Lebens interpretiere ich als eine EntReligiosisierung von einer statisierten Form deutschen Christ_innentums. Dies führt zu einer machtvollen Positionierung von christlich geprägten und als christlich konstruierten Werten und Normvorstellungen als allgemeinmenschlich und universell, die teilweise zusätzlich mit einer oberflächlich-begrifflichen Einverleibung von Jüd_innentum in diese statisierte Positionierung einhergeht.25

die Europäisierung, die als eine weitere Strategie des Ablenkens von einem deutschen Antisemitismus gelesen werden kann. 25 Christina von Braun hat in zahlreichen Veröffentlichungen beispielsweise den Prozess christlicher sogenannter Säkularisierung im Hinblick auf Bilderpolitiken untersucht und Nanna Heidenreich hat von Brauns Konzept auf die Frage der Unwahrnehmbarkeit von Weißsein angewendet. 154

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Statisierung über Selbstokzidentalisierung und pseudosäkularisierende EntNennung von Christin_nentum Im kolonialen historischen Kontext spielte die europäische Konstruktion des Chri_stinnentums als die eine und einzige Religion als Gegenüberstellung zu den ent-religiosisierten Anderen im afrikanischen und asiatischen Kontext eine wichtige Rolle, wie Chidester insbesondere in Bezug auf Südafrika zeigt.26 Im Gegensatz dazu scheint eine wichtige Strategie heute im deutschen Kontext der Selbstokzidentalisierung eine umgekehrte zu sein: Die aus der statisierten deutschen Normalvorstellung Ausgeschlossenen werden als religiös hergestellt, und Religion als Ideologie wird dabei gleichzeitig mit etwas Negativem assoziiert, 27 wenn sie in hegemonial-christlich, pseudosäkularisierter westlicher Vorstellung einen vermeintlich alle Handlungen bestimmenden und damit als zu zentral hergestellten Platz im Leben von Individuen einnimmt. 28 Religion wird solchermaßen ideologisiert und in Opposition konstruiert zu einer nicht-ideologisierten Nicht-Religion, die das Christinn_entum ist. Die Debatten und gerichtlichen Beschlüsse um Holzkreuze in bayrischen Klassenzimmern zeigen dies sehr deutlich, wenn sie hegemonial als kulturelle Artefakte, nicht aber als religiöse Symbole gedeutet werden, mit der wichtigen Konsequenz, dass sie in den Klassenzimmern hängen bleiben dürfen. Umso augenfälliger wird diese aktuelle EntReligiosisierung des Chris_tinnentums, wird sie ins Verhältnis gesetzt zu dem auf als weiblich konventionalisierte Kleidungspraktiken bezogenen sogenannten Kopftuchverbot für Lehrerinnen staatlicher Schulen – auch hier wieder mit der wichtigen Ausnahme, dass christliche Nonnen ihre Tracht durchaus in staatlichen Klassenräumen tragen dürfen. Das Christin_nentum wird in seiner EntNennung so zur positiven humanitären universalisierten NichtReligion, Islam zur ideologisch aufgelade26 Chidester, David: Savage Systems: Colonialism and Comparative Religion in Southern Africa, Charlottesville/London: University Press of Virginia 1996. 27 Dies zeigt sich auch in der Verwendungsweise von ›fundamentalistisch‹, welches heute häufig in Bezug auf den Islam verwendet wird. Diesen Hinweis verdanke ich J.ay Keim. Islamismus als Begriff hat ebenfalls eine andere Verwendungsweise als Buddhismus oder Hinduismus, Chri_stinnentum wird hingegen nicht als ›Christismus‹ bezeichnet, die Endung ›-ismus‹ findet sich lediglich bei den Unterkategorisierungen Katholizismus und Protestantismus. Vgl. auch den Artikel von H. Acke: »›Religion‹ – ›Weltreligion‹«. 28 Es wäre interessant, hier weitergehend zu analysieren, wie in der Selbstokzidentalisierung zugleich auch eine Trennung von Religion als Ideologie und Religion als Praxis – zumindest in einem gewissen Umfang – hergestellt wird. Religion als alltägliche Handlung, so eine näher zu untersuchende These, wird weiterhin als legitim rePräsentiert, wenn es nicht als das gesamte Leben bestimmender ideologischer Aspekt hergestellt wird. 155

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nen, gefährlichen und für den als Norm gesetzten Humanismus bedrohlichen Religion. Es wird zu einer Grundlage ethisch und moralisch korrekten Handelns gemacht, der Islam zu einer Religionsausübung, die den als Grundwerte gesetzten Vorstellungen diametral entgegensteht; so zum Beispiel bei den in den Debatten paternalistisch verhandelten sogenannten ›Frauenrechten‹, über die die deutsche Mehrheitsgesellschaft es sogar vermag, sich als ›Frauenrechte vertretend‹ und sogar fast als ›feministisch‹ herzustellen. Die der Islamkonferenz zugrunde liegende Problematik wird im ersten Absatz der staatlichen Internetpräsentation bereits vorausgesetzt und somit hergestellt: »In einer Regierungserklärung drückte der Minister die Hoffnung aus, dass die Islamkonferenz praktische Lösungen für das Zusammenleben mit Personen muslimischen Glaubens in Deutschland finden werde. Als Beispiele für offene Frage nannte er den islamischen Religionsunterricht, die Rolle der Frauen und die hohe Arbeitslosigkeit unter den Eingewanderten.« 29

Islamisch definierte Personen(-gruppen) werden hier als Gruppe der Anderen hergestellt, mit der Lösungen für ein Zusammenleben gefunden werden müssen. Mit wem diese so definierten Personen zusammenleben sollen oder müssen, wird nicht explizit gemacht, sondern vorausgesetzt – ebenso wie in dem Wort ›Lösungen‹ vorausgesetzt ist, dass es ›Konflikte‹ oder ›Probleme‹ geben muss, die gelöst werden müssen. Der deutsche Staat wird hier gleichzeitig als kümmernd, schützend und sorgend konzeptualisiert, indem ihm zugeschrieben wird, den Konflikt – der der diskursiven Darstellung implizit unterlegt ist und durch diese also erst machtvoll konstruiert wird – beheben bzw. sich um eine Lösung kümmern zu wollen. Es wird als selbstverständlich gesetzt und konstruiert, dass der deutsche Staat, der zu diesem Dialog einlädt, ›natürlich‹ nicht aus Mu_sliminnen bestehen kann, sonst würde diese Oppositionsbildung nicht funktionieren. Musli_minnen werden somit zu migratisierten, entstatisierten Personen in Deutschland und damit ›ent-deutscht‹, wie es auch in der Wiederaufnahme durch »Arbeitslosigkeit unter den Eingewanderten« deutlich wird, die damit implizit und pauschal zu Musli_minnen gemacht werden. Hier findet eine Muslimisierung von Migration statt und eine Migratisierung von Musl_iminnen. Der Staat stellt sich und seine Vert_reterinnen implizit und machtvoll als nicht-muslimisch her, die damit einhergehende Sta(a)tisierung ist ent_religiosisiert christlich. Die migratisierende Religiosisierung oder die religiosisierende Migratisierung von Mu_sliminnen ist ein zentraler Mechanismus transdependenter Diskriminierungen und der privilegierenden subtilen und entnennenden Normsetzung deutscher Sta(a)tisierung. Ganz ähnlich ist 29 »Islam ist ein Teil unseres Landes«, http://www.bundesregierung.de/Content/ DE/Archiv16/Artikel/2006/09/2006-09-27-islamkonferenz.html vom 21.2.2011. 156

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auch der folgende Ausschnitt aus einem Interview der Frankfurter Sonntagszeitung mit Innenminister Schäuble vom 5. April 2009 zu interpretieren, der auch nach der letzten Bundestagswahl weiterhin auf der Startseite der Regierungsdarstellung zur Islamkonferenz zu finden ist: »Der Dialog in der Islamkonferenz dient dazu, dass Muslime verstehen, dass sie in unserem Land willkommen sind – natürlich unter der Voraussetzung, dass sie sich an unsere Verfassung und Rechtsordnung halten und dass sie hier heimisch werden wollen. Diese Integration ist der einzige Weg, um eine Radikalisierung von Muslimen zu verhindern. Genau darum geht es, wenn wir sagen: Wir müssen die Terrorismusgefahr präventiv eindämmen. Es gibt deshalb keine Alternative zu Gespräch und Dialog. Mit Naivität und Verharmlosung hat das nichts zu tun – ganz im Gegenteil.« 30

Auch hier werden Muslime – ›natürlich‹ (aus Perspektive des hegemonialen androzentrischen Diskurses) in der ausschließlich männlichen Form – weiterhin entstatisiert und die ihnen zugeschriebene Gefährlichkeit für ein statisiertes Selbstverständnis sogar noch drastischer sprachlich hergestellt als drei Jahre früher in dem zuvor zitierten Teil der staatlichen Internetseite zur Islamkonferenz. Eine Analyse sprachlicher Appellationspraktiken31 kann dazu verhelfen zu verstehen, wie soziale Positionierungen geschaffen werden. Die zu integrierenden muslimischen Anderen in diesem Kontext werden gleichzeitig so auf eine bestimmte Weise hergestellt, eine Position, die zunächst eingenommen werden muss, um dann zu den zu integrierten Ande_ren werden zu können. Statisierungskritik ist ein Konzept, welches es ermöglicht, die sich jeweils dynamisch verändernden Prozesse hegemonialer Statisierungen kontext- und situationsspezifisch zu analysieren. Die statisierte Positionierung ist in der Regel entNannt. Die am Beispiel der staatlich geschaffenen Islamkonferenz aufgezeigte und dort hergestellte Unterteilung zwischen Vertre_terinnen des deutschen Staates und Musli_minnen in Deutschland re_Produziert Normsetzungen hinsichtlich der Frage, wer den deutschen Staat re_Präsentiert und wer – auch metaphorisch gesprochen – in Deutschland mit welchen Rechten wie anwesend ist – als statisiert oder als migratisiert. Diese Normsetzung findet sich natürlich nicht nur in staatlichen Äußerungen, sondern auch in medialen Kontexten, in denen Deutschsein kontinuierlich entmuslimisiert wird, wie

30 http://www.bundesregierung.de/nn_915752/Content/DE/Interview/2009/04/ 2009-04-05-schaeuble-fasz.html vom 31.12.2009. 31 Dieser Begriff wird in A. L. Hornscheidt/A. Nduka-Agwu: »Einleitung«, erläutert und meint die über sprachliche Be_Nennung handelnd hergestellten An_Rufungen an Personen. 157

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z.B. in der Überschrift eines Artikels der taz vom 31. Dezember 2009: »Islam ist pop. Eine wachsende Jugendkultur deutscher Muslime lebt durch Internet und Popkultur ein neues Lebensgefühl. Statt Unterschiede werden Gemeinsamkeiten mit Deutschen betont.«32 Auch hier findet sich eine explizite DeStatisierung von Musli_minnen, ihre explizite Gegenübersetzung zum Deutschsein. Die für die destatisierte Positionierung von Mu_sliminnen in den öffentlichen Diskursen komplexe Verbindung von Migratisierung, Religiosisierung und Rassifizierung führt gleichzeitig zu einer deutschen Selbstvergewisserung als [christlich_]33 entreligiosisiert und statisiert. Zu diesen Aspekten aktueller deutscher Statisierung über die Herstellung einer muslimischen And_eren kommt noch ein weiterer hinzu, und zwar eine männlich gegenderte, heteronormative Normsetzung, die ich an anderer Stelle ausführlich darstelle und diskutiere. 34 Feministische weiße aktuelle akademische Politiken müssen sich ausgehend vom Konzept der Statisierungskritik immer wieder fragen, welche Normen sie selbst re_Produzieren, welche Differenzierungen unterschiedlicher Positionen sie ent_erwähnen und entnennen.

Deutsche Statisierung über partielle und optionale VerEinNahmungen Die DeStatisierung von M_usliminnen geht einher mit einer weiteren Strategie der statisierten deutschen Normalitätsherstellung: die Einverleibung von einem Anderen, welches im Zeichen etwas von Toleranz oder Multikulturalismus als tolerierbar, ›spannend‹, ›interessant‹, das eigene Leben ›belebend‹ wahrgenommen wird. Hier handelt es sich nicht länger um eine Form der Ausgrenzung (erste Strategie) noch um die Dar- und Feststellung der Sozialisierbarkeit des Anderen in das westliche Modell und sein/ihr Aufgehen in diesem (zweite Strategie). Stattdessen wird hier etwas des Anderen positiv wahrgenommen, stehen gelassen und gleichzeitig als Anderes in das Selbst integriert. Diese Strategie ist besonders stark im alltagskulturellen Bereich zu finden und zeichnet sich vor allem durch ihre Partialität und ihre Begrenztheit auf den sogenannten Genuss- und Konsumbereich aus, der also auch einen metaphorischen Effekt hat: Das Andere wird konsumfähig, kann genossen 32 Schädler, Karin: Islam ist pop. Eine wachsende Jugendkultur deutscher Muslime lebt durch Internet und Popkultur ein neues Lebensgefühl. Statt Unterschiede werden Gemeinsamkeiten mit Deutschen betont, http://www.taz.de/1/leben/ alltag/artikel/1/islam-ist-pop/ vom 22.01.2010. 33 Ein Notationsvorschlag, der in diesem Zusammenhang für diesen Artikel überlegt wurde, ist, entnannte Positionen jeweils in eckige Klammern zu setzen, um damit die Entnennung, die hier jeweils angesprochen wird, auch graphisch wahrnehmbar zu machen. 34 Vgl. A. L. Hornscheidt: »Statisierungkritik«. 158

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werden. 35 Das heißt, es kommt nicht zu der Übernahme von größeren Konzepten, sondern immer nur zur Einverleibung partieller und optionaler Merkmale, die auf diese Weise als Konsum ›verdaubar‹ sind. Die Konsummetaphorik, die ich hier benutze, ist nicht zufällig, sondern deutet auf die Form der Aneignung im Rahmen dieser dritten Strategie hin. Es handelt sich vor allem um Elemente des Konsums, die hier eine Rolle spielen: Im Essensbereich das Feiern der Aufnahme von ›exotischen‹ Gewürzen in die deutsch-statisierte Küche bis hin zum Phänomen der ›fusion kitchen‹ 36 , das heißt der Verbindung unterschiedlicher Kochtraditionen; in der Musik das Feiern von »World und Ethno-Music« (womit nicht-westeuropäische Musik gemeint ist) und im Wohnbereich die Propagierung eines ›wärmeren‹, ›exotischen‹ oder gar ›orientalischen‹ oder ›Ethno‹-Stils, welcher sich in Accessoires der westlichen Wohneinrichtung niederschlägt. Letzteres kann wiederum als symbolisch für diese Bewegung aufgefasst werden: Die statisierte Norm dessen, was Wohnen heißt, welche Standards eine Wohnung hat, wie die Raumaufteilung aussieht, wird nicht angetastet, sondern lediglich in für die statisierte Norm austauschbaren, optionalen Details ›angereichert‹ durch etwas, das so gleichzeitig als exotisch und/oder orientalisch hergestellt wird, nie aber essenzieller Teil des deutsch-sta(a)tisierten Lebens und der entsprechenden Identität wird, sondern eher Ausdruck einer liberalen Grundhaltung und von Toleranz ist. Auf diese Weise findet eine Einengung der Perspektivierung, eine subtile Form der Grenzziehung statt, in der das statisierte Selbst als Norm weiterhin bestätigt wird und das destatisierte Andere als Anderes zu etwas liberal Tolerierfähigem gemacht wird, zur ›Würzung‹ des statisierten Selbst auf seine Partialität geschrumpft wird.

35 Vgl. auch bell hooks: »Eating the other«, in: Dies., Black looks. Race and representation, Cambridge: SouthEndPress, S. 21-40. 36 Vgl. Michaelsen, Anja: »Asian Food Porn. Fremdheit, Geschlecht und Visualität in Metaphern der Einverleibung zeitgenössischer Populärkultur«, in: ZTG Bulletin 32 (2006), S. 240-259. 159

Kontroversen zwischen Freud, Blüher und Hirschfeld. Zur Pathologisierung und Rassisierung des effeminierten Homosexuellen CLAUDIA BRUNS

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Phänomen der Homosexualität in verschiedenen Wissenschaftsfeldern zu einem überraschend intensiv diskutierten Thema. 1 Gleichsam als Pendant zur weiblich konnotierten Hysterie stürzten sich verschiedene miteinander konkurrierende Wissenschaften auf das »Rätsel« gleichgeschlechtlichen Begehrens. Dem »konträrsexuellen« Mann wurde eine vom Normalspektrum abweichende, eigene psychische und physische Konstitution zugeschrieben, die man in all ihren Verästelungen zu erforschen anhob. – Angereizt wurde diese Problematisierung nicht zuletzt von den virulenten Debatten um die Frauenemanzipation und den immer lauter werdenden Forderungen nach Frauenbildung und Frauenstimmrecht. 2 Die Figur des »Konträrsexuellen« rückte auch deswegen in den Fokus der Aufmerksamkeit, weil auf diese Weise die Kriterien für »normale« Männlichkeit und die Geschlechtergrenzen neu ausgehandelt werden

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Allein zwischen 1898 und 1908 zählte der Sexualreformer Magnus Hirschfeld über 1.000 einschlägige Veröffentlichungen in deutscher Sprache, Hirschfeld, Magnus: Die Homosexualität des Mannes und des Weibes, 2. um ein Vorwort v. Bernd-Ulrich Hergemöller ergänzte Neuaufl. d. Nachdrucks der Erstausgabe, Berlin: De Gruyter 2001 [1914], S. V und 973. Der amerikanische Historiker John Fout stellt die starke Problematisierung von Homosexualität zu Recht in den Kontext der wachsenden Besorgnis von Männern über erodierende Geschlechtergrenzen. Vgl. Fout, John C., »Sexual Politics in Wilhelmine Germany. The male Gender Crisis, Moral Purity, and Homophobia«, in: Ders. (Hg.), Forbidden History. The State, Society, and the Regulation of Sexuality in Modern Europe, (Essays from the Journal of the History of Sexuality), Chicago/London: University Press of Chicago 1992, S. 259-292. 161

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konnten. Durch die Analyse der Grenzverläufe hin zur »Perversion« ließen sich im Umkehrschluss Kriterien der »Normalität« 3 herausschälen. Diese Versuche einer Ausdifferenzierung des Normalspektrums bezogen sich nicht nur auf das einzelne Subjekt, seinen psychischen Apparat und seinen Körper, sondern auch auf die Gesellschaft als politische und soziale Einheit, als »Volkskörper«. Die Diskursivierung von (Homo-)Sexualität vermochte dabei eine Art Scharnierfunktion zwischen Einzelnem und Ganzem zu übernehmen. Schließlich glaubte das aufstrebende wilhelminische Bürgertum im Gefolge des Siegeszugs der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert in den Kräften der Natur die Gesetze der Kultur erkennen zu können. Durch die Entschlüsselung der menschlichen Sexualität versprach man sich nicht nur Aufschlüsse über die Anziehung zwischen Individuen zu erlangen, sondern auch über den Zusammenhalt des sozialen Ganzen. Im Folgenden möchte ich einen besonderen Ausschnitt aus den Debatten um Homosexualität auswählen, der mir in mehrfacher Hinsicht markant zu sein scheint. In den 1910er Jahren kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen drei diskursprägenden Vertretern unterschiedlicher Richtungen der noch jungen Sexualwissenschaft – zwischen dem Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud (1856-1939), dem Sexualbiologen und Vorkämpfer der Homosexuellenemanzipation Magnus Hirschfeld (1868-1935) und dem eine Generation jüngeren Hans Blüher (1888-1955), der Anregungen von den beiden Erstgenannten aufnahm und als Männerbundtheoretiker und Laienanalytiker in die Geschichte eingehen sollte. Im Folgenden möchte ich die These aufstellen, dass man im Verlauf des Streites über den Grad der Gesundheit und Normalität des Homosexuellen eine Spaltung in die Figur des Homosexuellen selbst einführte. Eine Spaltung, die zwischen einem akzeptablen, gesellschaftlich nützlichen, virilen und einem neurotischen, degenerierten, femininen Homosexuellen unterschied. Ich möchte also zuspitzend behaupten, dass versucht wurde, den virilen Homosexuellen in das Normalspektrum zu integrieren – allerdings um den Preis des Ausschlusses des effeminierten. Wie hier gezeigt werden soll, findet sich diese Bewegung bei Freud, Hirschfeld und Blüher in unterschiedlicher Ausprägung und Radikalität wieder. Überdies wurden die geschlechtlich codierten Formen der Differenzkonstruktionen von Pathologisierungs- und Rassisierungsprozessen begleitet, verändert und subvertiert. Während alle drei Ansätze den femininen Homosexuellen abwerteten und zum Teil pathologisierten, so unterschieden sie sich dahingehend, inwieweit sie ihn überdies als »rassisch minderwertig« klassifizierten.

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Vgl. zur Diskursgeschichte der Normalität im 19. Jahrhundert Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen: Westdeutscher Verlag 1997.

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Auf diese Weise wurde nicht mehr allein zwischen normaler und anormaler Sexualität unterschieden, sondern in das »Anormale« selbst eine Spaltung eingeführt, die entlang der Geschlechterdichotomie verlief, welche ihrerseits (zunehmend) mit rassischen Differenzkonstruktionen aufgeladen wurde. So brachten die Prozesse der Flexibilisierung des Normalspektrums zugleich proto-normalistische, fixe Grenzziehungen hervor und reizten zu einem Denken in festen Dichotomien an, obwohl sie ebendieses zu unterlaufen suchten.

Persönliche und organisatorische Verbindungen zwischen Blüher, Hirschfeld und Freud im Jahr 1912/13 Vor dem Hintergrund der virulenten Diskursivierung von Homosexualität um 1900 erstaunt es nicht, dass auch einer der zentralen Gründungstexte der Psychoanalyse, Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), 4 in erster Linie männliche Homosexualität bzw. »Inversion« thematisiert. 5 Nach eigenen Angaben verfolgte Freud mit seiner Analyse der »überraschenden« Abweichungen von der Norm unter anderem das Ziel, neue Einsichten in die psychosexuelle Entwicklung des »normale[n] Geschlechtsleben[s]« und den Erwerb der »normalen« Geschlechtsidentität zu gewinnen. 6 Mit ähnlicher Intensität, aber anderem Erkenntnisinteresse, hatte sich auch Magnus Hirschfeld der Erforschung von Homosexualität verschrieben. 7 Er suchte nach neuen sexualbiologischen Erklärungsmodellen für die Existenz eines sogenannten »dritten Geschlechts« zwischen Mann und Frau. Das von

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Von den HerausgeberInnen der Studienausgabe des freudschen Werks wird dieser Text neben der Traumdeutung als Freuds »bedeutendster, originellster Beitrag zur Wissenschaft vom Menschen« bezeichnet, »Editorische Vorbemerkung« [zu Sigmund Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie], in: Freud, Sigmund, Studienausgabe, Bd. 5: Sexualleben, hg. von Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, unter Mitherausgabe von Ilse GrubichSimitis, Frankfurt a.M.: Fischer 2000, S. 39-42, hier S. 39. »Man heißt solche Personen Konträrsexuale oder besser Invertierte, die Tatsache die der Inversion.« Freud, Sigmund: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905)«, in: Ders., Studienausgabe, Bd. 5, S. 37-145, hier S. 48. Ebd., S. 48 und S. 134. Vgl. hierzu u.a. sein erstes sexualwissenschaftliches Werk zur Homosexualität als Naturtrieb, Hirschfeld, Magnus: Sappho und Sokrates: Wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts?, 2. Aufl., Leipzig 1902 [erstmals 1896 unter dem Pseudonym Dr. med. Th. Ramien veröffentlicht]. 163

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ihm 1897 gegründete Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK) trat öffentlich für die Aufhebung des Paragrafen 175 RStGB ein. 8 Anfänglich interessierten sich die Vertreter und Vertreterinnen des WhK auch für Freuds neue psychoanalytische Theoriebildung, weil man sich von ihr »zahlreiche für die Beurteilung der Homosexualität höchst wichtige, wissenschaftlich vertiefte Ausführungen« versprach.9 In dem Maße, wie sich die Psychoanalyse auf biologische Faktoren wie die »konstitutionelle Bisexualität« bezog, ließen sich inhaltliche Berührungspunkte ausmachen. Und auch auf politischer Ebene schien es zunächst ein gemeinsames Anliegen zu geben. So zählte Hirschfeld Freud anfänglich durchaus zu den »geistigen Förderern des Befreiungskampfes«. Denn, wenn man dem Wortlaut eines Interviews mit Freud Glauben schenken darf, das die Wiener Zeitung Die Zeit vom 27. Oktober 1905 wiedergab, sprach er sich zu diesem Zeitpunkt für eine Straffreiheit der Betroffenen aus. 10 Einige Jahre später tendierte er jedoch verstärkt dazu, Invertierte zu pathologisieren. Über gemeinsame Interessenfelder hinaus hatte es anfänglich auch institutionelle und personelle Verflechtungen zwischen dem WhK und der psychoanalytischen Bewegung gegeben. 11 So erfährt man durch den WhKMonatsbericht vom Dezember 1906, dass die Gründung eines österreichischen Wissenschaftlich-humanitären Komitees unter der Leitung des Wiener Nervenarztes Wilhelm Stekel, einem der Mitbegründer der psychoanalytischen Bewegung, geplant war.12 Im Mai desselben Jahres war auch Freud selbst einmalig als Beitragszahler für den Fonds des WhK verzeichnet.

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Paragraf 175 RStGB: »Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.« Zit. n. Stümke, Hans-Georg: Homosexuelle in Deutschland. Eine politische Geschichte, München: Beck 1989, hier S. 21. 9 So lautete eine Notiz im Monatsbericht des Whk vom Juni 1905, die sich auf Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie bezog, zit. n. Herzer, Manfred: Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen, 2. überarb. Aufl., Hamburg: MännerschwarmSkript 2001, hier S. 156. 10 Hirschfeld zitierte die entsprechenden Äußerungen Freuds aus dessen Interview mit Der Zeit, die schon vorher mehrfach in der homosexuellen Literatur Erwähnung gefunden hatten. In dem Interview anlässlich des Strafprozesses gegen den Wiener Professor Theodor Beer, der der Päderastie verdächtigt wurde, soll Freud geäußert haben, dass »Homosexuelle nicht vor das Forum eines Gerichtshofes« gehören und dass er der »festen Ueberzeugung [sei], dass Homosexuelle nicht als Kranke behandelt werden müssen, denn der pervers Veranlagte ist deshalb noch lange nicht krank«. Zit. n. Herzer (2001) [1992], 154. 11 Ebd., S. 153. 12 Ebd., S. 169. 164

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Unbekannt ist, warum die Initiative bald wieder einschlief und Stekel sich nun offen gegen eine weitere Zusammenarbeit mit Hirschfeld wandte.13 Zwei Jahre später, im Frühjahr 1908, besuchte Hirschfeld Freud erstmals persönlich in Wien, wo man die möglichst freundschaftliche Kooperation der zwei Bewegungen bekräftigte. Der Wille zur Zusammenarbeit zeigte sich zunächst darin, dass sich führende Vertreter der psychoanalytischen Bewegung an Hirschfelds Zeitschrift für Sexualwissenschaft, die 1908 neu ins Leben gerufen wurde, beteiligten.14 Ein weiterer Versuch der Kooperation bestand in der gemeinsamen Ausarbeitung eines Fragebogens, der Daten über das Sexualverhalten Homosexueller liefern sollte, ausgehend von einem Entwurf, den Hirschfeld erstmals im Jahr 1899 entwickelt und veröffentlicht hatte. Hirschfelds überraschenderweise relativ unveränderte Publikation des nun »psychoanalytisch« genannten Fragebogens in seiner Zeitschrift für Sexualwissenschaft im Dezember 1908 rief dann allerdings erhebliche Missstimmung hervor. Das »ganz blödsinnige Machwerk« sei alles andere als psychoanalytisch, empörte sich der Carl Gustav Jung gegenüber Freud.15 Das Jahr 1908 markierte insgesamt einen entscheidenden Wendepunkt für beide Bewegungen. Während sich das WhK und mit ihm die gesamte Homosexuellenemanzipationsbewegung von ihrer schweren Krise infolge der Eulenburg-Skandale 16 nicht mehr erholte, begann für die Psychoanalytiker der Durchbruch zu fester internationaler Organisation und weltweiter Anerkennung. 17 Auf dem dritten Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Weimar kam es im Herbst 1911 schließlich zu derart scharfen verbalen Angriffen des Psychoanalytikers Carl Gustav Jung gegen Hirschfeld, dass dieser beschloss, aus der Psychoanalytischen Vereinigung auszutreten. Jung hatte offenbar auf

13 Ebd., S. 171. 14 Ebd., S. 169-171. 15 Ebd., S. 173. Freud, Sigmund/Jung, Carl Gustav: Briefwechsel, Frankfurt a.M.: Fischer 1978, S. 244. 16 In den Jahren 1907 und 1908 sorgten eine Reihe von Prozessen für Aufsehen, in welchen einer Gruppe von Adeligen aus dem Beraterkreis um Kaiser Wilhelm II. vorgeworfen wurde, homosexuelle Handlungen begangen zu haben, vgl. Bruns, Claudia: Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur 1880-1934, Köln u.a.: Böhlau 2008, hier S. 167-190. 17 Zwar gab es auch für die Homosexuellenemanzipationsbewegung in den folgenden 25 Jahren noch Erfolge, doch überwogen Rückschläge und Krisen. Die psychoanalytische Bewegung hingegen konnte sich trotz interner Sezessions- und Konkurrenzbewegungen bis 1933 international fest etablieren, Herzer: Magnus Hirschfeld, S. 179 und S. 193ff.; zur Entwicklung der Psychoanalytischen Vereinigung während und nach dem Ersten Weltkrieg vgl. Dührssen, Annemarie: Ein Jahrhundert Psychoanalytische Bewegung in Deutschland. Die Psychotherapie unter dem Einfluß Freuds, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994, hier S. 70-184. 165

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die grundlegende Differenz zwischen Psychoanalyse und Sexologie verwiesen. Und auch Freud bemerkte in seinem diplomatisch formulierten Abschiedsbrief vom 2. November 1911 an Hirschfeld, dass seine »Annäherung« an die Psychoanalyse wohl »nicht über die Sympathie hinausgegangen« sei. 18 In dem Maße, wie die Psychoanalyse verstärkt soziale Faktoren für die Erklärung von Homosexualität verantwortlich machte, waren Differenzen zwischen beiden Bewegungen entstanden, die im Jahr 1911 schließlich zum Bruch führten. Hirschfeld ging von einer konstitutionell-biologischen Anlage zur Homosexualität aus, Freud stärker von einer psychosexuellen Entwicklung. Die Theoriebildung Hans Blühers bewegte sich eine Zeit lang zwischen Psychoanalyse und dem emanzipatorischen Anliegen Hirschfelds. Blüher verfasste eine der ersten historischen Darstellungen der Wandervogelbewegung – nicht zuletzt, um diese gegen Angriffe zu verteidigen, dass es sich um einen »Päderastenclub« handele, wie im Gefolge der Eulenburg-Skandale behauptet worden war. 19 Blüher verkehrte diese Kritik in einen Vorzug der Bewegung und erklärte, dass die Jugendbewegung in der Tat von homosexuellen Kräften getragen werde. Diese würden aber nicht nur den männerbündischen Zusammenhalt der Bewegung erklären, sondern letztlich auch den Staat tragen.20 In dem Wunsch nach Autorisierung seiner Thesen durch einen etablierten Sexualwissenschaftler trat er zunächst mit Hirschfeld in Kontakt, besuchte ihn erstmals am 30. April 1912 in seiner Berliner Wohnung 21 und nahm bald auch an Sitzungen des WhK teil. 22 Hirschfeld fand Blühers Arbeit offenbar

18 Herzer, Manfred: »Zu einem Brief Sigmund Freuds an Magnus Hirschfeld vom 2. November 1911«, in: Capri 19 (1995), S. 30-33, hier S. 32. 19 Ausführlicher zu den Angriffen vgl. Bruns: Politik des Eros, S. 242-245. 20 Blüher, Hans: Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung, 2 Bde., mit e. Vorwort v. Hans Blüher, Berlin-Tempelhof: Buchhandlung Bernhard Weise. Der dritte Band wurde im selben Jahr separat publiziert: Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen. Ein Beitrag zur Erkenntnis der sexuellen Inversion, m. e. Vorwort v. Dr. med. Magnus Hirschfeld u. e. Nachw. v. Hans Blüher, Berlin: Bernhard Weise Buchhandlung. 21 Vgl. Blüher, Hans: »Vorwort«, in: Ders., Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen, 2. verm. u. verb. Aufl. m. e. Vorw. v. Hans Blüher zur 2. Aufl. [Vorw. v. M. Hirschfeld u. Nachw. v. H. Blüher gestrichen], BerlinTempelhof: Bernhard Weise 1914, hier S. 6. 22 Am 14. Februar 1913 hielt Blüher dort einen Vortrag über »Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen«, worauf ein Vortrag von Arthur Weil über »Hans Blüher und die Homosexualität« folgte. Dies geht aus den »Mitteilungen« des WhK hervor, abgedruckt im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 13 (1913), S. 375. 166

KONTROVERSEN ZWISCHEN FREUD, BLÜHER UND HIRSCHFELD

»wissenschaftlich höchst bedeutungsvoll«.23 Im Juni willigte er ein, dessen mehrteilige Wandervogel-Publikation mit einem Vorwort zu unterstützen. 24 Im Jahr 1912, als Blüher unter anderem über Hirschfeld nun auch Kontakt zu Freud aufnahm, war es bereits zu grundlegenden Verstimmungen zwischen dem WhK Hirschfelds und der psychoanalytischen Bewegung gekommen. Dennoch publizierte Blüher zwischen 1912 und 1914 in den Fachzeitschriften beider Bewegungen, wenn auch mit Schwerpunkt auf psychoanalytischen Organen. Freud hatte anfangs durchaus Sympathie für den rund dreißig Jahre jüngeren Blüher.25 Eine Zeit lang sah es sogar so aus, als würde Blüher durch Freud in den Kreis der Psychoanalytiker aufgenommen werden. Den Auftakt bildete ein Brief, den Blüher im Mai 1912 an den von ihm verehrten Freud richtete, um diesen in einer Mischung aus Unsicherheit und Überheblichkeit um Unterstützung zu bitten.26 Dieser Brief war der Beginn einer längeren Kontroverse zwischen Freud und Blüher über Fragen der Homosexualitätsbzw. »Inversionstheorie« 27 , die sich bis zum August 1913 hinzog. 28 Während Blüher versuchte, Freud seine Theorie vom homoerotischen Männerbund und den besonderen Kulturleistungen des Homosexuellen nahezubringen, arbeitete Freud an seinem Werk Totem und Tabu. In diesem stand ebenfalls eine (latent homoerotische) »Brüderhorde« im Mittelpunkt, deren Mord am »Urvater« den Prozess der Zivilisation angestoßen haben sollte. Es ist nicht auszuschließen, dass Freuds Konzeption von der »Brüderhorde« auch von Blühers männerbündischen Theorien inspiriert war. Sicher ist, dass beide gemeinsam aus einem Fundus ethnologischer Theorien schöpften, die ebenfalls männerbündische Vorstellungen transportierten. Allerdings war es Blüher, der im Rekurs auf Freuds Konzept von der sexuellen Fundierung kultu-

23 Brief an Wilhelm Jansen vom 01.05.1912 [2 masch. S.], SBBPK Nl. H. Blüher, K. 10. 24 Blüher, Hans: Werke und Tage, Bd. 1, Jena: Diederichs 1920, hier S. 140. Brief an Wilhelm Jansen vom 09.06.1912 [2 masch. S.], SBBPK Nl. H. Blüher, K. 10. Am 9. Juni 1912 hielt Blüher Hirschfelds Vorwort in Händen, vgl. Brief an Wilhelm Jansen vom 01.05.1912 [2 masch. S.], SBBPK Nl. H. Blüher, K. 10. 25 Brief an Hans Blüher vom 10.07.1912, abgedruckt in Neubauer, John: »Sigmund Freud und Hans Blüher in bisher unveröffentlichten Briefen«, in: Psyche 50 (1996), S. 123-148, hier S. 138. 26 Brief an Sigmund Freud vom 02.05.1912, abgedruckt ebd., S. 134. 27 Statt von Homosexualität zu sprechen, übernahm Blüher Freuds Inversionsbegriff, um hervorzuheben, dass lediglich das »Liebesobjekt« verändert sei, nicht aber das sexuelle Verhalten. H. Blüher: Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen (1. Aufl. 1912), S. 30f. Zum Inversionsbegriff vgl. S. Freud: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, S. 48f. 28 Der Briefwechsel ist in der Sigmund Freud Collection der Handschriftenabteilung in der Library of Congress, Washington D.C., USA aufbewahrt. Teile davon sind abgedruckt in J. Neubauer: »Sigmund Freud und Hans Blüher«, S. 133148. 167

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reller Phänomene dem Männerbund erstmals explizit homosexuelle Bindungskräfte zuschrieb. Während Freud in ihm anfänglich einen Mitstreiter für sein psychoanalytisches Projekt sah, versprach sich Hirschfeld von Blüher einen Brückenschlag zwischen dem »Befreiungskampf« des WhK und der Psychoanalyse. Denn Blüher trat offen für die Abschaffung des diskriminierenden Paragrafen 175 RStGB ein, während Freud nach anfänglicher Unterstützung 29 allmählich zu einer ambivalenteren Position tendierte.30 Der Kontakt zu Blüher scheiterte allerdings nicht an diesen Differenzen. Er brach erst in dem Moment ab, als dieser sich in dem Konflikt zwischen Freud und seinem abtrünnigen Mitarbeiter Stekel nach eigenem Bekunden »völlig neutral« verhalten wollte.31 Hinzu kamen Differenzen wegen Blühers zunehmendem Antisemitismus.

