Die Balkone von New Orleans: Städtischer Raum und lokale Identität um 1900 [1. Aufl.] 9783839420836

Nicht erst seit Hurrikan Katrina gilt New Orleans als Ausnahmeerscheinung unter den amerikanischen Städten. Karneval und

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Die Balkone von New Orleans: Städtischer Raum und lokale Identität um 1900 [1. Aufl.]
 9783839420836

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung: New Orleans verorten
»Life passed on the balcony«
Am Scheideweg
Urbane Identität
Übergangszeit
I. Sommerland
Ein Streit
Canal Street
»Community control«
Sonne und Regen
Samt und Balsam
Stadt des Südens
Blumenstadt
Stadt des Alten Südens
New South New Orleans
»Aggressive, progressive«?
»Flood and pestilence«
II. Progressive Stadt
»Free from water«?
»Swamped«
Umfassend und effizient
»Please Martin help us out«
Fließen und Fortschreiten
Brüche und Konsens
»Good shape«, »good order«
Patriotische Initiativen
Kreuzzug und Aufklärung
Reiner, weißer, besser
Ästhetik der Harmonie
»Carelessness« und staatlicher Einsatz
III. Alte Stadt
»Jungles of savage reality«
»Children of the soil«
Pittoresk und charmant
Gegenwart der Vergangenheit
Glänzend weiß
Urban Renewal
Ikonoklastische Invasionen
Landmark vs. Slum
Nostalgie
»Old tragic lovely city«
»Careless city«
Im Namen der Vorfahren
IV. Fremde Stadt
»Strange and foreign«
»Old-world town«
»Latin city«
Exotische Stadt
Whitening
Selbstmythisierungen
Alte und neue Wissensordnungen
Salonkultur und politische Macht
V. Geordnete Stadt
Ein umfassender Plan
Sonderzone
Musealisierung
Schluss: Stadt der Ambivalenzen
Abkürzungen
Abbildungen
Quellen
Literatur
Register

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Nadine Klopfer Die Balkone von New Orleans

Band 3

Die Reihe Amerika: Kultur – Geschichte – Politik wird herausgegeben von Christof Mauch, Michael Hochgeschwender, Anke Ortlepp, Ursula Prutsch und Britta Waldschmidt-Nelson.

Nadine Klopfer (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich nordamerikanische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kulturgeschichte der USA und Kanadas im 19. und 20. Jahrhundert sowie Stadtgeschichte.

Nadine Klopfer

Die Balkone von New Orleans Städtischer Raum und lokale Identität um 1900

Für Martin, Helene und Antonia

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Chartres Street, New Orleans, Louisiana, ca. 1906. Unbekannter Fotograf. Library of Congress, Prints and Photographs Division, Detroit Publishing Company Photograph Collection, LC-D4-19296. Lektorat: Anne Bäumler, Nadine Klopfer Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2083-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Einleitung: New Orleans verorten | 9 »Life passed on the balcony« | 9 Am Scheideweg | 12 Urbane Identität | 14 Übergangszeit | 16 Räume und Zeiten | 19

I. Sommerland | 23 Ein Streit | 23 Canal Street | 27 »Community control« | 36 Sonne und Regen | 40 Samt und Balsam | 47 Stadt des Südens | 54 Blumenstadt | 57 Stadt des Alten Südens | 62 New South New Orleans | 70 »Aggressive, progressive«? | 72 »Flood and pestilence« | 81

II. Progressive Stadt | 87 »Free from water«? | 87 »Swamped« | 90 Umfassend und effizient | 93 »Please Martin help us out« | 101 Fließen und Fortschreiten | 111 Brüche und Konsens | 117 »Good shape«, »good order« | 122 Patriotische Initiativen | 128 Kreuzzug und Aufklärung | 137 Reiner, weißer, besser | 143 Ästhetik der Harmonie | 149 »Carelessness« und staatlicher Einsatz | 153

III. Alte Stadt | 159 »Jungles of savage reality« | 159 »Children of the soil« | 168 Pittoresk und charmant | 172 Gegenwart der Vergangenheit | 180 Glänzend weiß | 191 Urban Renewal | 198 Ikonoklastische Invasionen | 206 Landmark vs. Slum | 210 Nostalgie | 214 »Old tragic lovely city« | 219 »Careless city« | 222 Im Namen der Vorfahren | 227

IV. Fremde Stadt | 237 »Strange and foreign« | 237 »Old-world town« | 243 »Latin city« | 251 Exotische Stadt | 258 Whitening | 266 Selbstmythisierungen | 274 Alte und neue Wissensordnungen | 279 Salonkultur und politische Macht | 286

V. Geordnete Stadt | 295 Ein umfassender Plan | 295 Sonderzone | 301 Musealisierung | 313

Schluss: Stadt der Ambivalenzen | 321 Abkürzungen | 333 Abbildungen | 335 Quellen | 339 Literatur | 345 Register | 355

Vorwort

Dies ist keine Dissertation, auch keine Habilitation: Es ist einfach nur ein Buch über New Orleans, das geschrieben werden musste. Das Material, das ich bei meinen Archivbesuchen 2004 und 2005 in New Orleans gesammelt hatte, erwies sich als viel zu ergiebig, um es, wie ursprünglich geplant, in eine Dissertation über eine kanadische Stadt ›hineinzuvergleichen‹; hinzu kam das zugegebenermaßen irrationale, aber nicht zu unterdrückende Gefühl: New Orleans hat ein eigenes Buch verdient. Dass es dieses Buch jetzt tatsächlich gibt, habe ich einer Reihe von Menschen zu verdanken, die mich dabei auf unterschiedlichste Weise unterstützt haben. Am Anfang stand die Archivarbeit in New Orleans. Unvergessen sind die Monate in eiskalten Archiven, in denen mir eine Vielzahl von hilfsbereiten, der Kälte der Klimaanlagen unbeirrt trotzenden Archivaren eine Reihe von Funden ermöglicht hat. Zu nennen sind dabei vor allem Irene Wainwright und Wayne Everard von den City Archives der New Orleans Public Library. Unermüdlich schleppten sie riesige Stadtpläne heran und holten rätselhafte Archivboxen aus dem Keller, die noch nicht einmal in den Findbüchern erfasst worden waren. Aber auch Kenneth Owen, William Meneray und Leon C. Miller von den Special Collections der Tulane University sowie die Mitarbeiter der Special Collections an der University of New Orleans und die der Historic New Orleans Collection waren stets freundlich und hilfsbereit. Die Zeit außerhalb der Archive in der schwülwarmen Stadt angenehm zu gestalten, half mir vor allem Nina Möllers, mit der ich nicht nur Salate und iced coffees, sondern auch so manchen Forscherfrust teilen konnte. Meine Mitbewohnerin Cherie Tregre hingegen zeigte mir das Louisiana jenseits der großen Stadt; ihr und ihren Eltern sei für ihre Gastfreundschaft herzlich gedankt. Dass ich nach Abschluss der Dissertation trotz Töchterchen zum Schreiben kam, dazu haben meine Eltern und Anne Bäumler einen erheblichen Teil beigetragen, indem sie mit großem Einsatz Helene aus dem Arbeitszimmer fernhielten. Für produktiven gedanklichen Austausch über New Orleans danke ich vor allem Marion Stange, Berndt Ostendorf und Michael Hochgeschwender. Christof Mauch hat mich stets ermutigt, dieses Projekt umzusetzen. Michael

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Die Balkone von New Orleans — Städtischer Raum und lokale Identität um 1900

Hochgeschwender, Berndt Ostendorf und Anne Bäumler gilt mein Dank auch für das Lesen des gesamten Manuskripts, das letztlich doch ein bisschen umfangreicher als die anvisierten 160 Seiten wurde. Thomas Zimmermann und Andreas Thomsen danke ich für Hilfe bei der Bildbearbeitung. Nicht zuletzt möchte ich den Herausgebern der Reihe ›Amerika: Kultur – Geschichte – Politik‹, Michael Hochgeschwender, Christof Mauch, Anke Ortlepp, Ursula Prutsch und Britta Waldschmidt-Nelson, dafür danken, dass sie das Buch in ihre Reihe aufgenommen haben. Anselm Doering-Manteuffel hat mich bei der Publikation unterstützt; die VG Wort hat diese durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss ermöglicht. Christine Juechter vom transcript-Verlag hat die Drucklegung kompetent betreut. Ihnen allen gilt mein Dank. Ohne Martin jedoch gäbe es dieses Buch nicht. Er war es, der mich überhaupt auf die Idee gebracht hat, nach Abschluss der Dissertation doch noch über New Orleans zu schreiben. Er hat mich immer wieder aufgefordert, ihm von New Orleans zu erzählen; er hat mich ermuntert, die Seiten eines kleinen schwarzen Büchleins mit Gedanken über die Stadt am Mississippi zu füllen und daraus letztlich ein Buch zu machen. Martin war Zuhörer und steter Begleiter in diesem Projekt, er ist mit eingetaucht in die Welt von New Orleans um 1900. Das war für ihn sicher nicht immer nur vergnüglich, für mich aber von unschätzbarem Wert. Helene und Antonia hingegen haben mich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt und für willkommene Abwechslung und geistige Erfrischung gesorgt. Martin und unseren beiden Mädchen ist dieses Buch daher gewidmet.

Einleitung: New Orleans verorten »L IFE PASSED ON THE BALCONY« Bis heute ist die Stadt New Orleans für ihre Balkone berühmt. Kein Werbeprospekt, kein Touristenfoto kommt ohne die elaborierten floralen Muster der gusseisernen Balkonbrüstungen aus, die den internationalen Ruhm der Architektur von New Orleans begründen. Der ›Schleier aus Spitze‹, mit dem die üppig ausblühende Ornamentik die Fassaden der Stadt zu überziehen scheint, ist nicht nur zum geflügelten Wort in den Reiseführern geworden, sondern auch zu einem bedeutenden Teil der New Orleanser Ikonographie (Abb. 1).

Abbildung 1: Balkone auf der Royal Street (Ecke St. Peter Street), New Orleans, 2012 (Foto: Cherie Tregre).

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Die Balkone von New Orleans — Städtischer Raum und lokale Identität um 1900

Die Populärkultur setzt schon seit langem auf den optischen Wiedererkennungswert der Balkone, wodurch zugleich deren Funktion als Wahrzeichen von New Orleans gefestigt wurde. In zahllosen, mittlerweile zu Klassikern avancierten Filmen wie etwa der James-Bond-Verfilmung Live and Let Die (1973), The Big Easy (1987), JFK (1991) oder The Pelican Brief (1993) bilden die ornamentierten und meist auf Säulen ruhenden Balkone die typische Kulisse der Stadt. Wie Jazz und Gumbo, Kreolen und Storyville, Voodoo, Vampire und Mississippidampfer gehören die kunstvollen Balkone von New Orleans heute zum – erfolgreich touristisch vermarkteten – Mythos von New Orleans. Ihr Ruhm liegt dabei tiefer begründet als in ihrer handwerklichen und ästhetischen Qualität. Denn stärker als alle anderen Elemente des konsumfertig verpackten Mythos von New Orleans verkörpern sie diverse kulturelle Eigenschaften, die als Grundmuster einer New Orleanser Lebensart gelten. Die Balkone kennen wir nicht nur aus Spielfilmen und Werbefotos, sondern auch etwa aus den jährlichen Festivitäten zum Mardi Gras, wo ihnen eine besondere gesellschaftliche und kulturelle Funktion zukommt. In den wohl bekanntesten nordamerikanischen Karnevalsfeierlichkeiten zum ›fetten Dienstag‹ spielen sie eine ebenso bedeutenden Rolle wie die reich geschmückten Umzugswagen der Carnival krewes. Die Balkone bieten die besten Aussichtsplätze auf die Festzüge und sind ins Geschehen eingebunden: Feiernde beglücken die Massen auf den Straßen nicht nur von Umzugswagen, sondern auch von Balkonen aus mit bunten Perlenketten. ›Sehen und Gesehenwerden‹ lautet dabei die Devise, womit die Balkone selbst zu einem Ort des Feierns jenseits der wohlstrukturierten Umzüge werden und damit Teil jener Festkultur, für die die Stadt am Mississippi bekannt ist. Die Tradition des Mardi Gras lässt sich bis ins 18. Jh. zurückverfolgen, als noch zu französischer Kolonialzeit die ersten Karnevalsfeierlichkeiten stattfanden. Der Mardi Gras steht damit insbesondere für eine spezifische französische bzw. romanische Tradition des Feierns, wie sie nur in einer katholischen Stadt eine solche Ausprägung finden konnte. Da New Orleans bereits seit Kolonialzeiten konfessionell, sprachlich, kulturell und gesellschaftlich anders strukturiert ist als die meisten Städte der USA, gilt die Stadt bis heute als Latin city und als kreolische Stadt. So vage diese Bezeichnungen sein mögen, sie implizieren die Andersartigkeit der Südstaatenmetropole, ja, eine gewisse ›Un-amerikanität‹. Auch dies spiegelt sich in den Balkonen der Stadt. Mehrheitlich in der Antebellumzeit entstanden, also zu einer Zeit, in der New Orleans schon zu den Vereinigten Staaten gehörte, sind sie jedoch zumeist der kreolischen Handwerkskunst zu verdanken. Gerade die handwerklichen Fähigkeiten jener Schmiede, die zu der nur in Louisiana existierenden Schicht der free people of color – der freien, meist frankophonen und katholischen Schwarzen – zählten, sind eng mit der üppigen Ornamentik der Balkone verbunden. Diese steht damit auch für eine besondere Kultur der Stadt, die in der Kolonialzeit wurzelt, aber letztlich im Alten Süden vor dem Bürgerkrieg ihre Blütephase erlebte.

Einleitung: New Orleans verorten

Geprägt wird und wurde diese Kultur nicht zuletzt durch die klimatischen Bedingungen in New Orleans. Dem hemmungslosen Feiern zur Karnevalszeit etwa kommt die Milde des Klimas im Mississippidelta entgegen. New Orleans gilt insofern nicht nur als Stadt des Feierns, als kreolische Stadt und als Stadt des Alten Südens, sondern auch als allgemein südliche Stadt, die ein buntes Leben in den offenen urbanen Räumen ermöglicht. Das life in the open air findet dabei – nicht nur zu Mardi Gras – auch auf den Balkonen statt, deren Überdachungen vor sengender Sonne und subtropischem Regen schützen können und das bereits erwähnte ›Sehen und Gesehenwerden‹ beinahe ganzjährig erlauben. Bereits 1914 schrieb die Schriftstellerin Grace King in ihrer Kurzgeschichtensammlung Balcony Stories: »There is much of life passed on the balcony in a country where the summer unrolls in six moon-lengths, and where the nights have to come with a double endowment of vastness and splendor to compensate for the tedious, sun-parched days.«1 King ging es jedoch um eine privatere Seite dieses Lebens auf den Balkonen: »And in that country the women love to sit and talk together of summer nights, on balconies, in their vague, loose, white garments, – men are not balcony sitters, – with their sleeping children within easy hearing […]«2 , schilderte sie die Erinnerungen ihrer Kindheit. Die Balkone erscheinen so auch als weiblicher Raum, ein Bild, das zurückführt zum vielbeschworenen ›Schleier aus Spitze‹, mit dem die kunstvollen Ornamente die Fassaden der Stadt überziehen: New Orleans ist auch eine Lady. Aufgrund dieser Charakteristika gilt die Stadt am Mississippi bis heute als Sonderfall unter den amerikanischen Städten. Ihr wird, wie nur wenigen anderen US-amerikanischen Städten – man denke an San Francisco oder New York City –, eine gewisse Individualität zugesprochen, die sie von der durchschnittlichen, von urban sprawl geprägten und häufig als gesichtslos wahrgenommenen amerikanischen Metropole unterscheidet. Seit den 1920er Jahren sind sich führende New Orleanians ebenso wie außenstehende Beobachter einig, dass New Orleans unique ist. Ebenso konstant sind die Vorstellungen davon, worin dieser New Orleans exceptionalism begründet liegt. Im Mardi Gras verkörpert, in den Balkonen visuell versinnbildlicht, ist der Topos der feierlustigen, traditionsreichen, kreolisch-unamerikanischen, südlichen und femininen Stadt bis heute so wirksam, dass er die Identität der Stadt zu bilden scheint. Diese der Stadt zugeschriebene Identität kann letztlich auf zwei Grundbedingungen der New Orleanser Existenz zurückgeführt werden: Auf ihre Umwelt und ihre Geschichte. Die topographische Lage der Stadt zwischen Mississippi und Lake Pontchartrain sowie das subtropische Klima führten dazu, dass New Orleans mit dem aufkommenden Massentourismus seit den 1920er Jahren als Stadt des Sommers, des Südens und der Blumen vermarktet wurde. Das von 1 | Grace King, Balcony Stories (New Orleans: Graham Co., 1914), 1. 2 | Ebd.

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Die Balkone von New Orleans — Städtischer Raum und lokale Identität um 1900

Architekturen der französischen und spanischen Kolonialzeit und der Antebellumära geprägte Stadtbild trug dazu bei, New Orleans als City of Charm zu profilieren, ein Bild, das durch die Exotik vieler Bauwerke und so mancher Traditionen ergänzt wurde. All diesen Bildern ist jedoch auch eine gewisse Ambivalenz inhärent. Aufgrund von Hurrikanen und Überschwemmungen kann die Natur von New Orleans bedrohlich werden, und die Grenze zwischen historischer Stadt und altmodischer Stadt ist ebenso dünn wie die zwischen Genießertum und Trägheit, zwischen Balkonkultur und Nichtstun. Das Image des ›Romantic New Orleans‹ ist so allgegenwärtig wie das des ›Sodom and Gomorrah of the Urban South’3; Romantik und Laster, Lebensbejahung und Lebensbedrohung gehen Hand in Hand in den Vorstellungen über den Big Easy.4 Nicht umsonst ist New Orleans auch die Stadt der jazz funerals und der Vampirgeschichten, die Stadt eines letzten Tanzes am Abgrund, deren unbeschwertes Feiern jeden Moment kippen kann. Gerade diese Ambivalenz wirkt jedoch seit jeher besonders faszinierend auf Besucher und trägt dazu bei, die Attraktivität von New Orleans zu erhöhen. Der physische Raum der Stadt verkörpert dabei in besonderem Maße die ambivalente Prägung durch Umwelt und Geschichte.

A M S CHEIDE WEG Dass die reich geschmückten Balkone, diese ikonischen Orte von New Orleans, jemals abgerissen werden könnten, ist daher heute schlicht undenkbar. Nach dem zerstörerischen Hurrikan Katrina des Jahres 2005 wurden gerade sie mit Liebe renoviert und aufpoliert. Als Sinnbild für die der Stadt zugeschriebenen Identität sind sie auch Teil einer funktionierenden touristischen Marketingstrategie, auf die nicht verzichtet werden kann. Doch das war nicht immer so. Dass die Balkone für New Orleans stehen, und für welches New Orleans sie stehen – das der alten, exotischen Sommerstadt –, ist keinesfalls das Ergebnis einer zwangsläufigen Entwicklung. In der Geschichte der Crescent City gab es durchaus Momente mit grundlegenden Entscheidungsoptionen, Kreuzungen, an denen gänzlich andere Wege hätten eingeschlagen werden können, die für die Stadt eine fundamental andere Identität bedeutet hätten. An einem solchen Scheideweg stand der Abriss der Balkone im frühen 20. Jh. tatsächlich zur Debatte. Zu einer Zeit, als noch nicht klar war, wodurch genau New Orleans unique werden sollte, erschien dies als eine ernsthafte Option, die Anhänger hatte, aber auch auf Widerstand traf.

3 | Kevin Fox Gotham, Authentic New Orleans: Tourism, Culture, and Race in the Big Easy (New York: New York University Press, 2007), 72-73. 4 | Ebd., 65.

Einleitung: New Orleans verorten

Während die business community der Stadt im Namen von Fortschritt und Modernisierung den Abriss forderte, wehrte sich eine kulturelle Elite gegen die Zerstörung der Balkone. Sie argumentierte mit der klimatischen Funktionalität und typischen Südlichkeit dieses architektonischen Elements sowie mit seinem historischen Wert als altes und exotisches Merkmal von New Orleans, das an die besondere Kolonialgeschichte der Stadt erinnerte. Damit stilisierten sich die Anhänger der Balkone zu kultivierten Kennern ihrer Stadt und versuchten so, der business community die Deutungshoheit über New Orleans streitig zu machen. In diesen konträren Positionen kollidierten letztlich unterschiedliche Vorstellungen einer New Orleanser Identität. Die Vision einer modernen amerikanischen Stadt stand der einer typisch südlichen und historisch gewachsenen Stadt entgegen. Diese grundlegend verschiedenen Visionen wirkten folglich auch auf die konträre Bewertung anderer weithin akzeptierter Merkmale des physischen Erscheinungsbildes von New Orleans. Nicht nur stand zur Debatte, ob Altes überhaupt etwas Gutes sein konnte, sondern auch, ob und wie die Südlichkeit der Stadt beibehalten werden musste und ob das exotische Flair der alten kreolischen Architektur im Zeitalter von Fortschrittsglaube und Technikbegeisterung nicht allzu rückständig und unamerikanisch wirkte. Gerade die inhärente Ambivalenz der bis heute noch New Orleans zugeschriebenen Identität war es, an der die innere Einheit der Stadt um 1900 zerbrach. Erst in den 1920er Jahren gingen die einander um 1900 noch harsch bekämpfenden Eliten einen Kompromiss ein. In einem Comprehensive Zoning Plan, der die Stadt in funktionale Bebauungszonen einteilte, wurde das French Quarter oder Vieux Carré 1929 zu einer historischen Sonderzone erklärt. Damit wurde dieser aus der französischen Kolonialzeit stammende Stadtteil zu einem musealen Bereich, der das Alte im Modernen sowie das Fremde im Eigenen verkörperte. Nun, da die New Orleanians aufgrund ihres historic district gewissermaßen eine geographisch begrenzte alte, exotische Sommerstadt im Vieux Carré konstruiert hatten, konnten sie die positiven Assoziationen dieses Bildes für die gesamte Stadt beanspruchen, mögliche negative aber in das French Quarter und damit in eine romantisierte Vergangenheit verweisen. Erst dank dieser räumlichen Aufteilung der Stadt in Kompartimente konnte die Identität von New Orleans als eine grundlegend ambivalente einen Konsens unter den Führungsschichten finden. Es verwundert nicht, dass sich just zu diesem Zeitpunkt das seit den 1920er Jahren bis heute wirkende Bild der Stadt als altes, exotisches Sommerland durchsetzte – und fortan erfolgreich vermarktet wurde. Damit können die Konflikte um die Zukunft der Balkone als ein Schauplatz jener langen und komplexen Auseinandersetzungen um die Bedeutung von Umwelt und Geschichte für New Orleans verstanden werden, die innerhalb der führenden Schichten zwischen den 1880er und 1920er Jahren ausgetragen wurden. Nur oberflächlich ging es in diesem Streit um Fragen der Funktionalität und Ästhetik eines Bauelements. Auf dem Spiel stand nichts weniger

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Die Balkone von New Orleans — Städtischer Raum und lokale Identität um 1900

als die Macht, das öffentliche Selbstverständnis einer Stadt zu prägen. Diese Studie nimmt die Aushandlungsprozesse urbaner Identität, wie sie die Stadt am Mississippi zwischen den 1880er und 1920er Jahren prägten, in den Blick. Sie konzentriert sich dabei auf jenes Bild des alten, exotischen Sommerlandes, das die weißen Eliten letztlich als Konsens hervorbrachten und das bis heute im öffentlichen Diskurs und der Außenwahrnehmung dominiert. Dass es sich hierbei um ein klar auf rassistischer Exklusion beruhendes Bild handelt, das der komplexen kulturellen Realität von New Orleans nicht ansatzweise gerecht wurde und wird, muss dabei immer mitgedacht werden. Die vielschichtigen, gerade afro-kreolischen oder afro-amerikanischen Traditionen wurden in den Konflikten innerhalb der weißen Eliten und damit in der Konstruktion eines öffentlichkeitswirksamen Images des Stadt ebenso ignoriert wie die Kulturen der Einwanderer; die hier untersuchten Identitätsfindungen spielten sich letztlich auf dem common ground der Überzeugung weißer, anglo-amerikanischer Überlegenheit ab, wie sie die weißen Eliten des amerikanischen Südens um 1900 stark prägte.

U RBANE I DENTITÄT Mit der Frage nach der Entstehung einer für selbstverständlich gehaltenen urbanen Identität schließt das Buch an die jüngste Diskussion innerhalb der soziologischen Stadtforschung an, die gefordert hat, die Besonderheit von Städten und ihre identitätsstiftende Kraft analytisch schärfer zu fassen und Diskurse über eine Stadt, aber auch die Wirkung ihrer materiellen Kultur und der Handlungen von Akteuren in die Analyse einzubeziehen. Die Verwendung des Begriffes der ›Identität‹ in Bezug auf Städte wurde dabei kritisch reflektiert.5 Denn Konsens besteht in der Stadtforschung weitgehend darüber, dass ›Identität‹ nicht als essentielle Kategorie, sondern als Ergebnis von Selbst- und Fremdzuschreibungen zu verstehen ist, die das ›Eigene‹ und das ›Andere‹ etablieren, ein Innen und ein Außen. Weil Identitäten folglich häufig als rein diskursive Konstruktionen begriffen werden, hat sich die Forschung über städtische Identität oft mit der Analyse von Diskursen begnügt und dabei die Rolle der materiellen Kultur, von Praktiken und performativen Akten als Produzenten und Produkte von Identitäten vernachlässigt.6 Während die jüngere Stadtsoziologie daher die Einführung neuer Konzepte wie der »Eigenlogik der Städte«7 fordert, um die Besonderheit einer Stadt auf einer strukturelleren und materielleren Ebene zu fassen, möchte dieses Buch jedoch beim alten Konzept der Identität bleiben, es 5 | Martina Löw, Soziologie der Städte (Frankfurt: Suhrkamp, 2008), 90-91. 6 | So etwa die Kritik ebd., 91. 7 | Ebd., v.a. 73-87.

Einleitung: New Orleans verorten

aber über die diskursive Ebene hinaus erweitern. Identitäten schweben nicht im diskursiven Raum jenseits der Materialität, obwohl sie durch Zuschreibungen geformt werden. Im Gegenteil, sie werden permanent durch Handlungen in der physischen Realität bekräftigt, neu konstruiert oder in Frage gestellt, und sie werden in Auseinandersetzung mit existierenden Strukturen etabliert und beeinflussen diese wiederum selbst.8 ›Städtische Identität‹ wird daher hier als Bündel von unhinterfragten und habitualisierten Gewissheiten über eine Stadt verstanden, die durch die komplexe Interaktion von Bildern und Erzählungen über die Stadt, ihren gegebenen physischen Strukturen und den Handlungen im Raum der Stadt konstituiert werden und diese gleichzeitig prägen.9 Bilder und Erzählungen werden dabei als Repräsentationen der Besonderheit einer Stadt verstanden, welche in den existierenden Vorstellungen ihrer Identität wurzeln und zugleich eine ideale Vision dieser Identität projizieren.10 Diese visuellen und textuellen Repräsentationen stiften in einer Stadt Sinn, da sie vielschichtige und unüberschaubare urbane Prozesse in kohärente Formen bringen.11 Urbane Strukturen dagegen stellen die soziale und physische, gebaute Textur der Stadt dar, während Praktiken auf die Handlungen ihrer Einwohner verweisen. Alle drei Kategorien gestalten die ›urbane Identität‹ im Sinne eines geglaubten Charakters der Stadt und werden, in einer reziproken Beziehung, auch von ihr geformt. ›Städtische Identität‹ kann so als eine Art gemeinsamer Nenner begriffen werden, der gesellschaftliche Brüche transzendiert, die Bürger in ihrer Identifikation mit der Stadt eint und nach außen hin abgrenzt. Der Begriff ist dennoch mit Vorsicht zu verwenden. Von ›der‹ städtischen Identität zu sprechen, verlockt sehr, die Stadt zu anthropomorphisieren und als eigenständig handelnde Person zu betrachten. Wie alle Gruppenidentitäten stellt jedoch auch die der Stadt keine individuelle Identität dar. Die Besonderheit der Stadt charakterisiert zwar ihre Individualität, aber diese Individualität ist eine kollektive. Die Vorstellung einer »collective individuality«12 verweist auf den vielschichtigen Prozess der Identitätskonstruktion, die dem Konzept der urbanen Identität inhärent ist, ebenso wie auf die an diesem Prozess beteiligten Akteure. Eine Stadt existiert nicht ohne Menschen, ganz gleich, ob diese sich in 8 | Vgl. Bettina Bradbury and Tamara Myers, »Introduction«, in: dies. (eds), Negotiating Identities in 19th- and 20th-Century Montreal (Vancouver: University of British Columbia Press, 2005), 1-22, hier 4. 9 | Die städtische Identität entspricht in diesem Verständnis just dem, was Löw unter der »Eigenlogik« einer Stadt versteht, Löw, Soziologie der Städte, 77-78. 10 | Ebd., 165. 11 | Stéphane Gerson, The Pride of Place: Local Memories and Political Culture in 19 th Century France (Ithaca: Cornell University Press, 2003), 76. 12 | Ebd., 88.

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Die Balkone von New Orleans — Städtischer Raum und lokale Identität um 1900

ihr oder außerhalb verorten.13 Letztlich ist ›die‹ städtische Identität das Produkt komplexer Aushandlungsprozesse zwischen den Bewohnern einer Stadt, ihren Besuchern und Beobachtern, die alle bewusst oder unbewusst die Besonderheit der Stadt durch ihre Handlungen, durch die von ihnen (re)produzierten sozialen und räumlichen Strukturen und durch die von ihnen heraufbeschworenen Bilder und weitergegebenen Narrative beeinflussen. Darüber hinaus ist die weithin akzeptierte Identität einer Stadt wiederum der Aneignung durch Individuen oder Gruppen unterworfen. Der gemeinsame Nenner kann ganz unterschiedlich interpretiert werden und so wieder zu divergierenden Bildern und Narrativen, Handlungen und Strukturen führen. Die Dynamik dieser Prozesse suggeriert die Fluidität und historische Kontingenz der urbanen Identität14 und weist auf die Machtstrukturen, die diesen Aushandlungsprozessen inhärent sind. Während dem Konzept der urbanen Identität als gemeinsamem Nenner daher eine gewisse einheitsstiftende Kraft innewohnt, die Fragmentierungen transzendiert, so kann es gleichzeitig auch genau jene partikulare Identitäten ausdrücken, die es vermeintlich überwindet. Insofern möchte diese Studie das zunächst statisch und universalisierend anmutende sozialwissenschaftliche Konzept der urbanen Identität historisieren und anhand der Geschichte von New Orleans aufzeigen, wie städtische Identität historisch kontingent entsteht und prozesshaften Veränderungen unterliegt.

Ü BERGANGSZEIT Es ist kein Zufall, dass in New Orleans gerade der Zeitraum zwischen den 1880er und 1920er Jahren voller Optionen hinsichtlich der Zukunft der Stadt schien, aber auch voller Unsicherheiten. Für New Orleans war die Zeit nach dem Ende der Reconstruction, jener Phase nach dem Bürgerkrieg, in der der rebellische Süden politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich nach nordstaatlichem Vorbild in die Union reintegriert werden sollte (1865-77), eine Zeit des Umbruchs, was so auch von den Zeitgenossen selbst wahrgenommen wurde. »Socially as well as commercially New Orleans is in a transitive state. The change from river to railway transportation has made her levee vacant; the shipment of cotton by rail and its direct transfer to ocean carriage have nearly destroyed a large middle-men industry; a large part of the agricultural tribute of the Southwest has been diverted; plantations have either not recovered from the effects of the war or have not adjusted 13 | Vgl. Paul Sigel, »Konstruktionen urbaner Identität«, in: Bruno Klein und Paul Sigel (Hgg), Konstruktionen urbaner Identität: Zitat und Rekonstruktion in Architektur und Städtebau der Gegenwart (Berlin: Lukas Verlag, 2006), 13-31, hier 14. 14 | Vgl. ebd., 28.

Einleitung: New Orleans verorten

themselves to new productions, and the city waits the rather blind developments of the new era.«15

Im New Orleans der Post-Reconstruction-Era stand die Moderne vor der Tür: Die Metropole am Mississippi verlor mit dem Ende des Alten Südens und dem Beginn der von Eisenbahnen geprägten Industriemoderne ihre herausragende Stellung als Handelsdrehkreuz, welche sie durch die Dampfschifffahrt errungen hatte. Vor allem Atlanta etablierte sich als Eisenbahnzentrum des östlichen Südens; St. Louis und Chicago dominierten die midcontinental region.16 Die letzten Dekaden des 19. Jh.s waren ein temps de passage, in der die Stadt sich wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell neu orientieren musste. Die Queen City der Antebellumzeit befand sich gewissermaßen in einem Spagat zwischen dem Alten und dem Neuen Süden, zwischen Dampfer und Eisenbahn, zwischen der Gesellschaftsordnung der Vorkriegszeit und der des modernen Amerika. Diese Zeit war geprägt vom Versuch der Redefinition der Stadt, vom Bemühen um Neupositionierung: New Orleans musste neu erfunden werden, um sich in den veränderten Bedingungen des Neuen Südens behaupten zu können. Die Gesellschaftsordnung unterlag einem heftigem Wandel; neue Bilder der Stadt wurden entworfen, alte wieder hervorgeholt und die Stadtlandschaft wurde aktiv verändert. In den Jahrzehnten zwischen etwa 1880 und den 1920er Jahren bemühten sich die Führungsschichten von New Orleans, ihrer Stadt im Gefüge der Südstaatenmetropolen des Neuen Südens eine herausragende Stellung zu sichern und ihre eigene Position innerhalb der Stadt zu festigen. In diesen Zeiten des Umbruchs, als die soziale und wirtschaftliche Ordnung aus dem Gleichgewicht geraten zu sein schien, erlangte der Bezug auf eine gemeinsame städtische Identität große Bedeutung für den inneren Zusammenhalt in der Stadt. Das Gefühl lokaler Singularität konnte Halt geben und stellte die Basis dar, auf der die Übergangszeit gemeistert und die Stadt an die neuen Zeiten adaptiert werden konnte. Gerade wenn althergebrachtes Wissen in Frage gestellt wird, die soziale Ordnung durcheinander gewirbelt scheint und partikulare Identitäten als bedroht empfunden werden, findet verstärkt eine Suche nach dem einenden, das Bedürfnis nach einer »mended social order«17 befriedigenden Genius loci statt; so auch in New Orleans um 1900. Eine gemeinsame städtische Identität konnte dazu beitragen, durch ein Abgrenzen nach außen partikulare Interessen im Inneren zu überwinden oder zumindest temporär auszugleichen, und so stabilisierend wirken. Dieser Identität Kontur zu verleihen und der Stadt eine 15 | Charles Dudley Warner, »New Orleans«, in: Harper’s New Monthly Magazine 74:440 (Jan. 1887), 186-207, hier 192. 16 | Peirce F. Lewis, New Orleans: The Making of an Urban Landscape (Santa Fe: Center for American Places, ²2003), 55-56. 17 | Gerson, Pride of Place, 100.

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eigene Signatur zu geben konnte jedoch gleichzeitig Machtpositionen im Inneren garantieren. Dieses Buch möchte jener von den zeitgenössischen Beobachtern der Stadt zugeschriebenen »personality all her own«18 nachspüren, die auch der Reisende Charles Dudley Warner 1887 nur feststellen, aber nicht erklären konnte: »[…] whatever way we regard New Orleans, it is in its aspect, social tone, and character sui generis; […] and it remains one of the most interesting places in the republic.«19 Wie entstand das bis heute wirksame Bild des romantischen New Orleans, das die örtlichen Geschäftsleute seit den 1920er Jahren propagierten, um Touristen anzuziehen? Das Buch erkundet in diesem Sinne die Konstruktionsprozesse einer New Orleanser Identität zwischen den 1880er und den 1920er Jahren, indem es über die Marketingstrategien der Stadt hinausgeht und nach dem fragt, was sich im Inneren der Stadt abspielte, nach den unausgesprochenen Glaubenssätzen, die Brüche überbrückten, aber auch nach den Machtkämpfen, die von Fragmentierungen zeugten und nach den impliziten, selten thematisierten Ausschlussmechanismen. Weil Kommodifizierung und Konsum, Freizeitvergnügen und Massentourismus zentrale Elemente einer Geschichte der New Orleanser Identität vor allem seit den 1920er Jahren bilden, ist diese Geschichte im weiteren Kontext der entstehenden modernen Tourismusindustrie, der Kommodifizierung urbaner Räume und der sich entwickelnden Konsumgesellschaft des 20. Jh.s bereits ausführlich erzählt worden.20 Ein solches Narrativ allein erfasst jedoch nicht die Vielschichtigkeit der Aushandlungsprozesse urbaner Identität. Die Geschichte als Geschichte des Tourismus zu erzählen engt den Blick ein auf die strategischen Bilder der Stadt, die gezielt an Außenstehende vermittelt wurden. Obwohl dies eine legitime Perspektive ist, so tendiert sie doch dazu, die Tatsache zu vernachlässigen, dass jene bis heute wirksamen Bilder von einem ganz spezifischen Teil der New Orleanians produziert wurden, von Bürgern, die nach wirtschaftlichem Erfolg und kultureller Hegemonie strebten – und das innerhalb der Stadt selbst, in Konkurrenz zu den Mitbürgern. Anders gesagt, ist die Entstehung urbaner Identität auch die widersprüchliche Geschichte eines inneren Ringens um community identity und die Macht, diese zu prägen, ein Aspekt, der beim Fokus auf Tourismus oft aus dem Blickfeld gerät. Die für Außenstehende erzeugten Bilder wirken wie die Reaktionen von Besuchern ebenfalls 18 | Illinois Central, The World’s Industrial and Cotton Centennial Exposition New Orleans (s.l.: s.n., 1884), 6. 19 | Warner, »New Orleans«, 206. 20 | Vgl. Gotham, Authentic New Orleans, 65 für einen allgemeinen Überblick; zur Entstehung des Massentourismus in den 1920ern bis 40ern und seinen Wirkungen auf New Orleans vgl. Anthony J. Stanonis, Creating the Big Easy: New Orleans and the Emergence of Modern Tourism, 1918-1945 (Athens: University of Georgia Press, 2006).

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nach Innen. Wann solche strategischen Bilder auch im Inneren zumindest bei einem Teil der Bürger zu unhinterfragten Gewissheiten über eine Stadt werden, wie dieser Prozess abläuft, welche Widerstände es gibt, all das sind Fragen, denen dabei nachgegangen werden muss.

R ÄUME UND Z EITEN Gegenstand der Untersuchung ist dabei der Stadtraum von New Orleans, jenes physische Terrain der Stadt, das in Bildern gezeichnet, in Erzählungen evoziert und von Handlungen ebenso wie von gebauten Strukturen geprägt wurde. Der Streit um die Balkone dient dabei als Ausgangspunkt und als immer wiederkehrende Schnittstelle zwischen den diversen stadträumlichen Diskursen und Argumentationslinien, die die Prozesse lokaler Identitätsformierung prägten. Diese laufen im Balkonstreit punktuell wie in einem Brennglas ineinander, kommen jedoch auch in einer Vielfalt anderer Konflikte um den urbanen Raum zum Tragen und werden daran veranschaulicht. In New Orleans, einer Stadt, die zum Teil unter dem Meeresspiegel liegt, waren die räumlichen Gegebenheiten immer ein nicht zu vernachlässigender Faktor – den erschwerten Bedingungen eines subtropischen Klimas sowie den Überschwemmungen und Hurrikanen musste in der Geschichte der Stadt stets Rechnung getragen werden. Weil die Bilder und Narrative über den Raum, weil seine Strukturen und die Handlungen, die an ihm vorgenommen wurden, die Vorstellungen einer Identität der Stadt beeinflussten und ebenso von diesen geformt wurden, lassen sich in ihnen Spuren zu einer New Orleanser Identität finden, wie sie zwischen den 1880er und 1920er Jahren verhandelt wurde. Indem sich dieses Buch auf den Raum der Stadt konzentriert und diesen als Veränderungen unterworfene, physisch greifbare Struktur und als mentales Konstrukt zugleich versteht, macht es sich die neueren Forschungen zum spatial turn ebenso zunutze wie die Ansätze einer Kulturgeschichte, die verstärkt nach Wahrnehmungen und Deutungsmustern und ihrer Relevanz für Handlungen fragt.21 Komplexe gesellschaftliche Wandlungsprozesse können so in Zeit und Raum nachvollzogen werden. Deutungen und Umdeutungen des 21 | Überblick über die Rolle des spatial turn in den unterschiedlichen Disziplinen bei Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (Reinbek: Rowohlt, 2006), 284-328, dort auch weiterführende Literatur. Zur Anwendung der Raumtheorien in der Geschichtswissenschaft vgl. Nadine Klopfer, Die Ordnung der Stadt: Raum und Gesellschaft in Montreal (1880 bis 1930) (Köln: Böhlau, 2010), 12-24. Zum Selbstverständnis einer neueren Kulturgeschichte Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte: Theorien, Praxis, Schlüsselwörter (Frankfurt: Suhrkamp, 2001), v.a. 17.

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städtischen Raums im Rahmen von Konstruktionen urbaner Identität sowie daraus resultierende Handlungen geben dabei Aufschluss über gesellschaftliche Prozesse in der Stadt. Einerseits kann damit die Stadt selbst in ihrer historischen Dynamik besser verstanden werden, andererseits geraten allgemeinere Konstruktionsmechanismen und -vorgänge urbaner Identität in den Blick.22 Denn die kleinen Geschichten lokaler Identitätssuche sind nicht nur zwischen spezifischen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Phänomenen des New Orleans der Jahrhundertwende aufgespannt, sondern auch zwischen sozial-, ideen- und wirtschaftshistorischen Rahmenbedingungen, die das urbane Leben in den USA um 1900 allgemein prägten. Sie bilden gleichsam die Folien, vor deren Hintergrund sich die Konturen New Orleanser Identitätssuche abzeichnen. Die massiven Industrialisierungsprozesse der zweiten Hälfte des 19. Jh.s bewirkten nicht nur in den sich rasch industrialisierenden Nordstaaten eine grundlegende Umwälzung lebensweltlicher Erfahrung. Gerade der Süden stand nach dem Bürgerkrieg vor der schwierigen Aufgabe, Anschluss an die Industriemoderne zu finden. Die wirtschaftliche Neuorientierung stellte vor allem die Städte vor große Herausforderungen. Bevölkerungszuwachs und rasche Urbanisierung betrafen die Städte des Südens zwar in geringerem Maße als jene des Nordens und Mittleren Westens, doch mussten auch sie sich mit den Folgen des Wachstums auseinandersetzen. Infrastrukturen fehlten im Zeitalter des Gilded Age an allen Ecken und Enden, der physische Raum der Stadt musste modernisiert, städtische Verwaltungsapparate entsprechend ausgebaut werden. Es verwundert nicht, dass in der sogenannten Progressive Era, der Zeit etwa zwischen den 1890er Jahren und dem Ersten Weltkrieg, die rationale (Neu-)ordnung der Stadt zum Thema wurde und erste Instrumente zur Planung urbaner Entwicklung ins Leben gerufen wurden. Fortschrittsglaube und -skepsis rieben sich dabei in den öffentlichen Debatten um die Zukunft der Städte stets aneinander. Hand in Hand gingen Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse auch im Neuen Süden mit gesellschaftlichen Umschichtungsprozessen. Die zweite Einwanderungswelle des späten 19. Jh.s brachte gerade in die Hafenstadt New Orleans eine Vielzahl von Immigranten aus dem Süden Europas. Armut und Ghettoisierung prägten die Städte ebenso wie erste Versuche sozialer Planung und von social engineering, die eng mit den Anfängen der Stadtplanung verknüpft waren und im Süden der USA immer auch einen rassistischen Unterton, wenn nicht eine explizit rassistische Stoßrichtung aufwiesen. Die 1890er Jahre waren schließlich das Zeitalter der Jim Crow-Gesetzgebung, jener legislativen Maßnah-

22 | Vgl. Sigel, »Konstruktionen«, 28 und Stephanie E. Yuhl, A Golden Haze of Memory: The Making of Historic Charleston (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 2005), 11.

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men, die den Schwarzen des Südens faktisch die frisch erworbenen Bürgerrechte wieder streitig machten und ein System strikter Rassentrennung einführten. Das Wachstum der Städte und die Dichte ihrer Besiedlung führte zu umfassenderen Reflexionen über das Verhältnis zwischen ›Stadt‹ und ›Umwelt‹. Epidemien und Krankheiten wurden mit dem hohen Menschenaufkommen in der modernen Großstadt und deren mangelhaften Infrastrukturen im Bereich der sanitären Hygiene – Müllabfuhr oder Wasserversorgung etwa – assoziiert. Der Natur galt es weitere Siedlungsflächen für die Ausdehnung der urbanen Territorien abzutrotzen, und gleichzeitig wurde versucht, im Rahmen einer beginnenden Planungseuphorie mit den Parks gezähmte, wohlgeordnete Stücke Natur als ›Lungen der Stadt‹ ins urbane Gewebe einzufügen, um ein gesünderes Leben in der Stadt zu ermöglichen. Angesichts dieser umfassenden Wandlungsprozesse wurden die Dekaden um 1900 von den Zeitgenossen selbst häufig als Phase der tiefgreifenden Veränderungen, ja des Umbruchs wahrgenommen. Während viele den Wandel als Fortschritt begriffen und enthusiastisch begrüßten, gingen die Modernisierungsprozesse jedoch zum Teil auch mit einer Umwertung des Alten und Historischen einher. Die Erfahrung von allzu viel Neuem suchte man in einer bewussten Hinwendung zur Vergangenheit zu kompensieren; auf dem Weg in eine unsichere, weil gänzlich neue Zukunft versprach die Geschichte Halt und Orientierung. Nicht umsonst entstand in diesen Jahren auch in den USA der Denkmalschutz als strukturierte und koordinierte Bewegung. Allerdings bildete die Neubewertung der Vergangenheit nur oberflächlich betrachtet eine Antithese zu Modernisierungswillen und Planungsfreude der Progressive Era. Denn letztlich entsprang auch sie dem Wunsch nach Ordnung und Überschaubarkeit, der die fortschrittseuphorischen Neugestaltungen urbaner Räume speiste. Die Selbstvergewisserung bezüglich der eigenen Herkunft und das Sichtbarmachen von Verankerungen waren lediglich ein anderer Weg, mit den Wandlungen und Fragmentierungen des Gilded Age fertig zu werden, als das vermeintlich rationale Kategorisieren und Planen der Fortschrittsenthusiasten. All diese allgemeinen Entwicklungen der Jahrzehnte um 1900 wirkten vor Ort, in New Orleans, in die Diskussionen um eine spezifische Identität der Stadt hinein und nahmen im New Orleanser Kontext eine lokale Ausprägung an; ohne sie wäre jedoch auch die besondere Richtung nicht zu verstehen, die die Suche nach Identität in New Orleans um 1900 einschlug. Dieses Buch möchte dementsprechend die Aushandlungsprozesse lokaler Identität im Netz urbaner Entwicklungen verorten, die das Amerika der Jahrhundertwende formten. Es geht dabei nicht darum, zu zeigen, wieso New Orleans angesichts dieser Entwicklungen ›etwas Besonderes‹ ist oder war, also selbst einer Art Doktrin des New Orleans exceptionalism anzuhängen, sondern darum, herauszuarbeiten, wie es dazu kam, dass sich das bis heute wirkende Bild von New Orleans etablieren konnte. Kurz: Nicht die Besonderheit von New Orleans, sondern die Besonder-

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heit seiner Identitätssuche steht im Fokus. In der Art und Weise, in der zwischen den 1880er und 1920er Jahren die Komponenten festgelegt wurden, die fortan New Orleans ausmachen sollten, drückt sich der besondere New Orleans twist im Sinne des lokal spezifischen Verflechtens von breiter wirksamen historischen Prozessen aus. Die lokalen Geschichten verbinden daher allgemeine urbane Prozesse mit New Orleanser Gegebenheiten, weshalb sie erlauben, ein vielschichtiges Panorama des urbanen amerikanischen Südens der Jahrhundertwende zu entfalten. Insofern gibt das Buch nicht nur Aufschluss über die spezifische Identitätsformierung einer Südstaatenstadt mit französischer Geschichte sondern hofft auch, einen Beitrag zur urban history Amerikas um 1900 zu leisten.

I. Sommerland E IN S TREIT Als Anfang März 1914 einige Mitglieder der New Orleans Association of Commerce (A of C) den Beschluss fassten, die Hauptgeschäftsstraße ihrer Stadt, Canal Street, zur schönsten Straße des gesamten Landes zu machen, ahnten sie nicht, was für Folgen dieser Plan haben würde. Nachdem das Vorhaben der Association Ende April desselben Jahres publik wurde, dauerte es nicht einmal eine Woche, bis die führenden Bürger von New Orleans in einem erbitterten Streit um das Gesicht ihrer Stadt in zwei Lager gespalten waren. Der Streit sollte endgültig erst zweieinhalb Jahre später beigelegt werden. Die eigentlich recht banale Initiative der Association of Commerce, die Haupteinkaufsstraße der Stadt schöner zu gestalten, hatte sich innerhalb kürzester Zeit zum Brennpunkt eines wahrhaften Kampfes entwickelt, der die Lokalpolitik beherrschte und dem die Tageszeitungen ausführliche Berichte widmeten – polemische Berichte, da auch die Zeitungsherausgeber in diesem Streit klar Position bezogen. Der »Canal Street Fight« war fortan ein fester Begriff und Dauerthema in den Lokalteilen der Tagespresse.1 Es hatte alles so harmlos begonnen. Noch am 30. April 1914 hatte eine Tageszeitung in einem kurzen, neutral gehaltenen Artikel unter der Überschrift »To campaign for City Beautiful« ihre Leser davon in Kenntnis gesetzt, dass es Bestrebungen gab, die Hauptgeschäftsstraße Canal Street ansehnlicher zu gestalten. »Canal Street Business Men Want Unsightly Objects Stripped Away«2 hieß es im Untertitel. Der Artikel präzisierte dann, welche Objekte damit gemeint waren, woraus sich der potentiell kontroverse Charakter des Vorhabens noch nicht unmittelbar erschloss: Hässliche Schilder, unansehnliche Balkone, Reklameträger, unnötige oberirdische Leitungen sowie Müll sollten von der Straße entfernt werden. Zudem sollte eine bessere Straßenbeleuchtung installiert und Teile der Fahrbahn sowie des Bürgersteigs neu gepflastert werden. Mit diesem Anliegen, 1 | Begriff des »Canal Street Fight« etwa bei: »Canal St. Fight is inaugurated before council«, in: Times-Picayune, 6.5.1914. 2 | »To Campaign for City Beautiful«, in: The New Orleans Item [im Folgenden: Item], 30.4.1914.

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so konnte man dem Artikel entnehmen, trafen die businessmen der Association of Commerce bei der Stadtverwaltung auf ein offenes Ohr. Der Bürgermeister Martin Behrman signalisierte Zustimmung und der Commissioner of Public Property, Edward E. Lafaye, bemerkte in einem Gespräch mit Vertretern der A of C, dass er selbst gerade begonnen hatte, an Plänen zur »improvement« des flußnahen Bereichs der Canal Street zu arbeiten. Auch der Unterstützung der Hauseigentümer an der Canal Street war sich die Association of Commerce sicher.3 Eine Woche später jedoch informierte die Times-Picayune ihre Leser: »Canal St. Fight is inaugurated before Council«.4 Innerhalb dieser Woche hatte sich eine starke Gegenbewegung zu den Plänen der A of C formiert, die versuchte, mittels Petitionen auf den Bürgermeister Druck auszuüben und über Zeitungsartikel die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Schließlich trafen am 5. Mai Befürworter und Gegner der Pläne für die Canal Street in einem Hearing auf Mitglieder des Stadtrates, unter anderem auf den Bürgermeister Behrman, Commissioner of Public Property Lafaye, Commissioner of Public Safety Harold W. Newman und den City Engineer William J. Hardee, die sich die Argumente beider Seiten anhörten. Dieses Treffen stellte jedoch keineswegs das Ende des Streits dar, sondern bildete erst den Anfang eines polemischen Schlagabtausches, in dem beide Seiten kein Blatt vor den Mund nahmen. Von einer »false idea of progress and improvement«5 sprachen die Gegner der Pläne, während die A of C ihnen öffentlich vorwarf, »behind the times«6 zu sein. Es scheint zunächst unverständlich, wieso der Plan, »unsightly objects« von einer belebten Einkaufsstraße zu entfernen, eine Straße neu zu pflastern und bessere Beleuchtung zu installieren, auf solch massive Gegenwehr stieß. In der Tat waren die Gegner der A of C mit weiten Teilen des Verschönerungsprogramms einverstanden. Folglich setzte die Kritik nur an einem Punkt an: Zu den unansehnlichen Objekten, die die Schönheit der Canal Street störten, gehörten im Plan der A of C auch »sheds«7. Während dies eher nach abrisswürdigen Baracken klingt, monierten Kritiker der Pläne jedoch sofort, dass es sich nicht nur um sheds handele, sondern auch um balconies und galleries. Unter shed verstand die Association of Commerce jene simplen, an den Häuserfassaden angebrachten Überdachungen des Bürgersteigs, die auf Säulen ruhten (Abb. 2). Ein Balkon hingegen bezeichnete nach zeitgenössischem Verständnis einen offenen, begehbaren, aus der Fassadenflucht hervortretenden Austritt, der von einer Brüstung abgeschlossen wurde. Anders als nach heutiger Definition war der New Orleanser Balkon meist von Säulen gestützt – darin ähnelte er dem 3 4 5 6 7

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Ebd. »Canal St. Fight is inaugurated before council«, in: Times-Picayune, 6.5.1914. »Miss Gordon Takes Place of Mr. Locke As Suffrage Talker«, in: Item, 6.5.1914. »Canal St. Fight is inaugurated before council«, in: Times-Picayune, 6.5.1914. »Works on Beautifying of Canal Street«, in: Item, 3.3.1914.

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shed. Genau genommen waren die meisten Balkone in New Orleans allerdings sog. verandas, worunter man einen überdachten Balkon verstand (Abb. 3).

Abbildung 2: »Sheds«, schlichte, auf Säulen ruhende Überdachungen der Straße, hier auf der Canal Street um 1900 (Foto: George François Mugnier).

Abbildung 3: »Verandas«, überdachte, auf Säulen ruhende Balkone, zwischen 1890 und 1901 auf der Royal Street (Foto: Detroit Publishing Company).

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Als gallery wurde ein ebenfalls auf Säulen ruhender, um ein Haus herumlaufender Balkon bezeichnet, der gleichzeitig die Funktion hatte, die Zimmer von außen zu erschließen (Abb. 4).8

Abbildung 4: »Galleries«, auf Säulen gestützte, um ein Haus herumlaufende Balkone, St. Charles Avenue, um 1900 (Foto: George François Mugnier). Im alltäglichen New Orleanser Sprachgebrauch wurden verandas und galleries jedoch auch meist balconies genannt und die Begriffe weitgehend austauschbar verwendet, da sich alle drei vom shed dadurch unterschieden, dass sie begehbar waren und zum Wohnraum der angeschlossenen Wohnung gehörten. In der Tat witterten die Kritiker der Abrisspläne zu Recht, dass es nicht nur den schlichten Überdachungen an den Kragen gehen sollte, sondern auch den Balkonen einzelner Häuser, denn das Special Committee on Beautifying Canal Street der Association of Commerce hatte in seinem ursprünglichen Beschluss schriftlich festgelegt, gegen »unsightly sheds and verandas«9 vorzugehen.10 So

8 | Die Begriffe definiert das Editorial »Attacking Balconies«, in: Item, 5.10.1916, das sich auf verschiedene zeitgenössische Lexika beruft. 9 | »Report of the Special Committee on Beautifying Canal Street«, 6.3.1914, in: University of New Orleans, Louisiana and Special Collections Department [im Folgenden: UNO/LaSC], Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, Mss 66, 66-16 clasp vol. Dec. 16 1913-Jan. 11 1915. 10 | Im Folgenden sollen Veranda, Balkon und Galerie auch austauschbar verwendet werden, da das dem zeitgenössischen, (umgangs-)sprachlichen Gebrauch entspricht und eine Differenzierung keine Rolle im Streit spielte.

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etablierte sich im Lauf des Streits der Begriff »balcony fight«11 als äquivalente Bezeichnung für den »Canal Street fight«. Während die Balkone heute fester Bestandteil eines allgemein anerkannten und weithin gepflegten Bildes des ›typischen New Orleans‹ sind, waren sie das um 1900 noch keineswegs. Bei aller Freude an Modernisierung: Weltweit berühmte Magnete touristischer Ströme hätte die geschäftstüchtige Association of Commerce wohl kaum als »unsightly objects« bezeichnet. Aus zwei Gründen war es um 1900, anders als heute, überhaupt denkbar, New Orleans balconies dem Abriss zu empfehlen. Zum einen waren die meisten der anvisierten Vordächer und Balkone tatsächlich schlichte Konstruktionen, die sich obendrein noch in der Canal Street befanden: Hier kommt die besondere Logik der Canal Street ins Spiel, die verständlich machen kann, weshalb es gerade um die Balkone in dieser Straße zu einem Streit kommen konnte. Zum anderen formierte sich die Bewegung zur Bewahrung historischer Architektur in New Orleans erst in diesen Jahren. Gerade der »balcony fight« war dabei ein erster entscheidender Schritt, der letztlich einen wichtigen Teil dazu beitrug, dass die heute so berühmten, elaborierteren Balkone erhalten sind.

C ANAL S TREE T Die Geschichte der Canal Street reicht zurück in die französische Kolonialzeit der Stadt. Der Name der Straße deutet dabei auf ihre ursprünglich geplante Funktion hin. Eigentlich hätte entlang der heutigen Trasse der Straße ein Kanal gebaut werden sollen, der den die koloniale Stadt halbmondförmig umschließenden Mississippi mit dem im Norden der Stadt liegenden Lake Pontchartrain verbunden hätte (Abb. 5). Dieser Kanal wurde allerdings nie realisiert. In den 1790er Jahren ließ der spanische Gouverneur Carondelet dann einen Kanal zwischen dem in den See mündenden Bayou St. John und dem nördlichen Ende der alten französischen und spanischen Kolonialstadt – dem heutigen French Quarter – bauen, um so New Orleans mit Lake Pontchartrain zu verbinden (Abb. 6).12 Dieser Kanal wurde Canal Carondelet oder später auch Old Basin Canal genannt – in Abgrenzung 11 | »Women Join In Balcony Fight«, in: Item, 10.5.1914. 12 | Vgl. Gilbert C. Din and John E. Harkins, The New Orleans Cabildo: Colonial Louisiana’s First City Government, 1769-1803 (Baton Rouge: Louisiana State University Press, 1996), 255-56. In Bezug auf das French Quarter, die alte Kolonialstadt, entsprechen die in New Orleans gängigen Bezeichnungen für die Himmelsrichtungen meist nicht ihrer tatsächlichen geographischen Orientierung. Das, was als Norden des French Quarters bezeichnet wird, ist eigentlich sein Nordwesten, der Süden ist eigentlich der Südosten usw. Um Missverständnisse zu vermeiden, orientiert man sich in New Orleans

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zum New Basin Canal, der in den 1830ern unter amerikanischer Herrschaft weiter westlich zwischen dem damals neu entstehenden Vorort Faubourg St. Mary und Lake Pontchartrain parallel zum alten Kanal gebaut wurde.13 Keiner der beiden Kanäle reichte jedoch bis zum Mississippi.

Abbildung 5: Stadtplan aus den Anfangsjahren von New Orleans mit dem geplanten, an die Siedlung angrenzenden Kanal zwischen Mississippi und Lake Pontchartrain. Heute verläuft hier die Canal Street (Anonyme Karte, 1723). Nachdem die alten Stadtmauern 1805 abgerissen worden waren, entstand zwischen der alten Kolonialstadt und den neuen, flussaufwärts gelegenen Wohngebieten des sogenannten Faubourg St. Mary eine weiträumige Freifläche mit dreieckigem Grundriss (Abb. 7). Dieses unbesiedelte Land sowie einen Großteil des sich nach Norden erstreckenden Gebietes beanspruchte der von Präsident Thomas Jefferson als Dank für seine Heldentaten im amerikanischen Unabdaher meist gar nicht an den Himmelsrichtungen, sondern an der Lage von Fluss und See mittels der Begriffe riverside, lakeside, upriver und downriver. 13 | Friends of the Cabildo (ed.), New Orleans Architecture, vol. II: The American Sector (Faubourg St. Mary) (Gretna, LA: Pelican Publishing Company, 1972), 10.

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Abbildung 6: Carondelet Canal (Old Basin Canal) zwischen Kolonialstadt und Bayou St. John (Karte: Carlos Trudeau, 1798). hängigkeitskrieg mit Land beschenkte Marquis de Lafayette, während die Stadt New Orleans sich gegen eine solche Privatisierung ihrer commons wehrte. Eine Verordnung des Washingtoner Kongresses vom 3. März 1807 schlichtete den Streit und legte fest, dass der Stadt New Orleans in der Tat eine Fläche von 600 Yard um die alte Stadt herum gehören sollte. Das Gesetz legte ebenfalls fest, dass innerhalb des dreieckigen Gebiets zwischen der alten Kolonialstadt und dem neuen Faubourg St. Mary ein breiter Streifen nicht bebaut werden dürfe.14 14 | Richard Campanella, Time and Place in New Orleans: Past Geographies in the Present Day (Gretna, LA: Pelican Publishing Company, 2002), 110.

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Hier sollte ein neuer, 50 Fuß breiter Kanal entstehen, der den Carondelet Canal mit dem Mississippi verbinden sollte. 60 Fuß sollten auf jeder Seite des Kanals für eine Straße freigehalten werden. Dieser Kanal sollte »forever remain open as a public highway«.15 Das angrenzende öffentliche Land wurde in der Folge als breite, von Bäumen gesäumte Straße auf beiden Seiten des für den Kanal freigehaltenen Streifens parallel zu den Straßen des heutigen French Quarter angelegt. Grundstücke an dieser neuen Canal Street wurden aufgeteilt und zur Bebauung verkauft. Der Kanal selbst jedoch wurde nie realisiert, und so entstand mit der Canal Street eine der breitesten Straßen der USA, der 171 Fuß (etwas über 52 Meter) breite »Great Wide Way«.16

Abbildung 7: Dreieckige Freifläche zwischen Kolonialstadt und dem flussaufwärts entstehenden Vorort Faubourg Ste Marie/Faubourg St. Mary (Karte: James Tanesse, 1809). Während die Canal Street in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz von Institutionen wie dem Custom House oder Charity Hospital sowie von eleganten Wohnhäusern gesäumt war, wandelte sich ihr Charakter in den 1840er Jahren. Bis zum Bürgerkrieg lief sie den alten Geschäftsstraßen des auch Vieux Carré genannten French Quarter, Royal und Chartres Street, den Rang als Einkaufs15 | Zit. nach Friends of the Cabildo (ed.), American Sector, 11. Campanella, Time and Place, 110, erwähnt das Gesetz: »An Act Respecting Claims to Land in the Territories of Orleans and Louisiana« (March 3, 1807), as recorded in The Debates and Proceedings in the Congress of the United States (1852), 1283. Vgl. auch Peggy Scott Laborde and John Magill, Canal Street: New Orleans’ Great Wide Way (Gretna, LA: Pelican Publishing Company, 2008), 22. 16 | Friends of the Cabildo (ed.), American Sector, 11; Campanella, Time and Place, 110.

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straße ab und etablierte sich als Hauptgeschäftsmeile. Diese Funktion sollte sie noch ein weiteres Jahrhundert lang behalten.17 Die meisten Läden auf der Canal Street unterlagen bis in die 1960er Jahre hinein der Rassentrennung; insofern ist die Straße zur Zeit des Balkon-Streits als main street des weißen New Orleans zu verstehen.18 Der Bereich der Canal Street, um den es im Streit von 1914 ging, erstreckte sich zwischen dem »foot of Canal Street« und Claiborne Avenue. Der »foot of Canal Street« ist der Punkt, an dem der große Boulevard auf das Ufer des Mississippi trifft. Dies war das verkehrstechnische Herzstück des wirtschaftlichen Lebens von New Orleans, ein zentraler Knotenpunkt im Handelsnetz, in das die Stadt eingebettet war. Güter und Menschen wechselten hier von Schiff zu Eisenbahn und umgekehrt, Straßenbahnen erschlossen von hier aus das Innere der Stadt. Im Streit von 1914 wird der »foot of Canal Street« häufig als »Liberty monument« bezeichnet.19 An diesem belebten Ort war in den 1890er Jahren ein Monument aufgestellt worden, das an die auf der Canal Street 1874, zur Zeit der Rekonstruktion, ausgetragene Schlacht zwischen den white supremacist Anhängern der White League und der metropolitan police erinnerte.20 Als Symbol für den rassistischen, weißen Süden markierte es gewissermaßen den Eingang zur Einkaufsstraße mit ihren nur für Weiße zugänglichen Geschäften. Die Claiborne Avenue, die die Canal Street kreuzt, stellte in Richtung Lake Pontchartrain den Abschluss der geschäftigen Zone der Canal Streets da; weiter nördlich schlossen Wohngebiete an. Im Balkon-Streit ging es folglich genau um den Bereich der Canal Street, der auch heute immer noch gemeint ist, wenn von Canal Street die Rede ist: Um den um 1900 mit Hotels, berühmten Kaufhäusern wie Godchaux’s, Maison Blanche und D. H. Holmes sowie kleineren Läden bestückten südlichen Abschnitt,21 den »most important part of our most important street«22, wie es die Association of Commerce prägnant formulierte. Die eleganteste Häuserzeile befand sich zwischen Royal und Bourbon Street. In den 1850er Jahren durch den lokalen Millionär Judah Touro erbaut, war Touro Row ein Ensemble von zwölf identischen, vierstöckigen Geschäfts17 | Campanella, Time and Place, 111-113. 18 | Ebd., 113. 19 | »Canal St. Fight is inaugurated before Council«, in: Times-Picayune, 6.5.1914. 20 | Campanella, Time and Place, 113; Laborde and Magill, Canal Street, 115; Stanonis, Creating the Big Easy, 213-14. Ausführlicher zur Crescent City White League und den Ereignissen des Sommers 1874 Justin A. Nystrom, New Orleans After the Civil War: Race, Politics, and a New Birth of Freedom (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2010), 160-85. 21 | Campanella, Time and Place, 113. 22 | »Report of the Committee on Canal Street Beautifying«, 8.5.1914, in: UNO/LaSC, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, Mss 66, 66-16 clasp vol. Dec. 16-Jan. 11 1915.

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Reihenhäusern, die im ersten Stock von mit aufwendigen schmiedeeisernen Verzierungen geschmückten Verandas gesäumt waren, ganz ähnlich jenen Balkonbrüstungen, die man heute aus dem French Quarter kennt.23 Ein Foto von William Henry Jackson aus den 1890er Jahren zeigt den Blick entlang der Canal Street nach Norden; vorne rechts im Bild – also downriver – sind Teile der Touro Row zu sehen (Abb. 8). In den 1850er Jahren galten diese Balkone als bewundernswerte Innovation an Geschäftshäusern.24

Abbildung 8: Canal Street mit Touro Row, einer Häuserzeile, die für ihre verzierten Balkone bekannt wurde, ca. 1890 (Foto: William Henry Jackson). Fotografien aus der Zeit zwischen 1900 und 1910 geben einen guten Eindruck davon, wie die Fassaden der Canal Street zum Zeitpunkt des Balkonstreits aussahen (Abb. 9). Das von einem unbekannten Fotografen der Detroit Publishing Company um 1903 aufgenommene Foto zeigt die andere Seite der Canal Street – dem New Orleanser Sprachgebrauch gemäß deren upriver-Seite – ebenfalls nach Norden schauend. Die unregelmäßige Abfolge diverser Arten von Balkonen und Überdachungen wird hier sichtbar. Im Vordergrund links erkennt man eine jener schlichten, auf Säulen ruhenden Überdachungen des Bürgersteigs, die von den Zeitgenossen als sheds bezeichnet wurden. Zwei Häuser weiter nach rechts hingegen ist die auf Säulen ruhende Überdachung begehbar; es handelt sich hier also um einen klassischen New Orleanser Balkon, wenngleich er sich 23 | Campanella, Time and Place, 111. Vgl. Laborde and Magill, Canal Street, 34. 24 | Daily Picayune, 7.7.1852: »One of the most admirable innovations upon the old system of building tall staring structures for business purposes is the plan […] generally coming in use, of erecting galleries and verandahs [sic!] of ornamental iron work. The contrast […] shows every man of taste and judgment the superiority of […] this improvement.«

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nicht durch elaborierte Verzierungen auszeichnet. Blickt man entlang der Fassaden nach Norden, so wechseln sich Vordächer und schlichte Balkone ab; gelegentlich ist ein Geschäft durch eine Markise geschützt. Nur sehr wenige Häuser kommen ganz ohne Straßenüberdachung aus. Insgesamt dominierten somit in den ersten Dekaden des 20. Jh.s schlichte Balkone und sheds das Straßenbild der Canal Street, punktiert von einigen wenigen aufwendiger gestalteten Verandas wie die der Touro Row aus der Boomzeit der Antebellum-Ära.25 Sie alle waren der Association of Commerce ein Dorn im Auge; sie alle waren Teil der im Balkon-Streit von 1914 umkämpften »unsightly objects«. Angesichts der Tatsache, dass nur sehr wenige dieser Balkone den kunstvoll gestalteten Balkonen des French Quarter gleichkamen, scheint das Anliegen der Association of Commerce aus heutiger Sicht wenngleich nicht unbedingt nachvollziehbar, so doch zumindest nicht verwerflich. Warum also konnte es zu einem solch heftigen Streit kommen? An dieser Stelle kommt jenseits der architektonischen Realität der Canal Street der ›Mythos Canal Street‹ ins Spiel.

Abbildung 9: Unregelmäßige Abfolge von Balkonen, »sheds« und Markisen auf der Canal Street, ca. 1903 (Foto: Detroit Publishing Company). Um 1900 war die Canal Street nicht nur die wichtigste Geschäftsstraße der Stadt, sondern auch ein Ort, an dem sich unterschiedliche Schichten symbolischer Funktionen überlagerten. Als kommerzielles Zentrum und Paradeboulevard war 25 | Campanella, Time and Place, 113.

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die Canal Street die Straße, auf der sich ganz New Orleans versammelte, um zu feiern. Hier wurde 1860 mit großem Pomp mitten auf der Straße an der Kreuzung zur Royal Street und St. Charles Avenue die Henry Clay Statue eingeweiht.26 Am 11. November 1918 strömten die New Orleanians zur Canal Street, um das Ende des Ersten Weltkrieges zu zelebrieren.27 Jahr um Jahr zogen die festlichen Mardi GrasParaden die Straße entlang.28 New Orleans versammelte sich jedoch auch auf der Canal Street, um Konflikte auszutragen. 1874 war die Canal Street Ort der blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Autoritäten und den weißen, konservativen Gegnern der Reconstruction, die sich in der White League zusammengeschlossen hatten; hier traf sich 1891 eine Gruppe aufgebrachter nativists, um anschließend elf Sizilianer im lokalen Gefängnis zu lynchen.29 »The street also assumed a kind of town-square role, as a place where the community assembled in times of both celebration and strife«, fasst Richard Campanella diese Funktion der Canal Street treffend zusammen.30 In gewissem Sinne stellte sie damit das dar, was Peter Goheen in seiner Studie zur räumlichen Symbolik öffentlicher Paraden als »common turf« der community bezeichnet hat: Einen zentralen Ort, der den Fokus des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens bildet und an dem sich dadurch unterschiedliche Gruppen der städtischen Gemeinschaft gleichermaßen zu Hause fühlen.31 Diese Ebene der symbolischen Bedeutung der Canal Street akzentuiert ihre verbindende Funktion. Ob Karnevalsfeier oder bewaffneter Konflikt: Man traf sich auf der Canal Street. Letztlich hat selbst das Aufeinandertreffen in blutigen Auseinandersetzungen wie der Schlacht von 1874 etwas Verbindendes – der neutrale Boden der Canal Street führte die Gegner zusammen. Die auf symbolischer Ebene verbindende Funktion spiegelt sich in der Lage der Canal Street und ihrer räumlichen Funktion im städtischen Gewebe wider. Aus dem Abriss der Stadtmauern hervorgegangen, stand sie im frühen 19. Jh. für die Öffnung der alten Stadt hin zu den neuen Vororten. Als Begleiterin eines geplanten Kanals signalisierte sie die Verbindung der zwei die Lage der Stadt definierenden Gewässer, des Mississippi und des Lake Pontchartrain. Ihre Eigenschaft als verbindender common turf aber machte sie auch besonders anfällig für Konfliktfälle wie den Balkon-Streit. Niemand hatte die klare Deutungshoheit über dieses Zentrum von New Orleans. Die Canal Street wurde seit jeher mit Neutraliät assoziiert, eine Assoziation, die auf die Antebellum-Ära zurückgeht. Nachdem New Orleans mit dem Louisiana Purchase von 1803 amerikanisch ge26 | Laborde and Magill, Canal Street, 103. 27 | Ebd., 107. 28 | Ebd., 135-54. 29 | Ebd., 115. Vgl. ausführlicher Nystrom, New Orleans After the Civil War, 219-24. 30 | Campanella, Time and Place, 113. 31 | Peter G. Goheen, »Symbols in the Streets: Parades in Victorian Urban Canada«, in: Urban History Review/Revue d’histoire urbaine 18:3 (Feb. 1990), 237-43, hier 239.

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worden war, galt die Canal Street als Grenze zwischen den alteingesessenen, vorwiegend frankophonen Bevölkerungsteilen, die im Vieux Carré wohnten, und den neuen amerikanischen Stadtteilen, die flussaufwärts entstanden. Der grüne Mittelstreifen der Canal Street wurde aufgrund dieser – in erster Linie gedachten – Grenzsituation zwischen Kreolen und Amerikanern als neutral ground bezeichnet, eine Bezeichnung, die bis heute in New Orleans bei allen Straßen für den begrünten Mittelstreifen verwendet wird.32 Als neutraler Ort war die Canal Street begehbare Grenze und verbindender Raum zugleich. Nachdem der Stadtrat 1897 beschlossen hatte, sie mit Asphalt zu pflastern, kommentierte die frankophone Zeitung Le Réveil treffend: »Il ne s’agit pas là de favoriser un quartier au détriment d’un autre; la rue du Canal est la grande artère qui divise les deux principales sections de la ville et réunit tous les jours leurs habitants.«33 So konnte die Canal Street letztlich zum Objekt konkurrierender Vorstellungen werden, die im Streit um das Gesicht der Straße aneinandergerieten. Hier war die Forderung möglich, Balkone dem Abriss freizugeben; hier war es ebenso denkbar, dagegen auf die Barrikaden zu gehen. Dass sich massiver Widerstand gegen die Abrisspläne der Association of Commerce formierte, war im New Orleans des frühen 20. Jh.s keineswegs selbstverständlich. 20 Jahre später hätte sich keiner mehr getraut, den Abriss der für New Orleans so typischen Balkone und Vordächer zu fordern. Der Impuls, historische Architektur und architektonische Elemente zu bewahren, steckte jedoch zum Zeitpunkt des Canal Street fight noch in den Kinderschuhen. Mit ihren radikalen Plänen zur Erneuerung der Canal Street traf die Association of Commerce den Nerv einer sich formierenden Bewegung, die einen Großangriff auf alles Historische vermutete und einem Rundum-Abriss zunächst einmal Einhalt gebieten wollte. Noch gab es keine klaren Richtlinien, noch war nicht definiert, was bewahrenswert war, welche Häuser, welche Balkone, welche Ornamente einmal zum Kanon der typischen New Orleanser Architektur gehören sollten. Gerade darum ging es im Balkonstreit, der insofern als entscheidender Schritt auf dem Weg zur Formierung der historic preservation in New Orleans zu verstehen ist. »New Orleans people love New Orleans things and ways, and they would never be content with the Association of Commerce ideal […]«34, brachte dies eine Journalistin des New Orleans Item inmitten des Streits auf den Punkt – in der Annahme, dass die Balkone ein »New Orleans thing« seien, das sich allgemeiner Beliebtheit erfreue. Aber waren die Mitglieder der Association of Commerce nicht auch »New Orleans people«, die dennoch eine andere Vision ihrer Stadt hatten? 32 | Vgl. Campanella, Time and Place, 117-119. 33 | »La Rue Canal«, in: Le Réveil, 30.12.1897. 34 | Ethel Hutson an E. E. Lafaye, 21.7.1914, in: Tulane University, Special Collections Division, Louisiana Research Collection [im Folgenden: TU/LaRC], Ethel Hutson Papers, Mss 14, Box 4, Folder 14-4-10.

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Auf einer ersten Ebene konkurrierten hier lediglich divergierende ästhetische Ideale, auf einer zweiten Ebene ging es um die Definition dessen, was für die Canal Street, common turf der community und Schmuckstück der Stadt, ein angemessenes Aussehen war und was sie darstellen sollte. Dahinter steckte letztlich die Frage, was New Orleans war, was es sein sollte, was »New Orleans things and ways« waren, wer die Gestalt des öffentlichen Raumes und damit einen Aspekt der Identität dieser Stadt bestimmen konnte, und wer »New Orleans people« waren. Wer gehörte zur community, wer konnte maßgeblich ihre Politik beeinflussen? Im Canal Street fight beruhten die Argumente beider Parteien auf unausgesprochenen Annahmen darüber, was diese Stadt definierte; es kamen Bilder und Visionen von New Orleans zum Ausdruck, die in unterschiedlichen Interessen und in der unterschiedlichen gesellschaftlichen Situation der beteiligten Koalitionen begründet waren und sich teilweise radikal widersprachen, teils aber trotz offenkundiger Gegensätzlichkeit auf einen gemeinsamen Grund zurückgriffen, der auf die Spur einer möglichen Signatur von New Orleans führt. Sowohl die konkurrierenden, als auch die gemeinsamen Annahmen über den Charakter von New Orleans finden sich auch in anderen Episoden aus dem städtischen Leben, ebenso wie in Erzählungen über die Stadt. Durch all diese kann man erahnen, was als Identität von New Orleans um 1900 wahrgenommen wurde.

»C OMMUNIT Y CONTROL« Schenkt man den Leitartikeln des Item Glauben, der Tageszeitung, die am intensivsten über den Canal Street fight berichtete und sich in ihren Artikeln und Editorials am meisten mit den Gegnern der Association of Commerce identifizierte, so war man sich im Frühjahr 1914 in einem grundsätzlichen Punkt einig: Die Canal Street bedurfte der Veränderung, und diese sollte streng reguliert werden. In einer Stellungnahme zum Balkonstreit betonte der Autor eines Leitartikels, dass sich die Balkongegner nicht prinzipiell gegen die Pläne der A of C stellten, sondern im Gegenteil: »This newspaper believes in very rigid and sweeping community control of streets, parks, forms of buildings and structural arrangement and plan in all real cities – provided into that control can be put the best thought, taste and judgement of the community. Such control has produced the model cities of modern Germany. In America there is now strong revulsion against the ›go as you please‹ method, because even rampant individualism has at last come to know that such method, or lack of method, has resulted in most of the evils, physical and political, that have so long marked and disgraced American cities.« 35

35 | »A definition and an endorsement«, in: Item, 8.5.1914.

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Damit ordnete der Leitartikel des Item den Canal Street fight in eine umfassendere Bewegung zur Neugestaltung des städtischen Raumes ein, die im späten 19. Jh. ihren Ausgang nahm und in den ersten Dekaden des 20. Jh.s an Fahrt gewann. Unter dem Schlagwort des improvement waren verschiedene Lobbygruppen in der Stadt, aber auch Mitglieder des Stadtrates, wie etwa der Commissioner of Public Property Edward E. Lafaye bemüht, das Aussehen von New Orleans zu ›verbessern‹. Die Bestrebungen, die Form der Stadt neu zu gestalten, waren um die Jahrhundertwende keineswegs eine spezifisch New Orleanser Angelegenheit. Im Gegenteil, New Orleans war im Vergleich zu anderen Metropolen der USA eher ein Nachzügler, was die Neugestaltung der Stadtlandschaft anging. Lokale Initiativen drängten in allen größeren Städten auf Reform der Zustände, die als negative Begleiterscheinungen des explosionsartigen Städtewachstums im Zuge der Hochindustrialisierung nach dem Bürgerkrieg wahrgenommen wurden. Vor allem in den Städten des Nordens und des Mittleren Westens, deren Bevölkerungszahlen nicht zuletzt auch dank der zweiten Einwanderungswelle besonders rasch in die Höhe schnellten, versuchten engagierte, meist den Mittelschichten entstammende Bürger bereits seit den 1890er Jahren, die häufig noch den Zeiten des small town America entstammenden Infrastrukturen den Bedürfnissen moderner Industriemetropolen anzupassen. Ausgangspunkt war bei diesen Reformentwürfen meist eine diffuse Wahrnehmung von Chaos und Unordnung sowie das zunehmende Unbehagen an einem rasanten Wachstum der Stadt, dessen Ausgestaltung individuellen, privaten Initiativen überlassen blieb. Die Kluft zwischen Arm und Reich schien immer größer zu werden, deutlich sichtbar an den tenement districts der Städte, und die Frage nach der Realisierung des ur-amerikanischen Prinzips der Chancengleichheit stellte sich immer dringlicher. Gleichzeitig waren die Reformbemühungen von einem unbegrenzten Glauben an Fortschritt und an die Möglichkeit geprägt, eine neue Ordnung schaffen zu können. Die Einführung von Straßenpflaster sowie Abwasser- und Kanalisationssystemen gehörte ebenso zu den Reformforderungen wie das systematische Bepflanzen der Straßen mit Bäumen, die Gründung städtischer Parks und der Neubau prunkvoller civic buildings. Unter der Führung von Architekten vernetzten sich die lokalen Initiativen in Organisationen wie der American Civic Association; Bücher wie Charles Mulford Robinsons The Improvement of Towns and Cities und Modern Civic Art machten die urbanen Verschönerungsbestrebungen einem breiteren Publikum bekannt und fungierten zugleich als Gebrauchsanweisung für lokale Unterfangen.36 Unter dem Namen City Beautiful Movement etablierte sich so eine bundesweite Bewegung, deren 36 | Vgl. Witold Rybczynski, City Life (New York: Touchstone, 1995), 136. Charles Mulford Robinson, The Improvement of Towns and Cities, or: The Practical Basic of Civic Aesthetics (New York: Putnam’s Sons, 1901); ders., Modern Civic Art, or: The City Made Beautiful (New York: Putnam’s Sons, 1903).

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erklärtes Ziel es war, die moderne Stadt zugleich schöner und effizienter, vor allem aber geordneter zu gestalten.37 Private Initiativen gaben dabei häufig den ersten Anstoß. Aus der Erkenntnis heraus, dass Einzelinitiativen der immer komplexer werdenden modernen Industriegesellschaft mit ihren Interdependenzen letztlich nicht gerecht werden konnten, sondern dass gemeinsames Handeln vonnöten war, forderte man jedoch zunehmend staatliche Interventionen. Die Stadtverwaltung sollte die Umsetzung der Pläne garantieren; Stadtverordnungen sollten Regeln des urbanen Zusammenlebens formulieren, die den Rahmen für ein bestmögliches Gedeihen der Stadt nach den Leitbildern der Reformer bilden sollten. Dabei beanspruchten die Reformer, mittels neuester wissenschaftlicher Techniken und Expertenwissen im Namen des öffentlichen Wohls zu agieren. Damit sind die Veränderungen des physischen Erscheinungsbildes der Stadt ein fundamentaler Baustein der progressivistischen Bewegung, der die Zeit zwischen ca. 1890 und dem Ersten Weltkrieg ihren Namen Progressive Era verdankt. Diese Bewegung bestand im Grunde aus zahlreichen örtlichen Einzelinitiativen, deren gemeinsames Ziel es war, gegen das vorzugehen, was sie als Negativfolgen der Moderne wahrnahmen. Gerade die Städte waren Ansatzpunkt für eine Vielzahl von Reformen. Progressivisten kritisierten im engeren Sinne politische Entwicklungen, wie etwa Korruption und wirtschaftliche Tendenzen, wie Trust- und Kartellbildung, oder allgemein gesellschaftliche Phänomene, wie zunehmende Armut, Alkoholismus, Verkehrschaos oder fehlende Infrastrukturen. Dabei war ihre Stoßrichtung keineswegs antimodern. Im Gegenteil, erklärtes Ziel war es letztlich, ur-amerikanische Werte wie Chancengleichheit oder individuelle Freiheit in der Zeit der Hochindustrialisierung zu bewahren und die sozialen Folgekosten der Moderne dadurch abzufedern, und dabei die industrielle Gesellschaft effizienter und geordneter zu gestalten.38 Der Leitartikel des Item situierte sich folglich in einem typisch progressivistischen Diskurs über Stadtraum, innerhalb dessen sich auch die Mitglieder der Association of Commerce bewegten. Die Form der Stadt, also ihre Straßen, ihre Parks, ihre Gebäude, sollte der »community control« unterworfen werden, ja sogar die strukturelle Anordnung der Stadt, der Stadtplan, sollte dieser unterliegen. Eine solche Kontrolle war für den Autor des Artikels zugleich ein maßgeb37 | Zur City Beautiful Movement vgl. William H. Wilson, The City Beautiful Movement (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1989), hier v.a. 82-83. 38 | Aus der umfangreichen Literatur zur Progressive Era in den USA vgl. Michael McGerr, A Fierce Discontent: The Rise and Fall of the Progressive Movement in America, 1870-1930 (New York: Free Press, 2003); John W. Chambers II, The Tyranny of Change: America in the Progressive Era, 1890-1920 (New Brunswick: Rutgers University Press, ²2000); ein Klassiker der Progressivismusforschung ist Robert H. Wiebe, The Search for Order, 1877-1920 (London: Macmillan, 1967).

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liches Kennzeichen einer »real city«. Unterschwellig klingt hier an, dass New Orleans ohne eine solche Kontrolle nicht zum Kreis der ›wahrhaftigen Städte‹ gehören würde. Eine Abkehr von der alten Tradition des laissez-faire schien wünschenswert, ja unumgänglich. Das Gesicht der Stadt sollte durch die community gestaltet werden, und nicht mehr durch individualistische Einzelinteressen. Diese Gegenüberstellung von – negativ konnotierten – privaten Interessen und dem Wohl der Allgemeinheit war eine typische Denkfigur der progressivistischen Reformer. Auch der Blick nach Deutschland charakterisierte die progressivistischen Stadtplanungen des frühen 20. Jh.s: Auf dem Weg zur zoning law – die erste amerikanische zoning law erließ New York City 1916 – schaute man bewundernd nach Europa, und besonders die deutschen Bebauungsregulierungen erfreuten das Herz amerikanischer Reformer.39 »Community control« erscheint hier als das Zaubermittel, das sämtliche »evils« bekämpfen konnte, die aus einem als maßlos empfundenen Individualismus resultierten. Die Befürworter der Balkone, so die Botschaft des Artikels im Item, waren echte Progressivisten, die die Urbanität von New Orleans an die Existenz von Verordnungen über die Form der Stadt geknüpft sahen, die sich weltläufig der »model cities« Deutschlands bewusst waren und für die nicht genauer erklärt werden musste, welches denn die »evils« der amerikanischen Stadt waren. Recht ähnlich klang das im internen Bericht des Committee on Canal Street Beautifying der Association of Commerce, der betonte: »That the sidewalk is the property of the people and is therefore under the complete control of the municipal authorities.«40 Die Gegner im Balkonstreit waren sich also einig, dass der öffentliche Raum dem »people« bzw. der »community« gehöre und somit von der Stadtverwaltung als Repräsentant der Bürger kontrolliert werden müsse. Ein weiterer Leitartikel des Item verstärkte knapp zwei Wochen später die Selbstdarstellung dieser Zeitung als reformerisches Organ und schlug der A of C gegenüber sogar paternalistische Töne an: »That this movement has been inaugurated by the business men is in itself a healthy sign. It shows an awakening of civic pride on the part of men who, a few years ago, might have been too busy to care how Canal street looked.«41 Damit positionierte der Item sich und die Anhänger der Balkone nicht nur als Unterstützer der Reformpläne der A of C, sondern als eigentliche Reformer, als erleichterte Beobachter eines endlich erwachenden civic pride auf Seiten der individualistischen Geschäftsleute. Gleichzeitig wurde damit suggeriert, dass die Vorstöße zur »community cont39 | Vgl. Daniel T. Rodgers, Atlantic Crossings: Social Politics in a Progressive Age (Cambridge: Belknap, 1998), 177-78, 185, 205-06. 40 | »Report of the Committee on Canal Street Beautifying«, 8.5.1914, in: UNO/LaSC, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, Mss 66, 66-16 clasp vol. Dec. 16-Jan. 11 1915. 41 | »What we all want«, in: Item, 20.5.1914.

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rol« des Aussehens der Hauptgeschäftsstraße von New Orleans ein Ausdruck des lokalen Stolzes auf das Gemeinwesen seien – wer dagegen war, stand außerhalb dieser Gemeinschaft. Während in solchen Textpassagen Gemeinsamkeiten zwischen den Parteien im Balkonstreit geschaffen und ihr Anliegen zur Inkarnation des für die Gemeinschaft Guten stilisiert wurde, wird jedoch auch deutlich, dass der Grund des Dissenses paradoxerweise ebenfalls in der Forderung nach »community control« lag. Denn der Autor des ersten Leitartikels schränkte die heilsame Wirkung der Regulierung wohl ein: Diese funktioniere nur, wenn »[…] into that control can be put the best thought, taste and judgement of the community«. Was aber war der beste Geschmack, was das beste Urteil, die besten Überlegungen der community? Und damit einhergehend: Wer waren die Träger dieses best of? Faktisch meinte »community control« die Regulierung durch die Stadtverwaltung mittels Bebauungsvorschriften – letztlich suggerierte die Einschränkung jedoch, dass der Stadtrat nur dann eine positive Kontrolle ausüben könne, wenn er sich an den Ideen eines bestimmten Teils der community orientiere. Hier ging es demnach nicht nur um die Produktion einer für alle annehmbaren städtischen Form, sondern auch um die eigene Positionierung innerhalb der New Orleans community und den eigenen Einfluss auf die lokale Politik.

S ONNE UND R EGEN Folglich hatte der Item wie die anderen Kritiker der A of C auch eine ganz spezifische Vorstellung dessen, was »best judgement« war. »On account of climatic conditions balconies are needed«42, stellten die Petitionen, die Mayor Behrman im Vorfeld des Treffens mit den Kontrahenten im Mai 1914 erhielt, lapidar fest. Alle Kritiker der A of C folgten derselben Argumentation, in deren Zentrum die Bedeutung stand, die den Balkonen als Schutz vor dem New Orleanser Klima zukam. Die Koalition der Balkonanhänger lässt sich grob in drei Gruppen unterteilen. Studierende, Alumni und Lehrende der Newcomb Art School bildeten eine der Kritikergruppen, die zweite bestand aus Studierenden, Alumni und Lehrenden der Tulane University Architectural School sowie aus Architekten des Louisiana Chapter des American Institute of Architects (AIA), und die dritte Gruppe stellten vornehmlich in der New Orleanser Gesellschaft prominente Frauen dar, die in diversen Frauenclubs organisiert waren.43 Zwischen diesen Gruppen bestanden enge Bindungen und Überlappungen, waren doch einige der Frauen

42 | »Canal St. Fight is inaugurated before Council«, in: Times-Picayune, 6.5.1914. 43 | Ebd.

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mit Architekten verheiratet oder verwandt, oder gar selbst Absolventinnen der Newcomb Art School.44 Grundtenor des Protests war, dass die Balkone Schutz vor Sonne und Regen böten und daher unerlässlich seien. Bei der Versammlung der Louisiana Federation of Women’s Clubs etwa wurde unter anderem eine Resolution angenommen, die von Miss Kitty Labouisse von den Newcomb Art Alumnae eingebracht worden war, »protesting strongly against the proposed removal of the verandas and balconies from Canal street«45 . In einem Atemzug und voller Enthusiasmus behandelten die Frauen Fragen des Wahlrechts ebenso wie der Balkone. Der Item berichtete: »A unanimous vote endorsed the stand taken by Miss Labouisse in a spirited speech, in which she pointed out the need of these balconies to protect the public from sun and rain […].«46 Tatsächlich ist New Orleans sowohl für sengende Sonne als auch für plötzliche Regengüsse berüchtigt. Das subtropische Klima lässt die Sommer heiß und feucht werden; die intensive Sonneneinstrahlung wird regelmäßig von sintflutartigen Regenfällen unterbrochen, die sich von einer Sekunde auf die andere über der Stadt entladen. Die Balkone stellten in den Augen ihrer Befürworter den perfekten Schutz vor beiden Unannehmlichkeiten dar. Gerade in einer belebten Geschäftsstraße, argumentierten sie, sei es notwendig, die Bürgersteige vor den klimatischen Gegebenheiten zu schützen, denn hier seien besonders viele Fußgänger unterwegs. Schützenhilfe erhielten die lokalen Frauenclubs von einigen bekannten Schriftstellerinnen wie etwa Grace King oder Ruth McEnery Stuart.47 McEnery Stuart, eine in New Orleans aufgewachsene Autorin, die zur Zeit des Balkonstreits nicht mehr in New Orleans wohnte, aber zu Besuch war, appellierte in einem Meeting mit Repräsentanten der Association of Commerce an die Ladenbesitzer der Canal Street:48 »[…] I believe you merchants would do well to consider that it will be unwise for you to insist on the removal of any protection from sun and rain which now makes shopping attractive to women. You don’t want to discourage women from coming down to Canal street; remember that its sheltered promenade has always been one of its attractions.«49 Geschickt 44 | »Miss Gordon takes place of Mr. Locke as suffrage talker«, in: Item, 6.5.1914. 45 | Ebd. 46 | Ebd. 47 | »Women writers are in favor of galleries«, in: Item, 28.5.1914. 48 | Ruth McEnery Stuart (1852-1917) wurde durch ihre mit Lokalkolorit angereicherten Geschichten aus dem Süden bekannt, vgl. Helen Taylor, Gender, Race, and Region in the Writings of Grace King, Ruth McEnery Stuart, and Kate Chopin (Baton Rouge: Louisiana State University Press, 1989); Claire E. Reynolds, »Speaking Out: Class, Race, and Gender in the Writings of Ruth McEnery Stuart, Edith Summers Kelly, and Harriette Simpson Arnow« (Diss. University of Rhode Island, 2008). 49 | »Women writers are in favor of galleries«, in: Item, 28.5.1914.

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spielten die Frauen in solchen Argumenten ihre wirtschaftliche Macht als Konsumentinnen aus. Indem sie die ökonomische Dimension des klimatischen Arguments herausstrichen, konnten sie damit rechnen, die Association of Commerce auf ihrem ureigenen Feld zu schlagen. Gleichzeitig beanspruchten sie damit eine Position als wichtige Teilgruppe des people, die die öffentlichen Bürgersteige frequentierte und ohne deren Shopping-Ausflüge die Einkaufsstraße Canal Street nicht mehr das sein würde, wofür sie berühmt war. Diese Frauen hatten die Sphäre viktorianischer domesticity längst hinter sich gelassen. Sie waren wohlhabend genug, um freie Zeit zu haben, und zahlungskräftig genug, um diese Freizeit beim Einkaufsbummel verbringen zu können. Dass es sich nicht um die nötigen Einkäufe des täglichen Lebens handelte, geht aus dem Kommentar von Ruth McEnery Stuart hervor, wenn sie die »sheltered promenade«50 der Canal Street als eine ihrer Attraktionen bezeichnet. Als Ort des Promenierens war die Hauptgeschäftsstraße auch Ort eines traditionellen bürgerlichen Rituals aus dem 19. Jh., das der Konstruktion von Zugehörigkeit zur bourgeoisen community ebenso diente wie der Überprüfung der eigenen gesellschaftlichen Position innerhalb dieser Gemeinschaft. Man sah und wurde gesehen; im gegenseitigen Erkennen und Grüßen lag das inklusive Moment des Rituals, das gleichzeitig als Legitimation der eigenen Verhaltenscodes funktionierte.51 Bereits 1883 beschrieb George W. Cable den Zauber von Canal Street in anschaulichen Worten. »The people of New Orleans take pride in Canal street. It is to the modern town what the Place d’Armes was to the old. Here stretch out in long parade, in variety of height and color, the great retail stores, displaying their silken and fine linen and golden seductions; and the fair Creole and American girls, and the self-depreciating American mothers, and the majestic Creole matrons, all black lace and alabaster, swarm and hum and push in and out and flit here and there among the rich things and fine things, the novelties and the bargains. Its eighteen-feet sidewalks are roofed from edge to edge by verandas that on gala-days are stayed up with extra scantlings and yet seem ready to come splintering down under the crowd of parasoled ladies sloping upward on them from front to back in the fashion of the amphitheater.« 52

Cable erwähnte nicht nur explizit den Stolz der New Orleanians auf ihre Haupteinkaufsstraße, sondern charakterisierte sie auch durch die ›Parade‹ der Kauf50 | Ebd. 51 | Zum Ritual der Promenade David M. Scobey, »Anatomy of the Promenade: The Politics of Bourgeois Sociability in Nineteenth-Century New York«, in: Social History 17:2 (1992), 203-27. 52 | George W. Cable, »Flood and Plague in New Orleans«, in: The Century Magazine 26 (July 1883), 419-31, hier 419.

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häuser, die ihre verführerischen Waren ausstellten, durch das Gedränge der Frauen, die zwischen diesen Waren hin- und herschwärmten, durch die Bedeutung von Canal Street für Festtage und die Funktion der Balkone als Aussichtspunkte für mit Sonnenschirmen versehene ladies an solchen Tagen. All das beschwor den Charakter der Canal Street, die eminente Rolle, die Waren für diese Straße spielten, aber auch ihre Funktion als repräsentative Straße für »gala-days« – beides verschmolz miteinander, und Cables Kaufhäuser glichen nicht umsonst selbst einer Art Parade. Vor allem eine ganz bestimmte Schicht von Frauen erschien paradigmatisch für das Publikum auf der Canal Street – eben jene Frauen, die sich auch einmal »golden seductions« leisten konnten und selbstverständlich nur mit Sonnenschirm die Logenplätze der Festparaden einnahmen. Den Balkonen kam dabei noch eine zusätzliche Bedeutung jenseits des klimatischen Schutzes beim Promenieren und Konsumieren zu: Sie waren perfekte Aussichtsplätze für die Festtage der Stadt und damit untrennbar mit ihrem kulturellen Leben verknüpft. Dass die Frauen um McEnery Stuart dies nicht erwähnten, liegt wohl daran, dass sie mit dem Argument des Konsums die Geschäftsmänner eher zu überzeugen gedachten. In der Geographie der Stadt, auch darauf weist Ruth McEnery Stuart implizit hin, waren diese Frauen upriver der Canal Street verortet: »coming down to Canal street«53 nimmt die Perspektive des uptowners ein, und uptown waren in New Orleans die wohlhabenderen Stadtteile, die von der Canal Street aus gesehen flussaufwärts lagen; es handelte sich um jene Distrikte, die in der Antebellumära die neue amerikanische Stadt des Faubourg St. Mary gebildet hatten. Die Anhängerinnen der Balkone waren folglich weiße, gut betuchte Frauen der Mittel- und Oberschichten, die hier nicht nur selbstbewusst ihre Stellung als Frau innerhalb der Öffentlichkeit einnahmen, sondern zudem an schichtspezifischen Ritualen festhielten. Selbstverständlich waren die Repräsentanten der Association of Commerce auf das klimatische Argument vorbereitet. Die Unannehmlichkeiten des New Orleanser Klimas blieben auch ihnen nicht verborgen und so kündigte das Canal Street Committee der A of C an: »Shoppers will not be deprived of shade or shelter, as it is proposed to substitute marquees for the present sheds or balconies.«54 Bewegliche Markisen sollten im Plan der A of C die alten, auf Säulen gestützten Überdachungen ersetzen. Der Vorschlag traf jedoch auf vehemente Kritik seitens der Balkonbefürworter. Samuel Stanhope Labouisse, New Orleanser Architekt und Dozent an der Tulane School of Architecture, betonte, dass er sich primär aufgrund der Wetterbedingungen für den Erhalt der Balkone einsetze. Seiner Meinung nach bot die Markise keinen ausreichenden

53 | »Women writers are in favor of galleries«, in: Item, 28.5.1914. 54 | »Hearing set for balcony exponents«, in: Item, 18.5.1914.

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Schutz vor der intensiven Sonneneinstrahlung.55 Ihm widersprach der Architekt Allison Owen, der Mitglied des Canal Street Committee der A of C war. Owen unterstrich die hervorragende Schutzwirkung von Markisen sowohl gegen Sonne als auch gegen Regen.56 Während sich die Diskussionen um den effektiveren Sonnenschutz in einem Patt zwischen den Experten zu erschöpfen drohten, wurden die in den Zeitungen ausgetragenen Debatten um das Klima von New Orleans durch ein weiteres Argument der Balkongegner beflügelt. Dieses Argument war dazu gedacht, die Diskussion um die Funktionalität der Balkone gleich im Keim zu ersticken. Hatte Allison Owen noch den Bedarf an Sonnenschutz eingeräumt, jedoch lediglich eine andere architektonische Abhilfe empfohlen, so ging Edgar B. Stern, bekannter Baumwollhändler und Unternehmer aus New Orleans, der ein Jahr nach dem Balkonstreit zum Präsidenten der Association of Commerce gewählt wurde, einen Schritt weiter. Er verkündete bei der Initialsitzung mit Vertretern des City Council und der Balkonanhänger schlicht und einfach, dass es in New Orleans gar nicht so heiß sei. Dementsprechend seien auch keine Balkone notwendig. »In Oklahoma City, where the temperature often goes above the 100 mark, and even as high as 112 degrees, there are no balconies. That city has beautiful thoroughfares, as has Dallas«, fasste der Item die Rede Sterns zusammen und zitierte den Geschäftsmann wörtlich: »We are not living in a place that can be considered as hot. In fact, we are advertising that it is one of the coolest places in the country in summer. Yet, when strangers ask about our balconies we tell them they are necessary on account of the heat.«57 Mit diesem Vortrag öffnete Edgar Stern die innerhalb der Stadt brodelnde Debatte um das Aussehen der Canal Street in zweifachem Sinne nach außen. Zum einen zog er als Referenzpunkte andere amerikanische Städte heran, die trotz heißen Klimas keine Balkone aufwiesen. Dadurch erweiterte er den mentalen geographischen Bezugsraum der Diskussion: Es ging nicht nur darum, die Sinnhaftigkeit der Balkone im lokalen Klima zu evaluieren, sondern vergleichend die Form der Stadt und den Umgang mit klimatischen Bedingungen zu beurteilen. In einer späteren Rede bekräftigte Stern diese Ansicht erneut: »The idea that they [the balconies] are needed for protection to persons on the sidewalk is unsupportable. […] I have compared temperatures and weather conditions in New Orleans with other cities, and have found that this city has no more need of such shelters than many another southern city.«58 Warum also solle New Orleans Balkone brauchen, wenn andere, klimatisch ähnlich gelagerte Städte gut ohne auskamen? Zum anderen negierte er die Hitze in der Stadt mit 55 | »Balconies secure other strong ally«, in: Item, 21.5.1914. 56 | »Art and Business beauty ideas clash«, in: Item, 20.5.1914. 57 | »Canal St. Fight is inaugurated before Council«, in: Times-Picayune, 6.5.1914. 58 | »Art and business beauty ideas clash«, in: Item, 20.5.1914.

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dem Argument, dass New Orleans als Ort der Sommerfrische beworben werde, womit er die Außendarstellung der Stadt und damit letztlich den – gewünschten – Blick der Besucher auf New Orleans ins Spiel brachte. Unabsichtlich benannte er damit genau das Paradox, das um 1900 den von der Association of Commerce getragenen Diskurs um das Klima der Stadt zwischen Innenansicht und Außendarstellung prägte. Während die stadträumlichen, negativen Auswirkungen der Hitze – etwa ›ungesunde Miasmen‹ – ihren Niederschlag in innerstädtischen Reformbestrebungen wie den periodisch wiederkehrenden Clean Up-Kampagnen fanden, die auch rhetorisch die Problematik des Klimas akzentuierten, so wurden gerade durch Organe des urban boosterism wie der Association of Commerce nach außen hin gerne die Vorzüge des warmen Klimas der Stadt hervorgehoben. Beide Argumente Sterns ergänzten einander: Entweder, so seine Logik, folgte man der üblichen Außendarstellung und New Orleans war gar nicht so heiß, weshalb man keine Balkone brauche, oder aber man folgte der innerstädtischen Annahme es sei heiß, dann aber brauche man ebenfalls keine Balkone, weil andere südlichen Städte ja ohne auskämen. Beide Argumente wurden jedoch umgehend im Sprachrohr der Balkonanhänger, dem Item, vom Tisch gewischt. Indem er die innerstädtische Perspektive einnahm, polemisierte der Leitartikel des 6. Mai, dass es in New Orleans natürlich heiß sei und obendrein noch regnerisch. Die Balkone würden damit definitiv der Bequemlichkeit der Einkaufenden dienen. Unter der empörten Überschrift »Like Oklahoma City!« fegte der Artikel auch das zweite Argument Sterns beiseite: Warum solle man auf Balkone verzichten, nur weil Oklahoma City und Dallas dies taten?59 Dieser Vergleich kam in den Augen des New Orleanser Leitartiklers einem Frevel gleich, da er Unvergleichliches miteinander in Beziehung setzte: »[…] New Orleans must remember that these cities have grown largely under the influence of men who went to them from the North and Middle West. These men carried with them the habits of life they had established in the places whence they came. They built stores without verandas because it never occurred to them that verandas were needed or useful, because they did not have at home any example of verandas or balconies that added to the beauty or charm of business streets or business houses.« 60

Genausowenig, schloss der Artikel, müsse man in New Orleans Balkone abreißen, wie man »fur overcoats for winter wear«61 tragen müsse. Hier erschien der Balkon nicht nur als ein dem Klima angemessenes architektonisches Element, 59 | »Like Oklahoma City!«, in: Item, 6.5.1914. 60 | Ebd. 61 | Ebd.

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sondern zudem als die typische, südstaatliche Form, mit dem südlichen Klima umzugehen, während die von Stern propagierten Modelle Oklahoma City und Dallas als weniger adäquat weil aus dem Norden und Mittelwesten importierte Lösungen abgetan wurden. Der southernness des Klimas konnte nur eine southernness der Architektur gerecht werden, und diese sei mit den Balkonen gewährleistet. In diesem Schlagabtausch ging es weniger darum, ob New Orleans wirklich heiß war oder nicht, es ging weniger um die tatsächlichen Temperaturdaten als vielmehr darum, wer sein Verständnis des Klimas der Stadt überzeugender darstellen konnte: War es eine durchweg angenehme Sache, die keinerlei architektonischer Abhilfe bedurfte, oder war es problematisch? Wenn es problematisch war, war die derzeitige Form der Stadt diesem Klima angemessen, oder konnte sie verbessert werden? Wer das Klima definieren konnte, hatte einen guten Ausgangspunkt, um seine Vorstellungen der Form der Stadt als effizienten und angemessenen Umgang mit dem Klima zu propagieren. Die unterschiedlichen Darstellungen des Klimas wiederum waren letztlich geleitet von divergierenden Vorstellungen dessen, was New Orleans war und sein sollte, und davon, welche Referenzpunkte und Leitbilder die am Streit Beteiligten heranzogen. Für den Item bildete southernness das Leitbild; der Süden war der Referenzraum, in dem sich seine Vision von New Orleans bewegte. Southern bezeichnete dabei sowohl Klima als auch den typisch südlichen Umgang damit, der dem Klima angemessen schien, was in einem Beibehalten des Status quo resultierte. Edgar Stern hingegen schielte nach Dallas: Andere Städte waren seine Referenzpunkte, und aus den Vergleichen ergab sich nicht nur Unsicherheit bezüglich des Wissens über das Klima in New Orleans, sondern es entstanden auch Zweifel im Hinblick auf den New Orleanser Umgang mit eben diesem Klima. Das Sammeln von Temperaturdaten diente dabei lediglich der Untermauerung der eigenen Perspektive auf Klima und Stadt, als scheinbar unschlagbares faktisches Argument – wobei ja selbst die Vorauswahl der Vergleichsstädte durch Stern in seinen Vorannahmen über ›gute‹ Stadtformen gründete. Jedenfalls wies er nicht auf Temperaturen und Architektur in Charleston hin. Dass aber überhaupt klimatische Bedingungen als zentrale Faktoren diskutiert wurden, weist jedoch auch auf einen Konsens. Das Klima der Stadt war prägend für ihre Form und damit für ihren Charakter – dies war der common ground der Balkonkontrahenten, auf dem sie sich gegenseitig zu überzeugen suchten. Und damit standen sie nicht allein: Im Gegenteil, sie konnten im Reden über Hitze, Sonne und Regen auf bereits etablierte Narrative zurückgreifen, die fester Bestandteil der diskursiven Konstruktion von New Orleans waren.

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S AMT UND B ALSAM Wie kaum eine andere Stadt wurde New Orleans immer und immer wieder über sein Klima beschrieben. Ob Reiseberichte oder Reiseführer, ob interne Protokolle des Stadtrates oder Werbepamphlete der business associations, ob Blicke von außen oder von innen, die klimatischen Bedingungen der Stadt waren ein kontinuierliches Thema. Sie waren es in einem solchen Maße, dass das, was New Orleans ausmachte, zu einem nicht unwesentlichen Teil aus Klima zu bestehen schien. In diesen Narrativen wurden die klimatischen Bedingungen eng mit der Lage der Stadt verbunden. Es ist naheliegend, das Klima auf die geographische Lage zurückzuführen. Gleichzeitig aber gewinnt man aus diesen Beschreibungen den Eindruck, dass Lage hier mehr bedeutete als nur eine Verortung anhand von Längen- und Breitengraden. Die Lage im Süden der USA, im Mississippidelta, wurde nicht nur als bestimmender Faktor für das die Stadt so prägende subtropische Klima wahrgenommen, sondern als Synonym für den site von New Orleans verwendet, also für die Gesamtheit der natürlichen Bedingungen des Ortes.62 Klima war dabei nur ein Aspekt dieser natürlichen Bedingungen, der in stetem Wechselspiel mit anderen stand. Als weiterer Aspekt etwa galt die Nähe zu unzähligen Gewässern. Paradigmatisch für diese Perzeption ist der vielzitierte Ausspruch von Charles Dudley Warner, eines New Yorker Verlegers63 , über die Unmöglichkeit, New Orleans genau zu lokalisieren: »I never could find out exactly where New Orleans is. I have looked for it on the map without much enlightenment. It is dropped down there somewhere in the marshes of the Mississippi and the bayous and the lakes. It is below the one and tangled up among the others, or it might some day float out to the Gulf and disappear. How the Mississippi gets out I never could discover.« 64

Irgendwo da unten lag New Orleans, zwischen Fluß, Seen, Bayous und Marschland, zwischen Wasser und Erde, ohne fixen Ort, labil und prekär, möglicherweise wegschwimmend und für immer verschwindend. Warner spielte damit auch auf die besondere Topographie der Stadt an. Zu einem großen Teil unter dem Meeresspiegel liegend, befinden sich die höchsten Partien der Stadt an der natürlichen levee, jenen Erhebungen aus Sediment, die sich im Laufe der Jahrhunderte aufgrund periodisch wiederkehrender Überschwemmungen parallel

62 | Lewis, New Orleans, 19-20. 63 | Edward L. Ayers, The Promise of the New South: Life After Reconstruction (New York: Oxford University Press, 1992), 424. 64 | Warner, »New Orleans«, 186.

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zum Flusslauf am Ufer gebildet haben.65 Erst im frühen 20. Jh. dehnte sich die Stadt über diese erhabenen Bereiche hinaus in die sumpfigen Gebiete Richtung See aus. Eine solche Topographie macht New Orleans anfällig für Überschwemmungen aller Art, vom Fluss und vom See her sowie durch Regenwasser. Und sie sorgt für Verwunderung bei Besuchern, weil das Regenwasser in den Straßen allen Sehgewohnheiten zum Trotz vom Mississippi wegfließt, was J. D. Butler 1883 zu der Feststellung veranlasste: »In every point of view water in New Orleans is a curiosity.«66 New Orleans erscheint in den zeitgenössischen Beschreibungen, wie der von Charles Dudley Warner, geradezu durchtränkt von seinen natürlichen Gegebenheiten, als eine Stadt, die kaum mehr darstellte als ihren site, dessen grundlegendes Merkmal ein dynamischer Zwischenzustand zwischen Wasser und Erde war. Nicht umsonst wird die Stadt auch Crescent City genannt, nach der halbmondförmigen Biegung des Mississippi, in der sie liegt: Der Fluss gab ihr den Namen67, sein Lauf formte sie und hält sie auf drei Seiten »in the soft curve of its protective arm«68 , wie Marion S. Oneal in ihren Erinnerungen an eine Kindheit im New Orleans der 1890er schrieb. Diese Stadt schien mit ihrer Lage gewissermaßen zu verschmelzen. New Orleans, das waren die Flüsse und Seen, aber auch die Sümpfe, ebenso wie die Sonne, der Regen, die Kuriosität des Wassers, die Hitze, die Vegetation; alles in einer Symbiose verbunden, die es nahezu unmöglich machte, über New Orleans zu schreiben, ohne über die natürliche Umwelt zu sprechen, in der sich diese Stadt entwickelt hatte. Das galt, aus gutem Grund, bereits für die französische Kolonialzeit. Der Ort für La Nouvelle Orléans war 1718 von Jean-Baptiste Le Moyne, sieur de Bienville aufgrund seiner situation gewählt worden, nicht aufgrund des site, also aufgrund seiner relationalen Eigenschaften, seines Verhältnisses zu anderen Orten und Verkehrswegen. New Orleans entstand genau »down there«, weil die Stadt dort nicht nur am Mississippi lag, sondern auch in der Nähe des Golfs von Mexiko, an der Schnittstelle zwischen einem der bedeutendsten Flüsse des nordamerikanischen Kontinents und dem Atlantik.69 Strategisch günstiger konnte eine Lage kaum sein: Anstatt die gefährliche Route durch die Mündung des Mississippi nehmen zu müssen, konnten Schiffe über Lake Pontchartrain und den Bayou St. John den Mississippi und damit die Binnengewässer erreichen. 65 | Campanella, Time and Place, 26; ausführlichere Beschreibung der Topographie von New Orleans ebd., 38-45. 66 | J. D. Butler, »First Impressions of New Orleans«, in: The Nation 19 (1883), 335-36, hier 335. 67 | Warner, »New Orleans«, 190. 68 | Marion S. Oneal, »Growing up in New Orleans: Memories of the 1890s«, in: Louisiana History 5:1 (Winter 1964), 75-86, hier 85. 69 | Campanella, Time and Place, 16.

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Die Zukunft der Stadt als Drehscheibe des Handels zwischen dem nordamerikanischen Binnenland und den Ländern der Welt schien damit gesichert. Doch standen diesen Vorteilen der Lage eindeutige Nachteile gegenüber, die primär auf die Topographie des Ortes zurückzuführen waren, weshalb die Jahre zwischen 1717 und 1722 von permanenten Diskussionen um den besten Standort für die neue Stadt geprägt waren; mehrmals wäre das zunächst aus provisorischen Hütten bestehende New Orleans fast relokalisiert worden.70 Vor allem regelmäßige Überflutungen erschwerten die Errichtung einer Stadt. Jean-Baptiste Bénard de la Harpe etwa sprach sich gegen den von Bienville ausgewählten Ort aus mit der Begründung, dass er »flooded, impractical, unhealthy, unfit for the cultivation of rice«71 sei. Erst jener gridiron Plan, den der französische Ingenieur Adrien de Pauger für die Stadt entwarf und der noch heute die Anlage des French Quarter definiert, beeindruckte die verantwortliche Compagnie des Indes und gab damit den Ausschlag bei der endgültigen Wahl des Standortes für die neue Hauptstadt von Louisiana. 1722 wurde mit dem Bau der Stadt an ihrem heutigen Ort begonnen; das French Quarter ist damit, wie Richard Campanella in seinen Untersuchungen betont, einer der am besten erhaltenen kolonialen Stadtgrundrisse in Nordamerika (vgl. Abb. 5).72 Es war nicht leicht, den Handelsvorposten Frankreichs in der Neuen Welt in diesen Umweltbedingungen nach dem Plan von de Pauger zu etablieren. Fast etwas übermütig erscheint es, einen wohlgeordneten, symmetrischen und auf rechtwinklig verlaufenden Straßen basierenden Grundriss in die von Wasser, Regen und Sonne durchflutete Natur wie einen Stempel einzuprägen. La Nouvelle Orléans sollte die Bastion aufgeklärter, französischer Ordnung in der potentiell gefährlichen und undurchschaubaren Wildnis darstellen.73 Auf dem Weg dorthin hatten die Kolonisten, wie von Bénard de la Harpe vorhergesagt, erheblich mit dem site zu kämpfen. »The chief disadvantage of the site on which 70 | Ausführlicher zur geographischen Lage der Stadt im Mississippidelta und zur Wahl dieses Standorts im frühen 18. Jh. Campanella, Time and Place, 16-36; vgl. auch Lawrence N. Powell, The Accidental City: Improvising New Orleans (Cambridge: Harvard University Press, 2012), 1-32. 71 | Jean-Baptiste Bénard de La Harpe, »On the Present State of the Province of Louisiana in the Year 1720«, zit.n. Campanella, Time and Place, 33. Zum Kampf mit den Kräften der Natur in der frühen Geschichte der Stadt vgl. Shannon Lee Dawdy, Building the Devil’s Empire: French Colonial New Orleans (Chicago: University of Chicago Press, 2008), 81-83. 72 | Campanella, Time and Place, 33-34. Ausführlicher zu den Entwürfen für die Stadt und zum Bauprozess Powell, Accidental City, 60-91; Marcel Giraud, A History of French Louisiana, vol. 5: The Company of the Indies, 1723-1731 (Baton Rouge: Louisiana State University Press, 1987), 202-13. 73 | Campanella, Time and Place, 35; Powell, Accidental City, 60-61.

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New Orleans was growing was its excessive dampness. The proximity of the trees and cypress groves contributed to the problem, but above all it was the Mississippi floods, augmented by the superabundant rains of the hot season, that periodically put the streets under water,«74 fasst Marcel Giraud in seiner Studie zum kolonialen Louisiana die Herausforderungen treffend zusammen. Bereits 1723 begannen die königlichen Ingenieure, levees zum Schutz vor den Fluten des Mississippi zu errichten.75 Angesichts einer solch prominenten Bedeutung der natürlichen Bedingungen für den Prozess des Städtebaus verwundert es nicht, wenn Zeitgenossen, die über New Orleans schrieben, sich in erster Linie über die Umweltbedingungen der Siedlung ausließen. Entweder folgten sie Bénard de la Harpe in ihrer Kritik des site, oder aber sie versuchten, herrschenden negativen Bildern positive gegenüberzustellen – aus propagandistischen Gründen, um für die chronisch an Siedlermangel leidende Kolonie neue Bewohner anzulocken, aber auch, um sich selbst zu ermutigen. So schrieb Pierre François Xavier de Charlevoix 1722 aus New Orleans: »I am now at last arrived at this famous city of Nouvelle Orleans […]« und lobte die »mildness and wholesomeness of the climate« ebenso wie die »fertility of its soil«.76 Die Fruchtbarkeit des Landes ist dabei ein Topos, der in den Berichten aus der Kolonialzeit regelmäßig wiederkehrte; es scheint, als habe die Wahrnehmung des Wasser- und Sonnenreichtums zu der Annahme geführt, dass alles fruchtbar sei, wachse und blühe. Ganz gleich ob positiv, negativ oder neutral, das Schreiben über die Natur der Stadt hatte in New Orleans Tradition. Charles Dudley Warner war in den 1880er Jahren bei weitem nicht der erste, der sich dieser Stadt über ihre Umwelt zu nähern versuchte, und er blieb auch nicht der einzige. Die Schriftstellerin Ella Giles Ruddy stammte aus Wisconsin und hatte bis 1895 regelmäßig die kalte Jahreszeit in New Orleans verbracht. Dann allerdings zog sie nach Kalifornien, womit sich die Notwendigkeit, an einem wärmeren Ort zu überwintern, erübrigte. Im Winter 1910 kehrte sie das erste Mal seit 15 Jahren wieder zurück in ihre alte Winterresidenz. Die Daily Picayune gab ihr bereitwillig die Gelegenheit, im Lokalteil der Zeitung über ihre Rückkehr zu schreiben. Begeistert ließ die Besucherin ihren Gedanken über die Freundlichkeit der »balmy air and sunshine of this dear old metropolis«77 freien Lauf. Das Klima sei ganz anders als in Los Angeles, schrieb sie, das Licht sei in New Orleans nicht so 74 | Giraud, Company of the Indies, 206. 75 | Ebd., 206-10. 76 | Pierre François Xavier de Charlevoix, »Letter no. 31 to the Duchess of Lesdiguières«, New Orleans, 10.1.1722, in: Journal of a Voyage to North-America, vol. II (London: R. and J. Dodsley, 1761), 275-87, hier 275-76. 77 | Ella Giles Ruddy, »City of Human Interest and Open Opportunity«, in: Daily Picayune, 15.3.1910.

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grell und die Wärme »more velvety and caressing«78. Der samtene, balsamartige Charakter der Luft erweist sich ebenfalls als beliebter Topos.79 Gerade Gäste, die die Stadt im Winter aufgesucht und die heißen Sommer wohlweislich gemieden hatten, schwelgten in solchen Elogen über das New Orleanser Klima. Geschickt griffen jene Selbstdarstellungen der Stadt, die von Wirtschaft und Politik verfasst wurden, das positive Bild auf, das die Besucher von New Orleans zeichneten, gerade auch was die klimatischen Gegebenheiten betraf. »New Orleans, the Crescent City! Summed also, for other attributes and characteristics, ›Creole City‹, ›Carnival City‹, ›Paris of a New France‹, ›Charming Sub-Tropic American Capital‹! New Orleans, the gay and worldly, scenic, and in many of its aspects foreign and bizarre!«80 Mit einem wahren Feuerwerk an Ausrufezeichen eröffnete die Chamber of Commerce and Industry of Louisiana 1894 ihr Buch über die Stadt und wandte sich spezifisch an den »cousin of the North, especially, denizen of a frozen zone for half the year«81, den ein »[…] Summer spiced with the balm of the Mexican Sea, milder, pleasanter, cooler than those of the far interior«82 erwarten würde. Das Subtropische hatte auch hier die Form von Balsam angenommen und eine prominente Position im Reigen der positiven Merkmale von New Orleans erhalten. Um die Attraktivität der Stadt zu betonen, wurden in den Außendarstellungen nicht nur die Winter, sondern auch die Sommer in New Orleans als angenehm beschrieben. Der Sommer, so die Chamber of Commerce, sei zwar lang, aber es gebe immer ein frisches Lüftchen, das über Lake Pontchartrain vom Golf herüberwehe.83 Deshalb sei der Sommer in New Orleans auch angenehmer als in den meisten großen Städten des Nordens – nur eben länger.84 In ähnlicher Weise hatte Andrew Morrison bereits 1888 in seinem Buch über New Orleans und die Golfstaaten festgestellt: »Sunstroke is almost unknown, and ice is seldom seen«85 . Folgt man diesen

78 | Ebd. 79 | Vgl. »Make it the Winter Metropolis«, in: Daily Picayune 5.1.1888; Andrew Morrison, New Orleans: Her Relation to the New South (New Orleans: Graham&Son, 1888), 76; »New Orleans in the New Century«, in: Daily Picayune, 26.1.1901. 80 | Chamber of Commerce and Industry of Louisiana (ed.), The City of New Orleans: The Book of the Chamber of Commerce and Industry of Louisiana and Other Public Bodies of the ›Crescent City‹ (New Orleans: G. W. Engelhardt, 1894), 5. 81 | Ebd., 8. 82 | Ebd. 83 | Ebd., 9, 11. 84 | Ebd., 16-17. Ähnlich J. C. Murphy, Präsident des Sugar Exchange, in »The Future of the City Outlined«, in: Daily Picayune, 1.9.1894 und »New Orleans is the Healthiest City«, in: Daily Picayune, 1.9.1900. 85 | Morrison, New Orleans, 6.

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Darstellungen, so waren unangenehme klimatische Extreme in New Orleans nicht existent. Wie dieser Topos des perfekten sommerlichen Klimas mit der Lage der Stadt am Mississippi zu einer Überhöhung der natürlichen Bedingungen von New Orleans verschmolzen wurde, zeigt ein Gedicht, das der Herausgeber eines New Orleans-Buches diesem 1903 als Motto voranstellte: »Level the landscape grew, and along the shores of the river, Shaded by china trees, in the midst of luxuriant gardens, Stood the plantation homes with their negro cabins and dove cotes. They were approaching the region where reigns perpetual summer, Where, thro‹ the Golden Coast and groves of orange and citron, Sweeps, with majestic curve, the river away to the eastward.« 86

Dabei handelt es sich um einen Auszug aus Henry Wadsworth Longfellows Gedicht »Evangeline: A Tale of Acadie« von 1847. Das Gedicht erzählt anhand des Schicksals eines Mädchens namens Evangeline die Geschichte der Vertreibung der Akadier durch die britische Krone aus dem heutigen Nova Scotia zwischen 1755 und 1762.87 Longfellow beschreibt die Reise einer Gruppe von Akadiern auf dem Ohio und Mississippi gen Süden, nach Louisiana, in eine neue Heimat in der Region von New Orleans. Hier etablierten sich im letzten Drittel des 18. Jh.s viele Akadier, woraus die heute als Cajun bekannte Kultur entstand; »Evangeline« wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s zum integralen Bestandteil des akadischen Gründungsmythos. Der Auszug aus dem Gedicht, den die Chamber of Commerce zu Zwecken der Selbstdarstellung von New Orleans wählte, beschreibt den ersten Eindruck, den die Akadier von der Landschaft um New Orleans erhielten. Ewiger Sommer herrsche dort, in der flachen Landschaft am Ufer des majestätisch fließenden Mississippi. Was bereits in den Berichten aus dem 18. Jh. angeklungen war, setzte sich in der literarischen Verarbeitung der Mitte des 19. Jh.s sowie in den wirtschaftlich motivierten Außendarstellungen von New Orleans im frühen 20. Jh. fort: Die Kombination von Sonnenschein und Wasserreichtum, so die Annahme, resultierten in einer außerordentlichen Fruchtbarkeit des Landes, die eine üppige Vegetation hervorbringe – fast meint man, in der Beschreibung dieses ewigen Sommerlandes die Beschreibung eines Garten Edens zu lesen.

86 | George W. Engelhardt (ed.), New Orleans, Louisiana, The Crescent City: The Book of the Picayune (New Orleans: Graham Co., 1903/04), 3. 87 | Zur Geschichte der Akadier vgl. die Überblicksdarstellung von John Mack Faragher, A Great and Noble Scheme: The Tragic Story of the Expulsion of the French Acadians from Their American Homeland (New York: W. W. Norton & Company, 2005).

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Verantwortlich für das Buch, dem Longfellow vorangestellt wurde, waren sowohl die Herausgeber der Tageszeitung Picayune als auch die führenden Handelskammern von New Orleans. Der Cotton Exchange, der Sugar and Rice Exchange sowie das Board of Trade waren die bedeutendsten darunter. Ihr erklärtes Ziel war es, mit dem Buch einen umfassenden Überblick über die Vorteile von New Orleans als Wohn- und Geschäftsort zu geben.88 Dass diese Geschäftsleute, die auf die Außenwirkung von New Orleans abzielten, ihr Buch mit dem Auszug aus Longfellows Gedicht begannen, der die Gegend von New Orleans als Sommerparadies darstellte, zeigt, welch wichtige Position dieser Diskurs im Schreiben über New Orleans um 1900 einnahm. Der Blick auf die Landschaft um New Orleans ist in Longfellows Gedicht zudem der des Anreisenden aus dem Norden Amerikas: Die Perspektive des nördlichen Besuchers – wenn auch in Form des fiktiven, melancholischen, vertriebenen Akadiers – wird hier ganz bewusst einem Buch vorangestellt, dessen erklärtes Ziel es war, für New Orleans neue Einwohner, möglichst Unternehmer, möglichst aus den Nordstaaten, zu gewinnen. Jenseits jeglicher differenzierter Betrachtung des New Orleanser Klimas und site wurde somit gewissermaßen einvernehmlich zwischen Besuchern und boosters ein ganz spezifischer Diskurs fortgeschrieben, der die Stadt über eine positive Vision von Klima und Lage definierte. In Longfellows Gedicht allerdings wendet sich die Stimmung bereits in der nächsten Zeile ins Düstere: »They, too, swerved from their course; and, entering the Bayou of Plaquemine, Soon were lost in a maze of sluggish and devious waters, Which, like a network of steel, extended in every direction. Over their heads the towering and tenebrous boughs of the cypress Met in a dusky arch, and trailing mosses in mid-air Waved like banners that hang on the walls of ancient cathedrals. Deathlike the silence seemed, and unbroken, save by the herons Home to their roosts in the cedar-trees returning at sunset, Or by the owl, as he greeted the moon with demoniac laughter.« 89

Die Kehrseite des Sommerlandes, das feuchte, dampfige und sumpfige, düstere Wasserland der Bayous, dem Longfellow in seinem Gedicht Platz einräumte und die auch im Verlorensein von Charles Dudley Warners New Orleans anklingt, eignete sich selbstverständlich nicht zur propagandistischen Darstellung 88 | Engelhardt (ed.), New Orleans, 3. 89 | Henry Wadsworth Longfellow, Evangeline: A Tale of Acadie, Part the Second, II, 11, in: E-book, Project Gutenberg, Acc.-no. 2009554, http://web.ebscohost.com/ ehost/ebook viewer/ebook/nlebk _2009554_ AN?sid=fb2acf1e-67cf-4a5f-be86641c23b35a25@sessionmgr112&vid=1&ppid=pp_11, Stand 3.8.2011.

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von New Orleans durch die business community des frühen 20. Jh.s. Dies galt umso mehr, als die Vision des Klimas und des site der Stadt immer auch eine gesellschaftliche Vision implizierte.

S TADT DES S ÜDENS In einem Atemzug mit den Lobeshymnen auf das freundliche Klima, das den Besucher aus dem Norden in New Orleans willkommen hieß, nannte etwa die Chamber of Commerce auch die Freundlichkeit der Bewohner der Stadt. Toleranz, Freundlichkeit und Gastfreundschaft erwarteten den Besucher ebenso wie der ewige Sommer. Wärme als klimatisches Charakteristikum wurde metaphorisch auf die Gesellschaft übertragen; das warme Klima spiegelte die Wärme der Einwohner und beides war »SOUTHERN«, wie die Chamber of Commerce in Großbuchstaben hervorhob.90 Diese gesellschaftliche Konnotation des wohltuenden Klimas findet sich nicht nur in den propagandistischen Werbebroschüren, sondern auch in den Wahrnehmungen von außen. Ella Giles Ruddy schwelgte ebenso in den Wohltaten der samtweichen und balsamartigen Luft wie in der herausragenden Fürsorglichkeit der Bewohner von New Orleans hinsichtlich von »health, happiness, or comfort«91 ihrer Besucher. Nicht umsonst lautete der Titel ihres Artikels »City of Human Interest«. Auch Charles Dudley Warner vermittelte den Lesern des Harper’s New Monthly Magazine den Unterschied zwischen New Orleans und anderen Städten, der seines Erachtens im »markedly cordial, ingenuous, warm-hearted«92 Charakter des gesellschaftlichen Lebens der Stadt lag. In Boston, so Warner, sei man zwar toleranter was die Meinungsfreiheit zu allen nur denkbaren Themen anging, dafür überwiege in New Orleans die Freundlichkeit.93 »There is a human as well as a climatic amiability that wins him [the Northern stranger]«94 , fasste er die Kongruenz von Klima und Einwohnern zusammen. Die Wärme des New Orleanser Sommers drücke sich in der Freundlichkeit und Herzlichkeit seiner Bewohner aus. Beides zusammen sei dazu angetan, die Herzen der Besucher zu erobern: New Orleans sei herzlich und deshalb liebenswert. Genau das mache seine southernness aus. Die Narrative über das Klima und die Lage von New Orleans waren folglich ein zentrales Element in der diskursiven Konstruktion von New Orleans. Ohne über das Wasser in der Stadt, vor allem aber ohne über Hitze und Sonne 90 | Chamber of Commerce and Industry of Louisiana (ed.), The City of New Orleans, 8. 91 | Ruddy, »City of Human Interest and Open Opportunity«, in: Daily Picayune, 15.3.1910. 92 | Warner, »New Orleans«, 206. 93 | Ebd. 94 | Ebd., 192.

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zu schreiben, konnte man sich New Orleans nicht annähern. Ohne diese Elemente war die Stadt nicht darstellbar. In einer Stadt, deren site aufgrund seiner situation gewählt wurde und die von vornherein mit den topographischen und klimatischen Bedingungen zu kämpfen hatte, mag das naheliegend sein. Es ist jedoch bemerkenswert, wie eng diese Diskurse über die natürlichen Gegebenheiten mit der Vision des urbanen Raums und seiner Gesellschaft verknüpft waren. New Orleans wurde zu einem großen Teil über seine Umwelt definiert, und das war der common ground aller Beschreibungen der Stadt. Die jeweilige Interpretation dieser Umwelt gründete in einer bestimmten Vorstellung der städtischen Gesellschaft und konnte in eine ganz konkrete Vision des urbanen Raums münden, die sich aus diesen Vorstellungen speiste. Eine wichtige positive Interpretation des Klimas war in das Narrativ der southernness eingebettet, die als klimatische und gesellschaftliche Teilidentität von New Orleans fungierte. Diese positive Interpretation war nicht nur in den von boosterism geleiteten Außendarstellungen der Stadt, sondern auch in der Perzeption durch Besucher präsent. An diesen hier geschilderten Strang knüpften im Streit von 1914 die Balkonbefürworter implizit an; der Abriss der Balkone erschien im oben erwähnten Leitartikel des Item geradezu als Verrat an der freundlichen, herzlichen und liebenswerten southernness von New Orleans. Paradoxerweise argumentierten jedoch gerade die Balkonanhänger mit der Unerträglichkeit der Sonneneinstrahlung, der man nur mithilfe der Balkone entgehen könne, während Edgar Stern von der Association of Commerce das Angenehme des Klimas und damit die Überflüssigkeit der Balkone herausstrich. Southernness bedeutete folglich nicht zwangsweise eine positive Interpretation der Hitze als freundliche Wärme, sondern konnte auch ihre unangenehmen Seiten bezeichnen – die dann aber durch angemessene southern Architektur wieder wettgemacht wurden, so dass doch ein angenehmes südliches Leben möglich war. Die Balkonbefürworter scherten bis zu einem gewissen Grad aus dem Diskurs der angenehmen Wärme aus, um die Association of Commerce mit ihren eigenen Argumenten der Funktionalität zu schlagen. Zudem erwähnten viele der Beschreibungen von New Orleans als perfektes Sommerland auch die diesem Klima adäquate Architektur der Stadt, die ihren Teil dazu beitrage, dass die Hitze als angenehm empfunden werden könne. Der lange Sommer, so etwa Warner, präge die »habit of outdoor life« ebenso wie die »structure of houses«95; letztere sei geradezu darauf angelegt, ersteres zu ermöglichen, wie auch J. D. Butler betonte: Die Architektur der Stadt sei »suggestive of life in the open air«.96 Southernness erweist sich hier letztlich als Lebensstil, der durch das Klima bedingt und durch die Architektur der Stadt möglich war, und den die Balkonbefürworter verteidigten. New Orleans erscheint als durch das Kli95 | Ebd., 200. 96 | Butler, »First Impressions«, 335.

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ma grundlegend geprägt, aber das Positive dieses Klimas resultierte zum Teil aus dem vorhandenen angemessenen Umgang mit ihm hinsichtlich der Form der Stadt, der den südlichen Lebensstil ermöglichte – was Edgar Stern so nicht unterschrieben hätte: Angemessen waren für ihn und die Association of Commerce höchstens moderne Markisen wie in den anderen Städten. Interessant ist hier der Leitbildwandel, der sich in den Kreisen der Wirtschaftselite der Stadt vollzogen zu haben scheint. Während die Chamber of Commerce 1894 noch mit dem Attribut southern warb, war southernness für Stern 1914 nicht mehr der zentrale Referenzpunkt; stattdessen orientierte man sich an Städten wie Dallas und Oklahoma City. Obgleich das Narrativ der Südlichkeit als identitätsstiftendes Moment in New Orleans offenkundig auch um 1914 noch präsent war – Ella Giles Ruddy etwa schrieb ihren Artikel 1910 –, so hatten die führenden Geschäftszirkel der Stadt in der zweiten Dekade des 20. Jh.s bereits eine andere Vorstellung der Identität von New Orleans. Diese Vorstellung schloss Südlichkeit als Eigenschaft ihrer Stadt zwar nicht aus, interpretierte aber die Form neu, in der sich diese southernness äußern sollte. So erkannte das Committee on Canal Street Beautifying der Association of Commerce, dass es den Anhängern der Balkone um die southernness als Teil der Identität von New Orleans ging, und versuchte, einen Kompromiss anzubieten. In einer Mitteilung an den Bürgermeister empfahl das Komitee daher, die Balkone abzureißen und moderne Markisen zu errichten, aber auch, das südliche Flair mit neuen Mitteln zu bewahren: »In this connection, this committee wishes to impress upon those who have no direct interest in Canal street but who are concerned in the preservation of the typical ›southern atmosphere‹ in New Orleans, that its aims are also in that direction. As an evidence of this act, it will endeavor to secure, as far as possible, unanimous action in the installation of boxes of semi-tropical plants on the outside of first story windows.« 97

Der A of C war es folglich gleichermaßen wichtig, eine »southern atmosphere« zu bewahren, nur erschien ihr diese nicht notwendigerweise an den Erhalt der Balkone geknüpft. Kübel mit entsprechenden Pflanzen könnten die gleiche Atmosphäre erzeugen. Die Mitglieder der business elite störten sich offenbar weniger daran, dass New Orleans eine typisch südliche Atmosphäre aufwies, als daran, dass diese ausgerechnet durch die Balkone hervorgerufen werden sollte. Hier zeigt sich deutlich, dass in den Balkondiskussionen nur oberflächlich die klimatischen Gegebenheiten der Stadt und die Funktionalität ihrer architektonischen Formen hinsichtlich des Klimas debattiert wurden; letztlich be97 | »Report of the Committee on Canal Street Beautifying«, 8.5.1914, in: UNO/LaSC, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, Mss 66, 66-16 clasp vol. Dec. 16-Jan. 11 1915.

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stand Konsens darüber, dass New Orleans eine vom Klima geprägte southern city war. Eigentlich wurde etwas ganz anderes verhandelt, nämlich die Frage nach der Modernität der visuellen Erscheinung von New Orleans, und damit die Frage nach der Modernität ihrer Gesellschaft. Es ging dem Komitee der A of C augenscheinlich nicht darum, gegen Südlichkeit als Identitätsmerkmal von New Orleans zu polemisieren, sondern darum, dieser eine neue Form zu geben und damit der Gefahr auszuweichen, dass von Außenstehenden southern mit ›altmodisch‹ gleichgesetzt werden könnte. Mit modernen Markisen wie in Oklahoma City würde New Orleans genauso fortschrittlich aussehen wie die Städte des Mittleren Westens; mit tropischen Blumenboxen würde sie obendrein ihre Identität als Stadt des Südens bewahren. Sie wäre damit eine moderne Stadt des Südens. Dass sich die Referenzpunkte für Edgar Stern und seine Kollegen verschoben hatten, ist weniger als Abkehr von dem Ideal der Südlichkeit überhaupt zu verstehen denn als Versuch einer Neuinterpretation derselben, ist weniger Protest gegen southernness als gegen das Alte.

B LUMENSTADT Mit dem Vorschlag, Blumen und Pflanzen als typische südliche Merkmale auf der Canal Street zu installieren, griff die A of C auf einen weiteren etablierten Strang des southernness-Diskurses zurück, der in den Beschreibungen von New Orleans ebenso wirkmächtig war wie der des warmen Sommerlandes. Nicht nur die Hitze, auch der Regen konnte in New Orleans als prägendes, positives Merkmal wahrgenommen werden. Sonne und Wasser bildeten zusammen die Bedingungen für den Topos des Garten Edens, der bereits in Longfellows Gedicht aus der Mitte des 19. Jh.s anklang. Die Basis dieses Garten-Eden-Diskurses waren die positiven Aspekte der subtropischen Hitze und der subtropischen Regenfälle: Es herrsche ewiger Sommer, und dies sei zudem ein Sommer voll lebenspendenden Lichts und Wassers. New Orleans als blühende, von üppiger Vegetation gesegnete Stadt zu beschreiben stellt somit einen weiteren Topos in der Annäherung an die Stadt über ihre natürliche Umwelt dar, der keinesfalls auf romantische Gedichte beschränkt blieb. Auch im Schreiben über New Orleans um 1900 war die Vorstellung von der Stadt als grüner und bunter, blühender Stadt allgegenwärtig. »While all the country north of the Tennessee river is locked in ice: its trees leafless and its homes stormed by fierce arctic winds, New Orleans smiles through the green of orange and magnolia trees. Her gardens are bright and odorous with flowers […]«98, pries William Coleman die seines Erachtens zentralen Vorzüge 98 | William Coleman (ed.), Historical Sketchbook and Guide to New Orleans and Environs (New York: W. H. Coleman, 1885), 1.

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der Stadt bereits auf der ersten Seite seines New Orleans Reiseführers von 1885 an. Größer konnte der Kontrast nicht sein, den Coleman hier in einem wirkungsvollen Auftakt zu seinem Buch zwischen dem vermeintlich von arktischer Kälte, Kargheit und Frost geplagten Norden und der grünen, strahlenden, duftenden und sogar lächelnden Stadt des Südens zeichnete. New Orleans, das sei nicht nur Sommer, sondern vor allem auch eine grünende und blühende Landschaft. Gewissermaßen visualisierte dieser Topos die Folgen des positiv interpretierten Klimas. Immer und immer wieder wurde hervorgehoben, dass Blumen in New Orleans das ganze Jahr über im Freien gedeihen konnten99 – und dass sie die gesamte Stadt mit ihren Farben und ihrem Duft beherrschten. Zeit und Raum stellten keine Grenzen für das Blühen von New Orleans dar. Von einem wahren Fest der Sinne, vom »bloom and glow of lilac, wistaria, oleander, laburnum, azalea, pomegranate, myrtle and magnolia, and all-pervading redolence of honeysuckle, jasmine, verbena, lavender, and scented pea«100 ist im von der Picayune herausgegebenen Buch zu lesen. Für Charles Dudley Warner war New Orleans von Blumen gar ähnlich geprägt wie von Wasser. So wie er beim Blick auf die Landkarte New Orleans nicht genau lokalisieren konnte, weil er die Stadt als mit Wasserläufen und Seen verwoben empfand, so schien sie sich ihm beim Blick von innen her ebenfalls zu entziehen, und zwar in einem Meer aus Blumen, das sich über die Stadt ergoss. Vor allem die Rosen, die ihm zufolge in unzähligen Varianten in New Orleans gediehen, beeindruckten ihn merklich. »In April the town is literally embowered in them; they fill door-yards and gardens, they overrun the porches, they climb the sides of houses, they spread over the trees, they take possession of trellises and fences and walls, perfuming the air and entrancing the heart with color.«101 Warner sprach den Rosen ein tatkräftiges Eigenleben zu; sie waren die Akteure, sie breiteten sich ungebremst über die gebauten Räume der Stadt aus, sie nahmen sie in Besitz. Ähnlich wie New Orleans im Wasser verloren zu gehen drohte, so konnte der urbane Raum geradezu im Blumenmeer versinken – New Orleans war Teil seiner natürlichen Umwelt, die selbst wiederum Teil der Stadt war. Ebenso wie der Topos der freundlichen Wärme umfasste der Topos der Blumenstadt auch eine gesellschaftliche Dimension. Coleman setzte auf der ersten Seite seines Reiseführers die Lobeshymne auf das blühende New Orleans fort: »Her gardens are bright and odorous with flowers; the streets are filled with loungers and sight-seers; all the open-air resorts are crowded; there is a busy hum of gaiety and music and laughter everywhere.«102 In einem Atemzug nann99 | Ebd., 254. Vgl. Martin Behrman Administration Biography 1904-1916 (New Orleans: John J. Weihing Printing Co., 1917), 14. 100 | Engelhardt (ed.), New Orleans, 14. 101 | Warner, »New Orleans«, 190. 102 | Coleman (ed.), Historical Sketchbook, 1.

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te Coleman die bunten Blumen der Gärten und die an lauen Sommertagen die Stadt bevölkernden Menschen; das Leuchten der Blumen schien die fröhliche Stimmung in der Stadt zu spiegeln. Coleman verknüpfte in seiner Beschreibung von New Orleans das entspannte sommerliche Straßenleben mit dem Anblick der blühenden Stadt. Musik, Lachen und Blütenduft verbanden sich zu einer Synästhesie des Sommers. »Sauntering down one of the side streets, we glance into portes cochères that reveal vistas of beautiful quadrangular gardens, ivy-clad walls, bubbling, sparkling fountains.«103 Durch New Orleans, so erhielten die Leser den Eindruck, hetzte man nicht, sondern schlenderte und verweilte in Anbetracht der blühenden Pracht. Viele zeitgenössische Texte verknüpften die Schilderungen des Freizeitlebens in der sommerlichen Stadt mit den ihr als typisch zugeschriebenen klimatischen Eigenschaften. Ein Artikel in der Picayune beschwor suggestiv den Abend im sommerlichen New Orleans herauf: »Meanwhile we take it easy. For as the evening breeze comes up from the sea, we saunter along Canal street illuminated by electric lights; we refresh ourselves at silver fountains bubbling with soda water; we admire the dainty drapery and graceful carriage of the prettiest women in the world; we join a group of idle friends in easy chat, and so the long day draws to a pleasant close.«104 In New Orleans, so schien es, herrschte die ideale Atmosphäre, um einen angenehmen Sommerabend schlendernd und plaudernd zu verbringen. Julian Ralph brachte das für die Leser des Harper’s New Monthly Magazine 1893 auf den Punkt: »It is par excellence a city of fun, fair women, rich food, and flowers.«105 Sommer, Blumen, Spaß, gutes Essen und schöne Frauen wurden in diesem Diskurs zu einer Beschreibung von New Orleans als der Stadt des Vergnügens und der Entspannung schlechthin verschmolzen; in der zeitgenössischen Perzeption transportierte das Schreiben über eine blühende und blumige Stadt daher ganz bestimmte gesellschaftliche Konnotationen. Gerade Frauen und Blumen wurden in den Texten über New Orleans häufig auch explizit verknüpft. Julian Ralph etwa fand auf den Bällen der Stadt die schönsten Frauen vor, ein »wondrous garden of personified flowers«106, wie er sich ausdrückte. Seine nähere Beschreibung dieser Frauen fokussiert auf die Farbgebung und liest sich wie die Beschreibung eines Gartens: »The best place to see the famed belles of New Orleans is in the French Opera-house on a fashionable night at the opera. Then there are scores there – blondes with limpid blue eyes, and complexions of roses and cream; brunettes of the purest type with rounding 103 | Ebd., 150. 104 | »Modern Comfort«, in: Daily Picayune 20.6.1886. 105 | Julian Ralph, »New Orleans, Our Southern Capital«, in: Harper’s New Monthly Magazine 86:513 (Feb. 1893), 365. 106 | Ebd., 367.

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forms, great black orbs, hair of Japanese black, and skins of softest brown; Spanish creoles with true oval faces, long narrow eyes, the same soft sun-kissed complexions, with proud bearing, and mouths like Cupid’s brow. With them are our American girls from all over the country, boasting the eclectic beauty of many blended nationalities. The place is like a giant bouquet. They dress almost like Parisians, and that is one great secret of the splendid fame they have won.«107

Zweierlei Grundannahmen über die New Orleanser Gesellschaft wurden im Narrativ von der blühenden Stadt fortgeschrieben. Zum einen wurde die im Topos der warmen Sommerstadt angelegte Vorstellung einer warmherzigen, freundlichen Bevölkerung durch das Konzept einer fröhlichen Bevölkerung ergänzt; Blumen standen so auch für bunte Feierlaune und die farbenfrohe Leichtigkeit des Seins. New Orleans erschien als perfekter Ort des gesamtgesellschaftlichen, entspannten Nichtstuns, weshalb in den Beschreibungen häufig die »easy terms on which life can be lived«108 und der »leisurely and amiable tone to the aspect of people and streets«109 hervorgehoben wurde. Sowohl der Topos der Sommerstadt, als auch der der Blumenstadt konnotierten somit Eigenschaften des sozialen Lebens, die letztlich als integraler Bestandteil von southernness wahrgenommen wurden. Diese Aspekte von Südlichkeit, die die oben genannten Autoren im positiven Sinn interpretierten, sind Teil eines allgemeineren, nicht nur in New Orleans existenten Diskurses über den Süden, der durchaus einen negativen Beigeschmack erhalten konnte. Während die Besucherberichte durch Ralph und Warner in den positiven Aspekten dieses Diskurses schwelgten, versuchten die Außendarstellungen der Stadt aus gutem Grund möglichen Negativinterpretationen entgegenzuwirken. Die Reflexionen um die wirtschaftliche Zukunft der Südstaaten im Kontext der in New Orleans stattfindenden Cotton Centennial Exhibition von 1884 etwa waren geprägt von dem Versuch, Klischees als solche zu entlarven. Die Tageszeitung Times-Democrat hob hervor, dass es ein altes, aber falsches Klischee sei, dass das Leben in den »temperate regions of America«110 zu »indolence«111 tendiere. Trägheit war dabei nur ein Aspekt eines ganzen Komplexes von Vorurteilen über das Leben im Süden, das auf der Grundannahme basierte, dass Klima und Region den Charakter der Menschen maßgeblich prägen würden. Vor dem Hintergrund sozialdarwinistischer Theorien und imperialistischer Bestrebungen fanden vor allem zwischen den 1870er Jahren und der Jahrhundertwende Klimatheorien Anklang, die der geographischen Lokalisierung und dem Klima eine zentrale Rolle in der Ausprägung des Charakters von Nationen 107 | Ebd., 372. 108 | Warner, »New Orleans«, 192. 109 | Ebd., 200. 110 | »Pushing Southern Interests«, in: Times-Democrat, 20.12.1884. 111 | Ebd.

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und ›Rassen‹ zuwiesen.112 Nördliche Nationen galten als besonders robust, ausdauernd und verstandesorientiert, da sie sich körperlich und geistig mit den harschen Bedingungen eines Lebens in unwirtlichen Klimazonen auseinandersetzen müssten und den durch diese Umwelt bedingten Selektionsprozess erfolgreich überstanden hätten. Als Gegenpart fungierten die Einwohner sonniger und warmer Regionen, die mit Degeneration und Verfall assoziiert wurden, weil das warme Klima angeblich zu Trägheit, Faulheit und Sinnlichkeit verleite.113 Während sich nördliche Nationen mit diesen geographisch und klimatisch deterministischen Theorien schmückten und das Konzept der ›Nördlichkeit‹ zum positiven Bestandteil nationaler Identität werden konnte – das kanadische Selbstbild als »True North Strong and Free« wäre ein Beispiel dafür114 –, waren südliche Regionen bemüht, die mit einer südlichen Lokalisierung und einem warmen Klima verbundenen Assoziationen zu widerlegen. Vor allem im Zeitalter von Fortschrittsbegeisterung und Machbarkeitsvorstellungen schienen Zuschreibungen wie ›Trägheit‹ oder ›Verfall‹ nicht gerade erstrebenswert. Hinzu kam die Aufladung von Nord und Süd mit zeitgenössischen geschlechterspezifischen Konnotationen. Als Inbegriff von Ratio, Tapferkeit und Widerstandskraft galt Nördlichkeit auch als männlich, wohingegen die ›verweichlichende‹, ›sinnlich‹ wirkende Südlichkeit mit Femininität assoziiert wurde: In warmen Regionen, so die Theorie, verliere sogar der nordischste Mensch nach und nach seine Vitalität und Virilität.115 Damit wiederum verbanden sich Szenarien des Verlusts von männlichen Eigenschaften wie Vernunftorientierung und Selbstkontrolle. Den Bemühungen, New Orleans als unternehmerische und wirtschaftlich erfolgreiche Stadt zu positionieren, lief daher eine Feminisierung der Crescent City 112 | Ihren Ursprung hatten solche Überlegungen in den Klimatheorien des 18. Jh.s, die unterschiedliche menschliche Charaktere als Folge von physiologischen Reaktionen auf das Klima betrachteten, wie etwa die Theorie des französischen Philosophen Montesquieu von 1748. Anders als im 19. Jh. ging es den Philosophen der Aufklärung jedoch eher um eine rationale Erklärung von menschlicher Vielfalt und nicht um Wertungen im Rahmen eines Konkurrenzkampfes zwischen Nationen oder ›Rassen‹, vgl. Dieter Richter, Der Süden: Geschichte einer Himmelsrichtung (Berlin: Verlag Klaus Wagenbach, 2009), 127-29. 113 | Auch diese Zuschreibungen gehen bereits auf die Theoretiker des 18. Jh.s und des frühen 19. Jh.s zurück und finden sich als Topos in der Literatur dieser Zeit, vgl. ebd., 130-31; 136-37. 114 | Vgl. die klassische Studie von Carl Berger, »The True North Strong and Free«, in: Peter Russell (ed.), Nationalism in Canada (Toronto: McGraw-Hill, 1966), 3-26. Vor allem die Canada First Movement und ihr Gründungsmitglied Robert Grant Haliburton machten sich für diese Form des kanadischen Nationalismus in den 1870er Jahren stark. 115 | Etwa E. W. MacBride, »The Theory of Evolution«, in: The McGill University Magazine 1:3 (April 1902), 244-62, hier 261.

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entschieden zuwider.116 Weiblichkeit und ihre für die häusliche Sphäre viktorianischer Mittel- und Oberschichten relevanten Eigenschaften waren nichts, mit dem man in den 1880er Jahren im öffentlichen Raum von Politik und Wirtschaft um Investoren und Handelspartner werben wollte.

S TADT DES A LTEN S ÜDENS Dass solche Themen im Kontext einer Weltausstellung an die Oberfläche gespült wurden, die zum Ziel hatte, das Comeback von New Orleans als Handelsstadt nach dem Bürgerkrieg und allgemeiner die Wirtschaftsfähigkeit der Südstaaten zu demonstrieren, ist kein Zufall und erlaubt zugleich weitere Einsichten in die Dimensionen des Sprechens über southernness in New Orleans. Der allgemeine Diskurs über den Süden wurde hier gewissermaßen geographisch konkret in den USA verortet und dadurch mit einer ganz spezifischen Geschichte versehen, was ihn mit weiteren Konnotationen auflud. Wenn in New Orleans von southernness die Rede war, so meinte das immer auch Südstaatlichkeit, nicht nur Südlichkeit. Die zweite Grundannahme über die New Orleanser Gesellschaft, die im Narrativ von der blühenden Stadt transportiert wurde – neben dem Topos der feierlustigen Bevölkerung –, entstammt dementsprechend dem Fundus der Südstaatentopoi. Die sprichwörtlich gewordene Südstaatenschönheit, die »famed belle«117, prägte, den Blumen gleich, die Stadt am Mississippi. Durch die von ihnen perzipierte dominante Präsenz der southern belle charakterisierten Autoren wie Julian Ralph New Orleans eindeutig als Stadt der Südstaaten. Diese geographische Zuweisung enthielt jedoch auch zugleich eine temporale Zuweisung: Die Südstaatenschönheit war letztlich eine Figur der Antebellum-Ära. Als integraler Bestandteil einer nach dem Bürgerkrieg im Süden entwickelten Südstaatenmythologie repräsentierte die southern belle die verklärte Vision der Gesellschaftsordnung des Alten Südens. Kern dieser Mythologie war der Mythos der Lost Cause, der direkt nach dem Bürgerkrieg geprägt wurde und einen legendären Alten Süden erschuf. Der Mythos der Lost Cause implizierte, dass die Südstaaten im Bürgerkrieg für eine gute, ehrenvolle Sache tapfer gekämpft hätten, und das angesichts der überwältigenden Macht des Feindes. Damit erfüllte er den Zweck der retrospektiven Selbstlegitimierung: Das Engagement im Bürgerkrieg sei trotz Niederlage nicht umsonst gewesen, da es einer ehrenhaften Sache gedient habe. Die Sache selbst, für die die Helden der Confederacy ins Feld gezogen waren, war in dieser Perspektive die Gesellschaftsform 116 | Vgl. allgemein zu Bildern von Weiblichkeit im viktorianischen Zeitalter Nancy Woloch, Women and the American Experience, vol. 1: To 1920 (New York: McGraw-Hill, ²1994), 120. 117 | Ralph, »New Orleans«, 365.