Homosexualität zwischen Kulturleistung und Entwicklungshemmung Ein zentraler Streitpunkt zwischen Hirschfeld, Freud und Blüher lag in der Frage, ob Homosexualität angeboren oder sozial erworben sei. Zwar waren sich alle drei darin einig, dass bei jedem Menschen unterschiedliche Grade der Neigung zum gleichgeschlechtlichen Begehren auszumachen seien. Für Hirschfeld war allerdings jede Form der »Zwischenstufe«32 , die er zunächst an bestimmten körperlichen Merkmalen, später dann vor allem an Charakter und Begehren einer Person festmachte, angeboren und unveränderlich.33 Die

29 M. Herzer: Magnus Hirschfeld, S. 154. 30 Vgl. dazu Freud im Brief an Blüher vom 10.07.1912, S. 139f.; vgl. M. Herzer: Magnus Hirschfeld, S. 161. 31 Blüher nahm ein Publikationsangebot in dem nun von Stekel allein herausgegebenen Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie an. Freuds letzter Brief an Blüher vom 9. August 1913 endete erbost mit den Worten, dass er in ihm keinen Freund mehr sehen könne: »Dr. St. hat sich in verräterischer, lügenhafter Weise in den Besitz des Zentralblattes gebracht u[nd] mich genötigt eine neue Zeitung zu gründen. Wir können […] in den ›Neutralen‹ unsere Freunde nicht erkennen.« Brief Freuds an Blüher vom 09.08.1913, abgedruckt in J. Neubauer: »Sigmund Freud und Hans Blüher«, S. 146f. 32 Zu Hirschfelds »große[r] Reihe von Zwischenstufen« vgl. u.a. Hirschfeld, Magnus: Was muss das Volk vom Dritten Geschlecht wissen!, Leipzig: Max Spohr 1901. 33 Während Hirschfeld Homosexualität zunächst als eine körperliche »Zwischenstufe« zwischen Mann und Frau auffasste, machte er in späteren Werken Homosexualität vor allem am »exakten Nachweis der konträren Sexualempfindung selbst« fest. Fühle jemand homosexuell (und zwar von Kindheit an), so sei er für Hirschfeld ein Homosexueller, resümiert Stekel, Wilhelm: Störungen des Triebund Affektlebens. Die parapathischen Erkrankungen, Bd. 2: Onanie und Homo168

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Einflüsse der Kindheit und Jugend konnten ihm zufolge an der Inversionsneigung nichts ändern.34 Auch interessierte er sich vor allem für Invertierte, »deren Neigung zum eigenen Geschlecht sich bis auf die Genitalien erstreckt«, und nicht für ein zur Sexualität offenes Kontinuum homosozialer Neigungen, wie Blüher es favorisierte. 35 Noch in seinem durchaus wohlwollenden Vorwort zu Blühers Wandervogelgeschichte betonte er die »biologische Betrachtungsweise«, der man es zu verdanken habe, dass »die Träger homosexueller Veranlagung« nun als »Sondertypen der Spezies homo« verstanden und toleriert würden. 36 Für Freud hingegen gab es, ähnlich wie für Blüher, neben dem »absolut Invertierten«, der sein »Sexualobjekt« unter allen Umständen gleichgeschlechtlich wählte, auch die »psychosexuell-hermaphroditisch Invertierten«, die in der Wahl des »Sexualobjekts« schwankten, sowie die »okkasionell Invertierten«, die »unter gewissen äußeren Bedingungen« eine Person des gleichen Geschlechtes zum »Sexualobjekt« nehmen konnten.37 Im Gegensatz zu Hirschfelds Annahme einer biologischen Konstitution kam Freud zu dem Schluss, dass »[e]in guter Teil der später beobachteten Abweichungen vom normalen Sexualleben […] durch die Eindrücke der angeblich sexualfreien Kindheitsperiode […] festgelegt« sei.38 Die Möglichkeit, durch äußere Einflüsse bedingt eine Phase gleichgeschlechtlichen Begehrens zu durchleben, ließ Blüher besonders für die Zeit der Pubertät gelten, behauptete allerdings für den »Männerhelden« eine angeborene und unveränderliche Neigung zum eigenen Geschlecht. 39 Während Hirschfeld alle möglichen »Zwischenstufen« gleichermaßen als normale (wenn auch nicht wünschenswerte, so doch zu tolerierende) Varianten der Natur verstanden wissen wollte, schwankte Freud zur Zeit der Publikation von Blühers Wandervogel-Bänden 1912 noch in seiner Bewertung von Homosexualität. Invertierte seien nicht als »Degenerierte« zu bezeichnen, war 1905 in Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie zu lesen,

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sexualität. Die homosexuelle Parapathie, 3. verbesserte u. verm. Aufl., Berlin/Wien: Urban & Schwarzenberg 1923 [1917], S. 158f. Vgl. M. Herzer: Magnus Hirschfeld, S. 157. So Blühers Kritik in seinem Vorwort zur zweiten Auflage von Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen (1914), ebd., S. 8. Vgl. Hirschfelds »Vorwort« zur ersten Auflage von Blühers Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen (1912), ebd., S. 5. S. Freud: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, S. 48ff. Ebd., S. 145. Blüher, Hans: Die drei Grundformen der sexuellen Inversion (Homosexualität). Eine sexuologische Studie, Leipzig: Max Spohr (Separatdr. aus: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 13), hier S. 76f., sowie Blüher, Hans: »Zur Theorie der Inversion«, in: Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse 2 (1914), S. 223-243, hier S. 242. 169

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weil man unter ihnen Personen finde, die »keine sonstigen schweren Abweichungen von der Norm zeigen« und deren »Leistungsfähigkeit nicht gestört ist, ja, die sich durch besonders hohe intellektuelle Entwicklung und ethische Kultur auszeichnen«. 40 In dem Aufsatz über »Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci« aus dem Jahr 1910 tendierte er bereits dazu, die Inversion für eine individuelle Entwicklungshemmung zu halten.41 Er unterstellte den männlichen Homosexuellen zwar keine physiologische Verweiblichung, aber eine besondere narzisstische Identifikation mit der Mutter, die negativ auf die Entwicklung zur Männlichkeit wirke. Homosexuelle Männer hätten »eine sehr intensive erotische Bindung an eine weibliche Person, in der Regel die Mutter«, welche »häufig Mannweiber« seien, also »Frauen mit energischen Charakterzügen, die den Vater aus der ihm gebührenden Stellung drängen konnten«. 42 Einem solchen Knaben fehle der »starke Vater«, sodass er »dem weiblichen Einfluß preisgegeben« sei, sich »mit der Mutter identifiziert« und »sich selbst an deren Stelle setzt«.43 Vor allem diese Identifikation markierte Freud zufolge eine Regression, die im Grunde eine narzisstische Liebe zu sich selbst sei, also das Gegenteil einer gelungenen sozialen Bindung: »[E]igentlich ist er in den Autoerotismus zurückgeglitten, da die Knaben, die der Heranwachsende jetzt liebt, doch nur Ersatzpersonen und Erneuerungen seiner eigenen kindlichen Person sind, die er so liebt, wie die Mutter ihn als Kind geliebt hat. Wir sagen, er findet seine Liebesobjekte auf dem Wege des Narzißmus [… Er blieb] im Unbewußten an das Erinnerungsbild seiner Mutter fixiert.« 44

Indem Freud in der Liebe zum gleichen Geschlecht nur eine Verdoppelung des eigenen Selbst sehen konnte, blendete er die vielfältigen Formen der Differenz aus, die in einer Beziehung jenseits der polaren Geschlechterdifferenz liegen. Es lässt sich festhalten, dass der Invertierte von Freud vor allem dort problematisiert wurde, wo er durch seine narzisstische Identifikation mit der Mutter zu einem femininen Mann zu werden drohte. 45 Die homoerotische Nä40 S. Freud: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, S. 58. 41 Freud, Sigmund: »Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910)«, in: Ders., Studienausgabe, Bd. 10: Bildende Kunst und Literatur, hg. von Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, unter Mitherausgabe von Ilse Grubich-Simitis, Frankfurt a.M.: Fischer 2000, S. 87-160. 42 Ebd., S. 125. 43 Ebd. 44 Ebd. 45 Freuds Homosexualitätskonzeption zusammenfassend schrieb der Analytiker Sandor Ferenczi später, dass sie »auf dem Weg der Regression von der Objektliebe zur Identifizierung vor sich geht. Das Weib als äußeres Liebesobjekt wird ausgelassen, dafür im Ich selbst mittels Identifizierung wiederaufgerichtet, an Stelle des Ichideals gesetzt; der Mann wird also feminin und sucht sich eventuell einen anderen Mann, damit das ursprüngliche heterosexuelle Verhältnis, wenn 170

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he zum »Männerverband« hingegen galt ihm als geradezu grundlegend für die (demokratische) Ordnung der Kultur, worauf ich im Abschnitt über Freuds Totem und Tabu eingehen werde. Seine Haltung zur Frage der Pathologie des Invertierten war also ambivalent und, wie Blüher in der von Freud herausgegebenen Zeitschrift Imago im Januar 1912 schreiben konnte, »noch unentschieden«. 46 Blüher zielte hingegen eindeutiger darauf, der männlichen »Inversion den Platz [zuzuweisen], der ihr nach der Lage der Dinge gehört: sie ist eine seltenere, aber kulturell durchaus gleichfähige Liebesrichtung, die den Einzelnen zum vollen Ausbau seiner Persönlichkeit [zu] bringen vermag«.47 Auch betonte er wiederholt, dass die »alte Degenerationstheorie«, welche die »Inversion zusammenbringt mit der Tatsache der Entartung einer Rasse«, vorschnell und falsch sei. 48 Mithilfe der »Erkenntnis der prinzipiellen Bisexualität des Menschen«, die laut Blüher zu einem »der wichtigsten Standpunkte der modernen Sexualwissenschaft geworden« war, den auch Hirschfeld und Freud teilten, 49 wollte er die Inversion vielmehr als nicht-pathologische Variante einführen, die weder zu behandeln, noch zu »heilen« sei. 50 Sie sei nicht »pervers«, weil sie nicht nur »wertlos verpuffende Lustmomente«, sondern »kulturelle Leistungen« hervorbringe und sich außerdem auf ein »Sexualobjekt« von hohem Wert, auf einen anderen Mann, beziehe. 51 Überhaupt sei die (u.a. von Hirschfeld vertretene) verbreitete Annahme falsch, die die Inversion für »eine weibliche Eigenschaft des Mannes halte«.52

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auch in der Umkehrung, wiederhergestellt wird.« Ferenczi, Sandor: »Freuds ›Massenpsychologie und Ich-Analyse‹. Der Individualpsychologische Fortschritt«, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse 8 (1922), S. 206-218, hier S. 208. Blüher, Hans: »›Niels Lyhne‹ von J.P. Jakobsen und das Problem der Bisexualität. Eine literaturkritische Studie«, in: Imago 1 (1912), S. 386-400, hier S. 387. In einem Brief an Blüher schrieb Freud, dass »eine eingehende wissenschaftliche Würdigung der Frage bei uns hier zwar geplant wird, aber noch nicht ausgeführt wurde«. Brief an Hans Blüher vom 10.05.1912, abgedruckt in J. Neubauer »Sigmund Freud und Hans Blüher«, S. 135. Ebd. »[E]s kann keinem Zweifel unterliegen, daß offenbar degenerierte Menschen zuweilen homosexuell sind, aber man kommt in die Irre, wenn man einen flüchtigen und ersten Eindruck zu einem Erkenntnisprozeß verwerten will.« H. Blüher: »Zur Theorie der Inversion«, S. 224f. Im Laufe seines Berufslebens erhob Freud Bisexualität zu einem zentralen Bestandteil seiner Theorie, die sich mehrfach veränderte, vgl. Garber, Marjorie: Die Vielfalt des Begehrens. Bisexualität von Sappho bis Madonna, Frankfurt a.M.: Fischer 2000, S. 215-248. H. Blüher: »›Niels Lyhne‹«, S. 386f. Ebd., S. 387. Diese Auffassung vertrat Blüher wiederholt; unter anderem in seinem Aufsatz »Zur Theorie der Inversion« in der von Freud herausgegebenen Internationalen 171

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Trotz der anfänglich guten Kontakte zu Hirschfeld begann sich Blüher bereits 1912 in der Wandervogel-Publikation von dessen Zwischenstufentheorie abzugrenzen. Hirschfelds »Zwischenstufen« hätten nicht den männlichen Invertierten im Blick, sondern »feminine Männer« und »virile Weiber«, deren »primäre Sexualorgane verkümmert« und deren Geschlechtsleben »in ganz besonderer Weise deformiert« seien.53 Der »Vollinvertierte« hingegen sei, so Blüher, keine effeminierte Zwischenstufe, sondern ein »echter« Mann. Er habe dieselben Möglichkeiten des »Glückes und der harmonischen Lebensführung« wie alle anderen und sei in keiner Weise krank zu nennen.54 Angesichts dieses Befunds müsse man von der »alten These von der ›weiblichen Seele im männlichen Körper‘ oder vorsichtiger ausgedrückt: von den weiblichen Gemütsqualitäten im männlichen Körper, ablassen«. 55 Blüher bemühte sich also darum, den Konnex zwischen Verweiblichung und Inversion zu brechen, der nicht zuletzt auch in Freuds Narzissmuskonzept zum Ausdruck kam. Gleichzeitig traf er sich mit Freud in der hohen Bewertung des virilen Invertierten und der Ablehnung der hirschfeldschen »Zwischenstufen«. Tatsächlich hatte Freud den »Wortführern des ›Uranismus‹« bereits in seinen grundlegenden Drei Abhandlungen über die Sexualtheorie von 1905 nach eigenen Angaben »zugestehen müssen«, dass »einige der hervorragendsten Männer, von denen wir überhaupt Kunde haben, Invertierte, vielleicht sogar absolut Invertierte waren«.56 Mit implizitem Rekurs auf den virulenten ethnologischen Männerbunddiskurs hatte er betont, »daß die Inversion eine häufige Erscheinung, fast eine mit wichtigen Funktionen betraute Institution bei den alten Völkern auf der Höhe ihrer Kultur war«.57 Zugleich erschien Freud die Lehre vom »weiblichen Gehirn im männlichen Körper« fragwürdig, weil sie ein psychologisches Problem durch ein anatomisches ersetze, das auch nicht leichter zu klären sei. 58 Für ihn bestand 1905 noch »kein Zweifel, daß ein großer Teil der männlichen Invertierten den

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Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse, dem »offiziellen Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung«, H. Blüher: »Zur Theorie der Inversion«, S. 225. H. Blüher: Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen, S. 59. Ebd., S. 60. Ebd. S. Freud: »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, S. 50. Ebd., S. 51. »Von den männlichen und weiblichen ›Zentren‹ gilt aber dasselbe wie vom männlichen und weiblichen Gehirn, und nebenbei wissen wir nicht einmal, ob wir für die Geschlechtsfunktion abgegrenzte Gehirnstellen (›Zentren‹) wie etwa für die Sprache annehmen dürfen.« Die »Theorie des psychischen Hermaphroditismus« setzte voraus, »dass der Mann sich selbst als Weib [fühle] und den Mann [suche]«, S. Freud: »Die drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, S. 54f.

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psychischen Charakter der Männlichkeit bewahrt hat, verhältnismäßig wenig sekundäre Charaktere des anderen Geschlechtes an sich trägt und in seinem Sexualobjekt eigentlich weibliche psychische Züge sucht.« 59 Nicht anders als Blüher und zuvor die Maskulinisten um Elisar von Kupffer, Adolf Brand und Benedict Friedlaender60 zog auch Freud die Griechen zum Beleg heran: Sie seien dasjenige Volk mit den »männlichsten Männer[n] unter den Invertierten«. 61 In der Auseinandersetzung mit Freud knüpfte Blüher genau hier an und versuchte, ihn aufgrund seiner Hochschätzung für den virilen Invertierten bei den Griechen von dessen Gesundheit zu überzeugen, die er an dessen besonderer sozialer Leistungsfähigkeit festmachte. Im Juli 1912 unterschied Blüher genauer zwischen »drei Grundformen der sexuellen Inversion«, die er in einem Aufsatz ausführte, dessen Inhalt er in einem Brief an Freud wie folgt zusammenfasste: »1) die latente, wie im Falle Schreber, 2) die feminine, die auf einer besonderen somatischen Konstitution beruht und für die Hirschfelds Zwischenstufentheorie gilt, 3) die normale im antiken Sinne, die ich Ihnen vorgeführt habe und die auch B. Friedlaender behandelt hat.« 62

Überraschenderweise glaubte er nun ähnlich wie Freud und anders als Hirschfeld, die »beiden ersten Formen […] wohl als pathologisch bezeichnen« zu dürfen. Die latente und die feminine Form der Homosexualität bedürften »der Schonung durch die Umgebungskultur« im Sinne des WhK. Die virile, das

59 Ebd., S. 55. 60 Innerhalb der Homosexuellenemanzipationsbewegung versuchten die Maskulinisten, die Männlichkeit des männerliebenden Mannes im Rekurs auf die Antike als kulturschaffend hervorzuheben. Vgl. Hewitt, Andrew (1999): »Die Philosophie des Maskulinismus«, in: Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 1, S. 3656, sowie C. Bruns: Politik des Eros, S. 138-166. Auf die Nähe Freuds zu maskulinistischen Positionen wird in der Forschung kaum hingewiesen; so auch nicht bei Geuter, der die Nähe zwischen Blühers und Freuds Positionen vor allem daran festmacht, dass es beiden »bei der Erklärung der Homosexualität nicht auf den physischen oder psychischen Hermaphroditismus [ankam], sondern auf die Objektwahl«. Daraus resultierte für Geuter »vielleicht das erstaunliche Ansehen, dass Blüher anfangs in der Psychoanalyse genoß«. Geuter, Ulfried: Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung. Jungenfreundschaft und Sexualität im Diskurs von Jugendbewegung, Psychoanalyse und Jugendpsychologie am Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, hier S. 114-117, Zitat S. 114. 61 S. Freud: »Die drei Abhandlungen zur Sexualtheorie«, S. 56. 62 Brief an Sigmund Freud vom 13.07.1912, abgedruckt in J. Neubauer: »Sigmund Freud und Hans Blüher«, S. 142. 173

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heißt »normale« (sic) Grundform der Inversion sei hingegen »durchaus gesund« und bedürfe der »Kultivierung für die Umgebungskultur«, so Blüher. 63 Er argumentierte, dass Freud nur die pathologischen Fälle von Inversion bekannt seien, weil er in seiner ärztlichen Praxis nur mit Invertierten zu tun habe, die sich selbst krank fühlten. Er selbst kenne aber auch die völlig gesunden virilen Männerhelden aus der Lebenspraxis der Wandervogelbewegung, sie seien Träger der Bewegung und der Kultur. 64 Für Freud war damit, wie er in einem Brief an Blüher schrieb, »das Problem der Homosex[ualität] zwar noch nicht erledigt, ebenso wenig wie unsere Kontroverse, aber Ihre Arbeit bedeutet einen grossen Fortschritt über das W.H.Komité hinaus«.65

Freuds homoerotischer »Brüderclan« als Ursprung der Gesellschaft: Totem und Tabu (1912/13) Tatsächlich war Freud den maskulinistischen Positionen Blühers mittlerweile nähergekommen denn je zuvor. Während er einerseits dabei blieb, dass er den mit der Mutter identifizierten Invertierten »nicht voll normal nehmen« könne, da er glaubte, dass sich »das Stück Entwicklungshemmung [… bei ihm, C.B.] leicht aufzeigen« lasse, 66 hatte er andererseits eine Kulturgeschichte vom männlich-homoerotischen Ursprung der Gesellschaft entworfen, die er für sein bestes und gelungenstes Werk hielt: Totem und Tabu. 67 In dieser Schrift wollte Freud die »Ergebnisse der Psychoanalyse auf ungeklärte Probleme der Völkerpsychologie« 68 anwenden und die seit Bachofens Abhandlung über das Mutterrecht 69 brennende Frage nach den Geschlechterverhältnissen am Ursprung der Menschheit auf neue Weise beantworten. Ähnlich wie der Bremer Ethnologe Heinrich Schurtz und andere Völkerkundler seiner Zeit nahm er an, dass »Männerverbände« die »primitivsten Organisationen« seien, von denen man derzeit Kenntnis habe, und 63 64 65 66 67

Ebd., S. 142f. Ebd., S. 143. Brief an Hans Blüher vom 31.07.1913, abgedruckt ebd., S. 145. Brief an Hans Blüher vom 10.07.1912, S. 138-140, hier S. 139. Zu Freuds Einschätzung seines Werkes vgl. Grubich-Simitis, Ilse: »Editorische Vorbemerkung zu Freuds Totem und Tabu«, in: Ders., Studienausgabe, Bd. 9: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, hg. von Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, unter Mitherausgabe von Ilse GrubichSimitis, Frankfurt a.M.: Fischer 2000, S. 288-290, hier S. 289. 68 Freud, Sigmund: »Totem und Tabu (Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker)« [1912/13], in: Ders., Studienausgabe, Bd. 9, S. 287-444, hier S. 291. 69 Bachofen, Johann Jakob: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, 2 Bde., hg. v. Karl Meuli, Basel: Benno Schwabe und Co. 1948 [1861]. 174

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fragte, wie sich diese in mythischen Vorzeiten entwickelt hatten.70 Wie viele Ethnologen seiner Zeit glaubte Freud, im »Seelenleben« der »sogenannten Wilden und halbwilden Völker, […] eine gut erhaltene Vorstufe unserer eigenen Entwicklung erkennen [zu] dürfen«.71 Speziell im vierten und letzten Teil von Totem und Tabu, der zwischen Herbst 1912 und Mai 1913 entstand, 72 entwickelte er den Gedanken, dass sich die Ursprünge fast sämtlicher späterer sozialer und kultureller Institutionen von der »Tötung des Urvaters« durch die männerbündisch organisierten Söhne ableiten ließen. Zu dieser Zeit las er Blühers Wandervogel-Bände, die von einer solchen Ablösung der wilhelminischen Väter durch rebellische homoerotische Jugendbünde handelten. Obwohl Freud Inversion nicht als vollkommen gesund anerkennen wollte, hielt er es dennoch für möglich, dass der zivilisationsgründende »Brüderclan« von homosexuellen Bindekräften zusammengehalten sei. Vor allem der Übergang vom »gesellschaftlichen Urzustand, in dem ein gewalttätiger, eifersüchtiger Vater, der alle Weibchen für sich behält und die heranwachsenden Söhne vertreibt«, zur Herrschaft der »Männerverbände« war für Freud von Interesse. Diesen Übergang hielt er auch für die psychische Entwicklung des Einzelnen für wesentlich 73 und beschrieb ihn wie folgt: »Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende. Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem einzelnen unmöglich gewesen wäre. […]. Hatten sich die Brüder verbündet, um den Vater zu überwältigen, so war jeder des anderen Nebenbuhler bei den Frauen. [… I]n dem Kampfe aller gegen alle wäre die neue Organisation zugrunde gegangen. Es war kein Überstarker mehr da, der die Rolle des Vaters mit Erfolg hätte aufnehmen können. Somit blieb den Brüdern, wenn sie miteinander leben wollten, nichts übrig, als [… dass sie] alle zugleich auf die von ihnen begehrten Frauen verzichteten, um derentwegen sie doch in erster Linie den 70 Vgl. S. Freud: »Totem und Tabu«, S. 425. Freud zitierte zeitgenössische Völkerkundler wie Spencer, Morgan, Westermarck und vor allem Wilhelm Wundts Elemente der Völkerpsychologie. 71 Insofern müsse sich die »Psychologie der Naturvölker«, wie sie die Völkerkunde lehre, mit der »Psychologie des Neurotikers«, wie sie durch die Psychoanalyse bekannt geworden sei, vergleichen lassen und »zahlreiche Übereinstimmungen aufweisen«, ebd., S. 295. 72 Im Jahr 1910 begann Freud mit seinen Vorarbeiten zu Totem und Tabu, den vierten Essay schloss er am 12. Mai 1913 ab, I. Grubich-Simitis: »Editorische Vorbemerkung«, S. 288f. 73 S. Freud: »Totem und Tabu«, S. 425. »Es kann zunächst niemandem entgangen sein, daß wir überall die Annahme einer Massenpsyche zugrunde legen, in welcher sich die seelischen Vorgänge vollziehen. […] Wir lassen einen Gefühlsprozeß, wie er bei Generationen von Söhnen entstehen konnte, die von ihrem Vater mißhandelt wurden, sich auf neue Generationen fortsetzen, welche einer solchen Behandlung gerade durch die Beseitigung des Vaters entzogen worden waren.« Ebd., S. 440. 175

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Vater beseitigt hatten. Sie retteten so die Organisation, welche sie stark gemacht hatte und die auf homosexuellen Gefühlen und Betätigungen ruhen konnte, welche sich in der Zeit der Vertreibung bei ihnen eingestellt haben mochten. Vielleicht war es auch diese Situation, welche den Keim zu den von Bachofen [1861] erkannten Institutionen des Mutterrechts legte, bis dieses von der patriarchalischen Familienordnung abgelöst wurde.« 74

Die Erschlagung des Urvaters und Verbündung der Brüder zur Horde, die auf homoerotischen Gefühlen beruhen konnte, wurde für Freud zur »großen Begebenheit, mit der die Kultur begonnen hat«. 75 Die männerbündische Brüderhorde organisierte sich gerade über den Verzicht auf die Frauen des eigenen Clans, in dem jeder die Machtfülle des anderen – die vor allem als sexuelle Macht über Frauen gedacht wurde – beschränkte. Neben den Schuld- und Reuegefühlen, die auf den Vatermord folgten, blieb Homoerotik das einzige Bindeglied zwischen den Söhnen, das Freud, wenn auch vorsichtig formuliert, anzugeben wusste. Die dem »Brüderclan« unterlegten (homo-)sozialen Gefühle wurden von Freud entsprechend positiv konnotiert: »Die sozialen Brudergefühle, auf denen die große Umwälzung ruht, bewahren von nun an über lange Zeiten den tiefstgehenden Einfluß auf die Entwicklung der Gesellschaft. Sie schaffen sich Ausdruck in der Heiligung des gemeinsamen Blutes, in der Betonung der Solidarität aller Leben desselben Clans.« 76

Zwar rekurrierte Freuds Text auf das Drama des Ödipus, doch konzentrierte sich diese Analogie auf die Beschreibung des Kampfes zwischen Vater und Sohn, während die sexuelle Vereinigung mit der Mutter in den Hintergrund trat. Die gesamte Menschheitsentwicklung sei das Resultat eines gehörigen »Sohnestrotzes«, der im »Triumph über den Vater« kulminiere. »Wo sich in dieser Entwicklung die Stelle für die großen Muttergottheiten findet, die vielleicht allgemein den Vatergöttern vorhergegangen sind«, wusste er bezeichnenderweise »nicht anzugeben«. 77 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Freud nicht wie Bachofen die Mutterherrschaft zum mythischen Ausgangspunkt der Menschheitsgeschichte erhob, sondern die eines brutalen »Urvaters«, gegen den sich die rebellischen Söhne auflehnten und dabei homoerotische Gefühle füreinander entwickelten, welche die Grundlage der Kulturentwicklung überhaupt bildeten. Daraus lässt sich die These ableiten, dass Freud Homosexualität bzw. zur Homosexualität hin offene Bindungen unter Männern dort als positiv konnotierte, wo diese 74 75 76 77

Ebd., S. 426-428. Ebd., S. 429. Ebd., S. 429f. Ebd., S. 432.

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aus dem Kampf mit der Vaterfigur hervorgingen – sei es als triumphale Überwindung oder als religiös-imaginäre Wiedererrichtung desselben. Eine starke Identifikation mit der Mutter hingegen verband den Invertierten tendenziell mit den Charakteristika eines regressiven Narzissten. Die Verwerfung eines mütterlichen Ursprungs in archaischer Vorzeit spiegelte sich in der Abwertung des weiblich identifizierten Invertierten in der Psychoanalyse. Wo homosexuelle Strebungen zur Gruppen- und nicht zur Paarbildung führten, wurden sie hingegen positiv konnotiert. Freuds Theorie lässt sich somit durchaus im Kontext des maskulinistischen Männerbunddiskurses des Fin de Siècle lesen.

Die Pathologisierung und rassistische Abwertung des Effeminierten Trotz Freuds Hochschätzung der kulturellen Leistungen des homoerotischen »Männerverbands« blieb er dabei, dass er den mutteridentifizierten, narzisstischen Invertierten »nicht voll normal nehmen« konnte, nicht zuletzt weil ihm die männlichkeitskonstitutive »Potenz beim Weibe« fehle. 78 Während Blüher offen für die Abschaffung des Paragrafen 175 RStGB eintrat, 79 schreckte Freud nach anfänglicher Unterstützung inzwischen vor einer solchen Forderung zurück, wie er im Sommer 1912 an Blüher schrieb: »Mit Ihren praktischen Forderungen möchte ich auch nicht mitgehen […]. Es scheint mir, daß die ordentliche Sublimirung der Inversion die wir anstreben nicht ohne ein recht bedeutendes Maß von sex. Gewährenlassen zu haben ist, so daß wir mit der Versagung des letzteren auch auf den größten und schönsten Anteil der ersteren verzichten müssen. Zur Unterdrückung der homosex. Betätigung scheint aber ein unwiderstehlicher Zug der Zeit u der Rasse zu drängen, den man mit Vernunft nicht aufhalten wird.« 80

Freud ging also davon aus, dass gleichgeschlechtliche sexuelle Praktiken in der Öffentlichkeit nicht (mehr) toleriert würden, und distanzierte sich nunmehr von emanzipatorischen Positionen. Während er allmählich zu einer ambivalenteren Haltung gegenüber der Inversion tendierte, die sich im Laufe der psychoanalytischen Theorieentwicklung zu einer neuen Form der Pathologi-

78 Briefe an Hans Blüher vom 10.05.1912, S. 135, und vom 10.07.1912, S. 139. 79 Vgl. Blüher, Hans: »Darlegung einer neuen Begründung zur Aufhebung des § 175 R.-Str.-G.«, in: Körperkultur 8 (1913), S. 568-575, hier S. 570. 80 Brief an Hans Blüher vom 10.07.1912, S. 138-140, hier S. 139f. 177

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sierung entwickelte, 81 begann Blüher eine Verbindung zwischen bestimmten Inversionsformen und Degeneration herzustellen, obwohl er diesen Konnex bis dahin vehement kritisiert hatte. In seiner Studie Die drei Grundformen der Homosexualität von 1913 behauptete er nun, dass es eine Art von »latenter« Homosexualität gebe, die aus »schlechter Rassenmischung« hervorgehe und ein Zeichen von »Großstadt-Dekadence« und »Regression in der Libido« sei. 82 Diese dekadente, regressive Homosexualitätsform sei eine »femininhomosexuelle Wunschphantasie« und nicht viel mehr als eine »Enthemmung« im »Überschwang seiner Kulturlosigkeit«.83 Um den supervirilen »Männerhelden« zu normalisieren, schreckte Blüher nicht zurück, eine Unterscheidung zwischen gesunden und pathologischen Homosexualitätstypen einzuführen, wobei er die Letzteren nicht mehr nur als verweiblicht beschrieb, sondern zunehmend mit den Insignien der rassischen Degeneration versah. Hirschfeld, der diesen Aufsatz Blühers zur Veröffentlichung im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen angenommen hatte, strich im Juli 1913 diese Passagen eigenmächtig heraus. Blüher strengte daraufhin einen ungekürzten Separatdruck bei dem Verleger Max Spohr an84 und beschwerte sich offenbar bei Freud über Hirschfelds Vorgehen, der ihm sofort beipflichtete: »Ihre Erfahrungen bei demselben nehmen mich nicht Wunder. Wissenschaft ist wirklich mit Tendenz unvereinbar.«85 Der Konflikt um die gestrichenen Passagen führte den endgültigen Bruch Blühers mit Hirschfeld herbei. Dieser stellte Blühers Aufsatz Die drei Grundformen der Homosexualität in seiner Monographie Die Homosexualität des Mannes und des Weibes (1914) sachlich und knapp vor, allerdings mit der Bemerkung, dass jeder Versuch, die »weiblich gearteten Homosexuellen niedriger zu werten als die männlichen«, unangebracht sei. Er verwehrte sich auch dagegen, sie mit rassischer Dekadenz zusammenzubringen – zumal er sich hier selbst angegriffen wusste, da er wie Freud aus einem jüdischen Elternhaus kam. 86 Diese Tendenz zur Rassisierung des Effeminierten verstärkte sich bei Blüher im Verlauf des Jahres 1913. Im selben Jahr wurde der Antisemitismus in der Wandervogelbewegung erstmals virulent und zum Gegenstand einer 81 In den Drei Abhandlungen hatte Freud noch offengelassen, ob Homosexualität als »normal« oder »pathologisch« zu beurteilen sei. Diese Unbestimmtheit entwickelte sich zu einer neuen Form der Pathologisierung, so M. Herzer: Magnus Hirschfeld, S. 161. 82 Blüher, Hans: Die drei Grundformen der sexuellen Inversion (Homosexualität). Eine sexuologische Studie, Leipzig: Max Spohr, hier S. 77-79. 83 Ebd. 84 Dabei veränderte Blüher den Titel leicht, der jetzt »Die drei Grundformen der sexuellen Inversion (Homosexualität). Eine sexuologische Studie« lautete. 85 Blühers Brief ist nicht überliefert. Antwortbrief von Freud an Blüher vom 31.07.1913, S. 145. 86 M. Hirschfeld: Die Homosexualität, S. 278. 178

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heftigen öffentlichen Auseinandersetzung. Blühers Nähe zur Psychoanalyse des Juden Freud und sein Eintreten für die Homosexuellenemanzipation brachten ihm Kritik aus völkischen, rechtskonservativen Kreisen ein, in denen er nun selbst als »Jude« diffamiert wurde, was den Protestanten Blüher nicht zuletzt dazu bewegte, sich expliziter als »echter Germane« auszuweisen.87 Vor diesem Hintergrund versuchte Blüher die gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung des virilen Invertierten zunehmend mit rassistischen Argumenten durchzusetzen, was er als »Humanismus« vom »humanitären« Anliegen des Komitees abgrenzte, das seiner Ansicht nach zu sehr auf Mitleid und Toleranz für Homosexuelle durch die Umgebungskultur setzte. Zur zweiten Auflage von Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen von 1914 entfernte Blüher Hirschfelds Vorwort und ersetzte es durch eine aggressive Distanzierung von diesem und dem WhK.88 Hier betonte er noch einmal die Differenz zwischen dem »Männerhelden« und dem sogenannten »invertierten Weibling«, den er nun explizit als »entartet« bezeichnete. 89 »Mein Männerheld«, schrieb Blüher im Vorwort zur zweiten Auflage der Wandervogel-Bände von 1914, »kann geradezu zum Abgotte für andere Männer werden, und ich weiß heute längst, daß alles, was wir als sogenannte Heldenliebe und als Heroenkult in unserm Innern pflegen, seinen Triebbeitrag dem [...] Einfluß solcher Männerhelden [...] verdanken«. 90 Die im WhK versammelte »Gesellschaft« bestehe »zweifellos nicht aus demselben Material«. 91 Blüher spitzte die Differenz zwischen akzeptablen und inakzeptablen Formen der Homosexualität wie folgt zu: »Was war der Unterschied zwischen 87 Winnecken, Andreas: Ein Fall von Antisemitismus. Zur Geschichte und Pathogenese der deutschen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, Köln: Wissenschaft und Politik 1991, hier S. 45-67; speziell zu Blüher vgl. C. Bruns: Politik des Eros, S. 363-386. 88 Wie aus einem Brief Blühers an Hirschfeld hervorgeht, hatte Hirschfeld sich nach dem Grund seines Ausbleibens im WhK erkundigt. Blüher erklärte daraufhin: »[I]ch bin aber allmälig und zuletzt und entscheidend durch die Kürzung meines Aufsatzes ›Die drei Grundformen‹ nach der Korrektur und endgiltigen Festlegung des Textes zu der Ueberzeugung gekommen, dass das W.H.K. – nicht Sie – weder der Wissenschaft noch der humanitären Gesinnung bis zum letzten Ende treu zu bleiben gesonnen ist. Da dies aber allein für mich in Frage kommt, musste ich mich trennen. Ihnen persönlich […] bin ich nach wie vor für die vielen Freundlichkeiten, die ich erfuhr, dankbar und hoffe, dass meine sachliche Scheidung von den Tendenzen des Comités diese persönlichen Beziehungen nicht vernichten wird.« Brief an Hirschfeld vom 14.02.1914, SBBPK Nl. H. Blüher, K. 10. 89 Vgl. Blühers Vorwort zur zweiten Auflage von Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen (1914), S. 10. 90 Ebd. 91 Ebd. 179

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den beiden Formen mann-männlicher Einstellung? Ich sage es mit einem Wort: die Entartung.«92 Diese »Entartung« bestand für Blüher gerade in einer übermäßigen Verweiblichung. Man müsse bedenken, dass »ein Teil jenes [WhK-]Publikums aus wirklich deformierten Männern besteht, deren Rassenentartung durch eine überstarke Begabung an weiblicher Substanz gekennzeichnet ist«. 93 Hier zeigt sich sein Bemühen, den Grad der zugelassenen Weiblichkeit des (invertierten) Mannes genau festzulegen und gerade mit dieser Grenzziehung (Normalisierungs-)Politik zu machen. Die Integration weiblicher Eigenschaften galt ihm bis zu einem gewissen Maß als erhebend für den Mann – insbesondere für den »Künstlertyp«.94 Den prekären Umschlagspunkt auf der gefährlichen Gratwanderung des Mannes hin zur Weiblichkeit, der die Geschlechterhierarchie aufzulösen drohte, markierte Blüher als Grenze zur »jüdisch-liberalen« »Entartung«. Diese Grenze galt es gerade im Sinne der Normalisierung des virilen Invertierten sorgfältig zu ziehen, wie Blühers Ausführungen belegen: »Bekanntlich sind wir alle durchandrogyn, d.h. aus männlicher und weiblicher Substanz geformt; ein gewisses Maß von stärkerer weiblicher Substanzbegabung beim Manne verhilft sogar zur Erhöhung des Typus Mensch […]. Aber an einer bestimmten Stelle hört das eben auf, und das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee [...] beweist hier wieder einmal [..., dass] ihm der Blick für Maß und Haltung fehlt. [...] Erscheinen doch sehr häufig dort Männer in Frauenkleidern und Männer, bei denen man die Frauenkleidung als ihnen angemessen empfindet. [… D]iese Extreme des Zwischenstufenreiches […] sind einfach Objekt der Forschung. [... Daher gilt es, dass] man die Ansprüche der Entarteten auf ihr Maß zurückzwingt.«95

Resümee So uneinig sich Freud und Blüher bezüglich der Pathologisierung des Invertierten waren, so konnten sich dennoch beide darin wiederfinden, vor allem den männlich identifizierten Homosexuellen als kulturstiftend aufzuwerten

92 Ebd. 93 Ebd. Den Begriff der »weiblichen Substanz« übernahm er wahrscheinlich von Otto Weininger. 94 Christina von Braun weist auf einen Paradigmenwechsel in den Geschlechterrollen seit der Aufklärung hin, der zum Mythos »männlicher Weiblichkeit« führte. In bestimmten Männertypen sah man sogar die echtere Weiblichkeit verkörpert, von Braun, Christina von: Die schamlose Schönheit des Vergangenen. Zum Verhältnis von Geschlecht und Geschichte, Frankfurt a.M.: Neue Kritik 1989, S. 51-79. 95 Blühers Vorwort zur zweiten Auflage von Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen (1914), S. 11f. 180

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und den femininen, weiblich identifizierten Homosexuellen abzuwerten. Hirschfeld selbst verteidigte zwar den femininen Invertierten gegen die Angriffe Blühers, doch war seine Argumentation selbst nicht frei von antifeministischen Argumenten. 96 – Somit wurde im Verlauf der Kontroversen zwischen Hirschfeld, Blüher und Freud eine Spaltung in die Figur des Homosexuellen eingeführt, die entlang geschlechtlicher Dichotomien und Hierarchisierungen verlief. Die Geschlechterdichotomie fungierte gleichsam als kultureller Code mit dessen Hilfe Auf- und Abwertungen, Normalität und Anormalität voneinander unterschieden werden konnten. Um den virilen Homosexuellen als gesund und staatstragend aufzuwerten, ihn in das Spektrum des »Normalen« zu überführen, nahm man damit zugleich die Abwertung des femininen Homosexuellen in Kauf oder forcierte sie sogar. Zugleich verbanden sich in diesen Kontroversen um den Homosexuellen auf komplexe Weise Geschlechter- mit Rassenkonstruktionen. Obwohl Freud die Inversion nicht als ein Zeichen rassischer Degeneration verstanden wissen wollte, erklärte er diese dennoch zu einem Zeichen individueller »Regression«, zu einem Verharren auf einer früheren, »primitiveren« Stufe der Individualentwicklung. Was sich bei dieser als nicht überwundener Ödipuskomplex zeigte, galt ihm auf der Stufe der Menschheitsentwicklung als »primitiv«.97 Während es Blüher nicht gelang, Freud von der vollkommenen Gesundheit des invertierten »Männerhelden« zu überzeugen und dieser immer deutlicher zu einer Pathologisierung homosexueller Strebungen neigte, schrieb Blüher dem abgewerteten Typus des Homosexuellen, dem »invertierten Weibling«, nunmehr eine rassisch degenerierende Funktion zu und identifizierte ihn schließlich mit »dem Jüdischen« schlechthin. Die Gleichsetzung von effeminiertem Homosexuellen und Juden zielte zugleich auf eine Abwertung von Hirschfeld als Person (mit jüdischen Wurzeln) und als Vertreter der Zwischenstufentheorie, die die Homosexuellen feminisierte, was auch Freuds Kritik fand. So waren es zunächst nicht Blühers rassistische Äußerungen, die zu einer Entfremdung zwischen beiden führten.98 Vielmehr ließ Freud Blühers völkische Polemik unkommentiert durchgehen, wo sie sich indirekt gegen Hirschfelds Zwischenstufentheorie richtete. Blüher selbst vermutete, dass, abgesehen von sachlichen Gründen, seine »Zugehörigkeit zur germanischen Rasse« ursprünglich zu Freuds Interesse an seiner Person beigetragen habe. Blüher 96 Vgl. z.B. Hirschfeld, Magnus: »Die intersexuelle Konstitution«; in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 23 (1923), S. 28-37. 97 S. Freud: »Totem und Tabu«, S. 443. 98 Entscheidend für den Bruch war von Freuds Seite unter anderem Blühers Versuch, angesichts des Konflikts zwischen Freud und Stekel »neutral« zu bleiben und weiter in Stekels Zentralblatt für Psychoanalyse und Psychotherapie zu publizieren. 181

CLAUDIA BRUNS

bezog sich in seiner Darstellung auf den Berliner Sanitätsrat Koerber, dem Freud gesagt haben soll, dass er Wert darauf lege, »daß sich in der beginnenden psychoanalytischen Bewegung möglichst viele Angehörige des germanischen Stammes befänden, damit es nicht hieße, es handle sich hier um ein rein jüdisches Unternehmen«. 99 Erst allmählich setzte bei ihm eine Verbitterung über den sich in den 1920er Jahren radikalisierenden Antisemitismus Blühers ein. 100 Im Gegensatz zu Freud bezog sich der Psychoanalytiker Stekel (nach seiner Trennung von Freud) in seinen Schriften zur Homosexualität wiederholt positiv auf Blühers Unterscheidung zwischen »Männerhelden«, »invertierten Weiblingen« und »latent« Homosexuellen. 101 Und trotz der Distanzierung von Blüher als Person ließ auch Freud in späteren Schriften nicht von dem Gedanken des kulturstiftenden »Brüderclans« und der Hypothese vom Urvatermord ab. 102 Dass er den Brüderbund als von homosexuellen Kräften bestimmt ansah, führte er 1915 noch expliziter in seiner Schrift »Übersicht der Übertragungsneurosen« aus, die allerdings erst posthum veröffentlicht wurde. 103 In den »archaischen Relikten« »homosexueller Sexualbefriedigung« der

99 Blüher, Hans: Werke und Tage. Geschichte eines Denkers, München: Paul List [stark veränd. u. erw. Fassung v.: 1920], hier S. 258f. Koerbers Aussage wird durch zwei Briefe Freuds an den Wiener Psychiater Karl Abraham vom 3. Mai und 29. September 1908 unterstützt, in denen dieser sich ganz ähnlich äußert – was möglicherweise auch erklärt, warum ihm die Trennung von seinem protegierten, nicht-jüdischen Mitarbeiter Carl Gustav Jung Ende 1912 besonders schwer fiel. J. Neubauer: »Sigmund Freud und Hans Blüher«, S. 127; A. Dührssen: Ein Jahrhundert Psychoanalytische Bewegung, S. 48 und S. 57-60. 100 So war etwa in Blühers antisemitischer Schrift Secessio Judaica zu lesen: »Diese Gedankengänge [Freuds, C.B.] werden erst fruchtbar, wenn sie durch ein deutsches Gehirn gehen […]«, Blüher, Hans: Secessio judaica. Philosophische Grundlegung der historischen Sicht des Judentums und der antisemitischen Bewegung, Berlin: Der weiße Ritter 1922, hier S. 24. Freuds Verbitterung wird deutlich in seinem Briefwechsel mit Erich Leyens, einem jüdischen Mitglied der Jugendbewegung, veröffentlicht in Grubel, Fred (1979): »Zeitgenosse Sigmund Freud«, in: Jahrbuch der Psychoanalyse 11 (1979), S. 73-80, hier S. 74. 101 Stekel, Wilhelm: Störungen des Trieb- und Affektlebens. Die parapathischen Erkrankungen, Bd. 2: Onanie und Homosexualität. Die homosexuelle Parapathie, 3. verbesserte u. verm. Aufl., Berlin/Wien: Urban & Schwarzenberg 1923 [1917], hier S. 159-161 und S. 167 102 Siehe u.a. seine Schriften zur Massenpsychologie und Ich-Analyse sowie Das Unbehagen in der Kultur und Der Mann Moses und die monotheistische Religion, vgl. Grubich-Simitis, Ilse: »Editorische Einleitung zu Freuds Übersicht der Übertragungsneurosen«, in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke. Nachtragsband, Texte aus den Jahren 1885 bis 1938, hg. v. Angela Richards unter Mitwirkung von Ilse Grubich-Simitis, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 627-633, hier S. 631. 103 »Als nach dem Ersten Weltkrieg die Möglichkeit einer Veröffentlichung bestand, konnte Freud diese vor Jahren verfaßten Manuskripte offenbar nicht mehr 182