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des Alten Südens, die dabei mythisch überhöht wurde. Sie erscheint als von edlen, weißen Pflanzeraristokraten dominiert, die in harmonischem Einklang mit den ihnen wohlwollend gesinnten Sklaven in einer kultivierten, von den Niedrigkeiten der modernen Welt, wie sie die Industriemoderne des Nordens verkörperte, abgeschotteten Gesellschaft lebten. Catherine Clinton fasst das in ihrer Studie zur Plantagenlegende treffend zusammen: »›They may have won‹, the defeated South avowed, ›but we remained gentlemen‹«.118 Einige typisierte Figuren bevölkerten diese mythische Welt. Neben den galanten weißen Männern, den fürsorglichen schwarzen mammies, den loyalen Haussklaven und den vornehmen southern ladies gehörten auch die für ihre Schönheit berühmten southern belles, die jüngeren, noch unverheirateten Frauen – deren Mythisierung mit Gone With the Wind 1936 einen Höhepunkt erreichte – zu den dramatis personae der Lost Cause. Gerade der Südstaatenschönheit kam in der Selbstlegitimierung des Südens in der Ära nach dem Bürgerkrieg eine Schlüsselposition zu. Primär war man natürlich in den Krieg gezogen, um die states’ rights zu verteidigen119 – das bedeutete aber letztlich auch, die jungen, schönen weißen Frauen zu schützen, die ohne den Kokon ihres behüteten Daseins auf der Plantage den im Süden zahlenmäßig dominierenden Schwarzen mit ihren vermeintlich niedrigen Instinkten ausgeliefert gewesen wären.120 Der Topos des sexuell unersättlichen schwarzen Mannes, der primär danach strebe, sich an weißen Frauen zu vergehen, sobald er außerhalb des loyalen paternalistischen Systems der Plantage agiere, erlaubte es den Verlierern des Bürgerkriegs, ihren Einsatz retrospektiv moralisch zu überhöhen und zu legitimieren. Ganz massiv trug dieser Mythos des schwarzen Vergewaltigers in den letzten Dekaden des 19. Jh.s dazu bei, im Süden dem Ruf nach white supremacy Dringlichkeit zu verleihen121, ein System rassistischer Gesetzgebung, die Jim 118 | Catherine Clinton, Tara Revisited: Women, War, and the Plantation Legend (New York: Abbeville Press, 1995), 19. Grundlegend zur Lost Cause Rollin G. Osterweis, The Myth of the Lost Cause, 1865-1900 (Hamden: Archon Book, 1973). 119 | Karen L. Cox, Dixie’s Daughters: The United Daughters of the Confederacy and the Preservation of Confederate Culture (Gainesville: University Press of Florida, 2003), 12. 120 | Zur Ambivalenz der Stereotype des schwarzen Mannes als unterwürfiger »Sambo« und als aggressiver, männlicher Vergewaltiger vgl. Margaret Ripley Wolfe, Daughters of Canaan: A Saga of Southern Women (Lexington: University Press of Kentucky, 1995), 119-20. 121 | Vgl. Glenda Elizabeth Gilmore, Gender and Jim Crow: Women and the Politics of White Supremacy in North Carolina, 1896-1920 (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1996), 93-118. Übersicht über die Forschungsgeschichte zum »rape myth« bei Diane Miller Sommerville, Rape and Race in the Nineteenth-Century South (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 2003), 223-59.

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Crow Laws, zu rechtfertigen122 , und er diente als Rechtfertigung für eine Unzahl von Lynchmorden, die in dieser Zeit zum Alltag des Südens gehörten.123 Aufgrund seiner Verknüpfung mit diesem »rape/lynch narrative«124 transportierte der Mythos des Lost Cause insofern nicht nur eine Vision der Vergangenheit, sondern auch ein durch die Revision der Geschichte des Bürgerkriegs und die Transformation der Erinnerung an die Vorkriegszeit ermöglichtes Idealbild der Gesellschaft des Südens im späten 19. Jh. Durch die Werke von Historikern wie Ullrich B. Phillips ebenso wie durch die Populärkultur wurde die Verklärung eines mythischen Alten Südens mit all ihren gesellschaftlichen Implikationen letztlich zu einer Art Religion der weißen Elite des Postbellum-Südens, die eine white supremacy rechtfertigte.125 Julian Ralph war ein New Yorker Journalist, der für das Harper’s New Monthly Magazine ausgedehnte Reisen in den USA unternahm und im Zuge einer seiner Reisen 1893 den bereits erwähnten Text über New Orleans geschrieben hatte. Wenn also ein Journalist aus den Nordstaaten in den 1890er Jahren den Topos der Südstaatenschönheit bemühte, um New Orleans zu charakterisieren, so bedeutete dies, dass ein Nordstaatler den durch die weiße Elite des Südens konstruierten Mythos fortschrieb, ohne den ihm zugrundeliegenden fundamentalen Rassismus zu hinterfragen. Das verwundert kaum, erfüllte doch die rassistische Grundlage des Topos der southern belle und des gesamten Lost Cause-Mythos auch die Funktion, die sektional gespaltene Nation wieder zu einen – die weiße Nation.126 Die Einheit der USA konnte so zumindest diskursiv auf dem Rücken der befreiten Sklaven ausgetragen 122 | Crystal N. Feimster, Southern Horrors: Women and the Politics of Rape and Lynching (Cambridge: Harvard University Press, 2009), 56. 123 | Clinton, Tara Revisited, 198-99; Michael Hochgeschwender, »Ehre und Geschlecht: Strategien bei der Konstruktion nationaler Einheit nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg«, in: Horst Carl et al. (Hgg), Kriegsniederlagen: Erfahrungen und Erinnerungen (Berlin: Akademie Verlag, 2004), 314-28, hier 327-38. Ausführlicher Martha Hodes, White Women, Black Men: Illicit Sex in the Nineteenth-Century South (New Haven: Yale University Press, 1997), 176-208. 124 | Feimster, Southern Horrors, 82. 125 | Ebd., 21. Phillips vertrat die Theorie, dass die Sklaverei letztlich eine Institution sei, die dank des wohlwollenden Paternalismus der Sklavenbesitzer den Sklaven zugute käme. Ullrich B. Phillips, American Negro Slavery (New York: D. Appleton, 1918). Vgl. Cox, Dixie’s Daughters, 1-4; James C. Cobb, Away Down South: A History of Southern Identity (New York: Oxford University Press, 2005), 105-06. 126 | Clinton, Tara Revisited, 19, stellt fest, dass bereits in den 1870ern viele Nordstaatler der Legendenbildung des Alten Südens folgten, und dass 1876 bei den Festivitäten zum Centennial das Thema der Aussöhnung überwog. Vgl. auch Hochgeschwender, »Ehre und Geschlecht«, 324-36. Zum historischen Wandel der Lost Cause-Mythologie zwischen den späten 1860ern und dem neuen Jahrhundert unter den Vorzeichen von

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werden. Dieser rekonziliatorische Rassismus blieb häufig implizit; New Orleans, so Julian Ralph, sei eine von schönen weißen Frauen geprägte Stadt. Einen bunten Blumenstrauß an Frauen treffe er in der Oper an – allerdings nur in bestimmten Schattierungen von whiteness. Die Metapher des blühenden, bunten New Orleans blieb so auf die Vielfalt der whites begrenzt, ohne Rassengrenzen zu transzendieren. Dieses Bild der »famed belles« entsprach gerade für New Orleans nicht einmal ansatzweise der Realität der Vorkriegszeit, waren doch gerade die sogenannten quadroons und octoroons, Angehörige der free people of color, die Frauen, für die New Orleans vor dem Bürgerkrieg Berühmtheit erlangt hatte.127 Nach dem Bürgerkrieg fielen sie mit dem rassendichotomischen Denken aus dem belle-Diskurs heraus.128 Es war also ein weißes New Orleans, das hier durch den Besucher wahrgenommen wurde. Auch andere schloss der Diskurs über die southern belle aus. Die mythische belle gehörte der Oberschicht an, andere Frauen blieben außen vor. Zudem transportierte der Diskurs eine bestimmte Vorstellung der Südstaatenfrau, die mit den »real women«129 des Südens und ihren Erfahrungen vor, während und nach dem Bürgerkrieg kaum etwas zu tun hatte – ganz gleich ob schwarz oder weiß und welchen gesellschaftlichen Schichten zugehörig.130 Damit offenbart sich die schöne, schutzbedürftige belle als Konstrukt einer männlichen Phantasie, das auch dazu diente, auf dem Rücken der freigelassenen Sklaven speziell die weißen Männer des Südens angesichts ihrer Niederlage im Bürgerkrieg zu rehabilitieren und ihre angeschlagene Männlichkeit wiederherzustellen. Julian Ralph folgte somit der stark ›gegenderten‹ und klassenspezifischen Vision eines weißen, elitären New Orleans der Antebellumära. Er ging sogar einen Schritt darüber hinaus, indem er nicht nur die zeitgenössische Gesellschaft von New Orleans in den Begrifflichkeiten der mythischen Gesellschaft des Alten Südens beschrieb, sondern den Mythos der southern belle mit all seinen Gender- und Rassenimplikationen auf die Stadt New Orleans insgesamt übertrug. Die ganze Stadt New Orleans erscheint in seinen Beschreibungen als von schönen Blumen und schönen Frauen geprägt. Ähnliches findet sich bei Charles Dudley Warner: Folgt man dessen Schilderungen, so war diese Stadt fast nicht trennbar von den sie überflutenden Blumen. Der Stadt selbst wurden Attribute zugeschrieben, mit denen in der Tradition viktorianischer Weiblichkeitsdiskurse Frauen aus den Mittel- und Oberschichten sektionaler Versöhnung und Rassentrennung David W. Blight, Race and Reunion: The Civil War in American Memory (Cambridge: Belknap Press, 2001), 258-99. 127 | Vgl. Wolfe, Daughters of Canaan, 79; Nina Möllers, Kreolische Identität: Eine amerikanische ›Rassengeschichte‹ zwischen Schwarz und Weiß – Die Free People of Color in New Orleans (Bielefeld: Transcript, 2008), 59-67. 128 | Vgl. Möllers, Kreolische Identität, 312-14. 129 | Clinton, Tara Revisited, 16. 130 | Ebd.

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charakterisiert wurden. New Orleans wirkt in den Beobachtungen einiger Autoren aus dem Norden so, als sei die Stadt selbst eine Frau. Dazu trägt gerade auch der bei Warner präsente Diskurs des Verschmelzens mit der Natur bei – sei es mit dem Wasser oder den Pflanzen. In New Orleans, so der Tenor, dominierte die natürliche Umwelt, und diese wurde im 19. Jh. häufig als weiblich, weil nährend-mütterlich oder jungfräulich-unberührt, perzipiert, wohingegen die sie beherrschenden, organisierenden, rational gestaltenden menschlichen Kräfte als männlich charakterisiert wurden. In solchen Diskursen wurden nicht nur bestimmte Konzeptionen von Natur und Umwelt zementiert, die die Beherrschung der Natur durch den Menschen als natürlich und insofern als wünschenswert und fortschrittlich betrachteten, sondern es wurde auch das klassische viktorianische Verständnis der Geschlechterrollen fortgeschrieben.131 New Orleans erschien so nicht nur als von Südstaatenschönheiten bevölkert, sondern war eigentlich selbst eine Frau, ja sogar eine jener vielgepriesenen southern belles.132 Im spezifischen Kontext der Südstaaten nach dem Bürgerkrieg standen Ralph und Warner mit dieser Übertragung des southern belle-Diskurses auf die gesamte Gesellschaft nicht allein. Viele Romane südstaatlicher Autoren, die das Bild des »genteel antebellum South«133 zeichneten, betonten die Weiblichkeit des Südens. Die Geschichte des Bürgerkriegs wurde in diesen Werken neu geschrieben, indem der Süden insgesamt als leidende Frau in der Opferrolle porträtiert wurde.134 Autoren aus dem Norden stimmten in diesen literarischen Revisionismus, wie Catherine Clinton das Phänomen nennt, mit ein. Gerade Journalisten aus dem Norden, die Reiseberichte über den Süden für große Zeitungen wie Scribner’s oder Century verfassten, waren für eine romantisierende Perspektive auf den Süden anfällig. Ihre Leser wollten in der Exotik und Romantik des Antebellum-Plantagenlebens schwelgen, die in den Mythen des Alten Südens anklangen.135 Gleichzeitig traf die Identifizierung des Südens mit 131 | Vgl. Annette Kolodny, The Lay of the Land: Metaphor as Experience and History in American Life and Letters (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1975), die am Beispiel des zu kolonisierenden Landes die Metapher der Natur als Frau untersucht. 132 | Die gesamte warme und blühende südstaatliche Landschaft erschien nordstaatlichen Reisenden häufig als feminin, während sie die Südstaatenschönheiten als Inkarnation eben dieser Landschaft und damit auch eines viktorianischen Idealbildes von Weiblichkeit priesen, vgl. Nina Silber, The Romance of Reunion: Northerners and the South, 1865-1900 (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1993), 84-89. 133 | Clinton, Tara Revisited, 192. 134 | Ebd., 193. 135 | Zur Rolle von bekannten Zeitschriften wie Harper’s Monthly – in der auch Julian Ralph publizierte –, Century, Scribner’s oder Lippincott’s bei der Verbreitung rekonziliatorischer Literatur, die den Alten Süden verklärte, vgl. Blight, Race and Reunion, 216-17.

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einer weißen Frau, die in den Wirren des Krieges Unmenschliches zu erdulden hatte, einen Nerv der Nachkriegszeit: Es ging schließlich um das Leid einer weißen Frau. Weniger die einfallenden Yankees, als die zu befreienden/befreiten Sklaven erschienen in dieser gesamtamerikanischen Sicht als die Ursache ihres Leids. Auch in dieser erweiterten Version des southern belle-Mythos, der eine ganze Stadt als solche definierte, war folglich Rassismus der bindende Faktor.136 »Southern literature and Northern journalism began to converge into a single ideological flow of racist invective. Northern audiences were softened by decades of Southern tales of white suffering«137, bringt Clinton das Zusammenspiel von rassistischer Grundhaltung und historischem Revisionismus auf den Punkt. Während im Mythos der southern belle jedoch primär eine Selbstlegitimierung und Männlichkeitsaffirmation der weißen Männer des Südens stattfand, die im Norden auch auf Verständnis stieß, so machte die Vorstellung des gesamten Südens als Frau die Legenden des Alten Südens für das nordstaatliche Publikum noch attraktiver, weil sie bestimmte Geschlechterrollen implizierte. Auf der Basis des rassistischen common ground, der dem Bild des Alten Südens und dem Mythos der Lost Cause unterlag, konnte sich das weiße Amerika aus Nord und Süd aussöhnen – aber eine gewisse Hierarchie blieb dank der Geschlechterkonnotationen erhalten. So wie die Südstaatenschönheit von ihrem heldenhaften Aristokraten in der Confederate Army gerettet werden musste, so reichte der siegreiche, dominierende, weiße Norden dem feminin konnotierten Süden die Hand. Catherine Clinton stellt in ihrer Untersuchung zu den Romanen, die dem Süden Attribute der Weiblichkeit zuschrieben, fest: »These fictions nearly always celebrated a theme of reconciliation, one that featured woman’s submission – a hand in marriage.«138 Wenn nordstaatliche Autoren wie Ralph und Warner daher die Stadt New Orleans in Begriffen beschreiben, die die Weiblichkeit der Stadt betonen und sie als southern belle charakterisieren, dann findet hier auch eine diskursive Unterordnung des Südens unter den Norden statt.139 Zu dieser Hierarchisierung passt eine weitere Implikation des Schreibens über die »famed belles« von New Orleans in blühendem Setting. Ralph schrieb nicht nur einen elitären, weißen, südstaatlichen Mythos fort, der aufgrund einer bestimmten Interpretation der Vergangenheit einer rassistischen Vision der Gegenwart Vorschub leistete. Allein durch die Tatsache, dass er New Orleans in Begriffen beschrieb, die dem diskursiven Feld des legendären Alten Südens entstammten, ordnete er das New Orleans seiner Zeit der Vergangenheit zu, genauer: eben jenem mythischen Zeitalter des Antebellum-Südens. Das New Or136 | Clinton, Tara Revisited, 193-96. 137 | Ebd., 196. 138 | Ebd., 193. 139 | Vgl. Silber, Romance of Reunion, 110-20.

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leans der 1890er erschien dem Beobachter aus dem Norden offenkundig noch Teil des Alten Südens zu sein, und dies implizierte einiges. Die Perspektive des Nordstaatlers auf den Süden, die mit dem southern belle-Diskurs die mythische Überhöhung des Alten Südens fortschrieb, konnte leicht ins Gegenteil kippen, zumal vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Realitäten der 1890er Jahre. Akzeptierte man den Kern der mythischen Gesellschaft des Alten Südens, nämlich ihre anti-materialistische, anti-kapitalistische, quasi-aristokratische Verfasstheit, so konnte dies im Zeitalter der Hochindustrialisierung nicht nur positiv im Sinne einer edlen, noblen, weißen Gesellschaft interpretiert werden. Die Kehrseite der Vision einer ehrenhaften Gesellschaft des Alten Südens war die der ineffizienten, mit der industriellen Moderne nicht mithalten könnenden Gesellschaftsstruktur; der Grat zwischen romantisierender Bewunderung und Verachtung seitens nördlicher Besucher war hier schmal, die Hierarchie zwischen Norden und Süden, die bereits in der Konzeption der Stadt als Frau angelegt war, eindeutig. New Orleans, das war in den Texten dieser Autoren eine wunderbare, attraktive und selbstverständlich weiße southern belle, die aber doch in mancherlei Hinsicht mit den Städten des Nordens nicht konkurrieren konnte, nicht nur weil sie eine Frau war, sondern weil sie auch einer anderen, untergegangenen Ära entstammte und für andere Werte stand. Es verwundert nicht, dass Ralph den Mythos der southern belle bemühte, und nicht den der southern lady, konnotierte der erste doch ein Leben des Feierns und des courtship vor dem Eintritt in den ernsten Hafen der Ehe, kurz, ein Leben in »pursuit of pleasure«140, dem viele Autoren ambivalent gegenüberstanden. Nichts zeigt dies besser als Warners Reflexionen über die Rosen. Obgleich sein Herz von der Allgegenwart der Blumen erfreut wurde, empfand er angesichts ihrer Fülle ein gewisses Unbehagen: »Alas! Can beauty ever satisfy? This wonderful spectacle fills one with I know not what exquisite longing. These flowers pervade town, old women on the street corners sit behind banks of them, the florists’ windows blush with them, friends despatch to each other great baskets of them, the favorites at the theatre and the amateur performers stand behind high barricades of roses which the good-humored audience piles upon the stage, everybody carries roses and wears roses, and the houses overflow with them. In this passion for flowers you may read a prominent trait of the people. For myself I like to see a spot on this earth where beauty is enjoyed for itself and let to run to waste« 141,

140 | Anya Jabour, Scarlett’s Sisters: Young Women in the Old South (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 2007), 120, ausführlicher zu Mythos und Realität der southern belle ebd., 113-34. 141 | Warner, »New Orleans«, 190.

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sinnierte Warner, um allerdings im nächsten Satz den Mangel an »industrial spirit«142 zu beklagen, der verhindere, dass man aus der Fülle an Blumen eine profitable Parfümindustrie heranziehe. Ähnlich wie bei der Analogie zwischen warmem Klima und warmherziger Bevölkerung spiegelten die Blumen die New Orleanser Gesellschaft. Auch hier ist das Klima als Hintergrundakteur und wichtiger Faktor auszumachen: Ohne die für Rosen günstigen Bedingungen hätte sich, so die Grundannahme Warners, dieser »prominent trait of the people« gar nicht ausbilden können, der letztlich dafür sorgte, dass die Blumen die ganze Stadt überzogen. Während Warner einerseits den Rosen selbst agency zuschrieb – »they take possession«143 – und damit New Orleans als blühende, feminin konnotierte Natur charakterisierte, sah er doch auch hinter diesen Rosen gesellschaftliche Akteure stehen, die in diesem »wonderful spectacle« Erfüllung fanden und es aktiv propagierten. Merkmale von Stadtraum und Bewohnern wurden somit miteinander verschmolzen; gesellschaftliche Charakteristika über die Beschreibung des Stadtraums ausgemacht. Die reine Freude an der Schönheit der Blumen kam ihrer Verschwendung gleich und ließ, so Warner, auf das Fehlen jeglichen unternehmerischen Geistes schließen. Damit bemühte er eine Dichotomie, die auch der Vision des New Orleans der 1890er Jahre als southern belle des Alten Südens unterliegt. Eine sektionale Teilung wurde hier in eine temporale übersetzt: Während Städte des Nordens fest in der kapitalistischen, von unternehmerischer Initiative geprägten industriellen Gesellschaft verankert seien – so die unausgesprochene Annahme Warners und Ralphs –, befinde sich New Orleans noch im prä-kapitalistischen, vormodernen Alten Süden. Diese Zuordnung zu unterschiedlichen Zeiten spiegelte das Selbstbewusstsein der nordstaatlichen Autoren. Sämtliche oben genannte Diskurse, mit denen New Orleans beschrieben wurde – sei es als Stadt des Sommers, des Südens oder als Stadt der Blumen –, bzw. deren gesellschaftliche Implikationen von Freundlichkeit, Femininität, Südstaatlichkeit und Fröhlichkeit, zeugen von der diesen Beschreibungen unterliegenden Annahme, dass New Orleans genau nicht den Werten entspreche, die das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben in den USA der 1890er dominierten: dem ambitionierten Unternehmertum des Gilded Age und der Suche nach Ordnung und Effizienz der Progressive Era. New Orleans sei ineffizient und verschwenderisch statt effizient und sparsam, es sei altmodisch und nicht fortschrittlich, es sei rückwärtsgewandt und nicht zukunftsorientiert, Schönheit, Feiern und Entspannen sei wichtiger als wirtschaftlicher Erfolg; die sprichwörtliche »southern sensuality«144 , verkörpert in der southern belle, stand dem Bild kühler Männlichkeit entgegen, die man brauche, um rational und erfolgreich business zu betreiben. 142 | Ebd. 143 | Ebd. 144 | Clinton, Tara Revisited, 207.

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Wollte man das Ganze zugespitzt negativ formulieren, so seien die New Orleanser faul statt fleißig und umtriebig. Auch die oben beschriebenen positiven gesellschaftlichen Charakteristika, die auf die Wärme des Klimas zurückgeführt wurden – etwa Freundlichkeit und Warmherzigkeit – passten letztlich nicht in das Idealbild des amerikanischen Bürgers des späten 19. Jh.s. Warmherzig zu sein, das klang hoffnungslos altmodisch und ineffizient, während es sich doch schickte, kompetitiv und effizient zu sein. Die Kehrseite von Schönheit, Freundlichkeit und Feierlaune war backwardness und lack of industrial spirit. Allgemeine Klischees über ›Süden‹ verschmolzen hier mit spezifischen Südstaatenklischees in einer paternalistisch anmutenden Vision nordstaatlicher Autoren.

N E W S OUTH N E W O RLE ANS Während bei Beobachtern wie Julian Ralph und Charles Dudley Warner Faszination und Überheblichkeit Hand in Hand gingen, gab es in New Orleans selbst radikalere Befürworter einer völligen Abkehr von jeglichen Mythen des Alten Südens: Führende Geschäftszirkel, die nun endlich die Chance für einen wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt gekommen sahen. Damit stand die business community von New Orleans nicht allein. Nach dem Bürgerkrieg und der Wirtschaftskrise der 1870er Jahre verkündeten southern boosters – Unternehmer, Politiker, vor allem auch für ihre Stadt werbende Journalisten – in den 1880er Jahren allenthalben, dass der Süden dabei sei, in wirtschaftlicher Hinsicht einen heilsamen Wandel durchzumachen. Die zunehmende Industrialisierung des Südens, so der Grundtenor, sei auf dem besten Weg, das alte Wirtschaftssystem abzulösen. Das explizite Anpreisen eines neuen, geläuterten und industriellen Südens sollte Kapital aus dem Norden anziehen und es den business communities des Südens endlich ermöglichen, wieder ins Geschäft einzusteigen. Henry Grady, Herausgeber der Zeitung Atlanta Constitution, war es, der den New South Creed 1886 in einer Rede vor der New England Society in New York konkret formulierte.145 Die Ideologie des Neuen Südens nach Grady verband geschickt südstaatliche Selbstachtung mit einer grundlegenden Bejahung des modernen industriellen Systems, mit dem Streben nach industriellem Wachstum und Fortschrittsoptimismus. Aus den Zerstörungen des Kriegs, so Grady, habe sich ein Neuer Süden mit eigener Kraft emporgearbeitet, der seine Selbstachtung trotz der Niederlage nicht verloren habe und sich für nichts entschuldigen müsse, da er mit der Niederlage genug gebüßt habe. Dieser Neue Süden erkenne das Unrecht der Sklaverei an und partizipiere nun mit ganzer Kraft 145 | Den Begriff des »New South Creed« prägte Paul M. Gaston, The New South Creed: A Study in Southern Mythmaking (Montgomery: New South Press, ²2002) in den 1970er Jahren.

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an der die Union zur Blüte führenden Industriemoderne.146 Der New South Creed propagierte damit letztlich die sektionale Aussöhnung auf Basis eines gemeinsamen, industriellen Wirtschaftssystems und die Integration eines modernisierten Südens in die Industrienation Amerika, ohne einen gewissen Südstaatenpatriotismus und das Gefühl der Distinktion aufzugeben. Man könne stolz auf den Süden sein, der sich trotz aller Widrigkeiten wieder aufgerichtet habe und nun bereit sei, nach vorne zu schauen und die Hand nach Norden auszustrecken. Der Alte Süden blieb dabei zwar auch für die Ideologen des New South ein heroisches Konstrukt, das aber definitiv der Vergangenheit angehörte.147 Dementsprechend deuteten die Anhänger der Ideologie des New South auch den Begriff der southernness um, der für sie nicht mehr mit der mythischen Gesellschaftsordnung des Alten Südens konnotiert war, sondern den fortschrittlichen, industriellen, kapitalistischen und modernen Süden bezeichnete.148 Diese Haltung implizierte, anders als der Mythos der Lost Cause und die femininen Konnotationen des Südens, eine Gleichwertigkeit von Nord und Süd. Unter dem Banner der Industriemoderne waren alle gleichwertige Geschäftspartner, die weiß und männlich waren. In diesem Kontext der Ideologie des New South ist auch die Geschäftswelt von New Orleans zu verorten. Gerade die Association of Commerce war führend in dem Bemühen, New Orleans zu einer progressiven, modernen Stadt zu machen. Knapp 20 Jahre nach Henry Gradys programmatischer Rede zum Neuen Süden lassen sich im Balkonstreit von 1914 immer noch diese unterschiedlichen Konzepte von southernness greifen. Während die Balkonbefürworter, etwa die Leitartikler des Item, explizit mit dem südlichen Charakter der Balkone argumentierten, war es keinesfalls so, dass Edgar Stern und seine Mitstreiter für eine Neugestaltung der Canal Street jeglicher southernness abschworen. Nur weil ihre Referenzpunkte in Dallas oder gar Oklahoma City lagen, hieß das nicht, dass ihnen ein typisch südlicher Charakter nicht am Herzen lag. Nur sollte dieser, wie bereits erwähnt, anders aussehen und nicht die Form von alten, altmodisch wirkenden Balkonen annehmen. Die vom Committee on Canal Street Beautifying ins Spiel gebrachten »boxes of semi-tropical plants«149 zur »preservation of the typical ›southern atmosphe-

146 | Vgl. Ayers, Promise, 20-21. 147 | Vgl. Cobb, Away Down South, 67-68. 148 | Ausführlicher zu Grady und dem Entstehungskontext des New South Creed in Atlanta vgl. Harold E. Davis, Henry Grady’s New South: Atlanta, a Brave and Beautiful City (Tuscaloosa: University of Alabama Press, 1990). 149 | »Report of the Committee on Canal Street Beautifying«, 8.5.1914, in: UNO/LaSC, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, Mss 66, 66-16 clasp vol. Dec. 16-Jan. 11 1915.

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re‹«150 können für diese neue Vision paradigmatisch stehen. Die Art der Vegetation sollte für alle sichtbar deutlich machen, dass es sich bei New Orleans um eine Stadt des Südens handelte. Wo sonst gab es subtropische Pflanzen? Allerdings war dies eine ganz andere Art, Blumen im öffentlichen Stadtraum einzusetzen, als jene, die die Kommentatoren aus dem Norden so fasziniert hatte. Diese subtropischen Pflanzen sollten nicht die Stadt überwuchern, nicht von ihr Besitz ergreifen, nicht sich an den Häusern emporranken, nein, sie gehörten fein säuberlich in Blumenkübel, die in regelmäßigen Abständen vor die Fenster der Erdgeschosse gesetzt werden sollten. Nicht umsonst betonte das Committee, es wolle sich um »unanimous action«151 bezüglich der Pflanzenboxen bemühen, damit ja alle Hausbesitzer dem zustimmten und eine ordentliche Abfolge identischer Blumenkübel die Canal Street verschönere, und nicht etwa eklektische, individualistische Blumentöpfe mal hier, mal dort. Warners wildgewordene Rosen, die von den der Schönheit bedingungslos hingegebenen Einwohnern so im Überfluss in der Stadt verteilt wurden, dass es schien, als überfluteten sie ganz New Orleans, fanden hier ihr zahmes Gegenüber: die domestizierte subtropische Pflanze, von Geschäftsleuten zweckmäßig zur Erzeugung südlicher Atmosphäre adrett in Kübeln begrenzt und auf dem Bürgersteig errichtet, kleine Stücke beherrschter Natur, die eine gezielte Funktion im Stadtraum erfüllen und damit der Logik des gebauten Raums völlig untergeordnet sein sollten. Gesellschaftliche Analogien zu den flirrenden, blühenden Sträußen von southern belles jedenfalls boten sich angesichts dieser Art von Vegetationsbegrenzung nicht mehr an.

»A GGRESSIVE , PROGRESSIVE «? Die Modernität der Städte des Nordens und des Mittleren Westens war es, die die Mitglieder der Association of Commerce faszinierte. Im selben Bericht an den Bürgermeister, in dem das für die Neugestaltung der Canal Street verantwortliche Committee vorschlug, subtropische Pflanzen als südliche Stimmungsmacher auf die Bürgersteige zu stellen, erläuterte es auch seine Beweggründe für den Abriss der Balkone. Die Canal Street solle in einer solchen Weise verschönert werden, dass ihr äußeres Erscheinungsbild der Bedeutung der Hauptgeschäftsstraße einer »aggressive, progressive, attractive and beautiful city« 150 | Ebd. Über diesen Vorschlag berichten auch »Canal St. Fight is inaugurated before Council«, in: Times-Picayune, 6.5.1914 und »A definition and an endorsement«, in: Item, 8.5.1914. 151 | »Report of the Committee on Canal Street Beautifying«, 8.5.1914, in: UNO/LaSC, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, Mss 66, 66-16 clasp vol. Dec. 16-Jan. 11 1915.

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entspreche, die alle Besucher beeindrucken solle; und das bedeute zunächst einmal, dass man die Balkone loswerden müsse.152 Klarer hätte die Association of Commerce ihre Position nicht formulieren können. In diesem einen Satz artikulierte die A of C ihre Vorstellung des Charakters von New Orleans, die Rolle, die Canal Street in dieser Vision einnehmen sollte sowie die konkrete ästhetische Form dieser Vision. New Orleans sollte für die business community attraktiv und schön sein, vor allem aber – das wurde zuerst genannt – aggressiv und fortschrittlich. Hierin findet sich die typische Rhetorik der boosters des Neuen Südens wieder, die ihre Stadt als ernstzunehmenden Spieler im Kampf der Städte um wirtschaftlichen Erfolg positionieren wollten. New Orleans sollte eine fortschrittliche Stadt sein, die obendrein noch von angriffslustigem Geist, von Dynamik und Energie geprägt war. New Orleans, so der Grundtenor, sei am Anfang des 20. Jh.s eine Stadt, die durchaus konkurrenzfähig sei, und Canal Street sollte genau das sichtbar ausdrücken. Dass die A of C dies so betonen musste, hat mit eben jenen Eigenschaften zu tun, die New Orleans oft zugeschrieben wurden – mit jener Warmherzigkeit, Feierlaune und Weiblichkeit eines in mythischer Vergangenheit angesiedelten, blühenden Sommerparadieses, das so gar nicht dem New South-Bild eines mit den Städten des Nordens und Mittleren Westens um den Wohlstand der Gegenwart aktiv konkurrierenden Mitspielers entsprechen wollte. Das Unbehagen an den oben genannten Zuschreibungen wuchs in der business community von New Orleans zunehmend mit dem Eintritt in ein neues Jahrhundert; die möglichen negativen Konnotationen dieser Zuschreibungen rückten in den Vordergrund. Hatte die Chamber of Commerce noch 1894 mit Attributen wie Freundlichkeit geworben, so nahmen solche Selbstzuschreibungen in den Folgejahren immer weiter ab. In den Äußerungen der Association of Commerce anlässlich des Balkonstreits findet sich geradezu eine Phobie jeglichem Historischen gegenüber, das als altmodisch wahrgenommen werden könnte. Edgar Stern etwa warf den Balkonanhängern vor, die Balkonfrage unter einem »picturesque viewpoint« zu betrachten, »as the antique appeals to their artistic sense«153 . Die Times-Picayune fasste seinen Standpunkt zusammen: »He said New Orleans suffers from being regarded as behind the times, whereas it should have the reputation of not only being a place where a fine meal may be procured, but of being a modern, progressive city.«154 Stern kontrastierte damit genau die zwei unterschiedlichen Auffassungen von dem, was New Orleans sein sollte: Stadt des Genießens oder Stadt der Moderne. New Orleans solle nicht auf den Ruf als Stadt des Genusses beschränkt sein, sondern zusätzlich für seine Fortschrittlichkeit und Modernität bekannt werden. Dazu seien Dynamik und Wandel unerlässlich. 152 | »Canal St. fight is inaugurated before council«, in: Times-Picayune, 6.5.1914. 153 | Ebd. 154 | Ebd.

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Gerade Canal Street, als Haupteinkaufsstraße und common turf der community von New Orleans, musste diesem Ideal entsprechen. Dies war die Straße, die Besucher sahen, die potentielle Investoren und Geschäftspartner beeindrucken musste; sie stand gewissermaßen für den spirit der Stadt. Folglich musste sie auch so aussehen, dass jeder New Orleans als ›aggressiv‹ und progressiv identifizieren konnte. Alte Balkone aber waren so ziemlich das Letzte, das diese Modernität in den Augen der A of C repräsentierte. Dementsprechend bemüht waren Stern und andere Balkongegner, in ihren Tiraden gegen die Balkone die Modernität ihres Gegenentwurfs herauszustreichen und diesen als geradezu unausweichlich darzustellen. Markisen etwa erschienen in dieser Rhetorik als die Inkarnation der Modernität. Das Committee on Canal Street Beautifying betonte, es befürworte Markisen »of a modern type« statt Balkone zum Schutz vor Sonne und Regen.155 Der Item berichtete, wie Allison Owen in einem Hearing die Mitglieder der Newcomb School of Art von den Balkonen abzubringen suchte: »Major Owen told of the desire of the anti-balconyites to supplant the ›out of date‹ balconies with modern, harmonious marquees, saying these would furnish all protection needed from sun and rain, and would add to the beauty of the thoroughfare.«156 Zudem sollten die Balkone »in the interest of appearance, safety, better light and ventilation«157 weichen. Nicht nur seien sie altmodisch, sähen schlecht aus und seien vom Einfallen bedroht, sondern sie behinderten der A of C zufolge auch die Luftzirkulation und eine adäquate Beleuchtung der Straße. Blieben die Balkone, so würde es schwierig »to properly light the street with modern lights«158, bemerkte Mr. B. Kreeger vom Canal Street Committee der A of C. Obendrein würden die Balkone nicht nur adäquates Licht auf der Straße verhindern, sondern auch das Sonnenlicht aus den Geschäften heraushalten, deren Front von einem Balkon überdacht waren. Das sei, so Kreeger, von den »old-time merchants« als Vorteil angesehen worden, aber »the modern, progressive merchant wants his customers to see what they are buying«159. War das Argument des Erscheinungsbildes leicht auf Basis einer anderen ästhetischen Vorstellung anzuzweifeln, so ordnete sich die Argumentation mit der Notwendigkeit von Sicherheit, Licht und Luft in einen Funktionalitätsdiskurs ein, der auch schon die Argumentation mit den klimatischen Bedingungen getragen hatte und weniger leicht in Frage zu stellen war. In ihrem Bericht an den Bürgermeister wagte die

155 | »Report of the Committee on Canal Street Beautifying«, 8.5.1914, in: UNO/LaSC, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, Mss 66, 66-16 clasp vol. Dec. 16-Jan. 11 1915. 156 | »Art and Business beauty ideas clash«, in: Item, 20.5.1914. 157 | Ebd. 158 | »Canal St. fight inaugurated before council«, in: Times-Picayune, 6.5.1914. 159 | Ebd.

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A of C sogar die These, dass der »natural path of progress«160 all diese Veränderungen im Sinne von Licht, Luft, Sicherheit und Schönheit sowieso früher oder später hervorbringen würde, die Balkone damit in jedem Fall dem Untergang geweiht seien. Eine entsprechende städtische Verordnung könne den Prozess jedoch beschleunigen und ihm eine gewisse Uniformität geben.161 Die A of C ließ so ihre Vorschläge für Canal Street als objektive, moderne Notwendigkeiten erscheinen, ohne diese zu hinterfragen oder näher zu erklären. Warum war es besser, Markisen zu verwenden, nur weil sie »modern« waren? Wieso behinderten die Balkone die Luftzirkulation? Was war eine »proper« Beleuchtung der Straße? Und wieso war es gut, Geschäfte mit Licht zu durchfluten? Indem die A of C ihre Pläne als dem natürlichen Lauf der Fortschritts entsprechend darstellte, suggerierte sie zudem deren Unausweichlichkeit ebenso wie deren inhärente Fortschrittlichkeit und die Notwendigkeit, diesen unausweichlichen Fortschritt bereitwillig anzunehmen. Dahinter steckten eine Reihe unausgesprochener Annahmen über den Charakter von New Orleans und seinen Ausdruck in der Gestaltung von Canal Street. Notwendig war es ganz offensichtlich für die A of C, Canal Street ein modernes, fortschrittliches Aussehen zu verleihen. Das war die zentrale Annahme, die der A of C so unhinterfragbar erschien, dass sie das Argument der Modernität, etwa bei den Markisen, als schlagendes Argument einsetzte, ohne weiter zu erläutern, wieso Modernität an sich ein erstrebenswertes Ziel war. Das Ideal der Modernität schien der A of C offenbar so unhinterfragbar, dass sie davon ausging, damit ihre Gegner gewinnen zu können: Wer würde sich schon gegen Modernität aussprechen? Modernität erscheint hier als weithin akzeptiertes Ziel um ihrer selbst willen. Als besonders modern und fortschrittlich wurden die hellere Beleuchtung von Straße und Geschäften sowie die Zirkulation von Luft präsentiert. Beides konnte mittels moderner Technologien erreicht werden – und genau das wiederum trug zum modernen und fortschrittlichen Anstrich des hellen Lichts und der zirkulierenden Luft bei. In dieser Art und Weise, wie sich Modernität gestalten sollte, bewegte sich die A of C in einem Diskurs, der das Sprechen über Stadtraum im späten 19. und frühen 20. Jh. nicht nur in New Orleans prägte. Sowohl das Ideal der Helligkeit als auch das Ideal der reibungslosen Zirkulation galten hierin als Chiffren für eine erstrebenswerte Modernität. Sie wurden in einer binären Opposition zum Alten, Altmodischen gesehen, das mit Dunkelheit und Stagnation assoziiert wurde. Modern, das war das Neue, das Zeitgemäße, das in die Zukunft Weisende, das aber nicht nur beschreibend verwendet wurde, sondern durchaus auch normativ, denn das Moderne war zugleich das Gute, Erstrebenswerte. Ganz eindeutig war die Moderne mit ihrer Klarheit und Helligkeit sowie mit 160 | Ebd. 161 | Ebd.

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ihrem steten Fortschreiten dem Alten, Traditionellen vorzuziehen; die binäre Opposition implizierte eine klare Wertung. Der gute Stadtraum war für viele urban boosters um 1900 der, der hell war und in dem die Luft zirkulieren konnte; mittels modernster Techniken konnten diese Ideale realisiert werden.162 Dieses Idealbild der modernen Stadt gründete in dem Bedürfnis, in die vielerorts als chaotisch, ungeordnet und undurchschaubar empfundene Großstadt der Industriemoderne des späten 19. Jh.s Klarheit zu bringen, sie zu erleuchten, sie zu verstehen. Die Sprache des Lichts hat, wie Barbara Hooper in ihrer Studie zu Paris festgestellt hat, daher nicht nur eine physische Dimension, die sich auf das visuelle Erscheinungsbild der Stadt beschränkt, sondern immer auch eine gesellschaftliche: Letztlich stand dahinter das Ideal einer Kultur des Sehens, Verstehens und Wissens, in der nichts unscharf und undurchschaubar blieb, in der alles unter Kontrolle war.163 Kreegers Bemerkung über die Kaufleute aus alter Zeit, denen es gar nicht wichtig war, dass die Kunden sahen was sie kauften, kann hierfür exemplarisch stehen. Helligkeit und Licht bedeuteten auch im übertragenen Sinne Transparenz. Nicht umsonst wurde zudem fehlende elektrische Straßenbeleuchtung häufig als Ursache für urbane Kriminalität genannt.164 Canal Street musste erleuchtet werden, damit die business community von New Orleans eine Paradestraße des geordneten, sicheren Stadtraumes vorweisen konnte, auf der sich konsumierende Touristen wie Geschäftspartner und potentielle Investoren gleichermaßen wohl fühlen könnten. Abgesehen davon konnte man allein durch den Besitz moderner Straßenlampen und heller Räume Modernität signalisieren, da diese Technologien und ihre Effekte sich als Chiffre für Modernität geradezu verselbständigt hatten.165 Die A of C unterwarf damit die ästhetische Gestaltung der Canal Street einer Logik des Marktes und des Warenaustausches, die als der Inbegriff von Modernität verstanden wurde. Auch das ständige Reden über Zirkulation fügte sich in dieses Verständnis von Modernität mit ein. Das Ideal des Fließens und sich Bewegens blieb dabei nicht nur auf Luft bezogen. Die unterschiedlichsten Bereiche einer Stadt sollten von Zirkulation geprägt sein. Luft sollte stetem Austausch unterliegen, Straßen162 | Zur Faszination von elektrischer Straßenbeleuchtung Mark J. Bouman, »Luxury and Control: The Urbanity of Street Lighting in Nineteenth-Century Cities«, in: Journal of Urban History 14 (1987), 7-37. 163 | Vgl. Barbara Hooper, »The Poem of Male Desires: Female Bodies, Modernity, and ›Paris, Capital of the Nineteenth Century‹«, in: Leonie Sandercock (ed.), Making the Invisible Visible: A Multicultural Planning History (Berkeley: University of California Press, 1998), 227-54, hier 234. 164 | Vgl. Bouman, »Luxury and Control«, 14. 165 | Zur Symbolik des elektrischen Lichts im Stadtraum vgl. David Nye, Electrifying America: Social Meanings of a New Technology, 1880-1940 (Cambridge: MIT Press, 1990), 29-84.

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verkehr sollte fließen, Frischwasserzufluss und Abwasserabfluss gewährleistet sein, Fußgänger sollten auf den Bürgersteigen reibungslos vorankommen können, Waren und Güter sich ebenso wie Besucherströme in die Stadt hinein und wieder hinausbewegen; Stagnation war in jeglicher Hinsicht die Horrorvorstellung, die in den unzähligen Lamenti über die Verstopfung – congestion – der Straßen ihren anschaulichsten Ausdruck fand. Die moderne Stadt war von Dynamik geprägt, nicht von Verharren und Ruhe; der Fortschritt sollte im Fortschreiten realisiert werden. Dazu waren technologische Netzwerke vonnöten, die das Fließen in geordnete Bahnen leiten und somit auch zur rationalen Durchstrukturierung des urbanen Raums beitragen sollten.166 Markisen und die Zähmung subtropischer Vegetation in Blumenkübeln stellten folglich für die Anhänger einer Neugestaltung von Canal Street die New South southernness dar, eine Südlichkeit, die nicht mehr die Bilder des Alten Südens und die mit diesen Bildern transportierten Gesellschaftsvorstellungen evozieren konnte. New Orleans war nicht mehr die schutzbedürftige belle eines längst vergangenen Zeitalters, war nicht mehr feminin, warmherzig und von Blumen durchtränkt. Eine Stadt des Südens war es wohl, aber nur im streng geographisch-klimatischen Sinne insofern, als hier subtropische Vegetation gedeihen konnte. Diese war aber gezähmt und eingedämmt, denn New Orleans war, dieses Bild sollte erweckt werden, ebenso aggressiv und progressiv wie die konkurrierenden Städte anderer Regionen der Vereinigten Staaten. Dass ausgerechnet in New Orleans die business community geradezu panisch befürchtete, für altmodisch gehalten zu werden und an einem neuen Bild der Stadt arbeitete, kam nicht von ungefähr. Im nationalen Vergleich büßte New Orleans zwischen 1870 und 1910 sechs Plätze in der durch das U.S. Bureau of the Census erstellten Rangliste der größten Metropolen ein und fiel von Platz 9 auf Platz 15 zurück.167 Auch wenn solche Daten mit Vorsicht zu genießen sind, da das drastische Bevölkerungswachstum der Städte häufig auf Annexionen kleinerer Gemeinden aus dem Umland zurückzuführen ist, erlauben die Statistiken dennoch Rückschlüsse auf die relative Position von New Orleans im Kreis amerikanischer Metropolen. Offenkundig schaffte es die ehemalige Queen City of the South in den Dekaden nach dem Bürgerkrieg nicht, in dem Maße zu expandieren, wie es anderen Städten gelang, was auf eine geringere Anziehungskraft als Wirtschaftszentrum schließen lässt – letztlich waren auch Eingemeindungen Ausdruck der Strahlkraft eines metropolitanen Zentrums 166 | Zur Symbolik des Fließens in der Großstadt und zu den diesen Fluss ermöglichenden technologischen Netzwerken vgl. Maria Kaika, City of Flows: Modernity, Nature, and the City (New York: Routledge, 2005), 28. 167 | Daten für 1870: www.census.gov/population/www/documentation/twps0027/ tab10.txt, Stand 27.6.2010; für 1910: www.census.gov/population/www/documenta tion/twps0027/tab14.txt, Stand 27.6.2010.

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auf die umliegenden Siedlungen. Zieht man zum Vergleich Daten aus der Zeit vor dem Bürgerkrieg heran, so erscheint der relative Niedergang von New Orleans noch drastischer: Im Jahr 1860 befand sich die Stadt in den Dokumentationen des Zensusbüros gar auf Platz 6 nach New York City, Philadelphia, Brooklyn, Baltimore und Boston.168 Nicht umsonst richteten sich zudem die neidischen Blicke etwa eines Edgar Stern nicht nur auf den Westen oder Norden, sondern auch auf andere Städte des Südens wie Dallas. Konkurrierende Südstaatenmetropolen etablierten sich in der Zeit nach dem Bürgerkrieg erfolgreich als Industrie- und Handelszentren und liefen New Orleans den Rang als führende Stadt des Südens ab. Vor dem Bürgerkrieg hatte New Orleans als Hafen- und Handelsstadt ein goldenes Zeitalter erlebt. In der legendären Ära der Mississippi-Dampfer hatte sich die Stadt als unangefochtene Queen City of the South einen Namen gemacht, deren wirtschaftlicher Erfolg in ihrer Funktion als zentraler Verkehrsknotenpunkt im maritimen Transportnetz gründete. Mit dem Eisenbahnzeitalter, das nach dem Bürgerkrieg auch im Süden Einzug hielt, hatte die Stadt ihre Schwierigkeiten. In New Orleans selbst schob man allerdings das Ende des Goldenen Zeitalters der Stadt gern auf den Bürgerkrieg und die Besetzung der Stadt durch Unionstruppen im Jahr 1862. Der Geograph Peirce Lewis beschreibt dieses Phänomen, das er mit Robert Penn Warren »the great Alibi« nennt, anschaulich: »Whole Mississippis of tears have been wept over the event [the Civil War], but the teardimmed eyes failed to see that the city’s decline resulted from nothing more romantic than an upheaval in the technology of transportation. On the horizon to the north was a cloud no larger than a man’s hand, issuing from the smokestacks of the new steam locomotives that were hauling goods directly from the Midwest across the mountains to the Atlantic Coast, or, more cheaply, to the Great Lakes ports, whence goods were taken east by the Erie and other canals.«169

Nach wie vor setzten die führenden Kreise von New Orleans auf die traditionelle Schifffahrt, was auch zum Teil berechtigte Gründe hatte. Gerade schwere Güter, deren Transport nicht eilte, wurden weiterhin über New Orleans von West nach Ost geleitet. Getreide aus dem Mittleren Westen gehörte ebenso dazu wie Kohle aus den Kohlefeldern von Illinois und Kentucky; in Bezug auf diese Güter hatte New Orleans um 1900 nahezu ein Handelsmonopol errichtet.170 Parallel entwickelte sich seit den 1870er Jahren jedoch ein integriertes Eisenbahnnetz im tiefen Süden, als dessen Knotenpunkt sich New Orleans allerdings nur recht 168 | www.census.gov/population/www/documentation/twps0027/tab09.txt, Stand 27.6.2010. 169 | Lewis, New Orleans, 53. 170 | Ebd., 55.

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zögerlich zu etablieren suchte, die Rolle der neuen Transporttechnologie wohl unterschätzend.171 Andere Städte kamen New Orleans zuvor. Während Chicago und St. Louis die midkontinentale Region dominierten, beraubte Atlanta New Orleans seiner Führungsrolle als Verkehrsknotenpunkt des Südens und entwickelte sich zum Eisenbahndrehkreuz schlechthin für den gesamten östlichen Süden.172 Atlanta wies 1910 zwar immer noch nicht einmal halb so viele Einwohner wie New Orleans mit seinen 339 075 Einwohnern auf,173 doch war die Kürze des Zeitraums beeindruckend, innerhalb dessen die Stadt Bedeutung erlangt hatte. Zwischen 1870 und 1910 schnellte Atlanta sprunghaft von Platz 61 auf Platz 31 der Rangliste der größten Metropolen vor und vervielfachte seine Einwohnerzahl im selben Zeitraum von 21 789 auf 154 839.174 Dementsprechend war es auch Atlanta, das die Imagination des Neuen Südens beflügelte. New Orleans stand für die Wirtschaftskraft des Alten Südens, für die nunmehr legendäre Ära der Dampfschifffahrt; Atlanta hingegen stieg zur Idealstadt der southern boosters der Postbellum-Ära auf. Diese Stadt verkörperte die Vision eines modernen, industriellen, kapitalistischen und kompetitiven Südens; sie war das »symbolic heart of the New South«175 . Neben Atlanta gingen auch weitere urbane Sterne am Südstaatenhimmel auf, die für New Orleans allesamt eine ernste Konkurrenz darstellten. Zwar blieb New Orleans vorerst die größte Stadt der Region, einige jüngere Städte beeindruckten jedoch ähnlich wie Atlanta durch ihr rasantes Bevölkerungswachstum, welches prozentual das von New Orleans und den anderen älteren Städten wie Charleston oder Mobile deutlich übertrumpfte.176 Gerade die erfolgreiche Verknüpfung mit Eisenbahnlinien entschied über Wohl und Wehe der Städte im Süden, die sich bis auf Birmingham, Alabama, kaum auf Industrie stützten, sondern als Handelszentren Erfolg erlangten.177 Dallas und Nashville etwa gehörten zu diesen neuen urbanen Zentren. In den Zensuslisten der größten 171 | Ebd., 56. 172 | Ebd. Vgl. Don H. Doyle, New Men, New Cities, New South: Atlanta, Nashville, Charleston, Mobile, 1860-1910 (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 1990). 173 | www.census.gov/population/www/documentation/twps0027/tab14.txt, Stand 27.6.2010. 174 | Zahlen für 1870: www.census.gov/population/www/documentation/twps0027/ tab10.txt, Stand 27.6.2010; Zahlen für 1910: www.census.gov/population/www/docu mentation/twps0027/tab14.txt, Stand 27.6.2010. 175 | Ayers, Promise, 435. 176 | Vgl. die Zensustabelle bei Doyle, New Men, 15. Doyle zeigt, dass die älteren Südstaatenstädte weitaus größere Anpassungsschwierigkeiten an das Wirtschaftssystem des Neuen Südens hatten als jene jungen Städte, die sich überhaupt erst nach dem Bürgerkrieg etablierten und noch keine festgefahrenen Strukturen aufwiesen. 177 | Ayers, Promise, 55-56.

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Metropolen erscheint Dallas erstmalig 1890, und das gleich auf Platz 77 mit 38 067 Einwohnern178,bis 1910 schnellte die Stadt vor auf Rang 58 mit 92 104 Einwohnern179, bis 1920 gar auf Platz 42 mit einer Einwohnerzahl von 158 976.180 Vor allem in der Dekade des Balkonstreits, zwischen 1910 und 1920, hatte die texanische Stadt folglich mächtig zugelegt, was zu den neidischen Blicken aus New Orleans beigetragen haben mag. Im selben Zeitraum wuchs die Bevölkerung von New Orleans von 242 039 (1890), auf 387 219 im Jahr 1920.181 Zwar stellte auch das absolut gesehen einen stattlichen Bevölkerungszuwachs dar. Hinsichtlich des relativen Wachstums jedoch konnte die alte Queen City of the South mit den jüngeren Konkurrentinnen kaum mithalten.182 Allein zwischen 1890 und 1910 nahm die Bevölkerung von Dallas um 142  Prozent zu, die von New Orleans nur um 40  Prozent. Gerade in Dallas bildete sich zudem seit 1910 eine starke lokale Bewegung heraus, die umfassende City Beautiful-Pläne für ihre Stadt forderten. 1912 präsentierte der Landschaftsarchitekt George E. Kessler einen Plan, der Dallas modernisieren und verschönern sowie Verkehrsfragen klären sollte.183 Auch diese Aktivitäten mögen zu dem neidischen Blick aus New Orleans auf die texanische Stadt beigetragen haben. Das Stadtbild zu verändern erschien der business community von New Orleans, wie sie in der A of C repräsentiert war, als ein Mittel, der Stadt einen modernen Anstrich zu verleihen und sie für Investoren und Geschäftsleute attraktiver zu machen; die Modernisierung der Hauptgeschäftsstraße Canal Street war zentraler Bestandteil eines an allen Ecken und Enden der Stadt ansetzenden Reformprogramms, das unter dem Schlagwort des civic improvement zum erklärten Ziel hatte, New Orleans insgesamt schöner und moderner zu gestalten – im Sinne eben jener Leitbilder, die die Association of Commerce mit ihrem Slogan »aggressive, progressive« im Kopf hatte.

178 | www.census.gov/population/www/documentation/twps0027/tab12.txt, Stand 27.6.2010. 179 | www.census.gov/population/www/documentation/twps0027/tab14.txt, Stand 27.6.2010. 180 | www.census.gov/population/www/documentation/twps0027/tab15.txt, Stand 27.6.2010. 181 | 1890: www.census.gov/population/www/documentation/twps0027/tab12.txt, Stand 27.6.2010; 1920: www.census.gov/population/www/documentation/twps0027/ tab15.txt, Stand 27.6.2010. 182 | Übersicht über die Entwicklung der Städte im Neuen Süden bei Ayers, Promise, 55-80. 183 | Zu den City Beautiful-Planungen in Dallas als späte Äußerung der City Beautiful Movement Wilson, City Beautiful Movement, 254-78.

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»F LOOD AND PESTILENCE « Gerade die Beherrschung der für Besucher aus dem Norden wie Charles Dudley Warner und Julian Ralph so faszinierenden Natur der Stadt stellte seit den 1880er Jahren und bis weit hinein in die ersten Dekaden des 20. Jh.s ein grundlegendes Anliegen der führenden Kreise von New Orleans dar. Beschreibungen der Stadt näherten sich New Orleans meist über sein Klima und seine natürliche Umwelt an; diese erschienen als prägend für eine spezifische New Orleanser Identität. Topoi wie der des ewigen Sommerlandes oder der blühenden Stadt gehörten zum Kanon narrativer Annäherungen an die Stadt am Mississippi. Das Beschwören eines angenehmen sommerlichen Klimas und seiner Implikationen, des Reichtums an Blumen, der Warmherzigkeit und Freundlichkeit der Bewohner, des genussreichen Lebensstils »in the open air« sowie der femininen Schönheit der Stadt, stellte die positive Seite der Annäherung über die natürliche Umwelt dar. Im gegenseitigen Wechselspiel erschufen so Beobachter von außen und Texte, in denen die boosters ihre Stadt anpriesen, das Bild von New Orleans als ewig blühendes Sommerland, das von Aussehen und Gesellschaft her southernness at its best inkarnierte; gerade für werbewirksame Repräsentationen nach außen stellten solche Zuschreibungen Pfunde dar, mit denen man wuchern konnte, wie das Buch der Chamber of Commerce von 1894 zeigt. Allerdings waren diese klimatischen Attribute in mancherlei Hinsicht zweischneidig; sehr leicht konnten sie in negative gesellschaftliche Zuschreibungen kippen. Vor allem die business community war vor diesen möglichen Implikationen auf der Hut. Southernness konnte mit der backwardness des Alten Südens identifiziert werden, mit Stagnation und dem Fehlen an unternehmerischem Geist, was den Protagonisten eines Neuen Südens so gar nicht gelegen kam. Über die Veränderungen des Stadtraums suchte man folglich, das Bild eines modernen und fortschrittlichen New Orleans zu erzeugen, das zugleich das Bild einer modernen Gesellschaft des New South transportieren sollte. Dazu gehörte es auch, die von Warner beobachtete, die Stadt gleichsam überwältigende Natur zu bändigen und in geordnete Bahnen zu leiten – abgesehen davon, dass das in einigen Fällen, wie etwa dem Schutz vor Überschwemmungen, schlichtweg eine Frage des Überlebens darstellte. Vegetation in Blumenkübeln war dabei nur ein kleiner Ansatz unter vielen, häufig grundlegenderen Initiativen zur Beherrschung der Natur in der Stadt. Dass die business community von New Orleans so sensibel gegenüber negativen Konnotationen der Diskurse des Sommerlands und der Blumenstadt war, hatte Gründe, die über den bloßen Verlust eines vorderen Platzes in der Rangliste der größten Metropolen hinausgingen. Allzu häufig nämlich wurde New Orleans im Licht seiner natürlichen Umweltbedingungen beschrieben – die aber ganz und gar nicht positiv gedeutet, sondern als furchterregend dargelegt wurden. Allein solch kritische Darstellungen der Umwelt und des Klimas konn-

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ten schon ausreichen, jegliche Geschäftsinitiative von außen abzuschrecken. Sie implizierten zudem immer auch eine Kritik an den Einwohnern von New Orleans, die diese katastrophalen Bedingungen offenbar nicht in den Griff bekamen und dementsprechend nicht fähig sein konnten, ins business des Neuen Südens einzusteigen und mit anderen Städten Schritt zu halten. New Orleanians selbst beschwerten sich in Leserbriefen oder Petitionen an den Stadtrat häufig genug über die Zustände in ihrer Stadt. In regelmäßigen Abständen berichteten die Tageszeitungen über beim Stadtrat und dem Bürgermeister eingereichte Beschwerden von Bürgern aus überfluteten Stadtteilen.184 Ein gewisser Charles Fush etwa forderte 1888 in einem nahezu zynischen Leserbrief an die Daily Picayune die Stadtverwaltung auf, sich doch einmal persönlich ein Bild von dem Zustand einiger Straßen zu machen: » […] try Thalia street, which has water enough for geese and ducks to swim in.«185 Die Natur, vor allem das Wasser, so schien es, hatte New Orleans durchgängig fest im Griff und machte sich daran, das ihr abgerungene urbane Gebiet zurückzugewinnen. Hinter dem beinahe erheiternden Bild der durch Straßen schwimmenden Enten standen zudem ernsthaftere Bedenken, die über die bloße Unannehmlichkeit eines die Straße ersetzenden Wasserlaufs vor der Haustür hinausgingen. Zwei Grundzüge der New Orleanser Umweltbedingungen bildeten den Kern aller Negativzuschreibungen: das heiße, subtropisch feuchte Klima und die Lage in einem Sumpfgebiet. Zusammengenommen schienen Hitze und Feuchtigkeit – die sowohl durch die Regengüsse als auch durch die Präsenz von Sümpfen gegeben war – nach zeitgenössischem Wissen so ziemlich das Ungesündeste darzustellen, was man sich als Ort für eine Stadt vorstellen konnte. Diese Auffassung ging, wie der Geograph Craig Colten in seinem Buch zur Natur von New Orleans feststellt, auf Noah Websters medizinische Abhandlung von 1799 zurück. Webster hatte die Theorie aufgestellt, dass Umweltbedingungen Epidemien auslösten und vor allem jene Gebiete betroffen seien, die regelmäßig überschwemmt wurden.186 In stagnierenden Gewässern, wie etwa in nicht abfließendem Regenwasser oder Sümpfen, könnten, so die im 19. Jh. dominierende medizinische Theorie, organische Abfälle unter Einfluss von Hitze besonders schnell verrotten, wodurch krankheitserregende Dämpfe, sogenannte Miasmen, entstünden.187 Miasmen wiederum wurden für Epidemien verant184 | Etwa »Overflow sufferers«, in: Times-Democrat, 13.3.1888. 185 | »Necessity for Street Improvement«, Letter to the Editor, in: Daily Picayune, 19.11.1888. 186 | Noah Webster, A Brief History of Epidemic and Pestilential Diseases (1799/New York: B. Franklin, 1970). Vgl. Craig E. Colten, An Unnatural Metropolis: Wresting New Orleans from Nature (Baton Rouge: LSU Press, 2006), 34. 187 | Colten, Unnatural Metropolis, 34. Zur Miasmentheorie allgemein vgl. Martin V. Melosi, Effluent America: Cities, Industry, Energy, and the Environment (Pittsburgh:

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wortlich gemacht. Vor allem das Gelbfieber bedrohte New Orleans wiederholt. Seinen Ursprung lokalisierte man in den Sümpfen, die die Stadt umgaben, aber auch in den offenen Abwasserkanälen, die die Stadt netzwerkartig durchzogen. Diese Kanäle stellten im 19. Jh. die einzigen Strukturen dar, die Abwasser aus den Haushalten und überschüssiges Regenwasser auffangen und abführen sollten. Aufgrund der spezifischen Topographie von New Orleans, wo der Mississippi höher lag als die Stadt selbst, konnte das Wasser in diesen Kanälen jedoch nur schlecht auf natürlichem Wege abfließen. Allzu häufig fungierten sie daher als Sammelbecken für Abwasser. Dazu hatten sie die Tendenz, aufgrund der geringen Bewegung des Wassers mit Laub und Straßenmüll zu verstopfen, da sie auch als Abfalleimer missbraucht wurden. In der Hitze entstand so ein übel riechendes Gebräu, das nach zeitgenössischer Vorstellung geradezu perfekt dazu angetan schien, Epidemien auszubrüten. Als »beds of reeking and pestilential rottenness«188 bezeichnete die Daily Picayune 1882 die Kanäle und beklagte unter der Überschrift »Nothing Done Yet Towards Cleaning Out the Drainage Canals«, dass die Stadtverwaltung nichts unternehme, um diese ›Brutstätten der Pestilenz‹ zu reinigen.189 Den gesundheitsgefährdenden Zustand der Kanäle erkannten jedoch auch die staatlichen Autoritäten. Führend im frühen Kampf gegen stagnierendes Wasser war Dr. Joseph Holt, der Präsident des Board of Health des Staates Louisiana, der seit den 1880er Jahren ebenso engagiert wie wortgewaltig einem komplett neuen Abwasser- und Entwässerungssystem das Wort redete. Der Mediziner, der sich in den folgenden Jahren als der lokale Experte für sanitation schlechthin etablierte, befand es für inadäquat, die existierenden Kanäle lediglich regelmäßig zu reinigen, die er in der für ihn typischen bildreichen Sprache als »huge accumulations of seething, bubbling putrescence in sluggish flow, revolting the sight, polluting the air, and an abiding menace to public health«190 bezeichnete. Diese Kanäle könnten ihm zufolge auch bei regelmäßiger Wartung nicht genug leisten, da sie, wie er sich ausdrückte, nicht »scientific«191 seien. Ein umfassendes, wissenschaftlich fundiertes drainage und sewerage System müsse errichtet werden, so Holts Postulat. Bereits 1885 schrieb er in einer grundlegenden Abhandlung über die Sanitary Protection of New Orleans: University of Pittsburgh Press, 2001), 221; Joel A. Tarr, The Search for the Ultimate Sink: Urban Pollution in Historical Perspective (Akron: University of Akron Press, 1996), 10-11. 188 | »Local Sanitation«, in: Daily Picayune, 12.1.1882. 189 | Ebd. 190 | Joseph Holt, The Sanitary Relief of New Orleans: A Paper Read Before the New Orleans Medical and Surgical Association, October 31st, 1885 (New Orleans: Graham&Son, 1885), 6. 191 | Ebd., 5.

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»On account of her geographical position, its [sic!] nearness to the tropic, and location on the edge of the Gulf of Mexico (a vast body of warm water), together with its [sic!] situation on a low swamp or alluvium, New Orleans, of all cities in the United States, requires a most thorough system of drainage and sewerage, as the foundation of health and comfort, upon which her hope of prosperity depends.«192

Holt brachte damit das zeitgenössische Verständnis des Zusammenhangs zwischen dem site der Stadt, vor allem zwischen dessen Hitze und Feuchtigkeit, und den gesundheitlichen Schwierigkeiten auf den Punkt. Gleichzeitig tritt in seiner Aussage eindeutig hervor, weshalb es für die Autoritäten so wichtig war, diese Probleme in den Griff zu bekommen: Letztlich ging es um den Wohlstand von New Orleans, der in nicht geringem Maße von der Fähigkeit der Stadt abhing, ihren Bürgern ein Leben in »health and comfort« zu ermöglichen. Gerade Epidemien trafen die Handelsstadt New Orleans immer empfindlich, weil andere Hafenstädte dann sofort Quarantäne über die Stadt verhängten.193 Genau diese Chance, die Gesundheit der New Orleanians zu garantieren und damit wirtschaftlich zu prosperieren, wollte Holt der Stadt mittels eines neuen Systems von drainage und sewerage eröffnen. Anders als die Tageszeitungen und vielfachen Beschwerden der Bürger, die lediglich den Zustand beklagten, sah er eine grundsätzliche Möglichkeit, den widrigen natürlichen Bedingungen einen Haken zu schlagen. In Holts Vision konnten Sumpf, Hitze und Überschwemmungen dank neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Medizin und technischer Errungenschaften besiegt werden. Dazu allerdings bedürfe es, wie er schrieb, einer großen Anstrengung der Bevölkerung, die den Bau dieser neuartigen Systeme unterstützen und sich dazu der Führung von Experten unterwerfen müsse. Die Einsichtigkeit der Bevölkerung schätzte er dabei optimistisch ein: »The popular sentiment is becoming responsive to the guidance of science, and appreciative of the value of preventive medicine.«194 Selbst Holt verteufelte das Klima von New Orleans nicht durchgängig: Auch er hielt daran fest, dass New Orleans eigentlich durch sein Klima gesegnet sei und nun eben die Bevölkerung sowie die Experten ihren Teil einbringen müssten, um endgültig Wohlstand für die Stadt zu erreichen.195 In flammenden Reden und Pamphleten versuchte er in der Folge, Stadtverwaltung und Bürger von seinen Plänen zu überzeugen. Es verwundert kaum, dass Holt, selbst ein Mediziner, die Führungskraft der Wissenschaft, allen voran der Medizin, propagierte, konnte er sich so doch selbst als meinungsbildender Experte 192 | Joseph Holt, The Sanitary Protection of New Orleans Municipal and Maritime (New Orleans: s.n., 1885), 4. 193 | »The Drainage Canals«, in: Daily Picayune, 13.1.1882. 194 | Holt, Sanitary Protection, 6. 195 | Ebd.

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etablieren, was sicherlich einen guten Teil zu seinem Engagement beigetragen haben mag.196 Die Trockenlegung von Sümpfen sowie die Entwässerung der Stadt schienen somit die beiden Maßnahmen, mit denen man am ehesten der dominierenden Natur zu Leibe rücken konnte, wenn man schon gegen die Hitze nichts tun konnte, außer sie als angenehm zu beschreiben. Gegen Sumpfgebiete konnte man mehr unternehmen, als sie zu negieren, wie es Andrew Morrison in lapidarer Weise in seiner Studie von 1888 tat: »The impression that the climate is unhealthful and that the state [of Louisiana] abounds with pestilence-breeding swamps and morrasses is erroneous.«197 Träume davon, wie gut es New Orleans gehen würde, wenn die Sümpfe einmal trockengelegt wären, prägten die Geschichte der Stadt. Vor allem der sogenannte backswamp, der sich zwischen der Stadt und Lake Pontchartrain erstreckte, war vielen ein Dorn im Auge. Die Aversion gegenüber Sümpfen hatte eine lange Tradition. Bereits in der Kolonialzeit hatten Sümpfe den Ruf als Orte der Pestilenz.198 Später sah man im Rahmen der Miasmentheorie den Ursprung der Gelbfieberepidemie von 1853, die in New Orleans 10 000 Menschen das Leben kostete, im Sumpf hinter der Stadt199; in Folge der Epidemie überlegte man erstmals, wie man den Sumpf trockenlegen könnte – erste Pläne allerdings erwiesen sich als unfinanzierbar.200 Ein Artikel in der Picayune sinnierte 1884, dass alles gut werde, wenn nur dieser Sumpf aufgefüllt werden würde, »for we then get rid of an abominable eyesore and reclaim a locality long since given over to pestilence and make habitable locations for the dwellings of rich and poor, and for the various industries that will spring up in every quarter […].«201 Wertvolles Land galt es der ›Pestilenz‹ abzuringen. Ganz wie die Entwässerung des urbanisierten Territoriums bedeutete für die Zeitgenossen die Trockenlegung des Sumpfes Gesundheit und Wohlstand. Dass es dabei zuvorderst um die Außendarstellung der Stadt ging, um ihre Wirkung auf mögliche Besucher, potentielle Neubewohner und Investoren, geht allerdings auch aus dem Artikel hervor, der weiter spekulierte: »[…] stran-

196 | Zum Bestreben der Ärzte, Einfluss auf die Lokalpolitik vor allem im Bereich der öffentlichen Gesundheit zu gewinnen, vgl. Jon C. Teaford, The Unheralded Triumph: City Government in America, 1870-1900 (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1984), 150-56; 210-13. 197 | Morrison, New Orleans, 6. 198 | Colten, Unnatural Metropolis, 33; vgl. Ann Vileisis, Discovering the Unknown Landscape: A History of America’s Wetlands (Washington: Island Press, ²1999), 33-36. 199 | Colten, Unnatural Metropolis, 36. 200 | Ebd., 43. Ein erstes Projekt stellte Louis H. Pile, Report on Drainage Communicated to the Common Council (New Orleans: Bulletin, 1857), vor. 201 | »Sanitary Talk«, in: Daily Picayune, 26.12.1884.

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gers who visit us imagine a yellow fever germ hid under each bush.«202 Dabei, so der Artikel, würde ganz im Gegenteil das Gebüsch im Sumpf einen Großteil der Miasmen aufsaugen, so dass die Epidemien lediglich in ihrer milden Form auftreten würden. Ein »covering of six feet of soil«203 allerdings könnte den Sumpf einfach unsichtbar werden lassen und so das leidige Problem schlechter Außenwirkung erledigen. Ohne die positive Bewertung von Besuchern und Geschäftspartnern konnte die Handelsstadt New Orleans nicht auskommen; eine Trockenlegung des Sumpfes diente daher nach zeitgenössischen Vorstellungen nur zum Teil der Gesundheit selbst, mindestens ebenso aber dem Darstellen von Gesundheit nach außen sowie der Gewinnung von nützlichem Land für »mechanics und artisans«204 oder für »agriculture and residence«205 und damit der Prosperität der Stadt. Die Geschichte der drainage von New Orleans, wie sie sich seit den 1880er Jahren entwickelte, ist ebenso geprägt vom Optimismus, die ganze Problematik bald in den Griff zu bekommen, wie von steten Rückschlägen und Kontroversen um den Umgang der Stadt mit ihrem Übermaß an Wasser. Gegen die Annahme, dass New Orleans aufgrund von Lage und Klima eine ungesunde und unsichere Stadt war, schrieben im späten 19. und frühen 20. Jh. eine Reihe von boosters an, die programmatisch immer wieder den Beginn einer neuen Ära proklamierten – obwohl tatsächliche Erfolge auf sich warten ließen. Die Entwässerung der Stadt stellte dabei das wichtigste Projekt dar, da der Schutz vor Überschwemmungen und die Beseitigung von Miasmen als Grundvoraussetzungen für ein gesünderes, oder zumindest gesünder wirkendes, damit auch sichereres und letztlich wirtschaftlich erfolgreicheres Leben in der Stadt betrachtet wurden. Ergänzend traten dem drainage-Projekt Pläne für ein Abwassersystem (sewerage) und für Frischwasserzufuhr zur Seite. Ein genauerer Blick zurück auf die Geschichte des drainage system lässt die Diskrepanzen zwischen der Rhetorik des unaufhaltsamen Fortschritts und der tatsächlichen Errichtung des Entwässerungssystems sowie seiner Wirkung deutlich zutage treten. Ebenso lassen sich anhand der Diskurse, die das Reden über drainage prägten, umfassendere Visionen von New Orleans herausfiltern, Visionen von dem, was New Orleans war und was es sein sollte, von der Vergangenheit der Stadt, von ihrer Zukunft und der Rolle, die ihr Verhältnis zur Umwelt dabei spielte.

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Ebd. Ebd. Ebd. »Reclaiming the swamp lands«, in: Daily Picayune, 27.11.1888.

II. Progressive Stadt »F REE FROM WATER «? Im Zuge von Joseph Holts Aufklärungsarbeit gestaltete sich bei den New Orleans wohlwollend gesinnten Besuchern auch der Blick von außen optimistisch. Charles Dudley Warner bemerkte zwar in seinem Reisebericht 1887, dass New Orleans ein drainage-Problem habe, zeigte sich aber zuversichtlich, dass dieses mit wissenschaftlichen Mitteln zu lösen sei und prophezeite ganz im Sinne Holts, dass sich dann das gesamte Land zwischen der Stadt und Lake Pontchartrain in einen wahrhaften Garten verwandeln würde.1 Bereits zwei Jahre später jedoch erlitten die ambitionierten drainage-Protagonisten erst einmal einen Rückschlag. In einer speziell angesetzten Wahl konnten die steuerzahlenden Bürger von New Orleans über die Einführung einer drainage tax abstimmen, die es ermöglichen sollte, ein umfassendes System einzurichten, das der City Surveyor Harrod bereits entworfen hatte.2 Schon im Vorfeld der Wahl heizten die Medien die Stimmung in der Stadt auf, indem sie die Abstimmung zum Votum über die Zukunft von New Orleans stilisierten. Das Wohl der Stadt am Mississippi, so schien es, wenn man die Lokalteile der Tageszeitungen durchblätterte, hing vom Erfolg der drainage tax ab. Wortreich malten die Artikel den katastrophalen Zustand der Stadt aus und kontrastierten ihn mit dem Bild der perfekten Stadt, in die sich New Orleans dank der drainage tax verwandeln würde. Dabei folgten sie den medizinischen Glaubenssätzen der Zeit und verteufelten stagnierendes Wasser als Ursache allen gesundheitlichen Übels. Im Kern stelle die Abstimmung, so die Tageszeitungen, die Bürger vor die Wahl, sich für ein feuchtes und daher ungesundes, oder ein trockenes und daher gesundes urbanes Lebensumfeld zu entscheiden. Freiheit von Wasser bedeute Freiheit von Krankheit: »It is for the tax-payers to decide«, verkündete der Times-Democrat bereits ein halbes Jahr vor der Wahl, »[…] whether they prefer a city of swamp and bog, of stagnant pools and damp, water-soaked soil or one high, dry, free from water, and free from the bronchitis, 1 | Warner, »New Orleans«, 206. 2 | »A plan of drainage for New Orleans«, in: Times-Democrat, 28.11.1888.