KONTROVERSEN ZWISCHEN FREUD, BLÜHER UND HIRSCHFELD

Brüder untereinander und ihrer Verdrängung in der Gegenwart meinte er nun zwar zugleich auch die Wurzeln für bestimmte kulturell bedingte Neigungen zu Neurose und Paranoia bei seinen Zeitgenossen ausmachen zu können – sodass er auch die virile Homosexualität des »Brüderclans« in einen gewissen ursächlichen Zusammenhang mit pathologischen Tendenzen seiner Zeit stellte. Dennoch hielt er in Übereinstimmung mit Blüher weiterhin daran fest, homosexuelle Strebungen unter Männern im Bund grundsätzlich als kulturund gesellschaftsstiftend auszuzeichnen: »Die hier entstandenen, aus der Homosexualität sublimierten sozialen Gefühle« seien, so Freud, »zum dauernden Menschheitsbesitz und zur Grundlage jeder späteren Gesellschaft« geworden. 104 Die »Schicksale des Weibes in diesen Urzeiten« hingegen sah er »durch besonderes Dunkel verhüllt«. 105

als geglückte Synthese seiner theoretischen Auffassungen gelten lassen, als welche er das Metapsychologie-Buch ursprünglich geplant hatte. Denn inzwischen […] war [er] dabei, einen neuen Triebdualismus – Lebenstriebe versus Todestriebe – zu konzipieren.« Ebd., S. 632. 104 Freud, Sigmund: »Übersicht der Übertragungsneurosen [Entwurf der zwölften metaphysischen Abhandlung von 1915] (1985 [1915])«, ediert von Ilse GrubichSimitis, in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke. Nachtragsband, Texte aus den Jahren 1885 bis 1938, hg. v. Angela Richards unter Mitwirkung von Ilse Grubich-Simitis, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 634-651, hier S. 648. 105 Ebd., S. 651. 183

Das ›Problem Judentum und Altes Testament‹: Literalismus und Antisemitismus im Bibelbund. Ein Textbeispiel aus den Jahren 1938/39 JANA HUSMANN

Der Bibelbund, der 1894 im Pfarrhaus Hohenselchow gegründet wurde, vereinigte verschiedene Strömungen des deutschen protestantischen Fundamentalismus. 1 Dazu zählten auch Verfechter und Verfechterinnen des Literalismus. 2 Publikationsorgan des Bibelbundes war die Zeitschrift Nach dem 1

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Ein entscheidender wissenschaftshistorischer Hintergrund der Gründung des Bibelbundes war der zunehmende Einfluss der historisch-kritischen Bibelexegese, welche die Vereinsmitglieder ablehnten. In der Satzung heißt es: »1. Die Mitglieder bekennen sich zu dem Glauben, daß die Heilige Schrift Alten und Neuen Testamentes nach ihrem Zeugnis über sich selbst das durchaus und in allem einzelnen wahre und von jedem Irrtum freie Wort Gottes und darum die einzige Richtschnur unseres Glaubens und Lebens ist. 2. Sie verbinden sich zu einer gemeinsamen Arbeit, die biblischen Bücher im einzelnen und im ganzen zu durchforschen, das der Heiligen Schrift, als dem Wort Gottes, gebührende Ansehen ihren Gegnern gegenüber zu verteidigen >…@. 3. Die Veröffentlichungen des Bibelbundes sind daher: a) wissenschaftliche Arbeiten der Sprachforschung, der Exegese, der biblischen Geschichte, Geographie, Altertumskunde usw., b) besonders auch Kritik der Kritik, c) populäre Arbeiten auf den vorgenannten Gebieten. >…@.« Die Satzung war jeder Ausgabe der Zeitschrift vorangestellt, hier zitiert aus: Nach dem Gesetz und Zeugnis 12 (1912), H. 1, ohne Seitenzählung. Zur aktuellen Ausrichtung des Bibelbundes vgl. http://www.bibelbund.de/. Unter dem Begriff Literalismus wird im christlichen Kontext der (fundamentalistische) Glaube an die ›absolute Irrtumslosigkeit der Bibel‹ verstanden, der die Heilige Schrift im buchstäblichen Sinne als unumstößliche Wahrheit Gottes versteht. Ist die Lehre der Irrtumslosigkeit der Bibel auch ein »altes Erbe« (Eintrag ›Fundamentalismus‹, in: Theologische Realenzyklopädie >TRE@. Studienausgabe, Teil I/Bd. 11, hg. v. Gerhard Müller, Berlin/New York: de Gruyter 1993, S. 732-738, hier S. 732), so liegt die Spezifik des modernen religiösen Literalismus in der Behauptung gegen die moderne liberale Theologie, die historischkritische Bibelwissenschaft und einen gesamtgesellschaftlich diagnostizierten 185

JANA HUSMANN

Gesetz und Zeugnis, die heute unter dem Titel Bibel und Gemeinde erscheint.3 In den Jahren 1938/39 publizierte der damalige Schriftleiter des Bibelbundes, Wilhelm Möller (1872-1956), hierin eine mehrteilige Abhandlung mit dem Titel Zum Brückenbau zwischen Staat und Kirche. Winke und Wünsche mit besonderer Berücksichtigung des Problems: Judentum und Altes Testament, die im Fokus der folgenden Ausführungen steht. Anhand dieser Schrift sollen einige Positionsbestimmungen des Bibelbundes gegenüber der nationalsozialistischen Staats- und Rassenideologie herausgearbeitet werden, wobei es in erster Linie um Anpassungsprozesse und Konfliktpotenziale geht, die sich um eine Rechtfertigung des ›Alten Testaments‹ bzw. ›Ersten Testaments‹, das heißt der hebräischen Bibel zentrieren. In intersektionaler Analyseperspektive rücken dabei Prozesse der (Re-)Sakralisierung säkularer Struktur- und Identitätskategorien, ihre literalistischen und im erweiterten Sinne biblizistisch argumentierten Begründungsversuche in den Blick. Gleichzeitig – und darauf wird der Schwerpunkt liegen – sollen Aspekte der Rassisierung, Nationalisierung und Vergeschlechtlichung spezifischer Wissensformen und (religiöser) Wissensbestände näher betrachtet werden. Hierzu zählt unter anderem auch die Frage, inwiefern innerhalb der literalistischen Proklamation von ›wahrer‹ und ›falscher‹ Schrift(-hermeneutik) Antijudaismus, Antisemitismus und Anti-Intellektualismus eine Rolle spielten und sich mit Vergeschlechtlichungen des Wissens verbanden. Prinzipiell begrüßten die führenden Mitglieder des Bibelbundes den Nationalsozialismus und mit ihm Adolf Hitler als ›gottgesandten Führer‹.4 So konstatiert auch Möller in dem bereits genannten Artikel: »Hitler weiß sich als von der Vorsehung beauftragt, und das Volk nimmt ihn als ein besonderes

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Abfall vom christlichen Glauben: »Das Dogma von der wörtlichen Inspiration und absoluten Irrtumsfreiheit der Bibel wurde nun im Protest gegen diese Entwicklung erst recht behauptet, erhielt damit einen scharf apologetischen Akzent und >…@ in der Tat die Bedeutung eines Fundamentaldogmas, an dem alle übrigen Glaubenswahrheiten hängen.« Ebd., S. 733. Vgl. zum Literalismus u.a. auch Crapanzano, Vincent: Serving the Word. Literalism in America from the Pulpit to the Bench, New York: The New Press 2000; Riesebrodt, Martin: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der Kampf der Kulturen, München: C.H. Beck 2000, S. 54. Zur christlich-fundamentalistischen Deutung der Heiligen Schrift im Sinne einer »Theologie der Tatsachen« vgl. Geldbach, Erich: Protestantischer Fundamentalismus in den USA und Deutschland, Münster: LIT 2001, S. 45f. Die Zeitschrift Nach dem Gesetz und Zeugnis erschien von 1901 bis 1939. 1939 wurde die Zeitschrift verboten. Ab 1950 wurde sie erneut veröffentlicht und ab 1954 unter dem neuen Titel Bibel und Gemeinde herausgegeben. Vgl. Holthaus, Stephan: »100 Jahre ›Bibel und Gemeinde‹« >Abschnitt: »4. In der Weimarer Republik und im ›Dritten Reich‹«@, in: Bibel und Gemeinde (2000), http://www.bibelbund.de/htm/2000-1-054.htm (Stand 31.10.2009).

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DAS ›PROBLEM JUDENTUM UND ALTES TESTAMENT‹

Gottesgeschenk an.« 5 Im gleichen Kontext äußert Möller seine dezidierte Zustimmung zur antisemitischen Politik des NS-Staats. 6 Bereits 1926 hatte er »auf einer Bibelbundtagung von der ›zersetzenden Wirkung des Judentums auf die Völkerwelt‹« 7 gesprochen. Hatte die von der NSDAP unterstütze Glaubensbewegung Deutscher Christen 1933 Forderungen nach Abschaffung des ›Alten Testaments‹ und Vorstellungen eines ›arischen Jesus‹ formuliert,8 so waren dies indes entscheidende Punkte, denen der Bibelbund widersprach. 9 Es wäre allerdings verfehlt, diese Haltung als ›vorsichtige‹ Position gegenüber der »deutschvölkischen Bewegung« zu kennzeichnen, wie der Theologe Stephan Holthaus (selbst aktuelles Mitglied des Bibelbundes) dies teilweise intendiert. 10 Denn 5

Möller, Wilhelm: Zum Brückenbau zwischen Staat und Kirche. Winke und Wünsche mit besonderer Berücksichtigung des Problems: Judentum und Altes Testament, Sonderdruck >aus: Nach dem Gesetz und Zeugnis 38 (1938), H. 4/5, bis 39 (1939), H. 5/6/7@, Breslau: Tesch 1939, S. 29. Zur Wertschätzung Adolf Hitlers und der nationalsozialistischen Politik innerhalb der Zeitschrift Nach dem Gesetz und Zeugnis in den Jahren 1938/39 vgl. u.a. auch Ramge, Karl: »An den Führer unseres deutschen Volkes!«, in: Nach dem Gesetz und Zeugnis 39 (1939), H. 1/2, S. 1 >Titelblatt@; ders.: »Deutschland und Österreich wieder ein Reich!«, in: Nach dem Gesetz und Zeugnis 37 (1938), H. 1/2, S. 1 >Titelblatt@; ders.: »Krieg«, in: Nach dem Gesetz und Zeugnis 39 (1939), H. 5/6/7, S. 88 >Titelblatt@; Sonderausgabe des »Bilderboten« >Bild- und Flugschrift zum 50. Geburtstag Adolf Hitlers@, Berlin: Evangelischer Preßverband für Deutschland 1939 >Beilage zu: Nach dem Gesetz und Zeugnis 39 (1939), H. 1/2@. 6 »Von den Schäden, die durch das Judentum verursacht wurden, von dem bösen Geist, der das Judentum als Ganzes beherrscht >…@ gibt jede Statistik Kunde. >…@ Und es ist erst recht kein Geheimnis, wie unselig und verderblich sich der jüdische Geist, qualitativ betrachtet, ausgewirkt hat. Daß der Staat hier eingegriffen hat, war nicht nur sein gutes Recht, sondern seine von früheren Regierungen nicht geübte Pflicht, und alle müssen ihm das von ganzem Herzen danken, auch die evangelischen Christen; denn alle hatten in dem jüdisch verseuchten Staat mitzuleiden.« W. Möller: Zum Brückenbau, S. 14. 7 S. Holthaus: »100 Jahre« >Abschnitt: »4. In der Weimarer Republik und im ›Dritten Reich‹«@. 8 So u.a. in einer »spektakulären Großkundgebung der Glaubensbewegung Deutscher Christen im Sportpalast in Berlin (13.11.1933)«, auf welcher Pfarrer D. Krause »das Alte Testament und die paulinische Bibelüberlieferung als jüdische Machwerke verunglimpfte >…@«, Broszat, Martin: »Teil IV: Zur Lage evangelischer Kirchengemeinden. A. Berichte der Kapitalsbeauftragten für Volksmission 1933/34. Einführung«, in: Ders./Elke Fröhlich/Falk Wiesemann (Hg.), Bayern in der NS-Zeit. Soziale Lage und politisches Verhalten der Bevölkerung im Spiegel vertraulicher Berichte, München/Wien: Oldenbourg 1977, S. 369-376, hier S. 372. 9 Vgl. S. Holthaus: »100 Jahre« >Abschnitt: »4. In der Weimarer Republik und im ›Dritten Reich‹«@. 10 Vgl. S. Holthaus: »100 Jahre« >Abschnitt: »4. In der Weimarer Republik und im ›Dritten Reich‹«@. 187

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schon Möllers Ausführungen zum ›Alten Testament‹ zeigen, dass seine Versuche, die Gesamtheit der Heiligen Schrift zu verteidigen, in die Schlussfolgerung münden, »daß man sich keinen besseren Bundesgenossen im Kampf gegen das Judentum wünschen und denken kann als das Alte Testament und die Bibel überhaupt«.11 Der literalistische Impetus des Bibelbundes, zu dem der Glaube an die absolute Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift zählt, macht es zwar per se notwendig, am ›Alten Testament‹ als Quelle des Glaubens festzuhalten, führt jedoch zum Paradox einer ›Entjudaisierung‹ der hebräischen Bibel, die gleichzeitig als antijüdisches bzw. antisemitisches Zeugnis vorgestellt wird und damit auch ihre vermeintliche Kompatibilität mit dem Nationalsozialismus erhält. Möllers ›Verteidigung‹ des ›Alten Testaments‹ basiert dabei maßgeblich auf folgenden Strategien und Thesen: 1. Antijüdische/antisemitische Umdeutung der biblischen Erwählung Israels: Die biblische Erwählung Israels und seine Bedeutung in der Heilsgeschichte werden mit einer ›Verkennung‹ der eigenen Erwählung verknüpft. 12 Israels Erwählung habe grundsätzlich nichts mit den Qualitäten, sondern gerade mit der ›Minderwertigkeit‹ des biblisch ›erwählten Volkes‹ zu tun, wodurch sich die besondere Gnade Gottes offenbare. 13 2. Umkehrschlüsse zwischen ›Wahrheit‹ der Bibel und aktueller historischer ›Realität‹: Allgemein gebe die Bibel Aufschluss über den Charakter der Juden und Jüdinnen und deren gegenwärtige Situation, wonach »Strafe (Verfolgung, Zerstreuung)«, »Verstockung«, »Fluch« und »Bekehrung« als heilsgeschichtlicher Sinn wie auch als historisch reale Entäußerungen gewertet werden.14 Hiernach erscheinen auch zeitgenössische antisemitische Bilder (u.a. Verknüpfung von Judentum mit »skrupellosestem Verbrechergeist« und »Bolschewismus«) als historisch konsequente Genese und ›realer‹ Ausdruck einer biblischen »Sünde Israels« und dienen Möller gleichzeitig als vermeintliche Verifizierung der geschichtlichen und prophetischen ›Wahrheit‹ der (gesamten) Bibel selbst. 15 3. (Re-)Sakralisierung völkischer und völkische Nationalisierung religiöser Kategorien/Begriffe: Im Kontext der nationalsozialistischen Weltanschauung relevante Kategorien und Begriffe werden dem ›Alten Testament‹ zu- bzw. eingeschrieben; religiöse Begriffe werden umgekehrt als mit dem Nationalsozialismus kompatibel gedacht. Dies verdeutlicht sich in einer Reihe kurzer Abhandlungen, die Möller zu den folgenden Begriffen ausführt: »Rasse«; »Blut«; »Blutszusammenhang nach rückwärts und vorwärts, Geschlech-

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W. Möller: Zum Brückenbau, S. 18. Vgl. ebd., S. 17, 23. Vgl. ebd., S. 17/Anm. 1. Vgl. ebd., S. 19f. Vgl. ebd., S. 17.

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terfolge«; »Vererbung«; »Boden«; »Ehre«; »Der Gottesbegriff«; »Die Schätzung des irdischen Lebens«; »Volk«; »Erwählungsgedanke«. 16 Antisemitische Konstruktionen ›des Juden‹, völkisch-rassistische Kategorienbildungen als solche und die Umdeutung der hebräischen Bibel zum antijüdischen Zeugnis stehen demnach innerhalb der Argumentationen Möllers in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Auf dieser Grundlage wird eine christlich-hegemoniale Selbstkonstruktion und verobjektivierende Selbstermächtigung konstituiert, die christlich-hegemoniale (antijüdische) Wissensbestände reaktiviert, mit einer Adaption historischer und zeitgenössischer Rassisierungsprozesse des Religiösen kombiniert und völkisch-rassistisches Wissen religiös reifiziert bzw. resakralisiert. Der Deutungsanspruch des auf diese Weise christlich-rassistisch-national(sozial)istisch umgedeuteten ›Alten Testaments‹ speist sich demnach aus einer Kombination religiöser und säkularer bzw. säkularisierter Wissensbestände und Argumentationsmuster. Die Verobjektivierung des Wissens basiert dabei auf einer dem (modernen) Literalismus eigenen Lesart der Bibel – einer enthistorisierenden Lesart, die es der Konstruktionslogik nach erst ermöglicht, historisch spezifisches hegemoniales (rassistisch-antisemitisches) Wissen als ›überzeitliches‹, ›neutrales‹ biblisches Wissen, das heißt als Gottes reines Wort vorzustellen. Die Interpretationsund Abstraktionsleistung, dieses historisch spezifische, säkulare Wissen mit dem literalistischen Deutungsanspruch einer buchstäblichen Wahrheit und einer buchstabengetreuen Lesart der Bibel zu kombinieren, tritt schon mit Blick auf biblisch nicht existente Begriffe (wie z.B. ›Rasse‹ 17 ) als zwangsläufiges Scheitern an der ›Buchstabentreue‹ zu Tage. Und ebenso wenig lassen sich offensichtlich biblisch existente Begriffe wie ›Blut‹ buchstäblich, das heißt innerhalb des biblischen Textes, mit der Blut- und Bodenmythologie des Nationalsozialismus in Verbindung bringen. So folgt Möller in seiner Begriffs16 Vgl. ebd., S. 24-29. 17 Möller setzt den Begriff ›Rasse‹ in Relation zu den drei Noah-Söhnen, die von ihm als Stammväter dreier ›Rassen‹/›Völkergruppen‹ begriffen werden, vgl. ebd., S. 24. Diese biblische Verortung von ›Rasse‹ veranschaulicht auch beispielhaft, inwiefern Möllers Argumentationen durch eine Resakralisierung säkularer Strukturkategorien gekennzeichnet sind. Denn, wie Peter Martin gezeigt hat, spielte u.a. die Noah-Legende um die Verfluchung seines Sohnes Ham in den frühen rassentheoretischen Erklärungsmustern zu ›schwarzer‹ Haut eine entscheidende Rolle, vgl. Martin, Peter: Schwarze Teufel, edle Mohren. Afrikaner in Geschichte und Bewußtsein der Deutschen, Hamburg: Hamburger Edition 2001, S. 283-288. Möller ruft so die Einschreibung religiöser Traditionen in säkulare rassentheoretische Kategorienbildungen auf, setzt jedoch dabei die Kategorie ›Rasse‹ voraus, die nachträglich religiös begründet wird. Zur Naturalisierung religiöser Denktraditionen im historischen Kontext von Rassentheorie und Rassismus vgl. ausführlich Husmann, Jana: Schwarz-Weiß-Symbolik. Dualistische Denktraditionen und die Imagination von ›Rasse‹. Religion – Wissenschaft – Anthroposophie, Bielefeld: transcript 2010. 189

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darstellung auch einer rhetorischen Strategie, in der zunächst die aktuelle Bedeutung der oben aufgelisteten Begriffe/Kategorien innerhalb des Nationalsozialismus benannt wird, um daraufhin (entlang einzelner Bibelstellen) auf eine allgemeine Bedeutung dieser Begriffe in der Bibel zu verweisen oder – wo die Begriffe als solche nicht existieren – nach begrifflichen und/oder bildhaften Entsprechungen zu suchen. Danach wird etwa der Begriff ›Boden‹ innerhalb der Blut- und Bodenmythologie verortet, um daraufhin schlicht unter anderem das biblische Bild vom ›Garten Eden‹ anzuführen, das die nationalsozialistische Auslegung des Begriffs ›Boden‹ zu legitimieren, ihr zu entsprechen und sie ›historisch‹ vorzuzeichnen scheint.18 Wenn Holthaus in seinem Artikel 100 Jahre ›Bibel und Gemeinde‹ zur Zeitspanne des ›Dritten Reichs‹ resümiert: »Zu den eigentlichen Herausforderungen der Zeit und zur Judenfrage hatte man keine Antwort gefunden«,19 so erscheint diese Formulierung mehr als missverständlich. Denn natürlich hatte der Bibelbund eine bestimmte Antwort gefunden, die darauf zielte, das Verhältnis von Staat und Kirche zu harmonisieren. Dabei verschränken sich, wie das Beispiel Möller zeigt, der Glaube an die absolute Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift und der Glaube an die absolute Irrtumslosigkeit des nationalsozialistischen (Staats- und Rassen-)Programms. Nicht nur wird im Zuge dieses Unterfangens das Schrifttum des jeweiligen Glaubens in seiner angenommenen absoluten Gültigkeit parallelisiert, 20 sondern eine wechselseitige Legitimierung erzeugt, in der die ›Judenfrage‹ das Bindeglied zwischen christlichem und nationalsozialistischem Glauben bildet. »Jedenfalls ist soviel sicher, daß die Bibel die Judenfrage noch viel ernster nimmt als selbst der Nationalsozialismus; von hier aus ist also ein Konflikt zwischen Staat und Kirche wirklich nicht zu befürchten, wenn die Kirche bei der biblischen Verkündigung bleibt.« 21

Der Bibelbund liefert damit auch ein Beispiel dafür, dass eine strikte Trennung zwischen Positionen der Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche die Übergänge innerhalb dieser Fraktionen ausblendet.22 Denn der Bibel18 Vgl. W. Möller: Zum Brückenbau, S. 26. 19 S. Holthaus: »100 Jahre« >Abschnitt: »4. In der Weimarer Republik und im ›Dritten Reich‹«@. 20 »Soll das Christentum dem Volk etwas nützen, so kann es natürlich andererseits nicht ein Allerweltschriftentum sein, >…@ sondern nur das Christentum, das an der Bibel seinen Ursprung und seine Norm hat, wie das 3. Reich an Hitlers Buch ›Mein Kampf‹ und an den Artikeln des nationalsozialistischen Programms.« W. Möller: Zum Brückenbau, S. 34. 21 Ebd., S. 19f. 22 Die Bekennende Kirche gilt vielfach generell als kirchliche (und politische) Opposition gegen den Nationalsozialismus und die Deutschen Christen, vgl. u.a. 190

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bund bekannte sich insofern zur Bekennenden Kirche, als dass es ihm um das Festhalten am ›Alten Testament‹ als Grundlage des protestantischen Glaubens ging. Möllers Ausführungen zeigen jedoch gleichzeitig das ›buchstäbliche‹ Bemühen, die Deutschen Christen mit der »Bekenntniskirche« zu versöhnen und den Begriff der Deutschen Christen in die Bekennende Kirche zu integrieren. 23 Die Argumente dieses Versöhnungsversuchs, die über Strategien der Christianisierung/Entjudaisierung, Rassisierung und Nationalisierung der hebräischen Bibel strukturiert werden, beinhalten dabei auch eine Verschiebung der Ursache des innerchristlichen Konflikts, eine Verschiebung, die wiederum antisemitisch begründet ist: Danach wird das Abschwören der Christen vom ›Alten Testament‹ als Ziel der Juden ausgegeben, um die Einheit von Christentum und ›Volk‹ zu zerstören. Der Konflikt, der sich um Ablehnung oder Beibehaltung des ›Alten Testaments‹ zentriert, erscheint somit nicht als Resultat und Ausdruck des zeitgenössischen Antisemitismus, sondern wird den »geistigen Einflüssen« der Juden selbst zugeschrieben.24 Antisemitische Konstruktionen bilden in Möllers Abhandlung Zum Brückenbau von Staat und Kirche indes nicht lediglich die Grundlage, um das ›Alte Testament‹ als schriftliches Glaubensfundament des Bibelbundes gegenüber dem Nationalsozialismus im Allgemeinen und den Deutschen Christen im Besonderen zu verteidigen. Vielmehr wird der ›jüdische Geist‹ ebenso bemüht, um das spezifische Schriftverständnis des Bibelbundes und damit fundamentalistisch-literalistische Grundannahmen zur Entstehung der Bibel und zur Schrifthermeneutik zu begründen und gegenüber der Bibelkritik (und der damit verbundenen historisch-kritischen Methode) zu immunisieren. Das heißt, antisemitische Konstruktionen erscheinen hier auch als Stütze der Kritik an der Bibelkritik und konstituieren darüber das christliche Selbstverständnis des Bibelbundes in seiner fundamentalistischen Spezifik. Das folgende Zitat verdeutlicht dies in seiner Bezugnahme auf die »alttestamentliche Kritik« und bezieht sich damit unter anderem auf die im Bibelbund von Beginn an vielfach diskutierte und kritisierte Quellenscheidung im Pentateuch25 Eintrag ›Nationalsozialismus und Kirchen‹, in: TRE. Studienausgabe, Teil II/Bd. 24, hg. v. Gerhard Müller, Berlin: de Gruyter 2000, S. 43-78, hier S. 50f. 23 »Man sollte sich bemühen, das berechtigte >…@ Moment der Deutschen Christen zu verstehen, die ganz auf dem Boden des Dritten Reiches stehen und nicht dulden wollen, daß durch das Christentum irgendwelche untragbare und verkehrte Beeinträchtigung erstrebt oder versucht werde. Ebenso aber sollte man sich bemühen, das berechtigte Moment der Deutschen Christen in der Bekenntniskirche zu würdigen, die sich um das Evangelium scharen und sich in diese Botschaft nichts Verkehrtes von außen einmischen lassen wollen.« W. Möller: Zum Brückenbau, S. 34. 24 Vgl. ebd., S. 23. 25 Vgl. S. Holthaus: »100 Jahre« >Abschnitt: »1901 bis 1911: ›Nach dem Gesetz und Zeugnis‹ unter Friedrich Gaedke«@. 191

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und entsprechende Analysen zur historischen (Text-)Genese der fünf Bücher Mose, die dem fundamentalistischen Glauben an die göttliche Verbalinspiration 26 der Heiligen Schrift widersprachen. »Nach diesen Seiten hin ist der Zusammenhang des Judentums mit der alttestamentlichen Kritik und umgekehrt klar. >…@. Diese >alttestamentliche Kritik@ hat aber >…@ einen derartig zersetzenden Charakter, der so ganz mit der jüdisch zersetzenden Art zusammenstimmt, daß ich vermute, einmal nach der persönlichen Seite hin, viele Forscher oder Gewährsmänner, die Alttestamentler beeinflußten, möchten einen jüdischen Einschlag in ihrem Blut haben, und nach der fachlichen Seite hin, die Kritik gehe durch ihren Zusammenhang mit den Rationalisten, Enzyklopädisten und dem Geist der französischen Revolution noch viel enger auf jüdische, vielleicht ihr selbst unbewußte Einflüsse zurück. Dahingehende Untersuchungen wären nach beiden Seiten hin dringend erwünscht. Der Nationalsozialismus hätte aber doppelten Grund, nicht in den Geleisen dieser ›Wissenschaft‹ einherzufahren.« 27

Die Bibelkritik erscheint hiernach letztlich als eine ›jüdische Wissenschaft‹, wobei die antisemitische Identifizierung mit der ›jüdisch zersetzenden Art‹ die Wissenschaftlichkeit der Bibelkritik als solche infrage zu stellen sucht.28 Dabei wird ›Rationalismus‹ als eine falsche Form der Erkenntnis gekennzeichnet und fungiert als Codewort für ›jüdisches‹ Denken/Wissen. Möller knüpft damit an Ausprägungen des zeitgenössischen Antisemitismus als AntiIntellektualismus an, wonach ›der Jude‹ mit ›falschem‹ abstrakten Denken und ›kaltem‹ Intellekt identifiziert wird,29 und schafft hierüber eine weitere Entsprechung mit der nationalsozialistischen Weltanschauung. Die Diffamierung von »Rationalisten« und »Enzyklopädisten« unterstellt auch einen falschen Bezug zum Buchstaben, das heißt einen falschen Umgang mit und eine falsche Verwendung der Schrift. Sowohl die (enzyklopädische) Historisierung 26 Danach werden die biblischen Worte als Emanation des Heiligen Geistes verstanden, vgl. u.a. Wagner-Rau, Ulrike: »Die Suche nach einem Fundament. Eine Einführung in die fundamentalistische Frömmigkeit«, in: Elisabeth Rohr/Ulrike Wagner-Rau/Mechtild M. Jansen (Hg.), Die halbierte Emanzipation? Fundamentalismus und Geschlecht, Königstein/Taunus: Ulrike Helmer 2007, S. 11-28, hier S. 15, S. 25/Anm. 2. 27 W. Möller: Zum Brückenbau, S. 23. 28 Diese antisemitische Deutung der historisch-kritischen Bibelforschung wird 1939 von einem anderen Bibelbund-Mitglied auch konkret auf Baruch de Spinoza (1632-1677), den Begründer der modernen Bibelkritik, bezogen, vgl. Gahr, Christian: »Baruch Spinoza, der Vater der geschichtlich-kritischen Bibelforschung«, in: Nach dem Gesetz und Zeugnis 39 (1939), H. 1/2, S. 8-13. 29 Zur Verbindung von Antisemitismus und Anti-Intellektualismus vgl. u.a. von Braun, Christina: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich/München: Pendo 2001, S. 466-479; Nordmann, Ingeborg: »Der Intellektuelle. Ein Phantasma«, in: Julius H. Schoeps/Joachim Schlör (Hg.), Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, München/Zürich: Piper 1995, S. 252-259. 192

DAS ›PROBLEM JUDENTUM UND ALTES TESTAMENT‹

von Begriffen als auch eine im erweiterten Sinne dekonstruktivistische Lektürepraxis wird hier zum Kontrapunkt des christlich-literalistischen (Buchstaben-)Glaubens. Der sich anfügende diffamierende Verweis auf den »Geist der französischen Revolution« historisiert den Rationalismus, wendet sich also gegen den aufklärerischen Impetus von Vernunft/Rationalität, beinhaltet dabei einen indirekten Verweis auf die wissenschaftshistorischen Ursprünge moderner Bibelkritik und umschließt die Ablehnung universalistischer Gleichheitsansprüche. Der antisemitisch strukturierten Kritik am Rationalismus/dem abstrakten Denken sind zeitgleich Wechselbeziehungen zwischen geschlechtlichen Codierungen des Wissens und vergeschlechtlichten Körperbildern ›des Juden‹ unterlegt. Das heißt, das von Möller aufgerufene Stereotyp vom Juden als Intellektuellem ist seiner historischen und zeitgenössischen Diskursivierung nach durch eine vergeschlechtlichte Inversionslogik gekennzeichnet. Danach ist die Vorstellung eines falschen männlichen Intellektualismus mit einer körperlichen Feminisierung/›Unmännlichkeit‹ des jüdischen Mannes und einer Maskulinisierung/›Unweiblichkeit‹ der (intellektuellen) jüdischen Frau verbunden. 30 Dieser Inversionslogik entspricht die antisemitische Vorstellung vom ›kranken Geist‹ im ›kranken Körper‹, die als konstitutives Gegenbild zur rassifizierten Vorstellung vom ›gesunden Geist‹ im ›gesunden Körper‹ fungiert. 31 Möller selbst führt diese normkonstitutiven Pathologisierungszusammenhänge hinsichtlich des jüdischen Individualkörpers nicht aus, sie sind jedoch seiner Rede vom ›zersetzenden‹ Charakter des ›jüdischen Geistes‹ und den entsprechenden Konnotationen der Krankhaftigkeit, die auf der Ebene völkisch-rassistischer Kollektivkörperkonstruktionen Anwendung finden, letztlich implizit. So wird zwar der »böse >…@ Geist, der das Judentum als Ganzes beherrscht« 32 , vom »einzelnen Juden >…@, der anständig sein kann und vielleicht wegen des Zusammenhangs mit seinem Volk unschuldig zu leiden hat«, 33 unterschieden; die im gleichen Kontext aufgerufenen rassistisch-antisemitischen Kollektivkörperbilder vom »jüdisch verseuchten Staat«34 beinhalten jedoch gerade eine Forderung nach ›Reinigung‹ und ›Gesundung‹, die nur auf der Grundlage denkbar erscheint, dass die einzelnen Juden und Jüdinnen aus dem Staat hinausgedrängt bzw. entfernt werden (wofür dem ›Führer‹ ex30 Vgl. u.a. C. von Braun: Versuch über den Schwindel, S. 429-433, S. 466-479. 31 Vgl. u.a. Hödl, Klaus: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle, Wien: Picus 1997, S. 178180. Zum faschistischen Männlichkeitsideal vgl. u.a. Mosse, George L.: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt a.M.: Fischer 1997, S. 203-233. 32 W. Möller: Zum Brückenbau, S. 14. 33 Ebd., S. 14/Anm.1. 34 Ebd., S. 14. 193

JANA HUSMANN

plizit gedankt wird35 ). So erscheint der ›zersetzende‹ Geist einerseits mit dem individuellen Juden verbunden und wird gleichzeitig als ›jüdischer Geist‹ zu einer über die einzelnen Juden und Jüdinnen und das Judentum hinausreichenden Metapher für ›zersetzenden Rationalismus‹, der das (völkisch strukturierte christliche) Volk wie auch den christlichen Glauben zu ›kontaminieren‹ droht. 36 Die antisemitische Figuration dieser ›Bedrohung‹ ist dabei als Effekt der völkischen Konstruktion des Kollektivkörpers selbst zu verstehen. Und danach geht die völkische Naturalisierung des christlichen Kollektivkörpers nicht nur mit einer Ausblendung ihrer abstrakten Voraussetzungen einher, sondern auch mit einer Zuschreibung des abstrakten Geistes/Logos an die aus dem Kollektivkörper ›herausgeschriebenen‹ Juden und Jüdinnen – eine Zuschreibung, die an antijudaistische Traditionen vom falschen ›jüdischen Geist‹ im Sinne eines falschen Glaubens und eines falschen Schriftverständnisses anknüpft 37 und diese Traditionen gleichsam in säkularen Kategorien fasst. In Möllers Ausführungen werden diese Zusammenhänge von christlichem Antijudaismus und rassistischem Antisemitismus beispielhaft greifbar. Sie zeigen sich (wie oben bereits angedeutet) als eine doppelte Bewegung im Prozess der Resakralisierung, was mit Blick auf Möllers Beschwörung des ›bösen Geists‹ des Judentums heißt: Dieser ›böse Geist‹ wird in seinen säkularen/säkularisierten Dimensionen von Möller vorausgesetzt (›zersetzender‹ jüdischer Rationalismus) und gleichzeitig zur christlichen Heilsgeschichte, das heißt zur ›Verkennung‹ des wahren Geistes Christi in Relation gesetzt, womit eine Resakralisierung des säkularen Antisemitismus verbunden ist. Dem liegt zugrunde, dass der religiöse Antijudaismus, der dem rassistischen Antisemitismus historisch vorausgeht, hier selbst antisemitisch strukturiert ist, das heißt, er erscheint als nachträgliches religiöses Begründungsmuster für säkularisierte Formen des christlichen Antijudaismus. Das heißt auch: Hatte 35 Vgl. ebd. 36 Zur Abwertung von Intellektualität und Rationalität als kulturhistorischem Paradigmenwechsel Ende des 19. Jahrhunderts vgl. C. v. Braun: Versuch über den Schwindel, S. 476. 37 Im christlich-antijudaistischen Kontext wurden die Juden und Jüdinnen mit einer »›nutzlosen‹ Art der Textlektüre« in Verbindung gebracht und »als blinde LeserInnen dargestellt, die lesen, ohne zu begreifen. Sie gelten als bloße VerwalterInnen des Alten Testaments und werden mit dem buchstäblichen Text assoziiert.« Lampert-Weissig, Lisa: »›Frau‹ und ›Jude‹ als hermeneutische Strategie. Zu den gemeinsamen Wurzeln von Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus«, in: Gabriele Dietze/Claudia Brunner/Edith Wenzel (Hg.), Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld: transcript 2009, S. 171-185, hier S. 172. Diese antijudaistische Assoziierung mit dem buchstäblichen Text ist v.a. als Vorwurf der Verkennung Christi als Leib gewordenem Wort Gottes zu verstehen, mit dem der Vorwurf eines ›toten‹ Buchstabenglaubens einhergeht. 194

DAS ›PROBLEM JUDENTUM UND ALTES TESTAMENT‹

sich im Zuge der europäischen Säkularisierung eine Überführung christlicher Sündenvorstellungen in säkulare Krankheitskategorien vollzogen, 38 so wird in Möllers religiös argumentiertem rassistischen Antisemitismus der als krankhaft stigmatisierte ›jüdische Geist‹ wiederum als Ausdruck von Sündhaftigkeit, das heißt als Israels ›biblische Schuld‹ gewertet. Die Selbstkonstruktion und Selbstvergewisserung, die sich auf der Grundlage dieses religiös verfassten Antisemitismus herstellt und eine religiöse Begründung nationalsozialistischer Wissensproduktion liefert, impliziert entsprechend auch religiöse Erklärungsmuster ›völkischer Gesundheit‹ und eines ›gesunden Geistes‹, in dem sich ›wahrer‹ Glaube und ›wahres‹ Wissen verschränken. Der spezifisch literalistische Deutungsanspruch des Bibelbundes, in dem ›wahres‹ Wissen mit dem Glauben an die buchstäbliche Wahrheit (und eindeutige Faktizität) der Heiligen Schrift verbunden ist, beinhaltet mit Blick auf Möllers (antisemitische) Diffamierung des Rationalismus schließlich auch paradoxe Momente, die das grundlegende Verhältnis von Rationalität/Rationalismus und eigenem Buchstabenglauben betreffen. Denn der literalistische Rückbezug auf das (faktisch, neutral gedachte) ›reine‹ Wort, der sich jeglicher Symbolik und Vieldeutigkeit zu entledigen scheint, impliziert seinerseits das Paradox einer (modernen) ›rationalistischen‹ Form des religiösen Wissens. Mit Blick auf geschlechtliche Codierungen des Wissens bedeutet dies, dass Möllers Ausführungen letztlich zwei unterschiedliche Formen und Wertigkeiten des männlich codierten Rationalismus unterlegt sind. Diese sind einerseits als antisemitischer Anti-Rationalismus/Anti-Intellektualismus mit Vorstellungen falscher Männlichkeit verbunden; andererseits ist dem christlichen Literalismus (über die ihm inhärenten rationalistischen Verobjektivierungsstrategien religiösen Wissens) selbst ein positiver Bezug auf männlich codierte Rationalität unterlegt, der mit einer fundamentalistisch inspirierten »Theologie der Tatsachen« 39 korrespondiert. 40 In diesem Sinne kann der (moderne) christliche Literalismus auch als eine (moderne) Form symbolischer (Re-)Maskulinisierung des protestantischen Christentums begriffen werden, die sich – in einem weiteren Zusammenhang – in die Definition des religiösen Fundamen-

38 Zum diesbezüglichen Zusammenhang von religiösem Antijudaismus und rassistischem Antisemitismus vgl. von Braun, Christina: »Und der Feind ist Fleisch geworden. Der rassistische Antisemitismus«, in: Dies./Ludger Heid (Hg.), Der ewige Judenhaß. Christlicher Antijudaismus, Deutschnationale Judenfeindlichkeit, Rassistischer Antisemitismus, 2. Aufl., Berlin/Wien: Philo 2000, S. 149213; Gilman, Sander L.: Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1992, S. 26f. 39 E. Geldbach: Protestantischer Fundamentalismus, S. 45. 40 Zum Zusammenhang von Literalismus, Rationalismus und Vergeschlechtlichung vgl. V. Crapanzano: Serving the Word, S. 24. 195

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talismus als »moderne>m@ Antimodernismus« 41 einordnen lässt. Die jeweilige kulturhistorische und politische Kontextabhängigkeit literalistischer Wissensproduktion und fundamentalistischer Ausdeutungen von Moderne und (Anti-)Rationalismus legt nicht zuletzt die vorgestellte Deutungspraxis Möllers, das heißt seine nationalsozialistisch motivierte Bibelinterpretation und antisemitisch strukturierte Kritik der Bibelkritik aus den Jahren 1938/39 offen. Zusammenfassend kann mit Blick auf das Textbeispiel herausgestellt werden, dass sich innerhalb des aufgezeigten religiösen Antisemitismus, der im Rahmen der Anpassungsbestrebungen des Bibelbundes an den Nationalsozialismus zum Tragen kam, nicht nur die Kategorien Religion, ›Rasse‹, Nation und Geschlecht, sondern auch die eingangs differenzierten Ebenen verschränken, das heißt a) Prozesse der Resakralisierung säkularer (völkischrassistischer) Strukturkategorien und b) Prozesse der Rassisierung, Nationalisierung und Vergeschlechtlichung spezifischer Wissensformen und (religiöser) Wissensbestände. Möllers Unterfangen, den christlich-literalistischen Glauben und seine schriftlichen Fundamente mit dem Nationalsozialismus in eine harmonische Korrespondenz zu setzen, beinhaltet eine grundlegende Verschränkung von Glauben und Wissen bzw. von religiösem und säkularem/säkularisiertem Wissen, das heißt aber auch: Möllers literalistische Kompatibilitätsversuche implizieren nicht nur ihrerseits Rassisierungen religiöser Wissensbestände und eine religiöse Recodierung rassistisch-nationalsozialistischer Wissensbestände, sondern ›offenbaren‹ den Nationalsozialismus im wahrsten Sinne selbst als »säkulare Religion«.42 So verbleiben folgende Aporien: Dass die Harmonisierung von Staat und Kirche seitens des Nationalsozialismus zwar einer anfänglich verfolgten Strategie entsprach, insgesamt jedoch die Bekämpfung des Christentums zielgebend war, erklärt sich letztlich gerade durch die Säkularisierung christlicher Elemente innerhalb des Nationalsozialismus; danach konnten »zwei Religionen von solcher Ähnlichkeit nicht nebeneinander bestehen >…@«. 43 Umgekehrt jedoch war es, wie gezeigt wurde, vom Standpunkt des protestantischen Fundamentalismus aus durchaus denkbar, das Christentum – inklusive der hebräischen Bibel – in eine national(sozial)istische Heilsgeschichte umzuschreiben, in der die rassifizierte Kategorie des ›Deutschen Christen‹ ihren Platz fand.

41 Küenzlen, Gottfried: »Fundamentalismus: Moderner Antimodernismus. Kultursoziologische Überlegungen«, in: Praktische Theologie 29 (1994), S. 43-56, hier S. 53, S. 56. 42 C. von Braun: »Und der Feind«, S. 150. 43 Ebd. 196

›Mit dem Fluss durch die Wand‹ í Widerstand, Kollektivkörper, Geschlecht und Repräsentation im Zeitalter der Globalisierung ULRIKE AUGA

Kollektivkörper und das kollektive Imaginäre In Christina von Brauns Denken spielt die Frage nach den Fantasien des Kollektivkörpers eine zentrale Rolle. Im Mittelpunkt steht dabei die Untersuchung der Entstehung des kollektiven Imaginären, das heißt nach den Bildern, die historische Wirkungsmacht entfalten und so einen Konsens herstellen, der das Zusammenleben in einer Gemeinschaft bestimmt. Die Form des kollektiven Imaginären steht unter dem Einfluss von Technik und Wissenschaft und entspricht den medialen Bedingungen des jeweiligen Zeitalters. Das mediale Netzwerk ist konstitutiv für religiöse wie für politische Entwicklungen, sowohl für die Geschlechterordnung als auch für naturwissenschaftliche Paradigmen. »Am deutlichsten zeigt sich die historische Wirkungsmacht des ›kollektiven Imaginären‹ am Konzept des Kollektivkörpers, das sich als Kernfigur westlichen Denkens beschreiben ließe. Der Kollektivkörper, der auf der Analogie von individueller und sozialer Gemeinschaft beruht, ist geformt ›nach dem Ebenbild‹ des kollektiven Imaginären.« 1

Anderseits stellen Bilder vom Fremdkörper und von der Anomalie eine Umkehrung des Idealbildes einer naturalisierten Gemeinschaft dar. Im nationalen Zeitalter war auf der gruppenkonstitutiven Ebene die Vorstellung vom jüdischen Fremdkörper zentral für die Selbstimagination und überschnitt sich mit 1

Von Braun, Christina: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich/München: Pendo 2001, S. 10. 197

ULRIKE AUGA

rechter und linker Intellektuellenfeindlichkeit. Beide í Juden und Intellektuelle í stellten im Kontext der ›Natiogenese‹2 als effeminierte und orientalisierte ›Figuren‹ eine Gefahr für den ›gesunden‹ Volkskörper dar. Der hegemoniale Diskurs überwachte die Grenzen und Reinheit des eigenen Kollektivkörpers scharf und konzentrierte sich insbesondere auf die Konstruktion normalisierender binärer hierarchischer Geschlechterbilder. Daraus erwuchsen Gegendiskurse, die sich der Regulierung widersetzten. Widerstand ist jedoch nicht per se gewaltfrei, denn gerade ideologiekritischer Widerstand besitzt häufig selber ausschließende und sogar totalitäre Tendenzen. Einige widerständische Diskurse essenzialisieren Kategorien des Wissens auf Kosten derjenigen, um deren Dekonstruktion sie sich bemühen, worauf kritische Geschlechter- und Queer-Forschung mit Recht aufmerksam macht. Mit der Globalisierung wird der kulturell noch hegemoniale nationale Diskurs mehr und mehr verdrängt. Mit der Einbuße der Nation als zentraler kollektiver Identifikationsgröße gewinnen andere kollektive Imaginationen, insbesondere jene von widerständischen Diskursen gegen die negativen Auswirkungen der Globalisierung, an Bedeutung. In Anbetracht dessen möchte ich untersuchen, wie in neuen Kollektivvorstellungen Repräsentation und Geschlecht inszeniert werden, und fragen, ob sie ohne politische und epistemische Gewalt auskommen?

Das panoptische globalisierte Empire Christina von Braun zeigt am Anfang ihres Films Vom Sinn des Sehens. Augenblicke der Geschlechter eine Person, die durch eine Wand hindurchsieht, aber selber nicht gesehen wird. Diese Einstellung erinnert an Jeremy Bentham (1748-1832), der das ideale Gefängnis zur lückenlosen Überwachung als Panoptikum konzipierte í eine wirkungsmächtige Idee, die bekanntlich Michel Foucault aufgriff, um das visuelle Ordnungsprinzip der Überwachung, Disziplinierung und Normalisierung zu charakterisieren. Foucault unterstreicht, dass »[d]as Panoptikum […] die Utopie einer Gesellschaft und einer Form von Macht [ist], die in unserer Gesellschaft Wirklichkeit geworden ist […]. Wir leben in einer Gesellschaft, in der der Panoptismus herrscht.« 3

2

3

Ich verwende den Begriff ›Natiogenese‹, um zu zeigen, dass die Kollektiv imaginierenden Mechanismen des Nationalismus wie jedes vermeintlich positiv zu besetzenden ›Nation building‹ sich analog durch Selbstimagination auf der Basis der Konstruktion und des Ausschlusses der ›Anderen‹ vollziehen, vgl. Auga, Ulrike: Intellektuelle – zwischen Dissidenz und Legitimierung, Berlin: Lit Verlag ²2011. Foucault, Michel: Die Wahrheit und die juristischen Formen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 85f.

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›MIT DEM FLUSS DURCH DIE WAND‹

In unserer globalisierten und kommodifizierten Überwachungsgesellschaft geht es jedoch um viel mehr: die Legitimierung und Organisation (staats-)rassistischen Ausschlusses im Zusammenhang mit Profitmaximierung und biopolitischer Regulierung. Symptome dafür sind die Überwachungs- und Ausspähungsvorfälle bei der Telekom, Lidl oder der Deutschen Bahn. Michael Hardt und Antonio Negri haben in diesem Zusammenhang den Begriff ›Empire‹ als imperiale Ausdehnung des globalen Kapitals geprägt, im Unterschied zum Imperialismus nationaler Tage, bei dem ein einzelner Nationalstaat versuchte (mit Gewalt) zu expandieren: »The primary factors of production and exchange – money, technology, people, and goods – move with increasing ease across national boundaries; hence nation-state has less and less power to regulate these flows and impose its authority over economy. Even the most dominant nation-states should no longer be thought of as supreme and sovereign authorities, either outside or even within their own borders […]. [Instead,] sovereignty has taken a new form, composed of a series of national and supranational organisms united under a single logic of rule. This new global form of sovereignty is what we call Empire.« 4

Das überkommene Verhältnis zwischen Nation und Staat und dessen Bürgerinnen und Bürgern wird durch die Globalisierung erschüttert. Die Demokratiefähigkeit des Gebildes Nationalstaat und der Marktwirtschaft ist mit der Globalisierung deutlicher als vorher zu bezweifeln.5 Die Globalisierung wird als ein komplexer und einschneidender technischer, ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Prozess beschrieben.6 Die technischen Errungenschaften des Informationszeitalters ermöglichen eine ungehinderte Ausdehnung des Kapitals über nationale Grenzen hinweg.7 So ist auch die politische Macht den Nationalstaaten entglitten und in die Hände des multinationalen Kapitals gelangt. Die Abwanderung der Arbeitsplätze und die damit verbundene Niedrigentlohnung der Arbeit führen dazu, dass Lohnarbeit in vielen Fällen nicht mehr die Lebensgrundlage sichert. Die leeren Staatskassen bzw. die Verflechtungen von multinationalen Konzerninteressen und politischer Repräsentanz erlauben dem Staat nicht, dem Sozialvertrag mit seinem Staatsvolk wie verabredet nachzukommen. Viele bezweifeln daher die Funk4 5

6 7

Hardt, Michael/Negri, Antonio: Empire, Cambridge (MA): Harvard University Press 2000, S. xi-xii. Vgl. Habermas, Jürgen: »Die postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie«, in: Ders. (Hg.), Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 91-169. Vgl. Jameson, Frederic: »Postmodernism, or the Cultural Logic of Late Capitalism«, in: New Left Review 146 (1984), S. 52-92. Vgl. Castells, Manuel: The Information Age: Economy, Society and Culture, 3 Bde., Oxford/Malden: Blackwell 1997. 199

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tionstüchtigkeit repräsentativer Demokratie und bezeichnen diese zu Recht als ›limitierte Demokratie‹, wenn der (gesellschaftliche) Tod der ›biologischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger‹ in Kauf genommen wird, sei es durch profitorientierte Gesundheitsversorgung, Atomlobbyismus oder Heteronormalisierung.

Neue Kollektivvorstellungen Jürgen Habermas argumentiert, dass die durch die wirtschaftliche Globalisierung geöffnete Struktur der Weltgesellschaft zu einem Gleichgewicht kommen müsse. Einem globalen Wirtschaftssystem müsse ein globales politisches Machtsystem gegenüberstehen.8 Bruce Robbins entwickelt in diesem Kontext die Vorstellung kosmopolitischer Intellektueller, deren politisches Bewusstsein durch eine Dialektik zwischen lokalen Interessen und globaler Vision bestimmt werde. Dem liegt die Annahme eines kosmopolitischen und progressiven modernen Subjektes zugrunde. 9 Pheng Cheah weist jedoch darauf hin, dass wir nicht automatisch annehmen können, dass Erfahrungen einer sich globalisierenden Welt, in der Menschen, Dinge und Ereignisse immer stärker zusammenrücken, dazu führen, eine kosmopolitische Form der Politik zu generieren: »Although visions of cosmopolitanism have mutated from an intellectual ethos to an institutionally grounded global political consciousness, this institutional grounding has been put into question by the uneven character of global capitalism. There is an inadequation […] between the material interconnectedness brought about by global capitalism and the degree of formation of global solidarities.« 10

Es gelte zu beachten, dass die Nation als Institution kollektiver Zugehörigkeit noch eine starke Rolle spiele. Daneben entstehe aber nicht eine kosmopolitische Größe, sondern es tauchten viele verschiedene kosmopolitische Formen auf: »The world is undoubtedly interconnected and transnational mobility is clearly on the rise. But this does not inevitably generate meaningful cosmopolitanisms in the robust sense of pluralized world political communities. One should cast a more dis8 9

Vgl. J. Habermas: Die postnationale Konstellation. Vgl. Robbins, Bruce: »Comparative Cosmopolitanisms«, in: Social Text 31/32 (1992), S. 169-186. 10 Cheah, Pheng: »Cosmopolitanism«, in: Theory, Culture & Society 2-3 (2006), S. 486-496, hier S. 491. Vgl. Cheah, Pheng/Robbins, Bruce (Hg): Cosmopolitics. Thinking and Feeling beyond the Nation, Minneapolis: University of Minnesota Press 1998. 200

›MIT DEM FLUSS DURCH DIE WAND‹

criminating eye on the various emergent forms of cosmopolitanism and distinguish them in terms of how they are connected to the operations of neoliberal capital.« 11

Die Globalisierung ist gekennzeichnet von Massenmigration, die sich an Arbeitsmöglichkeiten und nicht an nationalen Grenzen ausrichtet. Beschleunigte Ströme von mobilen, zuerst disparaten Bevölkerungen erschließen neue Räume und neue Gemeinschaftlichkeiten. Im Zuge der Entmächtigung des Nationalstaats werden kollektive Zugehörigkeiten immer weniger entlang nationaler Imagination und ihrer Traditionsbeschwörungen, Grenzziehungen und symbolischen Ausschlussverfahren verstanden. Sie entstehen oft durch lokale Projekte, die sich im Widerstand gegen Auswirkungen der Globalisierung formieren. Die Konzepte der Lokalität und der Transnation gewinnen an Bedeutung. Neue Faktoren, die gegenwärtig die Produktion von Lokalität am meisten beeinflussen, sind nach Arjun Appadurai diasporische, elektronische und virtuelle Gemeinschaften.12 Aihwa Ong beschreibt neue Gemeinschaften als strukturierte, flexible »transnational flows«, das heißt als Flüsse von Menschen, Gütern und Wissen als den imaginativen Ressourcen für die Schaffung von Gemeinschaften und Nachbarschaften der Transnation, die auch virtuell vorgestellt sein können. 13 Beispielsweise haben sich aus Projekten um die Basisabsicherung streitender landloser Bäuerinnen und Bauern in Brasilien oder um Trinkwasser und Elektrizität kämpfende örtliche Gruppen in Südafrika flexible, global vernetzte, gesamtgesellschaftlich agierende Bewegungen gebildet, die transnational auftreten. Diese Transnationen, säkulare oder befreiungstheologische Basisgemeinden, sind nicht anarchisch, sondern in Selbstverwaltung organisiert.

Globalisierungskritische Bewegung, Geschlecht und Gewalt/losigkeit Die weltweite globalisierungskritische Bewegung selber lässt sich – besonders in den Weltsozialforen (WSF) – als transnationale Zugehörigkeit stiftender ›Fluss‹ verstehen. Der Südafrikaner Patrick Bond unterscheidet in Bezug auf die Funktionalität und Repräsentation »strategists, activists and intellectuals of the Global Justice Movement«. Er spricht von »key proponents« oder

11 Cheah, Pheng: »Cosmopolitanism«, S. 492f. 12 Vgl. Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Minneapolis/London: University of Minnesota Press 1996. 13 Vgl. Ong, Aihwa: Flexible Citizenship. The Cultural Logics of Transnationality, Durham: Duke University Press 1998. 201

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»intellectuals and activists« dieser globalen Gerechtigkeitsbewegung.14 Damit unterstreicht Bond den besonderen Beitrag von Intellektuellen zur kollektiven Selbstimagination, gerade beim Übergang zu postnationalen Konstellationen. 15 Darüber hinaus wird im Zusammenhang der Globalisierungskritik häufig von ›Ikonen‹ und ›Galionsfiguren‹ der Bewegung gesprochen. Tatsächlich zeigt sich, dass ›weibliche Ikonen‹ als allegorische Personifikationen über die ›männlichen‹ Pendants hinaus besondere bildliche Wirkung haben. Naomi Klein steht für die stark ökonomisch argumentierende anti-kapitalistische Strömung. Arundhati Roy vertritt die ›Zweidrittel Welt‹ und einen militanteren Flügel, der die Bekämpfung der Armut und der Vorherrschaft des ›Westens‹ vorantreibt. Für pazifistische und muslimische Globalisierungskritik steht die Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi, die besonders patriarchale Strukturen überwinden will. Wichtig ist, dass transnationale Intellektuelle verschiedene Strömungen der Vielheit der Bewegung repräsentieren, die nicht einfach nur nationale Grenzen überschreiten, sondern fluide Kollektive um Projekte generieren. 16 Folgende Anregungen bieten sich an: Im Selbstverständnis dieser Intellektuellen sind die konstruierten Kategorien Rasse, Klasse, Geschlecht, auch Nation und Religion – wenn auch je in verschiedenem Maße – dekonstruiert. Der Vielfalt der Bewegung wird Rechnung getragen. Die Intellektuellen sind organisch mit dem Ziel ihrer Bewegung verwoben. Lokales und Globales wird verbunden. Repräsentation bezieht sich auf das gesellschaftliche Projekt und ist nicht retrospektiv, identitär homogenisierend.

14 Bond, Patrick: Looting Africa. The Economics of Exploitation, Pietermaritzburg: University of KwaZulu-Natal Press 2006, S. 150, Vgl. auch Bond, Patrick: Strategy and Self-Activity in the Global Justice Movements, Durban: University of Natal/Durban Centre for Social and Development Studies 2001. 15 An anderem Ort schlage ich vor, die Funktionen von Intellektuellen im Kontext von hegemonialen und dissidentischen Diskursen zu unterscheiden. Es lassen sich changierend drei gesellschaftliche Funktionen von Intellektuellen im Nationalstaat sowie in national ausgerichteten Dekolonisationskontexten ausmachen. Dort definiere ich Intellektuelle als Personen, die einen nachhaltigen Einfluss auf die national-kulturalistischen Diskurse im Kontext von Nation und Staat besitzen. Als legitimierende Intellektuelle unterstützen einige den hegemonialen nationalen Diskurs. Dissidentische Diskurse hingegen werden sowohl von widerständischen Intellektuellen, die sich dem hegemonialen Diskurs widersetzen, als auch von entwerfenden Intellektuellen, die Möglichkeitsbedingungen von Gemeinschaftlichkeit jenseits von nationalen Konstellationen imaginieren bzw. instituieren, bestritten, vgl. U. Auga: Intellektuelle – zwischen Dissidenz und Legitimierung. 16 Vgl. U. Auga: Intellektuelle – zwischen Dissidenz und Legitimierung, S. 184191. 202

›MIT DEM FLUSS DURCH DIE WAND‹

Anderseits bleibt die Frage der Gewaltanwendung ein Problem. Die Ausübung von Gewalt beschäftigt nicht nur lokale, sondern auch global agierende Gruppen. Leider bestätigt sich Folgendes: »The fact that a movement is organized as a network or swarm does not guarantee that it is peaceful or democratic.« 17 Während die ›Mainstream‹-Bewegung sich zu Gewaltfreiheit bekennt, hatte sich auf dem WSF in Bombay im Jahr 2004 ein Gegenforum zum WSF gebildet, das aktionsorientierte Mumbai Resistance 2004, auf dem sich 250 linksradikale Gruppen zusammengeschlossen hatten, die auch mit Mitteln der Gewalt agieren wollten. Diese Gruppe war nicht sehr einflussreich, konnte aber Arundhati Roy als Repräsentantin gewinnen. Die Protestbewegungen gegen die Politik der Gruppe der Acht (G8) liefern weitere interessante Beobachtungen über Vielfalt, Organisation und Repräsentation. Ich beziehe mich hier auf den Gipfel der G8 der vom 6. bis 8. Juni 2007 in Heiligendamm (BRD) stattfand. In einer Mitteilung von indymedia.org heißt es: »Trotz massiver Polizeirepression, Einschränkungen von Grundrechten und des Einsatzes von mehr als 16.000 PolizistInnen schafften sie [die GlobalisierungskritikerInnen] es in einem Zusammenspiel verschiedener Aktionsformen, die Zufahrtsstraßen nach Heiligendamm zu blockieren und so den reibungslosen Ablauf des Treffens zu stören. Die Tage zuvor waren geprägt von Aktionen zu den Themen Landwirtschaft, Migration und Krieg. Auf einem Alternativgipfel wurde während der Gipfelzeit über Alternativen zur G8-Politik debattiert. Am Freitag […] schallten dann Sprechchöre durch die Rostocker Innenstadt, die die Gipfelproteste als einen Sieg feierten.« 18

Eine differenzierte und nicht homogenisierte Menge von Protestlerinnen und Protestlern war aus allen Teilen der Welt angereist, um gegen Verantwortliche von Neoliberalismus und Weltzerstörung zu protestieren. Unter der starken Mitwirkung von Attac Deutschland liefen die Aktionen in Rostock und Heiligendamm in Selbstorganisation ab. Einzelne traten als Ideengeber, Sprecherinnen und Katalysatoren von innen hervor. Als die vielfältige Menge des Protestes von der Polizei aufgefordert wurde, nur fünfzig RepräsentantInnen an den Zaun in der Bannmeile zu schicken, überrannten Tausende, wie in einer Schwarmlogik, den Befehl des Souveräns zur Ausgrenzung. Hier stellt die Demonstration von organisiertem, unbewaffnetem Widerstand, der sich selbst verwalten kann, die Souveränität des Nationalstaates in Frage.

17 Hardt, Michael/Negri, Antonio: Multitude. War and Democracy in the Age of Empire, London/New York: Penguin Books 2006, S. 93. 18 G8: Das war der Gipfel, http://de.indymedia.org/g8heiligendamm/index.shtml vom 26.08.2010. 203

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Dieser Widerstand distanzierte sich erstmals öffentlich und deutlich von der Gewalt des autonomen Blocks, der schwarz, uniformiert und damit homogenisiert auftritt. Aber auch bei den Autonomen handelte es sich nicht um eine nationale Gruppe, sondern Angereiste aus aller Welt. Auch hier findet sich Dissidenz zum hegemonialen Empire, aber hinter dem Widerstand, der sich in Gewalt erschöpft, lässt sich kein gesellschaftliches Projekt erkennen. Aus Heiligendamm lässt sich einmal mehr ableiten, dass nicht nur die Herkunft, sondern auch der Widerstand und das Projekt der Kollektivströme und der Individuen der Multitude, der Transnationen und der Intellektuellen nicht homogen sind und in ihrer Vielgestaltigkeit betrachtet werden müssen. Diese widerständischen Gegendiskurse sind jedoch (oft) nicht scharf zu trennen – wie in der weltweiten globalisierungskritischen Bewegung. Bisweilen überlappen sie sich. Darüber hinaus erscheinen, besonders bei der Behandlung lokaler Probleme, aber auch angesichts der globalen Herausforderungen, Allianzen mit vermeintlichen politischen GegnerInnen sinnvoll. Dominante Diskurse lassen sich nicht eindeutig von Gegendiskursen trennen, sondern bilden meines Erachtens dort eine Art ›nachbarschaftliche Diskurse‹, in deren Fokus das gemeinsame gesellschaftliche Projekt steht.

Widerstand und Repräsentation der Multitude Das gefräßige Empire produzierte selbst in Deutschland 2006 – noch vor der andauernden weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise – eine Diskussion darüber, ob es angemessen sei, von neuen ›Unterschichten‹ zu sprechen. Seither hat als politisch korrekte Variante die Rede vom ›Prekariat‹ Hochkonjunktur, immerhin mit der Feststellung, dass prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen nicht auf bestimmte Klassen und Bildungsschichten beschränkt bleiben. Herkömmliche Klassenbeschreibungen definieren die vielfältige Menge der Ausgebeuteten nicht mehr zutreffend. Hardt und Negri beschreiben diese ›vielfältige Menge‹ als die »Multitude« der Ausgebeuteten. Wichtig sei, die Kreativität und Produktivität der Einzelnen zu unterstreichen, selbst wenn sie sich nicht in einem (abhängigen) Arbeitsverhältnis befinden: »The poor is [sic!] destitute, excluded, repressed, exploited – and yet living! It is the common denominator of life, the foundation of the multitude […]: the figure of a transversal, omnipresent, different, mobile subject […].« 19

19 M. Hardt/A. Negri: Empire, S. 156f. 204

›MIT DEM FLUSS DURCH DIE WAND‹

Dieses »neue Proletariat« ist keine »neue industrielle Arbeiterklasse«, sondern es sind all jene, deren Arbeit durch das Kapital ausgebeutet wird, gleich ob es sich um materielle oder immaterielle Arbeit handelt. 20 Zu den Zielen der Multitude gehören die globale Staatsbürgerschaft, um die eigene Mobilität kontrollieren zu können, genauso wie die Wiederaneignung der enteigneten Räume und Produktionsmittel, ein Soziallohn und ein garantiertes Einkommen für alle. Freier Zugang zu und Kontrolle von Wissen, Information, Kommunikation sollen das Recht auf Selbstkontrolle und autonome Selbstreproduktion garantieren. 21 Die politische Machtergreifung soll durch die neue revolutionäre Kraft der »Multitude« gelingen, verstanden als »agent of biopolitical production und resistance against empire«.22 Die richtige Form des Widerstandes liege jedoch nicht in der Repräsentation, sondern in der konstituierenden Aktivität: im biopolitischen Bereich und der Formation von kooperativen Apparaten der Produktion und Gemeinschaft. 23 Mit dem Konzept der »Multitude« wird die Frage nach der kollektiven Imagination, der Repräsentation und der »nachhaltigen Wirkung« sowie der Generierung von Zusammengehörigkeit in den »Gemeinschaftsbewegungen« und damit auch nach Wirkweisen der Intellektuellen neu aufgeworfen. Wie aber soll die Organisation der Multitude als politisches Subjekt gelingen? Hardt und Negri beschreiben in Empire die innovativen Kämpfer und Kämpferinnen der Multitude, als »positive militants«. Diese erinnerten an »intellectuals who were persecuted and exiled in the course of the anti-fascist struggles, the republicans of the Spanish civil war and the European resistance movement, and the freedom fighters of all the anticolonial and anti-imperialist wars«. 24 Während die Beschreibung der Multitude entwurfartig und historisch zugleich zu denken sinnvoll erscheint, ist die Beschreibung der »agents«, »militants« oder »intellectuals« unbefriedigend. Die Einigkeit der Multitude wird

20 So kann eine Widerstandsallianz mit den herkömmlich als ›arbeitslos‹ Bezeichneten, mit unbezahlt Arbeitenden und anderen Personengruppen gelingen, die bisher weitgehend auch durch die Gewerkschaften nicht repräsentiert werden. Dass gleichzeitig Arbeit neu definiert werden muss, wird besonders an den umfassenden Folgen deutlich, die die bisherige Vorstellung von Arbeit und ihrer Verteilung auf die Geschlechterfrage besitzt. Vgl. z.B. Südafrika Desai, Ashwin: We are the Poors. Community Struggles in Post-Apartheid South Africa, New York: Monthly Review Press 2002. 21 M. Hardt/A. Negri: Empire, S. 400-407. Vgl. auch den Forderungskatalog des Weltsozialforums 2005, in: P. Bond: Looting Africa, S. 151f. 22 M. Hardt/A. Negri: Empire, S. 402. 23 Vgl. ebd., S. 413. 24 Ebd., S. 412. 205

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über ihre produzierenden Subjekte gedacht und so zu homogen vorgestellt, denn die historischen Selbstbezüge wie Subjektpositionen sind komplexer, vielfältiger und mehrdeutiger. Hardt und Negri gehen von einer »mass intellectuality« aus, weil sie das Konzept der Repräsentation gänzlich ablehnen, da dieses nur für den Nationalstaat gültig gewesen sei. Die Intellektuellenfrage jedoch diskutieren sie nicht im Kontext des Kollektivstroms und des Übergangs von der Nation zu transnationalen Gebilden. Sie verbleiben in (organischen) Intellektuellenvorstellungen aus dem Kontext des antikolonialen oder Klassenkampfes. Dort konnte die Intellektuellenfrage nie hinreichend gelöst werden, weil die meisten antikapitalistischen Ansätze und nationalen Unabhängigkeitsbewegungen in nationalen und exklusiven Kollektivkörpervorstellungen stehen blieben. 25 In Multitude, dem Nachfolgeband von Empire, ist die Argumentation in Bezug auf die Menge und die Intellektuellen bzw. Intellektualität und die Repräsentation verschoben. Statt »mass intellectuality« zu betonen, wird nun ein Vergleich mit der »Schwarmintelligenz« bemüht, wobei die Multitude als Netzwerk, Schwarm oder Körper beschrieben wird. Zwei Dinge sollen betont werden: Erstens ist Hardt und Negri zufolge die Multitude nicht anarchisch, sondern organisiert, weshalb sie sich letztlich selber regieren könne. Wenn ein Netzwerk attackiere, umschwärme es seinen Feind. Unzählbare unabhängige Kräfte griffen zu einem bestimmten Zeitpunkt von allen Richtungen an und verschwänden dann wieder. Die Netzwerkattacke wird als Schwarm beschrieben, weil sie formlos erscheint. Es besteht kein Zentrum, das eine bestimmte Ordnung diktiert. Trotzdem ist es organisiert, rational und kreativ. Es besitzt eine Technik einer kollektiven und verteilten Problemlösung, ohne zentralisierte Kontrolle und ohne globales Modell – nämlich eine »soziale Schwarmintelligenz«. 26 Zweitens wollen Hardt und Negri die Vielheit in der Einheit erfassen: »The swarms that we see emerging in the new network political organizations […] are composed of a multitude of creative agents. The members of the multitude do not have to become the same or renounce their creativity in order to communicate and operate with each other. They remain different in terms of race, sex, sexuality, and so forth. What we need to understand, then, is the collective intelligence that can emerge from the communication and cooperation of such a varied multiplicity.« 27

Mit der Art der Anrufung ist fraglich, ob die retrospektiven, exklusiven Definitionen von identitätsorientierter Gruppenzugehörigkeit, die Essenzialisie25 Vgl. U. Auga: Intellektuelle – zwischen Dissidenz und Legitimierung, S. 107130. 26 M. Hardt/A. Negri: Multitude, S. 91f. 27 Ebd., S. 92. 206

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rungs- und Hierarchisierungspotenzial verbergen, überwunden werden können? Auch das Verhältnis zu Gewalt ist bei Hardt und Negri kritisch zu betrachten. Da die Ausbeutungssituation in der unvollkommenen Demokratie einen Kriegszustand darstelle, müsse dagegen ein ›demokratischer Krieg‹ geführt werden dürfen. 28 So verwundert es letztlich nicht, dass ihre AktivistInnen und Intellektuellen militante Züge tragen. Interessanterweise kommt der Begriff der Intellektuellen – der noch in Empire eine Rolle spielte – in Multitude gar nicht mehr vor. Das ist sicher auch der Tatsache geschuldet, dass der Text an AktivistInnen adressiert ist und man bei diesen Vorbehalte gegenüber einem fälschlicherweise ›bourgeoise‹ verstandenen Begriff der Intellektuellen vermutet. Es bleibt außerdem kritisch anzumerken, dass Repräsentation nur in Bezug auf eine Weltorganisation untersucht wird, die dem neoliberalen Empire die Stirn bieten könnte, nicht jedoch konsequent die Vorgänge, die sich im ›Inneren‹ der Multitude oder Transnation vollziehen. Was aber lässt sich dort beobachten? Anders als Hardt und Negri beschreibt etwa Franco Barchiesi einen Streik an der Engen-Ölraffinerie (Durban), wo aus einem reinen Arbeitskampf ein Gemeindeanliegen wurde, das auch Arbeitslose mit trugen. Es zeigt sich, dass die Bewegung nicht initiiert und ausgebaut oder repräsentiert worden wäre ohne die Formation von Einzelpersonen. Diese kanalisierten Aktionen, indem sie versuchten, Möglichkeiten für zuvor nicht wahrgenommenes politisches Terrain zu öffnen. Sie begleiteten die Aktionen durch ihre schriftliche Kritik und gaben ihnen dadurch eine besondere Öffentlichkeit. 29 Weil jedoch einige Beteiligte ihre Position missbrauchten, fällt Barchiesi vorschnell ein undifferenziertes, negatives Urteil über Intellektuelle.30 Heinrich E. Boehmke bemerkt dazu, dass das Selbstverständnis des katalysierenden Kerns einer Bewegung vielfältig sei. Viele der Beteiligten sähen sich trotz des Fehlens einer Partei als eine Vorhut alten Stils und fassten »die Armen« irrtümlicherweise als Masse alter Konstruktionen auf. 31 Trevor Ngwane spräche im Ton der staatlichen Einordnung der Intellektuellen in den sozialistischen Regimes von einer »socialist intelligentsia«.32 Boehmke nennt es »roll-up-your sleeves kind of representivity«.33 Hier nimmt Boehmke Hardt und Negri deutlich auf, aber verwirft den Repräsentationsgedanken 28 Vgl. ebd., S. 341-347. 29 Vgl. Barchiesi, Franco: »Classes, Multitudes and the Politics of Community Movements in Post-Apartheid South Africa«, in: How Class Works Conference, State University of New York: Stony Brook 2004, S. 1-40. 30 Vgl. F. Barchiesi: »Classes«, S. 28f. 31 Vgl. Boehmke, Heinrich E.: »Reply to Franco Barchiesi, Classes, Multitudes and the Politics of Community Movements in Post-Apartheid South Africa«, in: MS (2004), S. 1-12. 32 Vgl. ebd., S. 11/Anm. 9. 33 Vgl. ebd., S. 9. 207

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nicht völlig. Diese Formation »re-präsentiert«, indem sich die Personen in die Kämpfe einlassen, die ohne sie nicht stattgefunden hätten. Sie reagieren in Einklang mit ihrem eigenen politischen, persönlichen und ästhetischen Anspruch und wirken, indem sie die Multitude »bewegen«, »maßschneidern« oder »führen«. Dann jedoch erfolgt eine Verschiebung der Argumentation: »Occasionally, ›organic leaders‹ from within the poor are energized enough to be taken up into this priestly cast«.34 Die Anspielung auf Gramscis organische und traditionelle Intellektuelle – zu Letzteren gehören auch Priester – ist offensichtlich. Allerdings verkürzt er Gramsci. Organisch bedeutet bei Boehmke letztlich nicht die Involvierung in das Projekt der Bewegung, sondern er bestimmt die Intellektuellen nun nach ihrer Herkunft: »I am not bemoaning this state of affairs or pleading for organicity, authenticity or poorism. I have no problems with shadowy or petit-bourgeois intellectuals.« 35 Meines Erachtens besteht bei Barchiesi wie bei Boehmke ein Bruch zwischen der zutreffenden Beschreibung der Gemeinschaftsbewegungen und der Intellektuellen als Kerngruppe einerseits und ihrer Scheu vor dem Begriff der Intellektuellen anderseits, die sich auch schon bei Hardt und Negri ausmachen ließ – ein Bruch, der an die Rhetorik nationaler Dekolonisationsbewegungen und ihrer »kolonisierten Intellektuellen« (Frantz Fanon) anzuschließen scheint. Besonders problematisch bleiben im Kontext der Repräsentation neben der zweideutigen Bewertung der Intellektuellen Fragen der Hierarchie der Geschlechterordnung in den neuen sozialen Bewegungen. 36 Shireen Hassim beobachtet für Südafrika, dass es auf der Ebene dominanter nationalstaatlicher Diskurse – und das lässt sich für real existierende Demokratien, die Nationalstaatlichkeit mit Kapitalismus verbinden, verallgemeinern –, dass es dort auf staatlicher Ebene keine angemessene Repräsentation, insbesondere von armen Frauen gebe. Anderseits würden Geschlechterfragen nur dort verhandelt, wo es um scheinbare Frauenfragen gehe, wie Schwangerschaftsabbruch, aber nicht solche, die die Geschlechterhierarchie tatsächlich nachhaltig in Frage stellten, z.B. Fragen der patriarchalen Traditionen und der epistemischen Gewalt. Außerdem greife Gleichheitsfeminismus allein zu kurz, denn es müsse um wirkliche politische Transformationen gehen, und die werden durch Geschlechtergleichstellungsforderungen nur begrenzt angestoßen. 37 So komme es zu einer Depolitisierung der kritischen feministischen 34 Ebd., S. 11. 35 Ebd., S. 12. 36 Vgl. Gumede, William/Dikeni, Lesli (Hg.): The Poverty of Ideas. South African Democracy and the Retreat of Intellectuals, Jacana: Auckland Park 2009. 37 Vgl. Hassim, Shireen: »Gender and policy-making: terms of engagement«, in: W. Gumede, L. Dikini (Hg.), The Poverty of Ideas. South African democracy and the retreat of Intellectuals, S. 169-189, hier S. 182. 208

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Gegendiskurse. Hassim kritisiert jedoch auch die neuen Gemeinschaftsbewegungen: »[S]ocial movements in South Africa are profoundly gendered and unequal«. 38 Dawn Paley fragt: »How is it that black women can make up the bulk of the membership of the movements against neo-liberal policies and be so marginalised in the functioning of these organisations?« 39 Basis der Generierung von Hierarchie und Ausschluss sind essenzialisierte Kollektivkörpervorstellungen. Das Nationenkonzept und die exkludierenden Prozesse der Natiogenese, das heißt der Selbstimagination durch Ausschluss der ›Anderen‹ und einer Geschlechterhierarchisierung im Inneren, sind theoretisch zwar schon lange herausgearbeitet worden, aber in weiten Teilen des traditionellen linken Aktivismus und bisher auch der jüngeren globalisierungskritischen Bewegung nie angemessen umgesetzt worden. Das Nationenkonzept bleibt im hegemonialen Diskurs der ›westlichen‹ Nationalstaaten, wie sie nach der Französischen Revolution entstanden, die dominierende Kollektivgröße, auch wenn sie mit der Globalisierung an Einfluss verlieren. Aber auch die dominante marxistisch-leninistisch-stalinistische Tradition konnte das Verhältnis zwischen Internationalismus und Nationalismus nie hinreichend klären und bezog sich letztlich auf die Nation, auch in den als national verstandenen Dekolonisationsbewegungen.40 Dieses historische Versäumnis ist mit verantwortlich für binäre, hierarchische, heteronormierende Geschlechterkonstruktionen, Homophobie sowie Rassismus und Xenophobie sowohl im nationalstaatlichen Kontext mit Demokratie und Kapitalismus, als auch im real existierenden (nationalen) Sozialismus, als auch in nationalen Dekolonisationsbewegungen und den folgenden ›Nation building‹-Prozessen. Diese Formen von (epistemischer) Gewalt finden sich in den neuen Gemeinschaftsbewegungen, sobald diese gegen ihre ursprüngliche Intention der Konstitution via gemeinsames gesellschaftliches Projekt mit durchlässiger und fluider Kollektivstromvorstellung beginnen, sich als neo-traditionalistischer, nationaler oder neo-fundamentalistischer, das heißt essenzialisierter Kollektivkörper zu verstehen.

38 Ebd., S. 181 39 Paley, Dawn: »Women pushed aside as men seek power«, 2004, www.rabble.ca. vom 18.02.2011. 40 Die Intellektuellen werden von der Rechten wie von der Mehrheit der Linken aus nationalistischen Gründen kritisiert. Parallel zur widersprüchlichen Gewichtung von Internationalismus und Nationalismus in der marxistisch-leninistischstalinistischen Tradition und bei den BefreiungstheoretikerInnen verläuft die Unsicherheit in der Bewertung der Intellektuellen. 209

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Universalismen, Subjektformation, Handlungsfähigkeit und der utopische Entwurf in Richtung Gleichfreiheit Meine Frage war, wie unter Globalisierungsbedingungen in neuen kollektiven Mobilisierungen Repräsentation und Geschlecht formiert werden. Es zeigte sich, dass sich die Generierung epistemischer Gewalt, wie sie aus nationalen Konstruktionen bekannt ist, fortschreibt. Die gegenwärtige kritische Universalismusdiskussion nimmt Bezug auf die imaginierten neuen Gemeinschaftskonstitutionen, reagiert auf die Frage nach Repräsentation und versucht epistemische Gewalt zu vermeiden. 41 Geeignet, bei dieser Diskussion weiterzuführen, erscheint besonders Etienne Balibars Unterscheidung in drei Universalismen, das Universelle als Realität, das Universelle als Fiktion und das Universelle als Idealität. Die reale Universalität ist die gegenwärtige historische Etappe, in der die gesamte Menschheit zum ersten Mal zur tatsächlichen Existenzbedingung der menschlichen Individuen geworden ist. Mittels des globalen Kommunikationsnetzes besitzt jedes Individuum ein Zerrbild von allen anderen. Leider generiert dieses Kommunikationsnetz keine wechselseitige Anerkennung, sondern entspricht eher einer Verallgemeinerung der Ausgrenzung.42 Die Globalisierung vervielfacht die Minderheiten und macht gleichzeitig eine einfache Zuordnung immer schwieriger. Die ›identity politics‹ oder die Strategien der Verteidigung der Identität sind letztlich Methoden des Widerstands gegen die Ungleichheit als Form der Universalität. Sie sind hierzu jedoch letztlich ungeeignet, weil das Verständnis von Ungleichheiten als essenzialisierte Größen die Exklusion und Homogenisierung wieder herbeibringt. Balibar fragt, »wie sich der Widerstand universalisieren lässt, ohne dass dadurch die Vorstellung der Identitäten als exklusiver Alterität vom System unablässig reproduziert und ausgenutzt, gefestigt und sanktioniert wird«.43 Das gelingt nur, wenn die Verwobenheit der verschiedenen Universalitäten beachtet wird. Die fiktive Universalität ist in der Konstitution von geschichtlichen und gesellschaftlichen Hegemonien impliziert. Sie ist immer mit staatlichen Institutionen oder Apparaten verbunden, seien sie traditionell oder modern, religiös oder säkularisiert. Es scheint nur die Möglichkeit zu bestehen, die persönliche Identität reduziert auf eine einzige (vorbestimmte) (Gruppen-)Zugehörigkeit zu denken, obgleich die Subjektpositionen komplexer sind. Wählte 41 Vgl. Butler, Judith/Laclau, Ernesto/Žižek, Slavoj: Contingency, Hegemony, Universality, London/New York: Verso 2000. 42 Vgl. Balibar, Étienne: Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität, übers. v. Thomas Laugstien, Hamburg: Hamburger Edition 2006, S. 290. 43 Ebd., S. 311. 210

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man die Fluktuation zwischen einer Unzahl von Zufallsidentitäten, gäbe man sich der Ausgrenzung preis. 44 »[Die] ›substantielle‹ Gemeinschaftsidentität, die von den hegemonialen Institutionen hervorgebracht und reproduziert wird […], ist die Krönung des gesamten Normalisierungs- und Ausgrenzungssystems, denn sie ist das stärkste historische Instrument (gewesen), um die sozialen Kämpfe zu durchstaatlichen.« 45

So verliert die nationale Identität ihren hegemonialen Charakter. Jedoch könnten andere »totale Ideologien« – auch innerhalb des Widerstandes gegen das neoliberale Empire – mit ihren Apparaten fiktive Universalität und substanzielle Gemeinschaftsidentität erzeugen. Das subversive Element der Hegemonie ist die ideale Universalität. Sie reklamiert, dass als Ideal eine Freiheit ohne Gleichheit und eine Gleichheit ohne Freiheit unmöglich ist. Solche ›Gleichfreiheit‹ agiert nicht mittels konstruierter (Gruppen-)Grenzen. Ein solches Ideal von Universalität ist auf die Erfindung einer neuen Sprache gerichtet, die die Schranken der öffentlichen Kommunikation sprengt. Es zeige sich »vor allem an der Bewegung der ›paradoxen Klassen‹, die nicht die Rechte einer besonderen Gruppe im Namen eben dieser Besonderheit verteidigen, sondern stattdessen erklären, [… ihre] Ausgrenzung stelle eine Negation der Humanität dar. Die so verstandene ideale Universalität ist vielfältig zersplittert, aber dennoch unbedingt.« 46

Balibar folgert, dass es gegen die herrschende Universalität oder gegen das bestehende System keine gewissermaßen natürliche Front der ›Ausgegrenzten‹ oder ›Minoritäten‹ gibt. Solche Einheit muss hergestellt werden und sie muss Gegenstand einer (freiheitlichen) Entscheidung sein, die sich der Endlichkeit und Ambivalenz bewusst ist.47 Im Zuge der sich verstärkenden Prekarisierung, biopolitischen Regulierung und staatlichen sozialen Fürsorge- und Sicherheitsverletzungen unter neoliberalen Bedingungen werden immer mehr solche Orte der Negation der Humanität und des Widerstandes bekannt. João Biehl hat mit der Beschreibung des Lagers »Vita« in Brasilien ein Symbol für Zonen der sozialen Verlassenheit und des ›human dumping‹ geschaffen. Angesichts des »sterben Lassens« durch den Souverän erlangen »gemeinschaftsbasierte Organisatio44 Die innere Ausgrenzung bezieht sich auf besonderes Begehren oder die Handlungsfähigkeit des Individuums. Die gesellschaftliche Ausgrenzung entsteht wegen abweichender Verhaltensweisen und Zusammenschlüsse. 45 É. Balibar: Der Schauplatz, S. 312. 46 Ebd., S. 313. 47 Ebd., S. 313f. 211

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nen« den Status von »Leben gewährenden Organisationen«. In Südafrika sind es angesichts der staatlich verschuldeten HIV/AIDS-Krise bemerkenswerterweise in der Mehrzahl Frauen, die die praktischen Bedürfnisse erfüllen, die Kranken, Kinder und Alten versorgen, die Beerdigungen bezahlen, (Kinder-) Vergewaltiger selber festnehmen. Diese enormen Belastungen bergen jedoch politische Chancen. Es entstehen Räume und Projekte, die immer wieder zur individuellen und kollektiven Subjektivierung herausfordern: »[W]omen often have to cross cultural barriers of privacy and respect, renegotiating cultural and traditional practices and redefining social roles in the process. [… They gain an] enormous degree of agency.« 48 Es scheint bei einer angemessenen Diskussion von Freiheit und gelingendem Leben weniger um die Frage der Repräsentation als vielmehr der agency zu gehen, die aufscheint in performativen Akten, in denen Subjektformation und Handlungsfähigkeit in oppressiven Situationen erlangt werden, obgleich die Subordination nicht überwunden wird. Das Konzept der Handlungsfähigkeit sollte also von teleologischen Diskursen emanzipatorischer Politik abgetrennt werden. Anderseits wurde Foucault in der Auseinandersetzung um sein Verständnis von Repräsentation und Subjektwerdung vorgeworfen, er gehe verkürzt von einem westlichen, männlichen Subjekt aus, welches sich äußern könne. Diese Kritik greift zu kurz. Saba Mahmood unterstreicht nämlich die Historizität und Kontextualität und überraschende Natur von agency: »[…] the meaning of agency must be explored within the grammar of concepts within which it resides. […] we should keep the meaning of agency open and allow it to emerge from within ›semantic and institutional networks that define and make possible particular ways of relating to people, things, and oneself‹.« 49

Damit wird aber auch deutlich, dass erstens das radikal demokratische Gesellschaftsprojekt noch offener vorgestellt werden müsste und mit einer Vielzahl von widerständischen und entwerfenden Diskursen zu rechnen ist. Zweitens ist aber auch mit Gewinn von Handlungsfähigkeit in Sphären, Wissensfeldern, Körpern und Erfahrungen zu rechnen, an die bisher im »westlichen« Diskurs nicht gedacht war – z.B. im religiösen Bereich. Drittens scheint es für ein gewaltloses Übereinkommen von subjektiver, individueller und gemeinschaftlicher Handlungsfähigkeit nötig, mit einem offenen, visionären, vielleicht prophetischen Konzept zu arbeiten. Auch José Esteban Muñoz schlägt

48 Sh. Hassim: »Gender«, S. 181. Und in Argentinien geben ausgerechnet Transsexuelle, die besonders am Rande der Gesellschaft stehen, Suppe in Armenküchen aus und können so neue Allianzen schließen. 49 Mahmood, Saba: Politics of Piety. The Islamic Revival and the Feminist Subject, Princeton: Princeton University Press 2005, S. 22. 212

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für die Gender- und Queer-Theorie vor, einen Utopiebegriff der Hoffnung und Relationalität wiederzugewinnen: »The here and now is a prison house. We must strive, in the face of the here and now’s totalizing rendering of reality, to think and feel a then and there. Some will say that all we have are the pleasures of this moment, but we must never settle for that minimal transport; we dream and enact new and better pleasures, other ways of being in the world, and ultimately new worlds.« 50

Dabei muss schließlich die Notwendigkeit queerer politischer bzw. gesellschaftlicher Imagination unterstrichen werden, denn ohne diese laufen Befreiungs- wie Gender- und Queer-Theorien allzu leicht Gefahr, zu pragmatischen ›Mainstream‹-Assimilationen zu verkommen.51 Damit wird deutlich: Das Interessante ist jeweils nicht das, was ich bin oder wir sind, sondern das, was wir im Begriff sind zu werden.