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pneumonia, colds and rheumatism, which must survive when the ground, the streets, gardens and houses are damp.«3 Es gab nun einen konkreten Weg zur gesunden Stadt: »We have a plan suggested, which will do for all future time; permanent not temporary; a plan which has no waste, where nothing will have to be undone or changed from year to year, which can be carried on step by step, as the revenues of the city allow, to absolute perfection.«4 Dieser Plan war die Zauberlösung, die die Stadt zur Perfektion führen sollte. Der Glaube an die Wirksamkeit eines auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und technologischen Neuerungen basierenden Plans beherrschte die Tageszeitungen ebenso wie die Reden der Experten. Weniger als für die genauen technischen Details des vorgelegten drainage-Plans begeisterten sich die Meinungsmacher in der Stadt für die Tatsache an sich, einen Plan zu haben. Einen Plan zu haben, das sei das Mittel, das die Stadt aus ihrem Elend befreien werde. Dreierlei unterschied den Plan von vorherigen Vorgehensweisen: Er war nicht piecemeal, wie die bisherigen Versuche, das heißt, es wurde nicht Stück um Stück in einem Patchworksystem improvisiert, sondern umfassend und vorausschauend gedacht. Er war dementsprechend auch nicht temporär angelegt sondern für längere Zeit gültig – für immer sogar; und damit sollte er drittens extrem effizient sein, da nichts rückgängig gemacht werden müsse. Ein Plan faszinierte, weil er die Zukunft antizipierte und es scheinbar erlaubte, die Umwelt von New Orleans nicht nur in der Gegenwart zu beherrschen, sondern auch in der Zukunft. So könne ein irgendwo in der Zukunft lokalisierter Zustand der Perfektion erreicht werden. Der Machbarkeit schienen keinerlei Grenzen mehr gesetzt. Die Teleologie des Fortschritts fand in der Existenz eines Plans ihr perfektes Mittel, um jenen zeitlosen und dem historischen Wandel nicht mehr ausgesetzten Zustand zu erreichen, in dem aller Fortschritt in Perfektion kulminierte. Bereits Ende der 1880er Jahre, so zeigt sich hier, waren für die Progressive Era typische Diskurse in New Orleans am Werk. Piecemeal, temporary und inefficient waren die Begriffe, angesichts derer es führende urbane Schichten um 1900 grauste. Comprehensive, permanent und efficient hingegen schienen die Zauberworte der Zeit, mit denen man dauerhafte Sicherheit und Wohlstand verband. Der grundsätzliche Glaube an durch technische Lösungen und rationale Planung bedingten Fortschritt, hier konkret im Sinne einer Beherrschung der Unwägbarkeiten des New Orleanser Wassers, bis hin zum perfekten Endzustand – der permanenten Freiheit von Bedrohung durch Wasser und Krankheit, dem letztendlichen Wohlstand – kennzeichnete viele der umfassenden public works-Programme der Jahrhundertwende.5 3 | Ebd. 4 | Ebd. 5 | Colten, Unnatural Metropolis, 85. Zum Fortschrittsglauben im Bereich des »sanitary engineering« vgl. Melosi, Effluent America, 227-32; ders., The Sanitary City: Environmen-

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New Orleans, so die drainage tax-Befürworter in den Medien, stehe an einem wichtigen Scheideweg seiner Geschichte, gar vor einer Epochenwende6: Seine Bürger könnten in einer einfachen Abstimmung entscheiden, den Weg des Fortschritts hin zur endgültigen Perfektion einzuschlagen. Ganz wie der Mediziner Joseph Holt sahen auch die führenden Tageszeitungen die Beteiligung der Bürger als unabdingbar – schließlich mussten sie das neue Entwässerungssystem finanzieren –, und ihre Beteiligung galt zugleich als Zeichen ihrer Fortschrittlichkeit. Wer ein Mindestmaß an Wissen habe und einigermaßen aufgeklärt sei, der werde sich schon für die Steuer entscheiden, so die Annahme. Im Versuch, die Bürger wohlwollend zu stimmen, bemühte der Times-Democrat das für die führenden Zirkel der Stadt grauenvolle Bild der New Orleanians als altmodisch und den Fortschritt verweigernd, als energielos und ohne Unternehmergeist, also die Negativseite jener Zuschreibungen, die New Orleans positiv als Stadt des Südens charakterisierten. Seit Jahren, so die Tageszeitung, hinke New Orleans in der wirtschaftlichen Entwicklung hinterher. Drei Ursachen gebe es dafür in der Vergangenheit: Korrupte Stadtverwaltungen, eine von Republikanern dominierte Staatenlegislatur, die die Stadt in die Verschuldung getrieben habe, sowie das drainage-Problem. In typisch progressivistischer Manier verteufelte der Times-Democrat hier die lokale politische Szene, in typisch südstaatlicher Manier die Reconstruction Era, und in typisch environmentalistischer Weise wurde die unbesiegte Natur als Grund allen Übels dargestellt. Diese sei das einzige, gegen das man noch nie vorgegangen sei; diese Möglichkeit eröffne sich nun. Die Zustimmung zur drainage tax würde für Wohlstand sorgen dank besserer Gesundheit, größerer Attraktivität als winter resort, zunehmendem Handel sowie einer Wertsteigerung des Grundeigentums.7 Damit würde den New Orleanians auch die Möglichkeit zu Unternehmertum eröffnet, wo doch bisher ein Großteil der Bevölkerung untätig herumhängen müsse: »Bad drainage and its resulting conditions of mud and filth have kept it [New Orleans] in poverty, and a large part of its population in idleness a great part of their time, and have prevented the proper development of its commerce and manufactures, which would have afforded work to all its population […].«8 tal Services in Urban America from Colonial Times to the Present (Pittsburgh: University of Pittsburg Press, ²2008), 79. Zur allgemeinen Faszination der urbanen Mittelschichten mit Wissenschaft und Technik als Instrumente des Fortschritts und der Neuordnung des Lebens entlang rationaler Strukturen um 1900 vgl. John Henry Hepp IV, The Middle-Class City: Transforming Space and Time in Philadelphia, 1876-1926 (Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2003), präzise Zusammenfassung: 2-12; 209-10. 6 | Etwa: »brightest, greatest era«, in: »To-day’s election«, in: Times-Democrat, 28.5.1889. 7 | »Let the public voice be for health and progress«, in: Times-Democrat, 26.5.1889. 8 | »To-day’s election«, in: Times-Democrat, 28.5.1889.

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Im Neuen Süden der Industriemoderne und des Unternehmergeistes saß das Gespenst des Abgehängtwerdens offenbar fest in den Köpfen der New Orleanser Journalisten – ebenso wie das Klischee der faulen Bevölkerung. Es ging folglich um nicht mehr und nicht weniger, als mit der Annahme der Steuer zu signalisieren, dass New Orleans den Schritt in die Moderne getan hatte und bereit war, eine der führenden Städte der USA in einer neuen Ära zu werden. »The day after to-morrow will be one of the most important dates in the history of New Orleans. That date is destined to commence an epoch of progress and prosperity in keeping with the spirit of this country and this age; or it must decide that our city, with a population opposed to improvement, must keep on until a generation has passed away in its slow, unprogressive pace, marked by lack of energy and enterprise, and by an aimlessness of disposition to reach a desired end.« 9

In dieser Rhetorik erschien als Kehrseite des Fortschritts nicht nur Stagnation, sondern schlichtweg Verfall. Fehlende Entwässerung und das daraus resultierende stagnierende Wasser sowie der Verfall organischer Abfälle – »bad drainage and its resulting conditions of damp, decay and filth«10 – wurden zum Sinnbild für eine stagnierende Gesellschaft, die aufgrund ihrer Untätigkeit und Initiativlosigkeit selbst dem Verfall anheimgegeben war. Stagnation bedeutete, im physischen Raum wie in der gesamtgesellschaftlichen Sphäre, Rückschritt und Auflösung, während das stete Abfließen des Wassers aus der Stadt allgemein für den Fortschritt von New Orleans stand, für eine Stadt in Bewegung. Die Abstimmung über die Steuer wurde zum »contest between health and progress and disease and decay«11 stilisiert; New Orleans hatte die Wahl, in den Neuen Süden des Wohlstands aufzubrechen oder in steten Rückwärtsschritten auf der bereits eingeschlagenen Bahn des Verfalls dem Untergang entgegenzugehen.

»S WAMPED « Mit einer Mehrheit von etwas über 900 Stimmen wurde die drainage tax am 28. Mai 1889 durch die Steuerzahler von New Orleans abgelehnt.12 Bei einer Wahlbeteiligung von 4936 stellte das eine klare Niederlage der drainage-Befürworter dar.13 Die Daily Picayune titelte passend: »Swamped: The Proposed Drainage 9 | »Let the public voice be for health and progress«, in: Times-Democrat, 26.5.1889. 10 | »Reduction in the death rate«, in: Times-Democrat, 27.5.1889. 11 | »Let the public voice be for health and progress«, in: Times-Democrat, 26.5.1889. 12 | »Drainage defeated«, in: Times-Democrat, 29.5.1889. Hier auch die Aufschlüsselung der Ergebnisse nach Stadtteilen. 13 | Ebd.

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and Paving Tax Rejected by a Majority of 932 Votes«14 . Es schien, als habe sich New Orleans für den sumpfigen Verfall und gegen den Fortschritt entschieden. Der Times-Democrat gab sich geradezu trotzig: Drainage bedeute Fortschritt für die Stadt, und war Fortschritt nicht unausweichlich, egal welche Gegner es aus egal welchen Gründen geben mochte? »In this age of industry and progress, the spirit of obstruction and ignorance cannot forever stand in our city’s way. Progress must ultimately triumph.«15 Damit charakterisierte die Zeitung die Gegner der drainage tax als unwissende und hoffnungslose Stolpersteine im Weg des unternehmerischen Geistes der Zeit, die sich sinnlosen Versuchen hingeben würden, den unvermeidlichen Lauf des Fortschritts zu blockieren. Sie seien es, die stagnierten, und es sei nur eine Frage der Zeit, bis sie überrollt würden. Der Fortschrittsoptimismus dieser Zeitung schien keine Grenzen zu kennen. Bei näherer Betrachtung erweisen sich die Gründe, aus denen die Steuer abgelehnt wurde, jedoch durchaus als nachvollziehbar und keinesfalls als das von den Medien heraufbeschworene hinterwäldlerische Votum für ein Verweilen im Überschwemmungsmodus. Prominente Gegner der Entwässerungssteuer erläuterten in den Tagen nach der Wahl in den Zeitungen ihre Position. Victor Mauberret, der die Gegner im 4th ward (zwischen Canal Street und St Louis Street, also im French Quarter, vgl. Abb. 10) angeführt hatte, fasste die drei Hauptkritikpunkte zusammen. Zum einen gab es finanzielle Gründe. Viele empfanden die angesetzte Höhe von three mill als zu hoch, oder die geplante Laufzeit der Steuer von 10 Jahren als zu lang – man solle mit fünf Jahren anfangen und schauen, wie sich die Umsetzung der Pläne gestalte. Zweitens wurde das Fehlen eines demokratischen Elements in der Kontrolle der geplanten drainage-Arbeiten moniert. Mauberret zufolge forderten viele, dass die neu einzusetzenden drainage commissioners vom Volk gewählt werden sollten. Die an die Steuer geknüpften Pläne hingegen sahen vor, die Kommission lediglich mit Repräsentanten der business exchanges zu besetzen. Der dritte Kritikpunkt bezog sich auf den konkreten Ablauf der an die Steuer gebundenen Arbeiten und implizierte ebenfalls Kritik an den Verantwortlichen: Es war geplant, die Steuer nicht nur für drainage, sondern auch für paving einzusetzen, was viele Gegner für unsinnig hielten, da sie der Entwässerung eine deutlich höhere Priorität als dem Straßenpflastern einräumten und es in ihren Augen keinen Sinn machte, Teile der Stadt zu pflastern, solange die Entwässerung nicht umfassend und stadtweit garantiert war. Da das Pflastern der Straßen zudem privaten Unternehmen zufiel, befürchteten viele, dass so ihre Steuergelder in private Hände wandern würden16 – ein für die Zeit typischer Ausdruck der Skepsis 14 | »Swamped: The Proposed Drainage and Paving Tax Rejected by a Majority of 932 Votes«, in: Daily Picayune, 29.5.1889. 15 | »Temporary defeat of the drainage tax«, in: Times-Democrat, 29.5.1889. 16 | »Chance for drainage«, in: Times-Democrat, 31.5.1889.

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gegenüber möglicher Korruption und eventuellen Profiteuren, die das eigene Interesse dem Wohl der Allgemeinheit vorzogen. »Rather than permit or vote taxes to paving rings, I am willing to wade ankle deep – which I have repeatedly done – in water and mud from my house to a street car«17, drückte ein Leserbrief an den Times-Democrat das Misstrauen gegenüber dem Entwässerungsplan aus, worauf der editor konterte: Nichts sei umsonst, irgendjemand müsse wohl Geld verdienen, das sei das Grundprinzip des Lebens.18

Abbildung 10: Einteilung des Stadtgebietes von New Orleans in »wards«, 1880 (Stadtplan: City Archives, New Orleans Public Library). 17 | »How will you do it«, in: Times-Democrat, 18.8.1889. 18 | Ebd.

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Die Gründe, aus denen die drainage tax scheiterte, deuten auf ein verbreitetes Unbehagen an möglichen undemokratischen Strukturen in der Umsetzung des Entwässerungsprojekts hin. Einige New Orleanians befürchteten, dass Vertreter der business community als alleinige drainage commissioners eigene Vorteile im Blick haben und obendrein noch befreundeten Firmen Aufträge zuschustern würden. Eine von allen – steuerzahlenden – Bürgern gewählte Kommission hingegen könne den korrekten Ablauf des Projekts im Sinne der ganzen Stadt garantieren. Letztlich erinnern diese Einwände an das uramerikanische Postulat von no taxation without representation: Die Kontrolle der Bauarbeiten für ein solch umfassendes Projekt müsse bei gewählten Vertretern derjenigen liegen, die mit ihren Geldern diese Arbeiten finanzierten – oder man solle zumindest nicht so viel Geld zahlen müssen. Diese Forderungen einiger Steuerzahler deuten zugleich darauf hin, dass es ganz bestimmte Zirkel in der Stadt waren, die sich dem Ruf der Experten und der Medien nach einem neuen drainage-Plan geöffnet hatten, nämlich die business community, die die Umsetzung des Plans auch zu überwachen gedachte. Offenbar reagierten manche Bürger von New Orleans empfindlich gegenüber der allzu sichtbaren Bindung des drainage-Projektes an bestimmte führende Interessengruppen in der Stadt. Angesichts dieser von den Gegnern genannten Gründe schöpften die Befürworter der Steuer neue Hoffnung. New Orleans’ Bürger waren wohl doch insgesamt fortschrittlich gesinnt und standen geeint hinter dem Plan, die Stadt zu entwässern; das Scheitern der Steuer stellte nicht die bewusste Entscheidung für ein Leben in Rückschritt und Verfall dar. Wenn lediglich die Modalitäten des drainage-Systems für Kritik sorgten, dann sei das Projekt grundsätzlich nicht in Gefahr, zeigte sich sogar der Times-Democrat versöhnlich.19 Unter der gemeinsamen Oberfläche des Rufs nach Fortschritt und seiner Inkarnation im Abfließen des Wassers aus New Orleans hatten sich jedoch Brüche abgezeichnet. Teile der Meinungsmacher in der Stadt schienen nahe daran, andere Teile der Bevölkerung als rückständig abzuqualifizieren; diese wiederum begründeten ihre Renitenz mit dem Generalverdacht des undemokratischen Handelns, mit dem sie die Initiatoren der tax belegten. Aufgrund dieser Brüche wurde der Plan, die Stadt trockenzulegen, zunächst einmal verschoben, und die Enten von New Orleans konnten ungestört weiter ihre Bahnen durch die Straßen der Stadt ziehen.

U MFASSEND UND EFFIZIENT Die Beschwerden der New Orleanians über den Zustand der Straßen glichen in den Folgejahren ganz jenen, die bereits vor der gescheiterten drainage-Initiative bei der Stadtverwaltung eingingen. Unpassierbarkeit sowie Gestank durch sta19 | »A drainage plan«, in: Times-Democrat, 1.6.1889.

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gnierendes Wasser bildeten weiterhin den Grundtenor der Beschwerden. Ganze Straßenblocks verwandelten sich zu Regenzeiten in kleine Seen, und das durchaus auch im repräsentativen business district der Stadt um die Canal Street. In der Nähe des Cotton Exchange etwa lag ein besonders gefährderter Straßenblock, dessen Zustand in den Zeitungen angeprangert wurde. »The block in question lies low, and it naturally becomes the bed of all the mud and litter and refuse carried down in the gutter from blocks above. When a shower of rain comes, the street in the said block is completely overflowed from sidewalk to sidewalk; and, as the water slowly recedes, a vicious alluvial deposit is left behind, covering the entire street, which is rendered nearly impassable by it, and giving out malodorous exhalations of a very pronounced and disagreeable character.« 20

Gerade Straßenzüge, die sich aufgrund der Topographie von New Orleans eher in den tieferen Lagen des Beckens befanden, waren durch das fehlende Entwässerungssystem benachteiligt. Gleichzeitig nahm das Bewusstsein zu, dass ein je lokales Beheben des Problems keine Dauerlösung darstellte. Wie Joseph Holt bereits zehn Jahre zuvor gefordert hatte, sollte ein umfassender Plan her, der das Wasserproblem von New Orleans für immer beseitigen würde. Dazu mussten alle Stadtteile in den Plan mit einbezogen werden. Erst ein »citywide system« könne effizient sein, so die für die Ingenieursprojekte der Progressive Era charakteristische Überlegung.21 Angesichts der zunehmenden Komplexität der modernen Metropolen, angesichts des arbeitsteiligen Wirtschaftslebens, des innerstädtischen Verkehrs, des steten Flusses von Gütern und Personen quer durch die Stadt erkannte man im späten 19. Jh. zunehmend die Verwobenheit der einzelnen Teile einer Stadt; wenn ein Teil litt, dann schadete das der Stadt insgesamt. Auch eine Revolution in der Medizin trug zur Erkenntnis der Interdependenz zwischen den Elementen einer Großstadt bei. Die alte, von environmentalistischem Determinismus geprägte Miasmentheorie konnte die rasche Ausbreitung von Epidemien und Krankheiten in Stadtteilen, die eigentlich ›sauber‹ waren und nach zeitgenössischen Kriterien als ›gesund‹ galten, nicht ausreichend erklären. Die Entdeckung von germs, Keimen, die für die Verbreitung von Krankheiten verantwortlich waren, stellte im späten 19. Jh. einen fundamentalen Paradigmenwechsel im Bereich der public health dar.22 Zwar galten nach wie vor unsaubere, stagnierende, feuchte Umgebungen als krankheitsförderndes Ambiente, jedoch nicht mehr aufgrund der in ihnen entstehenden Miasmen, 20 | »A nauseous block«, in: Times-Democrat, 2.2.1893. 21 | Colten, Unnatural Metropolis, 79. 22 | Ebd., 12. Vgl. Suellen Hoy, Chasing Dirt: The American Pursuit of Cleanliness (New York: Oxford University Press, 1995), 107-10.

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sondern weil sie einen optimalen Nährboden für Keime darstellten. Diese allerdings konnten sich von dort aus auch auf andere Teile der Stadt und deren Bewohner ausbreiten. Folglich konnte man es sich nicht leisten, auch nur einen einzigen Teil der Stadt in einem ›ungesunden‹ Zustand zu lassen.23 Einen Plan hatte Joseph Holt ja schon in den 1880ern gefordert; ein erster Ansatz war in der Abstimmung über die drainage tax von 1889 sang- und klanglos gescheitert. Allerdings war zu dem Zeitpunkt auch kein wirklich konkreter Plan vorgelegt, sondern es waren lediglich die Bürger zu ihrem Finanzierungswillen befragt worden. In den 1890er Jahren hingegen ging man das Ganze andersherum an und arbeitete zunächst an einem elaborierten, den zeitgenössischen Kriterien der Wissenschaftlichkeit standhaltenden technischen Plan. Vor allem staatliche Autoritäten waren bei dieser Initiative die treibenden Kräfte. Den ersten Schritt stellte die Formierung entsprechender bürokratischer Strukturen dar. 1894 verabschiedete die Legislatur von Louisiana ein Gesetz, das vorsah, ein drainage board für die Stadt New Orleans ins Leben zu rufen, welches die Befugnis haben sollte, »to adopt and execute a complete system of drainage«24 . Finanziert werden sollte das Ganze laut diesem Gesetz durch den Verkauf von Lizenzen für Straßenbahnen, durch die Hälfte eines »permanent public improvement fund«, den der Staat Louisiana 1890 der Stadt gewährt hatte, sowie durch eine Eigentumssteuer in Höhe von one mill.25 Dem board wurde umfassende Gewalt zugedacht: Es konnte sogar Enteignungen anordnen.26 Dr. Joseph Holt, der in den 1890er Jahren Präsident der privaten New Orleans Sewerage Company war, die sich zeitgleich mit der Entstehung der drainage-Pläne daran machte, New Orleans mit einem Abwassersystem zu versehen, lobte diese ersten Schritte und zeigte sich nach wie vor in enthusiastischer Weise optimistisch ob der Möglichkeiten zeitgenössischer Ingenieurswissenschaft: »Our predecessors of old never made the slightest attempt to systematically and scientifically drain this city, but contented themselves with cutting an incomprehensible tangle of huge cesspools, called drainage canals, that seemed to begin nowhere in particular and end eventually in the lake […]. Today there is a comprehensive plan for a complete system of drainage, evolved from the minds of the ablest engineers […]. We may safely say that the days of stagnant gutters, of flooded streets and lake Julia [Julia street] are soon to be numbered with miseries past,« 27

23 | Colten, Unnatural Metropolis, 87. 24 | »The Drainage of the City«, in: Daily Picayune, 27.4.1894. 25 | Ebd. 26 | Ebd. 27 | »The Sewerage System makes a start«, in: Daily Picayune, 19.4.1894.

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prophezeite er anlässlich einer Zeremonie zum Baubeginn des von seiner Firma geleiteten sewerage-Systems. Verstopfte Rinnsteine und überschwemmte Straßen, unüberschaubare und sich in ihrem Gewirr dem rationalen Verständnis entziehende Kanäle – die entfernt an die New Orleans verschlingenden Bayous aus Charles Dudley Warners Beschreibung erinnern – symbolisierten hier das Elend der Gegenwart, das aus vergangener Inkompetenz resultiere und aufgrund eines brillanten, umfassenden und vollständigen Plans bald selbst der Vergangenheit angehören werde. Sich den Naturgewalten zu ergeben schien für das New Orleans der Zukunft nicht mehr notwendig: Ein rationales System sollte das Wasser von New Orleans bändigen und in durchschaubare Bahnen leiten.28 Holt wandte hier eine für Experten, businessmen und Lokalpolitiker zu der Zeit typische Rhetorik an, die das Verhältnis der Stadt zu ihrer Umwelt sowie die Geschichte dieses Verhältnisses in einer ganz bestimmten Art und Weise darstellte. Sie alle waren redlich bemüht, die positiven Topoi der klimatischen Zuschreibungen zu propagieren – diese aber nicht nur als naturgegeben erscheinen zu lassen. Das Klima, so der Grundtenor, sei gut und angenehm, und das vor allem, weil mittels modernster Technologien und Wissenschaft, dank der fortschrittlichen Gesinnung der New Orleanians, die negativen Aspekte der Umwelt völlig ausgeschaltet werden könnten und lediglich das Angenehme bleibe. Diese Argumentation findet sich in allen Außendarstellungen der Stadt in dieser Zeit, sei es durch die Politik, sei es durch die business community, sei es in den 1880ern, sei es in den 1910er Jahren. Sie erlaubte es, existierende positive klimatische Zuschreibungen der sommerlichen Blumenstadt zu übernehmen, die in diesen angelegte mögliche gesellschaftliche Konnotation der backwardness aber gerade dadurch zu widerlegen, dass bekannte negative Aspekte des Klimas mit Hilfe von neuesten Technologien bekämpft wurden. Damit konnte man deutlich machen, dass man sich sehr wohl des schlechten Rufs des Klimas der Stadt bewusst war und diesen keineswegs negieren wollte, er aber der Vergangenheit angehörte. Die negativen Bilder des Klimas wurden in die Vergangenheit projiziert und dienten so als Folie, vor deren Hintergrund der Fortschritt von New Orleans schärfere Konturen annahm. New Orleans erschien nicht mehr als seinen Umweltbedingungen ausgeliefert, sondern als von der Natur grundsätzlich gesegnet und von einem fortschrittlichen Geist geprägt, der mögliche unangenehme Extravaganzen dieser Natur zähmen konnte – eine Rhetorik, die durch das realistische Bild von auf der Straße schwimmenden Enten und Gänsen ständig vor neue Herausforderungen gestellt wurde. Gleichzeitig beschwor diese Rhetorik ein extrem kritisches Bild der Vergangenheit herauf. Das Vergangene, die Geschichte, so schien es, stellte das Schlechte par excellence dar, nämlich das Unmoderne, Altmodische, das Un28 | Vgl. Kaika, City of Flows, 57.

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wissenschaftliche und Unsystematische. In seiner Lobeshymne auf den zeitgenössischen drainage plan qualifizierte Holt eindeutig sämtliche vorherige Unterfangen ab. Die Gegenwart von New Orleans erschien so als in ihren negativen Aspekten von der Vergangenheit geprägt, in ihren positiven aber von der Zukunft, die mittels Wissenschaft und Technik in der Stadt Einzug halte und die problematischen Aspekte der New Orleanser Umwelt in ihre Schranken weise. Das Drainage Board hatte noch nicht einmal seine Arbeit aufgenommen, da äußerten sich lokalpatriotische Geschäftsleute, Journalisten und Politiker bereits zur unausweichlich brillanten Zukunft der Stadt, von der man angesichts dieses fortschrittlichen Vorhabens ganz selbstverständlich ausging. 1894 sagte die Daily Picayune voraus, dass in nicht allzu ferner Zukunft die »marshes« zwischen Mississippi und See trockengelegt und bebaut würden.29 In fast beleidigtem Ton beklagte im selben Jahr die Chamber of Commerce, dass New Orleans von allen missverstanden werde. »New Orleans is a city, as we have said, very much misunderstood abroad; in particular of its climate, sanitation and social development, especially; and, with respect to sanitary conditions and good order, bearing a name and reputation […] which belong rather to the past than the present day.«30 New Orleans habe doch das strengste Quarantänesystem der USA, die levees zur Eindämmung des Mississippi würden regelmäßig kontrolliert und »sanitary science«, so die Chamber of Commerce, gebe es tatsächlich auch in New Orleans. Ein Abwassersystem werde gerade errichtet und ein »scientific surface drainage plan«31 sei in der Diskussion. Dieser Plan, das gab die Chamber zu, sei auch dringend nötig, da das bisherige System unzureichend sei. Angesichts all dieser Maßnahmen und Aktivitäten aber sei es eine Fehleinschätzung, dass New Orleans »a torrid and fetid city, regularly plaguestricken«32 und von Überschwemmungen bedroht sei. Bevor jedoch die großartige Zukunft von New Orleans eingeläutet werden und das Drainage Board seine Arbeit aufnehmen konnte, mussten die Gegebenheiten erst einmal ausführlich studiert werden. Das 1894 ins Leben gerufene City’s Advisory Committee on Drainage, das aus den drei Bankpräsidenten R.M. Walmsley, J.C. Denis und Albert Baldwin33 sowie aus den »eminent civil engineers«34 B.M. Harrod, H.B. Richardson und Rudolph Herring35 bestand, erstellte einen detaillierten drainage report, den es nach einem Jahr Arbeit 1895 29 | »The Future of the City Outlined«, in: Daily Picayune, 1.9.1894. 30 | Chamber of Commerce and Industry of Louisiana (ed.), The City of New Orleans, 16-17. 31 | Ebd., 11. 32 | Ebd. 33 | »The Drainage Report«, in: Daily Picayune, 1.5.1895. 34 | »As to City Drainage«, in: Daily Picayune, 28.1.1895. 35 | »The Drainage Report«, in: Daily Picayune, 1.5.1895.

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dem Stadtrat vorstellte. Wie erwartet sollte das drainage-System zwei Funktionen erfüllen. Zum einen sollte es den Abfluss von Regenwasser ermöglichen, zum anderen sumpfige Gebiete trockenlegen. Abwasser hingegen sollte durch das im Bau befindliche sewerage-System abfließen. Dass dies der Gesundheit der Stadt, letztlich aber ihrem wirtschaftlichen Funktionieren dienen sollte, geht aus dem Bericht der Kommission hervor, die die Problemdiagnose prägnant formulierte: »The drainage question of this city to-day, therefore applies principally to the removal of the rain water falling upon the inhabited and built-up part of the city, which does not penetrate the ground, but runs off into the gutters, and then floods the streets and finally the low territory, causing more or less damage to property and interfering with travel and the transaction of business. It applies likewise to the removal of the ground water which at present saturates the soil, causing unsanitary conditions, besides preventing the usefulness of the territory, for one or another purpose as may be required in a large city.« 36

Die von Wasser überfluteten Straßen drohten, Eigentum zu schädigen und der Bewegung von Gütern und Personen, ja überhaupt dem Abwickeln von Geschäften entgegenzustehen. Auch die durchtränkten, an die Stadt angrenzenden Gebiete ließen sich ohne effiziente drainage schlicht nicht in die utilitaristische Logik einfügen, die das Denken über den Stadtraum in den führenden Kreisen von New Orleans offenbar beherrschte. Wozu sollten sie dienen? Das Land schien verschwendet. Wenn der Sumpf hingegen trockengelegt würde, dann konnte New Orleans expandieren; bebaute Gebiete wiederum würden zum Wohlstand der Stadt beitragen, die entsprechende property taxes kassieren konnte.37 Das Sinnbild des kontrolliert fließenden Wassers, das in vielen anderen Äußerungen der Zeit, wie etwa bei Holt, für Fortschritt stand, wurde hier ganz explizit normativ aufgeladen: Kontrolliert (ab-)fließendes Wasser, also die Regulierung der Natur in eine Ordnung der kontrollierten Zirkulation, diente im Gegensatz zu Stagnation und zu unkontrolliertem Fluss schlicht dem Geschäftsleben, kurz, dem Prosperieren der Stadt in der kapitalistischen Welt des Neuen Südens. Die Zusammensetzung des Komitees, das mit diesem Bericht den drainage-Plan grundlegend formulierte, ist für diese Logik bezeichnend. Als Experten fungierten die beteiligten Ingenieure, die für die technischen Aspekte des Unterfangens verantwortlich zeichneten. Ebenso vertreten waren führende Mitglieder der Finanzelite der Stadt. Während die einen den planmäßigen Fluss des Wassers garantieren sollten, waren die anderen am planmäßigen Fluss des 36 | Advisory Board on Drainage, Report on the Drainage of the City of New Orleans (New Orleans: Fitzwilliam &Co., 1895), 15. 37 | Ebd., 47.

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Geschäftslebens interessiert. Es waren die sich in dieser Zeit als Experten etablierenden Ingenieure sowie die den oberen gesellschaftlichen Schichten zuzurechnenden Geschäftsleute von New Orleans, die sich an den Kampf gegen die ungeordnete, bedrohliche Natur der Stadt machten. Auch der Bericht des Komitees disqualifizierte die Versuche der Vergangenheit, New Orleans trockenzulegen. In einem ausführlichen Kapitel über die Geschichte der drainage legte der Report seine Finger genau in die Wunden früherer Unterfangen: Keiner der bisherigen Pläne sei akzeptabel gewesen, da keiner auf adäquatem Wissen über die Faktoren basiere, die den Wert eines Plans bestimmten, etwa im Bereich der Topographie oder Hydrographie.38 Daraus resultiere, so der Bericht, eine schier endlose Kette von vorläufigen Maßnahmen, »makeshifts, one after another«, von denen je nur kleine »disconnected sections« der Stadt profitierten.39 »The result has naturally been: a somewhat incoherent and crude system of drains and canals, insufficient in size, depth and slope; […] ; and methods of pumping which are both inefficient and uneconomical.«40 Der Hauptfehler der Vergangenheit, so schien es, sei ihre Planlosigkeit gewesen, die in Grobheit, Inkohärenz, Ineffizienz und Unwirtschaftlichkeit resultierte. Wie auch Holt, so reihte sich das Komitee ein in die wachsende Gemeinde der Planungsenthusiasten. Um endlich einen effizienten Plan zu entwerfen, hatte das Komitee erstmalig in der Geschichte von New Orleans einen topographical survey des Stadtgebietes durchgeführt. Dieser war bereits 1893 als unerlässliche Vorarbeit zu einem drainage-System per Stadtverordnung veranlasst worden. Die Stadtverordnung hatte festgestellt: »[…] The drainage of the City of New Orleans, is in an extraordinary disastrous condition […]. There is no positive or correct data as to the topography of the city […]. It is absolutely necessary in order to formulate a thorough and comprehensive plan of drainage, for the engineers to have exact, precise and full information relative to the topography of the city, the conditions of the soil as to absorption […].«41 Wie viele public works-Initiativen der Progressive Era, ja wie überhaupt viele Initiativen der Zeit, die das Gesicht des Landes verändern wollten, beruhte der drainage-Plan für New Orleans auf einem sorgfältigen Sammeln von Fakten. Diese exakten, in diesem Fall topographischen Fakten stellten das vermeintlich objektive Gerüst dar, das als unerlässliche Basis für jegliche Zukunftspläne wahrgenommen wurde. Sie bildeten zudem ein Wissenskorpus, über das die beteiligten Experten herrschten, die so ihre eigene Position in der Gesellschaft festigen konnten.

38 | Ebd., 50. 39 | Ebd., 15. 40 | Ebd. 41 | Ordinance 7170 CS vom 6.2.1893, zit.n.: Ebd., 11.

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Die topographische Studie kam zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass das Land in New Orleans am Ufer des Mississippi am höchsten war, dann langsam abfiel und bis zu Lake Pontchartrain eben verlief. Ausnahmen stellten die Gentilly und Metairie Ridges dar, Landrücken, die etwa 2,25 Meilen landeinwärts parallel zum Seeufer verliefen. Das Land zwischen den Ridges und dem See, aber auch große Teile des Gebiets zwischen Fluss und Ridges war sumpfig und damit »practically waste land«.42 Der auf der Studie basierende Bericht sah vor, die Stadt in fünf Sektionen zu teilen, aus denen das Wasser in einem verästelten System letztlich in einen Hauptkanal floss.43 Von dort aus sollte das Wasser zu Lake Borgne geleitet werden, einem weiter östlich liegenden See, dessen Umgebung nicht bewohnt war, weshalb seine Verschmutzung als akzeptabel eingestuft wurde.44 Die einzelnen drainage-Kanäle sollten, anders als ihre Vorgänger, unterirdisch verlaufen, damit die Straßenoberfläche anderweitig genutzt werden konnte und weder Mensch noch Tier Gefahr liefen, in die Kanäle zu fallen; auch konnte dann niemand mehr Abfälle hineinwerfen.45 Kern des neuen Plans jedoch waren sieben neue Pumpstationen, die das Wasser aus dem Hauptkanal in den See pumpen sollten46; sie sollten die vier alten drainage machines ersetzen, die bisher das Wasser aus den offenen Kanälen in den Lake Pontchartrain gepumpt hatten und nicht genügend Kapazitäten aufwiesen, wie ein Sturm am 13. August 1894 effektvoll gezeigt hatte: 72 Stunden lang stand das Wasser in weiten Teilen der Stadt.47 Um die Notwendigkeit von Kanälen und ihre Lokalisation zu bestimmen, wurde das gesamte Territorium gemäß der Siedlungsdichte in Zonen aufgeteilt, die sich durch ihre »comparative impermeability of the surface of the ground« unterschieden. Diese war ein Indikator für die Notwendigkeit von drainage. Die Zonen A, die als »densely improved« bezeichnet wurden, waren die am dichtesten bebauten, während B »medium density as to improvements« bedeutete, C »sparsely built territory where the houses are surrounded by large yards with little or no pavement« und D »rural or agricultural areas«.48 Improvements, also wörtlich Verbesserungen, standen hier für Bebauung. Die Zonen der Stadt wurden damit letztlich bewertet: Eine verbesserte Zone war jene, die dicht bebaut war. Dicht besiedelte Straßen waren häufiger gepflastert, was die Durchlässigkeit des Bodens für Wasser drastisch verringerte. Straßenpflaster wiederum wurde als eines der hauptsächlichen »improvements« im Stadtraum gehandelt, 42 | Ebd., 17. 43 | »Before the Council«, in: Daily Picayune, 1.5.1895. 44 | Advisory Board on Drainage, Report, 24. 45 | Ebd., 33. 46 | Vgl. Colten, Unnatural Metropolis, 87. 47 | Advisory Board on Drainage, Report, 51. 48 | Ebd., 46.

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das die schlammigen Straßen endlich passierbar machte – vorausgesetzt, es gab adäquate drainage. Bebautes, gepflastertes, kurz: urbanisiertes Territorium wurde folglich als ein deutlicher Fortschritt gegenüber nicht-urbanisiertem, ländlichen oder landwirtschaftlichen Gebiet wahrgenommen. Dahinter lag die grundlegende und unausgesprochene Annahme, dass die natürliche Umwelt von New Orleans verbesserungsfähig war. Erst die weitere Urbanisierung konnte die Stadt auf dem Weg des Fortschritts voranbringen; und dazu war es notwendig, ein neues Entwässerungssystem zu installieren. Dass dies zwar eine angemessene Lösung für die Probleme von New Orleans bot, gleichzeitig aber auch eine beispiellose Herausforderung darstellte, dessen war sich das Komitee bewusst: »Considering the matter from every point, our present situation as to drainage in conjunction with the topographical and hydrographical conditions, renders the formulation of a thoroughly efficient and comprehensive system of drainage for the city an unique and intricate problem, and, perhaps, is unparalleled in this country or Europe, and the solving of the problem renders absolutely necessary a most careful and rigid investigation into all of the conditions bearing on the subject.« 49

Noch im Juli 1895 nahm der Stadtrat den drainage plan an.50

»P LE ASE M ARTIN HELP US OUT« Zehn Jahre später entrüstete sich das 1904 von George W. Engelhardt herausgegebene New Orleans-Buch der Picayune darüber, dass es einige »misconceptions« über New Orleans gebe und es negierte wiederum die immer noch allgegenwärtige Präsenz von Sumpfgebieten: »It [the city] is hot, it is sickly, floodmenaced, a city in a morass«, fasste das Buch die ›Vorurteile‹ zusammen und fuhr fort, dies seien »simple perversions of truth, or at best but partially true«51 . Es gebe zwar Sumpf, aber nicht überall um die Stadt herum; vielmehr seien die angrenzenden parishes St. Bernard, Jefferson und Plaquemines von Zucker-, Reis- und Orangenanbau geprägt. Zudem sei das, was oft als Sumpf bezeichnet werde »river delta or salt marsh«52 und diene damit dem Güterverkehr zwischen Stadt und Hinterland. »Thro’ the bayous, canals and lakes of this wilderness of coastal marsh and tidal waters light draft sailing craft and steamers freely ply. Through and out of it comes a wealth of market products: Wood and charcoal, 49 | Ebd., 52. 50 | »Mr. Louque makes his final fight«, in: Daily Picayune, 10.7.1895. 51 | Engelhardt (ed.), New Orleans, 30. 52 | Ebd., 31.

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shell and moss, oysters, fish and game in season […].«53 Kurzerhand wurde hier Sumpfgebiet umdefiniert, von nutzloser, der Expansion der Stadt und damit der Zivilisation entgegenstehender, zudem potentiell bedrohlicher Natur, dem vielzitierten »wet waste land«54, in ein in die wirtschaftliche Logik einer Handelsstadt eingegliedertes fruchtbares Hinterland und Transportnetzwerk. Gleichzeitig zeigt die Permanenz der von New Orleanians gerne als »misconceptions« abgewerteten Auffassungen von New Orleans’ Umwelt sowie die Existenz der marshes, dass die geplante Trockenlegung der Stadt und ihr werbewirksamer Effekt auf sich warten ließen. Bis 1908, so das Buch der Picayune, solle das drainage system jedoch fertiggestellt sein. Dieses werde letztlich dafür verantwortlich sein, dass all die alten Klischees einer ständig überschwemmten, in ungesunden, feucht-warmen Dämpfen erstickenden Stadt obsolet würden: Mit der Errichtung des drainage system »we may claim for New Orleans another element of distinction: That it has come to be, not only one of the most progressive cities of the countries, but also one of the cleanest, sweetest and most salubrious under the sun.«55 Dieselbe optimistische Rhetorik, mit der bereits in den 1880er Jahren ein absehbares Ende der misslichen Zustände proklamiert wurde, findet sich ungebrochen im neuen Jahrhundert – obwohl allen früheren Verkündungen zum Trotz auch 1904 die neue Ära der Gesundheit und Prosperität immer noch in der Zukunft zu liegen schien. Im Jahr 1900 waren die ersten Teile des neuen drainage system tatsächlich in Betrieb genommen worden.56 Bis 1910 wurden immerhin 22.000 acres der Stadt an das System angeschlossen. Die Geschäftsbezirke um Canal Street und upriver gehörten ebenso dazu wie der Garden District, ein wohlhabendes Wohngebiet flussaufwärts von Canal Street. Auch die sehr tief gelegenen Bezirke etwa in der Mitte des Crescent waren versorgt.57 Wie der Geograph Craig Colten zusammenfasst, folgte man grundlegenden Ingenieursprinzipien: Man kümmerte sich zunächst um die tiefer liegenden Stadtteile, aber auch um die »high-value sections«, und installierte die Hauptkanäle für das Gesamtsystem.58 Eine Fertigstellung war 1910 jedoch noch lange nicht in Sicht. Die gewünschten Effekte ließen ebenfalls auf sich warten. Zwar besserte sich die Lage nach durchschnittlichen Regengüssen, aber das neue drainageSystem erwies sich als ebenso ungenügend wie das alte, wenn es zu starken Re53 | Ebd., 31. 54 | »Reclaiming the swamp lands«, in: Daily Picayune, 27.11.1888. 55 | Engelhardt (ed.), New Orleans, 30. 56 | Board of Health for the Parish of Orleans and Metropolitan Life Insurance Company, Report of the Health and Sanitary Survey of the City of New Orleans (New Orleans: Brandao, 1919), 108. 57 | Colten, Unnatural Metropolis, 90. 58 | Ebd.

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genfällen oder Stürmen kam.59 Im Mai 1912 setzten Regenfälle einen Großteil des Gebiets um Broad Street, den Boden der sprichwörtlichen Schüssel, unter Wasser, da die Pumpen den Regenmengen nicht gewachsen waren.60 Nach wie vor beherrschte das Thema überfluteter Straßen die Diskussionen in der Stadt sowie die Schlagzeilen der Lokalpresse. Die Beschwerden, die bei der Stadtverwaltung eingingen, ähnelten immer noch jenen der vorherigen Dekaden: Verstopfte gutters kamen an erster Stelle, da jene Stadtteile, die noch nicht vom neuen System bedient wurden, mit den alten Kanälen vorliebnehmen mussten. A. G. Desangles forderte 1909, dass die offenen Kanäle auf Dauphine Street, zwischen Kerlerec Street und Esplanade Avenue, gereinigt werden sollten, »as we people living in said block cannot stand the smell arising from such accumulated filth. I do believe the block has not been cleaned in the last three months.«61 Einige Stadtteile fühlten sich explizit benachteiligt. In einem handschriftlichen Brief beschwerte sich ebenfalls 1909 ein Bewohner des 12th ward (zwischen Toledano und Napoleon Street, vgl. Abb. 10) beim Bürgermeister Martin Behrman: »The grass in the gutters stop [sic!] the flow of water so that it back up [sic!] in the yards, we no [sic!] we will never get any drainage, we vote for it and pay taxes for the same, but it never was given to us. So please give us the gutter drainage […], please Martin help us out if you can, if you don’t belief [sic!] what I write step up and see for yourself and be convinced.«62 Offenbar standen die ärmeren Stadtteile, die zufällig nicht ganz am tiefsten Punkt der Stadt lagen, in der Prioritätenliste für Entwässerung ganz unten, so dass sie noch lange mit den Straßenbedingungen zu kämpfen hatten – auch der Bau eines umfassenden, stadtweiten und daher eigentlich gerechten Systems musste schließlich irgendwo anfangen und enden. Der Fortschritt der einen Straße bedeutete manchmal sogar den Rückschritt einer anderen. So klagte im Jahr 1911 H. Baker, Anwohner von Burgundy Street, dass man St. Claude Avenue gepflastert hatte, und um die Straße vorher zu ebnen hatte man Erde von Burgundy Street abgetragen, »and since then Burgundy St in that locality has been a small bayou in rainy seasons.«63 Die 1888 von Charles Fush heraufbeschworenen Enten schienen nicht allzu fern. Die Frauen des Era Clubs diskutierten 1907 ganz allgemein das Problem der 59 | Ebd., 92. 60 | Ebd. 61 | A. G. Desangles an das Department of Public Works, 22.5.1909, in: New Orleans Public Library, Louisiana Division, City Archives [im Folgenden: NOPL/CA], Department of Public Works, Incoming Correspondence, 1909-1912, LH 510, Box 2 – 1909. 62 | »12th ward resident« an Martin Behrman, 31.5.1909, in: NOPL/CA, Department of Public Works, Incoming Correspondence, 1909-1912, LH 510, Box 2 – 1909. 63 | H. Baker an das Department of Public Works, 6.9.1911, in: NOPL/CA, Department of Public Works, Incoming Correspondence, 1909-1912, LH 510, Box 12 – 1912.

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»overflowed streets« und empfahlen, ein Komitee von prominenten Bürgern und Ingenieuren einzusetzen, das den Zustand des Systems untersuchen solle. Dieses Komitee solle primär dazu dienen »to restore confidence in the work of sewerage and drainage«, für das sich der Era Club mit einer umfassenden Kampagne engagiert hatte.64 Im Gegensatz zum offiziellen Optimismus stand offenbar eine Desillusionierung auf Seiten der Bevölkerung. Auch die gesundheitlichen Folgen ließen auf sich warten. Die Gelbfieberepidemie von 1905, eine der schlimmsten Epidemien in der Geschichte der Stadt, machte allzu deutlich, dass sich die gesundheitliche Lage der Stadt nicht grundlegend gebessert hatte. Die Ausmaße dieser Epidemie sowie die Entdeckung des Moskitos Aëdes aegypti als Überträger von Gelbfieber im Jahr 1901 und dessen Vorliebe für stagnierende Gewässer verliehen dem Kampf gegen offene Kanäle und Zisternen in der Folge zusätzliche Dringlichkeit.65 Obwohl das drainage-System bei weitem nicht vollendet war und die Epidemie von 1905 sowie die Flut von 1912 seine Grenzen demonstriert hatten, verkündete Bürgermeister Martin Behrman 1913 dennoch: »We are happily emerging from insanitary environments«66. Endlich habe New Orleans seine »lethargic indifference to sanitary matters«67 abgeschüttelt. Das neue, effiziente drainage system sei zwar gerade einmal zur Hälfte installiert, doch erlaube es der Stadt bereits, große Teile des angrenzenden Sumpfes trockenzulegen und sich in Richtung des Lake Pontchartrain auszudehnen68; zudem gebe es Überschwemmungen nur noch bei »great rain storms and cloud bursts«69 . Sowohl hinsichtlich der swamp reclamation als auch der drainage des Stadtgebietes postulierte Behrman folglich einen Sieg über die Naturgewalten. Anlässlich seiner Wiederwahl ins Amt 1917 erging sich eine Festschrift in Elogen über die zwölf Jahre seiner Amtszeit, in denen Behrman entscheidend zu jenen Aktivitäten beigetragen habe, »which have brought about the evolution of an old city from mire and flood and pestilence to a splendid modern metropolis, possessing every comfort, every convenience and every attraction of the most advanced community.«70 New Orleans, so schien es, war aus dem langen Kampf gegen die 64 | »Era Club«, in: Daily Picayune, 29.12.1907. 65 | Board of Health, Report of the Health and Sanitary Survey, 10. Zur Gelbfieberepidemie Jo Ann Carrigan, »Mass Communication and Public Health: The 1905 Campaign Against Yellow Fever in New Orleans«, in: Louisiana History 29:1 (Winter 1988), 5-20. 66 | Martin Behrman, An Address by Honorable Martin Behrman, Mayor of New Orleans, LA, Made at Invitation of Society of Economics, Tulane University, January 14, 1913 (New Orleans: Tulane University, 1913), 21. 67 | Ebd. 68 | Ebd., 12. 69 | Ebd., 13. 70 | Martin Behrman Administration Biography, 3.

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Misslichkeiten seiner Lage und seines Klimas siegreich hervorgegangen und hatte sich dabei von einer alten Stadt in eine fortschrittliche verwandelt; glaubte man dem Bürgermeister, war es nunmehr wahrhaft eine Stadt des New South geworden. Gerade Martin Behrman erwies sich als unermüdlicher Propagator dieser Rhetorik. Behrman war im ersten Drittel des 20. Jh.s eine der prägendsten Figuren der New Orleanser Lokalpolitik. Aus einer einfachen Familie deutscher Einwanderer stammend und 1864 in New York City geboren, zog er bereits als Kleinkind mit seiner Familie nach New Orleans. Früh verwaist, verdiente Behrman sein erstes Geld als Ladenangestellter in diversen Geschäften, bevor er zum Manager eines Großmarktes aufstieg. Sein Eintritt in die Politik erfolgte als Sekretär für die Kampagne des demokratischen Bürgermeisterkandidaten von 1888. Als Buchhalter für einige Komittees des demokratischen Stadtrats festigte er später seine Bindungen an die demokratische Partei, bevor er selbst zu deren Kandidaten aufstieg. Die New Orleanser Politik war um die Jahrhundertwende von ähnlichen politischen Machtkämpfen geprägt wie die meisten USamerikanischen Großstädte der Zeit. Als Stadt des solid south war New Orleans von der demokratischen Partei beherrscht, was allerdings nicht mit Einigkeit gleichzusetzen war. Im Gegenteil, die die Städte des frühen 20. Jh.s prägende Dynamik der Konkurrenz von regulars, also der klassischen demokratischen Parteimaschine, mit sich angesichts von bevorstehenden Wahlen abspaltenden Reformdemokraten prägte auch das politische Leben der Crescent City. Ähnlich wie die berühmte Tammany Hall von New York City dominierte der von Martin Behrman geführte Choctaw Club – auch Ring genannt – die demokratische Partei von New Orleans.71 In regelmäßigen Abständen traten selbsternannte Reformer aus den führenden Wirtschaftszirkeln der Stadt in den Wahlkämpfen zu Stadtrats- und Bürgermeisterwahlen gegen die regulars mit eigenen demokratischen Tickets an, meist unter klangvollen Namen wie Good Government League, Committee of 100 oder Citizens’ Committee, die ganz im progressivistischen Geist der Zeit die Identifikation der Reformer mit dem Wohl der Allgemeinheit und dem effizienten Regieren der businessmen suggerieren sollten und die regulars zu korrupten, privaten Interessen unterworfenen Berufspolitikern stilisierten.72 Behrman war solchen Reformern seit jeher ein Dorn im Auge. 1904 wurde er erstmalig zum Bürgermeister gewählt, um sowohl 1908 als auch 1912 und 1916 wiedergewählt zu werden, bevor er 1920 von Andrew McShane abgelöst 71 | Biographische Informationen zu Behrman bei http://nutrias.org/info/louinfo/admins/behrman.htm, Stand 4.8.2011 und Mary Lou Widmer, New Orleans 1900 to 1920 (Gretna, LA: Pelican Publishing Company, 2007), 58-59. 72 | Zum System der Parteimaschinen und den auf business-Interessen beruhenden reformerischen Tendenzen in der Lokalpolitik amerikanischer Städte der Jahrhundertwende vgl. Teaford, Unheralded Triumph, 174-198.

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wurde. In den 1920er Jahren gelang ihm dann noch einmal ein Comeback, und er leitete die Geschäfte der Stadt erneut ab 1925 bis zu seinem Tod ein Jahr später. Insgesamt war er der Bürgermeister von New Orleans, der am längsten im Amt weilte. Seit 1912, also auch zur Zeit des Balkonstreits, wurde die Stadt unter einer neuen city charter regiert. Ganz im Geist der politischen Stadtreformen der Progressiven Ära war die alte Regierungsform, mayor-council form of government genannt, durch die sogenannte commission form of government abgelöst worden. Anstatt des alten Systems von in den Stadtteilen gewählten Stadträten (aldermen), die zusammen das Organ des Stadtrates (city council) bildeten, welches die legislative Funktion erfüllte und den Bürgermeister als Exekutive bestimmte, regierte nun ein stadtweit gewähltes Gremium, welches legislative und exekutive Funktion vereinte. Dieses Gremium war gemeinsam auf einem Ticket angetreten und konnte nur en bloc gewählt werden. Es bestand aus dem Bürgermeister sowie vier für die unterschiedlichen Ressorts der Stadtverwaltung verantwortlichen commissioners.73 Das System hatte in den USA erstmals in Galveston, Texas, nach dem verheerenden Hurrikan von 1900 Anwendung gefunden und verbreitete sich danach rasant in den kleinen bis mittelgroßen Städten. Man erhoffte sich durch die stadtweite Wahl eine Loslösung der amtierenden Politiker von Stadtteilloyalitäten und damit ein Ende der Korruption, sowie ein effizienteres, aufgabenorientiertes Regieren durch Experten in ihrem Feld. Wie Jon Teaford in seiner Studie zur amerikanischen Stadtverwaltung gezeigt hat, bedeutete die commission form of government jedoch keinesfalls das Ende der klassischen Parteimaschinen und des Boss-Systems; geschickt passten sich diese den neuen Strukturen an, so dass letztlich lediglich eine Umstrukturierung stattfand. Zudem stellte sich bald heraus, dass die sogenannten unabhängigen businessmen und Experten keinesfalls wertneutral und interessenlos agierten.74 Der vielleicht größte Triumph Martin Behrmans war es, dass er trotz dieses von den Reformern durchgesetzten Systems 1912 mit seinem Ticket von commissioners erneut die Wahlen gewann und selbst unter dem Reformsystem die Stadt regieren konnte – was seine stadtweite Beliebtheit, aber mindestens ebenso seine politische Versiertheit illustriert. Behrmans Erfolg beruhte zu einem großen Teil auf persönlichen Loyalitäten aus der demokratischen Parteimaschine sowie auf der taktisch geschickten Auswahl der commissioners, die mit ihm ins Rennen gingen und gegensätzliche Wählergruppen an ihn binden konnten, aber eben auch auf seinem Talent als populistischer Politiker, der es verstand, mit einer ganz eigenen Rhetorik die Massen für sich zu gewinnen und zwischen diversen Interessengruppen erfolgreich zu lavieren. Behrman gelang es zudem, Themen, die eigentlich ureigenstes Territorium seiner reformerisch 73 | http://nutrias.org/info/louinfo/admins/behrman.htm, Stand 4.8.2011. 74 | Vgl. Teaford, Unheralded Triumph, 198-214; 312-13.

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gesinnten Gegenspieler waren, zu seinen eigenen zu erklären und die reformerische Rhetorik sowie das Programm für sich zu vereinnahmen. Gerade dem Kampf gegen die Unwägbarkeiten der Umweltbedingungen von New Orleans kam in Behrmans Rhetorik – und ebenso in seinem tatsächlichen politischen Programm – eine zentrale Rolle zu. Geschickt schrieb er sämtliche Initiativen, die Stadt aus ihren sanitären Schwierigkeiten zu befreien, seiner Amtszeit und seiner Führung zu. Retrospektiv lassen seine Reden aus den 1910er Jahren die Entwicklung von New Orleans gerade hinsichtlich ihres Hauptproblems, der drainage, als reibungslosen Prozess des unaufhaltsamen Fortschritts erscheinen. Die alte, ihren natürlichen Bedingungen ausgelieferte und deshalb von Epidemien und wirtschaftlichen Rückschlägen geplagte Stadt sei in eine neue, moderne, gesunde und prosperierende Stadt verwandelt worden, nicht zuletzt dank ihrer fortschrittlich gesinnten Einwohner und Stadtväter, die den Zustand der Lethargie und Stagnation endlich hinter sich gelassen hätten. Behrmans Engagement für die Veränderungen des Stadtraums spielte eine zentrale Rolle im Wahlprogramm von 1912. Die die regulars unterstützende Daily Picayune warb für ihn: »During no previous administration has so much been accomplished for the permanent advancement of the city. […] The splendid modern sewerage, water and drainage systems of which this city is so justly proud have been completed and put in operation during the Behrman administration and the municipality’s business affairs and its public activities have been carried on economically and efficiently and to the entire satisfaction of all fair-minded people.«75

Indem die Picayune hier für die Regierung Behrman dauerhaften Fortschritt, Effizienz und Wirtschaftlichkeit beanspruchte, ebenso wie Zufriedenheit des »people«, nahm sie gerade jenen Kritikern den Wind aus den Segeln, die den regulären Demokraten traditionell vorwarfen, verschwenderisch zu wirtschaften und die eigene Tasche dem Wohl des Volkes zu bevorzugen. Darüberhinaus drehte die Picayune die übliche reformerische Rhetorik genau um und warf dem Konkurrenten Charles Claiborne von der Good Government League vor, jenem Typus des Bürgers zu entsprechen, der »inert and nonprogressive«76 sei, »[…] that type which sleeps in the shadows of a bygone generation, deprecating the march of progress, while pioneers of the Behrman type march on overcoming insurmountable obstacles in order that the way may be paved for better things […]. We do not want a man for mayor of this city who is so far behind the times, and is so nonprogressive that he looks upon the destruction of a cistern or a cess pool with a feeling of reverential 75 | »The city campaign«, in: Daily Picayune, 23.9.1912. 76 | »Mayor progressive, Claiborne opposite«, in: Daily Picayune, 27.9.1912.

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respect or fear on the theory no doubt that what was good enough for grand-father is good enough for me.«77

Behrman verkörperte hier das alte amerikanische Ideal des sich in der Auseinandersetzung mit scheinbar unüberwindbaren Schwierigkeiten bewährenden Pioniers, der durch seine zupackende Art dem Fortschritt den Weg bahnte; gleichzeitig lässt der Artikel dieses Ideal als das einer neuen Generation erscheinen – eben jenes Neuen Südens, der sich weniger um seine Vergangenheit und seine Ahnen scherte als um die Zukunft. Damit stand Behrman in den Augen seiner Anhänger letztlich für das unternehmerische, kämpferische, das männliche New Orleans, das den Klischees des altmodischen Südens entgegengesetzt werden müsse. Behrman selbst bewegte sich im selben Diskurs des Pionierund Eroberungsgeistes, wenn er verkündete: »Factories and new lines of business are springing up in every direction and the old town is manifesting a spirit of enterprise, progress and rejuvenation it has not experienced before in its history. Its people have met every situation with courage, fortitude and determination, and their pluck has been invincible. Whether ill fortune came in the shape of destruction by flood, or war, pestilence, panics or hurricanes, they have risen gloriously superior to every assault, from whatsoever quarter it came, and, in the end, have conquered.«78

Die Bewohner von New Orleans erschienen in dieser Rhetorik nicht als dem Alten Süden zugehörig, sondern geradezu als Inkarnation des erobernden Amerikanertums, das der Neue Süden als Leitbild vor Augen hatte. Dass den public works in diesen Texten die Rolle zukam, jene abstrakten Ideale von Fortschritt und Effizienz zu versinnbildlichen, zeigt nicht nur die zentrale Funktion, die die drainage von New Orleans im alltäglichen Leben einnahm, sondern auch deren Aufladung mit politischen Idealen und umfassenderen Visionen der guten Stadt und des guten Regierens. Stagnierende Wasserbecken wie Zisternen und Sickergruben hingegen standen für Vergangenes und damit für Trägheit und gesellschaftliche Stagnation. Eine Rede vom September 1914, die Behrman vor der Convention der League of American Municipalities in Milwaukee hielt, stellt den Höhepunkt der Behrmanschen Erfolgsrhetorik dar. Sie bündelte gewissermaßen die Vorstellungen von der Stadt, ihrer Geschichte und ihrer Zukunft sowie der Rolle, die ihr 77 | Ebd. 78 | Martin Behrman, New Orleans: What It Is Doing To Facilitate Transportation Both By Rail and River. Address Delivered by Martin Behrman, Mayor of New Orleans, 12th Annual Session, National Rivers and Harbors Congress, Washington, D.C, December 8, 1915 (New Orleans: s.n., 1915), 15.

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Verhältnis zur Umwelt dabei spielte, wie sie in den 1910er Jahren nicht nur Behrman zu eigen waren, und wie sie bereits seit den 1880er Jahren die Vorstellungswelt führender New Orleanians geprägt hatten. Es ist bemerkenswert, wie Behrman die oben erläuterte rhetorische Strategie zur Perfektion brachte und alle Übel, die New Orleans für gewöhnlich zugeschrieben wurden, in die Vergangenheit verlagerte, um ›sein‹ New Orleans, das zeitgenössische New Orleans eines Neuen Südens und eines neuen 20. Jh.s, im Chor der amerikanischen municipalities zum Glänzen zu bringen.79 Vermutlich hätten sämtliche New Orleanians Behrmans Rede unterschrieben. Manche hätten wohl hinzugefügt, dass Behrman selbst am allerwenigsten zu den jüngsten positiven Entwicklungen beigetragen habe80 – doch jenseits der machtpolitisch geleiteten Frage nach der Trägerschaft dieser Prozesse ist es bemerkenswert, wie seine Rhetorik konsensfähige Diskurse transportierte, die als Ausdruck einer weitverbreiteten Vision von New Orleans in diesen Jahren zu lesen sind. Allison Owen und Edgar Stern von der Association of Commerce, die im selben Jahr gegen die Balkone auf Canal Street kämpften, die Herausgeber und Journalisten des Item, die Frauen und Architekten, die für deren Erhalt einstanden, sie alle bewegten sich in genau diesen Diskursen über das, was eine gute Stadt ausmache.81 Allein der Titel der Rede, die Ende 1914, also noch im Jahr des Balkonstreits, publiziert wurde, destilliert aus einer umfassenden politischen Rhetorik in wenigen Begriffen das Verständnis heraus, das führende New Orleanians in diesen Jahren von ihrer Stadt hatten: »New Orleans: A history of three great public utilities, sewerage, water, and drainage, and their influence upon the Health and Progress of a Big City«82 . Systeme, die das Verhältnis von New Orleans zu seinem Wasser regulierten und es nicht nur im übertragenen Sinne in geordnete Bahnen leiteten, also das Abwassersystem, die Wasserversorgung und das Entwässerungssystem, erscheinen hier als großartige Errungenschaften, die zu Gesundheit und Fortschritt von New Orleans beitrugen. Gesundheit und Fortschritt, mit Großbuchstaben geschrieben, waren dabei offenbar die Charakteristika, die immer noch, wie schon zu Holts Zeiten in den 1880er Jahren, als wichtigste Elemente einer Stadt wahrgenommen wurden. Nebenbei suggerierte der Titel, dass die Wassersysteme schon so weit fortgeschritten seien, dass man über ihre Ergebnisse berichten könne und 79 | Ähnlich »The city campaign«, in: Daily Picayune, 23.9.1912. 80 | Etwa »What mayor Behrman has done«, in: Times-Democrat, 25.9.1912. 81 | Vgl. beispielsweise »A definition and an endorsement«, in: Item, 8.5.1914. 82 | Martin Behrman, New Orleans: A history of three great public utilities, sewerage, water and drainage, and their influence upon the Health and Progress of a Big City. Paper Read by Honorable Martin Behrman, Mayor of New Orleans, Before Convention of League of American Municipalities, Milwaukee, Wisconsin, September 29, 1914 (New Orleans: Brandao, 1914).

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dass diese elementaren Systeme, ganz wie es dem Trend der Zeit entsprach, in öffentlicher Hand seien, die dementsprechend eine nicht geringe Rolle für den Fortschritt und die Gesundheit der Stadt einnehme. Der Titel implizierte auch, dass New Orleans natürlich zum Kreise der Großstädte gehöre, der ebenfalls in Großbuchstaben hervorgehobenen »Big Cities«. Kurz, die durch die Stadtverwaltung bestimmte Ordnung des Verhältnisses von New Orleans zum Wasser habe maßgeblich dazu beigetragen, die Großstadt gesünder und fortschrittlicher zu gestalten. Die herausragende Bedeutung der Kanalisation der Wasserströme von New Orleans machte Behrman seinen Zuhörern durch eine besonders anschauliche Schilderung der bedrohlichen Eigenschaften von Wasser in der Crescent City vor diesen Errungenschaften deutlich und bemühte dazu die Kolonialzeit. Bienville, so Behrman, müsse sich bei der Gründung der Stadt an der günstigen Lage als Verkehrsknotenpunkt der Wasserwege orientiert haben, denn warum hätte er sonst die Kolonisierung eines solchen »uninviting and insanitary waste«83 vorantreiben sollen? »A low, flat, marshy area, subject to disastrous inundation at all seasons of the year, pest-ridden, infested with malaria in its most pernicious forms, without a feature to commend it and menaced on every side by seen and unseen enemies – such was the little crescent-shaped village named in honor of the Regent of France, when laid out in the midst of cypress swamps and willow […].« 84

Behrman zeichnete hier ein düsteres Bild der Umweltbedingungen von New Orleans, womit er all das kursierende Allgemeinwissen über die Probleme aufgriff, die New Orleans mit seinem site hatte. New Orleans, so signalisierte er, sei sich seiner schwierigen Umweltbedingungen bewusst. Diese schwierigen Bedingungen verortete er jedoch in der Vergangenheit, und zwar nicht nur in der Zeit vor seinem Amtsantritt, sondern sogar in der Kolonialzeit. Gerade die übermäßig negative Schilderung der Ausgangslage sowie deren Lokalisierung in einer fernen Zeit erlaubte es ihm, den Fortschritt der Stadt im 18. und 19. Jh. als besonders bemerkenswert erscheinen zu lassen. »But notwithstanding these formidable impediments to its progress, its frequent and devastating epidemics, its abnormal death rate and other untoward conditions, New Orleans for years advanced rapidly both in population and commerce, being at one time the third largest city in the Union.«85 Während man sonst allenthalben bemüht war, die Todesrate in New Orleans als durchschnittlich darzulegen – etwa, indem man die Todesrate unter African-Americans, die deutlich über der der weißen Bevölkerung lag, herausrechnete – diente hier selbst diese abschreckendste aller ge83 | Ebd., 1. 84 | Ebd. 85 | Ebd.

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sundheitlichen Folgen als Hintergrundfolie für den unaufhaltsamen Fortschritt der Stadt seit der Kolonialzeit. Angesichts einiger leichter Gelbfieberausbrüche in den Jahren 1897 bis 1899, fuhr Behrman fort, habe man jedoch erkannt, dass mehr geschehen musste, um diesen Fortschritt auch im 20. Jh. zu gewährleisten. Warum gerade diese Epidemien Auslöser für eine neue drainage policy waren, während die Stadt doch vorher angeblich trotz vieler Epidemien prosperierte, erläuterte Behrman nicht. Dass New Orleans nach dem Bürgerkrieg zunächst den Anschluss an die Eisenbahn- und Industriemoderne verpasst hatte, mochte er wohl vor Kollegen aus anderen Städten weniger erwähnen; einfacher war es, abermals den site verantwortlich zu machen und den jüngsten heroischen Kampf der Stadt gegen ihre eigene Umwelt zum Ausdruck des Fortschritts schlechthin zu stilisieren. »We realized that we must decide quickly upon the adoption of a policy, either of progress and modernization on the one hand, or content ourselves, on the other, with remaining inert – satisfied with what we had and the conditions in which we lived, which would have been tantamount to a declaration in favor of retrogression and decay.«86 Behrman ließ hier Modernisierung und Fortschritt als erstrebenswerte Ziele erscheinen, die rasche Entscheidungen erfordern und durch aktives Handeln hervorgerufen werden können, wohingegen er Zufriedenheit mit dem Status quo nicht nur als Untätigkeit identifizierte, sondern als Rückschritt und gar Verfall. Um auf der bisherigen Bahn des Fortschritts weiterzuschreiten, so die Implikation, brauche es aktive und handelnde New Orleanians. Angesichts dieser Optionen habe sich New Orleans, so Behrman, selbstverständlich für die Moderne entschieden, und die Wähler hätten für ein Gesetz der Staatenlegislatur gestimmt, das das Herausgeben von Staatsanleihen erlaubte, um Wasser- und Abwassersystem zu finanzieren.87 Dies sei der erste Schritt zu jenem Quantensprung des Fortschritts gewesen, den die umfassenden »sanitary improvements«88 darstellten und der offenbar eng an die erweiterte Macht der Stadtverwaltung geknüpft war.

F LIESSEN UND F ORTSCHREITEN In einer Zeit, in der man von den scheinbar grenzenlosen Gestaltungsmöglichkeiten fasziniert war, die Technologie, Wissenschaft und ihre Anwendung durch Ingenieure eröffneten, konnte Behrman sich sicher sein, mit seiner Erfolgsgeschichte der aktiven Unterwerfung von Natur im Kreis der Vertreter der amerikanischen Städte auf Bewunderung und Zustimmung zu stoßen. Die 86 | Ebd., 4. 87 | Ebd. 88 | Ebd., 11.

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grundlegenden Annahmen über das, was eine gute Stadt ausmachte, teilten die in New Orleans führenden Kreise mit ihren Kollegen aus anderen Städten. Sie bewegten sich in denselben Diskursen, die um 1900 weite Teile der amerikanischen Öffentlichkeit prägten und die in den Texten über Städte und den Stadtraum als unhinterfragbare Gegebenheiten oder Ideale gehandelt wurden. Gerade in ihren Verhandlungen des Stadtraums folgten New Orleanians den für die Zeit typischen Mustern der Problemdiagnose und des anschließenden Entwerfens von Lösungen, die eine Besserung erbringen sollten. Versucht man, aus dem Reden über drainage und den dazugehörigen Planungen, wie sie sich zwischen den 1880er Jahren und Martin Behrmans Zeit, der Zeit des Balkonstreits, entfalteten, Visionen von New Orleans herauszufiltern, so lassen sich einige grundsätzliche Annahmen fassen, die sich in der Presse der Zeit ebenso finden wie in Leserbriefen, bei dem Mediziner Joseph Holt, dem drainage-Komitee der 1890er Jahre oder dem Bürgermeister Behrman im frühen 20. Jh.; über die Jahre hinweg blieben sie erstaunlich konstant. Ausgangspunkt aller Überlegungen war die simple Diagnose, dass New Orleans durch seine natürlichen Umweltbedingungen, vor allem durch seine Proximität zu Wasserläufen und Sümpfen sowie durch die regelmäßigen subtropischen Regenfälle, ein Übermaß an Wasser aufwies, und dass dieses Wasser ein Problem darstellte. Dies sei in erster Linie dann gefährlich, wenn es stagniere, ob in Zisternen oder Sickergruben, in offenen Abwasserkanälen oder in Sümpfen oder schlicht auf der Straße. Gerade stagnierendes Wasser galt den zeitgenössischen medizinischen Theorien entsprechend als optimaler Nährboden für Krankheiten. Miasmen entstünden, Epidemien würden sich ausbreiten, die Stadt als ungesund abgestempelt und wirtschaftlich in Mitleidenschaft gezogen. Bei Überschwemmungen kam der Verkehr zum Erliegen, business vor Ort wurde erschwert, Beschäftigte in Industrie und Handel erkrankten – so die zeitgenössische Wahrnehmung – aufgrund von pestilenziellen Abwasserkanälen und Sümpfen, andere Handelsstädte setzten die Stadt unter Quarantäne, was auch den Handel zum Erliegen brachte, Investoren und potentielle Zuzügler wurden abgeschreckt, kurz, man glaubte: »Community health means civic wealth.«89 Es galt daher, das überflüssige Wasser zum Abfließen zu bringen, so dass es nicht in der Stadt stehen bleiben und dieser gesundheitlichen und damit letztlich wirtschaftlichen Schaden zufügen konnte. Das Zuviel an Wasser wurde dabei als ein Übergreifen der natürlichen Umwelt in den städtischen Raum oder, im Fall der Sümpfe, als ein der Urbanisierung entgegenstehendes natürliches Hindernis perzipiert. Beidem musste entgegengewirkt werden. Die Natur sollte so kontrolliert werden, dass das viele Wasser der Stadt nicht mehr schaden konnte. Gegen die subtropischen Regenfälle selbst, gegen die nahen Bayous, den Fluss und die Seen konnte man nichts unternehmen, aber ihre 89 | Board of Health, Report of the Health and Sanitary Survey, 19.

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Folgen konnte man regulieren, indem man das Wasser zum geordneten Abfließen brachte. Die Sümpfe konnte man sogar durch Trockenlegung beseitigen. Während man also gegen die Menge des Wassers direkt nichts tun konnte, so war es durchaus möglich, die Stagnation dieses Wassers zu verhindern. Diese wurde folglich weniger auf die natürliche Umwelt zurückgeführt, als auf die Unfähigkeit der New Orleanians in der Vergangenheit, eine adäquate drainage der Stadt zu gewährleisten. Der bisherige Umgang mit dem ›Umweltproblem‹ des Wassers, so scheint es, war genauso kritikwürdig wie das Problem selbst. In diesem Sinne stand das Bild stagnierender Gewässer für die Stagnation einer Gesellschaft, die den Naturgewalten nicht Einhalt bieten konnte und der folglich Bewegung im doppelten Sinne – als Wasserfluss und als Fortschritt – versagt blieb. Fortschritt aber war das Ideal schlechthin. Im Kontext des Wasserproblems wurde der Begriff des Fortschritts zwar mit konkretem Inhalt versehen, indem er mit Gesundheit und Wohlstand gleichgesetzt wurde. Gleichzeitig erscheint er in den Diskursen der Zeit jedoch auch häufig losgelöst von jeglichem Inhalt: Fortschritt an sich war das Ziel; wenn man fortschrittlich war, dann konnte nichts schiefgehen. Es kam nahezu einer Häresie gleich, sich Projekten in den Weg zu stellen, die dem Ziel des Fortschritts dienen sollten, wie die Polemik gegen die Kritiker der drainage tax von 1889 zeigte. Vor allem nach außen hin sollte das allzu oft mit den Attributen des Alten Südens versehene New Orleans fortschrittlich wirken. Ein Mittel dazu war die Installation eines modernen drainage-Systems. Fortschritt, hier in Form der drainage, war dabei dementsprechend Ziel und Mittel zugleich: Er sollte zu Gesundheit und Wohlstand führen – und diese wurden so zum Indikator für die erstrebenswerte Fortschrittlichkeit der New Orleanser Gesellschaft. Als Mittel wurde Fortschritt gleichgesetzt mit der Anwendung von moderner Technik und von neuen Erkenntnissen aus der Wissenschaft. Das neue drainage-System sollte eine Meisterleistung der Ingenieure werden, die wissenschaftlich fundiert war, und so in geradezu perfekter Weise zu Fortschritt, Gesundheit und Wohlstand führen würde. Die Garantie für das Funktionieren des neuen Systems sollte der Plan bieten, der vorher penibel erarbeitet wurde und der auf Erkenntnissen aus den diversen Wissenschaften, aus Medizin, Hydrographie, Topographie etc. beruhte. Der Plan war neben Technologie und Wissenschaft das Mittel schlechthin, das den Erfolg des Systems gewährleisten sollte. Er sollte die systematische, umfassende und effiziente Installation eines umfassenden, effizienten und permanenten drainage-Systems garantieren. Gerade diese Charakteristika wiederum galten in der Progressive Era als erstrebenswert. Effizienz sollte die Reibungslosigkeit des Lebens in vielerlei Hinsicht, sei es in der Politik, sei es in der Wirtschaft oder eben im Umgang mit den Naturgewalten, ermöglichen, und nur ein Plan mit umfassendem Anspruch konnte diese garantieren. Alles andere, etwa unkoordiniertes Vorgehen an vereinzelten Stellen in Patchworkweise, musste in

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dieser Perspektive als ineffizient, weil nicht von Dauer erscheinen. Aus diesem Grund nahmen die New Orleanians auch die Versuche der Vergangenheit, mit dem Wasserproblem umzugehen, als unzulänglich wahr. Dass diese offenkundig versagt hatten, die Stadt vor Flut und stagnierendem Wasser zu schützen, wurde darauf zurückgeführt, dass sie nicht auf moderner Technik und Wissenschaft basiert hätten und keinem umfassenden Plan gefolgt seien. Der Glaube an die Wirksamkeit von scheinbar rationalen Lösungen kannte dabei keine Grenzen. Die Lösungsformel schien einfach: Ein bißchen Technik, ein bißchen Wissenschaft, ein Plan, und schon schien dem permanenten Fortschritt bis zur letztendlichen Perfektion nichts im Weg zu stehen. Dahinter steckte zum einen ein für die Zeit charakteristischer Glaube an die grundsätzliche Gestaltbarkeit der Dinge – etwa an die Macht, ganze Sümpfe trockenzulegen –, eben gerade mittels all dieser rational einzusetzenden Instrumente wie Wissenschaft und Technik. Zum anderen war der Glaube an die grundsätzliche Möglichkeit von Fortschritt ein fundamentales Merkmal der Zeit. Fortschrittsoptimismus prägte das Reden über die Stadt New Orleans um 1900 ebenso wie alle anderen Initiativen der Progressive Era.90 Aktives Handeln, das zu diesem Fortschritt beitrug, wurde selbstverständlich begrüßt – ganz im Geist der amerikanischen Pioniere, die, so der Topos, aus der Wildnis einen Garten Eden gestaltet hatten. Gestaltungswille und Initiative waren durchaus erstrebenswerte Merkmale, die mit den Schreckgespenstern von Trägheit und Faulheit kontrastiert wurden – gerade in New Orleans, dem allzu oft die Laxheit und Ziellosigkeit des ›südlichen Lebens‹ nachgesagt wurde. Allerdings war der Fortschrittsoptimismus zum Teil so stark, dass es schien, als würde der Fortschritt sowieso eintreten, allen Widrigkeiten zum Trotz: Der Lauf des Fortschritts musste doch unausweichlich sein. Während dies teilweise eine rhetorische Strategie war, mit der sich die Protagonisten der als fortschrittlich verkauften Initiativen zu Vertretern des ohnehin Unausweichlichen stilisierten, dem dadurch mehr Überzeugungskraft verliehen wurde, hatte diese Vorstellung auch etwas Beruhigendes. Egal welche Hindernisse es gab, der letztlich perfekte Zustand würde sowieso irgendwann eintreten, es war nur eine Frage der Zeit. Damit deutet sich an, wohin der Lauf des Fortschritts führen sollte: In einen Zustand der Perfektion. Diese Teleologie des Fortschritts, die auf einem fundamentalen Glauben an die Perfektibilität der Welt beruhte, scheint in gewisser Hinsicht paradox. War das Fortschreiten, die Bewegung, das Ideal, so doch nur in der Gegenwart, nur bis ein – wie auch immer gearteter – perfekter Zustand erreicht werden würde. Dann sollte tatsächlich Stillstand eintreten; dies wäre 90 | Den Glauben an die Möglichkeit, die Welt rational zu verstehen und dementsprechend zu gestalten, sieht Peter Wagner, Soziologie der Moderne: Freiheit und Disziplin (Frankfurt: Campus, 1995), v.a. 254, als zentrales Charakteristikum der Zeit zwischen den 1890er und 1970er Jahren an, die er als ›organisierte Moderne‹ bezeichnet.