50 Muñoz, José Esteban: Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity, New York: New York University Press 2004, S. 1. 51 Muñoz beschreibt »queerness as collectivity«, als eine ideale Kollektivität einer »Queer Futurity«, die dem emanzipatorischen Richtungssinn einen Anstoß gibt, vgl. ebd., S. 11. 213

Kunst und Wissen

Das Theater des Marquis de Sade UTE FRIETSCH

»Können wir unser Streben nach Universalität befriedigen, ohne auf unsere Individualität zu verzichten? Oder müssen wir aufgeben, was uns unterscheidet, wenn wir uns in die Gemeinschaft einordnen wollen?«1 So fragte Simone de Beauvoir in einem Artikel mit dem schönen Titel Soll man de Sade verbrennen?, der 1951/52 in der Zeitschrift Les Temps Modernes erschien. Die erste Frage lässt sich als spezifisch modern bezeichnen (woraus dann auch der Titel, aufgrund des Gegensatzes, seinen Reiz bezieht). Das moderne Konzept der Universalität wird gleichsam als existenziell vorausgesetzt. Individualität und Universalität sind einander entgegengesetzt, Universalität und Gemeinschaft zeigen sich hingegen als Verbündete. Implizit wird Sexualität, das Ausagieren von (›abnormer‹) sexueller Phantasie – denn das repräsentiert der Signalname de Sade – als besonders charakteristisch, wenn nicht gar als das Eigentümliche der Individualität aufgefasst. De Beauvoir widmet sich der »allgemein menschliche[n] Bedeutung« von de Sades Leben und Literatur. 2 Sie versteht de Sades Literatur als »ein umfassendes System«, das er ausgearbeitet habe, um seine »Anomalien« zu »rechtfertigen«, »anstatt sie als etwas von der Natur Gegebenes hinzunehmen«.3 Den Horizont von de Beauvoirs Fragestellung bilden Ansätze der modernen Psychologie und Psychoanalyse. Psychoanalytischen Konzeptionen zufolge muss die individuelle Sexualität in gesellschaftlich konforme Muster überführt werden – und insofern in ihrer individuellen Gestalt aufgegeben werden: So, wenn der Junge/Mann sich am väterlichen Gesetz orientiert, anstatt an seine Mutter als Liebespartnerin zu

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De Beauvoir, Simone: »Soll man de Sade verbrennen?«, in: Dies., Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus, Deutsch von Alfred Zeller, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, S. 7-76, hier S. 10. Ebd. Ebd. 217

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denken; 4 oder wenn das Gebären eines Kindes als Kastration gefasst wird. 5 Die Gegenüberstellung von individueller Sexualität und Universalität, Gesetz oder Gemeinschaft drängt sich in der Moderne als Erzählmuster auf, selbst wenn man, wie de Beauvoir, ein ambivalentes Verhältnis zu Psychologie und Psychoanalyse hat. Darauf, dass dieses Erzählmuster kritisch zu hinterfragen ist, wenn ihm auch nicht so leicht zu entkommen ist, deutet bereits die Struktur des Entweder-oder in de Beauvoirs Frage hin, die auf eine Pathologisierung von Sexualität hinausläuft. In der Geschlechterforschung wird die Erzählung dementsprechend auf vielfältige Weise variiert: Christina von Braun etwa erzählt sie in ihrer Darstellung der Geschichte der Hysterie gegen den Strich, indem sie die These aufstellt, dass sich die Geschichte der abendländischen Kultur als Geschichte der Vernichtung des Menschen als Sexualwesen verstehen lasse und Hysterie ein Symptom der Verweigerung angesichts dieser Vernichtung sei. 6 In dieser Perspektive rückt die abendländische Kultur in die Position von Universalität, Gesetz oder Gemeinschaft. Die Unterordnung des Sexualwesens ist aus diesem Blickwinkel weniger ein Gebot der Vernunft als ein Akt der Vernichtung. Das Gegensatzpaar von Universalität und Individualität wurde zu Beginn der Moderne gebildet, also zu Lebzeiten des Marquis de Sade. Es wie de Beauvoir auf de Sade zu beziehen, ist insofern nicht anachronistisch – es ist vielmehr bezwingend schlüssig, wenngleich analytisch zirkulär: De Sade verfasste seine Werke in Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution, die dem philosophisch Universalen politisch zur Macht verhalf. 7 Er war Zeitgenosse zwar nicht der Psychoanalyse, jedoch der Genese der Psychiatrie. Und sie ließ ihn nicht untangiert. Das Leben des Marquis, das 1740 in einem herrschaftlichen Palast in Paris begann und 1814 in der Irrenanstalt Charenton-Saint-Maurice sein Ende fand, lässt sich in Hinblick auf die Frage nach der Chance des Individuellen in der abendländischen Kultur als Fundgrube betrachten. In dem Phänomen de Sade werden die impliziten Doppelbedeutungen von Aufklärung (als philosophisch-politische Aufklärung und Sexualaufklärung) sowie Libertinage (als sowohl geistiges wie sinnliches Konzept) sowohl freigesetzt und entfaltet wie 4

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Vgl. Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, XXI. Vorlesung, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 11, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1973, S. 331-350 und passim. Vgl. Kristeva, Julia: »Stabat Mater«, in: Dies., Geschichten von der Liebe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 226-255. Vgl. von Braun, Christina: Nicht ich. Logik – Lüge – Libido, Frankfurt a.M.: Verlag Neue Kritik 1994, S. 15 und passim. Jacques Lacan hat 1962 die analoge Verfasstheit der kantschen und der de sadeschen Denkweise aus psychoanalytischer Perspektive dargelegt, vgl. Lacan, Jacques: »Kant mit Sade«, in: Ders., Das Werk von Jacques Lacan. Schriften II, hg. von Norbert Haas, Weinheim/Berlin: Quadriga 1991, S. 133-163.

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DAS THEATER DES MARQUIS DE SADE

unterbunden. 8 De Sades Konflikte mit dem Ancien Régime, der Französischen Revolution und der napoleonischen Monarchie werfen insofern Lichter auf die beginnende Moderne, die so erhellend sind, dass sie es gestatten, sich im Rahmen eines Essays mit seinem Leben und seinem Schreiben, mit dem biographischen Text und dem modernen Phänomen de Sade – statt detailliert mit seinen Schriften – zu befassen. Dies soll in der folgenden Skizze unternommen werden. Im Mittelpunkt steht dabei das Theaterspiel des Marquis, insbesondere seine Aufführungen in der Irrenanstalt Saint-Maurice in Charenton, unweit von Paris, zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Ich gehe ausschnitthaft vor und lasse mich von mehreren biographisch tradierten Bildern leiten: De Sade in der Bastille, de Sade und Charlotte Corday, de Sade in Charenton. De Sades Wirken in Charenton stelle ich die Untersuchungen der Hysterie durch Jean-Martin Charcot gegenüber, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Pariser Irrenanstalt La Salpêtrière zu theatralischen Inszenierungen führten. Bei dieser Gegenüberstellung geht es mir darum, den Zusammenhang der historisch differenten Situationen aufzuzeigen. Die Skizze kann als alternative , Narration verstanden werden, alternativ etwa zu Peter Weiss Theaterstück Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, das am Ende des Beitrags nochmals Erwähnung findet.9

De Sade in der Bastille Zur Zeit der revolutionären Unruhen im Jahr 1789 befanden sich nur wenige Gefangene in dem Pariser Gefängnis Bastille, dessen Stürmung dennoch zu dem Symbol der Französischen Revolution wurde. Unter den Gefangenen war der für seinen libertinären Lebenswandel über die Grenzen Frankreichs hinaus berüchtigte Marquis de Sade.10 De Sade verbrachte viele Jahre in Verwahranstalten. 1778 war er auf Veranlassung seiner Familie mittels einer Lettre de cachet – und dies hieß: ohne ordentliches Gerichtsverfahren – in Vincennes 8

Zum Begriff des Libertins vgl. Schneider, Gerhard: Der Libertin. Zur Geistesund Sozialgeschichte des Bürgertums im 16. und 17. Jahrhundert, Stuttgart: Metzler 1970, S. 35-39, S. 244-246. Zur Doppelbedeutung von Aufklärung als ›Age of Enlightenment‹ und ›sex enlightenment‹ vgl. Frietsch, Ute: »Der Wille zum Tabu als Wille zum Wissen«, in: Dies. u.a. (Hg.), Geschlecht als Tabu. Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung von Geschlecht, Bielefeld: transcript 2008, S. 9-16. 9 Weiss, Peter: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. Drama in zwei Akten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1966. 10 De Sades Ausschweifungen waren so spektakulär, dass sie sogar in der internationalen Presse Erwähnung fanden. Hinsichtlich der Biographie de Sades stütze ich mich auf Lever, Maurice: Marquis de Sade. Die Biographie, Wien und München: Europaverlag 1995, S. 174-177. 219

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inhaftiert worden, von wo aus er 1784 in die Bastille verlegt wurde.11 Die Familie des Marquis wollte durch den Freiheitsentzug einer weiteren Schädigung ihres Rufes zuvorkommen, die insbesondere durch de Sades Gewaltausübung gegen Prostituierte bewirkt worden war. 12 De Sade war wegen seiner Vergehen bereits in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden, seine Inhaftierung bedeutete insofern eine Abmilderung des Urteils. Die Umgehung eines ordentlichen Verfahrens war dem Wunsch nach Vermeidung öffentlichen Aufsehens geschuldet. Als Angehöriger des Hochadels genoss de Sade in der Bastille eine bevorzugte Behandlung: Er stattete seine Zelle mit Tapeten und Möbeln aus und ließ sich Bücher im Umfang einer Privatbibliothek beschaffen. Er informierte sich außerdem mittels Broschüren der Pariser Theater, die ihm seine Frau Renée-Pélagie de Sade, geborene de Montreuil, ins Gefängnis brachte, über die laufenden Aufführungen. 13 Unter den Bedingungen der Haft wurde seine zuvor eher gelegentlich ausgeübte schriftstellerische Tätigkeit für de Sade zum eigentlichen Lebensinhalt. Der Großteil seiner Werke entstand im Verlauf seiner ersten längeren Gefangenschaft in Versailles und der Bastille. Neben Romanen und Erzählungen verfasste er Theaterstücke. Er spekulierte auf eine Aufführung an einer der etablierten Bühnen: der Pariser Oper, der ComédieFrançaise oder der Comédie-Italienne. 14 Der Marquis war an einer Wirksamkeit in der Öffentlichkeit orientiert, die ihm in der Haft versagt war. Er war dabei Realist genug, um einzusehen, dass er seine Theaterstücke an die öffentliche Meinung anpassen musste, wenn er eine Chance haben wollte, aufgeführt zu werden. De Sade verfasste sowohl Schriften, die als sittenkonform und daher unproblematisch wahrgenommen wurden, wie Schriften, die gegen die Sitten verstießen. Abhängig von dieser moralischen Ausrichtung schrieb er sie entweder offen oder heimlich. Die sittenkonformen Texte veröffentlichte er, wenn möglich, unter eigenem Namen, die sittenwidrigen anonym. Anonymität war allerdings angesichts seines Bekanntheitsgrades schwer aufrechtzuerhalten.

11 Zu den Lettres de cachet vgl. Foucault, Michel/Farge, Arlette (Hg.): Familiäre Konflikte. Die ›Lettres de cachet‹. Aus den Archiven der Bastille im 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, sowie Foucault, Michel: Das Leben der infamen Menschen, Berlin: Merve 2001. 12 Er hatte sich zu diesem Zeitpunkt ›Sodomie‹ (Analverkehr) zuschulden kommen lassen, die mit der Todesstrafe geahndet werden konnte, sowie die Vergiftung von Prostituierten mit Kantharidinbonbons. Es war außerdem bekannt, dass er Prostituierte peitschte und sich von ihnen peitschen ließ, vgl. M. Lever: Marquis de Sade, S. 157-179, S. 198-222. 13 Zu de Sades Interesse am Theater und zu seinen eigenen Theaterstücken vgl. Bauer, Cerstin: Triumph der Tugend. Das dramatische Werk des Marquis de Sade, Bonn: Romanistischer Verlag 1994, S. 75. 14 Ebd., S. 163. 220

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Von der Bastille nach Charenton Die Anstaltsleitung der Bastille betrachtete sich als nicht wirklich zuständig für Verstöße gegen die Sitten – ein Umstand, der bei de Sades Internierungen des Öfteren geltend gemacht wurde: Man sah sich zwar verpflichtet, den wüsten Marquis aus der Öffentlichkeit zu entfernen, wusste sich jedoch kaum Rat, welche Institution geeignet wäre, ihn zu disziplinieren. Zudem betrug sich de Sade in der Haft weiterhin sexuell provokativ und entwickelte eine Verweigerungshaltung, die sich – so die These dieses Essays – als hysterisch bezeichnen lässt. Eine seiner Ausschreitungen – in diesem Fall eher politischer als obszöner Art – hatte seine Entlassung aus der Bastille und seine erste Überführung nach Charenton zur Folge. Der Marquis, über die revolutionären Unruhen in Paris informiert, beugte sich am 2. Juli 1789 aus dem Fenster seiner Zelle und rief den Vorbeigehenden mittels eines Metalltrichters, der üblicherweise seiner Hygiene diente, zu, die Gefangenen würden in der Bastille getötet, man müsse sie befreien.15 In Anbetracht der drohenden Revolution, gegen welche die Bastille notfalls militärisch verteidigt werden sollte, galt seine Anwesenheit nun als Sicherheitsrisiko. Er wurde des Nachts in das Hospiz Charenton-Saint-Maurice überführt. Das Hospiz, kurz ›Charenton‹ genannt, stand unter der Führung von Geistlichen. Es war bereits bei seiner Gründung als Kloster im Jahr 1670 für Irre geöffnet worden und nahm um 1800 außerdem Libertins und mittels einer Lettre de cachet inhaftierte Personen auf. 16 In der Bastille zurück blieben Tausende von Manuskriptseiten und -rollen, die de Sade in den Jahren seiner Haft verfasst hatte. Die versiegelte Zelle wurde zwölf Tage darauf von der Pariser Bevölkerung erstürmt, wobei zahlreiche Manuskripte der Zerstörung anheimfielen oder verstreut wurden. Der Marquis machte es seiner Frau zum Vorwurf, dass sie sich nicht rechtzeitig um seine Schriften gekümmert habe.17 In Charenton blieb er neun Monate. Am 2. April 1790 trat eine generelle Amnestie aller während des Ancien Régime durch eine Lettre de cachet Inhaftierten in Kraft. Wenn sie auch viele seiner Schriften zerstörte, so befreite die Revolution de Sade doch zur professionellen Schriftstellerei: Angesichts

15 Vgl. M. Lever: Marquis de Sade, S. 352-354. 16 Zur Geschichte dieser Institution vgl. Pinon, Pierre: »Charenton avant Esquirol et Gilbert«, in: Ders., L’Hospice de Charenton. Temple de la raison ou folie de l’archéologie, Brüssel: Mardaga 1989, S. 67-97. 17 Die Marquise erwirkte nach seiner Entlassung aus der Bastille die Scheidung, vgl. M. Lever: Marquis de Sade, S. 354-369. 221

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der Herrschaft des Bürgertums fasste er nun den Lohnberuf des Schriftstellers für sich ins Auge. 18

De Sades Theaterstücke Von de Sade sind 21 Theaterstücke (Dramen und Komödien) überliefert, die zwischen 1772 und 1812 entstanden. De Sade lernte bereits in seiner Schulzeit in einem Jesuitenkolleg das Laientheater kennen.19 1764, ein Jahr nach seiner Eheschließung, die ihm einen größeren finanziellen Spielraum verschaffte, begann er, Romane und Erzählungen anderer Autoren für die Bühne umzuschreiben und die théâtres de société – das in Schlössern von Adelsfamilien gepflegte Laientheater – für Inszenierungen zu nutzen.20 In seinem Schloss in La Coste baute er eigens ein Theater aus. Für die Aufführungen engagierte er professionelle Pariser Schauspieler und Schauspielerinnen sowie Tänzerinnen, die gemeinsam mit Laiendarstellern und -darstellerinnen – de Sade selbst, Mitgliedern seiner Familie, Freunden und Freundinnen sowie Bekannten – in La Coste sowie in einem benachbarten Provinztheater auftraten. 21 Aus dem Jahr 1772 ist ein detaillierter Spielplan überliefert.22 Sein erstes eigenes Drama soll ebenfalls 1772 verfasst sein. 23 De Sades Theaterstücke sind insgesamt stark autobiographisch geprägt.24 Ihr zentrales Thema ist die Moral. Moral wurde in der gesellschaftlichen Umbruchzeit von Adel und Bürgertum kontrovers konzipiert und lieferte generell den Konfliktstoff, der das Leben des Marquis bestimmte. De Sade orientierte sich in den Aussagen seiner Stücke an den Ansichten des Bürgertums, ließ sie allerdings überwiegend in adeligen Milieus spielen, die ihm besser bekannt waren. In den Stücken werden Tugend und Laster einander gegenübergestellt, der Libertin wird vorgeführt und verurteilt. Die Thematik deckt sich mit jener der epischen Werke, die Aussage ist jedoch die entgegengesetzte und die Exzesse sind generell stark zurückgenommen.

18 Noch für seinen Vater, der ebenfalls gelegentlich schrieb, wären Veröffentlichungen als ehrenrührig betrachtet worden; dies galt verstärkt für die Theaterarbeit, vgl. M. Lever: Marquis de Sade, S. 196f., S. 345. 19 Vgl. ebd., S. 75f. 20 Vgl. ebd., S. 133-135. 21 Es lässt sich von einer Parallele zwischen den sexuellen Inszenierungen de Sades (außerhalb sowie innerhalb der Familie) und seinen Theaterinszenierungen ausgehen, vgl. M. Lever, S. 144f., 148-150, S. 195-197. 22 Vgl. C. Bauer: Triumph der Tugend, S. 66f. 23 Zu de Sades frühen Stücken vgl. ebd., S. 114-163. 24 Vgl. de Sade, Donatien Alphonse Francois: Théâtre I-III, in: Ders., Œuvres complètes du Marquis de Sade, hg. von Annie Le Brun und Jean-Jacques Pauvert, Bde. 13-15, Paris: Fayard 1991. 222

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Aus der Haft entlassen, bot de Sade die Stücke, deren er noch habhaft werden konnte, unterschiedlichen Pariser Theatern zur Aufführung an. Als Theaterautor hatte er allerdings wegen seines schlechten Rufes und seiner adeligen Abstammung nur geringen Erfolg. Insgesamt wurden nur zwei seiner Stücke vom Théâtre Molière und dem Théâtre-Italien in Paris sowie dem Théâtre de la Société Dramatique in Versailles zur Aufführung gebracht. In einem Stück trat de Sade selbst auf die Bühne: Bezeichnenderweise wählte er für sich die Rolle eines Gegenspielers des Libertins. 25 Trotz ihrer sittlichen Korrektheit führte die Aufführung der Stücke allerdings umgehend zu Skandalen: Anlass dazu gaben de Sades adelige Herkunft sowie der konfliktuöse Stoff (Libertinismus versus bürgerliche Moral), unabhängig von der im Stück zugunsten des Bürgertums gebotenen Lösung. 26 De Sade überarbeitete seine Stücke in Folge der Ablehnungen seitens der Pariser Theater vielfach. Er war zudem bereit, sie an die jeweiligen politischen Umstände anzupassen: Sein Plädoyer für eine konstitutionelle Monarchie transformierte sich allmählich in ein Plädoyer für die Republik. Die Bearbeitung seiner Stücke komplementierte insofern die politische Arbeit, die er ab 1790 im Dienst der Revolution ausübte: Beide Tätigkeiten lassen sich als opportunistisch bezeichnen. Sie zeigen einen de Sade, der in die Öffentlichkeit strebt, der sich – trotz seiner individuellen Abweichung von der neu konstituierten Macht der öffentlichen Meinung – öffentlich mit dieser neuen Instanz der ›Universalität‹ auseinandersetzt, der trotz seines Opportunismus mit ihr in Konflikt gerät und dem es in den Wirren der Revolution zumindest gelingt, seine individuelle Haut zu retten.

De Sade und Charlotte Corday Ein besonders sprechendes Beispiel für de Sades widersprüchlichen Opportunismus ist dabei die Rede, die er 1792 zu Ehren des ermordeten Revolutionsführers Jean Paul Marat hielt. 27 Der Probleme, die aus seiner adeligen Herkunft entstehen konnten, eingedenk, bemühte er sich, in der Revolution Fuß zu fassen. Er wurde Sekretär der Assemblée des sections de Paris und Präsident der Section des Piques und beteiligte sich unter anderem an einer Inspektion der Spitäler. Es ist bereits vielfach thematisiert worden, dass dennoch ge25 Vgl. C. Bauer: Triumph der Tugend, S. 31/Anm. 26 Vgl. M. Lever: Marquis de Sade, S. 381-389. 27 Vgl. Marquis de Sade: »Rede zu Ehren von Marat und Le Pelletier, gehalten auf dem von der ›Section des Piques‹ angeordneten Fest von Sade, Bürger der Section und Mitglied der ›Société populaire‹«, in: Ders., Schriften aus der Revolutionszeit. 1788-1795, hg. von Georg Rudolf Lind, Frankfurt a.M.: Insel Verlag 1989, S. 144-148. 223

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rade der Marquis de Sade mit den Strafverfolgungen der Revolutionäre in moralischen Konflikt geriet: Er nutzte seine Ämter nicht, um Grausamkeit zu üben; ganz im Gegenteil machte er sich dadurch verdächtig, dass er gelegentlich Angeklagte verteidigte und gegen die Verfolgung in Schutz nahm. Bei einer der Sitzungen seiner Sektion, die er zu leiten hatte, soll ihm angesichts der Grausamkeit der Beschlüsse sogar schlecht geworden sein. 28 Wie die Biographen berichten, war de Sade allerdings ständig darauf bedacht, sich Dokumente zu verschaffen, die im Falle einer Verurteilung zu seinen Gunsten sprechen konnten. Eine Gelegenheit, ein solches Dokument selbst zu verfassen, war die Trauerfeier für Marat. Er übernahm es, die Rede zu Marats Gedenken zu schreiben und öffentlich zu halten, wobei ihm vermutlich nicht bekannt war, dass Marat sich kurz zuvor in einem Artikel negativ über ihn geäußert hatte. Der historische Hergang der Ermordung Marats ist bekannt: Marie-AnneCharlotte Corday d’Armans, geboren 1768 in Caen, Urenkelin des Dramatikers Corneille und Anhängerin der Girondisten,29 schrieb am 12. Juli 1793 eine Eingabe »an die Franzosen«, in der sie im Namen der Freiheit, des Gesetzes und der Menschheit eine Ermordung Marats rechtfertigte, »der vom Universum verurteilt ist; er steht außerhalb des Gesetzes«.30 Corday ermordete den Arzt, Wissenschaftler und Präsidenten des Jakobinerklubs, der wesentlich zur Zerschlagung der Girondisten beigetragen hatte,31 am Tag nach dieser Ankündigung in seiner Badewanne, in die ihn eine Hautkrankheit zwang: Als Waffe diente ihr ein eigens für diesen Zweck erstandenes Küchenmesser. Es wird berichtet, dass sie den Todesstoß mit solcher Wucht ausgeführt habe, dass Lunge, Aorta und Herz zugleich getroffen worden seien. Von einem herbeistürzenden Redakteur des Ami du Peuple, der Zeitung Marats, mit einem Stuhl niedergeschlagen, habe sie sich widerstandslos festnehmen lassen. Am 17. Juli 1793 bestieg sie das Schafott und wurde zu einer Märtyrerin der Konterrevolution.32 De Sade nun glorifizierte in seiner Rede den Revolutionär Marat und verurteilte seine Ermordung, ohne Corday namentlich zu nennen: Sie ähnele den Mischwesen, denen man kein Geschlecht zuschreiben könne, und sei zur Verzweiflung beider Geschlechter aus der Hölle ausgespien, verkündete er in gu-

28 Vgl. M. Lever: Marquis de Sade, S. 460f. 29 Vgl. Braun, Karlheinz: Materialien zu Peter Weiss’ ›Marat/Sade‹, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967, S. 22. 30 Corday, Charlotte: »Adresse an die Franzosen, die Freunde der Gesetze und des Friedens«, in: K. Braun, Materialien, S. 23f. 31 Vgl. K. Braun: Materialien, S. 16. 32 Vgl. ebd., S. 22-23. 224

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ter Übereinstimmung mit dem binären Geschlechtermodell der Jakobiner. Ein Leichenschleier solle das Antlitz dieses Scheusals für immer verhüllen. 33 De Sades öffentliche Verurteilung von Corday kann angesichts seiner anonym verfassten Schriften skeptisch stimmen, wenn nicht enttäuschen. Während de Sade öffentlich für die Revolution eintrat, verurteilte er in seinen Romanen Justine (1791), La Nouvelle Justine und Juliette (1797) die Gewalttaten der Französischen Revolution wegen ihres Gesetzescharakters: Das Verbrechen dürfe nur als Verbrechen von Einzelnen Geltung haben. Es könne durch kein allgemeines Gesetz gerechtfertigt werden, sondern nur als individuelle Tat. Die Protagonistin der Justine, die nur durch einen Buchstaben von einer Repräsentation der Gerichtsbarkeit (frz. justice) getrennt ist, wird in diesem Roman, der pornographische Gewaltszenen und philosophisch-libertinäre Reflexion kombiniert, dieser Abneigung gegen das Universelle oder Allgemeine entsprechend zu Tode gequält.34 Bei de Sade kommt ihr als Repräsentantin der Tugend die Opferrolle zu. Ihr wird eine lasterhafte, lebensfrohe und in allem erfolgreichere grausame Schwester entgegengesetzt: Juliette, deren Name im Französischen auf den Juli (frz. juillet) und damit auf Fruchtbarkeit und Lebensfülle sowie den gesetzlosen Auftakt der Revolution verweist. 35 Angesichts seiner (anonymen) Plädoyers für die individuelle Tat erscheint es als inkonsequent, dass de Sade Corday verurteilte: Wenn sie sich auch auf das Gesetz berief, so handelte sie doch gegen es. Sie mordete als Individuum in eigener Regie, um ihre Klasse und damit ihre Privilegien zu verteidigen; und sie tötete einen Vertreter des Gesetzes. De Sades Aburteilung Cordays ist ein Hinweis darauf, dass ihn die (zur grausamen Tat fähige) Frau nicht wirklich interessierte. 36 De Sade konstruierte Figuren wie die gewaltsame Juliette, weil die Spannung zwischen der gesellschaftlich verfügten Sittsamkeit der Frau des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts und einer vorgeführten libertinären Handlungsweise romantechnisch besonders reizvolle Kontraste ergab. Die Frau bleibt für ihn jedoch Symbol des Allgemeinen.

33 Vgl. Marquis de Sade: Rede zu Ehren von Marat, S. 146. 34 Möglicherweise dachte de Sade beim Namen Justine auch an Antoine de SaintJust, den Tugendwächter der Revolution, dessen Fanatismus später durch Georg Büchners Drama Dantons Tod (1835) nachhaltige Bekanntheit erlangte. 35 De Sades Titel Juliette und La Nouvelle Justine zitieren außerdem Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloise von 1761. 36 Vgl. Treut, Monika: Die grausame Frau. Zum Frauenbild bei de Sade und Sacher-Masoch, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Roter Stern 1984. Treut zeigt u.a. die Verachtung von Brust und Scheide sowie der Mütterlichkeit bei de Sade auf, vgl. ebd. S. 71. 225

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De Sade in Charenton Die zweite längere Inhaftierung de Sades erfolgte 1801, unter Napoléon Bonaparte, und wurde mit seiner Autorschaft an dem anonym publizierten Roman La Nouvelle Justine begründet; de Sade war sozusagen in flagranti bei seinem Verleger ertappt worden. Er wurde mit dem Urteil »libertinäre Demenz« – ohne ordentliches Gerichtsverfahren und ohne im eigentlichen Sinne medizinische Diagnose – zunächst im Gefängnis Sainte-Pélagie und in Bicêtre, dann 1803 aufs Neue in Charenton eingesperrt, wo er bis zu seinem Tod 1814 verblieb. 37 Paris verfügte zu dieser Zeit über drei Irrenhäuser: In der Salpêtrière waren Frauen, in Bicêtre Männer und in der komfortableren und kostenpflichtigen Anstalt Charenton sowohl Patientinnen wie Patienten untergebracht. Seit 1793 wirkte der berühmte Irrenarzt Philippe Pinel in Bicêtre. Unter Pinel diente die Anstalt nicht mehr lediglich der Verwahrung, sondern der Behandlung mit dem Ziel der Heilung. Charenton wiederum wurde seit 1797 von dem ehemaligen Geistlichen François Simonet de Coulmier verwaltet und geleitet 38 und war dem Innenministerium unterstellt. De Coulmier war zwar kein ausgebildeter Arzt, hatte sich jedoch Ansichten Pinels zu eigen gemacht und propagierte zum Zweck der Heilung Tanz, Musik und Theater. Einem Werbeprospekt für Charenton zufolge gab es dort um 1797/98 bereits Versammlungsräume, Räume für das Billard-, Dame-, Schach- und Tricktrackspiel sowie eine Bibliothek: Gesellschaft und geselliges Leben wurden als Mittel zur Linderung des Irrsinns betrachtet, Isolation hingegen als Mittel zu seiner Steigerung (das heißt wohl: als seine Ursache). 39 Zur gleichen Zeit wurden hier allerdings auch Zwangsduschen praktiziert und viele Kranke lagerten auf Stroh. 40 Auf die Umsetzung der Ansichten de Coulmiers hatte de Sade maßgeblichen Einfluss: Er griff 1805 seine Praktik des Theaterspiels wieder auf und etablierte in Charenton ein Laientheater.41 Zu diesem Zweck richtete er einen eigenen Theatersaal ein, mit einer Direktorenloge, Seitengerüsten als Zuschauerrängen für die Kranken, einem Parterre für Pariser Publikum, einem 37 Zu de Sades Zeit in Charenton vgl. M. Lever: Marquis de Sade, S. 537-598. 38 Vgl. M. Lever: Marquis de Sade, S. 545f. und passim. 39 Diesen ›Avis‹ vermittelt ein Werbeprospekt für Charenton, datiert auf das Jahr VI der Revolution, dokumentiert bei: Gourevitch, Michel: »Le théâtre des fous: Avec Sade, sans sadisme«, in: Annie le Brun (Hg.), Petits et grands théâtres du Marquis de Sade, Paris: Paris Art Center 1989, S. 95-104, hier S. 99. 40 Vgl. Daumas, Georges: »Préface«, in: Marquis de Sade, Journal inédit, Paris: Gallimard 1970, S. 7-36. 41 Zu de Sades Theateraufführungen in Charenton vgl. Marquis de Sade: Journal inédit; M. Gourevitch: »Le théâtre des fous«; M. Lever: Marquis de Sade, S. 549-563, S. 576-581, S. 584-588; C. Bauer, Triumph der Tugend, S. 345-352. 226

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Orchestergraben und einer Bühne. De Sade fungierte als Theaterdirektor und war befugt, Gäste einzuladen. Ihm zur Seite stand die Pariser Schauspielerin Mme. Saint-Aubin; die Proben wurden vermutlich von beiden gemeinsam geleitet. De Sade brachte eigene Stücke sowie Stücke anderer Autoren zur Aufführung; zusätzlich zum verbalen Schauspiel wurden Pantomime, Musik und Tanz geboten. Zeitweise soll einmal pro Monat eine Veranstaltung stattgefunden haben. Als Darsteller und Darstellerinnen traten de Sade, seine Lebensgefährtin 42 , Patientinnen und Patienten sowie professionelle Schauspieler und Schauspielerinnen auf; für die Tanzszenen wurden Tänzerinnen der Pariser Oper engagiert. 43 Wie im 19. Jahrhundert üblich, wurden oftmals mehrere Stücke gezeigt. Eine Darbietung konnte fünf Stunden und länger dauern. Die Darbietungen waren außerdem mit feierlichen Mahlzeiten verbunden, an denen das Pariser Publikum teilnahm, und hatten Festcharakter; von einer Veranstaltung soll eine Namensliste mit über 90 Gästen überliefert sein. Die Aufführungen dienten nicht zuletzt der Würdigung der Arbeit des Leiters der Anstalt, M. de Coulmier – und für de Sade der Kommunikation mit den etablierten Theatern. Nach wie vor bot er den Pariser Theatern seine Stücke an, womit er nun allerdings überhaupt keinen Erfolg mehr hatte. 44 De Sades Aufführungen in Charenton erlangten eine gewisse Berühmtheit, schließlich reiste man eigens aus Paris an, um ihnen beizuwohnen. Sein Wirken war jedoch umstritten und wurde in Schriften von Zeitgenossen und noch bis in die 1830er Jahre problematisiert. So wandte sich der seit 1805 in Charenton tätige Chefarzt Antoine-Athanase Royer-Collard 1808 per Brief an den Polizeiminister Joseph Fouché, um eine Verlegung von de Sade zu erreichen. De Sade sei nicht geisteskrank, sondern lasterhaft. Er verkehre mit einer großen Zahl von Kranken und Rekonvaleszenten beiderlei Geschlechts, denen er seine Lehre predige und Bücher leihe. Die Kranken, die täglich mit diesem schrecklichen Mann in Berührung kämen, würden unaufhörlich durch seine Verderbtheit infiziert. De Sade gebe in dem Theater, das man unvorsichtigerweise eingerichtet habe, Stücke vor, verteile Rollen und leite Proben. Man habe die unheilvolle Wirkung solcher tumultuösen Veranstaltungen auf die Phantasie nicht bedacht. Die bloße Idee seiner Gegenwart in Charenton genüge, um die Phantasie selbst derjenigen aufzuregen, die ihn nicht sähen.45 Die Unsittlichkeit de Sades hatte demnach suggestive Effekte.

42 De Sade lebte von 1790 bis zu seinem Tod mit der Schauspielerin Marie-Constance Quesnet zusammen, die er ›La Sensible‹ nannte. Quesnet folgte ihm vermutlich 1804 nach Charenton und bezog bis zu seinem Tod freiwillig in der Anstalt Quartier, vgl. M. Lever: Marquis de Sade, S. 397-592. 43 Vgl. K. Braun: Materialien, S. 26. 44 Vgl. C. Bauer: Triumph der Tugend, S. 71. 45 Royer-Collard, Antoine-Athanase: »An Seine Excellenz den Senator und Polizeiminister«, in: K. Braun: Materialien, S. 27f. 227

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Royer-Collard wandte sich mit seiner Beschwerde offen gegen die Direktiven de Coulmiers, der de Sades Theater wohlwollend gegenüberstand. De Sade wiederum nahm pikanterweise für sich in Anspruch, mit seinen Inszenierungen an die 50 Kranke geheilt zu haben. 46 Von de Coulmier sowie de Sade sind allerdings keine konkreten Konzepte überliefert, wie die Theaterarbeit die Heilung fördern sollte: Es ist wenig mehr bekannt, als dass die Akteure und Akteurinnen vorgegebene Rollen einstudierten und Texte zu deklamieren lernten. Insofern weiß man auch nicht, mit welchen Fähigkeiten seiner Akteure und Akteurinnen de Sade arbeitete. In der Forschung wird diskutiert, ob das in Charenton praktizierte Theater als ein Vorläufer des psychotherapeutischen Psychodramas – das der Behandlung von Neurosen dient – aufgefasst werden kann; wobei im Psychodrama gerade keine Texte auswendig gelernt werden. 47 Man hat de Sades Schriften darüber hinaus mit denen des Psychiaters Richard von Krafft-Ebing sowie mit denen Sigmund Freuds verglichen. 48 Interessant an diesen Reflexionen ist, dass de Sades Position dabei zwischen den etablierten Rollen des Psychiaters/ Psychoanalytikers und des Patienten bzw. der Patientin angesiedelt wird: Er hat demnach ›Perversionen‹ sowohl ausgelebt wie beschrieben; sein Schreiben kann als zugleich ›pervers‹ und analytisch betrachtet werden. – Vielleicht ließe sich die leidenschaftliche autobiographische Arbeit, die de Sade in Charenton wie zuvor an seinen anderen Spielstätten betrieb, als Konfliktarbeit bezeichnen. Schließlich war er in dieser Arbeit, anders als bei seinen epischen Schriften, gezwungen, sich mit der Urteilskraft der öffentlichen Meinung auseinanderzusetzen und sich in Akten gradueller Selbstnormalisierung nach ihr zu richten. De Sade war in Charenton weiterhin schriftstellerisch tätig, wobei seine Schriften einer ständigen Kontrolle seitens der Polizei und seiner Familie unterlagen und viele von ihnen bei diesen Gelegenheiten zerstört wurden.49 Er führte in dieser Zeit ein Tagebuch voller Zahlenchiffren und Decknamen, in dem er für sich etwa den Namen Moses wählte. 50 In dem einzigen Theaterstück, das von de Sade aus Charenton überliefert ist, stellte er Leidenschaften als Ursache von Wahnsinn dar, womit er zwischen seinem persönlichen Lieblingsthema und dem Ort, an dem er seine künstlerische Tätigkeit ausüben musste, eine elegante Brücke schlug und sich vermutlich den Ansichten de Coulmiers anpasste. Das Stück ist autobiographisch geprägt und handelt 46 So in einem Brief an seine Cousine Marie-Francoise-Amélie de Bimard, 4. Mai 1811, zitiert bei M. Lever: Marquis de Sade, S. 579-581. 47 Vgl. M. Gourevitch: »Le théâtre des fous«, S. 97; M. Lever: Marquis de Sade, S. 554f. 48 Vgl. M. Lever, S. 351. 49 Vgl. Marquis de Sade: Journal inédit, S. 39 und passim. 50 Vgl. ebd., S. 43. 228

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sowohl vom Theater wie von der Irrenanstalt: Dargestellt werden die Vorbereitungen zu einer Theateraufführung. Die Erkrankung der Patienten und Patientinnen wird mit ihrer libidinösen Verfassung erklärt, ein gesellschaftskonformes Liebesleben soll hingegen Heilung bringen. Der Direktor der Anstalt hat Züge de Coulmiers, der Theaterdirektor Züge de Sades: Er wird als ehemaliger Patient eingeführt, der als Geheilter auf Einladung des Anstaltsdirektors freiwillig in die Anstalt zurückkehrt, um Theaterstücke zu inszenieren. 51 De Sade vermittelte mit dieser Rolle, wie er seine eigene Rolle in Charenton interpretiert sehen wollte. Trotz des Einvernehmens zwischen de Sade und de Coulmier setzte sich schließlich dennoch Royer-Collard durch: Ein Beschluss des Innenministeriums vom 6. Mai 1813 untersagte weiteres Theaterspiel in Charenton. De Sade war davon allerdings kaum mehr betroffen. Er starb 1814. 52

Das Urteil über Charenton Neben den Berichten von Royer-Collard und anderen über de Sades Aufführungen in Charenton existiert eine Darstellung des Kavallerieoffiziers Hyppolyte de Colins von 1812,53 die für die weitere Einschätzung insofern wichtig wurde, als der französische Psychiater Jean Étienne Dominique Esquirol sie seinem eigenen Bericht über Charenton ohne Hinweis auf Colins zugrunde legte. 54 Esquirol war zunächst unter Pinel an der Salpêtrière tätig und wurde 1825 Nachfolger von Royer-Collard in Charenton. Er nutzte die Aufzeichnungen de Colins, die er in den Unterlagen Royer-Collards fand, um sich von de Coulmier abzugrenzen, und bewertete dessen Darstellung, dass in Charenton von Irren Theater gespielt und dass sie auf diese Weise einer Heilung zugeführt worden seien, als Lüge: Nicht die Irren, sondern professionelle Schauspieler und Schauspielerinnen sowie gesunde Laien und Laiinnen hätten Theater gespielt; die am Schauspiel beteiligten Patienten und Patientinnen hätten lediglich bizarre Haltungen eingenommen. Das Lachen des Publikums hätte diejenigen, die noch fähig waren, es zu bemerken, zusätzlich verwirrt. Die aufgeführten Liebesintrigen seien zudem, insbesondere für die zuschauenden Hysterikerinnen, die falsche Medizin gewesen. Die Leidenschaften der Irren, die es zu schwächen gelte, seien angestachelt worden. So habe 51 Vgl. C. Bauer: Triumph der Tugend, S. 345-348. 52 Zur Schließung des Theaters und zum Tod de Sades vgl. M. Lever: Marquis de Sade, S. 584-598. 53 De Colins, Hippolyte: »Notice sur l’hospice de Charenton«, in: Marquis de Sade, Journal inédit, S. 113-164. 54 Esquirol, Jean Étienne Dominique: Mémoire historique et statistique sur la Maison royale de Charenton, Paris: Paul Renouard 1835. 229

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man Hysterikerinnen und Nymphomaninnen, deren nervöse Aufregung ohnehin besonders ausgeprägt sei, in Charenton außerdem auf Bällen tanzen lassen. – Ein zentrales Argument für die Ablehnung der Veranstaltungen, denen Esquirol nie selbst beigewohnt hatte, war die Mitwirkung de Sades: De Colin und Esquirol unterstellten, er habe sein Publikum getäuscht und auf diese Weise (anstatt die Irren zu heilen) die Gesunden zum Narren gehalten. 55

Das Theater in der Salpêtrière Ab den 1870er Jahren konstituierten sich die Sexualwissenschaften, wodurch sich Phänomene wie der Irrsinn aus Leidenschaft und der Libertinismus grundsätzlich wandelten. Wie Christina von Braun schreibt, begannen die Ärzte bereits im 17. Jahrhundert, die Ursache für Hysterie allmählich vom Uterus in den Kopf zu verlegen. Im 19. Jahrhundert sei dieser Prozess abgeschlossen gewesen, sodass die Frauenklinik Salpêtrière Ende des 19. Jahrhunderts für männliche Hysteriker habe geöffnet werden können.56 Als JeanMartin Charcot 1862 die Leitung der Salpêtrière übernahm, wandte er sich gegen die tradierten Konzepte, die einen Zusammenhang zwischen Leidenschaft und Hysterie sahen, und konzipierte Hysterie als eine pathologische Ich-Schwäche. 57 Im Unterschied zum Zeitgeist, der dazu tendierte, die Hysterie als Simulation und Lüge zu betrachten,58 hätten sich die französischen Psychiater des 19. Jahrhunderts von Briquet bis Charcot bemüht, den Beweis zu erbringen, dass Hysterie keine Lüge, sondern eine somatisch bedingte Suggestibilität sei, die auf Willenlosigkeit sowie mangelndem Geschlechtstrieb beruhe – und nicht etwa auf einem starken Geschlechtstrieb, wie die Mediziner lange behauptet hatten. 59 Charcot nun hatte dementsprechend auch kein Problem damit, seine (angeblich ja leidenschaftslosen) Patienten und Patientinnen tumultuösen Veranstaltungen auszusetzen, und führte sie in seinen Dienstagsvorlesungen an der Salpêtrière einem internationalen Publikum vor. Im Auditorium saßen neben Psychologen auch Künstler, Literaten und alle, die sich über die Umbrüche im Wissen auf den neuesten Stand bringen wollten.60 Die Patienten und Patientinnen boten dem Publikum in Übereinstimmung mit den Theorien Charcots drei Phasen: eine krampfhafte oder »eptiloide« Phase, eine Phase des Clownismus, in der sie sich in einem sexuell provokativen arc de cercle 55 56 57 58 59 60

Vgl. G. Daumas, »Préface«; P. Pinon: »Charenton avant Esquirol«, S. 76-78. C. von Braun: Nicht ich, S. 51. Zu Charcot vgl. ebd., S. 49-73, S. 446-452. Ebd. S. 54. Ebd., S. 55. Ebd., S. 62.

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bogen, und eine Phase der Verzückung. In anderen Anstalten ließ sich diese Symptombildung zwar nicht reproduzieren, aber Charcot reproduzierte sie selbst, indem er sie in Zusammenarbeit mit Fotografen und Zeichnern festhalten und vervielfältigen ließ. 61 Die Regungen der Hysteriker und Hysterikerinnen wurden von ihm in Regie genommen und insofern auf Knopfdruck ausgelöst, als die Fotografien mit ihrer damals langen Belichtungszeit nur als gestellt betrachtet werden können. Die Salpêtrière wurde, so von Braun, zu einer der beliebtesten Schaubühnen ihrer Zeit. 62 Von Braun zufolge widerlegten die Hysterikerinnen allerdings Charcots Theorie der Suggestibilität sowie seine Theorie des generell schwachen Geschlechtstriebs der Frau, indem sie offenkundig simulierten, also das machten, was er zu widerlegen hoffte. 63 Die hysterische Symptombildung passe sich der Präfiguration der Betrachtenden generell an und widerlege sie gleichzeitig, insofern die hysterische Person die Symptome aussuche, mittels derer sie die Präfiguration imitiere.64 Die Hysteriker und Hysterikerinnen hätten unter der Regie Charcots auf diese Weise einen Beweis der Existenz des Sexualwesens (sowie der weiblichen Libido) erbracht.65

Mach – kein – Theater (Schluss) Peter Weiss nutzte in seinem Drama Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade das einprägsame Bild, das der Marquis de Sade als Regisseur einer Irrenanstalt bot. Er ließ in seinem Stück von 1964, das im Jahr 1810 spielt, die Ermordung Marats aus dem Jahr 1789 als Schauspiel eines Irrentheaters nachstellen. In Weiss’ Stück handelt eine Hysterikerin Corday unter dem Einfluss des Regisseurs de Sade gegen die Revolution. De Sade und Marat präsentieren sich in ihren Dialogen als philosophisch ebenbürtig, Corday hingegen ist lediglich eine Marionette der Regie des Marquis de Sade. Weiss’ Stück ist allerdings gänzlich fiktiv: De Sade ist weder Marat noch Corday je persönlich begegnet. Dass die Rollen des suggestiven Regisseurs de Sade und der suggestiblen Hysterikerin Corday dennoch eingängig sind, auch wenn die Rollen den historischen Charakteren nicht entsprechen, verdeutlicht die Wirkung, die Prakti-

61 Vgl. Didi-Huberman, Georges: Invention de l’hysterie, Paris: Éditions Macula 1982. 62 C. von Braun: Nicht ich, S. 57. 63 Ebd., S. 60. 64 Ebd., S. 29. 65 Ebd., S. 65. 231

UTE FRIETSCH

ken wie die Charcots nicht allein auf das Fin de Siècle, 66 sondern darüber hinaus auf die Imagination des 20. Jahrhunderts hatten. Mit den Thesen von Christina von Braun könnte man Weiss’ Erzählung von der Hysterikerin Corday eine andere Erzählung entgegenhalten: die von einem Hysteriker de Sade, dessen geschlechtergeschichtlich verfrühte und insofern abnorme sowie hochgradig individuelle Verweigerungshaltung von der angeblichen ›Massenhysterie‹ der Französischen Revolution, die überhaupt keine Hysterie gewesen ist, überrumpelt wurde.67 Dieser Charakterisierung de Sades entspräche auch die Einschätzung Simone de Beauvoirs, dass de Sade es möglicherweise – unbewusst – darauf angelegt habe, immer wieder aufs Neue verhaftet zu werden. 68 Ganz wie die Hysterikerinnen vor ihm und die Hysteriker nach ihm war er suggestiv und suggestibel zugleich und verkörperte damit die Rollen von Arzt und Patientin in einer Person. In dem Phänomen de Sade tritt die doppelte Bedeutung der Aufklärung, sowohl philosophisch-politische Aufklärung wie Sexualaufklärung zu sein, ans Licht. Der Libertin de Sade wird dazu verurteilt, seine sinnliche Libertinage ›aufzuklären‹: Er tut dies, indem er – als Gesetzgeber, Moses – seine eigene Vorstellung von Universalität zu verwirklichen versucht; und bietet den Zeitgenossen und Zeitgenossinnen zugleich eine leicht eingängige Interpretation für seine Form der libertinistischen Aufklärung an: Er macht Theater, c’est tout.

66 Vgl.: Marquer, Bertrand: Les Romans de la Salpêtrière. Réception d’une scénographie clinique. Jean-Martin Charcot dans l’imaginaire fin-de-siècle, Genf: Droz 2008. 67 Vgl. C. von Braun: Nicht ich. Von Braun bezieht sich nicht auf de Sade, thematisiert jedoch die männliche Hysterie, ebd., S. 273-366, sowie die Massenhysterie als Unform der Hysterie, ebd., S. 77. 68 Vgl. S. de Beauvoir: »Soll man de Sade verbrennen«, S. 16 und passim. 232

»The Cult of the Clitoris«. Der englische Salome-Skandal um 1900 ULRIKE BRUNOTTE

Um 1900 verdichtete sich in der europäischen Metropole des Empire um die jüdische Prinzessin Salome ein komplexes (post)koloniales Diskursgeflecht, das um die vermeintlichen Gefahren weiblicher Sexualität und Gewalt gewoben war. Allerdings verschmolz die bedrohliche mythische Gestalt mit einer neuen, politischen ebenso wie künstlerischen Sichtbarkeit von Frauen in der Öffentlichkeit Londons. In der biblischen Erzählung provoziert die sich im Schleiertanz entblößende Tochter der Herodias die Enthauptung Johannes des Täufers. Im Fin de Siècle wurde sie zu einer fetischisierten Ikone, in der Orientalismus (im Sinne Saids) und der ›Kult der Dekadenz‹ verbunden waren. Doch die diversen Verwandlungen der Salome gehen in der Femme fatale nicht auf. Sie wurde vielmehr um 1900 zur Inkunabel äußerst ambivalenter Diskurse: Sie avancierte zum Vorbild weiblicher Tanzavantgarde, zum Urmodell des kommerziellen Striptease und zum mythischen Präzedenzfall in rezenten wissenschaftlichen Diskursen um weiblichen Wahnsinn (Hysterie), weibliche ›Perversion‹ und Gewalt. Frauen versuchten, sich diese Männerfantasie auf der Bühne als Sängerinnen, Tänzerinnen, Stripperinnen und Choreographinnen anzueignen und die ›Fremdheit‹ der oriental woman ins eigene Anderssein zurückzuübersetzen. Dieser Beitrag rekonstruiert die diversen Diskurse, die sich um die okzidentale Obsession des Entschleierungstanzes der Salome bildeten. Er verbindet die voyeuristische Wissenssuche nach der ›Wahrheit‹ der weiblichen Sexualität mit den Debatten um feminine Gewalt, Hysterie und Perversion. Bereits Oscar Wilde situiert Salome in einem Spannungsfeld von Sehen, Sichtbarkeit und Geheimnis, das den Machtraum des male gaze sichtbar macht und damit zugleich überschreitet. Neben der Suche nach der nuda veritas hinter dem Schleier, ist es der Schleier selbst, der zum Medium sowie zur Metapher des Textes und des Körpers wird – eines Körpers, dessen Text nicht 233

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zu lesen ist. Als Fallanalyse dienen im Folgenden die wohl berühmteste Salome Europas, die Kanadierin Maud Allan, und ihre Choreographie The Vision of Salome sowie der spektakuläre Prozess um sie, in deren Verlauf alle rezenten Theorien und Tropen zu Weiblichkeit, Orient und Sexualität verhandelt wurden.

Maud Allans Verbrechen Am 16. Februar 1918 erschien in der rechtsgerichteten Londoner Zeitung Vigilante (›Bürgerwehr‹) ein Artikel mit der Überschrift The Cult of the Clitoris. Darin wurde vor dem verderblichen Einfluss einer Aufführung von Oscar Wildes verbotenem Stück Salome gewarnt. Die Aufführung war in der Tat nicht ganz gewöhnlich und sollte unter Umgehung der Zensur1 im privaten Independent Theatre stattfinden. Kein geringerer als der liberale Kritiker der Sunday Times Jack Thomas Grein führte Regie, und die ebenso gefeierte wie skandalumwitterte Tänzerin Maud Allan sollte die Rolle der Salome übernehmen. Der Aufruhr, der auf die Aufführungsankündigung vom 10. Februar folgte, wurde vom konservativ-patriotischen Movement for Purity in Public Life durch die geschickte Verknüpfung politischer und sexualphobischer Ängste geschürt. Zu Beginn des Jahres 1918, als eine katastrophale Kriegsniederlage der Alliierten (noch) wahrscheinlich erschien und in England Kriegshysterie um sich griff, verbreitete ein führendes Mitglied dieser Reinheitsbewegung, der Parlamentarier Noel Pemberton Billing, eine aufsehenerregende und damals durchaus glaubwürdig erscheinende Theorie: Im Bunde mit dem ebenso homophoben wie antisemitischen Aktivisten Harold Sherwood Spencer 2 sprach er von einer im Inneren der Gesellschaft wirksamen deutschen Kriegsführung, bei der dem Gegner durch (homo-)sexuelle Infiltration die Kampfkraft genommen und die patriotische Moral geschwächt werde. Ähnlich wie die spätere Legende von der ›Fünften Kolonne‹ im Zweiten Weltkrieg verband das Bild des inneren Feindes Dekadenz und Perversion. So zeichnete Arnold White, ein anderer Anhänger der Reinheitsbewegung, folgendes Bild deutscher ›Sexualkriegsführung‹: »The tendency in Germany is

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Die öffentliche Aufführung des Stückes war bereits 1892 durch den Lord Chamberlain mit der Begründung verboten worden, dass darin biblische Figuren diskreditiert würden. Das Stück blieb in Großbritannien bis 1932 verboten. Harold Sherwood Spencer schrieb regelmäßig für den Imperialist und verbreitete auch die Theorie, dass führende Mitglieder der britischen Gesellschaft Juden seien. 1918 erschien sein antisemitisches Traktat Democracy or Shylocracy.

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to abolish civilisation as we know it, to substitute Sodom and Gomorrah for the new Jerusalem, and to infect clean nations with Hunnish erotomania«. 3 Die Ängste, die hier durch den Kriegsgegner quasi externalisiert wurden, waren allerdings mit einer nationalen Vorgeschichte verknüpft, – einer Skandalgeschichte, die sich mit dem Namen Oscar Wilde verband. Zu der Zeit, als der Erste Weltkrieg ausbrach, und damit mehr als dreizehn Jahre nach seinem Tod und fast zwanzig Jahre nach seiner Verurteilung wegen ›Unzucht‹, verkörperte Oscar Wilde immer noch die Kultur der Dekadenz4 , und das in der ganzen schillernden Ambivalenz des zeitgenössischen Begriffs: »Wilde was a mythical figure: to some, a demon; to others a saint.« 5 Hinzu kam, dass sich die kanadische Barfußtänzerin Maud Allan, deren Karriere als Salome-Tänzerin in Wien und Berlin begonnen hatte, besonders gut in das zu zeichnende Schreckensbild fügte. Seit ihrer Ankunft in London im Februar 1908 war sie – zugleich die Grenzen zwischen Hoch- und Populärkultur auflösend – gleichsam zur Verkörperung exotischer Dekadenz und edwardianischer Sexualität avanciert. Darüber hinaus hatte es die ambitionierte Allan vermocht, sich in den avantgardistischen Künstlerkreisen Londons ebenso einen Namen zu machen wie bei deren – oft genug deutschfreundlichen – politischen Fürsprechern und Fürsprecherinnen. So konnte selbst Margot Asquith, die extravagante Frau des damaligen Führers der Liberalen Herbert Asquith, als Gast bei den privaten Salome-Abenden anwesend sein. Diese fanden seit 1908 unter Ausschluss von Männern im Hause prominenter Damen der Gesellschaft statt und nicht allein die Hauptperson dieser Abende, Allan, sondern auch die Zuschauerinnen hatten ein ›Salome-Kostüm‹ zu tragen. In einem Bericht in der New York Times hieß es über einen dieser Abende: »Each of the ladies proceeded to outview her sisters in providing herself with a costume matching in all the undress effect of Miss Allan’s scanty costume […]. Salomes’ music was played […] and some of the more graceful members of the party demonstrated that they had not only succeeded in matching Miss Allan’s costume, but had learned some captivating steps in movements.« 6

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Hoare, Philip: Oscar Wilde’s Last Stand. Decadence, Conspiracy, and the most Outrageous Trial of the Century, New York: Arcade Publishing 1998, S. 89. Der Begriff Dekadenz wurde damals sowohl als pejorative Stigmatisierung als auch als Selbstbezeichnung der ästhetizistischen Bewegung benutzt. Vgl. Showalter, Elaine: Sexual Anarchy. Gender and Culture at the Fin de Siècle, Middlesex: Viking Penguin 1990, S. 169. P. Hoare: Oscar Wilde’s Last Stand, S. 15. New York Times vom 8.8.1908, zit. n. Cherniavsky, Felix: The Salome Dancer. The Life and Times of Maud Allan, Toronto: McClelland & Stewart 1991, S. 176. 235

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Dreizehn Jahre nach dem zerstörerischen Prozess um Oscar Wilde, in dem jener das erste Opfer eines neuen englischen Gesetzes geworden war, das alle ›homosexuellen‹ Akte als kriminell verwarf, gesellte sich nun zu der politisch aufgeladenen Homophobie ein angeblich staatsgefährdender »Cult of the Clitoris«. Im Fokus der Angstphantasien, die die englische Genderordnung und ›Anständigkeit‹ gefährdet sahen, stand nun die europaweit umjubelte Barfußtänzerin Maud Allan und ihre Darbietung der Salome.

Femme fatale und Sexualtheorie Warum aber konnte ausgerechnet diese biblische Figur aus der Zeit Johannes des Täufers in Judäa solche öffentlichen Erregungen auslösen und solch eine überaus affektiv gesteuerte Aufmerksamkeit erfahren? Ein Grund dafür ist mit Sicherheit ihre Kompatibilität mit den kulturellen Diskursen und Obsessionen der Zeit: Exotismus, Femme fatale und Orientalismus. Salome kann als die populärste verschleiert-entschleierte Figur dieser Epoche gelten. Dabei stellte das Phantasma der Femme fatale für die bürgerliche Welt Europas im Allgemeinen »1905 längst keinen Tabubruch mehr dar, sondern gehörte als Verkörperung des Bösen zum Negativ-Inventar der bürgerlichen Kultur, das genossen und bekämpft wurde.« 7 Die von Oscar Wilde neu erfundene Prinzessin Salome, die in seinem gleichnamigen Stück ihren tödlichen Tanz tanzt, verlangt darin zum ersten Mal in ihrer Jahrhunderte langen Deutungsgeschichte aus eigenem Antrieb das Haupt Johannes des Täufers als Lohn für ihren Tanz – »zu meiner eigenen Lust« 8 , wie Wilde sie sagen lässt. Damit steht diese 14-jährige Jungfrau in engster Beziehung zu dem Tabubruch, den Sigmund Freud 1905 in seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie besiegelte, als er die Illusion kindlicher sexueller ›Unschuld‹ zerstörte. Salomes hybride, sexualisierte Aggressivität überschritt zudem Geschlechtergrenzen. Die jüdische Prinzessin wirkte freilich auch deshalb um 1900 so »beunruhigend-aufregend, weil sich in ihr der Schrecken über den Verlust der bürgerlichen Vorstellung von der kindlichen Unschuld wie von der schwachen, sexuell passiven Frau – der Femme fragile – mischen«.9 Salome, die mit anderen todbringenden mythischen Figuren wie Judith, Delila, aber auch mit der Vulva zeigenden Baubo verwandt ist, wurde allerdings im Fin de Siècle zur Inkunabel äußerst ambivalenter Bewegungen und Diskurse: 7

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Hoven-Buchholz, Karla: »Was verschleiert Salomes Tanz? Eine psychoanalytische Interpretation jenseits des Femme-fatale-Klischees«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse 62 (2008), S. 356-380, hier S. 358. P. Hoare: Oscar Wilde’s Last Stand, S. 15. Ebd. Vgl. auch Unseld, Melanie: ›Man töte dieses Weib!‹ Weiblichkeit und Tod in der Musik der Jahrhundertwende, Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, S. 70.

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Sie avancierte zugleich zum Idol der weiblichen Tanzavantgarde, zum Urmodell des Striptease 10 und zum mythischen Präzedenzfall im damals aktuellen Diskurs um weibliche ›Perversion‹. Selbst viele der wissenschaftlichen Interpretationen des wildeschen Stückes scheinen die Distanz zum Stoff verloren zu haben und verstärken diesen Diskurs. So schreibt beispielsweise Bram Dijkstra 1986 in seinem Buch Idols of Perversity: »The spectacle of Salome’s bestial passion makes Herod shiver. But the outrages of feminine desire continue. In a passage in which Wilde directly equates semen and the blood which feeds man’s brain, Salome, woman, the vampire hungry for blood, tastes the bitter seed of man, deprecates the spirit of holy manhood.« 11

Je eindeutiger freilich die sexualisierenden Deutungen in Salome die bösartige Femme fatale zu fixieren trachteten, desto mehr konzentrierten sie sich auf den Schleiertanz und desto entfesselter und lüsterner wird Salome im Tanz gezeichnet. Auch korrespondierten der Entschleierungstanz und die aufkommende Vorstellung, das letzte Geheimnis der weiblichen Sexualität aufklären zu können, auf mehrfache Weise mit der damals so faszinierenden Hysterie. Vielleicht kann das tertium comparationis der hysterischen Körperexpression zum einen und der zuweilen akrobatischen Schlangenbewegungen des neuen Tanzes zum anderen in der bisweilen ekstatischen Performanz von »social images of femininity and madness« 12 gefunden werden. Zudem wurde in der Hysterie ein Hauptweg gesehen, die ›Rätsel‹ des ›Weiblichen‹ sichtbar zu machen. Aber »Hysterie stellt dar und verschleiert. Sie erregt durch Verhüllung, sie führt auf Irrwege der Verführung, sie zeigt sich durch Verbergen. So erregt sie im Mann wie im Theoretiker gleichermaßen die Fantasie, sie enthüllen zu können.«13 In der Selbsttheatralisierung des sich zugleich entblößenden und entziehenden Körpers sind sich Salome und Freuds erste Patientin Anna O. durchaus ähnlich. Wie Christina von Braun in ihrer Pionierarbeit zur Hysterie darstellt, verweigern sie sich beide »der Trennung von Sexualität und Sprache« 14 und erfinden sich dabei ein neues, eigenes Sprechen: Einen theatralen logos des Körpers, der sich vom hegemonialen logos nicht kontrollieren

10 Zuletzt so gedeutet von Sanyal, Mithu M.: Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts, Berlin: Wagenbach 2009. 11 Dijkstra, Bram: Idols of Perversity. Fantasies of the Feminine in the Fin-deSiècle-Culture, New York: Oxford University Press 1986, S. 398. 12 Hindson, Catherine: Female Performance Practice on the Fin-de-Siècle Popular Stages of London and Paris. Experiment and Advertisement, Manchester/New York: Manchester University Press 2007, S. 103. 13 K. Hoven-Buchholz: »Was verschleiert Salomes Tanz?«, S. 359f. 14 Von Braun, Christina: Nicht ich. Logik – Lüge – Libido, Frankfurt a.M.: Verlag Neue Kritik 1985, S. 197. 237

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lässt. Für beide fungiert der Körper als Medium und Bühne einer eigenen Narration unbewusster Erinnerungen und Affekte. Ein anderes Diskursfeld, in dem die Figur der Salome besonders nach dem demütigenden Prozess um Oscar Wilde stand, war das der Homosexualität. In diese Richtung zielen Deutungen des Stoffes durch Autoren und Autorinnen, die in Wildes Salome ein Alter Ego des Autors und in ihrer Zurückweisung durch den moralisch-reinen Propheten Johannes die viktorianische Abwehr homosexuellen Begehrens zu erkennen meinen. So stellt Elaine Showalter 1985 die Frage: »Is the woman behind Salome’s veils the innermost being of the male artist? Is Salome’s love for Johanaan a veiled homosexual desire for the male body?« 15 Und Katherine Worth, die das Motiv der Verschleierung und Entschleierung im Werk Wildes verfolgt, meint, dass »unveiling was an appropriate image for the activity which Wilde regarded as the artist’s prime duty: self-expression and self-revelation«.16 Bei der Auswahl der sieben Schleier, die der Autor für seine Salome erfindet, bedient sich der altphilologisch gebildete Wilde freilich bei älteren religiösen Traditionen. 17 Denn der Schleier, der als »bewegtes Beiwerk«18 im Sinne Aby Warburgs den Körper der Göttin Venus, der Isis oder der Diana verhüllt und dramatisiert, vereint, in vielen Kulturen epistemologische, sakrale und sexuelle Bedeutungen. So meint beispielsweise »[i]m Hebräischen […] das Wort für Braut (kallatu) wörtlich ›die Verschleierte‹. Indem der Bräutigam den Schleier der Braut lüftet, entblößt er symbolisch ihre Scham, und indem er sie ›erkennt‹, vollzieht er symbolisch den Geschlechtsakt.« 19 Auch der eigentliche Tanz der sieben Schleier hat einen mythischen Vorläufer: Hier handelt es sich um die Unterweltsreise der Muttergöttin Ischtar, die auf der Suche nach ihrem Sohn-Gatten bei jeder Station ihrer Fahrt einen Schleier ablegen muss, um zuletzt nackt bei den Toten zu erscheinen. Christina von Braun und Bettina Mathes rekonstruieren in ihrem Buch Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen nicht allein die komplexe (religiöse) Bedeutung des Schleiers, sondern gehen auch den Metaphern und Medien okzidentaler Wahrheitssuche nach, die sich um die Entschleierung des weiblichen Körpers gruppieren. 20 Wie zuvor bereits Erwin Panofsky in seinen

15 E. Showalter: Sexual Anarchy, S. 151. 16 Worth, Katherine: Oscar Wilde, New York: Grove Press 1983, S. 66f. 17 Vgl. Ziolkowski, Theodor: »The Veil as Metaphor and as Myth«, in: Religion and Literatur 40 (2008), S. 61-81. 18 Vgl. Endres, Johannes/Wittmann, Monika/Wolf, Gerhard (Hg.): Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als Medium und Metapher, München: Fink 2005. 19 Von Braun, Christina/Mathes, Bettina: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen, Berlin: Aufbau 2007, S. 57. 20 Ebd., besonders das Kapitel »Ex occidente looks: Blickmacht und entblößter Frauenkörper«, S. 168-172. 238

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Forschungen zur Figur der nuda Veritas21 hat zudem auch Londa Schiebiger 1991 darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Szene der Enthüllung eines weiblichen Idealkörpers spätestens im 17. Jahrhundert zur Allegorie der wissenschaftlichen Wahrheitssuche verdichtet. 22 Das weithin glänzende Schlagwort allerdings, das die neue Nacktheit der Salome in der symbolistischen Literatur und im kommerziellen Massenkonsum um 1900 zu charakterisieren ermöglicht, ist freilich das des Fetischs. 23

Okzidentaler Entschleierungsfetisch Amy Koritz 24 positioniert im Anschluss an Mario Praz Salome in den Kontext des Orientalismus. Inmitten eines kolonialen Europas, das von der verschleierten Frau des Orients geradezu besessen war, verbanden sich mit deren Entschleierung, spätestens seit Gustav Flauberts Kuchuk Hanem, Sexualphantasien »beyond the reach of the constraints and taboos of European culture«.25 Der Tanz der Salome und ihre juwelenbedeckte Nacktheit verdichteten sich im Prozess ihrer massenmedialen Vermarktung zu einem Fetisch. So wurde der sich im Tanz präsentierende Körper Allans ebenso detailliert wie obsessiv kommentiert, in Teile zerlegt und fotografiert: »To drive the point home, pictures of her arms, hands, as well as legs, not to speak of her bare feet, were reproduced in the magazines, where journalists countered Salome’s fetishism with their own fetishism of the Salome dancer.«26 Das gleichsam koloniale Gefangensein des weiblichen Körpers im male gaze korrespondierte damals zudem mit dem verewigten Anderssein des Exotischen. Denn, so bereits Edward Said, die männliche Konzeption des Orients tendiert dazu, »to be static,

21 Panofsky, Erwin: Studies in Iconology: Humanistic Themes in the Art of Renaissance, New York: Oxford University Press 1939. 22 Schiebiger, Londa: The Mind has no Sex? Women in the Origins of Modern Science, Cambridge (MA): Harvard University Press 1991, besonders Kapitel 5. 23 Vgl. die psychoanalytische Studie von Fernbach, Amanda: »Wilde’s Salomé and the Ambiguous Fetish«, in: Victorian Literature and Culture 29 (2001), S. 195218. 24 Koritz, Amy: »Oscar Wilde’s Salomé: Rewriting the Fatal Woman«, in: Dies.: Gendering Bodies/Performing Art. Dance and Literature in Early TwentiethCentury British Culture, Michigan: The University of Michigan Press 1995, S. 75-85. 25 Graham-Brown, Sarah: »The Seen, the Unseen and the Imagined: Private and Public Lives«, in: Lewis, Reine/Mills, Sara (Hg.), Feminist Postcolonial Theory. A Reader, Edinburgh: Edinburgh University Press 2000, S. 502-519, hier S. 503. 26 Walkowitz, Judith: »The Vision of Salome: Cosmopolitanism and Erotic Dancing in Central London, 1908-1918«, in: The American Historical Review 108 (2002), S. 8-35, hier S. 14. 239

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frozen, fixed eternally«.27 Amy Koritz zufolge waren die Vorstellungen vom Orient zwar fixiert, aber nicht eindeutig. Sie schwankten vielmehr zwischen dem verfügbar Exotischen, das sensuell und erotisch, und dem Mystischen, das transzendental und unerreichbar imaginiert wurde. Durch diese innere Ambivalenz im Orientalismus der Jahrhundertwende sei es möglich gewesen, so Koritz, in den künstlerischen Bearbeitungen des Salome-Stoffes auch mögliche Auswege aus der »fatal-woman figure« zu finden.28 Gleichwohl ist es vor allem Richard Strauss’ 1905 uraufgeführte Oper, die dem Schleiertanz seine orientalistisch-voyeuristische Gestalt gab. Strauss spielte dabei nicht allein mit dem Reiz des Striptease, sondern noch mit einem anderen thrill: »Die tänzerische Darstellung gewinnt«, so Karla Hoven-Buchholz, »ihren eigentlichen Reiz aus dem zusätzlichen verdichteten Wissen um die phantasierte Verbindung von sexueller Hingabe, Kastration und Tod […]. Salomes Tötung am Ende der Oper ist dabei notwendiger Bestandteil ihrer Aufführung.«29 Die Psychoanalyse Sigmund Freuds sollte zur selben Zeit die Männerphantasie von der Kastration auf eine Weise in die psychosoziale Produktion ›normaler‹, das heißt normalisierter, heterosexueller Männlichkeit integrieren, dass hinfort für jeden Ödipus die ›richtige‹ Verarbeitung der Kastrationsdrohung zum Nadelöhr sexueller Gesundheit wurde. Auch hier konstituiert sich im gaze zugleich das ›männliche‹ Subjekt und das Geschlechterverhältnis. Besonders in der lacanschen Spielart der Psychoanalyse wird die Bedeutung des Phallischen als des sichtbaren und damit einzigen Geschlechts »an die Wahrnehmung der Kastration der Frau« gebunden. 30 In Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse stellt Lacan gleichwohl die Frage danach, was sich hinter dem Schleier dieser Erscheinung des Nichts verbergen könnte, und erklärt zugleich diese Unsicherheit zum Motor philosophischen Forschens: »In dem Maße, wie der Blick, als Objekt a, jenes zentrale Fehlen, das sich in der Erscheinung der Kastration ausdrückt, zu symbolisieren vermag, […] lässt er das Subjekt in Unwissenheit darüber, was jenseits des Scheins ist – diese Unwissenheit, die so bezeichnend ist für jeden Fortschritt des Denkens auf der sich durch die philosophische Forschung konstituierenden Bahn.« 31

Allan erschien ihren Gegnern und Gegnerinnen freilich als lebendiges Symbol zunehmender femininer Sichtbarkeit und Aggressivität. Auch wenn sie selbst

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Said, Edward: Orientalism, New York: Random House 1998 [1978], S. 208. A. Koritz: »Oscar Wilde’s Salomé«, S. 77. K. Hoven-Buchholz: »Was verschleiert Salomes Tanz?«, S. 361. Mathes, Bettina: Verhandlungen mit Faust. Geschlechterverhältnisse in der Kultur der Frühen Neuzeit, Königstein/Taunus: Ulrike Helmer 2001, S. 105ff. 31 Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch 11, übers. v. Norbert Haas, 3. Aufl., Berlin: Quadriga 1987, S. 83. 240

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keine Anhängerin der Suffragettenbewegung war, avancierte ihr Tanz, ebenso wie die Könige manipulierende und Propheten tötende Figur der Salome, im Ersten Weltkrieg zum Inbegriff einer bedrohlichen Weiblichkeit, dreifach gefährlich durch Geist, Gewalt und Begehren. Allerdings musste die kanadische Tänzerin, die auf der Bühne des Palace Theatre traumverloren mit dem abgeschlagenen Haupt Johannes des Täufers spielte, besonders für die britischen Patrioten der Muscular-Christianity-Bewegung ein Gräuel sein, denn diese hatten sich dem Konzept einer neuen, körperlich starken und dabei christlichreinen Männlichkeit verschrieben. Die Bewegung verband »physical strength, religious certainty, and the ability to shape and control the world around oneself. [For] muscular Christians, the male body appears as a metaphor for social, national, and religious bodies.«32 Das Ideal eines männlichen Christentums, das durch Sport auf die Stärkung des Männerkörpers abzielte, wurde insbesondere vom liberalen Schriftsteller Charles Kingsley und später auch vom christlichen Sozialisten Thomas Hughes in der Mitte des 19. Jahrhunderts propagiert. Die Muscular-Christianity-Bewegung hatte Einfluss auf die Boy-Scout-Bewegung und erweiterte sich schnell zu einem sowohl patriotisch wie innerkirchlich ausgerichteten Reformunternehmen. Es ging den christlichen Streitern darum, die moderne Effeminierung der Kirche aufzuhalten und das Empire zu stärken. »To describe their new ideal man, his supporters even adopted a new word, the adjective ›masculine‹, which […] did not come into general usage until 1890s.« 33 Bedeutsam für den hier interessierenden Zusammenhang ist nun die Tatsache, dass Kingsley auch Anhänger 34 des British Isrealism war, einer Bewegung, die in Großbritannien das Neue Israel und in den BritInnen das erwählte Volk sah und für die das koloniale Empire die Verwirklichung des göttlichen Segens darstellte. Da sich in dieser Vorstellungswelt Großbritannien nicht allein in den heroischen Gestalten Griechenlands, sondern auch denen der Bibel spiegelte, musste freilich jede öffentliche Darstellung geschwächter oder gar durch Frauentat enthaupteter frühchristlicher Heroen als häretischer und zugleich politischer Akt erscheinen.

Was aber verdeckt die Entschleierung der Salome? Was bedeutet es nun, wenn weibliche Avantgardekünstlerinnen diese Inkunabel eines kolonialen Sexismus in eigener Regie zu verwandeln beginnen? Der Hetzartikel im Imperialist vom 26. Januar 1918 ebenso wie der Text vom 32 Hal, Donald E.: Muscular Christianity: Embodying the Victorian Age, Cambridge: Cambridge University Press 1994, S. 7f. 33 Puttney, Clifford: Muscular Christianity. Manhood and Sports in Protestant America, 1880-1920, Harvard: Harvard University Press 2001, S. 5. 34 Vgl. die Einleitung in ebd. 241

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16. Februar 1918 mit der Überschrift Cult of the Clitoris hatten freilich ganz spezifische Gefahren im Sinn. Sie sprachen vor allem von der Aneignung der Salome in einem männerfreien Raum weiblicher Selbsterregung und Maskeraden und prangerten die kriegspolitisch verderbliche Macht verbotener lesbischer Lust und Verführung an. Denn hier waren angeblich »[w]ives of men in supreme position […] entangled. In Lesbian ecstasy the most sacred secrets of State were betrayed.« 35 Die Texte kulminierten in der Vermutung des Autors, dass die private Aufführung des wildeschen Stückes nur als Vorwand zu weiterer Unterwanderung diene. 36 Nun verdichtete sich nicht nur die biblische und literarische Figur Salome zum Angriffspunkt heftiger Affekte und Abwehrreaktionen, sondern auch die Tänzerin Allan selbst wurde mehr und mehr mit der jüdischen Prinzessin identifiziert, und das, obwohl so berühmte Tanzpionierinnen wie Loïe Fuller, Isadora Duncan, Mata Hari oder Ida Rubinstein diese Rolle bereits vor ihr getanzt hatten. 37 Vielleicht lag dies unter anderem daran, dass Allan in ihrer Choreographie Vision of Salome den kindlichen, den exhibitionistischen und den visionären Aspekt des Stoffes auf ganz eigenwillige Art miteinander verband. Dabei bestätigte sie gleichwohl die überlegene Position des ›Westens‹ gegenüber dem ›Osten‹, wenn sie versuchte, »to transform what was ›Eastern‹ into something ›Western‹, something ›erotic‹ in something ›spiritual‹«. 38 Allans Barfußtanz untermauerte damit die zivilisatorische Überlegenheit des Empire gegenüber dem Orient. Mithilfe ihres kanadisch-nordamerikanischen Körpers gelang es ihr, so positive Kritiken, die ›vulgären‹ Seiten des Originals in artistische Schönheit zu verwandeln. Ein Kritiker der Times steht hier für viele: »Now it is obvious that the dancer could make no movement or posture that is not beautiful, and in fact, her dancing as Salomé, though Eastern in spirit through and through, is absolutely without the slightest suggestion of the vulgarities so familiar to the tourist in Cairo or Tangier.« 39

In gewisser Weise schwankte die Darstellung von Maud Allan in der Londoner Presse zwischen zwei Extremen: Sie wurde einerseits als hypersexuell und

35 New York Times vom 8.8.1908, zit. n. F. Cherniavsky: The Salome Dancer. The Life and Times of Maud, S. 176. 36 Vigilante vom 16.2.1918, zit. n. P. Hoare: Oscar Wilde’s Last Stand, S. 91. 37 Vgl. Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Fischer 1995. 38 Walkowitz, J. : »The Vision of Salome«, S. 14 39 Zit. n. Koritz, Amy: »The Dancer and Woman’s Place. Maud Allan and Isadora Duncan«, in: Dies.: Gendering Bodies, S. 31-49, hier S. 39. 242

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als ›white witch‹ und Vampir dämonisiert: »One moment she is the vampire … next she is the lynx«, schrieb ein Kritiker der Vision of Salome, »[a]lways the fascination is animal-like and carnal … Her slender and lissom body writhes in an ecstasy of fear, quivers at the exquisite touch of pain, laughs and sighs, shrinks and vaults, as swayed by passion … She kisses the head and frenzy come upon her. She is no longer human. She is a Maenad sister.« 40

Andererseits feierte man die Kanadierin als Ikone reiner, spiritueller und ›gesunder‹ Weiblichkeit. Und das nicht ganz zu Unrecht. Denn Allans Tanz verband die unterschiedlichsten kosmopolitischen Einflüsse miteinander. Außer vom orientalischen Tanz war sie vor allem wie Isadora Duncan vom ›Griechischen‹ begeistert: »I have sought all my attitudes and movement«, so schrieb sie, »in the Art Galleries of Europe, on Etruscan vases and Assyrian tablets.« 41 Gleichzeitig beeinflusst vom American popular dance, von der neuen Gesundheits- und Körperbewegung und von den expressiven Strategien des französischen Bewegungsspezialisten François Delsarte, integrierte die Künstlerin durchaus auch lebensreformerische Gedanken und Techniken in ihren ›orientalischen‹ Tanz. Insbesondere die hybride Qualität ihrer Kunst befähigte Allan dazu, in ihrer ebenso kurzen wie steilen Karriere die Klassengrenzen zwischen Populärkultur und Hochkultur zu überschreiten: »[…] at the same time she violated the tacit rule that barred ›respectable‹ women from the public stage.«42 Für die Londoner Kultur der Jahrhundertwende bedeutete der neue Tanz der in Kalifornien aufgewachsenen Kanadierin auf jeden Fall eine Erschütterung. So Judith Walkowitz: »Allan’s gestural system built on available constructions of corporality and subjectivity, but it gave unusual status to a self-pleasuring, embodied, and expressive female self and to the staging of the internal process of consciousness in public.«43

1907 war bekanntlich auch das Jahr, in dem die Suffrage Societies ihre erste Massendemonstration für das Frauenwahlrecht auf den Straßen Londons veranstaltet hatten. Mit den 15.000 ›respectable women‹ verließen nun viele Frauen den für sie in der politischen Genderordnung bestimmten privaten Raum und brachen mit Macht, Sichtbarkeit und Gewalt in den öffentlichen Raum ein. »In such a climate«, so folgert Koritz zu Recht, »the public repre40 Zit. n. F. Cherniavsky: The Salome Dancer, S. 165. 41 Allan zit. n. Blathwayt, Raymond: »Two Visions of Maud Allan«, in: Black and White vom 18.7. 1908. 42 A. Koritz: »The Dancer and Woman’s Place«, S. 31. 43 J. Walkowitz: »The Vision of Salome«, S. 2. 243

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sentation of an aggressively sexual figure such as Salomé would have a high ideological charge.« 44

Eine feministische Salome? Mit Salomes Selbstentblößung begann die Eroberung der Bühnen durch avantgardistische Tanz- und Burlesque-Künstlerinnen von Ida Rubinstein über Anita Berber, Gypsy Rose Lee bis hin zu Valeska Gert und Mae West und die Etablierung des kommerziellen Striptease. Insgesamt war das Theater im London der damaligen Zeit »a liberating arena for women. The stage was one of the few places where they could pursue and succeed in independent careers. […] The theatre’s mixing of class and sexuality, and its susceptibility to the suspiciously new, combined to produce a threat to the moral status quo.« 45

Aber selbst die Einschätzung von Avantgarde-Künstlerinnen blieb ambivalent. So sieht Jane Marcus Salomes Tanz zwar als »the New Woman’s art form«, gleichwohl hält sie ihren Tanz für derart reduziert und eingesperrt wie »the tarantella danced by Nora in ›A Doll’s House‹«.46 Einen der ersten feministischen Versuche, Salome in ein weibliches Subjekt zu verwandeln und das ›Orientalische‹ und den sexuellen Exhibitionismus in das eigene Anderssein zurückzuübersetzen, unternahm die junge russische Schauspielerin Ida Rubinstein, »whose 1908 performance precipitated an outburst of Orientalist, anti-Semitic, and misogynist horror«.47 Maud Allans Performances führten die Salomania ihrer Zeit auf den Zenit. Dabei zogen selbst ihre öffentlichen Auftritte im Palace Theatre mehr Frauen als Männer an. Wie die liberale Daily Chronicle 1908 berichtete, waren mindestens 90 Prozent des Publikums Frauen: »It might have been a suffragist meeting … the ladies were of all ages, well dressed, sedate.« 48 In ihrem kosmopolitischen Tanz reflektierte Allan zudem die Phantasien, die mit Salome damals verbunden waren, auf neue Weise und eröffnete damit, so Judith Walkowitz, »[a] set of codes for female bodily expression that disrupted the Victorian conventional dichotomies of female virtue and female vice and pushed beyond such dualisms. Allan used the ›Orient‹ as a register for female sensual expression, but she also

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A. Koritz: »The Dancer and Woman’s Place«, S. 37. P. Hoare: Oscar Wilde’s Last Stand, S. 29. E. Showalter: Sexual Anarchy, S. 159. Ebd., S. 159f. Zit. n. J. Walkowitz, »The Vision of Salome«, S. 17.