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dann gewissermaßen das Ende der Geschichte, das Ende von Wandel und Kontingenz, von Brüchen und Widersprüchen. Man glaubte an die Fähigkeit, nicht nur den Raum zu beherrschen, sondern auch die Zeit: Der Plan sollte nicht nur umfassend sein, alle Stadtteile miteinbeziehen, sondern eben auch permanent und für alle Zeiten gültig. Das perfekte drainage-System würde ein für alle Mal dieses eine Problem lösen. Mit einem ordentlichen Entwässerungsplan würde New Orleans nie wieder mit einem Übermaß an Wasser zu kämpfen haben – eine Vorstellung, die im 20. und 21. Jh. durch zahllose Überflutungen ad absurdum geführt wurde. Der perfekte Zustand von New Orleans wäre den Diskursen um die drainage zufolge der einer Stadt, die wirtschaftlich prosperierte und deren Gesellschaft aufgrund von fortschrittlichen Initiativen von Erfolg gesegnet war. Denn darum ging es letztlich: Um materiellen Wohlstand für New Orleans. Die ehemalige Queen City of the South sollte in einem neuen Zeitalter, dem Zeitalter von Industrie und Kapitalismus, von Unternehmergeist und Fortschritt, von Wissenschaft und Technik, zu neuer Blüte gelangen und nicht länger nur von ihrem alten Ruhm zehren. Der Stadtraum selbst sollte gleichzeitig dazu beitragen und Ausdruck dieser neuen Qualität sein. In ihm versinnbildlichte sich eine neue Ordnung, die den Einzug von New Orleans in den Neuen Süden visuell festschreiben sollte. Die Ordnung des rational geplanten, steten Fortschritts spiegelte sich im Bild und in der Struktur des idealen drainage-Systems. Das Wasser sollte nicht stagnieren, sondern stetig fließen, und zwar in geplanter und kontrollierter Weise, an dafür vorgesehenen Orten, in modernen Kanälen, möglichst unterirdisch und unsichtbar; in einem weitgespannten Netzwerk sollte jede Straße an das System angeschlossen werden. Verschiedene Arten von Wasser – Abwasser, Regenwasser, Frischwasser – sollten in unterschiedlichen Bahnen verlaufen und getrennte Systeme bilden. Wasser wurde somit typisiert und kategorisiert, die Kategorien fein säuberlich getrennt und unterschiedlichen Netzwerken zugeordnet und innerhalb der Netzwerke in permanenter Bewegung gehalten. Die Stadt sollte gemäß dieser rationalen Ordnung der kontrollierten Zirkulation funktionieren; dieselben Ideale prägten zu der Zeit auch andere Elemente der Großstadt, etwa den Umgang mit Straßenverkehr. Hier findet sich die von John Henry Hepp IV für die Mittelschichten Philadelphias diagnostizierte Suche nach rationaler Ordnung wieder, die von wissenschaftlichen Methoden der Klassifikation inspiriert war, v.a. von der Taxonomie.91 Hepp hat am Beispiel der Stadt Philadelphia jene Verwandlungsprozesse untersucht, denen drei große wirtschaftliche Institutionen der Stadt um 1900 ausgesetzt waren, die Tageszeitungen, die Eisen- und Straßenbahnen sowie die Kaufhäuser. Sie alle, so seine These, wurden in diesem Zeitraum durch die middle classes der Stadt neu geordnet, und zwar nach demselben Leitbild 91 | Hepp, Middle-Class City, 10-12.

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einer rationalen Ordnung, die auf dem Kategorisieren der Dinge, dem Trennen von Unterschiedlichem und dem Zusammenfügen von Gleichem beruhte. Der Raum und die Zeit der Stadt wurden klassifiziert und rationalisiert – und das ganz ohne staatlichen Zwang.92 Die Ursprünge dieser Art rationaler Restrukturierung des Lebensumfelds sieht er in den Wissenschaften der Zeit, vor allem in der Taxonomie, einer Methode der systematischen Klassifizierung, die im 19. Jh. auch in den neuen Sozialwissenschaften Anwendung fand und im frühen 20. Jh. in der Weltsicht der Mittelschichten fest verankert war.93 Dementsprechend war, so Hepp, die vielzitierte »Suche nach Ordnung« in der Stadt der Jahrhundertwende von Fortschrittsoptimismus und Wissenschaftsglauben angetrieben.94 Die Welt so neu zu ordnen, wie es die Wissenschaft vorsah, das versprach Fortschritt und Wohlstand. In dieser optimistischen Neuordnung des alltäglichen, urbanen Lebens im Victorian Age sieht er die kulturelle Wurzel für eine im engeren Sinne politische Suche nach Ordnung, die sich in den Reformen der Progressive Era Anfang des 20. Jh.s entlud.95 Hepp widerspricht damit einigen Klassikern der Progressivismus-Forschung, die die Reformen vor allem auf eine Angst der Mittelschichten zurückführen, angesichts von big business und Immigrationswellen ihren Status zu verlieren.96 Weniger Angst als Optimismus und Gestaltungswillen sieht er als Ursache.97 Damit wird er zwar dem herkömmlichen Verständnis der Progressive Era und ihrer Suche nach Ordnung nicht ganz gerecht. Längst gibt es Theorien zu einer langen Progressiven Ära, die das späte 19. Jh. mitberücksichtigen, und dass Angst vor Statusverlust mit Fortschrittsoptimismus Hand in Hand ging und sich die beiden Motivationen nicht ausschlossen, hat die jüngste Forschung auch gezeigt.98 Doch kann Hepp erhellen, dass die Reformen der Stadt im Leitbild der rationalen Ordnung wurzelten, dass diese Leitbilder diejenigen der Mittelschichten waren und die Neustrukturierung aller Lebensbereiche prägten. Er betont zu Recht, dass die »department stores« nicht umsonst »department stores« genannt wurden.99 »Departmentalization«100 war die grundlegende Struktur des Neuordnungsprozesses. »The bourgeois city«, schreibt Hepp, »was lo92 | Ebd., 9; 28. 93 | Ebd., 2; 10-11. 94 | Ebd., 114. 95 | Ebd., 7-8. 96 | So die Grundthese von Richard Hofstadter, The Age of Reform: From Bryan to F.D.R. (New York: Alfred A. Knopf, 151989). 97 | Hepp, Middle-Class City, 7-8. 98 | McGerr, Fierce Discontent. Ähnlich ausgedehnter Zeitraum auch schon bei Wiebe, Search for Order. 99 | Hepp, Middle-Class City, 8. 100 | Ebd.

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gical and rational and well-cataloged: everything and everyone had its place in this Philadelphia«.101 Bei allem Fortschrittsoptimismus lässt sich für New Orleans allerdings eine, wenn auch anders gelagerte, Angst ausmachen: Die drainage-Projekte entsprangen eher der in den Mittel- und Oberschichten verbreiteten Furcht, von außen als altmodisch wahrgenommen zu werden und dem gleichzeitigen Optimismus, dies verhindern zu können, als der Angst der middle classes, innerstädtisch ihre gesellschaftliche Position einzubüßen. Kontrollierter Wasserfluss trug zum Fortschritt der New Orleanser Gesellschaft bei und drückte diesen zugleich aus. Gleichzeitig boten die drainage-Pläne bestimmten Angehörigen dieser Schichten, etwa Medizinern oder Ingenieuren, die Gelegenheit, sich als Experten zu etablieren und so einen neuen Status zu erringen – was aber nicht explizit gesagt wurde: Die drainage sollte, folgte man der Rhetorik seiner Befürworter, keinen privaten Interessen dienen. Wie wichtig dieses Argument war, zeigt das Scheitern der drainage tax von 1889 aufgrund der Angst vor »paving rings«, die geradezu zum Sinnbild der ›bösen‹ privaten Interessen wurden.

B RÜCHE UND K ONSENS Letztlich transportierte dieses Bild der perfekten fortschrittlichen Stadt die Vorstellung einer gewissen Homogenität der Bewohner von New Orleans. In all dem Sprechen über drainage wurde kaum zwischen Stadtteilen oder zwischen Bevölkerungsgruppen differenziert. Die Träger der Entwässerungsinitiativen suggerierten, dass ihre Pläne dem Wohl der gesamten community dienten. Es sollte um die Prosperität der Stadt gehen, ohne dass dabei unterschieden wurde, wer profitieren sollte. Experten wie Politiker, Unternehmer wie Journalisten erhoben Anspruch darauf, dass es ihnen um das öffentliche Wohl gehe. Dementsprechend sollte auch die Kontrolle über den wohlgeordneten Abfluss des Wassers in den Händen der Stadtverwaltung als Repräsentant aller New Orleanians liegen. Private Interessen wurden in diesen Diskursen schlicht negiert, seien es die Interessen der Experten oder der Geschäftsleute, oder der zur Wahl stehenden Lokalpolitiker. Dass es diese Interessen gab, die Brüche unter der homogenen Oberfläche bildeten, das deutet sich in der Geschichte der drainage an. Manche Stadtteile etwa wurden bei der Installation des Systems benachteiligt und mussten noch lange mit Schlamm vor der Haustür leben; es waren Bankpräsidenten und Ingenieure, die gemeinsam die maßgeblichen Pläne erstellten. Geschäfts- und Finanzeliten definierten zusammen mit den neueren Experteneliten, was das öffentliche Wohl war und wie man dieses gewährleisten konnte. Zwar war man nach außen hin geeint, man suchte, die Stellung von 101 | Ebd., 2.

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New Orleans im Konzert der Städte zu verbessern, aber letztlich führte das allgemeine Ideal, die Partizipation an dem vielzitierten unternehmerischen und fortschrittlichen Zeitgeist, gerade dazu, Individualinteressen zu verstärken, wie es der Times-Democrat nach der Kritik an den »paving rings« so schön zum Ausdruck brachte: Irgendjemand musste schließlich Geld verdienen. Außerdem nahm mit den modernen public works-Systemen die Macht der Stadtverwaltung selbst zu, die ihren Verantwortungsbereich um 1900 ausweitete. Der Staat, auch auf der lokalen Ebene der Stadtpolitik, wurde dadurch zunehmend bürokratischer, Lokalpolitiker ebenso wie white collar-Angestellte erweiterten so ihren persönlichen Handlungsspielraum und festigten ihre Stellung im Ablauf städtischer Entscheidungen. Während die Stadt von den führenden Akteuren homogen gedacht wurde, so war sie es doch nicht. Nichtsdestotrotz ist es erstaunlich, wie groß der Konsens hinter den drainage-Projekten war und wie konstant sich die Fortschrittsdiskurse hielten, die das Reden über Wasser in New Orleans prägten. Ungebrochen blieb der Optimismus, der die Auseinandersetzung mit den Naturgewalten leitete, von den 1880er bis in die 1920er Jahre hinein; von fin de siècle-Pessimismus, der den Sinn des Fortschritts und vor allem seinen Zielpunkt kritisch hinterfragte, keine Spur. Vielleicht lag das daran, dass der Fortschritt während großer Teile dieses Zeitraums immer als noch in der Zukunft liegend begriffen wurde; schließlich charakterisierte erst Martin Behrman die Stadt der Gegenwart als fortschrittlich und den Fortschritt als ein erreichtes Ziel. Auch wenn das Entwässern der Stadt und die Trockenlegung der Sümpfe viele Rückschläge erhielt, so waren sich die drainage-Arbeiten doch der Unterstützung der meisten Bürger von New Orleans spätestens seit den 1890er Jahren, nachdem die drainage vom Straßenpflastern finanziell getrennt wurde, sicher. Kritisiert wurde höchstens der unzulängliche Fortgang der Arbeiten, mangelnde Effizienz etwa, die sich in bestehenden Überschwemmungen äußerte, aber nicht die grundsätzliche Bedeutung der drainage. Für New Orleans war dieser Kampf mit dem Wasser schlicht und einfach lebensnotwendig; zu zerstörerisch war die Gewalt der Überflutungen, als dass man die Wichtigkeit eines adäquaten Entwässerungssystems negieren konnte. Die Versuche, das Wasser von New Orleans zu kontrollieren, schweißten zusammen. Wenngleich es Reibereien in konkreten Fragen gab, so war man sich doch grundlegend einig: New Orleans bedurfte eines modernen drainage-Systems, um zu überleben, und vor allem, um zu expandieren. All jene, die im Balkonstreit von 1914 gegensätzliche Positionen bezogen, waren sich hinsichtlich der Notwendigkeit von drainage ebenso einig wie die politischen Kontrahenten, die regulars und reformers. Die führenden Kreise in der Stadt wurden nicht müde, nach außen hin die besonders widrigen natürlichen Umweltbedingungen von New Orleans hervorzuheben, um die Tapferkeit, Hartnäckigkeit und Fortschrittlichkeit sowie den Unternehmergeist der New Orleanians in hellem Licht erstrahlen zu lassen.

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New Orleans, so schien es, war mehr als jede andere Stadt nicht nur durch ihre Umwelt geprägt, sondern vor allem durch den Kampf gegen diese Umwelt. Während viele Beschreibungen von New Orleans sich der Stadt über ihre Umwelt näherten und die Stadt maßgeblich durch diese geprägt zu sein schien, durch die Bayous und den Mississippi, Lake Pontchartrain und den Regen, durch die Hitze und den ewigen Sommer, so wählten die New Orleanians aus diesem Kanon die angenehmen Aspekte heraus. Im Übrigen definierten sie ihre Stadt in Abgrenzung zu als natürlich aber unangenehm perzipierten Phänomenen, wie etwa den angrenzenden Sumpfgebieten oder dem in den Straßen stagnierenden Regen. In der Definition von New Orleans spielte folglich in beiden Versionen eine räumliche Referenz die zentrale Rolle, nämlich die als Natur wahrgenommene Umgebung des urbanisierten Territoriums, die entweder in diesem willkommen war, oder aus diesem endgültig verbannt werden sollte. Zudem schweißte nicht nur der Kampf gegen die Naturgewalten die New Orleanians zusammen, sondern auch der Konkurrenzkampf mit anderen Städten. Die ständige Angst davor, abgehängt zu werden, zieht sich wie ein roter Faden durch die Äußerungen der Zeitgenossen; diese Angst war in den 1880er Jahren genauso groß wie in den 1920ern. Vielleicht kamen auch deshalb unterschwellig vorhandene Brüche in einem so wichtigen Projekt wie der drainage nicht an die Oberfläche. In anderen Kontexten konkurrierende Eliten konnten es sich nicht leisten, ein solch zentrales Unternehmen durch Konflikte zu gefährden. Hier mag die relative Stabilität der Führungsschichten von New Orleans hinzukommen, die kaum durch innerstädtisch neu aufsteigende Gruppen wie etwa Immigranten gefährdet wurde, da sich die Immigration im Vergleich mit den großen Einwanderungszentren wie Chicago in Grenzen hielt und man zudem in der Tradition der White League und ganz gemäß den Gepflogenheiten des Jim Crow-Südens ein großes Gewaltpotential in der Hinterhand wusste, um gegen unliebsame Gegner vorzugehen: Das hatte das Lynchen von elf Sizilianern 1891 eindrucksvoll gezeigt.102 Die führenden Zirkel von New Orleans waren sich ihrer Hoheit sicher; die einzige Unsicherheit, die sie zu noch heftigeren Äußerungen des Fortschrittsglaubens, ja gar Beschwörungen desselben veranlassten, war die Angst vor äußerer Konkurrenz. Damit definierte sich New Orleans letztlich im Vergleich zu anderen großen Städten; nicht etwa das Hinterland war die Referenzgröße, sondern die konkurrierenden Metropolen der USA, die hinsichtlich der Ideale von Fortschritt und Prosperität die Nase vorn hatten.103 Dabei deutet sich an, wie ambivalent das Verständnis von einer New Orleanser Identität um 1900 war. New Orleans, das war die Natur der Stadt und der Kampf gegen diese 102 | Vgl. Marco Rimanelli and Sheryl L. Postman (eds), The 1891 New Orleans Lynchings and U.S.-Italian Relations: A Look Back (New York: Peter Lang, 1992). 103 | Zur Formierung des Eigenen einer Stadt in Abgrenzung zu anderen Städten vgl. Löw, Soziologie der Städte, 96-97.

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Natur zugleich. New Orleans, das war eine besondere Stadt, weil sie südlich war und zugleich so fortschrittlich wie die fortschrittlichsten amerikanischen Städte. Während die Diskurse, in die die drainage-Projekte eingebettet waren, ein homogenes New Orleans suggerierten, transportierten sie dennoch scharfe Bruchlinien. Allerdings waren diese nicht in der Gleichzeitigkeit lokalisiert, nicht räumlich gedacht zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen, sondern verliefen in der Zeit. Sämtliche Texte zur drainage sind geprägt von einem dichotomischen Denken, das einen grundlegenden Gegensatz zwischen Vergangenheit und Zukunft ausmacht. In diese zeitliche Dichotomie hinein projizierte man sämtliche andere binäre Oppositionen, die die oben herausgearbeiteten Diskurse über drainage charakterisierten. Vergangenheit und Zukunft verhielten sich zueinander wie Stagnation zu Bewegung, Verfall zu Fortschritt, Krankheit zu Gesundheit, Armut zu Wohlstand, Dominanz der Umwelt zu Dominanz der Stadt, Alter Süden zu Neuem Süden, Unordnung zu Ordnung, Irrationalität zu Rationalität. Es schien, als stünde die Gegenwart auf einem schmalen Grat zwischen beiden Alternativen: Sie konnte in Richtung Verfall und damit in die Vergangenheit kippen, oder in Richtung Fortschritt und damit in die Zukunft. Gewissermaßen reproduzierte sich hier im Denken über Zeit die oben skizzierte Lust am Denken in Kategorien. Vergangenheit und Zukunft stellten zwei verschiedene Sphären dar, gleich den unterschiedlichen Abteilungen der department stores und den getrennten Kanälen des Wassers. Anders als diese wurden sie zudem normativ aufgeladen: Alles Schlechte wurde in der Vergangenheit lokalisiert, das Gute in der Zukunft. Damit vermied man es, Stagnation, Verfall und Krankheit als Eigenschaften der Gegenwart zu identifizieren, oder überhaupt Brüche in der Gegenwart auszumachen, z.B. den existierenden Kontrast zwischen Verfall in manchen Stadtteilen und Wohlstand in anderen. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wurde schlicht dadurch negiert, dass man die Gegenwart in Aspekte der Vergangenheit und der Zukunft aufteilte und diese unterschiedlichen zeitlichen Sphären zuwies. Zum einen schien dadurch die Gegenwart homogener und weniger brüchig, zum anderen schien die Vergangenheit schlecht und das Schlechte damit vergangen. Erst nachdem Martin Behrman den Beginn der Zukunft verkündet hatte, erfolgte ein entscheidender Schritt in der Geschichte des drainage von New Orleans. Der Ingenieur A. Baldwin Wood entwickelte 1913 einen neuartigen Pumpentypus, die Wood Screw Pump, der die Pumpkapazitäten mehr als verdoppelte.104 Ab 1915 wurden diese neuen Pumpen installiert105 , und erst in der Folge konnte das sumpfige Gebiet in Richtung Lake Pontchartrain nach und nach trockengelegt werden. Ein Health and Sanitary Survey der Stadt konnte 1919 feststellen, dass einige Teile des »undeveloped land to the rear of the city« inner104 | www.loyno.edu/~history/journal/1995-6/haydel.htm, Stand 19.7.2010. 105 | »Monster drainage pump nearly ready«, in: Times-Picayune, 21.1.1915.

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halb der letzten Jahre erfolgreich trockengelegt und für die Bebauung geöffnet wurden.106 Der Geograph Peirce Lewis vergleicht die Bedeutung dieser Pumpe mit der des Fahrstuhls: »[…] just as high speed elevators changed the geography of New York City by making skyscrapers possible, the Wood pump revolutionized the urban geography of New Orleans by suddenly opening to settlement areas which were thought forever closed.«107 Er weist aber auch darauf hin, dass der Prozess der Ausdehnung des urbanisierten Gebiets Richtung See sehr langsam ablief, da die Sumpfentwässerung aufwändig war und eine Reihe unvorhergesehener Folgen nach sich zog. Die drainage ließ den Level des backswamp weiter sinken, so dass es noch dringender notwendig wurde, das Gebiet mittels levees vor Hochwasser durch See und Fluss zu schützen.108 Zudem musste Sand aufgeschüttet werden, um die neu zu errichtenden Häuser auf einigermaßen festen Grund zu stellen. Selbst in ihrer urbanisierten Form blieben diese Gebiete dennoch die von heftigen Regenfällen und Fluten am meisten bedrohten Stadtteile. Gleichzeitig blieben auch in den 1920er Jahren einige Stadtteile vom neuen drainage-System ausgeschlossen. Zwar wurden 1925 bereits 30 000 acres entwässert, aber die Erweiterungen des Systems verteilten sich nicht gleichmäßig auf das gesamte Stadtgebiet.109 »Ill-drained pockets«, wie Craig Colten sie nennt, gab es in den tiefer liegenden Gebieten uptown sowie in jenen Teilen der downtown-Bezirke, die vor allem von Einwanderern bewohnt wurden.110 So beschwerten sich noch 1925 die Anwohner von Galvez Street, Miro Street, Tonti und Rocheblave Street aus dem 8th ward östlich von Elysian Fields Avenue beim Stadtrat über die »deplorable condition of the above mentioned streets«. Die Straßen seien 20 Jahre lang vernachlässigt worden. »These streets are impassable in dry weather and are veritable lakes and bog pits in wet weather.«111 Erst die Rekordregenfälle vom 15. April 1927, die aufgrund des Ausfalls eines Pumpengenerators die tieferliegenden Teile der Stadt 48 Stunden lang unter Wasser setzten, führten zur Erweiterung des drainage-Systems auf Gebiete, die bisher ausgelassen worden waren.112 »Thus by 1930 the drainage system was providing service to the bulk of the built-up area, with little remaining evidence 106 | Board of Health, Report of the Health and Sanitary Survey, 139. 107 | Lewis, New Orleans, 66. 108 | Ebd. 109 | Colten, Unnatural Metropolis, 93. 110 | Ebd. 111 | Petition an das Commission Council, 12.11.1925, in: NOPL/CA, City Council Records, Official Proceedings, Box 4/28-12/23 1925, Folder Nov. 17, 1925. 112 | Colten, Unnatural Metropolis, 97. Zur Flut von 1927 vgl. John M. Barry, Rising Tide: The Great Mississippi Flood of 1927 and How It Changed America (New York: Touchstone, 1997).

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of neighborhood neglect.«113 Ärmere Stadtteile sowie vorwiegend von Schwarzen bewohnte Viertel waren zumindest in dieser Hinsicht fortan nicht mehr benachteiligt. Eine Folge der Trockenlegung des Sumpfes war jedoch die Verschärfung der »racial segregation« in New Orleans. Lewis fasst dies präzise als räumliche Marginalisierung der schwarzen New Orleanians: Weiße bewohnten fortan die höheren Teile der Stadt an den natürlichen levees, Schwarze hingegen wurden »pushed into the demi-land on the inland margin of the natural levee, where drainage was bad, foundation material precarious, streets atrociously unmaintained, mosquitos endemic, and flooding a recurrent hazard. Along this wretched margin there developed a discontinuous belt of black population […]«114 . Bis 1930 hatte sich eine deutliche residentielle Segregation herausgebildet; die schon dem Namen nach prestigeärmsten Gebiete, der backswamp und die »bottom of the bowl«115 , wurden zunehmend von schwarzen New Orleanians bewohnt.116 Die Paradoxie des drainage systems bezüglich der Rassentrennung resümiert Craig Colten: »Although the improved drainage system opened new areas to black residents, at the same time it contributed to segregation, reflecting established patterns of turning low-value land associated with environmental problems over to minority populations.«117 Das stadtweite, umfassende und damit inklusiv gedachte drainage-System hatte im Zeitalter von Jim Crow letztlich eine Verschärfung der Rassengrenzen zur Folge.118

»G OOD SHAPE «, » GOOD ORDER « Diese Folgen der Expansion der Stadt in die trockengelegten ehemaligen Sumpfgebiete wurden jedoch erst in den 1930er Jahren sichtbar. In den drainage-Initiativen der 1880er bis in die 1920er Jahre spielte die Rassentrennung kaum eine Rolle. In den Verhandlungen zur drainage wurde die Segregation nie erwähnt; das public works-System musste umfassend sein, um effizient zu sein. Sämtliche Initiativen entsprangen allerdings den führenden, weißen Schichten der Stadt, die das von ihnen entwickelte System auf die ganze Stadt anzuwenden suchten. Von allen anderen Einwohnern von New Orleans wurde schlichtweg erwartet, 113 | Colten, Unnatural Metropolis, 97. 114 | Lewis, New Orleans, 52. 115 | Colten, Unnatural Metropolis, 100. 116 | Ebd., 106. 117 | Ebd., 107. 118 | Arnold R. Hirsch and Joseph Logsdon, »Introduction to Part III: Franco-Africans and African-Americans«, in: dies. (eds), Creole New Orleans: Race and Americanization (Baton Rouge: Louisiana State University Press, 1992), 189-200, hier 198-99.

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dass sie der Führung der Wirtschafts- und Bildungseliten folgten und deren Verständnis vom Fortschritt der Stadt nicht im Weg standen. Während die Errichtung der drainage faktisch von Experten durchgeführt werden musste, so zeigt ein anderes Beispiel für den Umgang der New Orleanians mit ihrem Stadtraum um 1900, welches mehr Eigeninitiative der Bürger forderte, dass die Rassentrennung auch bei diesen Initiativen strikt eingehalten wurde: die Clean Up-Kampagnen. Interessant ist dabei das, was nicht gesagt wurde. Die Segregation wurde nur selten thematisiert, nicht, weil sie in diesem Bereich nicht existierte, sondern weil sie ein selbstverständlicher Bestandteil der gesellschaftlichen Struktur war, der weiterer Erwähnung nicht bedurfte, wie sich an vereinzelten Äußerungen zum Thema zeigt. Beim Clean Up ging es ebenfalls um den Kampf gegen die Natur von New Orleans – aber auch um den Kampf gegen die Nachlässigkeit seiner Bewohner; die normative gesellschaftliche Dimension des Umgangs mit dem städtischen Raum tritt hier daher noch deutlicher hervor als im Fall der drainage. Die steten Beschwerden über verstopfte Abwasserkanäle stellten die Nahtstelle zwischen drainage und Clean Up dar. Während die Experten ein umfassendes, modernes Entwässerungssystem forderten und Pläne für ein System erstellten, das auf neuen, kraftvollen Pumpen und unterirdischen Kanälen beruhte, die so nicht mehr verstopfen konnten, mussten die New Orleanians im Alltag mit den alten Kanälen auskommen. Das einzige, was der einzelne Bürger tun konnte, um die allseits verhasste und als gefährlich betrachtete Stagnation des Wassers zu verhindern, war, die Stadtverwaltung aufzufordern, die Kanäle zu reinigen, oder selbst das Verstopfen derselben zu verhindern. Während die ständige Verärgerung über »weeds«, die das Abfließen verhinderten, als Teil des New Orleanser Kampfes gegen die widerspenstige Natur der Stadt wahrgenommen wurde, gegen die der Einzelne wenig ausrichten konnte, so konnte doch jeder dafür Sorge tragen, seine Abfälle nicht in die Kanäle zu werfen. Dementsprechend umfassten die in der Stadt um 1900 regelmäßig initiierten Clean Up-Kampagnen nicht nur konkrete Reinigungsmaßnahmen, sondern auch Aufklärungskampagnen, die die Bürger nachhaltig zu Sauberkeit erziehen sollten. Träger dieser Initiativen war eine breite Koalition von New Orleanians, die für sich beanspruchten, zu wissen, was dem Wohl der Stadt diente. Die Clean Up-Kampagnen waren in dieser Hinsicht tatsächlich eine grassroots-Bewegung, die von unten in die Wege geleitet und nicht von der Stadtverwaltung per Dekret verordnet wurde. Sie umfassten zumeist mehr als nur die bloße Straßenreinigung, da sie auf einen angenehmen Gesamteindruck des Stadtraums abzielten. Die Beseitigung von Müll bildete nur eine wichtige Maßnahme mit dem Ziel, den Anblick der Stadt zu verbessern. Daher wurden die Clean Up-Kampagnen häufig mit dem Begriff des improvement gleichgesetzt, der letztlich ein umfangreicheres ›Verbessern‹ des Stadtraums suggerierte und als Oberbegriff für

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diverse Maßnahmen fungierte.119 Während unter improvement allerdings auch die technischen Großprojekte der drainage, der sewerage und des paving fielen, bezeichnete Clean Up meist – aber nicht immer – lediglich jene Initiativen, die gewissermaßen bottom up ohne größeren Einsatz von Technologien und langfristigen Plänen ad hoc ausgeführt werden konnten. Eingebettet waren die umfassenden, spontanen Clean Up-Kampagnen mit ihrer breiten Trägerschaft in langfristigere Bemühungen der New Orleanians, den Anblick der Stadt zu verbessern. Exemplarisch dafür stehen die street improvement commissions. Nahezu jede größere Straße von New Orleans konnte in den 1890er Jahren eine eigene Verbesserungskommission aufweisen. Diese Kommissionen bestanden aus Anwohnern der Straße, die sich zusammenschlossen, um die Ansehnlichkeit ihrer Straße zu gewährleisten. 1891 wurde die erste dieser Kommissionen gegründet, die Ursulines Avenue’s Improvement Commission, die fortan als Pionierin der Stadtverbesserung in New Orleans galt. Rechtliche Legitimation erhielten die Kommissionen dadurch, dass eine spezifische ordinance des Stadtrates ihre Gründung erlaubte und ihnen die entsprechenden Befugnisse gewährleistete.120 Gewissermaßen waren diese commissions damit staatlich autorisierte Privatinitiativen, die basisdemokratisch organisiert waren. Jeder Block der Ursulines Avenue wählte einen commissioner, so dass alle Blocks gleichermaßen repräsentiert waren. Die commissioners wiederum waren dafür verantwortlich, in ihrem Block von Anwohnern und Hausbesitzern Geld einzusammeln, um die laufenden Arbeiten der Kommission und die Ausführung ihrer Projekte zu finanzieren. Als ihre zentrale Aufgabe verstand die Ursulines Avenue’s Improvement Commission »to keep the street in good condition, the gutters cleaned, the lawns green and well trimmed and everything in good shape.«121 Der gute Zustand der Straße war das explizite Ziel, und dazu gehörte die Reinigung der Rinnsteine ebenso wie die Pflege der Grünflächen, kurz: Es galt, die Natur in Schach zu halten, so dass nichts unbotmäßig wuchs und wucherte oder Kanäle verstopfen konnte. In unregelmäßigen Abständen formierten sich zusätzlich zu diesen langfristig bestehenden Initiativen immer wieder neu zusammengesetzte Gruppen, die stadtweite Säuberungskampagnen ins Leben riefen. Das primäre Ziel dieser ad hoc initiierten Clean Up-Kampagnen war es, die Straßen der Stadt zu reinigen. Sie stellten jedoch weniger langfristige Projekte als eine Art Notfallmaßnahme dar, die zum Ausdruck brachte, dass einige New Orleanians den Zustand ihrer Stadt als unerträglich empfanden und zu sofortigem Handeln aufriefen. Der

119 | »New Orleans, the Beautiful«, in: Architectural Art and Its Allies, 7:8 (Feb. 1912), 5-7, hier 5. 120 | »Ursulines Avenue’s Efficient System«, in: Daily Picayune, 10.5.1894. 121 | Ebd.

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Einsatz der Stadtverwaltung schien vielen nicht ausreichend.122 Häufig waren drohende Epidemien der Anlass für den plötzlichen Aktionismus, weshalb sich die meisten Kampagnen im Frühjahr bildeten, wenn es wieder richtig warm wurde. Gemäß den medizinischen Theorien der Zeit befürchtete man, die dreckigen Straßen könnten der Ausbreitung der Epidemien Vorschub leisten und man hoffte, durch strikte Sauberkeit die Seuchen einzudämmen. Gleichzeitig konzipierten die Initiatoren das Clean Up als »municipal housekeeping«, weshalb den Frühlingsaktionen die Funktion einer Art Frühjahrsputz zukam.123 In Ablauf und Zielsetzung ähnelten sich die Kampagnen über die Jahre hinweg sehr. Die Initiativen gestalteten sich weitgehend als bottom up-Maßnahmen, die auf Stadtteilebene entstanden und eine Dynamik entwickelten, die die ganze Stadt miteinbezog. Meist schlossen sich zunächst in den einzelnen Stadtteilen Bürger zusammen, die in ihrem Viertel für das Clean Up agierten und ihr Anliegen über die Tagespresse öffentlichkeitswirksam verbreiteten, bis sich letztlich ein stadtweites Netzwerk aus Clean Up-Clubs gebildet hatte. Im Gelbfieberjahr 1905 titelte die Daily Picayune in typisch optimistischer Weise: »Clean-up clubs forming in every city section with the patriotic purpose of aiding authorities in conquering disease and proving to the world that science has removed necessity for fear.«124 Konkret bestand eine Clean Up-Initiative aus einer Vielzahl von Aktivitäten. In einer Zeit, in der öffentliche Infrastrukturmaßnahmen wie etwa Abfallentsorgung oder Straßenreinigung noch in den Kinderschuhen steckten, griffen die Bürger im Angesicht von yellow jack selbst zu Besen und Schaufel. Im Sommer 1905 wurde eine ganze Woche zur Clean Up-Woche erklärt; Heerscharen von »volunteer forces« putzten in diesen Tagen die Stadt.125 Jeder Bürger wurde aufgerufen, sich zu beteiligen. Nicht nur sollten die Straßen gereinigt werden, sondern die Häuser frisch gestrichen, alte und baufällige Anbauten abgerissen und Gras, Bäume und Blumen auf unbebaute Grünflächen gepflanzt werden.126 Um einen reibungslosen Ablauf zu garantieren und dem kollektiven Putzfieber einen systematischen Anstrich zu verleihen, wurden die anstehenden Reinigungsarbeiten kategorisiert und jeder Tag einer anderen Aktivität vorbehalten: An einem Tag etwa sollte jeder seinen Vorgarten aufräumen, an einem anderen die Hinterhöfe, ein Tag war für das Häuserstreichen reserviert, und einen Tag 122 | Vgl. »Fire Engines Needed to Clean City’s Streets«, in: Times-Democrat, 25.10.1903. 123 | Martin V. Melosi, Garbage in the Cities: Refuse, Reform, and the Environment (Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, ²2005), 107-109, dort auch mehr zu den grundlegenden Merkmalen der Clean Up-Kampagnen in amerikanischen Städten. 124 | »Ursulines Avenue’s Efficient System«, in: Daily Picayune, 10.5.1894. 125 | »Magnificent Work by Clean-Up Clubs«, in: Daily Picayune, 30.7.1905. 126 | »New Orleans, the Beautiful«, in: Architectural Art and Its Allies, 7:8 (Feb. 1912), 5.

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lang wurden die Straßen geputzt.127 Nach einer zweiwöchigen Kampagne versuchten 1914 die Initiatoren, den Elan des Clean Up über das Jahr hinweg zu bewahren. Jeder erste Freitag im Monat wurde fortan zum »clean up day« erklärt.128 Neben der Gesundheit der Stadt, die durch ihre Sauberkeit gewährleistet werden sollte, ging es in den Clean Up-Aktionen folglich auch um das Gesicht der Stadt, um die Schönheit von New Orleans. Sauberkeit wurde dabei als sine qua non nicht nur für Gesundheit, sondern auch für Schönheit verstanden. Häuser frisch zu streichen diente selbst nach den medizinischen Theorien des frühen 20. Jh.s nicht der Vermeidung von Gelbfieber. Blumen und Bäume sollten für gute Luft sorgen und zur Verschönerung des Stadtraums beitragen. Unter der Überschrift »Beautify your home« etwa rief der Item 1914 seine Leser dazu auf, ihr home schöner zu gestalten, es mit Blumen zu verzieren oder neu anzustreichen. »The Item hopes to see New Orleans made into a veritable City Beautiful, a city with paved streets, from which dirt and flies have been eradicated, a city where sanitation and cleanliness prevail and pretty homes abound.«129 Es ist interessant, wie New Orleanians im frühen 20. Jh. in den konkreten, alltäglichen Auseinandersetzungen mit dem Aussehen der Stadt, mit ihrem sanitären und gesundheitlichen Zustand Ziele und Leitbilder vermengten, die in der Forschung häufig als getrennte Bewegungen dargestellt wurden. Integrale Bestandteile einer – in Großbuchstaben geschriebenen – City Beautiful waren dem Item zufolge sowohl die Sauberkeit und Hygiene der Stadt, als auch ihre ästhetische Gestaltung durch funktionale Infrastrukturmaßnahmen wie Straßenpflaster und Verschönerung der Häuser. Die Begriffe des Clean Up, des Civic Improvement und der City Beautiful wurden sogar häufig austauschbar und recht beliebig für all jene Aktivitäten verwendet, die den Stadtraum zum Guten verändern sollten. Ein Leser etwa forderte in einem Brief an den Item 1916: »Palms should be planted to Make ›The City Beautiful‹«130 . Die Association of Commerce rief Anfang 1915 eine explizit so genannte »City Beautiful Campaign«131 ins Leben, die letztlich dieselben Ziele verfolgte, wie vorherige Clean Up-Kampagnen: »to improve the appearance of the streets and yards and especially the back yards.«132 127 | »Cleaning Up Day Will Last the Whole Week«, in: Daily Picayune, 10.8.1905. 128 | »Civic association’s resume of work«, in: Item, 3.5.1914. 129 | »Beautify your home«, in: Item, 30.4.1914. 130 | »Palms should be planted to Make ›The City Beautiful‹«, Letter to the editor, in: Item, 24.10.1916. 131 | »›City Beautiful‹ Campaign«, in: Times-Picayune, 11.1.1915. 132 | »Cleaning up and beautifying the city«, in: Times-Picayune, 14.1.1915. Zur Unterscheidung zwischen City Beautiful und City Functional etwa Mel Scott, American City Planning since 1890 (Berkeley: University of California Press, 1969).

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New Orleans partizipierte damit an der in diesen Jahren die gesamten USA erfassenden urbanen Bewegung der City Beautiful Movement. Während diese vor allem durch die großen und umfassenden Stadtplanungen der Jahrhundertwende bekannt wurde, die sich primär auf die Errichtung repräsentativer öffentlicher Bauten, meist im Beaux-Arts-Stil, konzentrierten – so die Pläne von Daniel Burnham für Chicago und Washington – zeigt das Beispiel von New Orleans, dass auch Städte, die nicht für ihre City Beautiful-Errungenschaften bekannt geworden sind, an diesem Trend der Zeit teilhatten. Wie Wilson herausgearbeitet hat, lagen die Ursprünge selbst der großen Paradebeispiele der City Beautiful Movement in einer Vielzahl an kleinen, lokalen Initiativen, ähnlich denen von New Orleans. Gerade aus diesen Maßnahmen ›von unten‹ stammt die für die City Beautiful typische Vermischung von ästhetischen, funktionalen und hygienischen Idealen.133 Anders als das Bild, das die Anhänger des Internationalen Stils und der funktionalen Stadt im Verlauf des 20. Jh.s von der City Beautiful propagierten, war diese Bewegung ganz offenkundig nicht auf bombastische, ästhetische Maßnahmen begrenzt, die sich jeglichem Nutzen versagten. Die gern bemühte Dichotomie von City Functional und City Beautiful, auch das bestätigt das Beispiel von New Orleans, erweist sich als rhetorische Strategie der späteren Protagonisten funktionaler Architektur und Stadtplanung.134 Die Funktionalität der City Beautiful war allerdings weniger architektonisch-stilistisch gedacht, als stadtplanerisch: Es ging ihr nicht etwa um den Bau funktionaler Wohneinheiten oder um sozialen Wohnungsbau, sondern um die effiziente Gestaltung von Straße und Verkehr, z.B. mittels Straßenpflaster, das zudem auch noch die Straßen verschönern sollte. Ähnlich verhielt es sich mit dem Pflanzen von Bäumen: Diese sollten die Luft reinigen und Schatten spenden und gleichzeitig die Straßen angenehm fürs Auge gestalten. Die Anhänger der City Beautiful verdammten folglich weder das Ornament noch den Blumentopf. Im Gegenteil, alles, was die Stadt schmücken konnte, ohne deren Funktionieren – etwa ihre Hygiene, die Zirkulation des Verkehrs – zu gefährden, war willkommen. Das allerdings darf nicht über die grundlegenden Bemühungen um funktionale Aspekte des Stadtlebens im Rahmen von City Beautiful-Programmen hinwegtäuschen. In der Kampagne von 1915 ging es erklärtermaßen darum, New Orleans zu einer »city beautiful, clean, efficient and practical«135 zu machen: Das eine schloss das andere nicht aus. Letztlich basierten auch die großen Pläne eines Daniel Burnham auf funktionalen Überlegungen zur Stadt, die lediglich eine Beaux-Arts-Form annahmen. Die Schönheit der City Beautiful beruhte auf ihrer Funktionalität, ohne sich darauf zu beschränken.136 133 | Wilson, City Beautiful, 75-95. 134 | Vgl. ebd., 285-98. 135 | »Campaign starts against local sign nuisance«, in: Times-Picayune, 24.5.1915. 136 | Vgl. Wilson, City Beautiful, 2-4. Zu Burnhams Plan of Chicago (1909) ebd., 28185; zum Plan für Washington (McMillan Plan, 1902) ebd., 67-70.

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PATRIOTISCHE I NITIATIVEN In ihren akuten Phasen beherrschten die Clean Up-Kampagnen die Lokalteile der Tagespresse. Es schien, als sei die ganze Stadt von einem Aufräum- und Putzfieber erfasst. Gerade die Darstellung in den Medien suggerierte, dass es sich um Initiativen der Bürger handelte, und zwar aller Bürger. »Conference of Citizens Plans General Cleaning«, lautete die Überschrift eines weiteren Artikels der Daily Picayune vom August 1905 mit dem Untertitel »People in the Mood to Put the Municipal House in Thorough Order«137. Das people von New Orleans hatte ein wahrhaftes grassroots movement gestartet, um seine Stadt umfassend zu säubern und dadurch zu ordnen. Hinter den recht vagen Zielen des »improvement«, des »order« und des »beautifying« ließen sich eine Vielzahl an Maßnahmen und Initiatoren vereinen. Die breite Basis der Aktivitäten und der Enthusiasmus ihrer Träger waren ebenfalls typisch für die urbanen Reformbewegungen der Zeit, nicht nur in New Orleans. J. Horace McFarland, Präsident der American Civic Association, fasste 1906 das Phänomen wie folgt: »The whole public is awake to the need for improvement. It is manifested in little and in large ways. A woman in a little southern town will write about cleaning up her own back-yard; a town official of a northern city will ask how to take care of garbage, and numberless other applications for information and for aid come from all parts of the country«138, berichtete er in einer New Orleanser Architektenzeitschrift über die Funktion der American Civic Association als Dachverband aller Civic Leagues und zentrale Anlaufstelle für Fragen bezüglich des »improvement«. Männer und Frauen, Bewohner kleiner towns und großer Städte, Privatleute und Politiker, Nord- und Südstaatler, kurz: »the whole public«, sie alle waren offenbar bestrebt, ihr Lebensumfeld zu verbessern. Auch in New Orleans transzendierten die Clean Up-Projekte gesellschaftliche Brüche – zumindest bis zu einem gewissen Grad. Selbst die unüberwindbare Grenze zwischen Schwarz und Weiß schien im »improvement«-Fieber in den Hintergrund zu treten. Der Item berichtete 1914 unter der Überschrift »Negroes to Campaign Against Filth in Homes«139 begeistert, dass sich selbst die Colored Young Men’s Christian Association an der Clean Up-Kampagne aktiv beteilige. Zwar zog man an einem Strang im Interesse eines höheren, gemeinsamen Ziels – in der Organisation der Kampagne aber blieb die color line unverrückbar erhalten.140

137 | »Conference of Citizens Plans General Cleaning«, in: Daily Picayune, 4.8.1905. 138 | »The Civic Problem«, in: Architectural Art and Its Allies, 2:2 (Aug. 1906), 6. 139 | »Negroes to Campaign Against Filth in Homes«, in: Item, 6.3.1914. 140 | So bereits 1905, vgl. »Magnificent Work by Clean-Up Clubs«, in: Daily Picayune, 30.7.1905.

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Ähnliches gilt auch für die Bruchlinien innerhalb der weißen Gesellschaft. Die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen arbeiteten zwar organisatorisch getrennt, kooperierten jedoch in ihrem Bemühen um eine saubere Stadt. Vor allem Frauen waren die maßgeblichen Trägerinnen der Clean Up-Initiativen, die sie auf Stadtteilebene organisierten. Zentrale Anlaufstelle und Ausgangspunkt der Aktivitäten war die Federation of Women’s Clubs, ein Dachverband aller lokaler Frauenclubs. In den einzelnen wards der Stadt bildeten sich dann aus konkreten Anlässen sogenannte civic leagues, die ebenfalls lediglich aus Frauen bestanden und deren erklärtes Ziel es war, den jeweiligen Stadtteil zu säubern und zu verschönern.141 Die civic league des 12th ward etwa verkündete anlässlich ihrer Gründung, sie verstehe sich als »movement toward a cleaner, more beautiful twelfth ward«.142 Einige Viertel waren vorbildlich vorangegangen, und alle anderen folgten. Die Frauenclubs konzentrierten sich darauf, die Anwohner für das Aussehen ihres Stadtteils zu sensibilisieren und Anreize zu schaffen, ihn in Ordnung zu halten. So schrieb einer der Frauenclubs eine Belohnung für denjenigen Jungen aus, der während einer zweiwöchigen Kampagne die größte Menge an »waste paper« und »tin cans« sammelte.143 Sogar der Nachwuchs sollte folglich ins Clean Up miteinbezogen werden. Für die Erwachsenen gab es einen Wettbewerb um den »best kept back yard«144; die Siegerin, Mrs. D. Tucker, erhielt eine Palme, die sie prompt für patriotische Zwecke spendete: »A reward of a palm was offered for the best kept back yard and was won by Mrs. Dr. Tucker, who donated it to be planted on Confederate monument square. The marble statue of the Confederate soldier and pedestal have been cleaned and the square planted in red and white flowers, symbolical of the colors of the Southern Confederacy.«145 Zur Stadtverschönerung gehörte es in New Orleans selbstverständlich auch, das Monument des konföderierten Soldaten zu reinigen und seine Umgebung in symbolischen Farben zu bepflanzen. Ganz der Ideologie des New South entsprechend konnte man für den Fortschritt der Stadt sorgen, ihr Aussehen mittels Sauberkeit verbessern und mit Blumen verschönern, und doch gleichzeitig mit erhobenem Haupt das ehrenvolle Gedenken an die gute alte Konföderation wachhalten. Die Macht der Frauen, die improvements der Stadt auf Bürgerebene voranzutreiben, erkannten auch andere an den Initiativen Beteiligte. 1912 wandte sich ein Artikel in der Zeitschrift Architectural Art and Its Allies, die seit 1910 als Organ des Louisiana Chapter des American Institute of Architects fungierte146, an die 141 | »Civic league work makes progress«, in: Item, 31.5.1914. 142 | Ebd. 143 | »Civic association’s resume of work«, in: Item, 3.5.1914. 144 | Ebd. 145 | Ebd. 146 | http://nutrias.org/info/louinfo/aart/aartintro.htm, Stand 15.9.2010.

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Frauen von New Orleans. »All know how most women in most cities see that their houses are clean and beautiful, and, is it not possible for them to wield that same influence and ability in the transformation of New Orleans?«147 Dass gerade Frauen als maßgebliche Kräfte im Verwandlungsprozess der Stadt fungieren sollten, ergab sich aus ihrer traditionellen Rolle in der häuslichen Sphäre des Victorian Age. Sie waren es, die für Sauberkeit und Schönheit des eigenen Zuhauses verantwortlich waren, und deshalb sprach man ihnen die Fähigkeit zu, ebenso die städtischen Räume sauber zu halten und schön zu gestalten. Die metaphorischen Bezeichnungen der Stadt als »municipal house«148 und des Clean Up als »housecleaning«149 illustrieren die enge Verbindung, die zwischen den privaten und den öffentlichen Räumen gedacht wurde. Letztlich erschien der Raum der Stadt gewissermaßen als ein Ganzes, das mehr war als die Summe seiner Teile. Die Stadt war ein Gebiet, das aus privaten Räumen bestand und zugleich deren Erweiterung darstellte. Zum einen war der gute Zustand einzelner Häuser und Grundstücke ein zentraler Bestandteil sämtlicher Clean Up-Kampagnen, da private Gebäude und Gärten einen Großteil des Gesichts der Stadt ausmachten: Auch sie waren für alle sichtbar. Zum anderen versuchte man, den öffentlichen Raum ähnlich wie den privaten zu behandeln. Aus dieser engen Verbindung ergab sich die als natürlich betrachtete bedeutende Rolle der Frauen, welche selbst wiederum die ihnen zugedachte häusliche Rolle nutzten, um mit den civic leagues, mit clubs und Reforminitiativen öffentlichen Grund zu betreten und ihre Stimme in der Stadt vernehmbar zu machen.150 Außer den Frauen war die business community von New Orleans ein Hauptakteur in den improvement-Initiativen. Die Association of Commerce war das prominenteste Organ der New Orleanser Geschäftsleute; 1920 zählte sie bereits über 5000 Mitglieder.151 Bis 1913 hieß die 1898 gegründete Assoziation Progressive Union (PU), was bereits einiges über das Selbstverständnis der businessmen von New Orleans aussagt. Typisch für tausende von »business-related and reform-minded organizations«152 , die in den USA um 1900 gegründet wurden, sah sich die A of C als die treibende Kraft im Fortschritt von New Orleans und setzte sich regelmäßig für Projekte ein, die den Stadtraum umgestalten sollten. Sie war es, die 1914 im Rahmen einer Clean Up-Kampagne den Abriss der 147 | »New Orleans, the Beautiful«, in: Architectural Art and Its Allies, 7:8 (Feb. 1912), 7. 148 | »Conference of Citizens Plans General Cleaning«, in: Daily Picayune, 4.8.1905. 149 | »New Orleans, the Beautiful«, in: Architectural Art and Its Allies, 7:8 (Feb. 1912), 5. 150 | Zum »municipal housekeeping« und der Rolle von Frauenclubs in den Reformbewegungen der Jahrhundertwende Anne Firor Scott, Natural Allies: Women’s Associations in American History (Urbana: University of Illinois Press, 1991), v.a. 141-58; Hoy, Chasing Dirt, 72-75. 151 | Stanonis, Creating the Big Easy, 33. 152 | Ebd.

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Balkone von Canal Street forderte. Ihr primäres Ziel war es, die wirtschaftliche Attraktivität der Stadt zu erhöhen und Handel und Industrie anzuziehen. Dazu gehörte es auch, unermüdlich auf Sauberkeit und Schönheit der Stadt hinzuarbeiten.153 Zu diesem Zweck gründete die PU/A of C über die Jahre hinweg stets neue Komitees, die sich gezielt mit dem Aussehen von New Orleans befassten und deren Namen verdeutlichen, wie die Begriffe des Clean Up, des beautifying und des improvement weitgehend austauschbar verwendet wurden. Schon 1903 hatte die Progressive Union ein eigenes Municipal Improvement Committee, das eine Clean Up-Kampagne initiierte und Druck auf den Commissioner of Public Works ausübte, stadtweit einen Straßenreinigungstag auszurufen.154 Einige Jahre später leistete sogar ein spezifisches Cleaner City Committee Lobbyarbeit für die Sauberkeit der Stadt155, und in den 1920er Jahren kümmerte sich das Civic Bureau der A of C um städtische Belange; eines der innerhalb des Civic Bureau angesiedelten Komitees war das City Beautifying Committee, das 1925 eine erneute Clean Up-Kampagne startete.156 Diese Kampagne verdeutlicht, was die A of C hinsichtlich des Stadtraums genau leistete. Zum einen zog sie die Fäden im Hintergrund, indem sie beispielsweise die Preise stiftete, die man in den von den club women organisierten Sauberkeits- und Schönheitswettbewerben gewinnen konnte, und versuchte, die Stadtverwaltung zu motivieren, eine Müllabfuhr zu finanzieren.157 Zum anderen trat die A of C an die Öffentlichkeit und startete im Frühjahr 1925 eine monatelange Werbekampagne für eine saubere Stadt, die alle Bürger von der Notwendigkeit ihrer Initiative überzeugen sollte. Bereits 1915 hatte die A of C in einem regelrechten Werbefeldzug Anzeigen für eine explizit so genannte »City Beautiful Campaign« geschaltet.158 Ihre Aktivitäten umfassten jedoch auch konkrete Maßnahmen, denn die A of C ließ beispielsweise 1925 tatkräftig selbst über hundert alte Automobile beseitigen, die von ihren Eigentümern einfach auf den Straßen abgestellt worden waren.159

153 | Ebd. 154 | »Street Cleaning Plan«, in: Times-Democrat, 31.10.1903. 155 | B. Trezevant an Martin Behrman, 20.11.1907, in: NOPL/CA, Mayor Martin Behrman Records, Series I 1904-20, Box 2, Folder Corr. – New Orleans Progressive Union. 156 | A. K. Scharff an Solis Seiferth, 22.11.1921, in: TU/SEAA, American Institute of Architects, New Orleans Chapter Records, Box 24, Folder 2. 157 | Civic Bureau, New Orleans Association of Commerce, »Information Report«, Series No. 1, 16.10.1925, in: NOPL/CA, Mayor Martin Behrman Records, Series II 192526, Box 2, Folder Corr. – New Orleans Association of Commerce. 158 | »›City Beautiful‹ Campaign«, in: Times-Picayune, 11.1.1915. 159 | Civic Bureau, New Orleans Association of Commerce, »Information Report«, Series No. 1, 16.10.1925, in: NOPL/CA, Mayor Martin Behrman Records, Series II 192526, Box 2, Folder Corr. – New Orleans Association of Commerce.

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Neben den Frauenclubs und businessmen engagierten sich, wie bei der drainage, verschiedene professionals im Rahmen des Clean Up. Führend waren dabei die Architekten, die die physische Gestalt der Stadt als ihr ureigenstes Aufgabengebiet betrachteten. »Of course, the subject [public improvement] is one which should be of interest to every patriotic citizen, but it should be one of peculiar and special interest to architects, as the community depends largely upon architects for suggestions. Architects, by the very nature of their daily work, are the ones to see the opportunities that our surroundings afford, and should point them out and throw the weight of their influence with a progressive and enlightened administration.« 160

In den Augen der Architekten von New Orleans waren sie die Experten, die maßgeblich die konkrete Form der improvement-Projekte bestimmen sollten. Wer sonst befasste sich permanent mit räumlichen Gegebenheiten und ihrer funktionalen und ästhetischen Gestaltung? Aus der Service Pledge des New Orleans Chapter des American Institute of Architects, welche die Mitglieder unterschreiben mussten, lässt sich ihr Selbstverständnis herauslesen: »I believe: That the Architect should design and superintend; […]; That beauty and utility can be coordinated; […]; That every building operation is an architectural problem, and that the structural and mechanical elements thereof are the only portions within the scope of the Engineers’ practice; that even comparatively plain and simple and highly utilitarian structures and groups of buildings may be composed into pleasing forms and arrangements under the skillful handling of the experienced Architect; that beauty pays dividends in the satisfying pleasure that it engenders.« 161

In einem Zeitalter, in dem die Stadtplanung als Disziplin noch in den Kinderschuhen steckte und erst im Begriff war, den Professionalisierungsprozess anzutreten, wollten die Architekten aufgrund ihrer Expertise die Deutungshoheit über die Form der Stadt beanspruchen.162 Darin konkurrierten sie mit den Ingenieuren, weshalb sie bemüht waren, die Rolle der Schönheit in der Gestaltung der Stadt hervorzuheben. Während die Architekten es offenbar als die Aufgabe der Ingenieure betrachteten, funktionale Strukturen zu entwickeln, und die 160 | »Editorial«, in: Architectural Art and Its Allies, 2:3 (Sept. 1906), 6. 161 | »Preamble and service pledge, 1926«, in: TU/SEAA, American Institute of Architects, New Orleans Chapter Records, Box 24, Folder 4. 162 | Dies gilt nicht nur für New Orleans, sondern auch für andere Städte der USA, vgl. Teaford, Unheralded Triumph, 202-06. Zur Geschichte der Stadtplanung allgemein vgl. Scott, American City Planning, der die Stadtplanungsgeschichte allerdings stark als Fortschrittsgeschichte schreibt.

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Frauen Häuser und Gärten in Ordnung halten sollten, versuchten sie, sich als die Stadtverwaltung beratende Experten für umfassendere Projekte zu etablieren. Dabei gingen sie auch gerne auf Anfragen der Association of Commerce ein, die bei einigen ihrer improvement-Projekte auf eine Zusammenarbeit mit den Architekten drängten. So plante die A of C 1921, die drei bedeutendsten öffentlichen Plätze der Stadt, Jackson Square, Lafayette Square und Coliseum Square, zu verschönern, und bemühte sich dabei im Vorfeld um eine Beteiligung lokaler Architekten.163 Diese gingen erfreut und geschmeichelt bereitwillig auf den Vorschlag ein und benannten sogleich je Square ein Komitee von drei Architekten.164 Angesichts dieser Kooperationen und der werbewirksamen Propaganda, von der sie begleitet wurden, lobten die Presseberichte über die Clean Up-Initiativen besonders deren breite Basis. Frauen, Experten, Geschäftsleute – es schien, als engagiere sich ganz New Orleans beispielhaft für die eigene Stadt. Das Phänomen, das Horace McFarland für die gesamten USA ausgemacht hatte, nämlich ein Interesse des »whole public«, fand sich offenbar auch in New Orleans. Vor allem die harmonische Zusammenarbeit der verschiedenen Gruppen wurde betont. Die Daily Picayune etwa strich hervor, dass die »volunteer forces«, die 1905 die Stadt reinigten, dies »in the most harmonious manner possible« getan hätten.165 Die Beschwörungen der Einheit der Öffentlichkeit und der Harmonie zwischen den diversen Bevölkerungsgruppen, sei es durch die Presse oder die Akteure selbst, sei es auf lokaler New Orleanser Ebene oder bundesweit wie im Fall von Horace McFarland, zeugen jedoch eher von einem tiefen Bedürfnis nach eben dieser Harmonie als von einer tatsächlichen Einheit über Grenzen hinweg im Geiste des Clean Up. Denn das vielzitierte, alle verbindende Putzfieber – »Nation, State, City and All Races Join in Great Clean-Up Campaign in Orleans«166 titelte der Item bombastisch 1914 – entsprach nur zum Teil der Realität der civic improvement-Kampagnen. Die steten Wiederholungen, dass sich alle begeistert an den Initiativen beteiligten, täuschen nicht darüber hinweg, dass es ganz bestimmte Akteursgruppen waren, die die Kampagnen ins Leben riefen und vorantrieben, und das teilweise mit Mühe: Die Resonanz war nicht nur positiv. Sie täuschen ebensowenig darüber hinweg, dass die die Gesellschaft von New Orleans durchziehenden Bruchlinien entlang von race, class und ethnicity 163 | A. K. Scharff an Solis Seiferth, 22.11.1921, in: TU/SEAA, American Institute of Architects, New Orleans Chapter Records, Box 24, Folder 2. 164 | Solis Seiferth an A. K. Scharff, 9.1.1922, in: TU/SEAA, American Institute of Architects, New Orleans Chapter Records, Box 24, Folder 2. 165 | »Magnificent Work by Clean-Up Clubs«, in: Daily Picayune, 30.7.1905. 166 | »Nation, State, City and All Races Join in Great Clean-Up Campaign in Orleans«, in: Item, 29.6.1914.

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aller Rhetorik der Gemeinsamkeit zum Trotz auch in diesen Initiativen fortbestanden – und das nicht nur formal in der Organisation der Aktionen. Jene Initiatoren, die allesamt verkündeten, in ihren Kampagnen für das objektiv Beste für die Stadt und alle New Orleanians einzutreten, verfolgten letztlich durchaus eigene Interessen. Schließlich bildeten nicht alle Frauen von New Orleans civic leagues und engagierten sich für das Clean Up, sondern dies waren in erster Linie ladies aus den Mittelschichten und den führenden Kreisen der Stadt. Sie waren weiß und meist anglo-saxon – eben jene Frauen, die gerne zum Einkaufsbummel in die Canal Street fuhren. Sie waren es, die traditionell über das home zu wachen hatten und selbst nicht arbeiten mussten; sie hatten die Zeit, sich zu engagieren sowie die nötigen Mittel hierzu. Oft waren ihre Ehemänner oder Brüder ebenfalls am Zustand des öffentlichen Raums interessiert und bekleideten entsprechende Ämter. Catherine/Kitty Labouisse etwa, die am Newcomb College ausgebildete Schwester des bekannten New Orleanser Architekten Samuel Stanhope Labouisse, gehörte zu den aktiven Kreisen.167 Teilweise waren die Frauen selbst bereits in Berufen aktiv, die ihrer Stimme in der Öffentlichkeit Gehör und Gewicht verschafften, etwa die Journalistin Ethel Hutson, die für die Tageszeitung Item über Lokalangelegenheiten berichtete und sich mit großem Engagement den diversen improvement-Projekten der Zeit widmete. Diesen Frauen traute die Männerwelt von New Orleans zu, über Sauberkeit und Schönheit Bescheid zu wissen und mit Geschmack die Stadt so zu gestalten, wie es sich gehörte. Auch die Mitglieder der Association of Commerce, zum Teil Ehemänner der engagierten ladies, gehörten einem bestimmten sozialen Spektrum von New Orleans an. In der Association of Commerce versammelte sich die crème de la crème des New Orleanser Wirtschaftslebens ebenso wie führende professionals der Stadt. Ihr Engagement für das Gesicht der Stadt entsprang dem handfesten Interesse am wirtschaftlichen Erfolg der Stadt, der letztlich den wirtschaftlichen Erfolg jedes Einzelnen von ihnen bedeutete. Allison Owen war zugleich Mitglied des lokalen Chapter des American Institute of Architects: Die Gruppen überschnitten sich zum Teil. Während die Association of Commerce unterschiedlichste Berufe vereinte und die verschiedenen Interessen durch das gemeinsame Bemühen um eine gute wirtschaftliche Position von New Orleans bündelte, stellte das AIA eine explizit professionelle Interessengruppe dar. Die Architekten von New Orleans, die sich hier zusammengeschlossen hatten, gehörten ebenfalls zu den white middle classes, die aufgrund ihrer Profession ein Interesse an der Gestalt der Stadt hatten und hofften, sich als Experten für den Stadtraum etablieren zu können. Insgesamt bildeten diese Hauptprotagonisten ein loses Netzwerk von reformerisch engagierten New Orleanians, die in unterschiedlichen 167 | Ethel Hutson an Mrs. A. F. Storm, 27.11.1917, in: TU/LaRC, Ethel Hutson Papers, Mss 14, Box 5, Folder 14-5-3.

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Strukturen organisiert waren, welche aber zum Teil persönlich miteinander in Verbindung standen oder sich durch Doppelmitgliedschaften überschnitten. Bei Bedarf und je nach Projekt bildeten sie variabel zusammengesetzte Koalitionen, die die breite Öffentlichkeit sowie staatliche Akteure für ihre Ziele zu mobilisieren suchten. Dies gestaltete sich, liest man einmal über die euphorischen Deklarationen von gemeinschaftlichem Engagement hinweg, offenbar doch nicht ganz so einfach. Es scheint, als sei das stete Reden von Einheit, Harmonie und der Beteiligung des »whole public« am Clean Up eher eine Beschwörungsformel denn eine Zustandsbeschreibung: Die Hauptträgergruppen hofften, ganz New Orleans in ihre Aktivitäten einbinden zu können, was aber noch lange nicht hieß, dass es ihnen auch gelang. Das zeigt sich allein daran, dass die Clean Up-Initiativen zu einem großen Teil aus Bemühungen bestanden, andere Leute überhaupt erst einmal von ihrem Nutzen zu überzeugen. Auf die unterschiedlichsten Weisen versuchten die oben genannten Akteure, das »whole public« zu motivieren. Wettbewerbe und Preisausschreiben stellten dabei nur eine Variante dar. Subtiler und gleichzeitig bezeichnender für das Selbstverständnis der Clean Up-Protagonisten gestalteten sich ihre Appelle an den Patriotismus der New Orleanians. In der typischen improvement-Rhetorik kam die Beteiligung an diesen Unterfangen einem patriotischen Akt gleich, dem sich keiner entziehen konnte, wollte er nicht als unpatriotisch erscheinen. Die Träger der Initiativen stellten dabei ihre Ziele der Verschönerung und ›Verbesserung‹ des Stadtraums als civic Angelegenheit dar. Civic bedeutete insofern mehr als schlicht nur urban. Civic bedeutete immer auch die städtische Gemeinschaft und das Wohl des Gemeinwesens betreffend. Die Reformer postulierten, dass es eine Frage des »civic pride«168 sei, also des Stolzes der Bürger auf ihre Stadt, sich an den Maßnahmen zu beteiligen. Hier versuchten die Initiatoren der diversen Clean Up-Projekte, die restliche Bevölkerung bei ihrem Bürgerstolz zu packen. Es ging darum, dass sich jeder für das Gemeinwohl, in diesem Fall in Form einer schöneren Stadt, einsetzen sollte. Jeder, so die Annahme, musste einen Beitrag zum großen Ganzen leisten; nur dann war Fortschritt für alle möglich. Dahinter steckte die in der Forschung zum Progressivismus als typisch für die reformerischen Initiativen der Stadt ausgemachte Sehnsucht nach einer die Klassengrenzen – und andere gesellschaftliche Fragmentierungen – transzendierenden Harmonie, die in middle-class-Werten gründen sollte.169 Diese entsprang einer vor allem in den amerikanischen Mittel- und oberen Mittelschichten um 1900 zunehmenden Kritik an dem als übersteigert wahrgenommenen laissez-faire-Individualismus des 19. Jh.s. Gerade in den urbanen Ballungsräumen war man sich verstärkt der gegenseitigen Abhängigkeiten bewusst. Allzu 168 | »Campaign starts against local sign nuisance«, in: Times-Picayune, 24.5.1915. 169 | Vgl. McGerr, Fierce Discontent, 79, 192.

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individualistisches Handeln konnte die gesamte Gemeinschaft in Mitleidenschaft ziehen, ja für diese sogar gefährlich werden, etwa im Fall von unhygienischen Bedingungen, die Epidemien Vorschub leisteten. Ein rugged individualism schien nicht mehr zeitgemäß und nicht den urbanen Verhältnissen des 20. Jh.s angemessen. Das hieß jedoch nicht, dass das Individuum als Einheit völlig an Bedeutung verlor. Im Gegenteil: es ging darum, jeden Einzelnen als Basis der Gemeinschaft einzubinden; nur dann konnte die Stadt Erfolg haben. Ein Aufruf des Bürgermeisters Martin Behrman aus dem Gelbfieberjahr 1905 kann exemplarisch für diese Denkweise stehen: »When all the people of a community of the size and magnitude of ours will lay aside their differences, personal, religious and political, to band themselves together for the common good, there can be no doubt of the genuineness of the civic pride of this community.«170 Gemeinsames Handeln über Grenzen hinweg wurde als Voraussetzung dafür empfunden, dass sich die New Orleanians mit ihrer Stadt identifizieren und stolz auf sie sein konnten, dass sie wahrhaft eine community bildeten. Jeder solle bei sich selbst anfangen, um die Stadt von innen her, von ihren kleinsten Einheiten her, zu erneuern. Wer seinen back yard aufräume, der werde Teil eines höheren, gemeinschaftlichen Ganzen. Die Architektenzeitschrift druckte 1906 ein Gedicht ab, das genau diesen Zusammenhang illustriert: »He wanted a city beautiful, A city that should be fair, A city where smoke should never roll In billows upon the air. He wanted a city where art should be, A city of splendid halls, Where culture’s touch should appear upon The battlements and walls. He called for a city beautiful; He shouted it day by day; He wanted a city where noise was not, Where the spirit of art should sway; He wanted a city that should be fair, Where filth might never be seen, And forgot, in spite of the zeal he had, To keep his back yard clean.«171

170 | »Mayor’s Special Message for the Trade Edition«, in: Daily Picayune, 1.9.1905. 171 | »Civic Improvement«, in: Architectural Art and Its Allies, 2:1 (July 1906), 7.

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Alle Ideale, so der Grundtenor, waren nur Schall und Rauch, sofern nicht jeder – also auch der engagierte Reformer, der Architekt mit den künstlerischen Ideen – zunächst einmal im wahrsten Sinne des Wortes vor der eigenen Haustür kehrte. Im Angesicht des Drecks erschienen alle New Orleanians als gleich, mit denselben Rechten und vor allem Pflichten. Das Gedicht verdeutlicht dabei den moralisierenden Unterton, den die Appelle an die Bevölkerung von New Orleans annahmen. Zum Gemeinwohl beizutragen erschien nicht nur als Frage bürgerlicher Ehre, sondern der »civic duty«172; wer sich seiner Pflicht entzog, war nicht nur unpatriotisch, sondern auch wenig tugendhaft. Damit erweist sich das gesellschaftliche Ideal, das die Kampagnen zur Verschönerung der Stadt leitete, als eine Form des republicanism im Sinne Jeffersons. Eine demokratische Gemeinschaft konnte nur prosperieren, wenn sich das Individuum als Teil der Gemeinschaft tugendhaft verhielt. Auch in dieser Hinsicht fügten sich die Clean Up-Projekte von New Orleans ein in den Reigen der progressivistischen Initiativen des frühen 20. Jh.s: Amerikanischer Individualismus sollte nicht abgeschafft, sondern wieder in seiner ursprünglichen, positiven Form praktiziert werden, als notwendiger Bestandteil einer tugendhaften, demokratischen community. Unter dem Banner eines moralisch aufgeladenen republicanism sollte letztlich dem »unrestrained individualism« und der gesellschaftlichen Desintegration Einhalt geboten werden.

K REUZ ZUG UND A UFKL ÄRUNG Hinter den Appellen an den »civic pride« der New Orleanians steckte jedoch nicht nur die Sehnsucht nach gesellschaftlicher Harmonie, sondern auch ein ganz bestimmtes Selbstverständnis der City Beautiful-Anhänger. Gerade der moralisierende Aspekt der steten Aufforderungen zum Clean Up drückt dieses Selbstverständnis, ja Selbstbewusstsein aus. Den Initiatoren der Kampagnen gelang es, ihre Projekte als von essentieller Bedeutung für das Wohl der community darzustellen und sich dabei selbst zu vorbildhaften Vertretern eines civic spirit zu stilisieren. Davon zeugen allein die Namen der diversen Komitees. Das City Beautifying Committee der Association of Commerce benannte sich zeitweise in Civic Improvement Committee um, weil es befand, dass dies würdevoller klang173; die Frauen versammelten sich in civic leagues und die Federation of Women’s Clubs hatte ein eigenes civic department. Wer aber den »civic pride« der Stadt vorantrieb, der war, so die letztliche Schlussfolgerung, selbst auch be172 | »A Cleaner City«, in: Daily Picayune, 31.10.1903. 173 | »Meeting of the City Beautifying Committee«, 6.3.1013, in: UNO/LaSC, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, Mss 66, 66-9 Scrapbook Jan. 13 1913-Jan. 9 1914.

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sonders tugendhaft und uneigennützig am Wohl aller interessiert. Die Appelle an die Bürger von New Orleans, ihre »civic duty« ebenso zu erfüllen, wie die Reformer es vorbildlich taten, nahmen dabei die Form von regelrechten moralischen Kreuzzüge und von Aufklärungskampagnen an. Erfüllt vom eigenen Sendungsbewusstsein, versuchten die Anhänger des Clean Up, den Rest der Bevölkerung zur Sauberkeit zu bekehren oder zu erziehen. Quasi-religiöser Eifer und aufklärerische Erziehungsarbeit gingen dabei Hand in Hand; beide zeugen vom unerschütterlichen Selbstverständnis der Initiatoren als tugendhaft und auf dem neuesten Stand des Wissens zugleich. Ganz explizit wurden die Kampagnen zum Teil als »crusade«174 bezeichnet, und dementsprechend wurden ministers und priests eingebunden, die von den Clean-Up Clubs 1905 einen Rundbrief erhielten mit der Aufforderung, den Kampf gegen die Moskitos zu predigen.175 Auch 1914 beteiligten sich die Kirchen an der Kampagne und kooperierten mit den Experten. Dabei ging die moralische Mission über den bloßen Aufruf zu tugendhaftem Engagement für das Gemeinwohl hinaus. Den Kirchenmännern kam die besondere Rolle zu, an die moralische Integrität der New Orleanians zu appellieren. »Clergymen and doctors of medicine joined hands for a cleaner, brighter, healthier New Orleans […]«176, berichtete die Times-Picayune, »co-operation is needed to teach the people to keep clean in body as well as morally.«177 Man solle nicht nur seine moralische Pflicht für das Gemeinwohl erfüllen und den Vorgarten aufräumen, sondern insgesamt ein besserer Mensch werden. Beides hing in den Augen der Reformer eng zusammen. Father A. E. Otis, Präsident der Loyola University, sah den Zusammenhang wie folgt: »He said that the connection between religion and cleanliness was from the view that a man who had no respect for his body could not be a moral man«178, berichtete die Times-Picayune. Nur in einem physisch sauberen Umfeld, dessen kleinste Einheit der eigene Körper war, könne sich Moral entfalten. Damit traf Father Otis’ Auffassung die der Initiatoren des Clean Up und vieler anderer progressivistischer Reformer in den USA, die das Umfeld allerdings etwas weiträumiger dachten im Sinne eines sauberen Wohnraums und einer schönen Stadt. Eine bessere Umwelt, so die Grundannahme, werde sich nicht nur positiv auf die Gesundheit des Menschen auswirken, sondern auch eine Verbesserung des menschlichen Charakters nach sich ziehen. Auch deshalb sei es notwendig, New Orleans zu putzen und zu verschönern. Die Vorstellung, dass der Mensch maßgeblich von seiner Umwelt geprägt sei, beruhte letztlich auf darwinistischen Überlegungen; der Fortschrittsopti174 | Etwa »City Officials Willing to Help«, in: Daily Picayune, 27.7.1905. 175 | »Magnificent Work by Clean-Up Clubs«, in: Daily Picayune, 30.7.1905. 176 | »Clergymen and medicos join in fight for city«, in: Times-Picayune, 20.4.1914. 177 | Ebd. 178 | Ebd.

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mismus der Jahrhundertwende allerdings ließ die Akteure der Progressive Era glauben, dass sie selbst die Umwelt und damit den Menschen in ihrem Sinne beeinflussen konnten.179 Ein solcher environmentalism stellte eine radikale Abkehr von der laissez-faire-Philosophie des Gilded Age dar: Handeln und Steuern war nicht nur möglich, sondern nötig und sinnvoll.180 Dieser Glaube war so fest verankert, dass selbst Expertenmeinungen ihn nicht ins Wanken bringen konnten. Bürgermeister Behrman etwa setzte sich 1905 über die neuesten Erkenntnisse, dass Gelbfieber keine »filth disease« war, einfach hinweg: »The mayor, while having the greatest regard for expert opinion, said he believed, nevertheless, that a thorough cleansing of the city would greatly aid at this time by the moral effect it would have upon the community.«181 Ein sauberes Umfeld hebe die Moral und stärke den »civic pride«, ja, es könne sogar alle New Orleanians besser und glücklicher machen: New Orleans, begeisterte sich der Item 1914, sollte bald eine wahre City Beautiful werden. »We shall then be a better and happier people.«182 Allerdings verhielt es sich damit ein bisschen wie mit der Henne und dem Ei. Wenn man tugendhaft sei, säubere man den back yard, und ein sauberer back yard wiederum führe zu Tugendhaftigkeit und besserer Moral. Insofern sind die Umgestaltungen des Stadtraums um 1900 nicht durch einen environmentalistischen Determinismus gekennzeichnet. Der gute Mensch war immer noch Grundvoraussetzung für jegliche Verbesserung der Welt. Er konnte über eine Veränderung des menschlichen Umfelds seine Mitbürger zu besseren Menschen erziehen, die dann selbst wiederum moralisch agierten.183 Nicht nur die Beteiligung der Kirchen und der stete Aufruf zu Tugend und Moral ließen die Clean Up-Initiativen einem in religiösem Eifer gründenden Kreuzzug gleichen. Auch der Sprache nach und formal ähnelten sie selbst in 179 | Vgl. McGerr, Fierce Discontent, 79-81. 180 | Vgl. Chambers, Tyranny of Change, 140. Der Zusammenhang mit dem Sozialdarwinismus und Beispiele für environmentalistische Reformen der Jahrhundertwende bei Raymond A. Mohl, The New City: Urban America in the Industrial Age (Arlington Heights: Harlan Davidson, 1985), 166-79; Roy Lubove, The Progressives and the Slums: Tenement House Reform in New York City, 1890-1917 (Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 1963). 181 | »Conference of Citizens Plans General Cleaning«, in: Daily Picayune, 4.8.1905. 182 | »Beautify your home«, in: Item, 30.4.1914. 183 | Die Spannung zwischen der traditionellen Haltung, dem Individuum die Schuld für moralische Verwerfungen zuzuweisen, und der environmentalistischen Ansicht, diese seien durch das gesellschaftliche Umfeld bedingt, bezeichnet James A. Morone, Hellfire Nation: The Politics of Sin in American History (New Haven: Yale University Press, 2003), 278, als »great American moral dialectic«. Sie prägte vor allem die progressivistischen Reformbestrebungen.

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den 1910er Jahren noch den stark religiös unterfütterten Reformkampagnen der Antebellum-Ära. 1903 titelte der Times-Democrat: »Monday Named as the Day for the Good Work«184 . Die gute Tat, die am Montag vollbracht werden sollte, war selbstverständlich das Reinigen der Straßen: Clean Up war das Gute par excellence. Dieses Gute wurde in revival-artigen Veranstaltungen zelebriert und propagiert. In großen Massenmeetings, die Gefühl und Verstand der Besucher zugleich erreichen sollten, nahmen die Clean Up-Kampagnen eine Art open airFestival-Charakter an. Musik und Filme gab es ebenso wie flammende Reden zum Thema Gesundheit und Clean Up, und das alles an sommerlichen Samstagabenden in einem der großen öffentlichen Parks von New Orleans.185 Die »outdoor meetings«186 des Clean Up standen damit in der Tradition der revivals des second great awakening, der religiösen Erweckungsbewegungen des frühen 19. Jh.s, die in camp meetings und mit Partyatmosphäre die Massen zu bewegen suchten und letztlich auch zu den auf Moralreform fokussierten Reformbemühungen der Antebellumzeit, etwa der Temperenzbewegung, führten.187 Die Versuche, New Orleans im frühen 20. Jh. neu zu gestalten, hatten ihren Ursprung folglich nicht nur in der Sehnsucht nach gesellschaftlicher Harmonie, in der Suche nach rationaler Ordnung des urbanen Raums, im unbegrenzten Fortschrittsoptimismus der Zeit, im Glauben an Technik und Wissenschaft und an die Machbarkeit der Dinge mit Hilfe von Expertentum, sondern auch in einem religiös angebundenen Reformeifer. Moralische Mission und aufklärerisches Bewusstsein liefen dabei in typisch progressivistischer Weise untrennbar ineinander. Die breite Öffentlichkeit zum Clean Up zu bekehren, oder sie davon durch die Vermittlung von Fakten und Wissen zu überzeugen – beides waren legitime Mittel.188 Die Initiatoren stilisierten sich nicht nur zu den moralisch Überlegenen, sondern auch zu den aufgeklärteren Bürgern der Stadt. In den Augen der Hauptträger des Clean Up mussten eigentlich alle außer ihnen selbst zunächst einmal aufgeklärt werden. Mit dem Erziehungsprozess schien das Ziel schon halb erreicht. »›THE CITY CLEAN AND SPOTLESS‹ [sic!] is largely the result of educational processes«, 184 | »Street Cleaning Plan«, in: Times-Democrat, 31.10.1903. 185 | »Four big civic league meetings are planned for three days here«, in: Item, 9.9.1914. 186 | Ebd. 187 | Zum second great awakening vgl. Michael Hochgeschwender, Amerikanische Religion: Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus (Frankfurt: Verlag der Weltreligionen, 2007), 90; 94; 104-09. 188 | Zum progressivistischen Amalgam von »evangelical ethos« und dem Glauben an »rational measures« Richard L. McCormick, The Party Period and Public Policy: American Politics from the Age of Jackson to the Progressive Era (New York: Oxford University Press, 1986), 271-72; Chambers, Tyranny of Change, 139-140.

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schrieb ein Mitglied des Department of Public Works 1927 in einem Rundschreiben an die Frauenclubs, »NO city can achieve this distinction until the inhabitants themselves, individually and collectively, have been educated to desire such conditions, and are willing to pay the price and do each his own part to accomplish the ends desired.«189 Bereits 1903 hatte die Daily Picayune festgestellt, dass »educating the public in their civic duties«190 ein wichtiger Bestandteil der Reinigungskampagnen sei. Bemerkenswert ist, dass sich die Träger der Kampagnen offenbar als außerhalb des »public« stehend sahen. Wenn sich andere Gruppen am Clean Up beteiligten, so wurde bei aller Rhetorik der Gemeinsamkeit doch immer hervorgehoben, dass das Engagement auf die lehrende und vorbildliche Tätigkeit der Hauptträger der Kampagnen zurückging. Dass sich etwa die Colored Young Men’s Christian Association 1914 an den Initiativen beteiligte, sei nicht genuinem Engagement seitens der »negroes«191 zu verdanken, sondern den aufklärerischen Reden des Präsidenten des Louisiana State Board of Health, Dr. Oscar Dowling, und des superintendent of education, Dr. J. M. Gwinn192 , die sie vor der Association gehalten hatten. Nicht nur waren die Initiatoren von sich selbst überzeugt, sondern sie hatten auch noch klare Vorstellungen davon, welche Bevölkerungsgruppen in besonderem Maße Anleitung bräuchten, um den Stadtraum sauber zu halten. Gerade den Einwohnern jener Stadtteile mit einem großen Anteil an »colored population« traute man nicht zu, sich selbst zu organisieren. Die Frauen der civic leagues, so forderte der Item im selben Jahr, sollten spezifische civic leagues für die »coloreds« ins Leben rufen193, was tatsächlich auch einige Monate später umgesetzt wurde.194 Doch nicht nur die schwarzen Mitbürger sollten erzogen werden: Derselbe Artikel, der weiße Frauen dazu aufrief, »colored civic leagues« zu gründen, monierte, dass die »downtown wards« noch nicht so gut für die Säuberungsarbeiten organisiert seien wie »uptown«195 . Während uptown, also die Gegend flussaufwärts von Canal Street, gemeinhin als Kurzwort für die wohlhaben189 | C. Schneider und P.A. Chopin an Members Civic Organizations, New Orleans, 11.2.1927, in: NOPL/CA, Records of the Department of Public Property, Box 2, Folder »Corr./Sub-Files New Orleans Association of Commerce 1921-1927«. 190 | »A Cleaner City«, in: Daily Picayune, 31.10.1903. 191 | »Negroes to Campaign Against Filth in Homes«, in: Item, 6.3.1914. 192 | Ebd. 193 | »Nation, State, City and All Races Join in Great Clean-Up Campaign in Orleans«, in: Item, 29.6.1914. 194 | »Four big civic league meetings are planned for three days here«, in: Item, 9.9.1914. 195 | »Nation, State, City and All Races Join in Great Clean-Up Campaign in Orleans«, in: Item, 29.6.1914.

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deren white anglo-saxon protestant Stadtteile verstanden wurde, bezeichnete downtown nicht etwa den business district, sondern die Viertel flussabwärts von Canal Street, zu denen auch das French Quarter gehörte. Hier wohnten zum einen viele der Einwanderer aus Europa, die im Rahmen der zweiten Immigrationswelle Ende des 19. Jh.s ihren Weg in die Stadt gefunden hatten, vor allem Italiener196, und zum anderen die frankophonen, meist katholischen Kreolen, Nachfahren jener alteingesessenen weißen und schwarzen New Orleanians, die bereits vor dem Louisiana Purchase die Stadt bevölkert hatten. Gerade der 7th ward, zwischen Esplanade Avenue und Elysian Fields Avenue gelegen, galt als Hochburg der Creoles of Color (vgl. Abb. 10).197 Downtown meinte insofern die ärmeren Stadtteile mit einer Bevölkerung, die nicht unbedingt angelsächsischer Herkunft und auch nur zu einem geringen Teil middle class war. Zwar bestand die faktische residentielle Geographie von New Orleans nicht aus homogenen Blöcken, aber die mentale Landkarte der New Orleanians assoziierte bestimmte Bevölkerungsgruppen mit bestimmten Gegenden und homogenisierte diese dadurch. Up- und downtown waren dabei die größten räumlichen Einheiten, in denen die Stadt konzeptualisiert wurde; Canal Street kam die Funktion der Grenze zu. Mehr als nur eine rein geographische Orientierungshilfe, stellten uptown und downtown mentale Räume dar, die eng an die (wertenden) Vorstellungen geknüpft waren, die man sich von ihren Bewohnern machte.198 Darin kommt das Selbstverständnis der Clean Up-Initiatoren zum Ausdruck, die sich als jene moralischen Menschen betrachteten, die andere zu tugendhaftem Handeln im Sinne des Gemeinwohls anleiten könnten – und die selbst ermessen könnten, welche Räume der Stadt besonders einer Reinigung bedurften, weil sie bzw. ihre Bewohner durch Dreck (und folglich durch Krankheit und Unmoral) hervorstechen würden. Clean Up wurde letztlich von einer mentalen Geographie der Moral und des Wissens geleitet. Schwarze und Arme, vor allem Einwanderer, so könnte man es auf den Punkt bringen, hätten es besonders nötig, dass ihr Umfeld gesäubert würde, und bedürften dabei besonderer Anleitung, da sie weder die nötige Tugendhaftigkeit noch das nötige Wissen hätten, um eigenmächtig eine Verschönerung ihres Lebensumfelds in Gang zu bringen. Diese Anleitung wollten die Initiatoren bieten, die sich selbst aller Rhetorik der Gleichheit und Gemeinschaft zum Trotz als außerhalb des vielbemühten »public« stehend sahen: Sie führten auf paternalistische Weise mit ihrem »civic pride«, ihrem aufgeklärten Wissen, Expertentum und ihrer 196 | Vgl. Joan B. Garvey and Mary Lou Widmer, Beautiful Crescent: A History of New Orleans (New Orleans: Garmer Press, 1982), 170. 197 | Arnold R. Hirsch, »Simply a Matter of Black and White: The Transformation of Race and Politics in Twentieth-Century New Orleans«, in: Hirsch and Logsdon, Creole New Orleans, 262-320, hier 271. 198 | Vgl. Campanella, Time and Place, 117-19.

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Tugendhaftigkeit das »public« an – als wären sie der wahre Kern der community von New Orleans, während das »public« paradoxerweise erst noch erweisen musste, dass es eine Teilhabe an der Gemeinschaft wert war.199 Die Träger von Clean Up, Civic Improvement und City Beautiful beanspruchten die Deutungshoheit über den Stadtraum und damit letztlich über die community. Dabei suggerierten sie, dass ihre Ziele denen des »whole public«, aller New Orleanians, entsprächen. Jene Bürger, die den Initiativen nicht folgten und andere Visionen vom Stadtraum hatten, wurden als unpatriotisch, egoistisch, unmoralisch, unaufgeklärt, altmodisch und fortschrittsfeindlich abgestempelt und diskursiv aus der community ausgeschlossen. Harmonie und Einheit war das Ziel der Clean Up-Träger – aber unter ihrer Führung und nach ihren Prämissen. Die »crusades« und »educational campaigns« unterliefen letztlich aufgrund der gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen, die ihnen unterlagen, die Bemühungen, Grenzen zu transzendieren. Race, class und ethnic bias waren zu tief verankert – und eigene Interessen zu groß.

R EINER , WEISSER , BESSER Noch deutlicher wurde dies, wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen selbst zu dem Müll gerechnet wurden, der von der Straße gefegt werden sollte. Zu der von der Association of Commerce 1925 initiierten Clean Up-Kampagne gehörte nicht nur das Beseitigen herrenloser alter Autos, sondern auch »a visible check on the presence of beggars in the business district«200, wie Allison Owen, Architekt und Vorsitzender des Civic Bureau der A of C, in einem Bericht zusammenfasste. Bettelnde New Orleanians waren den Initiatoren der Kampagnen ebenso ein Dorn im Auge wie sonstiger Abfall, der den Stadtraum verunreinigte. Das Adjektiv »clean« erweist sich damit als gesellschaftlich normativ aufgeladen. Es wurde in der Lokalpolitik häufig explizit benutzt, um einen gesellschaftlichen Zustand zu beschreiben, in dem es keine unerwünschten Elemente, sprich: unerwünschte New Orleanians, gab. Bereits 1896 hatten die Uptown Leaguers, Mitglieder einer selbsternannten Reformpartei namens Citizens’ League, im Wahlkampf gegen Korruption in der Stadtverwaltung polemisiert. Ihre Sprache war dabei die des Clean Up, die sie von den Räumen der Stadt auf ihre Politik übertrugen. Erklärtes Ziel der Reformpartei war ein »clean sweep« der Stadt199 | David M. Scobey, Empire City: The Making and Meaning of the New York City Landscape (Philadelphia: Temple University Press, 2002), 209-13, bezeichnet diese Politik einer Elite als »politics of stewardship«. 200 | Civic Bureau, New Orleans Association of Commerce, »Information Report«, Series No. 1, 16.10.1925, in: NOPL/CA, Mayor Martin Behrman Records, Series II 192526, Box 2, Folder Corr. – New Orleans Association of Commerce.

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verwaltung, und mit Walter C. Flower als Bürgermeisterkandidaten nominierten sie einen »›clean‹ man« an die Spitze eines »›clean‹ ticket«.201 Nach der erfolgreichen Wahl ›analysierten‹ die sie unterstützenden Zeitungen, wer nun eigentlich noch den Ring – die als korrupt verschrienen regulären Demokraten – gewählt hatte: »They [the regulars] represent the ward heelers who make a living out of politics and their backers and supporters, the Italian contingent, not yet naturalized, residing around Poydras and the French Markets, and sold to the ring by their leaders at so much a head; the lower grade barrooms and groggeries, the hoodlums and the tough element generally. To this must be added about 2000 negroes of the lowest grade, living mainly in the third and fourth wards, and with their headquarters in the Franklin street dives. Thus the ring proper controls 13 000 votes, 11 000 white and 2000 negro, representing the lowest elements in the community and antagonistic and dangerous to the better classes.« 202

Ohne Umschweife wurde hier die community von New Orleans stratifiziert und ihre Schichten gewertet. Die üblichen Verdächtigen, Italiener, »negroes« und sonstige mit Alkohol in Verbindung stehende »hoodlums« sowie die sie manipulierenden Profipolitiker der political machines erschienen als antagonistisch und gefährlich für die »better classes«. Dennoch erklärte die Zeitung, dass der Sieg der Citizens’ League ein Sieg des gesamten Volkes von New Orleans sei, da in allen Stadtteilen Wähler für sie gestimmt hätten: »It was a victory of the whole people of New Orleans, not of any class«203 . Die »better classes« waren folglich das »whole people«, während man den politischen Gegner mit denjenigen Bevölkerungsteilen gleichsetzte, die man nicht als Teil der community empfand, sondern im Gegenteil, als deren Bedrohung. Mit dem Sieg von Walter C. Flower sah man sich in klassischer progressivistischer Rhetorik am Anfang einer Ära der »good government and pure politics«204, über der »the white banner of reform«205 dank eines »popular upheaval«206 flatterte. »Good government«, das war rein und weiß und den »better classes« zu verdanken, die das Volk hinter sich wussten. Ähnliche Metaphern verwendeten die Frauen des Era Clubs, die 1910 der Progressive Union »moral support« bei dem Versuch versprachen, »to have the neighborhood surrounding the Terminal depot purged of the present condi201 | »Flower says he will run«, in: Daily Picayune, 31.3.1896. 202 | »Analysis of the city vote«, in: Times-Democrat, 24.4.1896. 203 | Ebd. 204 | »The Citizens’ League«, in: Times-Democrat, 22.4.1896. 205 | Ebd. 206 | Ebd.

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tions which makes the entry into this city a disgrace to our citizens.«207 Besagter Stadtteil war das Bordellviertel, Storyville, das der Era Club als »moral cancer«208 der Stadt bezeichnete. Storyville war nicht nur eine zufällige und wie in vielen Städten mehr oder weniger tolerierte Ballung von Bordellen, sondern existierte seit 1898 als offizielles Rotlichtviertel der Stadt. Eine Stadtverordnung hatte Prostitution außerhalb dieses Viertels für illegal erklärt, womit sie innerhalb von Storyville indirekt legal wurde.209 Storyville war nach dem Stadtrat Sidney Story benannt worden, der jene Stadtverordnung im City Council eingebracht hatte, wurde aber von den Zeitgenossen meist »The District« genannt.210 Der Stadtrat von New Orleans erhoffte sich durch die wenn auch indirekte Legalisierung der Prostitution, das Phänomen einzudämmen und auf einen überschau- und kontrollierbaren Ort zu begrenzen. Bereits zuvor hatte es in New Orleans heute wenig bekannte Stadtverordnungen gegeben, die die Prostitution zu regulieren suchten; sie definierten meist auch bestimmte Bereiche der Stadt, in denen Prostitution überhaupt – nach den neu festgelegten Regeln – praktizierbar war. Da sie allerdings oft große Teile der Stadt als Bezirke auswiesen, in denen Prostitution toleriert werden sollte, waren sie wenig effizient und führten nicht dazu, dass ganz bestimmte Distrikte als Rotlichtmilieu ausgewiesen wurden.211 Der Vorschlag von Sidney Story ging wie die Vorgängerverordnungen davon aus, dass es schlicht unmöglich war, das Gewerbe ganz zu unterdrücken, und zielte darauf ab, es an einem überschaubaren Ort zu konzentrieren, den man besser überwachen konnte und den ›ehrenhafte‹ Familien meiden konnten.212 Damit war die Story ordinance kurz nach der Ent207 | »Era Club wants Vice Tucked Away«, in: Daily Picayune, 13.2.1910. 208 | Ebd. 209 | Ordinance 13,032 CS, 29.1.1897, leicht abgewandelt durch Inklusion von St. Louis Street: Ordinance 13,485 CS, 6.7.1897, vgl. Al Rose, Storyville, New Orleans: Being an Authentic, Illustrated Account of the Notorious Red-Light District (Tuscaloosa: University of Alabama Press, 21979), 1-2. Roses Geschichte von Storyville ist etwas verklärend, liefert aber die wichtigsten Rahmendaten und Quellenhinweise. Ausführlicher Alecia Long, The Great Southern Babylon: Sex, Race, and Respectability in New Orleans, 1865-1920 (Baton Rouge: Louisiana State University Press, 2004), 117-21. 210 | Rose, Storyville, 39. 211 | 1857 erließ der Stadtrat die erste umfassende Antiprostitutionsverordnung, die sog. Lorette Ordinance, die darauf abzielte, Prostitution im Stadtraum weniger sichtbar zu machen, weshalb Bordelle nicht in Erdgeschossen liegen durften; Prostituierte und Bordellbesitzer mussten zudem Lizenzgebühren bezahlen. Gleichzeitig legte die Lorette Ordinance fest, dass fast im gesamten Stadtgebiet Prostitution toleriert wurde. Long, Great Southern Babylon, 3; 109. 212 | Rose, Storyville, 8; 36-38. Zum Problem der »respectability« von Familien und Frauen im Kontext von Storyville vgl. die ausgezeichnete Analyse von Long, Great

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scheidung des Supreme Court im Fall Plessy v. Ferguson (1896), der das Prinzip der Rassentrennung legalisierte (»separate but equal«), eine der ersten residential segregation ordinances von New Orleans. Sie trennte die Bürger zwar nicht nach Schwarz und Weiß, sondern nach Geschlecht und Beschäftigung, stellte aber einen ebenso radikalen Versuch dar, bestimmte Bevölkerungsgruppen auf ein klar begrenztes Territorium zu beschränken und mittels räumlicher Klassifizierung und Segregation gesellschaftliche Probleme zu kontrollieren – auch hier griff das Prinzip des Ordnens durch Kategorisierung.213 Gleichzeitig wies die Verordnung der Prostitution einen geographischen Bereich zu, der zu einer großen Mehrheit von schwarzen New Orleanians bewohnt wurde. Diese wurden aufgrund des gemeinsamen Raumes in den Köpfen vieler New Orleanians eng mit dem unmoralischen Gewerbe assoziiert; sie galten ebenso wenig wie die Prostituierten als »respectable«. In diesem Sinne erweist sich die Segregationslogik der Story ordinance tatsächlich als rassenbasiert.214 In den Folgejahren prägten dieselben Diskurse, die die räumliche Trennung der Prostituierten begleitet hatten, die Bemühungen darum, Afro-Amerikaner von ›weißen‹ Stadtteilen fernzuhalten.215 Storyville grenzte direkt nördlich an das French Quarter an. Jenseits von Rampart Street, die das Vieux Carré im Norden abschloss, erstreckte es sich zwischen North Basin Street – auf der sich auch der Bahnhof Southern Depot befand – und North Robertson Street sowie zwischen Customhouse Street (heute Iberville) und St. Louis Street (Abb. 11).216 Bis der »District« 1917 durch den United States Secretary of the Navy geschlossen wurde, war das Viertel eines der berühmtesten und berüchtigsten Rotlichtviertel der USA, das dank seiner Bordelle, Kabaretts, dance halls und saloons auch auswärtige Besucher anzog.217 Nicht zuletzt erlangte es Bekanntheit, weil es den Jazzmusikern der Stadt ein Forum bot.218

Southern Babylon, v.a. 104-47. Ebd., 10-101, auch zur Geschichte der Prostitution in New Orleans seit dem Bürgerkrieg. 213 | Vgl. Long, Great Southern Babylon, 102-03. 214 | Ebd., 128-29. 215 | Ebd., 129; 136-37. 216 | Rose, Storyville, 38. 217 | Ebd., 73; zur Schließung ebd., 166-68. 218 | Ebd., 106-07.

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Abbildung 11: Das French Quarter zwischen North Rampart Street und Mississippi, nördlich angrenzend das Rotlichtviertel Storyville zwischen North Rampart, North Robertson, Customhouse und St. Louis Street (Sanborn Fire Insurance Maps, 1887). Das Viertel solle, so die Frauen des Era Club 1914, ganz verschwinden oder an die Stadtgrenze verschoben werden, anstatt die Mitte der Stadt zu verschmutzen.219 »To purge« bedeutete hier mehr als nur das Reinigen der Straßen: Ein ganzer Stadtteil samt seinen Bewohnern wurde als Schmutz- und Schandfleck von New Orleans definiert und sollte aus dem Gewebe der Stadt heraus, bzw. an seine Peripherie verlagert werden. Nicht umsonst sprachen die Frauen hier nicht von »to clean« sondern »to purge« und verwendeten so einen eindeutig moralisch-religiös konnotierten Begriff. Das Ideal der Sauberkeit bezog sich dabei nicht nur auf den Raum der Stadt, sondern auch auf ihre Gesellschaft; und diese sollte nicht nur physisch, sondern auch moralisch gereinigt werden. Alle New Orleanians hatten den moralischen Vorstellungen einer bestimmten 219 | Eine ähnliche Kampagne in ähnlicher Sprache »to cleanse New Orleans« starteten die Southern Baptists 1914, vgl. »Baptist evangelists to cleanse Orleans«, in: Item, 9.3.1914.

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gesellschaftlichen Schicht zu entsprechen. Taten sie dies nicht, so liefen sie Gefahr, aufgrund ihrer gesellschaftlichen Randständigkeit auch räumlich an die Außengrenzen der Stadt abgeschoben zu werden. Storyville war den Reformerinnen zudem deshalb ein Dorn im Auge, weil es nicht nur Ort der Prostitution war, sondern obendrein der Rassenmischung Vorschub leistete: Weiße männliche Kunden konnten im »District« auf die Dienste einer Vielzahl an AfricanAmerican oder rassengemischter Prostituierter zurückgreifen, bis im Februar 1917 eine Stadtverordnung Storyville zum rein weißen Bordellbezirk erklärte.220 Wenn die Prostituierten, Bordellbesitzer und ihre Kunden mit ihrem unmoralischen Treiben schon nicht grundsätzlich beseitigt werden konnten, so sollten sie doch zumindest nicht mehr sichtbar sein. »Era Club wants Vice Tucked Away«, lautete dementsprechend die Überschrift des Artikels in der Daily Picayune, der über die Bemühungen des Era Clubs berichtete.221 Nichts sollte den harmonischen Anblick der Stadt gefährden. Reinheit, Sauberkeit und whiteness liefen damit im faktisch-physischen Sinne und im übertragenen, gesellschaftlichen ineinander. Der Diskurs der Reinheit durchdrang dabei alle Lebensbereiche. Mit den Schlagwörtern »pure«, »clean« und »healthful« warb 1914 selbst die Kaugummifirma Wrigley’s für ihr Produkt (Abb. 12).222 Mit denselben Begriffen hätte sie auch für drainage oder Abfallentsorgung werben können, oder für die Schließung von Storyville; es waren Ideale, von denen sich die Firma offensichtlich versprach, auf Anklang zu stoßen. Selbst die Betonung der verdauungsfördernden Wirkung des Kaugummis – »digestion« – war integraler Bestandteil des Reinheitsdiskurses, wurde doch auch im Stadtraum Sauberkeit mit dem Durchspülen der Straßen, mit dem Gegenteil von Verstopfung und Stagnation assoziiert. Das Ideal der Bewegung, des steten Fortschreitens, war auf diese Weise diskursiv mit Reinheit und whiteness verknüpft.

220 | Stadtverordnung 4118 C.C.S, vgl. Long, Great Southern Babylon, 192; vgl. auch Barbara Eckstein, Sustaining New Orleans: Literature, Local Memory, and the Fate of a City (New York: Routledge, 2006), 71-72; 221 | »Era Club wants Vice Tucked Away«, in: Daily Picayune, 13.2.1910. 222 | Item, 3.3.1914. Zu den rassistischen Konnotationen von »cleanliness« in der Werbung vgl. Grace Elizabeth Hale, Making Whiteness: The Culture of Segregation in the South, 1890-1940 (New York: Vintage Books, 1998), 162-63; zur Geschichte des Verständnisses von Sauberkeit als Indikator für Gesundheit, Moral und Klassenzugehörigkeit Richard L. Bushman and Claudia L. Bushman, »The Early History of Cleanliness in America«, in: Journal of American History 74:4 (March 1988), 1213-38; Hoy, Chasing Dirt, 86-89.

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Abbildung 12: »Clean, Pure, Healthful«, Wrigley’s KaugummiWerbung (New Orleans Item, 3.3.1914).

Ä STHE TIK DER H ARMONIE Die Oberfläche der Stadt, ihr Erscheinungsbild, ihre Ästhetik spiegelten dabei gesellschaftliche Sehnsüchte und sollten sie gleichzeitig erfüllen. So wie das stete Fließen in den neuen drainage-Kanälen den reibungslosen Fortschritt von New Orleans versinnbildlichte, so schien die saubere Stadt dem Bedürfnis nach

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gesellschaftlicher Harmonie und Kohärenz, nach dem Auslöschen von Grenzen und Brüchen entlang der Leitbilder bestimmter Schichten zu entsprechen. Kein Unrat, kein Abfall, keine Störfaktoren sollten im Stadtbild sichtbar sein oder die Harmonie der community aufbrechen. Sowohl die Obsession mit Zirkulation und Fortschritt als auch mit Reinheit und Harmonie waren geprägt von einem Bedürfnis nach Reibungslosigkeit, nach einem Vermeiden von Hindernissen, die aus der kohärenten Ordnung herausstachen und diese damit stören könnten – seien es die »weeds« in den Kanälen, die alten Autos auf der Straße, die Bettler oder die ungepflegten Vorgärten einzelner New Orleanians. Nach den Leitbildern der weißen, anglo-protestantischen Mittel- und Oberschichten sollte im Stadtraum an einer kohärenten Gesellschaft der industriellen Moderne gearbeitet werden, die effizient und ohne Brüche, vereint in einem auf dem tugendhaften Individuum aufbauenden republicanism optimistisch der Zukunft entgegentrat. Die Suche nach Harmonie im Raum der Stadt ging dabei über das Straßenreinigen weit hinaus. Denn auch die Verschönerungsmaßnahmen, wie etwa das Anstreichen der Häuser oder das Pflanzen von Bäumen, die integraler Bestandteil der Clean Up-Kampagnen waren, waren vom ästhetischen Ideal der Harmonie, ja der Uniformität geleitet. Erklärtes Ziel der Association of Commerce in ihrer Initiative von 1914 war es, eine gewisse visuelle Homogenität der Straßen von New Orleans zu erreichen. Genau diese Homogenität störten beispielsweise die alten Balkone auf der Canal Street. Bürgersteige sollten »uniform« werden und einem konformen Standard entsprechen, hieß es im Bericht des Committee on Beautifying Canal Street.223 Allzu individualistisch durften auch die Fassaden nicht erscheinen. Vor allem sollten Eigentümer dazu gebracht werden, ihre Häuser stets gut instand zu halten, da sonst das ganze Viertel darunter zu leiden hätte. Ein unansehnliches Haus betreffe »the whole community as a blot upon the city’s attractiveness«224 , monierte etwa die Architektenzeitschrift. Wie ein Haus auszusehen hatte, war nicht lediglich Sache des Eigentümers, da es um die »general harmony of appearance«225 ging. Die Träger der City Beautiful und des Clean Up versuchten ganz ihrer Mission gemäß auch, den Rest der Bevölkerung zu Geschmack und einem Sinn für Ästhetik zu erziehen. Die Architektenzeitschrift stellte fest, dass die vielen Organisationen wie die civic leagues »are doing inestimable service towards educating the people in civic adornment and

223 | »Report of the Special Committee on Beautifying Canal Street«, 6.3.1914, in: UNO/LaSC, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, Mss 66, 66-16, Clasp Volume Dec. 16 1913-Jan. 11 1915. 224 | Charles Mulford Robinson, »Building Regulations«, in: Architectural Art and Its Allies, 3:11 (May 1908), 7-8, hier 7. 225 | Ebd.

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good taste«226, beklagte aber zudem das Ausmaß an schlechtem Geschmack, mit dem sich die Architekten in ihrer Arbeit konfrontiert sahen. Sie zitierte zu diesem Zweck Charles Mulford Robinsons Tirade über die »incongruity of urban architecture« in den Vereinigten Staaten, die sich in seiner Abhandlung The Improvement of Towns and Cities fand: »The owner treats the architect as his employee, not as his professional master. As a consequence, successive houses on any street may represent Gothic, Classic, Renaissance, Colonial, Queen Anne, and unnameable modifications of these styles. The architect has meekly followed the owner’s wishes. There is a fine representation of the whims of tasteless, egotistic wealth, the stamp of untrained individualism. There is no repose, no communal expression, no dignified and epoch-making work, little imagination. A municipal requirement of harmony has at least the merit of enforcing the lesson of obligation to the community, and of giving to the architect that mastership which is his right.« 227

Daraus spricht zum einen der Wunsch nach der Anerkennung der eigenen Expertise: Als bloße ausführende Organe der Vorstellungen ihrer Auftraggeber fühlte sich die Architektenzunft unter Wert verkauft. Indem sie die Wünsche der Eigentümer zu geschmacklosen Kapriolen egoistischer Reicher erklärte, versuchte sie, ihren Führungsanspruch hinsichtlich der Form der Stadt zu legitimieren. Zum anderen geht aus dem Zitat hervor, dass es als ein besonderer Sündenfall des Bauens galt, nicht auf die »community« Rücksicht zu nehmen und den individuellen Vorstellungen zu folgen. Wie genau diese Rücksicht auszusehen hatte, ob etwa in einem besonderen Stil gebaut werden sollte, bleibt unklar. Es scheint aber, als sei das weniger relevant gewesen; vielmehr sollte es in jeder Straße harmonische Ensembles geben, die von einer gewissen Stileinheit charakterisiert waren. Zum guten Geschmack gehörte es folglich, die eigenen, individuellen Präferenzen zugunsten des Gesamterscheinungsbildes zurückzunehmen. Ganz im Sinne des progressivistischen Kampfes gegen einen unbegrenzten Individualismus galt es auch in der Baukunst, auf das Gemeinwohl Rücksicht zu nehmen – was nebenbei dazu beitragen sollte, den Status einer Profession zu festigen. Es verwundert nicht, dass als Maßstab für »good taste« der Geschmack der Architekten selbst und der für die Verschönerung der Stadt aktiven Frauenclubs und businessmen angesetzt wurde, und dass man wie selbstverständlich davon ausging, dieser »good taste« würde dem »civic adornment«, also der Zierde der 226 | »The Proposed Plan for the Adornment of San Francisco«, in: Architecture and Allied Arts 1:7, (Jan. 1906), 6-7. 227 | »The Regulation of Building«, in: Architectural Art and Its Allies, 2:10 (April 1907), 1-2, hier 1.

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Stadt, dienen. Die ästhetischen Vorstellungen der Initiatoren des Clean Up und der City Beautiful waren in deren Augen keine individualistischen Verbrechen gegen das Gemeinwohl, sondern im Gegenteil: Ihnen zu folgen bedeutete, zum Wohl der community zu handeln. Zum guten Geschmack, der die Stadt verschönern sollte, gehörte es weder, seinen »egotistic wealth« auszuleben, noch sein Haus herunterkommen zu lassen, kurz: Der gute Geschmack war der der ›ordentlichen‹, weißen middle classes, die die Hauptträger der progressivistischen Reformen aller Art waren und sich selbst als Sprachrohr der Gemeinschaft begriffen, als die Norm, die angelegt werden musste, damit die Gesellschaft prosperierte. Es ist bezeichnend, dass gerade das Unharmonische der visuellen Erscheinung von New Orleans moniert wurde. Darin folgten die New Orleanser Architekten zum einen dem Trend der Zeit. Das Ideal der großen Architekten der Jahrhundertwende wie Daniel Burnham oder Charles McKim war eine ›klassische Ästhetik‹. Darunter verstanden sie klassizistische Architektur, die sich von Antike und Renaissance inspirieren ließ. Die klassische Ordnung umfasste für diese Architekten ein klares Regelwerk und die Wiederholung von standardisierten Elementen, die nach diesen Regeln gestaltet waren. Klarheit und Ordnung sollten daraus resultieren. Die ausgewogene und in sich ruhende Komposition eines klassizistischen Bauwerks wurde im Rahmen der City Beautiful auf die urbanistische Anlage übertragen. Vor allem die civic centers der City BeautifulPläne waren Ausdruck dieser Sehnsucht nach einer ausgewogenen Komposition klassischer Prägung.228 Zum anderen entsprachen der Versuch, mit dieser Oberfläche selbst das Gesicht und den Charakter der Stadt zu prägen, sowie die Suche nach gesellschaftlicher Kohärenz, die sich in der Sehnsucht nach einer harmonischen Oberfläche ausdrückte, letztlich den Prinzipien, die hinter den Bemühungen um effiziente Infrastrukturnetzwerke standen. Auch sie basierten auf jener rationalen Art und Weise, die Welt neu zu ordnen, die Hepp in seinem Buch über Philadelphia als typisch für die Dekaden zwischen den 1870er und 1920er Jahren ausgemacht hat.229 Die ästhetische Harmonie beruhte auf der Kategorisierung des sichtbaren Raumes. Jeder Straßenzug von New Orleans sollte eine eigene Harmonie aufweisen: Gleiches sollte sich zu Gleichem gesellen, Unterschiedliches getrennt werden. Durch das sorgfältige formale Sortieren der Dinge konnte so eine Kohärenz geschaffen werden, die feine Unterschiede zuließ, diese aber dennoch als Teil eines Ganzen in einer übersichtlichen und harmonischen Struktur beherrschbar machte; dies war eine Grundstruktur des späteren, in den 1920er Jahren erarbeiteten Zoning Plan von New Orleans, dessen kulturelle Grundlage sich in der Forderung nach visueller Harmonie bereits ankündigte. Letztlich war das bereits eine Art Zugeständnis an die Vielfalt der 228 | Rybczynski, City Life, 132-33; Wilson, City Beautiful, 88-92. 229 | Hepp, Middle-Class City.

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Stadt: Wenn schon nicht die gesamte Stadt nach den ästhetischen Vorstellungen der civic leagues, Clean Up-Clubs, Architekten und businessmen gestaltet werden konnte, dann zumindest die prestigeträchtigen Teile, wie etwa Canal Street, die sich fein säuberlich von den anderen Teilen der Stadt unterscheiden sollten. In der Kategorie ›repräsentative Geschäftsstraße‹ konnte nichts toleriert werden, was die Harmonie des Anblicks störte – weder Bettler noch alte Balkone, gegen die folglich als Erstes vorgegangen werden sollte.

»C ARELESSNESS « UND STA ATLICHER E INSAT Z Um diese harmonische Ordnung zu erreichen, forderten die Architekten sogar eine »municipal requirement of harmony«230. Per staatlicher Regulierung solle ästhetische Harmonie durchgesetzt werden, da die Erziehung der Bevölkerung zu einem guten Geschmack zwar ein ehrenwertes Unterfangen sei, aber offenbar keinen ausreichenden Erfolg zeitige. Mit ihrem Verlangen nach staatlicher Durchsetzung ihrer Vorstellungen des Stadtraums waren die Architekten nicht allein. Im Laufe der Zeit erkannten viele Clean Up-Protagonisten, dass Vorgartenwettbewerbe und Aufklärungskampagnen nur wenig fruchteten, und versuchten, die staatliche Autorität für ihre Zwecke einzuspannen. Zweierlei Rollen waren dabei der städtischen Regierung zugedacht. Zum einen sollte die Stadtverwaltung das legale Rahmenwerk für einen bestimmten Zustand der Stadt bereitstellen und damit das Erscheinungsbild von New Orleans per Erlass vorschreiben. Zum anderen forderten die Träger der Kampagnen, dass sich die Stadtverwaltung selbst an den Aufräum-, Säuberungs- und Verschönerungsmaßnahmen beteiligen solle. Beide Funktionen der Stadtverwaltung gingen Hand in Hand. Eine Investition städtischer Gelder in das Aussehen des öffentlichen Raums war häufig gefolgt von strengeren Gesetzen, wie die Bürger mit diesem Raum umzugehen hatten, da die Stadtverwaltung eine ähnliche Erfahrung machte wie die privaten Initiatoren. Viele New Orleanians erwiesen sich als immun den Aufforderungen gegenüber, die Stadt sauber zu halten. Wer sich den Maßnahmen entzog, so die Schlussfolgerung, müsse bestraft werden. Das Beispiel der Ursulines Avenue’s Improvement Commission zeigt, wie die Vorläufer dieser staatlichen Intervention aussahen. Bereits im späten 19. Jh. begann man damit, sich nicht nur auf öffentliches Terrain zu konzentrieren, sondern durchaus auch die privaten Grundstücke der Anwohner – v.a. der ›üblichen Verdächtigen‹ – zu kontrollieren, die ihre Rasen wohlgemäht halten sollten. Es ging darum, den Beitrag eines jeden zur Gestalt der Straße zu überwachen. Die Straßenkommission behielt sich 230 | »The Regulation of Building«, in: Architectural Art and Its Allies, 2:10 (April 1907), 1.

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dabei vor, in die private Sphäre der Bürger einzugreifen und Fehlverhalten zu sanktionieren. Ein System von neighborhood watch sollte die Unterordnung von allen Anwohnern unter die Leitbilder der Kommission gewährleisten. »It was also decided that if any commissioner should notice that any of the Italians or others kept their places, or the grounds near them, in a bad condition, he should call the attention of neighbors, so that they might be summoned as witnesses when the cases came up in court.«231Denn es ging nicht nur um die Ästhetik der Straße, sondern, gemäß den medizinischen Vorstellungen der Zeit, auch um ihre Gesundheit: Ein schlechter Zustand des Grundstücks konnte dem Board of Health gemeldet werden, das wiederum die Übeltäter vor Gericht zitieren konnte, da sie durch ihr individuelles Verhalten das Wohl der Öffentlichkeit gefährdeten.232 Dass sich die Stadt überhaupt im Clean Up engagierte und es nicht nur den privaten Kommissionen überließ, war eine Entwicklung des frühen 20. Jh.s, die auf die Lobbyarbeit der Clean Up-Initiatoren zurückging. Noch 1903 mussten die Tageszeitungen großen Druck ausüben, bis der Commissioner of Public Works Moulin sich endlich bereit zeigte, einen »street cleaning plan« der Progressive Union zu unterstützen und einen Tag zum Putztag zu erklären.233 Dies wandelte sich innerhalb des folgenden Jahrzehnts, so dass neben Architekten, Frauenclubs und der Association of Commerce die Stadtverwaltung in den 1910er Jahren als einer der weiteren Hauptträger der Clean Up-Maßnahmen erscheint. Gerade die Administration von Martin Behrman zeigte sich ab 1912, in Behrmans dritter Amtszeit, engagiert. Angesichts der Konkurrenz durch die Good Government League blieb ihr fast nichts anderes übrig.234 Vor allem Behrmans Commissioner of Public Property, Edward E. Lafaye, erwies sich in der Folge als unermüdlicher Kämpfer für die Sauberkeit und Schönheit seiner Stadt, wobei er engen Kontakt zu den reformerisch gesinnten Zeitungen wie den Item sowie zu den Frauenclubs und der Association of Commerce pflegte. Im Herbst 1914 initiierte Lafaye selbst eine »street-cleaning campaign«, nachdem bereits das ganze Frühjahr über die civic leagues und die Association of Commerce zum Clean Up aufgerufen hatten.235 Der Hintergrund der Initiative war eine Rattenplage in der Stadt, die auf die großen Mengen an herumliegenden Müll zurückgeführt wurde. Lafaye pries seine Kampagne werbewirksam als »battle on dirt«236 an und setzte städtische Kräfte ein, um ward für ward den Abfall aus der Stadt he231 | »Ursulines Avenue’s Efficient System«, in: Daily Picayune, 10.5.1894. 232 | Ebd. 233 | »Street Cleaning Plan«, in: Times-Democrat, 31.10.1903. 234 | »League names its men for mayor and commission«, in: Daily Picayune, 19.9.1912. 235 | »Some wards are not aiding plague war«, in: Item, 18.9.1914. 236 | »Orleans healthier, cleaner than ever«, in: Item, 11.9.1914.

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rauszutransportieren. Die immer noch verwendeten und stets verstopften alten drainage gutters wurden von seinen Leuten ebenso gereinigt wie die Straßen selbst. Mit dem third ward hatte der Reinigungsprozess angefangen, und die Zeitungen versicherten: »What has been done here will be done, we are assured, with equal thoroughness, in EVERY ward in the city.«237 Ganz wie beim drainage system sollte die gesamte Stadt in einen umfassenden Erneuerungsprozess einbezogen werden. Die staatliche Initiative bewegte sich in denselben Diskursen wie die privaten Initiativen. Auch hier ging es darum, die Kampagne als möglichst inklusives, alle Bürger hinter sich vereinendes Unterfangen darzustellen. So setzte Lafaye als Teil der Reinigungstrupps, die aufgrund ihrer Uniform »white wings« genannt wurden, etwa 90 Gefangene ein. Es ist wohl kein Zufall, dass weiß als Farbe gewählt wurde, um die auszuzeichnen, die dem städtischen Raum seine blütenweiße Reinheit und Sauberkeit wiedergeben sollten. Einem Bericht des Item zufolge seien die Gefangenen von ihrer Tätigkeit so begeistert gewesen, dass sie auch am Sonntag weiterarbeiten wollten.238 Dass dies wie so oft reformerische Rhetorik war, wird aus einem Leserbrief deutlich, der einige Tage nach diesem Bericht die Redaktion des Item erreichte. Die Anwohnerin einer zu reinigenden Straße beschwerte sich darin, dass sich einer der »negro street cleaners from the parish prison« befreit und die Frauen ihres Viertels terrorisiert habe.239 Sie forderte daher Lafaye auf, doch bitte ausreichend Aufseher zur Verfügung zu stellen. »It is rather difficult for a few men to guard a large gang of negroes and prevent escapes, especially in a neighborhood sparsely settled with the lots full of weeds.«240 Die enthusiastische Clean Up-Arbeit, bottom up selbst von der untersten Schicht der schwarzen Gefangenen in weißer Uniform getragen, erweist sich dabei als Zwangsarbeit. Als nahezu ebenso renitent erschienen die Anwohner der frisch von Abfall befreiten Straßen. Denn die Arbeit der städtischen Kräfte war lediglich als einmalige Aktion gedacht; anschließend sollten die Anwohner selbst dafür sorgen, den guten Zustand der Straßen zu bewahren.241 »It is most discouraging to walk down a street just cleaned by the ›white wings‹ and find papers, tin cans, and banana-skins thrown in the freshly scraped gutters.«242 Offenbar konnten sich viele New Orleanians nicht von alten Gewohnheiten trennen und entsorgten ihren Müll weiterhin auf der Straße und in den Rinnstein. Lafaye betonte ange237 | »Keep them clean«, in: Item, 17.10.1914. 238 | »Lafaye wants women of civic league to inspect work done in 4th ward«, in: Item, 20.10.1914. 239 | »Women Terrorized«, Letter to the editor, in: Item, 24.10.1914. 240 | Ebd. 241 | »Keep them Clean«, in: Item, 17.10.1914. 242 | Ebd.

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sichts dieser Renitenz, dass nun wiederum die civic leagues der Frauen gefragt seien. Sie sollten »educate the people out of such customs«243 . Gleichzeitig aber erließ die Stadtverwaltung ein Gesetz, dass es verbot, Müll auf die Straße zu werfen. Der Item erklärte seinen Lesern: »Now there is a LAW against this, and it is very plain and explicit. Throwing paper in the street is merely a habit, like spitting on the sidewalk or the floor. We had a very good example of the ease with which the habit of spitting in the street cars could be broken up, last year, when the notices regarding the anti-spitting ordinance were placed in the street cars, and a few arrests were made […]. Let Commissioner Newman follow up the good work done by Commissioner Lafaye by ENFORCING the ordinance which forbids the throwing of paper, trash, and vegetables in the streets. Let the residents of each ward themselves take pride in seeing that their streets are not defiled by the violation of this ordinance, and KEEP their gutters CLEAN, and draining perfectly. The improvement in appearance and in wholesomeness will be undeniable. New Orleans will no longer be known as the ›City of Thousand Smells – mostly vile‹ – and one more step toward sanitary reform and respect for law will be placed to the credit of the Commission Council.« 244

Letztlich war es bei allen idealistischen Appellen an die civic duties der Bürger doch notwendig, sich auf staatliche Regulierung und vor allem auf die ausführende Gewalt des Staates zu verlassen – auch wenn immer noch mit dem »pride« der Anwohner argumentiert wurde. Wer das Gesetz missachtete und weiterhin Müll auf die Straße warf, dem drohte ein Bußgeld von $ 10.245 Bereits zehn Jahre zuvor hatte die Progressive Union in der Daily Picayune prophezeit: »[…] it will require a constant watchfulness on the part of the police, and an occasional arrest to keep the habitual-ordinance violaters [sic!] in touch with the public mind […]«246. Ein ähnlich desillusioniertes Eingeständnis, dass es mit dem civic spirit von New Orleans doch nicht so weit her war, findet sich im Clean Up-Jahr 1915 im Item: »One is forced to admit that very few of us really care, when one sees how little public response the energetic work of the division of public works receives in the third, fourth, fifth and sixth wards, where the city’s forces have been at work for the last month.«247 Infolgedessen fuhr Commissioner of Public Property Lafaye im Frühjahr 1916 eigens mit seinen Inspektoren durch die Stadt, um in den bereits gesäuberten Stadtteilen nach 243 | »Federation to educate people in keeping the streets of city clean«, in: Item, 21.10.1914. 244 | »Keep them Clean«, in: Item, 17.10.1914. 245 | »Enforce the ordinance«, in: Item, 28.10.1914. 246 | »A Cleaner City«, in: Daily Picayune, 31.10.1903. 247 | »Enforce the ordinance«, in: Item, 28.10.1914.

II. Progressive Stadt

Übeltätern zu suchen. Tatsächlich erwischte er innerhalb von drei Stunden 40 Leute, die die Abfallgesetze missachteten248; ihre Namen wurden in den Tageszeitungen publiziert.249 Die »carelessness«250 der Anwohner ließ sich offenbar nicht durch wohlmeinende Vorträge und Wettbewerbe bekämpfen; die Schönheit von New Orleans musste staatlich verordnet werden. Im Kampf gegen die wuchernde Natur und den fehlenden civic spirit der New Orleanians erweiterte sich demzufolge auch die Autorität der Stadtverwaltung. Nur zum Mardi Gras wurden die strengeren Regulierungen temporär außer Kraft gesetzt: »The throwing of paper scraps and trash into the streets being so inseparably connected with the merry-making of Carnival celebrants, the commissioner has instructed that no affidavits be prepared against offenders.«251 Zu Karnevalszeiten herrschte ein von oben sanktionierter Ausnahmezustand, der im schönen, aufgeräumten städtischen Raum eine zeitweilige Rückkehr zu alten Gewohnheiten tolerierte. Die von den Architekten geforderte Bebauungsregulierung, die die ersehnte Harmonie der Fassaden hervorrufen sollte, folgte letztlich demselben Prinzip wie die Abfallverordnungen. Sie alle zeugen von einer wachsenden Tendenz der Träger des Clean Up und der City Beautiful, den Staat als Instrument für ihre Zwecke einzusetzen. Der Raum der Stadt unterlag so seit den ersten Dekaden des 20. Jh.s einer zunehmenden Regulierung, die sich inhaltlich an den Leitbildern derjenigen orientierte, die die Kampagnen initiiert hatten. Die Rechte des Individuums wurden dabei eingeschränkt, um dem Wohl der gesamten community zu dienen. Den schier unbegrenzten amerikanischen Individualismus versuchte man in diesen Jahren im Rückgriff auf die Tugenden des republicanism in seine Schranken zu weisen. Ein Beschluss des Stadtrates von Rochester (New York), welchen die New Orleanser Architekten als vorbildlich priesen, fasste dies präzise: »It is inequitable, as often happens to sections of our city which have achieved a ›trade-mark‹ of special value by reason of residential unity and beauty, to have some vandal destroy such special value upon the plea that ›he has a right to do as he likes with his own property‹«252 . Der von den Architekten in New Orleans verlangte building code scheiterte jedoch 1911 im Stadtrat. Gleichzeitig zeugt diese verstärkte Regulierung des Stadtbildes aber auch von einer Normalisierungstendenz, die Abweichungen definierte und für unzulässig erklärte. Allen voran galt es, der Stadt eine harmonische, reibungslose Oberfläche zu geben, die dem Bedürfnis der Clean Up-Träger nach gesellschaft248 | »Lafaye Squadron Ropes in Forty«, in: Item, 13.3.1916. 249 | »Lafaye scoop net makes haul of 41«, in: Item, 14.3.1916. 250 | »Streets littered fast as cleaned«, in: Item, 28.10.1914. 251 | »Carnival suspends Lafaye ›clean-up‹«, in: Item, 5.3.1916. 252 | Robinson, »Building Regulations«, in: Architectural Art and Its Allies, 3:11 (May 1908), 7-8.

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licher Harmonie unter eigener Führung Ausdruck verlieh. Nach dem Scheitern ihres building codes kommentierte die Architektenzeitschrift ironisch: »Now we learn that this is to be abandoned because poor people who like to smoke their pipes on the steps of an evening could not as conveniently see the passing throng if the steps are behind the building line.«253 Deutlicher hätten die Klassenvorurteile der Architekten nicht zum Ausdruck kommen können.

253 | »Editorial«, in: Architectural Art and Its Allies, 6:10 (April 1911), 8.

III. Alte Stadt »J UNGLES OF SAVAGE RE ALIT Y« Während die Bebauungsregulierung im Stadtrat abgeschmettert wurde und das Säubern der Straßen weitgehend auf Zustimmung stieß – die weitere Verwendung der Straßen als Müllhalde durch einige New Orleanians können als schlichte Nachlässigkeit oder als Widerwille, liebgewonnene Gewohnheiten abzulegen, verstanden werden –, so gab es bei einigen anderen Regulierungen im Rahmen des Clean Up regelrecht organisierten Widerstand. In solchen disharmonischen Prozessen der Stadtumgestaltung wurde das Gesicht des modernen New Orleans ausgehandelt. New Orleans konnte erst dann wahrhaft zur City Beautiful werden, wenn die sichtbare Oberfläche der Stadt gesäubert, aufgeräumt und harmonisch neu gestaltet war. Während es beim Clean Up in erster Linie darum ging, unplanmäßig wucherndes, Abwasserkanäle verstopfendes Unkraut zu entfernen und menschlichen Abfall zu beseitigen, so gehörten doch weitere Maßnahmen zum Gesamtprogramm, die das Erscheinungsbild der Stadt abrunden und ihre Gesundung vervollkommnen sollten. Dazu gehörte nicht nur die – vor allem den Architekten am Herzen liegende – harmonische Gestaltung der Fassaden, sondern auch ein systematisches Begrünen der Stadt. Gezielt und planmäßig eingesetzt, sollten Bäume die Stadt verschönern und gleichzeitig zu einem gesunden Lebensumfeld beitragen. Ihre üppige Vegetation war seit den Anfängen der Stadt eines ihrer Markenzeichen, wenngleich ein ambivalentes. Während der Wildwuchs aller Arten von Pflanzen, die dank des Klimas prächtig gediehen, viel gepriesen und häufig verteufelt wurde – man erinnere sich an Charles Dudley Warners zwiespältige Betrachtung der Rosen –, bemühte man sich zugleich, kontrolliert Natur in das Gewebe der Stadt einzuflechten. Bereits Mitte des 19. Jh.s war New Orleans für seine schattigen Boulevards berühmt. Gemäß französischer Praxis waren seit dem 18. Jh. die Hauptstraßen mit Bäumen bepflanzt worden. Vor allem die zwei repräsentativsten residentiellen Boulevards, St. Charles Avenue und Esplanade Avenue, sorgten für den Ruhm von New Orleans als Stadt der grünen Alleen.1 1 | Colten, Unnatural Metropolis, 89. Zur Vorbildfunktion Frankreichs vgl. Henry W. Lawrence, »Changing Forms and Persistent Values: Historical Perspectives on the Urban

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Nicht nur boten diese Straßen Schutz vor der unerbittlichen Hitze, sondern man glaubte auch, dass die Bäume die Luft von »obnoxious gases« reinigen würden, indem sie diese absorbierten.2 Im späten 19. Jh. kümmerten sich die privaten Straßenkommissionen um das Pflanzen und die Pflege von Bäumen auf öffentlichen Verkehrswegen. Die bereits erwähnte Ursulines Avenue’s Improvement Commission sah es als ihre Hauptaufgabe, unkontrolliertes Wachstum von Pflanzen und Gras zu unterbinden; zusätzlich bemühte sie sich, ›gute Natur‹ in die Straße einzuführen. Auch das wurde als integraler Bestandteil des »good shape« verstanden. In den ersten drei Jahren ihrer Existenz pflanzte die Commission 375 Bäume auf der Ursulines Avenue, allein in den Blocks zwischen Claiborne und Broad Street.3 Neben diesen Einzelinitiativen formierte sich die New Orleans Tree Society, ebenfalls eine private Organisation unter der Leitung des unausweichlichen Dr. Joseph Holt, die sich stadtweit für Bäume einsetzte. Die New Orleans Tree Society forderte in den ersten Dekaden des 20. Jh.s, dass die einzelnen Initiativen gebündelt werden sollten, und zwar unter staatlicher Aufsicht. Wie beim drainage system, so bewegte man sich auch bezüglich des städtischen Grüns von piecemeal-Initiativen zum comprehensive plan. Für einen solchen trat die Tree Society bereits 1909 ein. Unter der Überschrift »A City Beautiful« erklärte sie in der Daily Picayune, es solle per Stadtverordnung eine städtische Kommission eingerichtet werden, die einen zentralen und systematischen Baum-Plan für die Stadt entwickeln und umsetzen solle. »The streets of the city belong to the people. Private property owners should not have the power to destroy magnificent oaks or elms standing on the sidewalks in front of their houses. Nor should they have the power to disfigure the symmetry of the city’s streets by planting hideous freaks along the public ways.«4 Die Argumentation der Tree Society folgte demselben Muster wie die der Architekten. Zu viel Individualismus dürfe nicht toleriert werden; Leute mit Geschmack sollten die Macht haben, festzulegen, welche Bäume wo gepflanzt werden sollten. Die typisch progressivistische Rhetorik der binären Opposition zwischen »people« und privaten Interessen findet sich hier ebenso wie das ästhetische Leitbild der Harmonie. Es ist kein Zufall, dass das Louisiana Chapter des American Institute of Architects ab 1910 zusammen mit der New Orleans Tree Society die Architekturzeitschrift Architectural Art and Its Allies herausgab; die beiden Organisationen standen einander nahe, was ihre Vision des guten Stadtraums anging.

Forest«, in: Gordon A. Bradley (ed.), Urban Forest Landscapes: Integrating Multidisciplinary Perspectives (Seattle: University of Washington Press, 1995), 17-40, hier 19. 2 | Colten, Unnatural Metropolis, 72. 3 | »Ursulines Avenue’s Efficient System«, in: Daily Picayune, 10.5.1894. 4 | »A City Beautiful«, in: Daily Picayune, 22.2.1909.

III. Alte Stadt

Während die Architekten sich allerdings bemühten, das Erscheinungsbild privater Wohnhäuser zu regulieren, beschränkte sich die Tree Society auf die Forderung nach Kontrolle des öffentlichen Raumes. Ihr ging es um die Straße als Raum der community, in den private Interessen nicht eingreifen dürften. Die Stadtverwaltung sollte als Vertreter des people bestimmen, welche Bäume in New Orleans wo zugelassen sein sollten. Es verwundert kaum, dass sich an der geforderten Kommission Experten beteiligen sollten, beispielsweise aus der Tree Society selbst. Anders als die Architekten war die Tree Society jedoch erfolgreich, schließlich griff ihr Vorhaben weniger in privates Eigentum ein als das der Architekten. Noch 1909 schuf der City Council die Parking Commission, deren Aufgabe es war »to plant, maintain, protect and care for trees, shrubs and other plants, in all of the public highways of this city«5, bzw., wie die Kommission es selbst formulierte, »the useful and picturesque embellishment of this great city, through the application of municipal arboriculture« zu gewährleisten.6 Ohne Genehmigung durch die Parking Commission konnte fortan keine Straßenkommission auch nur den kleinsten Strauch pflanzen oder entfernen.7 Voller Enthusiasmus versprach die Parking Commission in einem Brief an Bürgermeister Behrman, eine »perpetual, energizing and transforming influence« zu schaffen, eine »tremendous lifting power in the raising of this community to higher levels of comfort, contentment and the joy of life«.8 Durch die Verwandlung des städtischen Raumes sollte eine ganze community verbessert werden, und zwar »physically, mentally, morally«9 – ein hoher Anspruch an ein paar Bäume. Wie bei der drainage, der sewerage und beim Clean Up erhofften sich die Träger der raumordnenden Projekte eine gesellschaftliche Wirkung. Die Parking Commission brachte den environmentalistischen Glauben der Zeit auf den Punkt, indem sie den Bürgermeister erinnerte: »as the environment – so are the people«.10 Nichts weniger als ein »beautifully environed, clean, wholesome, contented citizenship«11 sollte das Ergebnis der systematisch 5 | Ordinance 5818 New Council Series. Später wurde sie in »Parkway Commission« umbenannt. Boards and Commissions: Reports Prepared for Charter Committee for the City of New Orleans (1951), in: NOPL/CA, ZG2021951. 6 | Parking Commission an Mayor Martin Behrman, 24.8.1909, in: NOPL/CA, Mayor Martin Behrman Records, Series I 1904-20, Box 2, Folder Corr. – Parking Commission. 7 | Ordinance 5818 New Council Series. 8 | Parking Commission an Mayor Martin Behrman, 24.8.1909, in: NOPL/CA, Mayor Martin Behrman Records, Series I 1904-20, Box 2, Folder Corr. – Parking Commission. 9 | Parking Commission of New Orleans, Ordinance, By-Laws, Prospectus, Report to Mayor and City Council, August 24, 1909 (New Orleans: s.n., 1909), 8. 10 | Parking Commission an Mayor Martin Behrman, 24.8.1909, in: NOPL/CA, Mayor Martin Behrman Records, Series I 1904-20, Box 2, Folder Corr. – Parking Commission. 11 | Parking Commission, Ordinance, 8.

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begrünten Straßen sein. Mit Macht wurde folglich in den ersten Dekaden des 20. Jh.s an den unterschiedlichsten Ecken und Enden des städtischen Raumes geschraubt; all diese Manipulationen zielten letztlich auf eine Erneuerung der Gesellschaft von New Orleans. Wie könnte es auch anders sein: Autor der inbrünstigen Auslassungen über die erhoffte Wirkung der Bäume war kein anderer als Dr. Joseph Holt, der sich bereits in den 1880ern durch anschauliche Beschreibungen stagnierender Abwasserkanäle und in den 1890ern durch überschwengliche Lobeshymnen auf das von seiner Firma begonnene sewerage system hervorgetan hatte. Holt war von Bürgermeister Behrman zum Präsidenten der Parking Commission ernannt worden, und ihm zur Seite stand als Vizepräsident der Architekt Allison Owen, der im Balkonstreit von 1914 ein führender Vertreter der Association of Commerce war. Letzterer war darüber hinaus aktives Mitglied der Architektenkammer. Spätestens damit wird klar, dass es sich um eine kleine, wohlvernetzte Elite handelte, die in diesen Jahren versuchte, ihre Stadt neu zu gestalten. Bei allen Initiativen begegnet man den ›üblichen Verdächtigen‹, die verschiedenen Assoziationen und Kommissionen zugleich angehörten, welche dadurch personell eng miteinander verflochten waren. Es war eine relativ überschaubare Gruppe von New Orleanians aus den professionellen Mittelschichten sowie der business community, die zusammen mit den Frauen aus ihren Kreisen den Raum von New Orleans umzuformen suchten; ihre Ambitionen realisierten sich in einer Ausweitung der Macht der Stadtverwaltung. In ihrem 1909 publizierten prospectus, der die Pläne der Parking Commission darlegte, formulierte diese Gruppe es wie folgt: Mit der Gründung der Kommission habe die Stadt die »assumption of exclusive sovereignty over its own public domain«12 erklärt. Die Stadt und damit die gewählten Vertreter des people von New Orleans errangen so die Deutungshoheit über den öffentlichen Raum – die jedoch den Leitlinien einer bestimmten Schicht folgte. Dementsprechend finden sich bei der Parking Commission dieselben Leitbilder, die alle Maßnahmen der Zeit prägten. Die Pläne der Kommission waren ehrgeizig. Sie kalkulierte, dass ungefähr 400 Meilen Straße mit Bäumen bepflanzt werden müssten und man folglich etwa 155.000 Bäume bräuchte, wozu eine eigene Baumschule gegründet werden sollte. Auch hier war Harmonie das ästhetische Leitbild. »Classic unity of design, with dignity and without monotony«13 sollte dank der professionellen Baumplaner erreicht werden. Die Straßenseiten sollten einander symmetrisch gegenüberliegen »in elegant repose«. Die Prinzipien der Landschaftsarchitektur, »unity of design and harmony of composition«, sollten auf die Gestaltung der Straßen angewandt werden, um letzt12 | Ebd., 7. 13 | Parking Commission an Mayor Martin Behrman, 24.8.1909, in: NOPL/CA, Mayor Martin Behrman Records, Series I 1904-20, Box 2, Folder Corr. – Parking Commission.

III. Alte Stadt

lich ein durchkomponiertes Ensemble zu erhalten, das sich durch weitläufige Perspektiven und »vistas« auszeichnete.14 Unliebsame Bäume – »undesirable occupants« – sollten nach und nach entfernt werden.15 Als Hauptproblem der bisherigen Praxis sah die Kommission ein Zuviel des Guten an: »All over this city, trees, shrubs and palms are planted too closely; a promiscuous overcrowding, ruinous to artistic design, obstructive to view, a blind to drivers, a menace to pedestrians, and a cover for criminals. This should be remedied and proper space insisted upon, the Commission fixing the minimum distance according to variety.«16 Nicht nur widersprach die bisherige Praxis in den Augen der Kommission jeglichem Empfinden für Ästhetik, sondern sie schien ihr auch gefährlich. Das Argument, dass zu viel – und vor allem unkontrolliert wachsende – Natur Kriminellen Unterschlupf biete, bildete in den Clean Up-Diskursen der Zeit einen Topos, der den Initiatoren ein schlagkräftigeres Argument an die Hand gab als das der ästhetischen Wirkung.17 Diskursiv wurde damit jedoch zugleich das Übermaß an Pflanzen mit Kriminalität assoziiert. Das Bild des hinter dem wilden Gebüsch lungernden (ebenfalls wilden) Verbrechers zeugt so vom Klassendenken jener, die das Bild bemühten, und weist darauf hin, in welchen gesellschaftlichen Schichten die City Beautiful verwurzelt war – und mit welchen Konnotationen ungeplante Natur verbunden war. Sowohl der Kriminelle als auch der natürliche Wildwuchs erschienen hier als Außenseiter der urbanen Zivilisation, ja gar als Bedrohung für diese. Sie standen schlicht außerhalb der städtischen Ordnung. Es verwundert daher nicht, dass sich die Kommission erhoffte, durch die Anwendung der Prinzipien der Landschaftsarchitektur, also durch Einheit und Harmonie, »system and order« zu erzielen, welche sie wiede-

14 | Parking Commission of New Orleans, Duties of Commission Defined, Annual Statement of President, June 13th, 1910 (New Orleans: Perry & Buckley, 1914), 12. 15 | Parking Commission an Mayor Martin Behrman, 24.8.1909, in: NOPL/CA, Mayor Martin Behrman Records, Series I 1904-20, Box 2, Folder Corr. – Parking Commission. 16 | Parking Commission, Ordinance, 10. 17 | In einem Brief vom 17.5.1909 etwa beschwerte sich ein Anwohner über ein unbebautes Grundstück, das aufgrund des Gebüschs »a pretty safe haven for thieves and robbers to practice their work upon innocent citizens passing in front of this property during the night« darstelle: Brief an das Department of Public Works, 17.5.1909, in: NOPL/CA, Department of Public Works, Incoming Correspondence, 1909-1912, LH 510, Box 2 – 1909; ähnliche Briefe bezeichneten einen »sidewalk with weeds« als »good hiding place for hoodlums« oder als »Jungle, where any desperate character could lurk and hold up people«: »Property holder Bell street« an das Department of Public Works, 7.8.1909, in: ebd. und »A taxpayer Genois/Palmyra st.« an das Department of Public Works, 1909, in: ebd.

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rum als Grundvoraussetzung für Schönheit betrachtete.18 Die Schönheit, die die Straßen von New Orleans auszeichnen sollte, war folglich eine harmonische, einheitliche Schönheit, die auf Ordnung und System basierte und Chaos, Unüberschaubarkeit und Dissonanzen ausschloss. Explizit diskriminiert werden sollten ärmere Stadtteile dabei nicht. Ganz im Gegenteil, im Sinne der zeitgenössischen Obsession mit umfassenden Plänen betonte die Kommission, dass »rich and poorer quarters« in gleicher Weise begrünt werden müssten.19 Die ganze Stadt sollte von Ordnung und System geprägt sein, und man könnte fast hinzufügen: Gerade die ärmeren Stadtteile hatten dringend ein wenig ordentliches Grün nötig. Die rationale Strukturierung der Stadt, wie sie John Henry Hepp für das Philadelphia der Jahrhundertwende ausgemacht hat, wird auch hier greifbar und äußert sich abermals in der Ästhetik der Harmonie. Die Argumentation mit den Gefahren des Wildwuchses deutet allerdings darauf hin, dass nicht nur der von Hepp herausgearbeitete Fortschrittsoptimismus, sondern auch eine gewisse Furcht hinter den Neuordnungsversuchen steckte – oder dass die Initiatoren der Verschönerungsprojekte zumindest dachten, in der Öffentlichkeit mit solchen Argumenten punkten zu können. Auch der Topos des »promiscuous overcrowding« spricht Bände über den class bias der Parking Commission. Diese Wortwahl war dem Reden über die sogenannten tenement districts der Großstädte wie New York City entlehnt. Enge und Überfüllung galten dabei in den progressivistischen Diskursen der Zeit als geradezu zwingend zu Promiskuität und Kriminalität führend.20 Eine Verwendung dieser Begriffe im Kontext des Straßengrüns wertete die bisherige Handhabung von Natur im Stadtraum von New Orleans aus der Sicht der Parking Commission subtil ab, indem sie sie in jenen Worten beschrieb, die sonst benutzt wurden, um ein den Unterschichten – vor allem den Einwanderern – zugeschriebenes Verhalten zu charakterisieren. Gleichzeitig waren klassenspezifische Promiskuität und wildes Gebüsch auch auf einer anderen Ebene diskursiv verbunden, befürchtete doch der ehrenhafte Victorian stets, dass die unteren Schichten ihre promisken Triebe, nicht zuletzt aufgrund des Platzmangels im eigenen Heim, im Grün des öffentlichen Raumes ausleben würden.21 Die Parking Commission bewegte sich mit ihren Konzepten des öffentlichen 18 | Parking Commission, Duties of Commission Defined, 12. 19 | Parking Commission, Ordinance, 10. 20 | Vgl. Lubove, The Progressives and the Slums, 6-7; 94-96; 110. 21 | Für einen Montrealer Park hat Sarah Schmidt, »Domesticating Parks and Mastering Playgrounds: Sexuality, Power and Place in Montreal, 1870-1930« (M.A. McGill University, 1996), 103-14, das überzeugend herausgearbeitet. Zu ›unmoralischen‹ Taten in New York Citys Central Park vgl. Elizabeth Blackmar and Roy Rosenzweig, The Park and the People: A History of Central Park (Ithaca: Cornell University Press, 1992), 405-06.

III. Alte Stadt

Raums in einem klassischen Diskurs der Mittelschichten des Victorian Age, mit dem sie zugleich ihren eigenen gesellschaftlichen Stand betonen und sich von Immigranten und Unterschichten distanzieren konnte. Zwöf Jahre setzte die Parking Commission an, um den Anblick der Straßen vollkommen zu verändern, »from the heterogeneous and disheveled old to the new; trees in beautiful alignment, of one size, smooth, straight, vigorous, graduates of a training school of culture, whose shadows are cool and restful, and whose gracious influence permeates every home with a benediction.«22 ›Zerzaust‹ und ›heterogen‹, das waren Eigenschaften, die den alten Zeiten angehörten, wohingegen ›einheitlich‹, ›linear‹ und ›gerade‹ für die Schönheit des Neuen und damit auch für Fortschritt standen. Die Ästhetik der Harmonie und der Symmetrie wurde dabei als kultivierte Ästhetik begriffen, die von den gebildeten Schichten propagiert wurde. Diese Ästhetik war neu und fortschrittlich und stellte in den Augen der Parking Commission nichts weniger als einen Segen für den durchschnittlichen New Orleanian dar. Wie das Clean Up sollten die neu gepflanzten Bäume zudem ein »civic training« darstellen, welches die »fitness for a true citizenship«23 künftiger Generationen sichern sollte: Die Kommission empfahl, die Bäume den Kindern der Stadt zu widmen, die durch die Pflege der Bäume den Einsatz für das Gemeinwohl üben könnten. Deutlicher hätte das Selbstverständnis der Herren Holt und Owen nicht zum Ausdruck kommen können: Sie waren fortschrittlich und kultiviert, sie verkörperten den civic spirit, setzten sich für die community ein und verteidigten die Rechte des people, sie sicherten New Orleans dank ihres Einsatzes und mittels moderner Technik und systematischer Pläne ein schönes, gesundes und sicheres Lebensumfeld24 , das letztlich im vielbeschworenen »contented citizenship« resultierte, d.h. in einer Identifikation aller Bürger mit ihrer Stadt, im harmonischen Zusammenleben ohne Bruch und Widerstand. Die Natur in der Stadt sollte dabei unter ihrer Federführung ebenso kontrolliert werden wie die New Orleanians. Mit der besitzergreifenden, die Stadt überwuchernden Natur des ewigen Sommerlandes hatte dies nichts mehr zu tun. Die New Orleanians sollten so werden wie die Mitglieder der Kommission und New Orleans so aussehen, wie sie es sich vorstellten; hinter diesem Ideal musste jeglicher Anflug von zerzaustem Individualismus zurücktreten. Es ist wahrscheinlich, dass sämtliche Akteure des Clean Up und der City Beautiful die Pläne von Holt und Owen unterzeichnet hätten: Sie alle bewegten sich in denselben Diskursen, die eine ähnlich glatte Vision von New Orleans transportierten. 22 | Parking Commission, Ordinance, 14. 23 | Ebd. 24 | Vgl. ebd., 11: »sanitary decency, health, convenience« und »public safety« stellten der Parking Commission zufolge die Errungenschaften des neuen drainage und sewerage Systems dar.

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Die Parking Commission machte sich alsbald an die Arbeit und gründete eine Baumschule, wies aber in den Folgejahren auch auf die Probleme hin, denen sie begegnete. Das Baumpflanzen ließ sich nicht so einfach an, wie gedacht. Vor allem elektrische Leitungen waren häufig im Weg, weshalb die Kommission dafür plädierte, diese langfristig unterirdisch zu verlegen.25 Es schien daher einfacher, zunächst einmal die unliebsamen Bäume zu entfernen. Und genau dabei stieß die Parking Commission, die New Orleans im Auftrag der Stadt und zum Wohle der community zu verschönern gedachte, auf Widerstand. Ein Aufschrei ging durch die Stadt, als die Parking Commission im Frühjahr 1916 drei riesige Palmen fällen ließ. Der Item titelte: »Neighborhood Shocked Over Loss of Trees« und zitierte Dr. Holt, der sich zu rechtfertigen suchte: »›We have undertaken to carry out a great scheme of beautifying the city‹, said Dr. Holt. ›We must have an orderly plan and we must adhere to it rigidly. Many palms are nuisances and real menaces to the eyes when their great leaves protrude out over the sidewalks.‹«26 Holt sah viele der bereits existierenden Palmen als Bedrohungen an, die zudem im ordentlichen Plan nicht vorgesehen seien, da sie nicht nach den Kriterien der Symmetrie gepflanzt worden wären. Die Bürger, vor deren Haustüren Palmen standen, waren jedoch anderer Meinung. Die Anwohner der Louisiana Avenue zogen vor den civil district court, um ihre Palmen zu retten. Sie bezogen sich auf das Eigentumsrecht, wie es im 5. Zusatz zur US-Verfassung verankert ist. Weil sie die Bäume vor ihren Anwesen gepflanzt hatten, argumentierten sie, dass die Kommission sie durch das Fällen der Palmen »without due process of law« ihres Eigentums berauben würde.27 Das Fällen der Bäume erschien somit verfassungswidrig. Zusätzlich kommentierten die Tageszeitungen, dass die Palmen aufgrund ihres tropischen Charakters der Stadt eine besondere Atmosphäre und Schönheit verleihen würden, die durch nichts ersetzt werden könne.28 Ein erboster Leser des Item wandte sich in einem Brief ironisch an die »Commissioners of the City Beautiful« mit der Bitte, diese mögen doch innehalten und daran denken, dass »these trees were here and growing years before their Commissions were organized.«29 Das Argument der besonderen tropischen Atmosphäre und des Alters der Bäume trat hier dem Argument der Ästhetik geordneter Symmetrie entgegen. Die Palmen gehörten schlicht und einfach zu New Orleans: Sie waren schon seit langem da und sie waren typisch für das Klima der Stadt. Die abstrakte Schönheit der 25 | Parking Commission of New Orleans, Annual Statement of President and Report of Superintendent, June 12th, 1911 (New Orleans: s.n., 1912), 12-14. 26 | »Giant Palms Destroyed by Park Body: Neighborhood Shocked Over Loss of Trees«, in: Item, 19.3.1916. 27 | »Property owners fight tree cutting«, in: Item, 12.3.1916. 28 | »Park Body to Spare Aged Trees of N.O.«, in: Item, 24.3.1916. 29 | »A plea for the palms in the city’s streets«, in: Item, 26.3.1916.

III. Alte Stadt

Symmetrie sollte sich nicht gegen die Schönheit des Gewachsenen, Typischen durchsetzen. Infolge der Gerichtsverhandlungen und des öffentlichen Interesses, das das Schicksal der Palmen erregte, schaltete sich der Commissioner of Public Property, Edward E. Lafaye, ein und überzeugte die Parking Commission, mit dem existierenden Baumbestand behutsamer umzugehen und von ihrem Plan Abstand zu nehmen, die Straßen von New Orleans uniform zu gestalten.30 Eine andere Vorstellung von der City Beautiful wies deren Initiatoren und städtische Träger an diesem Punkt in Schranken; sie war eng verknüpft mit dem Protest einzelner Bürger gegen eine Überhandnahme staatlicher Regulierung, der hier Grenzen gesetzt wurden. Mit ihrem Verständnis der Rolle von Natur in der Stadt bewegte sich die Parking Commission von New Orleans in jenen Diskursen, die auch die fortschrittsoptimistischen Planungen zur drainage prägten. »A permanent civilization can proceed no faster than man’s ability to control the forces of nature around him«31 , hieß es in ihrem Bericht von 1913. Fortschritt und Zivilisation schienen davon abhängig, in welchem Maße man die Natur kontrollieren könne, die so als Gegenpol zur urbanen Zivilisation fungierte. Auch in den Plänen zum Straßengrün findet sich der Topos, dass gerade New Orleans mit einem Übermaß an Natur zu kämpfen habe und deshalb deren Zähmung als besonders fortschrittlich anzusehen sei. »The subjugation of nature through science«, fuhr der Bericht fort, »therefore is the only foundation of New Orleans.«32 Keine andere Stadt schien zu einem solchen Ausmaß durch das Auseinandersetzen mit der Natur definiert, durch jene »struggles with incredible hardships and tribulations of adversity, in jungles of savage reality.«33 New Orleans zeichnete sich durch das Überleben in den Dschungeln wilder Realität aus – schöner hätte man es nicht formulieren können. New Orleans sollte damit das Gegenteil von wild und überwuchert sein, es sollte nahezu irreal ordentlich, luftig und harmonisch aussehen – so zumindest das Ideal, dessen normativer Impuls ebenso wie seine Grenzen im Kampf um die Palmen sichtbar wurden. Anders als bei der drainage wurde die Koalition der Verschönerer in diesem Fall brüchig. Selbst dem Item, der sonst bereitwillig jeder Reform das Wort redete, ging die Homogenisierung des Stadtraums in diesem Fall zu weit. Die alten Palmen, von individuellen Eigentümern gepflanzt, standen für das Besondere von New Orleans, für das Südliche und Tropische, für das Einheimische und das Gewachsene.

30 | »Park Body to Spare Aged Trees of N.O.«, in: Item, 24.3.1916. 31 | Parking Commission of New Orleans, Annual Statement of President and Report of Superintendent, June 9th, 1913 (New Orleans: Fitzwilliam&Co, 1914), 6. 32 | Ebd. 33 | Ebd., 5.

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»C HILDREN OF THE SOIL« Dabei war es auch der Parking Commission ein Anliegen, die typische Vegetation Louisianas zu fördern. Auch sie verbat es sich, Städte des Nordens als Vorbild zu nehmen. »This Commission, as a child of the soil and familiar with the field, all of us perhaps, born here, can best suit the royal flora of Louisiana to the adornment of New Orleans, without venturing money and time in experiment with untried foreign trees and people with a forty-second-North-latitude notion of what is best for this city.«34 Selbst aus New Orleans zu stammen diente als höchstes Qualitätskriterium und als Garantie dafür, dass die Kommission das Beste für die Stadt im Sinn, ebenso wie die entsprechende Expertise im Umgang mit Vegetation und Klima habe. Fremde Bäume, vor allem nördliche Bäume, stellten in den Augen der Parking Commission nichts weniger als einen Frevel dar. In ihrer Abwehrhaltung gegenüber nördlichen Vorbildern stand die Kommission den Verteidigern der Balkone im Streit von 1914 sehr nahe. Die ironisch bemühte »forty-second-North-latitude notion of what is best for this city« ähnelte jener Bemerkung im Item, dass man die Balkone von New Orleans ebenso wenig abreißen, wie man »fur overcoats for winter wear«35 tragen müsse. Im Lokaltypischen lag das Heil der Stadt. Wie aber dieses Typische von New Orleans aussehen sollte, welche Form es annehmen sollte – darin glichen die Konzepte der Parking Commission weniger denen der Balkonanhänger, als denen der Balkongegner, die die Canal Street mit subtropischen Blumenkübeln versehen wollten, um ein gewisses Lokalkolorit zu erzeugen, ansonsten jedoch gerne nach Norden und Westen schielten, um Modelle für die Neugestaltung des Stadtraums zu finden. Planmäßig angeordnet und domestiziert sollte die südliche Vegetation die Straßen zur Augenweide machen, den ästhetischen Prinzipien von Harmonie, Einheit und Ausgewogenheit folgend. Das Südliche, Tropische erschien hier als etwas Erstrebenswertes weil Typisches, das allerdings in seiner modernen, geordneten Form auftreten sollte. Buschige, asymmetrische Palmen waren in dieser Vision ebenso Störfaktoren wie unregelmäßige Balkone; beide fügten sich nicht in die geplante rationale Ordnung und ihre Ästhetik der Harmonie ein. Anders als die Blumenkübel der Canal Street, anders auch als die modernen Markisen und die in regelmäßigen Abständen symmetrisch gepflanzten Bäume, existierten sowohl die Palmen als auch die Balkone schon deutlich länger als die Verschönerungspläne selbst. Sie hatten eine eigene Geschichte, sie waren die Substanz, die ambitionierte Kämpfer für die City Beautiful und das Clean Up vorfanden. Zwei Schönheitsideale trafen daher in den Konflikten um die Palmen und die Balkone aufeinander, jenes der rationalen Ordnung und 34 | Parking Commission, Ordinance, 9. 35 | »Like Oklahoma City!«, in: Item, 6.5.1914.