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built her dance from a range of other cultural forms, including American physical culture, theatrical posing, and modernist strategies of representations.« 49

Konnte es Maud Allan jedoch wirklich gelingen, die Ambivalenz des Orientalismus zu nutzen, um aus dem Diskursgefängnis der Femme-fatale-Figur auszubrechen? Bekanntlich erscheint das Bild der männermordenden, dämonischen Tänzerin Salome bereits im 14. Jahrhundert als sündige Inkarnation der Synagoga im Gegensatz zur keuschen Ecclesia an europäischen Kirchenfassaden: »Zahllose St.-Johannis-Kirchen zeigen Salome als weibliche Verkörperung des jüdisch-teuflischen Bösen, als Glasfenster, Skulptur oder Figur in Johannis-Passionsspielen, die am 24. Juni aufgeführt wurden.« 50

The Vision of Salome und die Wiederkehr des Verdrängten Maud Allan bezieht sich in ihrer Bearbeitung des Salome-Stoffes stark auf die biblischen Texte. Sie konzentriert sich, wie vor ihr bereits Oscar Wilde, auf den zerreißenden, familiären Beziehungskonflikt, aus dem der Tanz der Salome, der Tod Johannes des Täufers und die Tötung Salomes hervorgehen. In ihrer Darstellung fällt zudem auf, dass sie das tanzende Mädchen gerade nicht als rasende, männermordende Mänade charakterisiert, sondern als ein von seinen machtlüsternen und sich gegenseitig bekämpfenden (Stief-)Eltern missbrauchtes Kind. Salome spielt also in Allans Choreographie beim Tanz vor Herodes nicht ihr eigenes böses Spiel. Gleichwohl erfährt das Mädchen im Verlauf des Geschehens schockartig Begierde, spirituelle Transzendenz und Tod. Sie verwandelt sich dadurch wie in einem zweifachen Konversionserlebnis in eine erwachsene, begehrende Frau und in eine spirituell Erleuchtete. Gleichwohl wurde in den Zeitungen viel über die sinnliche Präsenz und Ergriffenheit von Allans Tanzperformance geschrieben. Leider liegen uns kein Filmmaterial, sondern nur Fotografien davon vor. Auch ihr Kostüm, das nur aus Perlen, Tüchern und Schnüren bestand, hatte sie selbst entworfen. Eine besonders skandalöse Einzelheit ihrer Darbietung bestand allerdings darin, dass sie den abgeschlagenen Kopf Johannes des Täufers bereits während ihres Tanzes auf der Bühne erscheinen ließ. Diana Cooper, eine Zuschauerin von 1908, notierte in ihr Tagebuch: »[…] she was all but naked and had St. John’s head on a plate and kissed his waxen mouth.«51 Trotz dieser blutigen Szene 49 Ebd., S. 6. 50 K. Hoven-Buchholz: »Was verschleiert Salomes Tanz?«, S. 374. Vgl. Freise, Dorothea: Geistliche Spiele in der Stadt des ausgehenden Mittelalters. Frankfurt – Friedberg – Alsberg, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 51 E. Showalter: Sexual Anarchy, S. 162. 245

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kommt Allans Deutung der Salome als Kind, das im Machtkampf ihrer Eltern benutzt und zerrieben wird, dem biblischen Urtext nahe. Denn das tanzende Mädchen aus der Bibel, das später von dem jüdischen Historiker Josephus Salome genannt wurde und im 19. Jahrhundert durch Flaubert und Huysmans zur orientalistischen Ikone weiblicher Sexualität im male gaze avancierte, weiß im Matthäus- wie im Markusevangelium (Mt. 14, 6-14; Mk. 6, 21-34) in der Tat nichts zu wünschen. Sie trägt noch keinen Namen. Die Bibel bezeichnet sie als ›Mägdlein‹ oder ›Tochter der Herodias‹. Sie ist noch nicht Subjekt eigenen Begehrens, sondern vielmehr willfähriges Instrument in den Händen ihre Mutter. »Das wunschlose Mädchen, den Kopf des Johannes fordernd, vertritt nur das Begehren der Mutter, sich mit dieser identifizierend.«52 Auch die Beziehung von Salome zu Johannes dem Täufer erhält vor dem Hintergrund des mörderischen Geschlechterkampfes der Eltern eine ganz andere, nämlich eine beziehungsgeschichtliche Dimension. Johannes der Täufer wusste nur zu gut, dass der Ehe ein Brudermord vorausgegangen war, hatte doch Herodes seinen älteren Bruder Philippus, den früheren Ehemann der Herodias und Vater Salomes, zuerst zwölf Jahre in die Zisterne werfen und dann, als dieser nicht sterben wollte, erwürgen lassen. Angestachelt von Herodias und der eigenen Angst vor einem möglichen Aufruhr folgend, hatte »Herodes Johannes gegriffen, gebunden und in das Gefängnis gelegt wegen der Herodias, der Frau seines Bruders Philippus. Denn Johannes hatte zu ihm gesagt: ›Es ist nicht recht, dass du sie hast.‹ Und er hätte ihn gerne getötet, fürchtete sich aber vor dem Volk, denn sie hielten ihn für einen Propheten« (Mt. 14, 3-6).

Aber noch aus der dunklen Zisterne wurden alle Palastbewohner- und bewohnerinnen durch die gewaltigen Worte und die Stimme des Propheten erschüttert, der diese Ehe und besonders Herodias anklagte. Schließlich wurde die Wirkung von Salomes Tanz von der Mutter benutzt, um ihren Widersacher zum Verstummen zu bringen, und »über Salome schlagen die elterlichen Verstrickungen in Macht und Ehrgeiz, Eros und Rache zusammen«. 53 In Allans Choreographie The Vision of Salome leidet das Mädchen darunter, dass ihr der geliebte Vater Phillipus durch seinen machthungrigen Bruder Herodes entrissen wurde. Als sie dann zum ersten Mal die Stimme Johannes des Täufers aus eben der Zisterne heraufschallen hört, in der ihr leiblicher Vater gefangen war, vernimmt sie in den Worten des Propheten die anklagende 52 Böhme, Hartmut: »Die Enthauptung von Johannes dem Täufer«, in: GeissmarBrandi, Christoph/Louis, Eleonora (Hg.), Glaube Hoffnung Liebe Tod, Klagenfurt: Ausstellungskatalog Wiener Kunsthalle/Albertina 1995, S. 379-384, hier S. 379. 53 Ebd. 246

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Stimme des toten, geliebten Vaters. Es ist diese Wiederkehr einer verdrängten Herrschafts- und Gewaltgeschichte, die die tragische Dynamik in Gang setzt. Erst im zweiten, neuen Teil der Choreographie beginnt die eigentliche Performance der Tänzerin. Diese erzählt zugleich die Geschichte eines zweiten Tanzes, der Vision of Salome. Denn wie traumwandlerisch bewegt sich das Mädchen zurück zum nun menschenleeren Ort des schrecklichen Ereignisses und beginnt dort, im Angesicht des am Boden zurückgelassenen Hauptes, erneut, jetzt ganz für sich selbst, zu tanzen. Dabei erlebt sie zugleich alle Gefühle und Stationen des Abends noch einmal, nur jetzt unter eigener Regie und wie verwandelt: »Compelled by a mixture of remorse, fear, longing, and some unnamed but irresistible force, Salome re-enacts the events leading up to John the Baptist’s death and seeks out his head. She dances with the head, and the spiritual powers it represents ›makes of little Salome a woman‹.« 54

An dieses psychosexuelle Erwachen schließt sich in Allans Choreographie ein spirituelles und moralisches Erkennen an. Dieses führt sie allerdings in einen höheren Raum religiösen ›Erwachens‹, der von Allan zugleich deutlich als Triumph des reinen Christentums über den sinnlich-bestialischen Orient dargestellt wird. Dennoch, und hierin bestand wohl das damals faszinierende Moment ihrer Performance, bleibt das tänzerische Medium auch des Erkennens der Körper der jungen Frau. Zugleich verwandelt sich die Femme fatale in eine Pathosformel für einen zerreißenden Beziehungskonflikt. Als »leidend leidenschaftliche Täterin«55 ähnelt Salome nun anderen literarischen Stiefkindern, die zwischen sich bekämpfenden Elternteilen stehen, wie Orest oder Hamlet. In ihrer psychoanalytischen Deutung folgert Hoven-Buchholz: »So sehen wir Salomes gewaltige Bosheit entstanden und eingewoben im Projektionsnetz einer durch mörderischen Geschlechterkampf gespaltenen Familie.«56 Nun sehen wir auch, dass nicht allein, wie René Girard betont, 57 Johannes der Täufer der Krise des Herrscherpaares zum Opfer gebracht wird, sondern ebenfalls das Kind Salome. Und plötzlich handelt es sich bei Allans Vision of Salome um eine moderne Transformation der Antike: Es geht um das Drama einer zerrütteten Dynastie, die selbst ihr Kind als Werkzeug des Machtkampfes missbraucht. Damit rückt der Tanz der Salome sowohl in die Nähe von Strawinskys 1913

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A. Koritz: »The Dancer and Women’s Place«, S. 43. K. Hoven-Buchholz: »Was verschleiert Salomes Tanz?«, S. 376. Ebd. Girard, René: Ich sah den Satan vom Himmel fallen. Eine kritische Apologie des Christentums, Wien: Hander 2002. 247

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uraufgeführtem Tanzdrama Le sacre du printemps als auch von Wedekinds 1891 erschienenem Drama Frühlings Erwachen. Könnten wir die englische Salome aber nicht auch als Parabel eines doppelten Kolonialismus lesen? Dann handelte es sich um ein zentrales Narrativ der inneren Kolonisierung des okzidentalen Frauenkörpers, welches mit jener anderen Erzählung, die von der Verfügbarkeit orientalischer Körper berichtet, verschmolzen ist. Die gleichzeitige Fetischisierung und Verteufelung von Salomes entschleiertem Leib wäre dann freilich Symptom eines korrupten Empire, dessen eigene Krise doppelmoralisch unsichtbar bleiben soll.

Der Fall Salome vor Gericht Inmitten des kinderverschlingenden Ersten Weltkriegs und des mit der Kriegshysterie verbundenen kulturellen backlash in England konnte sich freilich diese dem Mainstream widersprechende Interpretation der Figur ganz und gar nicht durchsetzen. Das sollte Maud Allan am eigenen Leib aufs Nachhaltigste erfahren, nachdem sie gegen Pemberton Billing und seinen Hetzartikel The Cult of the Clitoris am 8. März des Jahres 1918 eine Verleumdungsklage eingereicht hatte. Während des skandalumwitterten Prozesses standen nicht Pemberton Billing, sondern sie selbst und ihre Verkörperung der Salome als ›Angeklagte‹ im Fokus der Anhörungen. Es wurden sogar Teile des wildeschen Stückes laut verlesen und kommentiert. So lautete zum Beispiel der Sachverständigen-Kommentar des Arztes Serrell Cooke, der vorher aufmerksam Krafft-Ebings Psychopathia Sexualis studiert hatte, 58 zur letzten Szene des Dramas: »In the sadistic woman, particularly, what is known psychopathically as the love bite is exaggerated very often until blood is actually drawn, and with the tasting or the sucking of that blood, intense sexual excitement is going on until sexual orgasm is produced.« 59

Vergeblich versuchte Allan während des Kreuzverhörs immer wieder zu betonen, dass Salomes Faszination für das abgeschlagene Haupt des Johannes keine bloß sexuell-perverse sei, sondern, so ihre Worte vor Gericht, dass »[t]he spirituality of the man has entered into the girl’s heart and she wonders why this happens«. 60 Als sie allerdings im Verhör keinen Ausweg mehr sah, 58 Kettle, Michael: Salome’s Last Veil. The Libel Case of the Century, London u.a.: Hart-Davis 2000 [1977], S. 149. 59 Serrell Cooke zit. n. M. Kettle: Salome’s Last Veil, S. 155f. 60 Proceedings at the Central Criminal Court, Maud Allan, J.T. Grein v. Noel Pemperton-Billing, 29, 30, 31 May 1, 3, 4 June 1918: The official Record, 248

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griff sie auf orientalistische Stereotype zurück, um die ›Fremdheit‹ der Figur zu erläutern: »It is quite uncustomary for a Westerner to understand the imagery of the Oriental people […]. I wish the Jury to understand that Salome lived in the Eastern world at a time when our rules were not in vogue, and when to see his head in front of her was nothing. I wish the Gentlemen of the Jury to know that Salome was not a perverse young woman.« 61

Indem man der Künstlerin keinen Spielraum ließ, sondern sie mit einer zugleich dämonisierten und medikalisierten Salome identifizierte, wurden ihr nicht allein dekadente Freizügigkeit angelastet, sondern jede Art sexueller ›Abirrung‹ vorgeworfen: Sadismus, Fetischismus, Exhibitionismus und natürlich auch die ›Perversion‹ der lesbischen Sexualität. Zugleich wurden Salome und Allan völlig ›fremd‹ gemacht und aus der angelsächsischen Kultur verbannt: Einerseits stellte man nun besonders Allans deutsche Ausbildung in Wien und Berlin heraus. So betonte Pemberton Billing vor Gericht unaufhörlich: »[…] she introduced ›German‹ dancing into England, a type of dancing, that was quite foreign to the British public, before her performance.« 62 Andererseits verdichtete sich ihre ›Fremdheit‹ zu der einer Jüdin. Ein besonders phobischer Argumentationsstrang Pemberton Billings kulminierte allerdings in der offen rassistischen Beschreibung Allans als Spionin und Vertreterin der »German-Jewish interests who promoted Salome productions and who were protected by the present government«. 63 Wie zuvor im Prozess um Oscar Wilde wurde die öffentliche Gerichts-Bühne dazu benutzt, um an Allan ein Exempel zu statuieren. Das Gerichtsdrama in Old Bailey vom Mai/Juni 1918 stand für ganze sechs Tage im Fokus der Presse. Für Maud Allan hingegen änderte sich damit ihr ganzes Leben. Am Ende verlor sie, die Anklägerin, den Prozess. Es war der Tänzerin bereits zum Verhängnis geworden, dass sie das Wort ›Klitoris‹ kannte und ein unkontrollierbares Wissen um die hybride weibliche Anatomie besaß, die sie zugleich selbstverliebt entschleiert hatte.

zit. n.: M. Kettle: Salome’s Last Veil, S. 70. Im letzten Kapitel ihrer Autobiographie My Life and Dancing (1908) widmet sich Maud Allan ausschließlich den Missverständnissen und Deutungen von The Vision of Salome. 61 Ebd. S. 72 und 74. 62 Pemberton Billing zit. n. J. Walkowitz: »The Vision of Salome«, S. 24. 63 Ebd. 249

Stefan Zweig, die Psychoanalyse und eine Frau, die nicht hineinpasst: Mary Baker Eddy und die Christliche Wissenschaft SABINE GRENZ

Mary Baker Eddy (1821-1910) ist 100 Jahre nach ihrem Tod wenig bekannt. In den 1920er Jahren war dies noch ganz anders. Stefan Zweigs Frage, »Mary Baker Eddy, […] wer ist sie?«, war zu diesem Zeitpunkt eine rein rhetorische. 1 Als Begründerin der weltweiten Bewegung der Christian Science (Christlichen Wissenschaft) war sie eine der bekanntesten Frauen diesseits und jenseits des Atlantiks. 2 Mark Twain beschrieb sie als »in several ways […] the most interesting woman that ever lived, and the most extraordinary«.3 Doch Eddy war auch eine der umstrittensten Frauen ihrer Zeit. Zweig setzte sich 1931 in seinem Essay Heilung durch den Geist – oberflächlich betrachtet – mit Eddys Leben und Werk auseinander. Bei einer intensiveren Beschäftigung mit dem Essay und dem Kontext, in dem er geschrieben wurde, wird jedoch deutlich, dass in ihm etwas ganz anderes verhandelt wird: nämlich das Verhältnis zwischen Säkularisierung, Assimilation, Religion, Atheismus, jüdischer und weiblicher Emanzipation, Psychoanalyse und Christlicher Wissenschaft.

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Zweig, Stefan: Heilung durch den Geist, Frankfurt a.M.: Fischer 1985, S. 128. Die Christliche Wissenschaft ist eine eigenständige metaphysisch-religiöse Bewegung mit eigener Kirchenstruktur sowie zahlreichen dissidenten Nebenströmungen. Sie wurde im Laufe des Nationalsozialismus verboten, weshalb sie in Deutschland an Bekanntheit verlor. Gill, Gillian: Mary Baker Eddy, Reading (MA): Perseus Books 1998, S. xi. 251

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Der Hintergrund des Essays Der Essay über Eddy wurde in einer Trilogie zusammen mit zwei weiteren über Franz Anton Mesmer und Sigmund Freud veröffentlicht. Darin wollte Zweig den Kontinuitäten der Heilung durch den Geist vom Mesmerismus über die Christliche Wissenschaft bis zur Entdeckung der Psychoanalyse nachgehen. Doch müssen dabei einige Widersprüche überwunden werden. Denn die Psychoanalyse ist eine Lehre, die die Mechanismen der Psyche und des Unbewussten zu erklären und auf dieser Basis zu heilen versucht, während die Christliche Wissenschaft das Religiöse bzw. das Göttliche zu erklären versucht und auf der Grundlage dieses Verständnisses heilen will. Der Geist, der laut Stefan Zweig heilende Kraft entwickelt, ist der menschliche Geist. Eddy insistiert dagegen darauf, eine Heilmethode entwickelt zu haben, in der der göttliche Geist heilt. Die Christliche Wissenschaft hat einen eindeutig religiösen Inhalt und die Psychoanalyse wurde auch als »gottlose[s] Judentum«, also als Religion ohne Gott interpretiert. 4 Zweigs Trilogie veranschaulicht daher den Konflikt zwischen zwei mentalen Heilmethoden, denen beiden von ihren GegnerInnen der Vorwurf gemacht wurde, irrational und unbeweisbar zu sein, da es – sei das Es nun göttlich oder unbewusst – geglaubt werden müsse. Aus Zweigs Biographie ist bekannt, dass er sich bereits seit 1908 mit Freud beschäftigte,5 ihn sehr verehrte und die Psychoanalyse »für die Gestaltung seiner literarischen Figuren genutzt hatte«. 6 Die Psychoanalyse bedeutete für ihn Freiheit von den einengenden moralischen Vorstellungen des Christentums, insbesondere was die Sexualmoral betrifft. Zweigs Essay kann daher mit Foucault auf zweierlei Weise gelesen werden: zum einen als Ausdruck diskursiver Kämpfe zwischen einem etablierten und einem sich etablierenden System, wie sie sich im 19. Jahrhundert etwa zwischen der aufkommenden Psychologie und der etablierten Rechtswissenschaft 7 oder eben zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen der Religion und der Psychoanalyse abspielten. Zum anderen ist der Text Ausdruck des diskur-

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Von Braun, Christina: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht, Zürich: Pendo 2001, S. 442. Vgl. Haenel, Thomas: Stefan Zweig. Psychologe aus Leidenschaft: Leben und Werk aus der Sicht eines Psychiaters, Düsseldorf: Droste 1995, S. 198. Rovagnati, Gabriella: »Umwege auf dem Weg zu mir selbst«. Zu Leben und Werk Stefan Zweigs, Bonn: Bouvier 1998, S. 80. Zweig legte zudem großen Wert auf die Beurteilung durch Freud, vgl. Jin, Xiuli: Der Kampf mit dem Dämon. Stefan Zweigs literarische Typisierung des Genialischen, Hamburg: Dr. Kovaþ 2004, S. 67. Vgl. Foucault, Michel (Hg.): Pierre Rivière. A Case of Parenticide, Norwich (Norfolk): Penguin 1978.

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siven Kampfes eines sich etablierenden Systems (der Psychoanalyse) mit einem anderen (der Christlichen Wissenschaft). Während Eddy eine eigene Kirche gründete, die von patriarchalen Strukturen befreite, war Zweig trotz seines eigenen sexuellen Freiheitswillens im Hinblick auf die gesellschaftliche Geschlechterordnung konservativ. So bezeichnet er Eddy, die als Führerin einer weltweiten Bewegung einfach nicht in seine Vorstellungen »idealer Weiblichkeit«8 passte, unter anderem als »unfraulichste Frau«. 9 Zudem knüpft er an das seit der Antike währende Unternehmen an, »den weiblichen Geist in Abhängigkeit vom weiblichen Unterleib« zu sehen. 10 In seiner Abwehr der Frauenemanzipation kommt noch eine weitere zeitgenössische Argumentationsfigur zum Ausdruck. Christina von Braun macht darauf aufmerksam, dass beide, Frauen und jüdische Männer, zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der Strategie Gebrauch machten, sich gegenseitig zu diskreditieren, um Ausgrenzungen zu begegnen und sich zu emanzipieren. Jüdische Männer wollten unter anderem zeigen, dass ihnen im Gegensatz zum Bild des ›verweiblichten Juden‹ »nichts ›Weibliches‹ eigen sei«.11 Zweigs Argumentation, die in einer Zeit geschrieben wurde, in der der Antisemitismus bedrohliche Formen annahm, stützt von Brauns These. Überspitzt könnte gesagt werden, dass Zweig die Lehre einer Frau, die zwar christlich war, aber aus dem Rahmen fiel, diskreditierte, um so die Lehre eines jüdischen Mannes voranzubringen und antisemitische Strömungen abzuschwächen. Wie Zweig vor diesem historischen Hintergrund Eddys Werk rezipierte und funktionalisierte und damit um die Deutungshoheit des Wissenssystems der Psychoanalyse über das der Christlichen Wissenschaft kämpfte, soll im Folgenden näher untersucht werden. Da Mary Baker Eddy im deutschsprachigen Raum heute weitgehend unbekannt ist, werde ich zunächst ihre Biographie und ihr Werk skizzieren. Anschließend werde ich darstellen, welchen Stellenwert der Essay über sie in Zweigs Trilogie Heilung durch den Geist einnimmt. In weiteren Schritten werde ich auf Eddys Begegnung mit dem animalischen Magnetismus sowie auf Zweigs Behandlung der Lehre Eddys eingehen, um abschließend die geschlechtertheoretischen Dimensionen seines Essays herauszuarbeiten.

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Schmidt, Mirjam: Frauengestalten in den Erzählungen von Stefan Zweig, Frankfurt a.M.: Peter Lang 1998, S. 252. 9 S. Zweig: Heilung, S. 172. 10 C. von Braun: Versuch über den Schwindel, S. 59. 11 Ebd., S. 497. 253

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Skizze vom Leben und Werk Mary Baker Eddys Als Mary Baker Eddy im Dezember 1910 mit 89 Jahren starb, war sie eine der bekanntesten Frauen der USA und von denjenigen, die ihr Vermögen selbst erworben hatten, die reichste. Sie hinterließ ein umfangreiches religiösphilosophisches Werk, hatte eine Kirche gegründet, die weltweit großen Zulauf fand, und hatte die Tageszeitung The Christian Science Monitor herausgegeben.12 Doch »[i]n Victorian standards, Eddy was a failure«: 13 Sie war dreimal verheiratet, zweimal verwitwet und einmal geschieden, alleinerziehend, von anderen Menschen abhängig, häufig krank und musste ihr Kind an Pflegeeltern abgeben. Bis zu einem Alter von 45 Jahren beschäftigte sie sich ausgiebig mit im 19. Jahrhundert geläufigen Heilmethoden wie z.B. der Homöopathie. Mit 45 hatte sie ein Offenbarungserlebnis, das sie in den folgenden 40 Jahren immer wieder neu in Sprache zu fassen suchte. Erst als sie über 60 Jahre alt war, begann die von ihr angeführte Bewegung zu wachsen. Berühmt wurde Eddy durch die Entwicklung einer Heilmethode, die darin besteht, sich bewusst mit dem Göttlichen in Einklang zu bringen.14 Eddy entwickelte einen Begriff von Gott als verstehbares Sein. Da dieser von vielen als befriedigender empfunden wurde als derjenige herkömmlicher Religionen 15 und da tatsächlich Heilungen geschahen, gewann sie zunehmend mehr AnhängerInnen. Diese bekamen durch das von ihr gegründete Massachusetts Metaphysical College in Boston Zugang zu Universitätsabschlüssen und wurden durch Unterricht in der Christlichen Wissenschaft selbst zu AusüberInnen. Da sich Eddys Lehre vorwiegend Frauen anschlossen, hatte dies den Nebeneffekt, dass Frauen durch die Christliche Wissenschaft selbständig Einkommen generieren konnten und in der Öffentlichkeit präsenter wurden.16

12 Der Christian Science Monitor ist der einzige Bestandteil ihres Werks, den auch Zweig anerkannte, vgl. S. Zweig: Heilung, S. 265. 13 Hicks, Rosemary R.: »Religion and Remedies Reunited. Rethinking Christian Science«, in: Journal of Feminist Studies in Religion 20 (2004), S. 25-58, hier S. 32. 14 Vgl. Kappeler, Max: Grundlagen einer christlich-wissenschaftlichen Behandlung, Zürich: Kappeler-Institut Publikationen 2003, S. 20; siehe auch Doorly, John W.: Praxis der Christlichen Wissenschaft, London: Foundational Book Company 1968. 15 Vgl. McDonald, Jean A.: »Mary Baker Eddy and the Nineteenth-Century ›Public‹ Woman: A Feminist Reappraisal«, in: Journal of Feminist Studies in Religion 2 (1986), S. 89-111, hier S. 105ff. 16 Vgl. Lindley, Susan Hill: »You have stept out of your place«. A History of Women and Religion in America, Louisville (KY): Westminster John Knox Press 1996, S. 267ff.; R.R. Hicks, »Religion and Remedies«, S. 30, 41. 254

STEFAN ZWEIG, DIE PSYCHOANALYSE UND EINE FRAU, DIE NICHT HINEINPASST

Eddys Beitrag zur Theologie besteht darin, dass sie die Sichtweise Gottes als »male and female, father and mother« etabliert. 17 Teilweise geht sie sogar darüber hinaus: »In divine Science, we have not as much authority for considering God as masculine, as we have to considering Him feminine, for Love imparts the clearest idea of Deity.« 18 Indem sie Liebe mit Femininität verbindet, verbleibt sie zwar in der herkömmlichen Metaphorik der Geschlechterordnung. Gleichzeitig überwindet sie diese jedoch, da sie zwischen Metaphorik und lebenden Menschen unterscheidet. Denn beide, Männer und Frauen, sollen männliche wie weibliche Eigenschaften ausdrücken: »Union of the masculine and feminine qualities constitutes completeness«.19 Eddys Gottesbegriff hatte für Frauen eine befreiende Wirkung und entfaltete so eine quasi revolutionäre Wirkung in Bezug auf die Geschlechterordnung innerhalb der christlich-wissenschaftlichen Bewegung.20 Bereits zu Lebzeiten wurden zwei Biographien über sie verfasst. 1907 erschien die Biographie von Sibyl Wilbur, die ein überwiegend positives Bild von ihr zeichnet,21 und 1909 wurde eine weitere von Willa Cather und Georgine Milmine veröffentlicht, die sie überwiegend negativ beurteilt.22 Alle drei waren Journalistinnen, keine von ihnen war Anhängerin der Christlichen Wissenschaft, sie griffen auf dieselben Quellen zurück und beide Biographien erschienen vorab als Zeitschriftenserien. 23 Zwischen den Autorinnen besteht dennoch ein entscheidender Unterschied: Wilbur war eine der wenigen JournalistInnen, denen Eddy vertraute, während Cather und Milmine ihr nie per17 S.H. Lindley: »You have stept«, S. 268; vgl. Hall, Irene: »Mary Baker Eddy and Christian Science«, in: Feminist Theology 16 (2007), S. 79-88, hier S. 85ff. 18 Eddy, Mary Baker: Science and Health with Key to the Scriptures, Boston: Christian Science Publishing Society 1910, S. 517. 19 Ebd., S. 57. 20 R.R. Hicks, »Religion and Remedies«. 21 Wilbur, Sibyl: The Life of Mary Baker Eddy, Boston: Christian Science Publishing Society 1907. 22 Cather, Willa/Milmine, Georgine: The Life of Mary Baker G. Eddy and the History of Christian Science, Nebraska: University of Nebraska Press 1993 [1909]. 23 Von Dezember 1906 bis Dezember 1907 erschienen Wilburs Artikel in der Zeitschrift Human Life, vgl. Longyear Museum (Hg.): The Human Life Articles on Mary Baker Eddy by Sibyl Wilbur, Boston: Longyear Museum Press 2000, und von Januar 1907 bis Juni 1908 lief die Serie von Cather und Milmine im MacClure’s Magazine. Letztere erschien wie das auf ihr beruhende Buch zunächst nur unter Milmines Namen. Die Schriftstellerin Cather bestand darauf, das Material nur strukturiert und ein paar Passagen umgeschrieben zu haben. Inzwischen wird jedoch davon ausgegangen, dass die Zeitschriftenartikel ebenso wie das Buch hauptsächlich von Cather verfasst wurden, vgl. Stouck, David: »Introduction«, in: W. Cather/G. Milmine: The Life of Mary Baker G. Eddy, S. xvxxviii, hier S. xvi ff. Beide Artikelserien wurden für die Buchausgabe erheblich überarbeitet. Während die von Wilbur dadurch verklärter klang, wurde die von Cather und Milmine diskreditierender. 255

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sönlich begegneten. Ob eine Begegnung mit Eddy sie umgestimmt hätte, ist ungewiss. Sicher ist jedoch, dass Wilbur sehr beeindruckt von der über 80jährigen Frau war, die sie mehrmals traf und interviewte. 24 Inzwischen sind weitere Biographien über Eddy verfasst worden.25 Gillian Gill, die keine Anhängerin der Christlichen Wissenschaft ist, rekonstruiert Eddys Leben aus feministischer Sicht.26 In ihrer Biographie wird deutlich, wie außergewöhnlich Eddys hier nur kurz skizziertes Leben für eine Frau im 19. Jahrhundert war und wie viel Mut es erforderte, die für sie bestehenden Hindernisse zu bewältigen. Doch wie viele Frauen, die sich aus jenen Bahnen herauswagten, die durch die zeitgenössische Geschlechterordnung vorgeben waren, wurde auch Eddy häufig angegriffen. Gill bemerkt, dass Eddy »is also attacked or at best grudgingly admired for qualities traditionally associated with the male: originality, ambition, drive, ruthlessness, self-confidence, business acumen, a willingness to take risks and break new ground, single-minded devotion to a cause, choosing intimates from outside the family circle, and, above all, a prophetic belief that she was the chosen vessel for God’s purpose and the exponent of new Revelation«. 27

Dieser Art von Kritik schloss sich auch Zweig an.

24 Ähnlich erging es anderen, die nicht mit der Christlichen Wissenschaft vertraut waren, z.B. dem Zeitungsherausgeber Arthur Brisbane (vgl. Brisbane, Arthur: Mary Baker G. Eddy, Boston: Ball Publishing Company 1908) und dem Mitarbeiter der Cambridge University Press William D. Orcutt, der die fast 30-jährige Zusammenarbeit zwischen Eddy und dem Universitätsverlag beschrieb, vgl. Orcutt, Wiliam Dana: Mary Baker Eddy and her Books, Boston: Christian Science Publishing Society 1950. 25 Vgl. z.B. Kennedy, Hugh A. Studdert: Mrs. Eddy as I knew her, San Francisco (CA): Farallon Press 1933; Peel, Robert: Mary Baker Eddy. The Years of Discovery 1821-1875, New York: Holt, Rinehart and Winston 1966; Gottschalk, Stephen: Rolling away the Stone. Mary Baker Eddy’s Challenge to Materialism, Bloomington: Indiana University Press 2006. 26 Vgl. G. Gill: Mary Baker Eddy. 27 Ebd., S. xxiii. Von amerikanischen Feministinnen wurde sie hingegen besonders geehrt. 1995 wurde sie für die Gründung einer anhaltenden Religionsgemeinschaft in die National Women’s Hall of Fame der USA aufgenommen, vgl. http://greatwomen.org/women.php?action=viewone&id=57 vom 14.7.2010. Ein weiterer Grund für die Aufnahme liegt in ihren Verdiensten für den Journalismus, insbesondere in der Gründung des Christian Science Monitor. 256

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Der Stellenwert des Essays über Eddy in Zweigs Trilogie Heilung durch den Geist Die Christliche Wissenschaft wurde auch im deutschsprachigen Raum diskutiert. 1927 erschien z.B. die theologische Auseinandersetzung von Victor Weiss und 1930 veröffentlichte Wolf von Metzsch-Schilbach eine Monographie, in der er die Lehre der Christlichen Wissenschaft mit der deutschen Geistesgeschichte in Beziehung setzt. 28 Die Christliche Wissenschaft hatte viele prominente AnhängerInnen wie die Eltern des NS-Widerstandskämpfers Helmuth James Graf von Moltke, die Schauspielerin Elisabeth Bergner und die Künstlerin Clara Rilke-Westhoff. Sie hatte jedoch mindestens ebenso viele GegnerInnen. So wurden 1930 und 1931 gleich drei literarische Texte veröffentlicht, die Mary Baker Eddy gegenüber eine kritische Perspektive einnahmen: zwei Theaterstücke von Ernst Toller (und Hermann Kesten) und Ilse Langner sowie der besagte Essay von Stefan Zweig. Alle drei folgen im Wesentlichen der kritischen Sichtweise von Cather und Milmine.29 Zweigs Trilogie, die biographische Essays über Mesmer, Eddy und Freud umfasst, stellt den Versuch dar, die Rückkehr des Mentalen in den Heilmethoden im 18. und 19. Jahrhundert darzustellen. Zweig will damit dem Positivismus in der Medizin etwas entgegensetzen und dem Irrationalen, der Psyche, einen Platz in derselben einräumen. Er wählt die drei Genannten aus, da er »keineswegs eine systematische Geschichte sämtlicher seelischen Heilmethoden« anstrebt, sondern anhand ihrer Leben darstellen will, »wie ein Gedanke in einem Menschen Wachstum gewinnt und dann über diesen Menschen hinaus in die Welt«. 30 Es geht ihm nicht um »historisch-kritische[s] Referieren«, sondern um das Veranschaulichen von Ideen. Über die drei von ihm untersuchten Persönlichkeiten sagt er, sie hätten alle, »jeder auf anderem und sogar gegensätzlichem Wege, das gleiche Prinzip der Heilung durch den Geist an Hunderttausenden [verwirklicht]: Mesmer durch suggestive Verstärkung des Gesundheitswillens, Mary Baker-Eddy durch die chloroformierende Ekstatik der Glaubenskraft, Freud durch Selbsterkennung und damit Selbstbeseitigung der unbewusst lastenden Seelenkonflikte«. 31

28 Vgl. Waldschmidt-Nelson, Britta: Christian Science im Lande Luthers. Eine amerikanische Religionsgemeinschaft in Deutschland, 1894-2009, Stuttgart: Franz Steiner 2009, S. 137ff. 29 W. Cather/G. Milmine: The Life of Mary Baker G. Eddy; vgl. B. WaldschmidtNelson: Christian Science, S. 140. 30 S. Zweig: Heilung, S. 25. 31 Ebd. 257

SABINE GRENZ

In diesem Satz zeigt sich die grundsätzliche Prägung des Buchs: Zunächst möchte Zweig darlegen, dass alle drei VerfasserInnen »das gleiche Prinzip der Heilung durch den Geist« praktizierten. Dieses Prinzip ist der menschliche Geist, der durch Suggestion, Ekstatik oder Selbsterkenntnis wirken kann. In der Beschreibung der einzelnen Heilmethoden und ihrer ProtagonistInnen wird zudem eine eindeutige Wertung erkennbar: Während Mesmer noch mit Suggestion arbeitet, benutzt Eddy eine betäubende Ekstatik, und erst Freud gelangt zu einer Methode, die Selbsterkennung umfasst. Im ersten Essay wird Mesmer, dem zeitlebens alle akademische Anerkennung für seine Heilmethode, den animalischen Magnetismus, versagt blieb, rehabilitiert. Zweig beendet den Essay mit einem Abschnitt über die Möglichkeit, »daß von lebendiger Haut und erregten Nerven beeinflussende Strömungen ausgehen, wie sie Mesmer unzulänglich ›magnetisch‹ nannte«. Dies ist nur ein Beispiel für Anschauungen, bei denen »wir […] wahrhaftig nicht mehr den Mut [haben]«, sie »von vornherein […] abzulehnen«, da wir »in einer Zeit« leben, »da eine Entdeckung die andere überrennt, da die Theorien von gestern schon über Nacht welk werden und jahrhundertealte sich wieder erneuern«. 32 In diesem Sinne ist Mesmer einfach zu früh auf der Welt gewesen, um seine Phänomene in geeigneter Weise zu erklären. Der dritte Essay ist von Zweigs Bewunderung für Freud und dessen Entdeckung der Psychoanalyse geprägt. 33 Er beschreibt ihn als einen Mann, der unermüdlich arbeitet, »den kein Tabu schreckt« 34 und der die »Menschheit – herrliche Tat eines einzelnen Menschen – klarer über sich selbst gemacht« hat. 35 An diesem Essay hatte Zweig am intensivsten gearbeitet, hat »Bücher und Akten zur Geschichte der Psychoanalyse und zur Bedeutung Freuds, aber auch zum Widerstand gegen dessen Lehre durchstöbert«. 36 Eddys Lehre, die Zweig in seinem zweiten Essay behandelt und die seiner Ansicht nach durch »chloroformierende Ekstatik der Glaubenskraft« wirkt, findet er hingegen so absurd,37 dass es ihm nicht gelingt, die bei Mesmer propagierte Einstellung, dass »Theorien von gestern schon über Nacht welk werden«, 38 aufzubringen. Für ihn ist die Heilung durch den Geist immer die Heilung durch den menschlichen Geist. Religiosität ist für ihn eine psychische Funktion und das Göttliche nichts, das aus sich selbst besteht. Dadurch steht seine Ansicht derjenigen Eddys geradezu diametral gegenüber: Für ihn ist die

32 33 34 35 36

Ebd., S. 122f. Th. Haenel: Stefan Zweig, S. 198; vgl. G. Rovagnati: »Umwege«, S. 80. S. Zweig: Heilung, S. 287. Ebd., 288. Matuschek, Oliver: Stefan Zweig. Drei Leben – eine Biographie, Frankfurt a.M.: Fischer 2006, S. 240. 37 S. Zweig: Heilung, S. 191ff. 38 Ebd., S. 122. 258

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Psychoanalyse Freuds ein Befreiungsschlag von der heuchlerischen und unterdrückerischen Religiosität,39 für Eddy ist das Göttliche hingegen der Faktor, der vom Materialismus befreit. Zweig bezieht sich in seinem Porträt – das zugleich der erste biographische Text über Eddy in deutscher Sprache war – in erster Linie auf die Biographie von Cather und Milmine sowie auf eine von Twain verfasste Satire über Eddy und die Christliche Wissenschaft. 40 Wilburs Biographie, die Eddy positiv darstellt, verwirft er als »Schönfärberei«. 41 Andere Quellen, wie das als Buch veröffentlichte Gespräch des als Zeitungsherausgeber bekannt gewordenen Arthur Brisbane mit Eddy, 42 ihre Autobiographie,43 Zeitungsartikel über sie und ihre Antworten auf Kritiken, nahm er gar nicht zur Kenntnis – 44 das heißt, anders als in seinem Essay über Freud versuchte er gar nicht erst, zu einer ausgewogenen Sichtweise zu gelangen. Er scheint Eddy weniger als erkennendes Subjekt gesehen zu haben, das auch für andere wertvolle Erkenntnisse gewinnt. Vielmehr beschreibt er Eddy als »psychologisch interessant«. 45 Es lässt sich sagen, dass Eddy von Zweig zum Objekt psychoanalytischer Begutachtung und zu einer literarischen Figur gemacht wird. So stellt er Eddys konsequenten Glauben an das Göttliche als pathologisch dar. Sie musste seiner Ansicht nach als Frau im 19. Jahrhundert ihre Triebhaftigkeit unterdrücken, weshalb sie hysterisch wurde, Krankheiten erfand und sich später einbildete, eine eigene Heilmethode entdeckt zu haben. Über seine »Diagnose« tauschte Zweig sich anschließend auch mit Freud aus. Dieser kritisierte Zweig allerdings dafür, dass er »die Intensität so sehr herausgearbeitet [habe]«, die ihm nicht imponiere, da er selbst »den pathologischen Gesichtspunkt nicht [habe] loswerden« können.46 Dass Zweig nur wenig Material und so gut wie keine historischen Quellen mit einbezog, mag teilweise daran gelegen haben, dass es durch die geographische Distanz schwierig war, an entsprechendes Material zu gelangen. Doch wirft dies ebenso wie seine überwiegend negative Sichtweise auf Eddy die Frage auf, warum er sie überhaupt in seine biographische Serie aufgenommen hat. Er selbst schreibt darüber, dass sie sich »jenseits von Richtig und Unrichtig […] dauernden Rang unter den Wegbereitern der Seelenkunde gesichert« 39 40 41 42 43