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Harmonie und das des Historischen. Palmen und Balkone verband eines: Sie waren alt. Die Bürger von New Orleans, die über das Fällen der alten Bäume entsetzt waren, waren es nicht nur, weil sie die Palmen als optisches Schmuckstück der Straße oder als ihr Eigentum empfanden, sondern auch, weil diese alt waren und eine Geschichte aufwiesen, die mit dem spezifischen Ort innerhalb der Stadt verknüpft war. Sie verkörperten die Stadt, weil sie ein Stück ihrer Geschichte begleitet hatten. In gewissem Sinne schienen sie so charakteristischer für New Orleans als all die neuen Blumenkästen, Bäumchen und Markisen, die zwar eine zentrale Eigenschaft der Stadt – ihre Südlichkeit – demonstrierten, aber nicht mit der Stadt gewachsen waren. Gerade ihr Alter machte die Palmen und die Balkone daher in den Augen der protestierenden New Orleanians schön und erhaltenswert. Diese zwei Schönheitsideale lagen letztlich in unterschiedlichen Wertungen des Alten, der Vergangenheit und der Geschichte begründet. Wie oben im Kontext des drainage-Plans ausgeführt, galt das Alte im Fortschrittsdiskurs der Jahrhundertwende, wie er den Neuen Süden prägte, als Inkarnation allen Übels, da es für das Altmodische, Rückwärtsgewandte und Fortschrittsfeindliche stand. Bürgermeister Martin Behrman und Dr. Joseph Holt vertraten diese Ansicht ebenso wie Edgar Stern und Allison Owen von der A of C. Im spezifischen Kontext der Südstaaten hatte das Alte zudem den Beigeschmack des Alten Südens, der wiederum mit Ineffizienz und Stagnation konnotiert war. Man bewegte sich nach vorne, orientierte sich an der Zukunft, nicht an der Vergangenheit, aus der das im Stadtraum sichtbare Alte stammte. Das Alte, das in der Gegenwart existierte, wurde als im Gewebe der Stadt unpassendes Relikt der Vergangenheit empfunden, das für die Unzulänglichkeit früherer Zeiten stand. Dass das Alte eine Geschichte hatte, dass es aus einer anderen Zeit stammte und lange in der Stadt überdauert hatte und somit eng mit ihr verknüpft war, galt in dieser Perspektive hingegen nichts. Im frühen 20. Jh., so scheint es, spaltete die unterschiedliche Wertung des Alten (und damit der Vergangenheit sowie der Geschichte) jene Bürger von New Orleans, die sich um eine Umgestaltung des Stadtraums bemühten. Hinter den drainage-Initiativen ebenso wie hinter dem allgemeinen Clean Up war der Konsens groß. Gerade die Clean Up-Kampagne von 1914, im Zuge derer der Balkonstreit entflammte, war eigentlich von größtmöglichem Einverständnis und einer guten Kooperation aller an der Initiative beteiligten Gruppen geprägt. Architekten, Frauen, die Stadtverwaltung, die Association of Commerce, sie alle waren sich beispielsweise einig, dass die billboards von der Canal Street verbannt werden sollten. Jene Werbeschilder waren im frühen 20. Jh. den mit der Ästhetik der Stadt befassten Mittelschichten ein Dorn im Auge (Abb. 13).

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Abbildung 13: Reklametafeln, sog. »billboards«, an Häusern und Balkonen, Carondelet Street, ca. 1900-1906 (Foto: Detroit Publishing Company). Auf die billboards wurden alle Vorbehalte projiziert, die man gegenüber dem städtischen Raum, so wie er sich präsentierte, hatte. Der Kampf gegen Werbeschilder bündelte alle Topoi urbaner Reform. Billboards galten als Gefahr für die Sicherheit der Bürger (»danger in the concealed spaces back of the boards«36), als gesundheitliche Bedrohung (sie verhinderten die »free circulation of air«37) und ästhetische Monstrosität (»offenses against sight«38), da ihr Erscheinungsbild nicht dem kultivierten Geschmack des ordentlichen Bürgers entsprach, sondern geradezu vulgär war (»vulgar impression created in the mind by a flaring advertisement«39). Mit diesen Eigenschaften stellte das billboard einen unrechtmäßigen Übergriff eigennütziger kommerzieller Interessen auf die Rechte der Stadt und der Öffentlichkeit dar (»the rights of the city as a whole have been trespassed upon«40), der jeden erregen musste, der auch nur einen Funken an »civic pride« hatte (»a person endowed with a grain of civic pride must feel of36 | F. J. MacDonnell an Martin Behrman, 25.2.1913, in: NOPL/CA, Mayor Martin Behrman Records, Series I 1904-20, Box 2, Folder »Corr. – »L« Miscellaneous«. 37 | Ebd. 38 | Notizen von Ethel Hutson, 1913, in: TU/LaRC, Ethel Hutson Papers, Mss 14, Box 7, Folder 14-7-5. 39 | »Campaign starts against local sign nuisance«, in: Times-Picayune, 24.5.1915. 40 | F. J. MacDonnell an Martin Behrman, 25.2.1913, in: NOPL/CA, Mayor Martin Behrman Records, Series I 1904-20, Box 2, Folder »Corr. – »L« Miscellaneous«.

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fended«41). Diesem Übel sollte durch das Engagement der reformerischen Mittelschichten und eine städtische Verordnung Einhalt geboten werden.42 Allison Owen war im Kampf gegen die Werbeschilder Vorsitzender der temporären Organisation gegen billboards43 und leitete eine gemeinsame Versammlung der Louisiana Federation of Women’s Clubs und der Association of Commerce, der auch Angehörige der Newcomb Art School beiwohnten44: Die im Balkonstreit entzweiten Parteien zogen hier an einem Strang, und das, während das Schicksal der Balkone alles andere als geklärt war. Beide Themen waren ganz konkret miteinander verknüpft. Die Balkonanhänger versuchten in der Folge, den common ground der gemeinsamen Ablehnung von billboards zu nutzen, um die Balkongegner davon zu überzeugen, dass die Balkone selbst nicht das eigentliche ästhetische, gesundheitliche und sicherheitstechnische Problem darstellten, sondern ihre Verwendung als Werbeträger. »If the Canal street merchants who have galleries with iron railings, hidden by unsightly advertising signs could be induced to remove those signs, and place growing plants just inside the railing, I believe they would never return to the ugly signs«45, bemerkte Catherine Labouisse vom Louisiana Federation Committee on the Canal Street Galleries. Dieses Argument fiel jedoch nicht auf fruchtbaren Boden. Markisen erschienen den Balkongegnern einfach schöner, weil moderner. Die Koalition der drainage, des Clean Up und der billboardKritiker zerfiel folglich, sobald es um die Bewertung historischer Substanz im Stadtraum von New Orleans ging. Mochte dieses Merkmal noch so typisch sein – sofern es alt war, gehörte es verbannt, selbst wenn es nicht lebensbedrohlich war. Die A of C orientierte sich an den zeitgenössischen Städten des Westens und Nordens, oder an anderen jüngeren Städten des Südens wie Dallas; sie ordnete das Streben nach Individualität dem Leitbild der Modernität unter. Das Typische von New Orleans, verstanden als Südlichkeit, konnte lediglich in einer neuen, modernen Form ausgedrückt werden. Altes erschien den führenden businessmen der Stadt als untragbar; zu stark waren sie in den Fortschrittsdiskursen des Neuen Südens verankert. Dabei unterstützten die Balkonanhänger sogar die Pläne der A of C, tropische Pflanzen in Blumenkübeln an der Canal Street aufzustellen. Ein Leitartikel 41 | »Campaign starts against local sign nuisance«, in: Times-Picayune, 24.5.1915. 42 | Notizen von Ethel Hutson, 1913, in: NOPL/CA, Ethel Hutson Papers, Mss 14, Box 7, Folder 14-7-5. 43 | »Billboards must be abolished, say aroused citizens«, in: Times-Picayune, 2.6.1915. 44 | »Billboards here called ›just pernicious habit‹«, in: Item, 1.6.1915. 45 | »Will outline campaign against bill boards«, in: Item, 31.5.1915. Eine ähnliche Argumentation findet sich in den Petitionen bereits ein Jahr zuvor, vgl. »Canal St. Fight is inaugurated before Council«, in: Times-Picayune, 6.4.1914.

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des Item betonte: »The committee wants to have a touch of tropical foliage to relieve the monotony of brick and mortar, stucco and structural steel – and so does The Item.«46 Insofern herrschte Einigkeit. Jedoch gebe es einen zentralen Unterschied, so der Artikel: »That with the committee [der A of C] have seemed to be those who want Canal street to be made copy of the business thoroughfares in western and northern cities, APPARENTLY FOR THE SOLE PURPOSE OF BEING OUTWARDLY LIKE THOSE CITIES [sic!].«47 Ein Hauch tropischer Vegetation auf der Hauptgeschäftsstraße schien den Balkonbefürwortern und ihrem Sprachrohr, dem Item, nicht ausreichend, um Canal Street anders als die Einkaufsstraßen der Städte des Westens und des Nordens aussehen zu lassen. Der Autor polemisierte weiter, dass man sich doch bemühen solle, Individualität in der Erscheinungsform zu bewahren, und das eine, zentrale Element von Individualität seien eben die »right sort of columned galleries and arcades extending over the sidewalk«48, kurz: die schönen, traditionellen Balkone. Blumenkübel mit einheimischen Pflanzen könnten diese hinsichtlich ihres Wertes als typisches Merkmal von New Orleans nicht ersetzen. Nichts schien den Balkonanhängern verwerflicher, als das Bemühen, auszusehen wie die Städte des Westens und des Nordens; nichts erschien den Balkongegnern erstrebenswerter, als sich an eben diesen Städten zu orientieren. Als Leitbild für die Gestaltung des Stadtraumes diente den Balkonanhängern folglich New Orleans selbst, bzw. seine Individualität, die für sie auch aus seiner Geschichte resultierte und in der historischen Architektur Ausdruck fand, in eben jenem Alten, das die A of C als unmodern empfand. Selbst die so auf das harmonische Erscheinungsbild der Straßenzüge bedachten Architekten waren im Namen des Erhalts der Balkone und der Einmaligkeit von New Orleans bereit, der sonst von ihnen favorisierten Ästhetik rationaler Ordnung und Symmetrie zu entsagen. Das Typische konnte, ja musste auch die Form des Historischen annehmen können, um New Orleans von anderen Städten zu unterscheiden.

P IT TORESK UND CHARMANT Denn gerade das, was von der Geschichte der Stadt zeugte, war in den Augen der Balkonanhänger wahrhaft charakteristisch für New Orleans. Subtropische Vegetation gab es auch in anderen Städten der Südstaaten, ebenso wie moderne Markisen. Aber die alten Balkone, so rühmte man sich, die gebe es nur in New Orleans. Sie drückten Südlichkeit in einer echten New Orleanesken Form aus. Die identifikatorische Wirkung des Alten, das eine lokale Geschichte hatte und in seiner phy46 | »A definition and an endorsement«, in: Item, 8.5.1914. 47 | Ebd. 48 | Ebd.

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sischen Präsenz auf eine vergangene Zeit der Stadt verwies, stach für die Gegner der Abrisspläne die möglichen negativen Konnotationen von Altem Süden, von aristokratisch-femininer, stagnierender und unmoderner Gesellschaft aus. Dementsprechend bildete die klimabedingte Notwendigkeit der Balkone auch nur einen Teil ihrer Argumentation. Parallel dazu argumentierten die Balkonbefürworter mit der Ästhetik der Balkone, die sich in deren »distinctive charm«49 äußerte. Während sie mit dem Klimaargument versuchten, die Vertreter der Association of Commerce auf deren ureigenem Terrain zu schlagen, indem sie die Funktionalität der Balkone im Kampf gegen die Unbill der Natur hervorhoben, entsprang der zweite Teil der Argumentation ihrem eigenen stadträumlichen Leitbild von der Individualität der Crescent City. Der Charme der Balkone trug in ihren Augen maßgeblich zur Besonderheit von New Orleans bei; weder Dallas noch Oklahoma City konnten diesen Charme aufweisen. Die Präsidentin der örtlichen Daughters of 1776-1812, Marion H. Stern, brachte dieses Leitbild auf den Punkt: »New Orleans stands unique in its architecture, and with every so-called improvement loses in native charm. There must be some ax in grind that prompts this change, and as a patriotic society we earnestly protest against the measure.«50 Die Definition von »improvement« war weder in den Diskussionen um drainage, noch bei jenen um Clean Up hinterfragt worden; es galt als unhinterfragbare Annahme, dass Wandel, Modernisierung und Verbesserung deckungsgleich waren. Für Marion Stern war offenbar ein im formalen Sinne modernisierender Wandel des Stadtraums nicht zwangsläufig eine Verbesserung. Im Gegenteil: Wenn das Gesicht der Stadt seine charakteristischen Merkmale dabei zu verlieren drohte, dann kämen Modernisierungen einem unpatriotischen Akt gleich, den es zu verhindern gelte. Während es für die Association of Commerce ein Zeichen von civic pride war, den Stadtraum zu erneuern und somit Anschluss an aktuelle urbane Trends zu finden51, war gerade die Orientierung an anderen, vermeintlich moderneren Städten für die Balkonanhänger ein unpatriotischer Frevel. Modernität konnte man ihnen zufolge auf anderen Gebieten unter Beweis stellen, dort, wo es für Gesundheit, Moral und Wirtschaftskraft der community von größerer Bedeutung war, wie etwa bei der drainage oder dem Clean Up. In einem polemischen Leserbrief an den Item griff ein in New Orleans lebender Nordstaatler die funktionale Argumentation für die Bewahrung des Alten sowie das Argument des individuellen Charakters der Bäume und der Balkone auf und appellierte an seine neue Heimatstadt, sich selbst treu zu bleiben: 49 | »Women writers are in favor of galleries«, in: Item, 28.5.1914. 50 | »Daughters of 1776-1812 want galleries kept«, in: Item, 24.5.1914. 51 | Allison Owen etwa bewarb die Markisen mit dem Argument, dass »for the last 20 years the trend has been toward eliminating verandas and galleries and substituting marquees and canopies«. »Women writers are in favor of galleries«, in: Item, 28.5.1914.

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»The original citizens of little old New Orleans built their houses to suit the climate, old French and Spanish fashion, patio inside and big galleries on the outside, plenty of shelter from both sun and rain. The suburbanites built plantation style, big halls and lots of gallery room, the most suitable kind of a house for this climate. Besides comfort for the body, these styles had both an architectural charm of their own. […] Now, getting the boosting bug in their belfries, a bunch of our leading citizens propose to make us a city beautiful by chucking our galleries and trees into the scrap heap, so that we will look like a proper Northern city (according to their ideas of such), which we are not, and never can be, as the parallels of latitude and our geological formation strictly prohibit.« 52

Der Leser, der mit »Down East Yankee« unterzeichnete, rief dazu auf, die Stadt weiter einem rigorosen Clean Up zu unterziehen, aber zusätzlich mehr Balkone zu errichten und so zum Modell für eine »southern city« zu werden, was der halbgaren Nachahmung einer nördlichen Stadt eindeutig vorzuziehen sei.53 Auch er brandmarkte die Negierung der Südlichkeit und der lokalen Geschichte als unpatriotisch. »Is it lack of common sense, or is it lack of civic pride that causes the fool stunts that are so often pulled off here in the name of progress?«54 Die Orientierung am Leitbild der Individualität von New Orleans statt an jenem seiner Modernität führte folglich zu einer selbstbewussten Bejahung seines südlichen Klimas und der diesem angemessenen Architektur. Selbst wenn diese Architektur alt war, so war sie doch dank ihrer südlichen Charakteristika jener Architektur vorzuziehen, die sich an Bauten des Nordens orientierte. Zudem war es gerade ihr Alter, das sie charmant wirken ließ. Das Leitbild der distinctiveness implizierte demnach auch eine Wertschätzung von Relikten der Vergangenheit, die dazu beitrugen, New Orleans ein besonderes – in diesem Fall charmantes – Aussehen über das Grundmerkmal der Südlichkeit hinaus zu verleihen. Die Balkonanhänger befürworteten das, was ihre Stadt von anderen unterschied, auch wenn es vergangenen Epochen entstammte. Das Alte, Vergangene, das seine Spuren im Gewebe der Stadt hinterlassen hatte, war in dieser Perspektive nicht nur unproblematisch, sondern konnte für die Individualität von New Orleans geradezu essentiell sein. Der Charme der historischen Form von New Orleans ergänzte in den Augen der Balkonanhänger die Südlichkeit als Identifikationsmerkmal der Stadt, und ihre Bewahrung wurde als Gegensatz zum »boosting bug« der universalisierenden »city beautiful« mit ihren »socalled improvements« konstruiert. Letztlich warfen die Balkonbefürworter der Association of Commerce damit vor, den Deckmantel des Fortschritts und der Verbesserung zu missbrauchen, um Veränderungen durchzuführen, die nicht 52 | »Be yourself, New Orleans! Says ›Down East Yankee‹«, Letter to the Editor, in: Item, 16.5.1914. 53 | Ebd. 54 | Ebd.

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von allen Bürgern der Stadt als fortschrittlich wahrgenommen würden, bzw. sie zweifelten die normative Bedeutung von »progress« und »improvement« an, wie sie in den Programmen der A of C zum Ausdruck kam. Wer an der Individualität von New Orleans rüttelte, war in dieser Perspektive unpatriotisch und konnte gar nicht ernsthaft fortschrittlich sein. In ihrer Wertschätzung der alten Balkone als charmantes Merkmal von New Orleans waren die Balkonanhänger nicht allein, und die Wertschätzung des historischen Charmes beschränkte sich auch nicht auf die Balkone. In vielen Texten der Zeit, die versuchten, dem Charakter der Crescent City nachzuspüren – seien es Reiseberichte von Besuchern aller Art, Reiseführer oder Zeitungsartikel aus der Stadt und über die Stadt –, wurde Charme als das Merkmal von New Orleans par excellence ausgemacht. May Wright Sewall, Präsidentin des International Council of Women, zeigte sich nach dem Besuch einer convention in New Orleans der Daily Picayune gegenüber angetan von den »unique charms« der Stadt ebenso wie von den »quaint impressions«, die New Orleans bei ihr hinterlassen habe.55 Auch andere Besucher, sei es der Schatzmeister der American Federation of Labor, J. B. Lennon, oder der Imperial Potentate of the Nobles of the Mystic Shrine, Henry C. Akin aus Omaha, strichen die »quaintness«56 der Stadt am Mississippi heraus. Charming und quaint scheinen neben klimatischen Zuschreibungen die Attribute zu sein, mit denen man New Orleans um 1900 am häufigsten zu fassen versuchte und deren Verwendung ein breiter Konsens zugrunde lag. Beide Begriffe transportierten Konnotationen, die nicht gerade den Diskursen um die City Beautiful entstammten. Sie evozierten nicht die Schönheit der modernen Straßen, wie sie etwa der Tree Society ein Anliegen waren, sondern eine andere Schönheit, die altertümlich wirkte, fast kurios und dennoch oder gerade deshalb malerisch. Picturesque war dementsprechend das dritte Attribut, das von Besuchern und New Orleanians selbst immer wieder bemüht wurde, um die Stadt zu beschreiben. »New Orleans has often been called the most picturesque city of America«57, erfuhr der Leser eines 1926 erschienenen New Orleans-Fotobandes und selbst die Chamber of Commerce and Industry of Louisiana warb bereits 1894 damit, dass New Orleans eine Stadt des »infinite charm« sei, »picturesque and panoramic in the extreme«58 . Das Pittoreske war als ästhetische Kategorie durch Theoretiker wie Sir Uvedale Price (Essay on the Picturesque, 1794) und Richard Payne Knight (The Landscape: A Didactic Poem, 1797) im England des späten 18. Jh.s ergänzend zu den von Edmund Burke (Inquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful, 1756) 55 | »New Orleans as Convention City«, in: Daily Picayune, 1.9.1903. 56 | Ebd. 57 | Arnold Genthe, Impressions of Old New Orleans (New York: George H. Doran Company, 1926), 23. 58 | Chamber of Commerce and Industry of Louisiana (ed.), The City of New Orleans, 9.

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erarbeiteten Kategorien des beautiful und sublime etabliert worden.59 Ursprünglich bedeutete picturesque lediglich ›wie in einem Gemälde/in der Art der Maler‹, es wurde jedoch im Laufe des 18. Jh.s mit einer ganz spezifischen malerischen Ästhetik verbunden, die man in den Werken französischer Landschaftsmaler des 17. Jh.s wie Claude Lorrain und Nicolas Poussin am besten realisiert sah.60 Während beautiful eine ausgewogene, in sich ruhende Schönheit bezeichnete und das Sublime auf dem Ehrfurchtgebietenden beruhte, nahm das Pittoreske eine Mittelstellung ein und verwies auf eine Schönheit, die in Abwechslung, Vielfalt, Ungleichmäßigkeit und Asymmetrie gründete. Um 1800 war das Pittoreske als der ästhetische Trend schlechthin in England popularisiert worden. Vor allem die Reiseberichte von William Gilpin erreichten ein breiteres Publikum und führten in den sich für kultiviert haltenden Kreisen zu einer regelrechten Jagd auf pittoreske Szenerien.61 Mittelalterliche Bauwerke etwa, oder Ruinen in einer möglichst unberührt aussehenden Landschaft verkörperten dieses malerische Ideal, das in anderen Kunstgattungen ebenfalls zum Leitbild wurde. In der Landschaftsarchitektur folgten die englischen Gärten des 18. Jh.s, die seit der Mitte des 19. Jh.s stark die großen urbanen Parks Amerikas beeinflussten, den Prinzipien des Pittoresken.62 Auch der architektonische Eklektizismus des späten 19. Jhs, der sich von der strengen Ratio neoklassizistischer Bauwerke abgrenzte, verwies auf dieses ganz spezifische Schönheitsideal des 18. Jh.s, das Irregularität und Asymmetrie zum Kanon erhob.63 Die besondere Wertschätzung von Ruinen und alten Bauwerken beschränkte sich dabei nicht auf die rein visuelle Erfahrung der Architektur, sondern gründete in einem Bewusstsein für deren natürliche räumliche Umgebung und für die Fülle an historischen Assoziationen, die sich mit ihr verbanden. Architektur erschien so als Teil eines Ganzen, das eine bestimmte Umwelt und eine bestimmte Geschichte umfasste. In ihrer Ablehnung rigoroser symmetrischer Ordnungen ebenso wie in ihrem Sinn für Historizität und landschaftliche Bedingungen war die Ästhetik des Pittoresken Teil einer romantischen Sensibili59 | David Punter, »The Picturesque and the Sublime: Two Worldscapes«, in: Stephen Copley and Peter Garside (eds), The Politics of the Picturesque: Literature, Landscape, and Aesthetics since 1770 (Cambridge: Cambridge University Press, 1994), 220-39, hier 220; ausführlicher John Macarthur, The Picturesque: Architecture, Disgust and Other Irregularities (London: Routledge, 2007), 9-11. 60 | Macarthur, The Picturesque, 7. 61 | Ebd., 4-5. 62 | Vgl. Galen Cranz, The Politics of Park Design: A History of Urban Parks in America (Cambridge: MIT Press, 1982), 24-26; 32-56. 63 | Vgl. Alan Trachtenberg, The Incorporation of America: Culture and Society in the Gilded Age (New York: Hill and Wang, 1982), 119. Zum Prinzip der Irregularität in der pittoresken Architektur vgl. Macarthur, The Picturesque, 110-75.

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tät, die das Gewachsene (und damit eine Geschichte aufweisende) und seine ungleichmäßigen Formen dem Einheitlichkeitscredo des klassischen, überzeitlichen Schönheitsideals entgegensetzte. Eine andere Form ästhetischer Harmonie prägte das Pittoreske; es war nicht die universalistische, symmetrische Harmonie des Klassizismus, sondern die individualistische des Historischen, zu deren Kanon nicht nur Irregularität, sondern auch Verfall gehörte. Damit einher ging eine andere Betrachtungsweise. In eine pittoreske Landschaft begab man sich hinein, um Unvorhergesehenes herumwandernd zu entdecken; anders als die symmetrischen Gärten und klaren Fassaden des Klassizismus waren der Landschaftsgarten und das verfallende Bauwerk nicht auf frontale Ansicht und einen bestimmten erhöhten und statischen Ansichtspunkt hin angelegt. Es ging weniger darum, eine Perspektive des überblickenden Erfassens einzunehmen, als in eine von Natur und Geschichte durchtränkte Landschaft einzutauchen und sich überraschen und faszinieren zu lassen.64 Vor dem Hintergrund dieser Bedeutungen des Pittoresken wundert es nicht, dass die Zeitgenossen des Balkonstreits von 1914, die New Orleans als charming und picturesque wahrnahmen, diese Eigenschaften im Alter der Stadt begründet sahen. Selbstverständlich reflektierten die Besucher der conventions nicht über ästhetische Theorien des Pittoresken, die im 18. Jh. in England etabliert worden waren. Es ist dennoch frappierend, wie nahe der umgangssprachliche Gebrauch den ursprünglichen ästhetischen Theorien war. In New Orleans war Geschichte sichtbar, und man schätzte dies. »New Orleans is old and in many ways shows its age, but age is not wholly to be condemned or despised. It is a record of history, romantic and heroic to a great degree, and revealing in the worn stones and moldering arches of its ancient structures traditions and narratives that are even yet able to thrill the heart and excite the imagination«65, fasste die Daily Picayune 1903 für ihre Leser in New Orleans einen Artikel der New York Post zusammen, der sich vergleichend mit den Merkmalen amerikanischer Städte auseinandergesetzt hatte. Der physische Raum von New Orleans erschien als Zeugnis der Geschichte, die er visuell erfahrbar machte. Diese wiederum war deshalb besonders attraktiv, weil sie als romantisch und heroisch galt. Die alten Steine der Stadt konnten faszinierende Geschichten aus anderen Zeiten erzählen, unerwartete Geschichten voller Romantik und Heldentum. Das pittoreske, charmante Erscheinungsbild der Stadt sah man daher als Ergebnis einer vielfältigen und aufregenden Lokalgeschichte, deren Kenntnis New Orleans noch viel charmanter wirken ließ. Diese Architektur hatte eine Geschichte, sie war Teil dieser Geschichte, ebenso wie sie Teil der südlichen Umwelt war. Es schien folglich in den Beschreibungen von New Orleans der Konsens zu herrschen, dass die Stadt 64 | Vgl. Malcolm Andrews, The Search for the Picturesque: Landscape Aesthetics and Tourism in Britain, 1760-1800 (Stanford: Stanford University Press, 1989), 59-66. 65 | »Four Cities«, in: Daily Picayune, 29.10.1903.

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geradezu das Gegenteil von dem war, was etwa der Association of Commerce oder der Tree Society unter Dr. Joseph Holt vorschwebte. Charmant und picturesque seien weder die immergleiche Abfolge von Blumenkübeln und Markisen auf der Canal Street, noch die symmetrische Anlage identischer Bäume am Straßenrand. Die Balkonanhänger vertraten augenscheinlich eine Ästhetik, die den Stadtraum von New Orleans sichtbar und für Besucher nachvollziehbar prägte, und die von Plänen wie denen zum Abriss der Balkone in Frage gestellt wurde. Bereits 1887 hatte Charles Dudley Warner bei seiner Reise durch den Süden nicht nur den Blumenreichtum von New Orleans bemerkt, sondern auch die Dichte an historischer Bausubstanz, die das Gesicht der Stadt prägte. »In no other city of the United States or of Mexico is the old and the romantic preserved in such integrity and brought into such sharp contrast to the modern«66, stellte er fest und erklärte seinen Lesern, dass sich unzählige Häuser von historischer Berühmtheit innerhalb jenes Rechteckes befänden, das die »old city«, die ursprüngliche Siedlung von New Orleans, bildete.67 Dies sei wahrhaftig eine »city of the past«, die gerade in ihrem pittoresken Verfallszustand außergewöhnlich interessant sei.68 Während das Bild von New Orleans als charmanter alter Stadt insgesamt die Wahrnehmung der Crescent City prägte, so verorteten doch viele Besucher jenen pittoresken Charme in einem spezifischen Stadtteil – dem sogenannten Vieux Carré. Heute unter dem Namen French Quarter bekannt, wies die im 19. und frühen 20. Jh. zumeist als Vieux Carré bezeichnete koloniale Stadt einen rechteckigen Grundriss auf, der von einem gleichmäßigen Raster rechtwinklig angeordneter Straßen durchzogen wurde (Abb. 14; vgl. auch Abb. 5). Zehn mal fünf Straßen umfasste der ursprüngliche Plan, den der französische Ingenieur Adrien de Pauger 1721 für die zu diesem Zeitpunkt unter der Ägide der Compagnie des Indes stehende Siedlung La Nouvelle-Orléans entworfen hatte; sein Plan für die Hauptstadt der Kolonie Louisiana wurde in den Folgejahren realisiert.69 Als rationaler Stempel der Zivilisation in der subtropischen Wildnis sollte der rasterförmige Grundriss von New Orleans französische Machtansprüche in der Neuen Welt zum Ausdruck bringen, die Präsenz Frankreichs an einem für Verkehr und Handel elementaren Ort zementieren und dazu beitragen, eine geordnete, ideale Gesellschaft fern des Mutterlandes zu erschaffen.70

66 | Warner, »New Orleans«, 188. 67 | Ebd., 189. 68 | Ebd. 69 | Campanella, Time and Place, 33; Giraud, Company of the Indies, 202-03. 70 | Zum historischen Kontext französischer Stadtplanung im 18. Jh. vgl. Dawdy, Devil’s Empire, 63-74. Zur Geschichte und Umsetzung des kolonialen Idealplans von New Orleans ebd., 86-96. Vgl. auch Powell, Accidental City, 60-91.

III. Alte Stadt

Abbildung 14: Das rechtwinklige Raster des French Quarter (Vieux Carré) zwischen North Rampart Street und Mississippi (Sanborn Fire Insurance Maps, 1887). Jenseits ihrer Funktion als Elemente einer Idealstadt des ancien régime trugen die für amerikanische Ohren poetisch klingenden Straßennamen wie Dauphine Street, Chartres Street oder Dumaine Street im 19. Jh. ebenso wie die Architektur des Vieux Carré dazu bei, die Straßen des absolutistischen Rasterplans als geschichtsträchtige Orte voller Romantik festzuschreiben. »New Orleans still bears the impress of the nations to which at different times in its romantic history it has borne allegiance. Many of its streets yet retain their old French and Spanish names, and there are here and there sandwiched in between structures of a later generation many quaint and picturesque buildings«, fasste das Buch, das 1917 auf die Jahre 1904-16 unter dem Bürgermeister Martin Behrman zurückschaute, die Attraktivität des Vieux Carré zusammen, und präzisierte: »That part of the city below Canal Street suggests the life of mediaeval Louisiana. The old buildings and narrow, cobblestone streets constitute a monument of the past, and […] should be as carefully preserved as are the art treasures of the country’s museums.«71

Während der Verfallszustand des Vieux Carré 1887 eine starke Anziehungskraft auf Charles Dudley Warner ausgeübt und ihn zu Reflexionen über den pittoresken Charme des »decay« verleitet hatte, so findet sich in vielen Beschreibungen des Quarters 30 Jahre später weniger Faszination mit unumgänglichem Verfall als ein aktivistischer Impuls zur Bewahrung des Vieux Carré vor seinem endgültigen Niedergang. Innerhalb dieser Dekaden hatte sich in New Orleans offenbar ein Bewusstsein herausgebildet, dass die alten Bauwerke schützenswert 71 | Martin Behrman Administration Biography, 1904-1916, 12.

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seien; der Balkonstreit von 1914 stellte in dieser Entstehungsgeschichte lokaler historic preservation einen Meilenstein dar. In den Anfangsjahren des 20. Jh.s entstanden jene Bestrebungen, die in der Warnerschen Faszination mit Verfall gründeten und im Namen der Individualität von New Orleans sichtbare Relikte der Geschichte zu bewahren suchten. Das Bewahren des Alten beschränkte sich nicht auf Balkone, und, wie die Geschichte der Balkone von Canal Street zeigt, auch nicht auf das Vieux Carré. Die Koalition derer, die den Denkmalschutz in New Orleans begründeten, entsprach jedoch der der Balkonanhänger. In diesem Streit vernetzten sich die Verfechter alter Bausubstanz und bildeten erste Organisationen; dem Balkonstreit kam daher eine zentrale Rolle in der Entstehung der historic preservation in New Orleans zu, welcher wiederum eine ganz bestimmte Vorstellung dessen unterlag, was New Orleans ausmachte und wie sich die Stadt im Kanon der amerikanischen Metropolen auszeichnete. Auf der Suche nach einer spezifischen Identität ihrer Stadt hielten die Bewahrer des Alten jene Formen von New Orleans in Ehren, die sie als lokaltypisch weil ›historisch‹ empfanden; diesen historischen Formen schrieben sie zudem besondere ›Südlichkeit‹ zu, was ihre identitätsstiftende Kraft verstärkte. Das Bild von New Orleans als alte Stadt des Südens konkurrierte damit in den ersten Dekaden des 20. Jh.s mit dem Traumbild der modernen Stadt um die Deutungshoheit über die Crescent City. Dabei transportierte nicht nur, wie anfangs erläutert, der Begriff southernness bestimmte normative Vorstellungen über New Orleans, sondern auch die Idee des Historischen: Die frühen preservationists waren maßgeblich daran beteiligt, für New Orleans eine Geschichte zu erfinden – eine Geschichte, deren Relikte es wert waren, bewahrt zu werden, und aus der in der Gegenwart Identität geschaffen werden konnte. Dass diese Vorhaben nicht an der Oberfläche der Stadt stehenblieben, liegt auf der Hand; sie sind gleichfalls als Ausdruck von Prozessen gesellschaftlicher Machtaushandlung und der Konkurrenz um kulturelle Deutungshoheit zu sehen, die die New Orleanser Gesellschaft um 1900 transformierten. Wenngleich es darum ging, New Orleans eine spezifische Identität zu geben, so sprechen die Prozesse dieser Identitätsfindung Bände über Teilidentitäten und Statusversicherungen, die von den Brüchen in der Stadt zeugen.

G EGENWART DER V ERGANGENHEIT Wie zentral New Orleans für die Entwicklung des institutionalisierten Denkmalschutzes in den USA war, darüber herrscht in der Literatur ebenso Einigkeit wie über die touristische Bedeutung der historic preservation im 20. Jh. Die Architekturhistorikerin Christine Boyer spricht der Stadt am Mississippi beim Erfinden von Traditionen und der Initiation eines Kulturtourismus durch die

III. Alte Stadt

»nostalgic art of historic preservation«72 gar eine Vorreiterrolle zu. Keine andere US-Stadt habe so früh und in solchem Ausmaß für den Erhalt ihrer historischen Bausubstanz gekämpft und sich im Zuge dessen eine Geschichte gegeben, die so gut zu vermarkten war, wie New Orleans. Kritisch urteilt Boyer, dass New Orleans in der Folge die kommodifizierteste aller amerikanischen Städte geworden sei.73 Während sich Boyer in ihrer Kritik an den Auswirkungen der musealen Vermarktung einer Stadt von den meisten enthusiastischen, quasimissionarischen Forschungen zur Geschichte des Denkmalschutzes unterscheidet, sind sich jedoch alle einig, dass die besondere Rolle von New Orleans – gemeinsam mit Charleston, South Carolina – darin lag, dass diese Städte den Denkmalschutz als erste in den USA gesetzlich verankerten und somit staatliche Eingriffe im Namen historischer Bausubstanz über die Rechte privater Eigentümer setzten – ein nicht ganz unwesentlicher Aspekt im amerikanischen Kontext.74 Die offizielle Geschichte der historic preservation in New Orleans liest sich wie eine Erfolgsgeschichte privater Initiativen der 1920er Jahre, die in den 1930er Jahren in staatliche Aktion mündeten und damit zusammen mit den Entwicklungen in Charleston ein bundesweites Exempel statuierten. Es ist eine lineare Geschichte, in der um den kulturellen Wert ihrer Stadt besorgte Bürger für den Erhalt historischer Architektur plädierten und dafür Gehör bei staatlichen Organen fanden.75 Der Fokus der Initiativen in New Orleans war, wie könnte es anders sein, das heutige French Quarter. Ein Zusatz zur Verfassung des Staates Louisiana erklärte 1936 das Vieux Carré zum einmaligen historischen Stadtteil, der gesetzlichen Schutzes bedurfte. Der Zusatz gestand der Stadt New Orleans auch das Recht zu, die bereits 1925 auf städtischer Ebene gegründete, aber eigentlich machtlose Vieux Carré Commission (VCC) mit weitreichenden »police powers« zu versehen.76 Dieses Recht nutzte der Stadtrat von New Orleans 1937. Von nun an mussten Eigentümer, die innerhalb des 72 | Christine Boyer, The City of Collective Memory: Its Historical Imagery and Architectural Entertainments (Cambridge: MIT Press, 1994), 322. 73 | Ebd., 323. 74 | Vgl. Jeannette Raffray, »Origins of the Vieux Carré Commission, 1920-1941«, in: Louisiana History 40:3 (Summer 1999), 283-304, hier 295. 75 | Etwa Charles B. Hosmer, Presence of the Past: A History of the Preservation Movement in the United States before Williamsburg (New York: Putnam’s Sons, 1965), 29095; Mary Lou Christovich, »A New Custom in New Orleans: Preserving the Past«, in: John Kemp (ed.), New Orleans: An Illustrated History (Woodland Hills: Windsor Publications, 1981), 193-208; Garvey and Widmer, Beautiful Crescent, 162. Ähnlich die Geschichte des Denkmalschutzes in Charleston bei Yuhl, Golden Haze, die sich auch auf die 1920er und 30er Jahre konzentriert. 76 | Gotham, Authentic New Orleans, 86; Hosmer, Presence of the Past, 294.

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Vieux Carré bauliche Veränderungen vornehmen wollten, zuerst die Sanktion der VCC einholen.77 Die historic preservation wurde damit in den USA erstmalig durch ein staatliches Organ vertreten, das die Macht hatte, Privateigentum im Sinne des Denkmalschutzes zu regulieren.78 Für New Orleans gilt diese rechtliche Verankerung als Höhepunkt der frühen Bemühungen um Denkmalschutz, der von den unterschiedlichsten privaten Gruppierungen vorangetrieben worden war. Bereits 1920 gründeten Anwohner des French Quarter zusammen mit einigen Händlern und Mitgliedern lokaler Geschichtsvereine die Vieux Carré Restoration Society. Diese Gruppe verfolgte nicht nur das Ziel, historische Bauten zu erhalten, sondern auch, die Attraktivität des Quarters als Wohngegend zu erhöhen. Sie versuchte dabei, die Unterstützung von Bürgermeister Martin Behrman zu gewinnen, der jedoch die Wahlen von 1920 verlor, weshalb diese Initiative im Sande verlief.79 1925 fanden sich dann, so die gängige Erzählung, Einwohner des Vieux Carré in einer Vieux Carré Association (VCA) zusammen, um die dem – von Warner schon einige Dekaden zuvor festgestellten – Verfall anheimgegebenen Bauten des 18. und 19. Jh.s zu bewahren, zu restaurieren und so zum allgemeinen Fortschritt und Wohlstand des Stadtteils beizutragen.80 Auch andere Organisationen formierten sich in den 1920er Jahren, die sich auf unterschiedliche Weise am Projekt der historic preservation beteiligten. Vor allem Frauen waren dabei führend. Die Gruppe Le Petit Théâtre du Vieux Carré, 1919 von Louise Nixon gegründet81, kaufte einzelne vom Verfall bedrohte Häuser und renovierte sie. Unterstützt wurden diese Aktivitäten von lokalen Schriftstellern wie etwa Lyle Saxon, der den Trend zum Aufkaufen und Renovieren der Häuser 1922 euphorisch als Beginn einer Revitalisierung des French Quarter pries.82 In dieser Zeit entwickelte sich das Vieux Carré zu einem Magneten für Künstler. Die Schriftsteller Sherwood Anderson, William Faulkner und Lyle Saxon ließen sich dort ebenso nieder wie die Malerin Alberta Kinsey.83 Sie alle schwelgten im Charme des Viertels und trugen mit ihren Werken dazu bei, das Bild des French Quarter als altem und

77 | Raffray, »Origins«, 297-98. 78 | Hosmer, Presence of the Past, 295; Stanonis, Creating the Big Easy, 157. 79 | Raffray, »Origins«, 284-85. 80 | Eckstein, Sustaining New Orleans, 8; Hosmer, Presence of the Past, 293-94. 81 | Stanonis, Creating the Big Easy, 144. 82 | »New Orleans’ Vieux Carre Now Coming into Its Own«, in: Times-Picayune, 16.4.1922. Vgl. Stanonis, Creating the Big Easy, 153. Raffray, »Origins«, 286-87, führt weitere kleine Denkmalschutz-Organisationen an, die in den 1920er Jahren im French Quarter wie Pilze aus dem Boden schossen. 83 | Ebd., 286. Vgl. Laura Clark Brown, »New Orleans Modernism: The Arts and Crafts Club in the Vieux Carre, 1919-1939«, in: Louisiana History 41 (2000), 317-43.

III. Alte Stadt

romantischem Distrikt zu verbreiten.84 Damit bewegten sie sich im Kontext des regionalist movement, einer Bewegung von Schriftstellern und Künstlern in den 1920er und 30er Jahren, die enthusiastisch die Besonderheiten ihrer jeweiligen Heimatregionen feierten und die Vielfalt lokaler und regionaler Landschaften und Traditionen auf amerikanischem Boden herausstrichen. Die Faszination mit dem Lokalen und Individuellen ging dabei oft Hand in Hand mit einer grundlegenden Kritik der Standardisierungs- und Vereinheitlichungsprozesse innerhalb der modernen Gesellschaft, die den Verlust von kulturellen Eigenheiten anprangerte.85 Manche Künstler engagierten sich daher aktiv für die historic preservation. Die Schriftstellerin Grace King gründete in den 20er Jahren die Society for the Preservation of Ancient Tombs86 und die Gruppe Le Petit Salon du Vieux Carré, die 1925 durch Lobbyarbeit erreichte, dass die städtische Vieux Carré Commission eingesetzt wurde. Diese hatte den Auftrag, eine Studie des French Quarter anzufertigen, um historisch und architektonisch wertvolle Bauten ausfindig zu machen.87 Unterstützt wurden die Privatinitiativen durch professionelle Organisationen wie der örtlichen Gruppe des American Institute of Architects, die in den frühen 1920ern ihre Hilfe bei Restaurierungsarbeiten anbot.88 Ebenso gelten einzelne Individuen, etwa James J. A. Fortier, der Präsident des Louisiana State Museum, als treibende Kräfte hinter dem Denkmalschutz.89 Eine zentrale Figur war Elizebeth Werlein, die zwar aus Michigan stammte, aber mit dem New Orleanser Unternehmer Philip Werlein verheiratet war und als Galionsfigur der historic preservation in New Orleans gilt. In den 1920er Jahren begann sie, die Balkone des French Quarter zu katalogisieren90, veröffentlichte diesen Katalog als The Wrought Iron Railings of Le Vieux Carre New Orleans91, und beteiligte sich an Aktivitäten des Petit Théâtre.92 Auch Publikationen wie Arnold Genthes Bildband Impressions of Old New Orleans von 1926, oder Reiseführer, wie Stanley Arthurs Old New Orleans von 1936, reihten sich in den Reigen der zahllosen Aufmerksamkeiten ein, mit denen das alte New Orleans in den 20er 84 | Stanonis, Creating the Big Easy, 152. 85 | Vgl. Yuhl, Golden Haze, 90-91. 86 | Christovich, »Preserving the Past«, 200. 87 | Stanonis, Creating the Big Easy, 154. 88 | Raffray, »Origins«, 287. 89 | Hosmer, Presence of the Past, 295. 90 | Christovich, »Preserving the Past«, 201-02. 91 | Stanonis, Creating the Big Easy, 149. Elizebeth Thomas Werlein, The Wrought Iron Railings of Le Vieux Carré, New Orleans (s.l.:, s.n., ca. 1917-21), vgl. Scott S. Ellis, Madame Vieux Carré: The French Quarter in the Twentieth Century (Jackson: University Press of Mississippi, 2010), 249. 92 | Stanonis, Creating the Big Easy, 144.

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und 30er Jahren durch unterschiedlichste Akteure bedacht wurde; sie alle trugen dazu bei, dass sich ein für den staatlich getragenen Denkmalschutz günstiges Klima herausbildete.93 1923 konnte der New Orleanser Architekt Nathaniel Curtis in einem Brief an die Zentrale des American Institute of Architects konstatieren, dass es in der Stadt ein allgemeines, spürbares Interesse an allem gebe, was mit historischer Architektur zusammenhing.94 Das verbreitete Interesse für die Vergangenheit der Stadt und ihre materiellen Überreste fiel jedoch nicht in den 1920er Jahren spontan vom Himmel. In der Forschung wird zu Recht darauf hingewiesen, dass schon seit dem Ende des Bürgerkriegs am Mythos des ›alten New Orleans‹ gestrickt wurde. Vor allem journalistische und literarische Texte sowie Reiseberichte, Reiseführer und andere Werbetexte richteten bereits in den letzten Dekaden des 19. Jh.s den Blick zurück auf die Lokalgeschichte. Ihnen ist gemein, dass sie die alte Bausubstanz von New Orleans nicht als altmodische Relikte verteufelten, sondern ihre Existenz entweder unkommentiert dokumentierten, oder gar als sehenswert zur Kenntnis nahmen. Die sichtbaren Reste der Vergangenheit gehörten in diesen Texten genuin zu New Orleans und konnten sogar zur Attraktivität der Stadt beitragen. Vor allem die von Dezember 1884 bis Juni 1885 in New Orleans stattfindende World’s Industrial and Cotton Centennial Exposition scheint bewirkt zu haben, dass man sich intensiver mit der lokalen Kultur beschäftigte und deren Besonderheiten nachspürte, zu der die Geschichte der Stadt eben auch gehörte.95 Die boosters von New Orleans wollten ihre Stadt anlässlich dieses internationalen Ereignisses, zu dem man vier Millionen Besucher erwartete, in ein positives Licht rücken, während Eisenbahn- und Schifffahrtsgesellschaften sowie Hotels Reisen zur Expo in die Crescent City anpriesen und dabei die Einmaligkeit der Stadt betonten.96 Eine zentrale Stellung in dieser Literatur nimmt der Reiseführer von William H. Coleman ein, der anlässlich der Expo erschienen war.97 Coleman pries 93 | Hosmer, Presence of the Past, 295. Vgl. Genthe, Impressions und Stanley Clisby Arthur, Old New Orleans: A History of the Vieux Carré, its Ancient and Historic Buildings (New Orleans: Harmanson, 1936). 94 | Raffray, »Origins«, 287. 95 | Christovich, »Preserving the Past«, 200. Zur Ausstellung vgl. Thomas D. Watson, »Staging the ›Crowning Achievement of the Age‹: Major Edward A. Burke, New Orleans, and the Cotton Centennial Exposition«, in: Louisiana History 25 (1984), 341-66; Samuel C. Shepherd Jr., »A Glimmer of Hope: The World’s Industrial and Cotton Centennial Exposition, New Orleans, 1884-1885«, in: Louisiana History 26:3 (Summer 1985), 271-290. 96 | Letztlich kamen aber nur 1.158.840 Besucher, was im Vergleich zu den 27.529.000 Besuchern, die 1893 zur Weltausstellung nach Chicago strömten, nicht gerade ein Erfolg war. Gotham, Authentic New Orleans, 46; 59. 97 | Coleman (ed.), Historical Sketchbook.

III. Alte Stadt

New Orleans als einzigartige Stadt an, die ihre alte Kultur auf authentische Weise bewahrt habe und daher von außergewöhnlicher Individualität sei.98 Wie Charles Dudley Warner beschrieb auch Coleman New Orleans als alte Stadt, die in Teilen vom Verfall bedroht war. Auch er empfahl die verfallenden Gegenden der Stadt als Sehenswürdigkeiten, ohne ihren bevorstehenden Verlust zu beklagen. Dass bis dahin das French Quarter noch nicht zum Standardrepertoire touristischer Sehenswürdigkeiten gehörte, erschließt sich aus Colemans Reflexionen darüber, dass Besucher selten diesen Teil der Stadt frequentieren würden, ihnen damit aber ein wesentliches Element von New Orleans entgehe.99 »There, odd little balconies and galleries jut out from the tall, dingy, wrinkled houses, peering into each other’s faces as if in eternal confab«, beschwor er den Reiz des alten Viertels und verkündete, es handele sich um »sights to be found nowhere else in the world«100. Es ist bemerkenswert, wie Coleman versuchte, die Anziehungskraft der alten Häuser zu fassen, ohne diese explizit auf das Alter zurückzuführen. Poetische Umschreibungen, die die Bauwerke vermenschlichten, suggerierten ihren sympathischen Charakter: Ihre ›Faltigkeit‹ zeugte ebenso wie ihr vermeintliches ewiges Nachbarschaftsschwätzchen davon, dass sie schon seit einer geraumen Zeit in selbiges vertieft waren. Zwar mutete all dies seltsam an, »odd« und »curious«101, war aber gerade in dieser freundlichen Seltsamkeit sehr »picturesque«102 und »charming«103 . Damit war das Vieux Carré ein zentrales Element der New Orleanser Einmaligkeit und zugleich eine wahre touristische Attraktion. Zu seinem Charme gehörte der verfallende Charakter der Häuser integral dazu. Gerade im Angesicht ihrer Vergänglichkeit schienen diese Zeugnisse der Vergangenheit umso anziehender. Überall, schrieb Coleman, sehe man, wie die Zeit die Vergangenheit weiter zurückschiebe, um den Weg für die Gegenwart freizuräumen. Noch gebe es einige der über 100 Jahre alten Häuser, »but they are fast fading away«.104 Auch in dieser Haltung, den alten Architekturen einen gewissen Reiz abzugewinnen, ihren baldigen Verfall aber als unabwendbar darzustellen, ähnelte Coleman Warner. Es scheint, als etablierte sich in den 1880er Jahren im Wechselspiel zwischen Zuschreibungen von außen und von innen jene später weitverbreitete Interpretation von New Orleans als Stadt mit einem alten Kern, der attraktiv war, eben weil er alt war und von einer Geschichte zeugte. Noch wurde das Alter poetisierend umschrieben, und noch schienen 98 | Vgl. Gotham, Authentic New Orleans, 59. 99 | Coleman (ed.), Historical Sketchbook, 63. 100 | Ebd. 101 | Ebd., 65. 102 | Ebd., 63. 103 | Ebd., 64. 104 | Ebd., 65.

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die alten Bauwerke sicher dem Untergang geweiht. In dieser Perspektive wurde noch niemand dazu aufgerufen, das Alte zu bewahren – aber auch nicht dazu, dem Verfallsprozess nachzuhelfen und das Alte abzureißen. Der erste Reiseführer von New Orleans, den Benjamin Moore Norman im Jahr 1845 publiziert hatte, hatte zwar einen Überblick über die Geschichte der Stadt ebenso wie über Klima und Geographie gegeben, jedoch noch nicht im Charme verfallender Bauwerke geschwelgt. Die alte Bausubstanz von New Orleans fand erst durch Texte wie den von Coleman in den 1880er Jahren Eingang in den Kanon romantisierter New Orleanser Merkmale.105 Retrospektiv bewertete die aus New Orleans stammende Schriftstellerin Grace King, die sich 1914 im Balkonstreit für den Erhalt der Balkone auf der Canal Street aussprach, daher die Expo von 1884 als zentral für den Einzug der Vergangenheit in die Gegenwart der Crescent City. Nicht nur die Besucher, sondern die Bürger von New Orleans selbst seien durch die Expo mit der Geschichte der Stadt konfrontiert worden.106 Neben den aus diesem Anlass erschienenen Publikationen beschäftigte sich die Expo auch direkt mit der New Orleanser Vergangenheit. Vor allem die Louisiana Women’s Exhibit stellte nicht nur Errungenschaften der Frauen im Bereich von Kunst und Handwerk aus, sondern auch lokale »historical memorabilia«107. Ebenso feilten andere Schriftsteller in diesen Jahren am Bild der Stadt; auch sie zauberten teilweise schon vor der Expo die Lokalgeschichte aus dem Hut, die sie mit den Attributen des Romantischen versahen und deren Relikte sie zu essentiellen Elementen der uniqueness von New Orleans stilisierten. Auf diese Weise zirkulierten in der Öffentlichkeit bereits Bilder über die Stadt, die von boosters wie Coleman 1884 aufgegriffen wurden.108 Dem Journalisten Lafcadio Hearn kommt dabei eine zentrale Rolle zu. In den Jahren 1877-1888, die er in New Orleans verbrachte, publizierte er in den Lokalzeitungen Item und Times-Democrat, sowie in den überregionalen Zeitschriften Harper’s Weekly und Scribner’s Magazine Hunderte von Artikel, die die Stadt am Mississippi zu beschreiben suchten.109 Auch Hearns Publikationen popularisierten ein bestimmtes Bild von New Orleans und machten es international bekannt, das Bild einer

105 | Gotham, Authentic New Orleans, 48. Vgl. Benjamin Moore Norman, Norman’s New Orleans and Environs (New Orleans: B. M. Norman, 1845). 106 | Grace King, Memories of a Southern Woman of Letters (New York: Macmillan, 1932), 55. 107 | Gotham, Authentic New Orleans, 57. 108 | Ebd., 74. 109 | Ebd., 56; S. Frederick Starr, »Introduction«, in: ders. (ed.), Inventing New Orleans: Writings of Lafcadio Hearn (Jackson: University of Mississippi Press, 2001), xixxvi, hier xiii-xiv.

III. Alte Stadt

»city of romance, creole culture, and famous architecture«110 – allesamt Attribute, die auf der historischen Dimension der Stadt beruhten. Angesichts von parallel dazu existierenden, ganz anders gelagerten Diskursen über die Relikte der Vergangenheit im Stadtraum ist die Bedeutung dieser beginnenden Umwertung des Alten nicht zu unterschätzen. Wie anhand der Diskussionen um drainage und Clean Up bereits sichtbar, lag die Assoziation von Altem mit ›altmodisch‹ und ›rückständig‹ in einer von Fortschrittsoptimismus geprägten Zeit geradezu auf der Hand. Der fest verankerte Glaube an Fortschritt verleitete dazu, Wandel grundsätzlich als Zeichen der Verbesserung zu verstehen und daher zu begrüßen. »Change« kam zudem der Status einer geradezu typischen US-amerikanischen Eigenschaft zu, die Alexis de Tocqueville schon in den 1830er Jahren ausgemacht hatte.111 David Lowenthal weist in seinen Forschungen darauf hin, dass schon 1839 die von John L. O’Sullivan verkündete Theorie der Manifest Destiny die USA als neu geschaffene Nation des Fortschritts konzipierte, nicht als gewachsene Nation mit Geschichte und Geschichtsbewusstsein. Alter wurde in diesem Verständnis mit »institutional decay«112 und »Old World senility«113 assoziiert, während der jungen Nation Amerika die Zukunft offen stand. Der Bruch mit der Vergangenheit war eigenmächtig und aktiv herbeigeführt: Man hatte mit den Kolonialmächten gebrochen, um der Geschichte den Rücken zu kehren und die Zukunft in Angriff zu nehmen. »[…] we have, in reality, but little connection with the past history of any of them [other nations], and still less with all antiquity, its glories, or its crimes. On the contrary, our national birth was the beginning of a new history, the formation and progress of an untried political system, which separates us from the past and connects us with the future only.«114 In dieser Vision stand das Alte für den Despotismus der Monarchien und das Neue für die Demokratie Amerikas; der Bruch mit der Vergangenheit war integraler Bestandteil des amerikanischen Selbstverständnisses. Das war der dominante Diskurs, den Tocqueville in den 1830ern bemerkte, und in den sich auch die amerikanische Romantik einschrieb. Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau, die bekanntesten Vertreter der amerikanischen Spielart der Romantik, des Transzendentalismus, begrüßten die Vorstellung der Losgelöstheit von Traditionen und

110 | Gotham, Authentic New Orleans, 56. 111 | Robert M. Fogelson, Downtown: Its Rise and Fall, 1880-1950 (New Haven: Yale University Press, 2001), 25. 112 | David Lowenthal, The Past is a Foreign Country (Cambridge: Cambridge University Press, 1985), 110. 113 | Ebd. 114 | John L. O’Sullivan, »The Great Nation of Futurity«, in: The United States Democratic Review 6:23 (1839), 426-30, hier: 426.

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vorherigen Generationen; jede Generation sollte in der jungen Demokratie ihr eigener Souverän und nicht durch die Vergangenheit gebunden sein.115 Auch in den 1870/80er Jahren schlug sich dieser Diskurs in den Einstellungen gegenüber alter Bausubstanz nieder.116 Noch in diesen Jahren galt es in den USA weitgehend als erstrebenswert, dass alte Bauwerke verschwanden, da dies die Fortschrittlichkeit der jeweiligen Stadt ausdrückte.117 »And from this city, the New Orleans of To-Day, what message? What tidings and what signal? First and Foremost, this, which is our raison d’être, that it is in the throes of transition. In this city, strange to say, so long regarded, even among its own people, the least changeable of American cities, all is Change, Alteration, Innovation; which is, in fine, to say, IMPROVEMENT.«118 Die Chamber of Commerce von New Orleans bewegte sich in den 1890er Jahren offenkundig ganz in diesem Diskurs des großgeschriebenen Wandels. »Few people developed much of an attachment to old buildings and old places«119, fasst Robert Fogelson in seiner Studie zur Entwicklung von downtown den dominanten Diskurs jener Jahrzehnte zusammen. So wies die Chamber of Commerce in ihrem zu Werbezwecken verfassten Buch über New Orleans zwar im Kapitel »Sights and Scenes« auf »many a relic of historic or romantic interest«120 im French Quarter hin, ließ sich aber gleichzeitig darüber aus, wie »old-fashioned«121 und »antiquated«122 dieses doch sei. Überschriften wie »The Old Order and the New« waren sichtlich bemüht, die Vergangenheit als vergangen erscheinen zu lassen, den Bruch zur Gegenwart hervorzuheben und die Modernität des zeitgenössischen New Orleans darzustellen. »Here is an old city, rich, solid, populous, compacted within the narrow parallels of a strip stretching along twelve or fourteen miles of river front by one and a half to two miles’ width; backward, until lately, in many modern communal necessities […] – all that go to make a real city in our day inert and passive, apparently at a standstill. This was New Orleans. Now mark what it is.«123 115 | Lowenthal, Past, 111-12; Michael Holleran, Boston’s ›Changeful Times‹: Origins of Preservation and Planning in America (Baltimore: Johns Hopkins University Press, 2001), 30. Vgl. auch Mike Wallace, Mickey Mouse History and other Essays on American Memory (Philadelphia: Temple University Press, 1996), 179-81. 116 | Fogelson, Downtown, 25. 117 | Ebd.; zum Verständnis von Wandel als begrüßenswert und unausweichlich im amerikanischen Städtebau vgl. Holleran, Boston’s ›Changeful Times‹, 15-38. 118 | Chamber of Commerce and Industry of Louisiana (ed.), The City of New Orleans, 5. 119 | Fogelson, Downtown, 25. 120 | Chamber of Commerce and Industry of Louisiana (ed.), The City of New Orleans, 40. 121 | Ebd., 10. 122 | Ebd., 7. 123 | Ebd., 57-58.

III. Alte Stadt

Das alte New Orleans erschien hier als passiv und stagnierend, doch nun war mit all den infrastrukturellen (zumeist nur in der Rhetorik existierenden) Modernisierungen ein neues Zeitalter hereingebrochen, das die Crescent City zu einer echten Stadt machte: »Here it is, thrilling with new life and vim, rejuvenated. […] What then is the forecast for it in a business way? What but progress, and general prosperity? What but growth, improvement and enhancement, permanent and sure.«124 Wachstum und Verbesserung, Verschönerung und Fortschritt, neues Leben und neue Jugendlichkeit, »awakening«125 – die Faszination mit alten Orten hielt sich in diesen Kreisen offenbar in Grenzen und beschränkte sich auf einzelne Sehenswürdigkeiten, die, wie die Kathedrale am Jackson Square, die Cabildo oder das Haus der Piraten Lafitte, als alte Kuriositäten das verjüngte Gewebe der Stadt punktierten. Der Fokus lag dementsprechend im Bereich der Architektur auf den Neubauten, denen ein ganzes Kapitel gewidmet war und deren Modernität und künstlerischer Wert gepriesen wurde.126 Ansonsten war die alte Stadt durchweg negativ konnotiert, da sie der Selbststilisierung als fortschrittlicher Stadt des Neuen Südens, die nach dem Bürgerkrieg einen radikalen Neubeginn gewagt hatte, entgegenstand. Kontinuitäten gleich welcher Art, egal aus welchem Abschnitt der New Orleanser Geschichte, waren für die business community alles andere als erstrebenswert. Es schien allenthalben unausweichlich, dass das Alte letztlich verdrängt würde. Autoren wie Coleman oder Warner waren zwar von dieser Unausweichlichkeit ebenso überzeugt, entwickelten aber, um mit Fogelson zu sprechen, ein gewisses »attachment«, das neu war. Worin gründete dieses neue Interesse einiger Autoren und Künstler an der lokalen Vergangenheit, das ganz offensichtlich nicht den klassischen booster-Ansichten der Zeit entsprach? Den Anlass der Expo 1884 im Auge, zeigt Kevin Fox Gotham in seinen Forschungen zur Entstehung des Tourismus und einer Kultur der Authentizität in New Orleans auf, wie Autoren à la Coleman einen festen Kanon an Elementen New Orleanser Kultur etablierten, zu denen unter anderem auch die Romantik der Stadt und ihrer Geschichte gehörte.127 Die Erfindung von New Orleans als einzigartige Stadt bezeichnet Gotham dabei als »promotional strategy«128, die als Ausdruck des Bestrebens der New Orleans boosters zu verstehen sei, im Konkurrenzkampf der Städte ein bestimmtes Image der Crescent City erfolgreich zu vermarkten. Der Neubewertung der Lokalgeschichte kommt dabei die Rolle eines Instrumentes im Rahmen dieser Marketingstrategie zu: Auf der Suche nach Alleinstellungsmerkmalen der Stadt reaktivierte man die Vergangenheit und stützte 124 | Ebd., 58. 125 | Ebd., 5. 126 | Ebd., 59-60. 127 | Gotham, Authentic New Orleans, 56. 128 | Ebd., 59.

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sich auf literarische Zuschreibungen zu New Orleans, die das Alter der Stadt positiv bewerteten. Dies sei, so Gotham, vor dem Hintergrund des zunehmenden Tourismus nach dem Bürgerkrieg bzw. in den letzten Dekaden des 19. Jh.s zu betrachten, der durch ein erweitertes Eisenbahnnetz sowie die Erfindung der Fotografie einen Aufschwung erlebte.129 Diese Interpretation greift meines Erachtens zu kurz. Sie klärt zum einen nicht, warum man seit den 1880er Jahren auf die Idee kam, Relikte der Vergangenheit als Vorzug zu betrachten. Wieso sollte man überhaupt davon ausgehen, dass die Geschichte von New Orleans Touristen anzog? Zum anderen wird die Innenwirkung einer Beschäftigung mit der Lokalgeschichte weitgehend ausgeblendet. Weiträumigere Kontexte für die Neubewertung der Vergangenheit in den letzten Dekaden des 19. Jh.s und am Anfang des 20. Jh.s werden im Erklärungsmodell des Tourismus ebenso außer Acht gelassen wie Motivationen, die über die Außenwirkung der Stadt hinausgingen. Auch erscheint das Narrativ einer Entwicklung von einem textuell erschaffenen Bild der Stadt in den 1880er Jahren hin zu denkmalschützerischem Aktivismus in den 1920er Jahren zu linear, liefen doch beide Tendenzen seit den 1880ern parallel und hatten zudem mit starken Kontrahenten zu kämpfen. Die inneren Auseinandersetzungen um die Rolle der Vergangenheit in der Gegenwart in diesen Dekaden, die Koexistenz unterschiedlichster Haltungen zur Geschichte und der langwierige Prozess bis zur Entstehung eines offiziellen historic district geraten so ins Hintertreffen. Das Beispiel der Chamber of Commerce legt nahe, dass es keinesfalls schon in den letzten Dekaden des 19. Jh.s eine allgemein anerkannte booster-Strategie war, die verfallende Schönheit des alten New Orleans hervorzuheben. Das primäre Ziel der business community war es nicht einmal, ihre Stadt für Touristen zu vermarkten, geschweige denn mit Hilfe der Vergangenheit. Ihr Anliegen war es, Investoren, Arbeitskräfte und Handelspartner anzulocken, die sie mit der Modernität der Stadt und durch das Hervorheben ihrer exzellenten Handels- und Industriebedingungen zu überzeugen gedachten.130 Coleman richtete sich eher an Touristen, da sein Reiseführer zur Expo von 1884 erschien; er war aber nicht der typische booster seiner Zeit, wie Gotham postuliert.131 Bis in die 1920er Jahre hinein betrachtete die Mehrheit der business community Tourismus als sekundäres Ziel, was in einem Verständnis von Wohlstand und Kapitalismus gründete, der »favored production over consumption, work over leisure«132 . 129 | Ebd., 48-49. 130 | Etwa Chamber of Commerce and Industry of Louisiana (ed.), The City of New Orleans, 8. Das Buch betont die Offenheit der Stadt für alle »honest and industrious«, die die ausgezeichneten business-Chancen, die New Orleans biete, nutzen wollen. 131 | Gotham, Authentic New Orleans, 56. 132 | Stanonis, Creating the Big Easy, 29.

III. Alte Stadt

Städtische Räume, die der Freizeit und dem Konsum gewidmet waren, galten zu sehr als im unternehmerischen Sinne stagnierend und standen so dem Ideal des industriellen Fortschritts entgegen, welches mit Dynamik und Wandel verbunden war.133 Erst relativ spät sprang etwa die Association of Commerce auf den Zug des Denkmalschutzes auf; erst mit dem Boom der Autoreise und der wirtschaftlichen Krise in der Great Depression begann die business community, sich von ihrem Fokus auf Handel und Industrie abzuwenden.134 Bis zur zoning ordinance, die das French Quarter mit voller Unterstützung der business community in den 1930er Jahren als historischen Distrikt unter Schutz stellte, war es noch ein weiter Weg, der von Aushandlungsprozessen um das, was New Orleans war, geprägt war.

G L ÄNZEND WEISS Dass die Wertschätzung alter Bausubstanz selbst in den Anfangsjahren des 20. Jh.s noch keine Selbstverständlichkeit war, sondern die klassischen booster-Annahmen des unaufhaltbaren Fortschritts dominierten, zeigt zudem das Beispiel des Courthouse von New Orleans. Etwa zehn Jahre vor dem Balkonstreit von 1914 ging es einem ganzen Block des French Quarter an den Kragen. Im Sommer 1903 wurden die ersten Häuser zwischen Conti und St. Louis, Royal und Chartres Street abgerissen.135 Auch die diesen Block in zwei teilende schmale Exchange Alley fiel den Modernisierungsbestrebungen zum Opfer und wurde geschlossen (Abb. 15). Grund für den Abriss war der geplante Neubau eines Gerichtsgebäudes, das die gesamte Fläche des Blocks einnehmen sollte. Dass es für den Obersten Gerichtshof (Supreme Court) des Staates Louisiana ein neues Gebäude geben sollte, legte bereits ein Artikel in der Verfassung des Staates Louisiana von 1898 fest, der das Einzelstaatenparlament (Staatslegislatur) dazu aufforderte, entsprechende finanzielle Mittel bereitzustellen. Auch der Parish of Orleans136 fehlte ein adäquates Gerichtsgebäude in New Orleans.137 Ein Gesetz des Parlamentes von Louisiana rief daher 1902 eine courthouse commission ins Leben, die einen geeigneten Standort für das neue Gerichtsgebäude wählen und erwerben sollte.

133 | Ebd. 134 | Ebd., 30. 135 | »Real Estate Advance a Glorious Sign«, in: Daily Picayune, 1.9.1903. 136 | Die »parish« ist die Gemeinde, eine Verwaltungseinheit, die seit 1870 deckungsgleich mit der Stadt New Orleans war. Boards and Commissions: Reports Prepared for Charter Committee for the City of New Orleans (1951), 262. 137 | So Art. 88 der Verfassung von Louisiana von 1898. Ebd., 258.

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Abbildung 15: Der Block des French Quarter zwischen Conti, St. Louis, Royal und Chartres Street, der ab 1903 abgerissen wurde. Er umfasste die Exchange Alley (Block 39/40 auf dem Stadtplan; Robinson’s Atlas of New Orleans, 1883). Sowohl der Supreme Court als auch lokale Gerichtshöfe wie der Orleans Parish Civil District Court sollten darin unterkommen. Drei der fünf Mitglieder der Kommission wurden folglich durch den Bürgermeister von New Orleans, zwei durch den Gouverneur von Louisiana ernannt; der Staat Louisiana und die Stadt New Orleans sollten das Projekt gemeinschaftlich finanzieren, der Stadtrat und der Bürgermeister mussten der Wahl des Standortes zustimmen.138 Bereits Anfang 1903 fiel die Entscheidung der Kommission für den Block im French Quarter, eine Entscheidung, die mit einer city ordinance vom März 1903 rechtskräftig wurde.139 Die Stadt zeichnete in der Folge verantwortlich für den Erwerb der Grundstücke, die teilweise durch Enteignungen in ihr Eigentum übergingen, sowie für den Abriss aller Häuser.140 Nach einem Architekturwettbewerb wurde

138 | Act 79 (1902). Ebd., 258-59. 139 | Ordinance 1688 New Council Series, 17.3.1903; zur Entscheidung vgl. Courthouse Commission an Mayor and Members of the City Council, 28.2.1903, in: NOPL/CA, City Council Official Proceedings, Folder AB 300 1903/March. 140 | Vgl. etwa den Fall City of New Orleans vs. R. E. de Los Reyes et al., No. 71039 Civil District Court, der am 31.7.1903 entschieden wurde, hierzu: NOPL/CA, Court Cases, Folder CDC #71039 City of New Orleans vs R.E. de Los Reyes et al. und NOPL/CA, City Council Official Proceedings, Folder AB 300 1903/July.

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am 8. Januar 1908 der Grundstein für das neue Courthouse gelegt,141 das 1909 vollendet wurde (Abb. 16).142 Das Gebäude existiert noch heute; nach Jahren des Leerstands und Verfalls wurde es von 1992 an umfassend renoviert und beherbergt seit 2004 wieder den Louisiana Supreme Court sowie andere Justizorgane des Staates Louisiana.143

Abbildung 16: Das 1909 im Beaux-Arts-Stil vollendete Gerichtsgebäude im French Quarter. Links im Bild der Eingang Royal Street (Foto: Detroit Publishing Company, ca. 1909-1920). »The city and State have jointly just completed a magnificent marble court building, covering an entire square of ground and costing approximately a million and a half dollars«144 , pries Bürgermeister Martin Behrman 1910 das in seiner Amtszeit errichtete Bauwerk. Es ist kein Zufall, dass er dies in einer Rede anlässlich der Jahrestagung der League of American Municipalities tat, in der er zwar primär über die Problematik des Straßenpflasterns sprach, aber mindes141 | Bernard McCloskey, President Courthouse Commission, an Mayor Martin Behrman, 19.12.1907, in: NOPL/CA, Mayor Martin Behrman Records, Series I 1904-20, Box 1, Folder Corr. – Courthouse Commission. 142 | »Building Greater City on Solid Foundation«, in: Daily Picayune, 1.9.1909. 143 | »Home Court«, in: Times-Picayune, 9.5.2004. 144 | Martin Behrman, Street Paving Problem: Address by Honorable Martin Behrman, Mayor of New Orleans, 14th Annual Convention of the League of American Municipalities, St. Paul, Minnesota, August 23 to 26, 1910 (New Orleans: s.n., 1910), 9.

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tens ebenso bemüht war, ein Bild von New Orleans als fortschrittlicher Stadt im Kreise der amerikanischen Metropolen heraufzubeschwören. Wie auch die Errungenschaften im Bereich von drainage, sewerage und Clean Up diente der Neubau im French Quarter dazu, den Fortschrittsgeist von New Orleans zu dokumentieren. Die Zeitgenossen überzeugte das Gebäude vor allem durch sein Äußeres aus weißem Marmor und glasierter Terrakotta. »The marble and terra cotta construction and the splendid interior work make the building one of the finest and handsomest in the country«145, lobte die Daily Picayune. Das Architekturbüro aus Atlanta hatte für das strahlend weiße, vierstöckige Gebäude den Beaux-Arts-Stil gewählt, der als besonders repräsentativ galt. Sein Name leitet sich von der École des Beaux-Arts in Paris ab, die in der Architektenausbildung im 19. Jh. führend und besonders prestigeträchtig war. Seit der Mitte des 19. Jh.s reisten zahlreiche amerikanische Architekten nach Paris, um an der École des Beaux-Arts einen Teil ihrer Ausbildung zu absolvieren.146 Dementsprechend dominierte der Beaux-Arts-Stil das architektonische Schaffen in den USA in diesen Jahren. Bekannt für seine Beaux-Arts-Architektur war vor allem das New Yorker Architekturbüro McKim, Meade and White, das Manhattan mit einer Vielzahl an Bauwerken in diesem Stil schmückte. Aber auch in anderen Städten Nordamerikas finden sich zahlreiche Beaux-Arts-Bauten. Typisch für den Beaux-Arts-Stil ist die Symmetrie der Fassaden, die eklektische Verwendung klassischer Formen wie Säulen, Pilaster und Gebälk sowie anderer historistischer Stilelemente und die starke Plastizität der Fassadengestaltung. Diese Grundmerkmale finden sich ebenfalls im Courthouse von New Orleans (Abb. 17). Über einem ersten Geschoss, das von Marmorquadern strukturiert wird, und einem zweiten, durch ein Gesimsband abgetrennten, rustizierten Stockwerk erhebt sich eine ionische kolossale Säulen- und Pilasterordnung, die die oberen zwei Geschosse zusammenbindet. Auf der Kolossalordnung ruht ein klassisches Gebälk mit Architrav, Fries und Gesims, das von einer Balustrade gekrönt wird, die den Bau nach oben hin optisch abschließt. Die Horizontalität der zwei unteren Geschosse mit ihren rings um den Bau verlaufenden, die Fassaden gewissermaßen zusammenhaltenden Gesimsbändern verleiht der Fassade Ruhe und Gewicht. Dieser Eindruck wird durch die kraftvolle Formensprache der Quader und Rustika noch verstärkt. Die Kolossalordnung hingegen betont die Vertikalität der Fassade und führt den Blick nach oben, hin zum prunkvollen Abschluss durch das Gebälk, dessen schwere Horizontale die Vertikale abbremst, aber durch die luftige Balustrade nach oben hin aufgelockert wird. Vertikalen und Horizontalen sind so austariert, dass sich dem Betrachter ein in sich ruhendes, dennoch nicht eintöniges Bild ergibt, das in seiner Struktur durch eine innere Spannung zwischen den beiden Kraftrichtungen 145 | »Building Greater City on Solid Foundation«, in: Daily Picayune, 1.9.1909. 146 | Vgl. Wilson, City Beautiful, 59.

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gekennzeichnet ist. Die Säulenordnung und die Pilaster sind ebenso wie das Gebälk stark durchmodelliert und sehr plastisch, nicht zeichnerisch-linear: Dies ist offenbar kein Gebäude, das sich zurücknehmen möchte. Ein würdevolles, repräsentatives, reich ausgeschmücktes Bauwerk, dessen monumentale Wirkung noch durch das leuchtende Weiß der wertvollen Materialien verstärkt wird, sollte den Gerichtshöfen ein angemessenes Zuhause bieten.

Abbildung 17: Die Eingangsfassade des Courthouse auf der Royal Street (Foto: Detroit Publishing Company, ca. 1909-1920). Über eine solch allgemein repräsentative Wirkung des Bauwerks hinaus stellte die Stadt New Orleans mit der Wahl dieses Entwurfes jedoch auch einen ganz konkreten Bezug zu einem quasi magischen Datum des Urbanismus in den USA her, dem Jahr 1893. Die White City der Weltausstellung von Chicago hatte in jenem Jahr die utopische Vision einer weißen, reinen Idealstadt wahr werden

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lassen, die die Imagination der Architekten in den kommenden Jahren fesselte. Von den fundamentalen Problemen amerikanischer Großstädte unbelastet, schien die unter der Leitung von Daniel Burnham erbaute White City nicht nur ästhetisch, sondern auch gesellschaftlich dem Traum der repräsentativen, monumentalen, harmonischen und geordneten Stadt nahezukommen.147 Die Gebäude auf der Columbian Exposition waren von verschiedenen Architekten entworfen worden; bis auf das damals als absonderlich kritisierte, polychrome und zukunftsweisende Transportation Building von Louis Henry Sullivan folgten sie alle dem Beaux-Arts-Stil, und das in weiß. Die Gruppierung der wichtigsten Gebäude um einen zentralen Platz, den Court of Honor (Abb. 18), erzeugte die ersehnte Einheitlichkeit und Repräsentativität. Die Bilder der ›weißen Stadt‹, vor allem von Fotografen wie Charles Dudley Arnold und William Henry Jackson, trugen dazu bei, eine bestimmte Sichtweise auf das Phänomen Stadt zu etablieren, die vom Panorama-Blick und von »high-angle views«148 gekennzeichnet war. Ordnung und Harmonie fanden sich 1893 nicht nur in der Architektur selbst oder in ihrer urbanistischen Disposition, sondern auch in der Art und Weise ihrer visuellen Darstellung, die so Verbreitung fand.149 Gerade die Gruppierung öffentlicher Bauten in repräsentativen civic centers war in der Folge integraler Bestandteil der nordamerikanischen City Beautiful-Planungen. Theatralisch inszenierte Plätze, umrahmt von monumentalen Architekturen, sollten die Bürger einer Stadt ergreifen, moralisch erheben und mit Stolz erfüllen. Angesichts der sozial stark fragmentierten Metropolen erhofften sich die Führungseliten, dass durch das gezielte Errichten von BeauxArts-Zentren nicht nur optisch, sondern auch gesellschaftlich Einheit und Harmonie geschaffen werden konnte. Der Beaux-Arts-Stil wirkte dabei besonders repräsentativ und darüber hinaus höchst modern, weil er für eine geordnete, überschaubare Struktur stand, die dem scheinbaren Chaos der urbanen Straßen Harmonie und rational durchkalkulierte Ausgewogenheit entgegensetzte.150

147 | Vgl. ebd., 53-74; Robert W. Rydell, All the World’s a Fair: Visions of Empire at American International Expositions, 1876-1916 (Chicago: University of Chicago Press, 1984), 39-41; Trachtenberg, Incorporation of America, 212. 148 | Peter Hales, Silver Cities: Photographing American Urbanization, 1839-1939 (Albuquerque: University of New Mexico Press, 2005), 248. 149 | Zur Geschichte der Panoramafotografie von amerikanischen Städten Hales, Silver Cities, 123-78; zur Monumentalfotografie der White City ebd., 246-56. Zur gesamten Ausstellung als Ausdruck einer – wenngleich illusorischen – Vision von Einheit und Harmonie Reid Badger, The Great American Fair: The World’s Columbian Exposition and American Culture (Chicago: Nelson Hall, 1979), 125-28. 150 | Vgl. Wilson, City Beautiful, 90-94.