Vgl. ebd., S. 275ff. Vgl. Twain, Mark: Christian Science, New York: Harper and Brothers 1907. S. Zweig: Heilung, S. 130; vgl. S. Wilbur: The Life of Mary Baker Eddy. Vgl. A. Brisbane: Mary Baker G. Eddy. Vgl. Eddy, Mary Baker: Retrospection and Introspection, Boston: Trustees under the Will of Mary Baker G. Eddy 1891. 44 Vgl. Eddy, Mary Baker: »Answers to Criticism«, in: Dies., The First Church of Christ Scientist and Miscellany, Boston: Christian Science Publishing Society 1913. 45 S. Zweig: Heilung, S. 132. 46 Freud zit. n. ebd., S. 393. 259

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habe. 47 Der Essay über Eddy beschreibt daher eine Vorstufe zum dritten Essay über Freud. Freud stellt die Krönung der Heilung durch den Geist dar. Denn nur bei Freud und der Psychoanalyse geht es Zweigs Ansicht nach um Prozesse der Selbsterkenntnis, die Heilungen ermöglichen. Eddy hatte demnach ähnlich wie Mesmer noch nicht die Möglichkeit, ihre Heilerfolge richtig zu interpretieren. Nur die Psychoanalyse ist seiner Ansicht nach in der Lage, die Heilungsphänomene zu erklären, die er als Resultate psychischer Vorgänge interpretiert. Es geht also – frei nach Foucault – um den Willen, ein psychoanalytisches Menschenbild als Wahrheit aufzurichten und mögliche Konkurrenten auszuschalten. 48

Mary Baker Eddys Beschäftigung mit dem Mesmerismus Nicht nur Zweig, sondern auch Eddy beschäftigte sich mit dem Mesmerismus. Die Abgrenzung gegenüber dem animalischen Magnetismus entwickelte sich zu einem der Kernpunkte ihrer Lehre. 49 In ihrem Hauptwerk Science and Health with Key to the Scriptures widmet sie ihm sogar ein ganzes Kapitel. Darin schreibt sie: »If animal magnetism seems to alleviate or to cure disease, this appearance is deceptive […]. In no instance is the effect of animal magnetism, recently called hypnotism, other than the effect of illusion. Any seeming benefit derived from it is proportional to one’s faith in esoteric magic.« 50

Nach solch eindeutiger Distanzierung entbehrt es nicht der Ironie, dass ausgerechnet die Nachkommen sowie AnhängerInnen des amerikanischen Mesmeristen Phineas Parkhurst Quimby ihr unterstellten, ihn plagiiert zu haben. Die Geschichte der Begegnung und Zusammenarbeit von Eddy und Quimby wird in allen Biographien mit unterschiedlichen Ergebnissen diskutiert. 51 Kurz gefasst hat diese sich folgendermaßen zugetragen: Eddy wurde unter anderem durch eigene Erkrankungen dazu angeregt, sich mit verschie47 Ebd., S. 270. 48 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M.: Fischer 1994. 49 Vgl. Kappeler, Max: Tierischer Magnetismus – entlarvt. Eine Analyse des Kapitels ›Der tierische Magnetismus ist entlarvt‹ im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, London: Foundational Book Company 1974. 50 M.B. Eddy, Science and Health, S. 101. 51 Vgl. S. Wilbur: The Life of Mary Baker Eddy; W. Cather/G. Milmine: The Life of Mary Baker G. Eddy; H.A.S. Kennedy: Mrs. Eddy; R. Peel: Mary Baker Eddy; G. Gill: Mary Baker Eddy; S. Gottschalk: Rolling away. 260

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denen Heilsystemen zu beschäftigen, die zu ihrer Zeit Konjunktur hatten. Die Schulmedizin steckte noch in den Kinderschuhen. Sie beschäftigte sich intensiv mit der Homöopathie, nahm Wasserkuren und hielt zeitweise strenge Diäten. 1862, als es ihr sehr schlecht ging und sie bettlägerig war, wurde sie Quimbys Patientin. In einem Brief brachte sie später ihre Begeisterung über die erste Begegnung mit ihm zum Ausdruck: Ihr Glaube an Quimby sei so groß gewesen, dass sie sich allein durch das Betreten seiner Praxis bereits besser gefühlt habe. 52 Bis zu seinem Tod stand sie ständig in Kontakt zu ihm und wurde wiederholt von ihm behandelt, da dieselben Beschwerden immer wieder auftraten. 1866, kurz nach Quimbys Tod, hatte sie einen Unfall, durch den sie so schwer erkrankte, dass die herbeigerufenen Ärzte ihr nicht zu helfen wussten. In ihrer Not wandte sie sich der Bibel zu. Sie hatte ein Offenbarungserlebnis und zum Erstaunen ihrer FreundInnen war sie geheilt. Sie war davon überzeugt, dass ihr Heilungserlebnis einer göttlichen Gesetzmäßigkeit unterlag, die sie in den nächsten Jahrzehnten untersuchte. 1875 erschien die erste Auflage von Science und Health, das sie bis 1910 immer wieder überarbeitete. 1883 wurden von Julius Dresser, einem Schüler Quimbys, erstmals Plagiatsvorwürfe erhoben, die allerdings nie belegt werden konnten. Zweig folgt in seiner Erzählung auch hier vor allem der kritischen Biographie von Cather und Milmine, die nachweisen wollen, dass Eddy wirklich ein Plagiat veröffentlicht hatte und dass die Christliche Wissenschaft nichts weiter sei als die Fortführung von Quimbys Heilmethode. Als Beweise führen sie u.a. Briefe und in verschiedenen lokalen Zeitungen erschienene Artikel von Eddy an. 53 In diesen interpretiert sie Quimbys Heilpraxis als göttliches Wirken und vergleicht seine Methode mit der von Jesus, der ebenfalls ohne Medikamente heilte. Der Vorwurf des Plagiats entstand dadurch, dass sie später dasselbe für ihre eigene Lehre beanspruchte. Cather und Milmine stellen sie damit als unglaubwürdig dar. Wilbur hingegen besuchte Quimbys Sohn, der im Besitz des Nachlasses war, um die besagten Manuskripte im Original einzusehen, und stellte fest, dass sie überhaupt nicht existierten. 54 Das unter Quimbys Namen posthum veröffentlichte Buch besteht aus Texten, die von mehreren seiner PatientInnen sowie vermutlich seiner Frau (ab-)geschrieben worden waren. 55 Gill weist zusätzlich daraufhin, dass dieses Buch gar keine Ähnlichkeit mit Eddys Texten aufweise. 56 52 53 54 55

Vgl. R. Peel: Mary Baker Eddy, S. 167. W. Cather/G. Milmine: The Life of Mary Baker G. Eddy, S. 58f. Vgl. S. Wilbur: The Life of Mary Baker Eddy, S. 97ff. Erwin Seale (Hg.): Phineas Parkhurst Quimby: The Complete Writings, 3 Bde., Marina Del Rey (CA): DeVorss & Co 1988. 56 G. Gill: Mary Baker Eddy, S. 232. 261

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Zweig kommt der Plagiatsvorwurf jedoch entgegen, und so nimmt er den Vorwurf für bare Münze. Denn wenn Eddy wirklich nichts anderes als das (über Jahre immer weiter veränderte) Plagiat eines Mesmeristen veröffentlicht haben sollte, bestätigt dies seine These, dass es sich bei der Heilung durch den Geist immer um die Heilung durch den menschlichen Geist handle. »[Quimby] gründet seine Behandlung einzig auf bewusst suggestive Einwirkung. Seine Heilmethode, die sogenannte Mind Cure (die Mary Baker später zur Christian Science umformt und als ihre eigene von Gott inspirierte Entdeckung ausgibt), ist im Grunde sehr einfach. Quimby ist bei seinen Hellsehererlebnissen zur Erkenntnis gelangt, dass viele Krankheiten auf Einbildung beruhen und man das Leiden am besten beseitige, indem man den Glauben des Kranken an seine Krankheit zerstöre.« 57

Dass Zweig sich für die Deutungshoheit der Psychoanalyse einsetzt, drückt sich zum einen darin aus, dass er die Untersuchungen Wilburs ebenso vernachlässigt wie Eddys eigene Stellungnahme zu dem Plagiatsvorwurf. 58 Seine Darstellung ist von dem Willen geprägt, Eddys Metaphysik in keinem Falle als möglich anzuerkennen und seine psychoanalytische Deutung ihrer Lehre und ihrer Heilerfolge als Wahrheit zu etablieren. Zum anderen zeigt sich der Deutungsanspruch darin, dass er der Darstellung von Cather und Milmine nicht gänzlich folgt. Während diese die KritikerInnen Eddys so wiedergeben, als sei Quimby gegen Ende seines Lebens gar kein Mesmerist mehr gewesen, sondern habe bereits das praktiziert, was Eddy später Christian Science nannte, stellt Zweig es so dar, als habe Eddy trotz aller gegenteiligen Beteuerungen nur eine Art Mesmerismus entwickelt. Er ist fest davon überzeugt, dass es sich nicht um göttliche, sondern um psychische Kräfte handle, die die Heilung bewirkten; bzw. dass ›göttlich‹ mit ›psychisch‹ austauschbar sei. Das heißt, er bekämpft Eddys Lehre diskursiv, indem er sie von seinem Paradigma aus deutet und damit beansprucht zu wissen, was wirklich dahinter steckt.

Zweig über Eddys Lehre Es ist unumstritten, dass Eddy keine leichte Lektüre ist. 59 Die Schwierigkeit liegt einerseits am Inhalt, durch den sie den Materialismus konsequent infrage stellt. Denn Eddys Lehre zufolge ist alles Sterbliche dem Göttlichen unter57 S. Zweig: Heilung, S. 147. 58 Vgl. Eddy, Mary Baker: »Geschichtliche Hinweise«, in: Dies., Miscellaneous Writings, Boston: Christian Science Publishing Society 1896, S. 378-383. 59 Ihr Werk ist erst posthum systematisch analysiert worden. Vgl. Doorly, John W.: The Pure Science of Christian Science, London: Foundational Book Company 1949; Kappeler, Max: Die Struktur des Lehrbuchs der Christlichen Wissenschaft, Zürich: Kappeler-Institut Publikationen 1976. 262

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geordnet. Sie geht davon aus, dass eine im Einklang mit dem Göttlichen gewonnene Gotteserkenntnis im menschlich-sterblichen Bereich heilende Wirkung entfaltet. 60 Sie knüpft damit an den Einheitsgedanken der mittelalterlichen Mystik an und wendet diesen praktisch auf disharmonische Zustände an. Ihre Lehre beinhaltet damit voneinander unterscheidbare Daseinsebenen, einen göttlichen und einen menschlichen Bereich, wobei der göttliche auf den menschlichen positiv einzuwirken vermag.61 Diese Theologie stellt eine Herausforderung für das gewohnte religiöse Denken dar. Weitere Schwierigkeiten entstehen durch ihren Sprachstil, den Gill als Eddys Biographin (und »chief English translator« von Irigaray)62 als »unquestionably nonlinear« und »postmodern« beschreibt:63 »There are times when she is difficult to follow as, at crucial moments in her metaphysical argument, she makes an important transition in the middle of a paragraph, often after using a question that probes the positions that have been set forth so far and forces a movement onwards in the argument.« 64

Eddys Stil erinnere sie an Hegel, Nietzsche, Lacan, Derrida »and above all Irigaray«. 65 »Like them, though for very different philosophical reasons, she believed that words are imperfect and opaque, twisted and oblique in their relation to ›reality‹ and ›truth‹, constantly needing to be put into question. Like them she sought to form a particular lexicon or ideolect, a code of words given a new range of meaning within a specified context.« 66

Science and Health ist, so Gill, »an odd, ideosyncratic, difficult text which cannot be read in a hurry, but one which carries an intelligent and willing reader along«.67 Dies hat Zweig offensichtlich anders empfunden, denn er behauptet, auf den fast 600 Seiten Text nur einen Gedanken ausgemacht zu haben, nämlich die »Unity of God and unreality of evil«. 68 Über mehrere Seiten hinweg äu60 Vgl. M. Kappeler: Christlich-wissenschaftliche Behandlung, S. 20. 61 Vgl. Kappeler, Max: Die vier geistigen Bewusstseinsebenen, Zürich: KappelerInstitut Publikationen 1991. 62 G. Gill: Mary Baker Eddy, S. 218. 63 Ebd. Gill bezieht sich auf die erste Ausgabe von Science und Health. Doch scheint mir ihre Sichtweise durchaus auf die mir vorliegende letzte Ausgabe übertragbar zu sein. 64 G. Gill: Mary Baker Eddy, S. 219. 65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 233. 68 S. Zweig: Heilung, S. 191. 263

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ßert er sein Unverständnis darüber, dass der Körper, das Materielle und mit ihnen die Krankheit in der Christlichen Wissenschaft geleugnet und die Einzigkeit des Göttlichen sowie die Ebenbildlichkeit des Menschen zum Göttlichen hervorgehoben würden: 69 »›God cannot be the father of error‹ Und nun rollt das tolle Rad ihrer Logik sich wild überschlagend weiter: Seele ist mind und mind ist God, und God ist spirit, und spirit ist wieder truth, und truth ist wieder God, und God ist wieder das Gute, und da es also nur das Gute gibt, gibt es kein Böses, keinen Tod, keine Sünde. Man sieht: die Beweistechnik Mary Bakers beruht einzig auf Rotation«. 70

Von dieser Rotation wird Zweig fast schwindlig. Er glaubt, der Text sei nur durch diesen Schwindel überzeugend.71 Man kann ihm zugute halten, dass Science and Health die genannten Schwierigkeiten in sich birgt. Doch war er in diesem Fall wohl auch kein »willing reader« (Gill). Jedenfalls beschrieb er sich selbst so in Bezug auf andere Werke, die ihm trotz ihrer Qualität zu langatmig schienen.72 Zudem stand er Eddy aufgrund des paradigmatischen Konflikts von vornherein negativ gegenüber. 73 Hier äußert sich sein Deutungsanspruch, indem er selbst von seiner literarischen Freiheit Gebrauch macht, sodass ein Schwindel entsteht. Denn er ignoriert ihren »code of words given a new range of meaning within a specified context« (Gill) und zitiert sie falsch. In dem obigen Zitat heißt es unter anderem: »Seele ist mind und mind ist God, und God ist spirit«.74 Liest man hingegen Science und Health, kann man kaum übersehen, dass Eddy systematisch alle Begriffe, die sich auf Gott beziehen, großschreibt. Sie unterscheidet damit »Mind« von »mind«, wobei Letzteres sich auf das Menschliche bezieht. Daher kann »God« niemals »mind« sein. Zum Beispiel schreibt sie: »Disease is less than mind, and Mind can control it.« 75 Diese Unterscheidung unterschlägt Zweig, um seine Sichtweise zu untermauern, dass es sich bei Eddys Werk nur um »metaphysisches Wirrwar« handle und ihr Erfolg das Ergebnis einer »Seelischen Massensuggestion« sei. 76

69 70 71 72 73

Vgl. ebd., S. 191ff. Ebd., S. 195. Ebd. Vgl. M. Schmidt: Frauengestalten, S. 248. Seine erste Frau, Friederike Zweig, erwähnt in ihren Erinnerungen, »Zweig fürchtete selbst, mit seiner Heftigkeit über das Ziel hinausgeschossen zu sein«, nachdem er in London einigen Kirchenmitgliedern begegnet war, Zweig, Frederike: Stefan Zweig, wie ich ihn erlebte, Berlin: F. A. Herbig 1948, S. 124. 74 S. Zweig: Heilung, S. 195. 75 M.B. Eddy: Science and Health, S. 378. 76 S. Zweig: Heilung, S. 128f. 264

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Schluss: die gendertheoretischen Aspekte des Essays Um den hier beschriebenen inhaltlichen Konflikt zwischen einem psychoanalytischen und einem christlich-wissenschaftlichem Weltbild zu verhandeln, bei dem es latent um einen Konkurrenzkampf zwischen zwei sich entwickelnden Therapien geht, misst Zweig Eddy an konservativen Geschlechterkonstruktionen, die für ihn nicht historisch gewachsen, sondern natürlich sind. Zugleich macht er Eddy zum Objekt seines psychoanalytischen Verständnisses. Die Kombination dieser Strategien erlaubt es ihm, sie als von ihrer ›wahren Natur‹ entfremdete Frau und damit als unglaubwürdig darzustellen. Selbst bei ihren (nur vermuteten) hysterischen Anfällen, ist Zweig zufolge nicht sicher, ob sie sie »hat oder heuchelt«.77 Auf diese Weise wird die von ihm vertretene Psychoanalyse als das plausiblere Wissenssystem aufgerichtet. Diese Strategie wird auf verschiedenen Ebenen verfolgt, auf denen sich sexistische Urteile teilweise mit psychoanalytisch ausgerichteten Diagnosen vermischen. Wenn es um die Repräsentation von Mary Baker Eddys Frauenkörper geht, beschreibt Zweig ihr Aussehen zum Beispiel als »weder schön noch hinreißend«. Er beurteilt sie also anhand seines Schönheitsideals, obwohl gerade das nichts mit ihrer Lehre zu tun hat. Sie ist in seiner Beschreibung aber nicht nur nicht schön. Sie hat »eine hohe und dürre, eine harte und knochige Figur, mit ihrer strengen, maskulinen Linie«.78 Sie weicht also gänzlich vom Weiblichen ab und ist vermännlicht. Besonders harsch wird sie zudem aus moralischer Perspektive kritisiert und weil sie ihre Rolle als Frau nicht habe ausfüllen wollen. So beschreibt Zweig ihre (ebenfalls nur vermutete) fehlende Bereitschaft, hausfraulichen Tätigkeiten nachzugehen. Zweigs Vorstellungen zufolge kann sie »sich schon frühzeitig von der ›gewöhnlichen‹, der täglichen, der banalen Frauenarbeit drücken«. 79 Auch stellt er sie als unmütterlich dar, habe sie doch »ihr eigenes Kind […] eiligst aus dem Hause« geschafft. 80 Statt also ihre ›wahre weibliche Natur‹ auszuleben, habe sie zunächst Krankheiten entwickelt und später ausschließlich an ihren Veröffentlichungen gearbeitet. Wie sehr Zweig Eddys ›unweiblichen‹ Lebenswandel abqualifiziert, wird zum Beispiel in einem Abschnitt des Essays deutlich, in dem er über die Zeit nach der Scheidung ihrer zweiten Ehe schreibt, als Eddy obdachlos war und immer wieder für eine gewisse Zeit bei Freunden unterkam:

77 78 79 80

Ebd., S. 134. Ebd., S. 128, 168. Ebd., S. 135. Ebd., S. 138. 265

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»Sich einzunisten, oder sagen wir es unverhohlener: zu schmarotzen, das bleibt jetzt, da Mary Baker immer noch mit der gleichen hochmütigen Beharrlichkeit jede haushälterische, jede ›banale‹ Arbeitsmöglichkeit von der Hand weist, ihre einzige Rettung vor dem Verhungern. Nie hat sie in diesen Elendsjahren anders als durch geistige Arbeit und nie für etwas anderes als für ihre Idee gelebt«.81

Im Gegensatz dazu hebt Zweig bei Freud positiv hervor, dass dieser unermüdlich an der Entwicklung der Psychoanalyse gearbeitet habe. Freud durfte sich als Mann also frei dem Geistigen zuwenden und sich von seiner Frau den Rücken frei halten lassen (die die ›banalen‹ Tätigkeiten übernahm, ohne dass das erwähnt werden muss), während dasselbe Verhalten bei Eddy bedeutete, dass sie sich gegen ihre ›weibliche Natur‹ verhalten habe.82 Schließlich zweifelt Zweig wiederholt Eddys Intelligenz an. Auch hier greift er auf konservative Argumente zurück, durch die Frauen universitäre Bildung lange verwehrt blieb.83 Er geht davon aus, dass Eddy ihre gesamte Energie aus der Hysterie genommen habe, ihr Denken also eng mit ihrem Unterleib verbunden sei und es ihr eigentlich nur darum gegangen sei, Aufmerksamkeit zu erregen.84 Der Plagiatsvorwurf passte da so gut ins Bild, dass er keiner Überprüfung bedurfte. Durch die Diskreditierung Eddys als Hysterikerin stellt Zweig die Christliche Wissenschaft als gänzlich irrational dar, wodurch er indirekt die – bei ihren GegnerInnen ebenfalls als irrational eingestufte – Psychoanalyse als rational aufrichtet. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihrer Lehre erübrigt sich damit. Diese wird lediglich mit oberflächlichen Gesten abgehandelt. Zieht man die Beobachtung in Betracht, dass einige jüdische Männer in dieser Zeit vom Sexismus strategischen Gebrauch machten, um durch Distanzierung vom ›Weiblichen‹ größere Anerkennung zu gewinnen, dann ergibt sich die Vermutung, dass Zweig die von einer Frau gegründete Christliche Wissenschaft deshalb auswählte, da er mit ihr die Psychoanalyse aufzuwerten und so den Antisemitismus abzumildern meinte. Auch wenn wir nicht wissen können, was in Zweig vorging: Durch die Einordnung von Eddys Lehre als das Werk einer Hysterikerin beruhigte er auch christlich-patriarchale Kräfte, für die Mary Baker Eddy als Führerin einer auch 20 Jahre nach ihrem Tod weiter wachsenden metaphysischen Bewegung ein ausreichendes Bedrohungspotenzial darstellte. Abschließend geht er sogar so weit, die Christliche Wissenschaft quasi totzusagen.85 Doch wie tot

81 82 83 84

Ebd., S. 160. Ebd., S. 291ff. Vgl. C. von Braun: Versuch über den Schwindel, S. 55. Vgl. S. Zweig: Heilung, S. 134, 154; C. von Braun: Versuch über den Schwindel, S. 59. 85 Vgl. S. Zweig: Heilung, S. 268. 266

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konnte eine Bewegung sein, die so intensiv diskutiert wurde, dass über (und gegen) sie innerhalb von zwei Jahren eine Monographie, zwei Theaterstücke und ein Essay verfasst worden waren?

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AutorInnen und Herausgeberinnen

AUGA, ULRIKE ist Juniorprofessorin für Theologie und Geschlechterstudien, Seminar Religionswissenschaft/Interkulturelle Theologie der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie forschte mehrere Jahre in Johannesburg, Bamako und Jerusalem. Ihre Interessengebiete liegen an den Schnittstellen von Kulturtheorie, Theologie- und Religionskritik, Geschlechterforschung, Queer und Postcolonial Theory, z.B.: Religion, Biopolitik und (epistemische) Gewalt; Geschlecht, Kollektivkörper, Leben (Vergleich Judentum, Christentum, Islam); Religion, Säkularismus, Geschlecht, Nationalismus in Transitionskontexten, Diaspora und Über/Lebens/Wissen im 2. und 20./21. Jahrhundert. Publikationen: Intellektuelle – zwischen Dissidenz und Legitimierung. Eine kulturkritische Theorie im Kontext Südafrikas, Münster ²2011; Hg. zus. mit Christina von Braun: Gender in Conflicts. Palestine – Israel – Germany, Berlin 2006. BOCK VON WÜLFINGEN, BETTINA ist wissenschaftliche Assistentin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Neben der Arbeit an ihrem Habilitationsprojekt »Ökonomie und die Zelle – Zeugung und Vererbung um 1900 und 2000« lehrt sie in Kulturwissenschaft und Gender Studies. Sie ist Mitgründerin und ›Co-Manager‹ der EU COST Action »Bioobjects and their Boundaries« und des DFG-Netzwerks »Ökonomien der Reproduktion«. Publikationen: »The Fruit of Love«, in: Sakari Tamminem/Niki Vermeulen/Andrew Webster (Hg.): BioObjects in Society (Arbeitstitel), Basingstoke/ New York (im Erscheinen); Hg. zus. mit Ute Frietsch: Epistemologie und Differenz. Epistemologie und Differenz. Zur Reproduktion des Wissens in den Wissenschaften, Bielefeld 2010. 269

DÄMONEN, VAMPS UND HYSTERIKERINNEN

BURCKHARDT, MARTIN, elektrischer Autor, lebt in Berlin. Er veröffentlichte diverse Monographien zur Genealogie der Maschine, zuletzt: 68. Die Geschichte einer Kulturrevolution, Berlin 2009; Eine kleine Geschichte der großen Gedanken, Köln 2008. BRUNOTTE, ULRIKE ist Associate Professor for Gender and Diversity an der Faculty for Arts and Social Sciences und am Centre for Gender and Diversity der Universität Maastricht (NL) sowie apl. Professorin am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen im Bereich der modernen Kultur-und Religionsgeschichte mit dem Schwerpunkt auf Fragen der Gender-, Masculinity und Kolonialgeschichte. Die gegenwärtige Forschung konzentriert sich auf koloniale Diskurse, Wissen und Gender. Sie arbeitet zurzeit an einem kulturwissenschaftlich-biographischen Essay und einer Auswahledition von Jane E. Harrison (1850-1925), einer Pionierin der Religionswissenschaft, Ritualtheorie und des feministischen Denkens. Publikationen: »Religion und Kolonialismus«, in: Hans G. Kippenberg/ Jörg Rüpke/Kocku von Stuchrad (Hg.): Europäische Religionsgeschichte. Konzepte, Entwicklungspfade, Vermittlungsformen, Göttingen 2009; Hg. mit Reiner Herrn: Männlichkeit und Moderne. Wissensdiskurse um 1900, Bielefeld 2008; Zwischen Eros und Krieg. Männerbund und Ritual in der Moderne, Berlin 2004; Hg. zus. mit Christina von Braun/Gabriele Dietze/Daniela Hrzan/Gabriele Jähnert/Dagmar Pruin: ›Holy War‹ and Gender. ›Gotteskrieg‹ und Geschlecht. Gewaltdiskurse in modernen Religionen, Berlin 2006. BRUNS, CLAUDIA ist Juniorprofessorin für Wissensgeschichte und Gender Studies am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsfelder liegen in der europäischen Kultur- und Wissensgeschichte der Neuzeit mit Schwerpunkten in der Sexualitäts-, Körper- und Männlichkeitsgeschichte, der Geschichte von Rassismus und Antisemitismus sowie in den Raum- und Grenzkonstruktionen Europas. Publikationen: Hg. zus. mit Ulrike Auga u.a.: Das Geschlecht der Wissenschaften. Zur Geschichte von Akademikerinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2010; Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur. 1880-1934, Köln u.a. 2008. CHOàUJ, BOĩENA ist Professorin für Deutsch-Polnische Literatur- und Kulturbeziehungen und Gender Studies an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und für Literaturwissenschaft an der Warschauer Universität. Sie lehrt zeitgenössische deutsche Literatur, deutsch-polnische Beziehungen und Geschlechterstudien. Ihre aktuelle Forschung konzentriert sich auf

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AUTORINNEN UND HERAUSGEBERINNEN

Wissenschaftstheorie, Literatur als Medium des Wissens sowie kulturelle Aspekte der Übersetzungsproblematik. Publikationen: »Wie der Osten immer ferner wird«, in: Ulrich Wergin, Karol Sauerland (Hg.): Bilder des Ostens in der deutschen Literatur, Würzburg 2009; Hg. zus. mit Jan C. Joerden: Von der wissenschaftlichen Tatsache zur Wissensproduktion. Ludwik Fleck und seine Bedeutung für die Wissenschaft und Praxis, Frankfurt a.M. 2007; Hg. zus. mit Ulrich Räther: Grenzerfahrungen literarischer Übersetzung, Berlin 2007. »Die Renaissance des Begriffs Mitteleuropa«, in: Timm Beichelt/BoĪena Choáuj/Gerard Rowe/ Hans-Jürgen Wagener (Hg.): Europa-Studien. Eine Einführung, Wiesbaden 2006. DEUBER-MANKOWSKY, ASTRID studierte Philosophie und Germanistik. Sie ist seit 2004 Professorin am Institut für Medienwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Publikationen: Hg. zus. mit Christoph E. F. Holzhey/Anja Michaelsen: Einsatz des Lebens. Lebenswissen, Medialisierung, Geschlecht, Berlin 2009; Praktiken der Illusion. Kant, Nietzsche, Cohen, Benjamin bis Donna J. Haraway, Berlin 2007; Lara Croft. Modell, Medium, Cyberheldin. Das virtuelle Geschlecht und seine metaphysischen Tücken, Frankfurt a.M. 2001; Der frühe Walter Benjamin und Hermann Cohen, Berlin 2000. DIETZE, GABRIELE studierte Germanistik, Amerikanistik und Philosophie in Frankfurt a.M. und Berlin. Sie lehrt Kulturwissenschaft, Gender- und Medientheorie und war bzw. ist als Gastprofessorin in Österreich, den USA und in der Schweiz tätig. Derzeit arbeitet sie in der Forschungsgruppe »Kulturen des Wahnsinns als Schwellenphänomen der urbanen Moderne« an der HumboldtUniversität zu Berlin. Publikationen: Weiße Frauen in Bewegung. Genealogien und Konkurrenzen von Race- und Genderpolitiken, (Habilitation) Bielefeld 2011 (in Vorbereitung); Hg. zus. mit Claudia Brunner/Edith Wenzel: Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld 22010; Hardboiled-Women. Geschlechterkriege im amerikanischen Kriminalroman, Hamburg 1997. DORNHOF, DOROTHEA ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DFGForschergruppe »Kulturen des Wahnsinns als Schwellenphänomen urbaner Moderne« an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ebenda lehrt sie Kultur-, Medien- und Geschlechtergeschichte am Kulturwissenschaftlichen Institut. Sie hatte Gastprofessuren inne an der University of Chicago, Monash University Melbourne und der TU Berlin.

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DÄMONEN, VAMPS UND HYSTERIKERINNEN

Publikationen: »Narrative und visuelle Masken. Macht-Spiele ›Venus im Pelz‹ (1869) und ›Verführung. Die grausame Frau‹ (1985)«, in: Marion Kobelt-Groch/Michael Salewski (Hg.) Leopold von Sacher-Masoch. Ein Wegbereiter des 20. Jahrhunderts, Hildesheim/Zürich/New York 2010; »Der Parapsychologe und sein Medium im Experiment. Geschlecht und Medialität des Unbewussten«, in: Christina von Braun/Dorothea Dornhof/Eva Johach (Hg.): Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften. Studien zum Verhältnis von Wissen und Geschlecht, Bielefeld 2009; »Figurationen dämonischer Weiblichkeit an der Schnittstelle von Literatur und Wissen. Mela Hartwigs ›Ekstasen‹ (1928)«, in: Neue Beiträge zur Germanistik. Internationale Ausgabe von »Doitsu Bungaku« 7 (2008). FRIETSCH, UTE ist Privatdozentin im Fach Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Dort leitet sie das Handbuchprojekt »Praxeologische Begriffe« am Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften. Ihre aktuelle Forschung konzentriert sich auf die Wissenschaftstheorie und Methodologie der historischen Kulturwissenschaften sowie die Wissensgeschichte der Alchemie. Publikationen: Hg. zus. mit Bettina Bock von Wülfingen: Epistemologie und Differenz. Zur Reproduktion des Wissens in den Wissenschaften, Bielefeld 2010; »The scientific unconscious: from alchemy to chemistry«, in: Helene Götschel (Hg.): Transforming Substance – Gender in Material Sciences (2010); übersetzt aus dem Französischen: Michel Foucault: Einführung in Kants Anthropologie, Berlin 2010; Hg. zus. mit Konstanze Hanitzsch/Jennifer John/Beatrice Michaelis: Geschlecht als Tabu. Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung von Geschlecht, Bielefeld 2008. GRENZ, SABINE ist Habilitandin in Gender Studies/Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. In ihrem Projekt untersucht sie die Konstruktionen von Weiblichkeit und Volksgemeinschaft/Nation in Tagebüchern von Frauen in Deutschland am Ende des Zweiten Weltkriegs. Weitere Forschungsschwerpunkte sind (Wissens-)Geschichte der Sexualität(en) und der Geschlechterkonstruktionen, feministische Epistemologie und Methodologie sowie Gleichstellung. Sie hat internationale Lehrerfahrungen in Gender Studies, u.a. an der Universität Fribourg, der Humboldt-Universität zu Berlin und der London School of Economics and Political Science. Publikationen: »The desire to talk and sex/gender related silences in interviews with male heterosexual clients of prostitutes«, in: Róisín Ryan Flood/Rosalind Gill (Hg.): Secrecy and Silence in the Research Process. Feminist Reflections, London 2009 (dt. Fassung in: GENDER. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur, Gesellschaft 2 [2009]); Hg. zus. mit Andrea Löther/Beate 272

AUTORINNEN UND HERAUSGEBERINNEN

Kortendiek/Marianne Kriszio: Gender Equality Programmes in Higher Education. International Perspectives, Wiesbaden 2008; (Un)heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, Wiesbaden 22007. HORNSCHEIDT, ANTJE LANN ist seit 2006 Professorin für Gender Studies und Sprachanalyse an der Humboldt-Universität Berlin, seit 2007 am Zentrum für transdisziplinäre Gender Studies. Gastprofessuren in Finnland, Schweden und Österreich. 2010 verbrachte sie ein Forschungsjahr in Schweden, ermöglicht durch einen Forschungspreis der schwedischen Regierung. Publikationen: Hg. zus. mit Hanna Acke/Ines Jana: Schimpfwörter – Beschimpfungen – Pejorisierungen. Wie in Sprache Macht und Identitäten verhandelt werden. Mit CD, Frankfurt a.M. (im Erscheinen); Hg. zus. mit Adibeli Nduka-Agwu: Rassismus auf gut Deutsch. Ein kritisches Nachschlagewerk zu rassistischen Sprachhandlungen, Frankfurt a.M. 2010; Gender resignifiziert. Schwedische Aushandlungen in und um Sprache, Berlin 2008; Hg. zus. mit Katharina Walgenbach/Gabriele Dietze/Kerstin Palm: Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen 2007. HUSMANN, JANA ist Kulturwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Graduiertenkolleg »Geschlecht als Wissenskategorie« der HumboldtUniversität zu Berlin. Zu ihren Forschungsbereichen gehören Geschlechterund Rassismusforschung, religiöse Weltanschauungen, Trans- und Interdisziplinarität. Ihr aktuelles Forschungsprojekt trägt den Titel »Literalismus und Geschlecht. Protestantischer Fundamentalismus in Deutschland 1900-1945«. Publikationen: Schwarz-Weiß-Symbolik. Dualistische Denktraditionen und die Imagination von ›Rasse‹. Religion – Wissenschaft – Anthroposophie, Bielefeld 2010; Hg. zus. mit Sven Glawion/Elahe Haschemi Yekani: Erlöser. Figurationen männlicher Hegemonie, Bielefeld 2007. JÄHNERT, GABRIELE ist promovierte Germanistin und Geschäftsführerin des Zentrums für transdisziplinäre Geschlechterstudien (bis 2003 Zentrum für interdisziplinäre Frauenforschung) der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie war Mitinitiatorin des Magisterstudiengangs Geschlechterstudien/Gender Studies und ist für die Herausgabe der Bulletin-Reihe des ZtG sowie für zahlreiche Buchpublikationen verantwortlich. Publikationen: Hg. zus. mit Ulrike Auga/Claudia Bruns/Levke Harders: Das Geschlecht der Wissenschaften. Zur Geschichte von Akademikerinnen im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2010; Störgröße »F«. Frauenstudium und Wissenschaftlerinnenkarrieren an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin – 1892 bis 1945. Eine Kommentierte Aktenedition, hg. vom Zen-

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DÄMONEN, VAMPS UND HYSTERIKERINNEN

trum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der Humboldt-Universität zu Berlin und der Projektgruppe Edition Frauenstudium, Berlin 2010. JOHACH, EVA ist Forschungsstipendiatin der DFG an der Professur für Wissenschaftsforschung der ETH Zürich mit einem Forschungsprojekt zur Wissensgeschichte von Insektengesellschaften. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wissensgeschichte, Kultur- und Mediengeschichte, moderne Esoterik. Publikationen: Hg. zus. mit Jasmin Mersmann/Evke Rulffes: ilinx. Berliner Beiträge zur Kulturwissenschaft 2 (2011): »Mimesen«; Hg. zus. mit Christina von Braun/Dorothea Dornhof: Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften. Studien zum Verhältnis von Wissen und Geschlecht, Bielefeld 2009; Krebszelle und Zellenstaat. Zur medizinischen und politischen Metaphorik in Rudolf Virchows Zellularpathologie, Freiburg i.Br. 2008. KÖHNE, JULIA B. ist Universitätsassistentin am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien – Schwerpunkt Visuelle Zeit- und Kulturgeschichte. Sie lehrt zu kultur- und wissenschaftsgeschichtlichen, filmwissenschaftlichen und gendertheoretischen Fragestellungen. Im Rahmen ihrer Habilitation forscht sie zu wissenschaftlichen und filmischen Darstellungen von Genies ab der Jahrhundertwende (1900). Publikationen: Kriegshysteriker. Strategische Bilder und mediale Techniken militärpsychiatrischen Wissens (1914- 1920), Husum 2009; Hg. zus. mit Vera Apfelthaler: Gendered Memories. Transgressions in German and Israeli Film and Theater, Wien 2007; Hg. zus. mit Ralph Kuschke/Arno Meteling: Splatter Movies. Essays zum modernen Horrorfilm, Berlin 22006. PALM, KERSTIN ist promovierte Biologin und habilitierte Kulturwissenschaftlerin. Sie lehrte und lehrt als Gastprofessorin Gendertheorie der Natur- und Technikwissenschaften an der HU Berlin, der TU Berlin und zurzeit an der Universität Basel. Ihre aktuelle Forschung befasst sich mit der neuen Materialitätsdebatte in der Genderforschung der Naturwissenschaften (material turn) aus wissenschaftshistorischer und epistemologischer Perspektive. Publikationen: »Material Girl – Neue postbutlersche Körper- und Materietheorien in der Debatte«, in: Freiburger Geschlechterstudien 24 (2010); Hg. zus. mit Katharina Walgenbach/Gabriele Dietze/Antje Hornscheidt: Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen 2007. STEPHAN, INGE studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie, Politik und Pädagogik. Sie war von 1994 bis 2009 Professorin für Neuere deutsche Literatur – Geschlechterproblematik im literarischen Prozess an der HumboldtUniversität zu Berlin und veröffentlichte zahlreiche Arbeiten zur deutschen 274

AUTORINNEN UND HERAUSGEBERINNEN

Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert, zur Frauenforschung, feministischen Literaturwissenschaft und zu Geschlechterstudien. Publikationen: Hg. zus. mit Kirsten Möller/Alexandra Tacke: Carmen. Ein Mythos in Literatur, Film und Kunst, Köln u. a. 2011; Hg. zus. mit Christina von Braun: Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, Köln u.a. 2009; Hg. zus. mit Alexandra Tacke: NachBilder der RAF; Köln u. a. 2008; Hg. zus. mit Alexandra Tacke: NachBilder der Wende, Köln u. a. 2008; Hg. zus. mit Alexandra Tacke: NachBilder des Holocaust, Köln u. a. 2007; Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur, Köln 2006; Hg. zus. mit Christina von Braun: Gender-Studien. Eine Einführung, Stuttgart/Weimar 2006; Inszenierte Weiblichkeit. Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Köln 2004; Musen & Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Köln/Wien 1997.

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GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht Christina von Braun, Dorothea Dornhof, Eva Johach (Hg.) Das Unbewusste. Krisis und Kapital der Wissenschaften Studien zum Verhältnis von Wissen und Geschlecht 2009, 448 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1145-8

Gabriele Dietze Weiße Frauen in Bewegung Genealogien und Konkurrenzen von Race- und Genderpolitiken September 2011, ca. 450 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-89942-517-8

Gabriele Dietze, Claudia Brunner, Edith Wenzel (Hg.) Kritik des Okzidentalismus Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-)Orientalismus und Geschlecht 2009, 318 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1124-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht Maja Figge, Konstanze Hanitzsch, Nadine Teuber (Hg.) Scham und Schuld Geschlechter(sub)texte der Shoah 2010, 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1245-5

Elke Frietsch, Christina Herkommer (Hg.) Nationalsozialismus und Geschlecht Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, »Rasse« und Sexualität im »Dritten Reich« und nach 1945 2009, 456 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-89942-854-4

Sabine Grenz, Martin Lücke (Hg.) Verhandlungen im Zwielicht Momente der Prostitution in Geschichte und Gegenwart 2006, 350 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-549-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

GenderCodes – Transkriptionen zwischen Wissen und Geschlecht Bettina Bock von Wülfingen, Ute Frietsch (Hg.) Epistemologie und Differenz Zur Reproduktion des Wissens in den Wissenschaften 2010, 226 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1013-0

Ulrike Brunotte, Rainer Herrn (Hg.) Männlichkeiten und Moderne Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900 2007, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-707-3

Ute Frietsch, Konstanze Hanitzsch, Jennifer John, Beatrice Michaelis (Hg.) Geschlecht als Tabu Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung von Geschlecht 2007, 270 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-713-4

Ulrike Klöppel XX0XY ungelöst Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität 2010, 698 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1343-8

Sophia Könemann, Anne Stähr (Hg.) Das Geschlecht der Anderen Figuren der Alterität: Kriminologie, Psychiatrie, Ethnologie und Zoologie August 2011, ca. 278 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1592-0

Katarzyna Leszczynska Hexen und Germanen Das Interesse des Nationalsozialismus an der Geschichte der Hexenverfolgung 2009, 396 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1169-4

Sven Glawion, Elahe Haschemi Yekani, Jana Husmann-Kastein (Hg.) Erlöser Figurationen männlicher Hegemonie 2007, 218 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-733-2

Jana Husmann Schwarz-Weiß-Symbolik Dualistische Denktraditionen und die Imagination von »Rasse«. Religion – Wissenschaft – Anthroposophie 2010, 410 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1349-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de