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Abbildung 18: Ehrenhof der Weltausstellung von Chicago, 1893 (Foto: Charles Dudley Arnold).

Die Architekten des Courthouse von New Orleans verwiesen folglich mit dem Bau eines strahlend weißen, monumentalen Beaux-Arts-Justizpalastes formal auf eben jenen Moment von 1893 in Chicago, der die geplante weiße Stadt an eine Vision gesellschaftlicher Harmonie und lokalen Stolzes band. Auch wenn es sich in New Orleans lediglich um einen Solitär handelte, und nicht gleich um ein ganzes civic center: Es schien, als realisiere sich in diesem »great modern Courthouse«151 das Ideal der Tree Association von New Orleans – »classic unity of design, with dignity and without monotony«152 – in Stein statt in Grün. Anders ausgedrückt: Der Beaux-Arts-Stil war wie die symmetrische Planung der Baumbepflanzung auch ein Teil der City Beautiful Movement und ist als Ausdruck derselben Suche nach einer würdevollen, einheitlich-harmonischen und geordneten Ästhetik des Stadtraums zu sehen, die in den Jahren um die Jahrhundertwende den Bürger der Stadt erheben, »civic pride« schaffen und so die Einheit der community garantieren sollte.

151 | »Building Greater City on Solid Foundation«, in: Daily Picayune, 1.9.1909. 152 | Parking Commission an Mayor Martin Behrman, 24.8.1909, in: NOPL/CA, Mayor Martin Behrman Records, Series I 1904-20, Box 2, Folder Corr. – Parking Commission.

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U RBAN R ENEWAL Angesichts der großen Rolle, die die anvisierte urbanistische Wirkung für die Gestaltung der einzelnen Bauwerke spielte, kommt auch dem Standort des Courthouse eine wichtige Bedeutung zu. Die ersten Häuser waren kaum abgerissen, der Architekturwettbewerb noch nicht einmal ausgeschrieben, da lobten die Zeitungen bereits den positiven Effekt, den das neue Courthouse just an diesem Ort haben sollte. »The tearing down of the two blocks between St. Louis and Conti, Chartres and Royal for the erection of the new courthouse is a great innovation in the downtown section«153, befand die Daily Picayune. Offenbar stellte der Abriss des ganzen Blocks und die Planung eines neuen Gebäudes bereits einen Fortschritt dar – unabhängig von der genauen Gestalt des neuen Bauwerks. Das lag zum einen daran, dass viele Beobachter schlicht Wandel mit Fortschritt und Modernität identifizierten. Der Abriss eines Blocks im Vieux Carré wurde von vielen Zeitgenossen als frischer Wind wahrgenommen, der durch das alte Viertel wehte. Allein die Tatsache, dass in dem vielfach mit Stagnation assoziierten Stadtteil etwas Neues errichtet werden sollte, symbolisierte den Einzug von Wandel in ein bis dahin fortschrittsfeindliches Territorium. Ein Zeitungsartikel bemerkte, dass innerhalb der Grenzen des Vieux Carré zwischen Canal Street, Esplanade Avenue, Rampart Street und dem Mississippi nie zuvor Veränderungen vorgenommen worden wären, außer wenn Brände gewütet hätten. Hartnäckig habe das Quarter den »assaults of modern progress«154 widerstanden und an den 100 Jahre alten Häusern festgehalten. Wandel, Modernisierung und Fortschritt waren hier Synonyme, denen sich das Vieux Carré, »traditionally unchangeable«155 , als Bastion des Alten stets entzogen habe. Die Modernität des Vorhabens drückte sich darüber hinaus in der schieren Größe des geplanten Courthouse aus. Ganz gleich, wie das neue Gebäude aussehen würde – es sollte den Raum ausfüllen, der vorher von 41 kleineren Häusern sowie einer Straße, der Exchange Alley, eingenommen wurde (Abb. 19). »Altogether forty-one buildings are now being torn down within the narrow boundaries of this one square – forty-one structures to make room for a single one. The proportion is significant of the change that is taking place in New Orleans«156, betonte der Zeitungsartikel weiter. Die Größenverhältnisse des Vieux Carré wurden durch dieses gigantische Projekt schlicht aus den Angeln gehoben. Anlässlich der Neueröffnung des Courthouse im Jahr 2004 stellte ein Artikel in der 153 | »Real Estate Advance a Glorious Sign«, in: Daily Picayune, 1.9.1903. 154 | »Ancient Creole Quarter Falls Before Progress«, in: Unbekannte Zeitung, 6.10. 1903, aus: The Historic New Orleans Collection/Williams Research Center [im Folgenden: HNOC/WRC], Vieux Carré Survey, Square 39 and 40. 155 | Ebd. 156 | Ebd.

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Times-Picayune treffend fest, dass die »audacious size« des Gebäudes ebenso wie seine »immodest whiteness« den »turn-of-the-century optimism and the Industrial Age ego«157 ausdrückte. Im Verhältnis zum French Quarter, das seinen alten Grundriss aus kolonialen Zeiten behalten hatte und dessen Bausubstanz primär aus der ersten Hälfte des 19. Jh.s stammte, schien ein derartig großes Projekt den unglaublichen technischen Fortschritt des neuen Jahrhunderts geradezu exemplarisch darzustellen. Man hatte große Pläne und baute monumental. Nirgends sonst als im kleinteiligen Vieux Carré konnten Fortschrittsoptimismus und Modernität in großem Stil so effektvoll in Szene gesetzt werden.

Abbildung 19: Der im French Quarter abgerissene Block mit seiner kleinteiligen Bebauung (Karte: Robinson’s Atlas of New Orleans, 1883). ›Groß‹ stand dabei nicht nur ›klein‹ gegenüber, sondern auch dem negativ konnotierten Attribut ›eng‹. Viele der abzureißenden Häuser waren klein – meist zweistöckig – und standen dicht beieinander, »crowded«158, was wiederum be157 | »Order in the courthouse…«, in: Times-Picayune, 9.5.2004. 158 | »Ancient Creole Quarter Falls Before Progress«, in: Unbekannte Zeitung, 6.10. 1903, aus: HNOC/WRC, Vieux Carré Survey, Square 39 and 40.

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deutete, dass die Straßen schmal waren und dass kaum Licht hineindrang. »A solid block of the old quarter is […] being torn out by the roots to let sunlight into dark narrow streets«159, sinnierte der Zeitungsartikel weiter. Einem Unkraut gleich sollten die alten Häuser an ihrer Wurzel ausgerissen werden. Damit erhielten Wandel, Fortschritt und Modernität ihre normative Aufladung: Zu ihnen gehörte nicht nur das Attribut ›groß‹ statt ›klein‹, sondern auch ›großzügig‹ statt ›kleinteilig‹, ›weiträumig‹ statt ›eng‹, ›hell‹ und ›lichtdurchflutet‹ statt ›dunkel‹. Der Abriss eines Teils des French Quarter wurde in jener rationalisierenden Sprache gefasst, mit der auch die drainage- und Clean Up-Projekte beschrieben wurden. Ob verstopfendes Unkraut, verdunkelnde Balkone oder enge Häuschen, sie alle schienen irrational und unüberschaubar und mussten der Möglichkeit zu Bewegung und Klarheit weichen. Es verwundert nicht, dass derselbe Zeitungsartikel sogar explizit die Brücke zu den infrastrukturellen »improvements« schlug. Während er das Vieux Carré als Ort der Stagnation charakterisierte, konstruierte er die »modern city« als sein Gegenteil, das auf der anderen Seite von Canal Street, uptown, begann und dem Traumbild der modernen Stadt entsprach: »Meanwhile the modern city, under the ›uptown‹ or American influence, has spread and scattered in every direction. Lofty buildings have been erected, modern pavements laid, streets lighted by electricity, and widened for the passage of electric cars, the modern conveniences of clear water and sewerage are being provided, parks and gardens have been laid out […].«160 Von technischem Fortschritt geprägt, luftig und licht, hatte das moderne New Orleans ein altes ›alter Ego‹ in sich, dessen Stündlein nun geschlagen hatte. Jener Diskurs, der die binäre Opposition zwischen dem Alten und dem Neuen im Stadtraum festmachte und diese normativ auflud, indem das Alte mit Stagnation, Undurchsichtigkeit und letztlich Irrationalität, das Neue mit Fortschritt, lichter Klarheit und Rationalität konnotiert wurde, war offenbar auch hier am Werk. Der Abriss eines ganzen Blocks im alten Viertel symbolisierte nichts weniger als die Speerspitze einer rationalen Modernität in hoffnungslos veraltetem Territorium, die im Verhältnis zu ihrer Umgebung noch moderner wirken musste. Das neue Courthouse hatte die Ehre, als Landmarke für einen neuen Zeitabschnitt zu dienen, als Eintrittssignal in eine neue Ära: »Meanwhile the building of the new courthouse marks the end of the old regime«161, schloss daher der oben zitierte Zeitungsartikel, ohne dies näher zu präzisieren. Dieses neue Regime der Modernität und des Fortschritts kam mit dem Courthouse höchst selbstgewiss daher, indem es traditionelle Marker von Autorität wie die kostspieligen Baumaterialien, den repräsentativen Stil und die monumentale Überdimensionierung als zentrale visuelle Ausdrücke von Au159 | Ebd. 160 | Ebd. 161 | Ebd.

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torität mit den normativen Implikationen eines Diskurses der Rationalität verband, in den der Bau eingebettet war.162 In dieser Perspektive konnte für das neue Gebäude keine andere Farbe in Frage kommen als weiß. Die erhoffte Wirkung des neuen Courthouse sollte allerdings nicht nur auf die Demonstration von Modernität beschränkt bleiben. Der Kontrast zum alten French Quarter konnte zwar das zeitgemäße Erscheinungsbild des »white elephant«163 unterstreichen und damit den Fortschrittsgeist von New Orleans versinnbildlichen, doch verbanden sich mit der Wahl des Ortes auch ganz konkrete, gesellschaftspolitische Motive. Mit Blick auf die symbolische Dimension schien der Standort manchen New Orleanians sogar alles andere als optimal: Die Architektenvereinigung etwa monierte ganz in der Tradition der White City, dass es im French Quarter keinen Raum gebe, um mehrere repräsentative öffentliche Gebäude um einen Platz herum in Szene zu setzen. In ihrer Fachzeitschrift bedauerten die Architekten, dass die einmalige Chance vertan worden sei, vier öffentliche, imposante Gebäude an einem Platz zu gruppieren. Im Vorfeld der Standortentscheidung hatten die Architekten für Lafayette Square plädiert, den Platz, der die City Hall beherbergte und an dem zu jener Zeit ein neues Postamt errichtet wurde. Warum sollten das Gerichtsgebäude und eine neue städtische Bibliothek (die für Lee Circle geplant war) nicht auch dort gebaut werden? »New Orleans has had within its grasp an exceptional opportunity for the assembling of four of its public buildings in an imposing group and it has with utter blindness thrown away the chance which may never occur again in its history«164 , lautete das harsche Urteil der Fachzeitschrift. Aus urbanistischer Perspektive, so die Architekten, sei das Courthouse im French Quarter fehl am Platz, da es dort einsam stehen und seine monumentale Wirkung verpuffen würde. Diese Fehlplanung sei auch nicht dadurch wiedergutzumachen, dass das Courthouse im Vieux Carré ein »means of ›redeeming a neighborhood‹«165 darstelle. Damit sprachen die Architekten die Motivation an, die der Wahl des Standortes für das neue Gerichtsgebäude zugrunde lag. Es ging letztlich darum, einen Slum aufzuwerten. Um die Jahrhundertwende war das Vieux Carré ein heruntergekommener Stadtteil, den viele führende New Orleanians als sozialen Brennpunkt betrachteten und der ihnen deshalb ein Dorn im Auge war. Die Häuser waren vernachlässigt, die Mieten günstig, weshalb die alte Kolonialstadt von den ärmsten New Orleanians bewohnt wurde. Das French Quarter war in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh.s eine »unpaved, unsanitary, unpainted and 162 | Vgl. Dell Upton, Architecture in the United States (Oxford: Oxford University Press, 1998), 59. 163 | »Home Court«, in: Times-Picayune, 9.5.2004. 164 | »Editorial«, in: Architecture and Its Allied Arts, 1:2 (August 1905), 9. 165 | Ebd.

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dilapidated looking section«166. Nur selten wurde der Müll von der Straße gekehrt, und vielen Häusern im French Quarter mangelte es bis weit in die 1920er Jahre an sanitären Einrichtungen. Es war gang und gäbe, dass die Einwohner Hühner, Gänse und andere Tiere in ihren Vorgärten hielten und diese gerne auch mal dort schlachteten.167 Nachts waren die Straßen nahezu menschenleer – und man empfahl Touristen, nach Einbruch der Dunkelheit das Quarter zu meiden.168 »Not only has the ›vieux carre‹ lost its business, but it has lost almost all its ancient prestige as a resident section«169 , beklagte die Journalistin Ethel Hutson 1911 die Zustände. Einst waren Straßen wie Royal Street das Zentrum des New Orleanser Geschäftslebens gewesen, doch hatte im Lauf des 19. Jh.s die große Canal Street die Straßen des French Quarter als Einkaufsmeile abgelöst. Wohlhabende New Orleanians tendierten zudem im späten 19. Jh. dazu, sich lieber etwas außerhalb des Stadtkerns, etwa in den lockerer bebauten neueren Vierteln wie dem uptown gelegenen Garden District, niederzulassen. In den letzten Dekaden des 19. Jh.s begann damit für das French Quarter ein Prozess, der in den 1910/20er Jahren seinen Höhepunkt erreichte: Das Viertel wurde zur ersten Anlaufstation für Einwanderer, die dort günstigen Wohnraum ergattern konnten und meist auch dort blieben. Irische und deutsche Einwanderung hatte das Gesicht der Stadt vor dem Bürgerkrieg geprägt, ließ aber in den Jahren nach dem Civil War deutlich nach. Wie überall in den USA kamen mit der sogenannten zweiten Immigrationswelle des späten 19. und frühen 20. Jh.s primär ost- oder südeuropäische Einwanderer. Vor allem italienische Immigranten strömten nach New Orleans, darunter eine nennenswerte Zahl aus Sizilien.170 Zwischen den 1870er und 1890er Jahren stieg die Zahl der Italiener in New Orleans auf ca. 30.000; das entsprach etwa 11 Prozent der gesamten Einwohnerschaft.171 In der ersten Hälfte des 20. Jh.s bildete die italienische community daher die größte ethnische Minderheit in der Stadt.172 Zusammen mit schwarzen New Orleanians stellten die Einwanderer den Hauptanteil der Armen von New Orleans dar, und sie 166 | »New Orleans, the Beautiful«, in: Architectural Art and Its Allies, 7:8 (Feb. 1912), 5. 167 | Stanonis, Creating the Big Easy, 146. 168 | Ebd., 147. 169 | Ethel Hutson, »Why New Orleans Moved Uptown«, in: Architectural Art and Its Allies, 6:12 (June 1911), 11-12, 23-24, hier 11. 170 | Ellis, Madame Vieux Carré, 10. Bilder zur Geschichte der italienischen community von New Orleans bei Joseph Maselli and Dominic Candeloro, Italians in New Orleans (Charleston: Arcadia, 2004); Fakten zur sizilianischen Immigration ebd., 13. 171 | Marco Rimanelli and Sheryl L. Postman, »Introduction: A Centennial Retrospective on the 1891 New Orleans Lynchings«, in: Rimanelli and Postman (eds), The 1891 New Orleans Lynchings, 1. 172 | Lewis, New Orleans, 63.

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waren es, die die Straßen mit den royalen französischen Namen bevölkerten; 80 Prozent der Einwohner des Vieux Carré stammten 1910 aus Sizilien.173 In der Wahrnehmung der Zeitgenossen schien das French Quarter sich folglich in ein Italian Quarter oder »Little Palermo« verwandelt zu haben – eine Entwicklung, die allenthalben beklagt wurde.174 Ethel Hutson, die Journalistin des Item, die als Vorkämpferin für die Sache der Balkone 1914 gesehen werden kann, monierte, dass sogar die eleganten Appartmenthäuser, die den zentralen Platz des Quarters, Jackson Square, säumten, von Italienern und Sizilianern bewohnt würden, »who hang the wrought-iron balconies with strings of macaroni paste.«175 Diese Entwicklung empfand Hutson als harschen Kontrast zu jenem pittoresken Bild des French Quarter, das so manche Literatur – man denke an Coleman oder Warner – verbreitete. Makkaroni auf schmiedeeisernen Balkonbrüstungen waren für Hutson geradezu ein Sinnbild für den Untergang des Viertels. »When visitors come to New Orleans they are invariably advised to make a tour of the ›old French quarter‹, the ›vieux carre‹, for hundred years the ›city‹ […], now, sad to say, throughout many of its streets, little better than a slum.«176 Die Grenze zwischen pittoreskem Verfall und Slum schien mit dem von italienischen Gewohnheiten geprägten Straßenbild für die Journalistin überschritten, eine Entwicklung, die sie offenkundig bedauerte. New Orleanians selbst, so Hutson, verirrten sich nur noch selten in diesen Stadtteil.177 Das French Quarter war den ›Anderen‹ überlassen. Den Konnotationen ›eng‹ und ›dunkel‹ mit dem French Quarter sowie dem Reden vom ›an den Wurzeln ausreißen‹ kommt so eine weitere Bedeutungsebene zu, die über die räumliche Dimension hinausweist. ›Enge‹, ›Dunkelheit‹ und ›Überfüllung‹, das waren Begriffe, die ebenso wie auf den physischen Raum auch auf die Menschen bezogen waren, die in diesen Räumen lebten. »The Italians have also crowded into what were the mansions of the old Creole families in the former French Quarter«178, stellte ein Gesundheitsbericht des Staates Louisiana über New Orleans im Jahr 1919 fest. Sich auf engstem Raum zu drängen schien geradezu das archetypische Verhalten des Einwanderers, das ebenso wie der aus der Überfüllung resultierende Lichtmangel mit Armut, Krankheit179, Promiskuität, Unmoral und Kriminalität assoziiert wurde. Räume 173 | Stanonis, Creating the Big Easy, 145; Maselli and Candeloro, Italians, 13. 174 | Etwa Eleanor McMain, »Behind the Yellow Fever in Little Palermo: Housing Conditions which New Orleans Should Shake Itself Free from along with the Summer’s Scourge«, in: Charities 15 (4.11.1905). Vgl. Stanonis, Creating the Big Easy, 145-46. 175 | Hutson, »Why New Orleans Moved Uptown«, 12. 176 | Ebd., 11. 177 | Ebd. 178 | Board of Health, Report of the Health and Sanitary Survey, 137. 179 | Ebd., 60.

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und Menschen wurden in dieser Perspektive zu einem Amalgam verschmolzen, das mit einem ganz spezifischen, stigmatisierenden Label versehen war.180 Die Assoziation dieser Übel mit den italienischen Einwanderern hatte in New Orleans Tradition. Die Italiener wurden klassischerweise mit Krankheiten in Verbindung gebracht, etwa im Rahmen der Gelbfieberepidemie von 1905181, oder mit korrupter Politik, etwa in der Wahl von 1896.182 Dass die ethnische Struktur des Quarters keineswegs so homogen war, wie von den Zeitgenossen wahrgenommen, ist dabei irrelevant. Die armen Bewohner des French Quarter, ganz gleich woher sie kamen, stigmatisierten in den Augen der weißen, anglophonen New Orleanians das French Quarter aufgrund von Hautfarbe, Ethnizität und sozialem Status.183 Vielleicht war es für WASP New Orleanians einfacher, sich die »motley population«184 des Vieux Carré als italienisch vorzustellen, um zumindest der Unüberschaubarkeit, wenn auch nicht der Armut, diskursiv Herr zu werden. All den Übeln des Quarters sollte jedenfalls durch den Abriss eines ganzen Blocks und den Neubau des weißen Courthouse der Garaus gemacht werden. Der Raum des French Quarter sollte rehabilitiert werden, indem der Glanz des Gerichtsgebäudes auf sein Umfeld abfärbte. Die Eigentümer angrenzender Grundstücke unterstützten das Projekt großzügig finanziell, da sie sich durch die Nachbarschaft zum schönen neuen Courthouse einen Anstieg der Immobilienwerte in der Gegend erhofften.185 Der Neubau des Courthouse stellte damit ein frühes urban renewal-Projekt dar, das in vielerlei Hinsicht von den gleichen Grundprinzipien geleitet wurde wie die amerikanischen urban renewal-Projekte nach dem Zweiten Weltkrieg. Kern des urban renewal war das Abreißen von als vernachlässigt und heruntergekommen perzipierter Bausubstanz, die durch größere, neue Bauprojekte ersetzt wurde. Der Begriff wurde in den 1950er Jahren geprägt und bezeichnet eine urbanistische Vision, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Stadtplanung in den USA dominierte. Seinen Höhepunkt erreichte das urban renewal in den frühen 1960er Jahren, es begann aber faktisch bereits Ende der 1930er, so in New York City unter der Führung des Planers Robert Moses. Mit diesen Projekten verbunden war die Hoffnung der Planer, dem Verfall der Stadtzentren in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Auszug der weißen Mittelschichten in die Suburbs Einhalt zu gebieten. Zudem sollten Bewohner der Slums durch die umfassenden Neubauprojekte auch moralisch verbessert 180 | Vgl. Stanonis, Creating the Big Easy, 146. 181 | »Magnificent Work by Clean-Up Clubs«, in: Daily Picayune, 30.7.1905. 182 | »Analysis of the city vote«, in: Times-Democrat, 24.4.1896. 183 | Stanonis, Creating the Big Easy, 146. 184 | Ebd. 185 | »Ancient Creole Quarter Falls Before Progress«, in: Unbekannte Zeitung, 6.10. 1903, aus: HNOC/WRC, Vieux Carré Survey, Square 39 and 40.

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werden – ganz in der Tradition der environmentalistischen Reformen der Progressive Era. Mit seinem zentralen Element der slum clearance berücksichtigte das urban renewal jedoch faktisch kaum das Wohl der Bewohner sogenannter Slums. Häufig wurde die alte Bausubstanz nämlich durch neue housing projects ersetzt, sozialen Wohnungsbau, der nur zur weitergehenden Stigmatisierung seiner Bewohner führte und keine nennenswerte Verbesserung der Lebensqualität nach sich zog.186 Darüber hinaus mussten die alten Stadtteile im Zuge des Federal Highway Act von 1956 oftmals Stadtautobahnen weichen187, oder groß angelegten Kulturzentren wie dem Lincoln Center in New York.188 Die Politik der mit Bulldozern herbeigeführten Tabula Rasa und die schieren, das menschliche Maß sprengenden Dimensionen dieser neuen Projekte ignorierten vollständig lokale Ortsgebundenheit, Nachbarschaften, Traditionen und kollektive Erinnerungen der Einwohner – was letztlich verdeutlicht, wie die Prioritäten gelagert waren: Es ging in erster Linie darum, die Slums entweder aufzulösen oder ihre meist schwarzen Bewohner überschaubar zu ghettoisieren, in zweiter Linie darum, Innenstadtgebiete für wohlhabendere Bürger attraktiv zu machen, und es ging kaum um die behutsame Verbesserung der Lebensumstände für bestehende communities. Daraus resultierte dann auch der massive Protest, der den urban renewal-Programmen in den späten 1960er und 70er Jahren gerade im Zuge des Civil Rights Movement entgegenschlug.189 Der Protest ging mit einem starken Ruf nach verantwortungsvollem Umgang mit historischer Bausubstanz einher. Diese abzureißen, um gesichtslose, unbewohnbare urbane Brachen oder Ghettos in den Innenstädten zu erzeugen, erschien den Aktivisten absurd. In der Folge erlebte die historic preservation in den USA eine ihrer Hochphasen.190 Dass die Aufwertung der alten Innenstadtbereiche durch 186 | Vgl. etwa Samuel Zipp, Manhattan Projects: The Rise and Fall of Urban Renewal in Cold War New York (Oxford: Oxford University Press, 2010), 253-98. 187 | Vgl. Raymond A. Mohl, »Stop the Road: Freeway Revolts in American Cities«, in: Journal of Urban History 30 (2004), 674-706. 188 | Vgl. Zipp, Manhattan Projects, 157-252. 189 | Zur Rolle des Civil Rights Movement im Protest gegen das urban renewal vgl. Mohl, »Stop the Road«, 674-75. 190 | Als Theoretikerin der Bewegung gilt Jane Jacobs, die bereits 1961 mit The Death and Life of Great American Cities (New York: Random House, 1961) das urban renewal kritisierte. Zum Ende des »urban renewal order« vgl. Christopher Klemek, The Transatlantic Collapse of Urban Renewal: Postwar Urbanism from New York to Berlin (Chicago: University of Chicago Press, 2011); europäische Perspektive bei Hans-Rudolf Meier, »Stadtentwicklung zwischen Denkmalpflege und Geschichtsfiktion«, in: Bruno Klein und Paul Sigel (Hgg), Konstruktionen urbaner Identität: Zitat und Rekonstruktion in Architektur und Städtebau der Gegenwart (Berlin: Lukas Verlag, 2006), 161-74, vgl. v.a. 161-62.

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Renovierung und Denkmalschutz zur Gentrifizierung dieser Stadtteile führte und somit für ihre vormaligen Einwohner genauso problematisch war, steht auf einem anderen Blatt.191 Das Courthouse von 1910 kann in gewissem Sinne als Lincoln Center oder als Autobahn des frühen 20. Jh.s betrachtet werden, als großspuriges, modernes Symbol technischen Fortschritts, das eine Tabula Rasa voraussetzte und so einen vollkommenen Bruch mit dem Bestehenden darstellte. Hier waren die Prinzipien jener Stadtplanung angelegt, die die Mitte des 20. Jh.s prägen sollten – wenn sie auch in den Beaux-Arts-Formen des 19. Jh.s realisiert wurden. Der Protest gegen das Courthouse hielt sich allerdings noch in Grenzen. Noch waren die Eingriffe nicht zu massiv, das städtebauliche Ideal der lichten, luftigen, weißen Stadt zu neu und Modernität verheißend, die Negativkonnotationen des Alten zu präsent, das Bedürfnis, New Orleans als neue Stadt des Neuen Südens zu profilieren, zu groß. Mit drainage und Clean Up, sewerage und Courthouse konnte, so die politischen und wirtschaftlichen Führungseliten, New Orleans aufrechten Hauptes ins neue Jahrhundert eintreten. Doch kündigten sich bereits hier zaghaft jene Stimmen an, die 1914 in den Diskussionen für den Erhalt der Balkone deutlich vernehmbar wurden und die in den 1920er Jahren lautstark die Institutionalisierung der historic preservation in New Orleans durchsetzten. Die Bewunderung der Warners und Colemans für den Charme des verfallenden Alten begann mit dem Neubau des Gerichtsgebäudes ganz leise in Trauer um diesen Verfall umzuschlagen, und damit sowohl die Unabwendbarkeit des Verfalls anzuzweifeln als auch die unhinterfragte Gleichsetzung von Wandel und Fortschritt aus den Angeln zu heben.

I KONOKL ASTISCHE I NVASIONEN Betroffen waren in erster Linie die Hauseigentümer des Blocks im French Quarter, der abgerissen werden sollte. Obwohl die Stadt ihnen eine finanzielle Entschädigung für die Enteignung anbot, zogen viele der Eigentümer vor Gericht, um die Enteignungen als verfassungswidrig zu verhindern, was ihnen nicht gelang.192 Ein Zeitungsartikel, der den Abriss des Blocks kommentierte, zeigte sich erstaunt, dass viele der Eigentümer gegen die Enteignung klagten, ob-

191 | Vgl. Loretta Lees et al., Gentrification (New York: Routledge, 2008). 192 | Vgl. City of New Orleans vs. R. E. de Los Reyes et al., No. 71039 Civil District Court, 31.7.1903, in: NOPL/CA, Court Cases, Folder CDC #71039 City of New Orleans vs R.E. de Los Reyes et al., und NOPL/CA, Council Official Proceedings, Folder AB 300 1903/July.

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wohl die Höhe der Entschädigungen den Wert der Immobilien übertraf.193 Ganz gleich ob diese Eigentümer in ihren Häusern wohnten oder sie vermieteten, sie wollten sich offenbar nur ungern von ihnen trennen. Auch für die Mieter der Wohnungen in diesem Block des French Quarter bedeutete der Abriss nichts anderes, als dass sie aus ihrem angestammten Viertel verdrängt wurden. Ein kurzer Artikel in der Daily Picayune thematisierte 1907 die emotionale Bindung der Anwohner an ihr dem Abriss preisgegebenes Wohnumfeld. Die Reflexion über das Gefühl des »displacement« erschien in Form eines Gedichts, das die Perspektive eines Betroffenen einnahm. Unter dem Titel »On the Destruction of Certain Old Buildings« drückte das Gedicht die Angst vor der Heimatlosigkeit und das Heimweh aus, die sich nach dem Abriss einstellen würden. »Oh, Neighbor mine, what shall we do, We Two, When ruthless men have thrust us out To face the world, or south or north, Or east or west – yes verily, Of homesick pangs perhaps to die! While, rising proudly in the air, A Courthouse New looms on the square Where our dear garrets once were seen. ’Tis plain, I weep. […]«194

Die Trauer um den Verlust der guten alten Dachstube (»garret«) erscheint hier als Trauer um die Heimat, als Trauer um den Ort, an dem es für den Dichter ein Zuhause gegeben hatte, dessen er durch skrupellose Männer beraubt wurde. Das neue Courthouse, das nahezu bedrohlich über dem alten Block aufragte und in Kontrast zur geliebten Dachkammer gesetzt wurde, war das visuelle Symbol für diese schmerzhafte Vertreibung. Einen ganzen Block ›an den Wurzeln auszureißen‹ bekommt hier eine weitere Bedeutung durch die Entwurzelung seiner Bewohner. Der Bruch mit dem ›old order‹ war für sie die gewaltsame Trennung von einem vertrauten Ort, der ihnen innerhalb der großen Stadt einen Platz gewährte, einem Ort, der voller persönlicher Bedeutungen, Erinnerungen und Mythen war: »Where will the ghost of Jackson hide That in my alleyway did bide? And all the shades 193 | »Ancient Creole Quarter Falls Before Progress«, in: Unbekannte Zeitung, 6.10.1903, aus: HNOC/WRC, Vieux Carré Survey, Square 39 and 40. 194 | »Irregular Epistle to a Missing Neighbor«, in: Daily Picayune, 24.3.1907.

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Of men and maids That up and down my stair did pass Alas! And where will all those echoes fly That from your windows to the sky Have sped like airy birds away By night and day? Those echoes fine of Song that blent Our listening souls in sweet content. Where will they dwell Those memories we know so well? […]« 195

Andrew Jackson hatte in der Exchange Alley, die ebenfalls den Abrissarbeiten zum Opfer fiel, gewohnt, bevor er 1815 in der Battle of New Orleans die Engländer besiegte – in jener Schlacht, die den späteren Präsidenten berühmt machte, obwohl sie bereits nach Beendigung des War of 1812 ausgetragen wurde.196 Das Gedicht verknüpfte durch den Verweis auf Jackson geschichtsträchtige, New Orleans-spezifische Mythen mit persönlichen und emotionalen Erinnerungen an ein Leben in der Exchange Alley. Was mit dem Abriss verschwand, war mehr als das physische Zuhause und die Lebensgrundlage einiger weniger New Orleanians. Der Abriss zerstörte »with stern iconoclastic spade […] the walls so precious to the heart«, wie es in der dritten Strophe hieß. Einen Teil des Vieux Carré abzureißen, das war ein ikonoklastischer Akt – damit erschien das Vieux Carré selbst als ikonischer Teil der Stadt, der mit großer Symbolkraft aufgeladen war und etwas ganz Spezifisches bedeutete. Die Ikonizität des Vieux Carré, die in der engen emotionalen Bindung seiner Einwohner an diesen Ort, aber auch in der dichten Assoziation dieses Ortes mit Mythen und Legenden von New Orleans begründet war, wurde durch den prosaischen Spaten des Fortschritts zunichte gemacht. Nicht nur Häuser mussten weichen, nicht nur Menschen, sondern auch ein sagenumwobener Ort. Die dritte Strophe des Gedichts beklagte abschließend die physische Obdachlosigkeit des Autors und seines Nachbarn, denen – so die Vision – nichts blieb als ein Leben als Pralinenverkäufer und Drehorgelspieler auf den Straßen von New Orleans. Obdachlosigkeit, Heimatlosigkeit und Verlust eines Erinnerungsortes waren die Schreckgespenster, die mit dem neuen Courthouse ins French Quarter einzogen. Alle drei gründeten in dem abrupten, sonst vielgepriesenen Bruch mit der Vergangenheit. Die »new order« hatte ihren Preis. Jenseits der persönlich Betroffenen gab es kaum Kritik an den Abrissarbeiten im French Quarter. Allerdings zeugen einige Kommentare davon, dass 195 | Ebd., 24.3.1907. 196 | »Order in the courthouse…«, in: Times-Picayune, 9.5.2004.

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sich über diesen kleinen Kreis hinaus ein Bewusstsein für den Wert des Vieux Carré als historisches ›tout ensemble‹ entwickelte, welches einen Neubau in diesem Umfeld für unpassend hielt. So bedauerten die Architekten, dass der neue Standort für das Gerichtsgebäude nicht nur deshalb einen »artistic loss« darstelle, weil man von der Gruppierung imposanter öffentlicher Bauten abgesehen habe, sondern auch, weil das »brand new building« eine Invasion des »quaint old French quarter«197 bedeute. Auch der oben zitierte Zeitungsartikel, der enthusiastisch das alte Regime der Stagnation mit dem neuen Courthouse für beendet erklärte, konnte sich der Sprache der Invasion nicht entziehen. Wie die Autoren Coleman und Warner glaubte der Autor des Artikels an die Unabwendbarkeit des Fortschritts – empfand aber auch Verlust angesichts des Abrisses: »It is, perhaps, sad to see the picturesque features disappear, but commerce is altering the great gulf port with irresistible force.«198 Diese Trauer drückte sich im Rest des – grundsätzlich fortschrittsfreudigen Textes – in Redewendungen aus, die die urbanistischen Neuerungen in militärischen Begriffen zu fassen suchten. Das alte Viertel, so die Diagnose, das lange den »assaults of modern progress« standgehalten habe, wurde nun »invaded« und »falls before progress«199 . Selbst die Courthouse Commission, die mit der Wahl des Standortes betraut war, hatte in der Ausschreibung für den Architekturwettbewerb betont, dass das neue Gebäude einen gewissen Bezug zu seiner Umgebung im »quaint old quarter« aufweisen solle. Die Architektur des neuen Courthouse sollte »seek to weave into it all the romance and poetry our interesting history and traditions have supplied.«200 Offenbar war dies eine nicht zu bewältigende Herausforderung, denn die Kommission lehnte in der ersten Wettbewerbsrunde alle 23 eingereichten Beiträge ab. Fünf von diesen wurden gebeten, an ihrem Entwurf entsprechende Änderungen vorzunehmen.201 Inwiefern der letztlich realisierte Entwurf die Romantik der New Orleanser Geschichte verarbeitete und Bezüge zu seiner Umgebung herstellte, bleibt unklar. Klar ist nur, dass es auch unter den Mitgliedern der Kommission eine gewisse Sensibilität für die Besonderheit des Quarters gab, welche in der Geschichte von New Orleans begründet lag. Das Bild des romantischen und historischen French Quarter, das Texte wie die Colemans und Warners schon seit den 1880er Jahren verbreitet hatten, war in vielen Köpfen um 1910 fest verankert – was aber noch nicht bedeutete, dass man den Stadtraum diesem Bild gemäß gestaltete und für dieses Bild Visionen der modernen Stadt über Bord warf. Über die Texte der 1880er hinausgehend 197 | »Editorial«, in: Architecture and Its Allied Arts, 1:2 (August 1905), 9. 198 | »Ancient Creole Quarter Falls Before Progress«, in: Unbekannte Zeitung, 6.10.1903, aus: HNOC/WRC, Vieux Carré Survey, Square 39 and 40. 199 | Ebd. 200 | »›City Beautiful‹ Plans«, in: Architecture and Its Allied Arts, 1:8 (Feb. 1906), 6. 201 | Architecture and Its Allied Arts, 1:7 (January 1906), 9.

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zeichnete sich allerdings schon ein weiterer Diskurs ab, auf den sich die Aktivisten der historic preservation in den darauffolgenden Jahren stützten: der ›Invasionsdiskurs‹, der einem diffusen Unbehagen mit eben diesen modernisierenden Veränderungen im French Quarter Ausdruck verlieh. Vielleicht war Wandel doch nicht immer Fortschritt, und vielleicht war Verfall nicht unabwendbar.

L ANDMARK VS . S LUM Rund zehn Jahre vor dem Neubau des Courthouse hatte es zudem schon einen erfolgreichen Fall denkmalschützerischen Engagements gegeben. Die Bedeutung der Vergangenheit von New Orleans wurde offenbar in den 1880er/90er Jahren nicht nur in Texten anerkannt und beschränkte sich auch nicht auf das Sammeln und Ausstellen von Memorabilia. Bereits 1895 verhinderte eine Gruppe von Künstlern und Kunstprofessoren um die Artists’ Association den Abriss eines Bauwerks aus der Kolonialzeit. Ihnen war zu Ohren gekommen, dass der Stadtrat plante, die Cabildo, das unter spanischer Kolonialherrschaft 1794 am späteren Jackson Square errichtete Rathaus (Abb. 20), durch ein neues Gebäude ersetzen zu lassen.

Abbildung 20: Die Cabildo, das 1794 errichtete Rathaus der spanischen Kolonialzeit am heutigen Jackson Square, ca. 1900 (Foto: Detroit Publishing Company).

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Grund für diese Pläne war nicht etwa der Verfallszustand des Bauwerks, sondern der geplante Auszug der Gerichtshöfe aus dem zu eng gewordenen Gebäude, das somit vakant wurde. Die Cabildo und ein identisches Gebäude flankierten die St. Louis Kathedrale an der Frontseite des zentralen Platzes im French Quarter, der an den Seiten von den Pontalba Buildings, in den 1840er Jahren errichteten Wohnhäusern, gerahmt wurde (Abb. 21).

Abbildung 21: Das urbanistische Ensemble des im 18. Jh. angelegten Place d’Armes/Plaza de Armas, heute Jackson Square, mit der St. Louis Cathedral, ca. 1900-1906 (Foto: Detroit Publishing Company).

Zu Kolonialzeiten war der Place d’Armes das repräsentative Zentrum der Macht202 , und selbst heute noch ist das prestigeträchtige urbanistische Ensemble eines der Aushängeschilder von New Orleans. Die ästhetische Qualität, die visuelle Einheit des Platzes und seine Funktion als Zentrum des Vieux Carré bildeten die Hauptargumente der Künstler in ihrem Protest gegen den angedachten Abriss. Ohne die Cabildo, so ihre Petition, ging die »artistic unity of the architecture of this heart and center of colonial New Orleans«203 verloren. Darüber hinaus betonten die Künstler aber auch, dass die Cabildo nicht nur aus ästhetischen, sondern auch aus historischen Gründen zu erhalten sei. Dieses Bauwerk bildete in ihren Augen räumlich und symbolisch das Herzstück des 202 | Vgl. Upton, Architecture, 59-62. 203 | »Artists Protest«, in: Daily Picayune, 8.11.1895.

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Quarters; es verkörperte jene Geschichte, auf die New Orleans so stolz war. All solche Bauten aus der Kolonialzeit sollten bewahrt werden, die »any merit of form or historical association«204 hatten. Hinter beiden Aspekten steckte das eigentliche Argument: Als ästhetisches Meisterwerk mit historischer Bedeutung habe die Cabildo edukativen Wert. »Whereas, it being a duty of this association to foster a love of the picturesque and artistic among our people, we feel it a duty to guard these precious monuments of a past which can be vividly and constantly recalled for the instruction of all«, betonten die Protestierenden.205 Zudem wiesen sie darauf hin, dass keine andere Stadt auf dem Kontinent einen intakt erhaltenen zentralen Platz aufweisen könne, der auf die Gründer der Stadt oder deren direkte Nachfolger zurückging. Es sei wichtig, diese Besonderheit zu erhalten, gerade auch, um die Stadt für künftige Bürger attraktiv zu machen. Sie schlugen daher vor, das Gebäude nicht abzureißen, sondern es zu einem Ort zu machen, an dem der Geschichte Louisianas gedacht werde, mit Museum, Galerie und Bibliothek. Für Künstler, Studenten und Touristen sei das von unschätzbarem Wert.206 Die Aufwertung der Vergangenheit hatte somit bereits in den 1890er Jahren vereinzelt praktische Folgen für den Umgang mit dem Stadtraum; die Anfänge der historic preservation waren gemacht. Die Hauptmotivation dieser frühen Denkmalschützer war zum einen der erzieherische Wert der Kolonialarchitektur. Die Vergegenwärtigung der Geschichte in künstlerisch wertvollem Erscheinungsbild schien dazu angetan, bei den Bürgern der Stadt nicht nur ein Interesse für die Lokalgeschichte zu wecken, sondern auch ihren Sinn für Ästhetik zu schärfen. Daraus sprechen die typischen environmentalistischen Glaubenssätze der Zeit, die der (gebauten) Umwelt einen determinierenden Einfluss auf menschliches Denken und Handeln zumaßen, ebenso wie das Selbstverständnis der Künstlergruppe als kultivierte Elite, die auf paternalistische Weise dem gemeinen Volk Geschmack beizubringen suchte. Die Artists’ Association war überzeugt zu wissen, was künstlerisch wertvoll sei. Wie bei Coleman, Warner und Hearn war es das Pittoreske, das aus der Geschichte übriggeblieben war. Der erzieherische Aspekt fehlte bei den genannten Autoren und ist wohl dem spezifischen Selbstverständnis der Artists’ Association zu verdanken; ansonsten aber war der Protest der Künstler von denselben Glaubenssätzen geprägt wie die Reiseführer und journalistischen Skizzen, die in diesen Jahren New Orleans in Worte zu fassen suchten. Zum anderen findet sich auch bei den Künstlern die Suche nach der Einmaligkeit von New Orleans, die dann in der Geschichte der Stadt gefunden wurde. In erster Linie spielten die gegen den Abriss der Cabildo protestierenden Künstler diese Besonderheit jedoch nicht für touristische Zwecke aus, selbst wenn Touristen am Rande als Zielgruppe erwähnt werden. 204 | Ebd. 205 | Ebd. 206 | Ebd.

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Die distinctiveness der »beautiful and loved city« sollte primär nach innen wirken, indem sie den Lokalstolz stärken und die Einwohner der Stadt bilden sollte. Die Cabildo sollte nichts weniger als die innere Einheit der community und die Identifikation der Bürger mit ihrer Stadt fördern, wobei den Kunstexperten selbst die kulturelle Führung zukam, jenen Experten, die nicht ganz uneigennützig hofften, in der Cabildo Museum, Galerie und Sammlung anzulegen. Es verwundert nicht, dass der geplante Abriss der Cabildo mehr Aufsehen und Protest erregte als der Abriss eines gesamten Blocks zehn Jahre später. Der Erhalt der Cabildo steht für die typischen Anfänge, die der Denkmalschutz in den USA im 19. Jh. nahm. Diese Anfänge waren von privaten Initiativen geprägt, die sich darauf beschränkten, gefährdete historische landmarks, also Bauwerke, die mit spezifischen, für wichtig erachteten historischen Ereignissen verbunden waren, zu schützen.207 Wer in einem Bauwerk gewohnt hatte, welche bedeutenden Ereignisse darin stattgefunden hatten, das waren die zentralen Kriterien.208 Als zweiter Aspekt trat dann der Schutz von solchen Gebäuden hinzu, deren Architektur als besonders wertvoll erachtet wurde. Meist wurden die Bauwerke als Museen genutzt.209 All dies traf für die Cabildo zu: Es handelte sich um ein koloniales Rathaus, dessen Architektur essentieller Teil einer urbanistischen Gesamtanlage war, und in das ein Museum zur Kolonialzeit einziehen sollte. Auch die Hauptmotivation der »patriotic education« – ganz gleich, ob damit lokaler, regionaler oder nationaler Stolz erzeugt werden sollte – und des Erziehens der Öffentlichkeit zur Wertschätzung des Historischen unterlag allen frühen preservation-Initiativen, was sich in der bevorzugten Nutzung als Museum niederschlug.210 Der Block zwischen Chartres und Royal, Conti und St Louis Street hingegen wurde als Slum wahrgenommen, der weder historisch bedeutsam noch besonders ästhetisch erschien – er war schlichtweg alt und verfallen. Etwas Altes zu bewahren, das keine besondere historische Assoziation bzw. keinen architektonischen Wert aufwies, wurde erst im Rahmen des Konzeptes des tout ensemble möglich. In New Orleans formierte sich das Bewusstsein für das French Quarter als historisches tout ensemble kurz nach der Zeit des Courthouse-Neubaus. Gerade der Balkonstreit von 1914 weist darauf hin, dass einige New Orleanians begannen, ein für die Stadt typisches Strukturmerkmal der alten Bausubstanz umfassend schützen zu wollen. Es ging nicht um einzelne, besonders elaborierte Exemplare oder um Balkone von berühmten Männern, sondern um die Ge207 | Vgl. Sidney R. Bland, Preserving Charleston’s Past, Shaping Its Future: The Life and Times of Susan Pringle Frost (Westport: Greenwood Press, 1999), 112-13. 208 | Hosmer, Presence of the Past, 112. 209 | Vgl. ebd., 63. 210 | Ebd., 264-66; 298. Zu den Anfängen des Denkmalschutzes in Boston in den 1860er Jahren Holleran, Boston’s ›Changeful Times‹, 84-109.

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samterscheinung des Stadtraums. Für New Orleans gilt daher das, was Sidney Bland in seiner Studie zu Charleston hervorhob. Mit einem Committee on Balconies and Old Iron Possessions, das dort 1920 gegründet wurde, wandten sich auch die preservationists in Charleston von der alten Vorgehensweise, ausschließlich historical landmarks zu schützen, ab.211 »In envisioning an entire urban landscape, architectural as well as historical, as worthy of salvage«212 betraten sie das Neuland, in das sich 1914 schon in New Orleans die Anhänger der Balkone begeben hatten. In den Lobeshymnen der Colemans und Warners auf die picturesqueness eines ganzen Stadtteils klang diese Vision bereits in den 1880ern an, und sie speiste auch den Invasionsdiskurs, den die – wenngleich noch zurückhaltenden – Kritiker des Courthouse pflegten.

N OSTALGIE Dieser Umwertung der Vergangenheit, wie sie in der Faszination mit pittoreskem Verfall, in der Bewahrung historischer landmarks und dem Konzept eines flächendeckendem Schutzes alter Bausubstanz stattfand, lag letztlich jene Erfahrung zugrunde, die im Zuge der enthusiastischen Begeisterung für Modernität und Fortschritt hochgejubelt wurde: Die des Bruchs mit der Vergangenheit. Während in den fortschrittsenthusiastischen booster-Texten der Jahrhundertwende die Vorstellung einer Zeitenwende häufig bemüht wurde, so blieb meist recht vage, wo denn nun genau eine Zäsur angesetzt wurde und über welche Bereiche des Lebens man sprach. Jenseits der allgemeinen dichotomischen Vorstellung von ›alt‹ vs. ›neu‹, die mit ›Stagnation‹ vs. ›Fortschritt‹ und ›rückständig‹ vs. ›modern‹ assoziiert und in allen Lebensbereichen durchdekliniert wurde, blieben die Konzepte des »old« and »new order« merkwürdig diffus – und damit ebenso anschlussfähig wie angsteinflößend. »Unprecedented change radically sundered the present from even the recent past in nineteenth-century Europe and North America«213, schrieb David Lowenthal in The Past is a Foreign Country. Die politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Umwälzungen vor allem der zweiten Hälfte des 19. Jh.s wurden vielfach als Bruch mit der Vergangenheit wahrgenommen. Prozesse wie die Industrialisierung und Urbanisierung mit ihren vielschichtigen Folgen für die alltägliche Lebenswelt wurden in diesen Jahren als stark beschleunigt erfahren, so beschleunigt, dass sie, obwohl sie bereits in der ersten Hälfte des 19. Jh.s ihren Ausgang genommen hatten, als radikaler Umbruch 211 | Das Komitee war Teil der 1920 gegründeten Society for the Preservation of Old Dwellings, Bland, Preserving Charleston’s Past, 111-12. 212 | Ebd., 113. 213 | Lowenthal, Past, 96.

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perzipiert wurden.214 In den USA kam noch die massive Immigration hinzu, die innerhalb weniger Jahrzehnte unzählige neue Menschen in das Land brachte. Das Leben in der Großstadt bedeutete für die meisten Amerikaner nicht nur, sich in den Arbeits- und Lebensrhythmus der Industriestadt einzupassen, sondern auch, mit kultureller und Klassenvielfalt und damit mit tiefen Brüchen, die die Gesellschaft durchzogen, konfrontiert zu werden. Der Unterschied zum Leben der Vorfahren in small-town America oder dem ländlichen Amerika Jeffersons schien für viele Menschen groß, größer als vorherige generationelle Erfahrungen von Wandel. Die Vergangenheit, so Lowenthal, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s zu einem fremden Land.215 In den Südstaaten kam nach dem Bürgerkrieg noch eine weitere Dimension hinzu. Zwar war in den Städten des Südens der Einfluss von Industrialisierung und Immigration nicht so massiv spürbar wie in den Metropolen der Ostküste oder des Mittleren Westen. Dafür war die bisherige Gesellschaftsordnung radikal auf den Kopf gestellt worden – und das nicht durch einen längerfristigen Prozess, sondern mit der Zäsur der Kriegsniederlage. Mit dem Ende des Bürgerkriegs, der Niederlage der Konföderierten und der Abschaffung der Sklaverei geriet die Welt der Südstaaten aus den Fugen. Sämtliche Koordinaten gesellschaftlichen Zusammenlebens, die nur einige Jahre zuvor noch den Rahmen des Lebens im Süden abgesteckt hatten, galten in den Rekonstruktionsjahren nicht mehr. Bisherige Normen und Werte sowie die eigenen Zuschreibungen zur Gesellschaft des Südens, die an das Selbstverständnis als Sklavenhaltergesellschaft geknüpft waren, machten schlicht keinen Sinn mehr. Das Ende des Bürgerkriegs bedeutete für den Süden das Ende eines Gesellschaftssystems, dessen Strukturen und Normen mit der Lebenswirklichkeit nach dem Krieg nichts mehr zu tun hatten.216 Um in der Metaphorik von David Lowenthal zu bleiben: Das eigene Land lag nun in der Vergangenheit, und dadurch schien es fremd in dem Sinne, dass es so grundlegend anders war als die erlebte Gegenwart. Der Bürgerkrieg, in dessen Verlauf 1862 New Orleans von Unionstruppen besetzt worden war, war für die weißen, führenden Zirkel der Crescent City eine Katastrophe, die für das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben der Stadt einen grundlegenden Umbruch darstellte. Trotz einer Rückkehr zur 214 | Michael Kammen, Mystic Chords of Memory: The Transformation of Tradition in American Culture (New York: Alfred A. Knopf, 1991), 254. Zur Beschleunigungserfahrung in Europa im frühen 20. Jh. vgl. Philipp Blom, Der taumelnde Kontinent: Europa 1900-1914 (München: Carl Hanser Verlag, 2009). 215 | Lowenthal, Past, xvii. Vgl. Joseph A. Conforti, Imagining New England: Explorations of Regional Identity from the Pilgrims to the Mid-Twentieth Century (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 2001), 209-13. 216 | Michael Kammen fasst das treffend als »crumbling of a venerated value system«, Kammen, Mystic Chords, 295.

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politischen Dominanz der weißen, rassistischen Demokraten, der sogenannten Bourbonen, in weiten Teilen des Südens im späten 19. Jh. war die Welt des Antebellum dennoch für immer verloren. Angesichts der drohenden wirtschaftlichen Konkurrenz durch neuere Städte des Südens, für die der Eintritt ins Zeitalter der Eisenbahn von Vorteil war, erschien vielen New Orleanians die Zeit vor dem Bürgerkrieg als ein Goldenes Zeitalter, in dem New Orleans noch die unangefochtene Handelskönigin und die Gesellschaftsstruktur der Stadt noch in Ordnung war. Zur Erfahrung des kompletten Umbruchs der Gesellschaftsordnung, der das eigene Land zum Fremden gemacht und die southerners in ein neues Land hineinkatapultiert hatte, gesellte sich daher in weiten Teilen der Bevölkerung des Südens die Unzufriedenheit mit der Situation nach dem Bürgerkrieg. Diese war verbunden mit der massiven Identitätskrise einer Gesellschaft, der die Grundlage ihrer eigenen Normen und Werte entzogen worden war. Aus all dem resultierte eine diffuse Sehnsucht nach jenem fremden Land, das doch eigentlich das eigene war. Diese Sehnsucht basierte auf der paradoxen Erfahrung der faktischen Fremdheit des alten Systems, und der zugleich gefühlten Nähe. Vielleicht ist es daher angebrachter, sinnbildlich von einem ›fernen Land‹ statt einem ›fremden Land‹ zu sprechen, da darin die gefühlte Nähe zumindest nicht ausgeschlossen wird. Dieses ferne Land hielt in den Jahren nach dem Bürgerkrieg Einzug in die Erinnerung, die die Antebellum-Ära zur Legende verklärte. Parallel zu Henry Gradys enthusiastischer Verkündigung eines Neuen Südens gab es in den 1890er Jahren vor allem in den Städten des Südens ein regelrechtes Confederate Revival, das das Bild des Alten Südens als Goldenes Zeitalter einer edlen Pflanzeraristokratie pflegte.217 Der Mythos der Lost Cause erlaubte es nicht nur, auf der Basis von Rassismus Norden und Süden auszusöhnen, sondern auch, Kontinuitäten zurück zu der Zeit vor dem Bruch zu konstruieren und sich der eigenen Identität als Südstaatler zu vergewissern, die gerade durch den offiziell erklärten Aufbruch in einen Neuen Süden in Frage gestellt schien. Die Erfahrung der Diskontinuität der Vergangenheit war damit die Voraussetzung für eine Sehnsucht nach dem Vergangenen, die wiederum die Basis darstellte für bewusst betriebene Erinnerungspolitik und letztlich für historic preservation. Erst als der direkte Kontakt zur Vergangenheit verloren war, erst als das Alte als etwas Fernes perzipiert wurde und einen sichtbaren Kontrast zur Gegenwart bildete, konnte seine Kontingenz erkannt, es als etwas Einmaliges wahrgenommen und zum sehnsuchtsvoll beäugten Material werden, das bewusst erinnert, bewahrt und geschützt werden musste.218 Die für die Umwertung des Vergangenen ausschlaggebende Sehnsucht beruhte daher auf einer

217 | Kammen, Mystic Chords, 112-13. 218 | Lowenthal, Past, xvii, 391. Vgl. Boyer, City of Collective Memory, 310.

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»awareness of historicity«219, auf einem grundlegend modernen Verständnis des historischen Prozesses als Prozess steter Erneuerung.220 Erst mit dem Bewusstsein historischer Kontingenzen konnte sich das melancholische Gefühl des durch Wandel erzeugten Verlustes einstellen, das als Nostalgie begriffen werden kann.221 Während die Erfahrung fundamentaler materieller Umbrüche im 19. Jh. nichts Neues war, so war es gerade ihre Kombination mit dieser neuen historischen Sensibilität, die die Nostalgie zum verbreiteten Lebensgefühl werden ließ.222 Das ursprüngliche Konzept der Nostalgie, wie es im 17. Jh. geprägt wurde, bezeichnete allerdings zunächst ein physisches Leiden, das in etwa dem entsprach, was heute unter ›Heimweh‹ gefasst wird.223 Im heutigen, seit der Mitte des 19. Jh.s verbreiteten Verständnis steht nicht mehr das physische Leiden und auch nicht mehr die Sehnsucht nach der Heimat, sondern das Sehnen nach einer vermeintlich besseren Vergangenheit im Vordergrund. Die beiden Konzepte haben jedoch einen gemeinsamen Kern, der auf die oben geschilderte Erfahrung von Ferne und gefühlter Nähe verweist: Beide bezeichnen das Sehnen nach dem (vermeintlich) Vertrauten, das in die Ferne gerückt ist, ganz gleich ob dieses Vertraute räumlich oder zeitlich entfernt liegt. Verstanden als Symptom für die Entfremdung von den eigenen Lebensbedingungen der Gegenwart und von der Vergangenheit, trägt Nostalgie dazu bei, Vergangenes zu verklären und so Identitäten zu schaffen, die durch rapiden Wandel, Brüche und Verwerfungen in Frage gestellt werden.224 »The nostalgic mood was above all an expressed desire to be connected with the past, even if fictionalized in legendary form and stylized in visual imagery.«225 Die Nostalgie erscheint dabei als eine Art sicherheits- und identitätsstiftender Anker, der Halt gibt, um Wandel zu begegnen.226 Als Mythos und Legende lebt das Vergangene weiter und seine

219 | Lowenthal, Past, 391. 220 | Peter Fritzsche, »Specters of History: On Nostalgia, Exile, and Modernity«, in: American Historical Review 106:5 (Dec. 2001), 1587-1618, hier 1589. 221 | Lowenthal, Past, 394; Kammen, Mystic Chords, 255, 295; Fritzsche, »Specters«, 1588. 222 | Fritzsche, »Specters«, 1594, lokalisiert den Beginn eines verbreiteten Bewusstseins für historische Diskontinuität im frühen 19. Jh. in Folge der Französischen Revolution mit ihren grundlegenden materiellen, aber auch ideologischen Umbrüchen. Ebd., 1594-1602. 223 | Allerdings bezeichnete die Nostalgie im 17. Jh. primär ein körperliches Leiden, das aus der Erfahrung des Exils resultierte. Lowenthal, Past, 10-11. 224 | Ebd., 13. 225 | Vgl. Boyer, City of Collective Memory, 303. 226 | Kammen, Mystic Chords, 295.

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materiellen Überreste werden als eine Art Reliquie in der historic preservation bewahrt, die die »communal identity«227 befördern soll.228 Um 1900 hielt die Nostalgie nicht nur in New Orleans Einzug. Denn auch außerhalb des Südens wurde die Erfahrung des Bruchs mit der Vergangenheit nicht mehr nur hochgejubelt. David Lowenthal bezeichnet es als europäisches und amerikanisches Phänomen, dass in dieser Zeit die Begriffe »quaint« und »old-fashioned« zu positiven Attributen wurden.229 Zu der grundlegenden Erfahrung des rapiden Wandels im 19. Jh. kam in den USA das Bewusstsein hinzu, dass Vergangenheit und Geschichte am Ende des 19. Jh.s nicht mehr, wie noch im frühen 19. Jh., mit dem ›Alten Europa‹ assoziiert werden mussten, von dem sich die jungen USA abzugrenzen hatten. Die 100-Jahr-Feier der Unabhängigkeitserklärung 1876, die mit der Philadelphia Centennial Exhibition prominent begangen wurde, verdeutlichte, dass die USA mittlerweile selbst eine Geschichte hatten.230 Allerdings löste der Rückblick auf eben diese Geschichte in den darauffolgenden Jahren durchaus ambivalente Selbstreflexionen aus. Bis zur Mitte des 19. Jh.s schien die Geschichte der USA von Fortschritt geprägt; danach, so die verbreitete Wahrnehmung, folgten allenthalben Probleme, die den Lauf des Fortschritts zu bremsen oder gar zu unterbrechen schienen. Klassenkonflikte des industriellen Zeitalters, Immigrationsströme in die neuen Großstädte, korrupte Politik, sektionale Zwistigkeiten, Bürgerkrieg und beginnendes imperialistisches Gebaren wurden in den 1880er und 1890er Jahren mit Unbehagen wahrgenommen.231 Geschichte war nicht mehr zwingend mit dem ›dekadenten Alten Europa‹ konnotiert, sondern durchaus etwas Eigenes; angesichts der jüngsten Entwicklungen schien die fernere eigene Vergangenheit zudem ein Goldenes Zeitalter. Daraus resultierte ein verklärter Rückblick auf die Revolutionszeit, auf die frühe Republik und auf die Kolonialzeit, der vom Prinzip her dem südstaatlichen Rückblick auf die Antebellum-Ära entsprach. Diese Verklärung der Vergangenheit prägte sämtliche reformerische Unterfangen der Jahrhundertwende. Letztlich waren die progressivistischen Reformen nicht nur von Fortschrittsoptimismus und Wissenschaftsglauben geleitet, sondern auch von einer Sehnsucht nach der jungen Republik der Jeffersonian Era, nach den vermeintlichen Ursprüngen des reinen Amerika, das noch nicht von inneren Krisen und Konflikten geschüttelt schien: Man orientierte sich an der imaginierten Ordnung der Vergangenheit, die reiner und harmonischer schien,

227 | Lowenthal, Past, xvii. 228 | Vgl. Boyer, City of Collective Memory, 310. 229 | Lowenthal, Past, 9. So auch Kammen, Mystic Chords, 285-86. 230 | Holleran, Boston’s ›Changeful Times‹, 49-50. 231 | Lowenthal, Past, 121.

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und so als Kontrastfolie diente, vor deren Hintergrund die Gegenwart kritisiert werden konnte.232

»O LD TR AGIC LOVELY CIT Y« Michael Kammen bezeichnet daher die Atmosphäre zwischen 1860 und 1917 als außerordentlich »conducive to the newer meaning of nostalgia«233 , im Sinne einer sich verbreitenden Sehnsucht nach einem diffus bleibenden goldenen Zeitalter, das weniger komplex und harmonischer war.234 Den frühen Denkmalschützern, so der Forschungskonsens, schienen die alten Bauwerke den Frieden und die Harmonie einer einfachen Vergangenheit zu exemplifizieren, die als wohltuender Kontrast zum kommerziellen Wahn, zu Materialismus, Utilitarismus und zu den gesellschaftlichen Konflikten der Ära des Big Business empfunden wurden.235 Dieser modernekritische Impuls der Nostalgie war in New Orleans vorhanden, jedoch nicht übermächtig. Deutlich vernehmbar etwa war er in einem Editorial des Times-Democrat, der 1885 den Abriss eines herrschaftlichen Wohnhauses aus spanischer Zeit im alten Faubourg Marigny, dem 3rd district, beklagte. Der Autor sprach von einem herrschenden »vandalic spirit«236 und bemängelte besonders, dass die Marigny Mansion ausgerechnet einer Fabrik weichen müsse. »This triumph of utilitarianism over historical sentimentalism may well evoke a sigh and regret from our old inhabitants, and from those who cherish a veneration for and indulge a pride in reminiscences of the great events and characters of our early history.«237 Die lokale Geschichte wurde hier nicht nur als bewahrenswert betrachtet, sondern als erstrebenswerter Ausgleich zu einem utilitaristischen Zeitgeist.238 Alt und neu stellten zwar eine Dichotomie dar, ihre Bewertung lag allerdings genau andersherum als bei den fortschrittseuphorischen Anhängern städtischen Wandels. Das Neue war nicht Synonym für Modernität, Fortschritt und »improvement« sondern für eine zerstörerische Einengung auf Materielles, die das Wesentliche aus dem Blick geraten ließ. Die Aufwertung der Vergangenheit war dabei letztlich eine Folge der Abwertung der Gegenwart und ihrer Schelte als utilitaristisch, materialistisch und kommerzialisiert. 232 | Ebd., 121-23. 233 | Kammen, Mystic Chords, 295. 234 | Ebd., 294; Boyer, City of Collective Memory, 387. 235 | Hosmer, Presence of the Past, 264-65. 236 | »Disappearance of an Old Memorial«, in: Times-Democrat, 15.11.1885. 237 | Ebd. 238 | Hosmer, Presence of the Past, 299.

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Auch die Schriftstellerin Elizabeth Bisland Wetmore, die mit den denkmalschützerisch gesinnten Frauen von New Orleans regen Kontakt pflegte, gab sich der Sehnsucht nach einem früheren einfacheren Leben hin und projizierte diese Sehnsucht auf die Veränderungen des Stadtraums. In einem Brief an die Journalistin des Item, Ethel Hutson, reflektierte die in Washington D.C. lebende Autorin 1919 über ihre Kindheit in New Orleans: »One remembers New Orleans as the place of ones dreams and youthful romance and from this long distance of years it seems all bathed in golden light and the smell of roses. I know it’s not like that now. You are too young to remember it as artless, and shabby and picturesque as it was in my day – when the crawfish used to climb out of the gutters, but also when on moonlit summer nights people used to wander through the streets singing to their guitars with the natural simplicity and happiness of children. Looking back now it seems as if that life must have been in some other sphere – so utterly have we passed away from its fresh and gentle primitiveness. That’s one reason I’ve always refused to combat fate when she puts obstacles in the way of my returning there. One dreads to wipe out all those youthful pictures of the dear old ruined, poverty stricken, romantic New Orleans. I love to know it’s cleaner and wealthier and healthier, but doubt if I’d love modern New Orleans as well as the old tragic lovely city of my girlhood.« 239

Bei Wetmore verband sich die nostalgische Sehnsucht nach einer vermeintlich ›primitiven‹ und daher glücklichen Vergangenheit mit dem Sehnen nach der in der Kindheit verorteten Heimat. Diese Heimat lag in großer Ferne, in einer Vergangenheit, die längst vorüber war, die Wetmore aber eng an ihre eigene Identität knüpfte: So war New Orleans »in my day«. Die Andersartigkeit dieses ihres New Orleans spiegelte sich im Stadtraum. Das New Orleans der Kindheit war schmutzig und verarmt, es war das Gegenteil des modernen New Orleans mit seinen Abwassersystemen und Clean Up-Kampagnen. Wetmore konstruierte hier die typische Dichotomie zwischen dem alten und dem neuen New Orleans, die es so gar nicht gab. Wo hörte das alte New Orleans überhaupt auf und wo fing das neue an? Die Modernisierungsprozesse waren doch genau das: Prozesse, die zudem keinesfalls linear verliefen, so dass es auch im neuen New Orleans verstopfte Rinnsteine und Epidemien gab. Der Bruch im Stadtbild fand nur in Wetmores Wahrnehmung statt, ebenso wie der vermeintliche Kontrast zwischen dem Leben im alten und neuen New Orleans – verbrachten doch die New Orleanians der Rekonstruktionszeit höchstwahrscheinlich ihre Nächte nicht nur Gitarre spielend in den Straßen, während es laue Sommernächte mit Mondschein und Musik durchaus auch im frühen 20. Jh. gab.

239 | Elizabeth Wetmore an Ethel Hutson, 29.1.1919, in: TU/LaRC, Elizabeth Bisland Wetmore Papers, Mss 547, Letters, Folder 2.

III. Alte Stadt

Wetmore stellte zwei Stadtbilder einander gegenüber und verknüpfte diese mit ihrer Wahrnehmung des jeweiligen gesellschaftlichen Miteinanders. Der Stadtraum wurde so zum Träger für Sehnsüchte nach harmonischer Gemeinschaft: In der nostalgischen Erinnerung wurde das aus verstopften Rinnsteinen kletternde Getier zum Sinnbild für von Rosenduft, Gesang und goldenem Licht durchdrungenes Glück; der vormoderne Stadtraum verkörperte die natürliche Einfachheit gemeinschaftlicher Harmonie. Der öffentliche Raum war nicht von technischen Innovationen geprägt, die dazu dienten, den Fluss von Abwasser, Menschen und Gütern möglichst effizient zu gestalten, sondern gehörte den Menschen selbst, die sich darin nicht zielorientiert bewegten, sondern singend durch die Straßen streiften. Das Mäandern war die Figur, die für die alte Aneignung des öffentlichen Raums stand; sie wurde im späten 19. Jh. durch den flow ersetzt. Die Analogie zwischen räumlichen und gesellschaftlichen Idealbildern entstammt ebenso wie die Bilder selbst einer Fantasie, denn vermutlich waren jene lauen Sommernächte nicht an das Fehlen von Abwassersystemen oder das Vorhandensein von Müll auf der Straße geknüpft. Doch kann man hier die ambivalente Wirkung der Modernisierungen greifen: Die von Wetmore rational als positiv bewerteten »improvements« bedeuteten für manche New Orleanians auf emotionaler Ebene offenbar nicht nur Fortschritt, sondern auch Verlust – bei Elizabeth Wetmore sowohl von Heimat und Identität als auch von einem vermeintlich glücklicheren Lebensstil der Vergangenheit. Indem sie beides schmerzlich vermisste, vereinte die Schriftstellerin in ihrem Sehnen beide Definitionen von Nostalgie. Die spezifisch modernekritische Ausformung der Nostalgie im Sinne von Sehnsucht nach einer harmonischeren Vergangenheit dominierte jedoch nicht die Denkmalschutz-Szene in New Orleans. Bei den New Orleanser Protesten gegen den Abriss der Cabildo 1895 stand der edukative Wert eines historisch und architektonisch herausragenden Bauwerks sowie die ästhetische Einmaligkeit eines urbanistischen Ensembles im Vordergrund. Im Balkonstreit von 1914 argumentierten die Anhänger der Balkone mit deren klimatischer Funktionalität, ihrem pittoresken Aussehen und dem aus beidem resultierenden Beitrag zur Individualität der Stadt. Die Balkone wurden nicht als Verkörperungen eines besseren Zeitalters gegen die Gegenwart ausgespielt, sondern standen eher für das Lokaltypische und das Südliche, in Abgrenzung zum Nördlichen oder all-American. Man störte sich in erster Linie nicht an der Modernität der geplanten Markisen, sondern daran, dass diese nicht einer genuin New Orleanser Formensprache entstammten. Nostalgie richtete sich in New Orleans weniger auf ein harmonisches, ›primitives‹ Goldenes Zeitalter, als auf ein süd(staat)liches Zeitalter. Kritik am Materialismus des Fin-de-siècle, am Utilitarismus und an der Konzentration aufs business schwang insofern mit, als man diese Eigenschaften mit anderen Regionen der USA identifizierte. Es scheint aber, als sei die Betonung des Eigenen wichtiger gewesen als die Betonung des Einfachen,

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Harmonischen. Im nostalgischen Rückblick suchte man das Eigene in der Vergangenheit. Die vorsichtig anklingende Fortschrittskritik hinterfragte die Gleichsetzung von Fortschritt mit der Zerstörung des Althergebrachten, verband dies aber weniger mit allgemeiner Materialismuskritik als mit der Kritik an dem frevelhaften Streben, so zu sein wie alle anderen modernen Städte. Kritik von Moderne und Fortschritt stand für die Balkonanhänger nur dann im Zentrum, wenn diese drohten, spezifische New Orleaneske Formen auszuradieren. Man könnte sagen, dass lokale Identitätspolitik für die frühen preservationists wichtiger war als Modernekritik. Ganz in diesem Sinne unterschied während des Balkonstreits das oben angeführte Editorial im Item zwischen ›äußerlich modern scheinen‹ und ›modern sein‹.240 Das äußere moderne Erscheinungsbild von Dallas und Oklahoma nachzuahmen war für die preservationists eine grundlegende Bedrohung der Identität von New Orleans. Das bedeutete aber nicht, dass sie modernekritisch waren – sie waren es nur dann, wenn durch vermeintliche Modernisierungsprozesse die lokale Identität in Frage gestellt wurde.

»C ARELESS CIT Y« Auch die sich aus dem Balkonstreit heraus formierenden denkmalschützerischen Initiativen waren nicht in erster Linie von fortschrittsfeindlichen Ressentiments geleitet. Der Balkonstreit stellte nicht nur einen Meilenstein in der Geschichte der historic preservation in New Orleans dar, weil die Aufwertung des Alten erstmals auf ein tout ensemble angewendet wurde. Er war auch organisationsgeschichtlich zentral, da er Energien bündelte und Synergieeffekte schuf. Die anlässlich des Balkonstreits formierten Allianzen unterschiedlichster Gruppierungen, wie etwa von Frauenclubs, patriotischen Vereinen und der Architektenvereinigung, setzten in den Folgejahren ihre Zusammenarbeit fort. Im März 1916 taten sich das Special Committee on New Orleans Balconies der Louisiana Federation of Women’s Clubs und das New Orleanser Committee on Conservation of Historic Monuments des American Institute of Architects (AIA) zusammen und bildeten das Committee on Conservation of St. Louis Hotel.241 Ziel dieses Komitees war es, das alte St. Louis Hotel im French Quarter vor dem Abriss zu bewahren. In der St. Louis Street zwischen Royal und Chartres Street gelegen, direkt gegenüber des neuen Courthouse, war das Hotel 1838 eröffnet worden (Abb. 22).242 240 | »A definition and an endorsement«, in: Item, 8.5.1914. 241 | »Report of committee on conservation of St. Louis Hotel«, 25.10.1916, in: TU/ LaRC, Ethel Hutson Papers, Mss 14, Box 7, Folder 14-7-4. 242 | Vgl. HNOC/WRC, Vieux Carré Survey, Square 41 (Royal, Chartres, St. Louis, Toulouse streets).

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Abbildung 22: Das alte St. Louis Hotel in der St. Louis Street, das Ende des 19. Jh.s unter dem Namen ›Hotel Royal‹ neu eröffnet wurde, ca. 1906 (Foto: Detroit Publishing Company). Es hatte eine wechselhafte Geschichte hinter sich. Als Luxushotel gebaut, galt es in der Antebellum-Ära als das Zentrum vor allem des kreolischen gesellschaftlichen Lebens in der Stadt. Seine überkuppelte Eingangshalle diente zugleich als Ort für Sklavenauktionen. Während des Bürgerkriegs wurde es in ein Lazarett für verwundete konföderierte Soldaten umgewandelt, und von 1874 bis 1882 beherbergte es das Staatskapitol, bevor Baton Rouge Hauptstadt von Louisiana wurde. Anschließend wurde es umgebaut und als Hotel Royal neu eröffnet, bevor es 1915 durch einen Hurrikan großen Schaden nahm.243 Dieser Schaden bildete den Anlass für die Abrisspläne. Da der Public Health Service das Hotel zudem als Hort von Ratten identifiziert hatte, schien den Besitzern ein Abriss die kostengünstigste Lösung.244 Besonders die überkuppelte Eingangshalle hatte es jedoch den Gegnern des Abrisses angetan. Ihr Plan war es, zumindest diese zu bewahren und sie in einen Neubau zu integrieren, der einen öffentlichen Zweck erfüllen sollte, etwa den eines Convention Center oder Museums.245 Um die New Orleanians auf das St. Louis Hotel aufmerksam zu machen, finanzierte das Committee on 243 | »The many sides of the St. Louis Hotel«, in: Times-Picayune, 5.4.1984. 244 | »Report of committee on conservation of old St. Louis Hotel«, 25.10.1916, in: TU/LaRC, Ethel Hutson Papers, Mss 14, Box 7, Folder 14-7-4. 245 | »Visitors thronging old St. Louis hotel«, in: Item, 3.3.1916; »Would save part of old St. Louis hotel«, in: Item, 27.2.1916.

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Conservation of St. Louis Hotel in den letzten Tagen vor dem Abriss die Öffnung des Hotels für die Öffentlichkeit sowie Führungen durch das Hotel. Die Mitglieder der »historic or patriotic societies«246 von New Orleans wurden durch die engagierten Frauen und Architekten aufgerufen, das Hotel zu besuchen und so ein Zeichen für den Erhalt der Kuppel zu setzen. Der Aufruf richtete sich in erster Linie an Mitglieder der Louisiana Historical Society, der Colonial Dames, der Sons and Daughters of the American Revolution, der US Daughters of 1776-1812, der Ladies’ Confederate Memorial Association sowie der United Daughters of the Confederacy.247 All diese Gruppierungen waren in den Dekaden nach dem Bürgerkrieg ins Leben gerufen worden und damit befasst, historische Erinnerung zu pflegen und diese zum lokalpatriotischen Unterfangen zu stilisieren.248 Da sie selbst im Zuge der nostalgischen Wende in diesen Jahren entstanden waren, schienen sie das ideale Publikum, um die Sache der preservationists zu unterstützen – ganz gleich, um welche Vergangenheit es beim St. Louis Hotel genau ging. Vor allem die örtliche Abteilung der United Daughters of the Confederacy zeigte großes Interesse an dem Hotel aufgrund seiner Bürgerkriegsgeschichte.249 Die Öffentlichkeit wurde aufgerufen, die einmalige Kuppel zu besichtigen und für ihren Erhalt zu spenden. Da der Abriss des Hotels an manchen Stellen schon begonnen hatte, bot das Committee on Conservation Fragmente der Architektur als Souvenir zum Kauf an.250 Letztlich scheiterte das Projekt an mangelnden Geldern, und das Hotel wurde samt Kuppel abgerissen. Bis 1960 diente das Grundstück als Parkplatz.251 Mit Entsetzen wurde der Abriss des St. Louis Hotels insbesondere außerhalb von New Orleans wahrgenommen. Es ist bemerkenswert, dass sich jene modernekritischen, an die Verklärung eines Goldenen Zeitalters gebundenen Ressentiments verstärkt in der Außenperspektive statt in der Innenperspektive finden. Charles H. Whitaker, Herausgeber des Journal of the American Institute of Architects und späterer Mitbegründer der Regional Planning Association of 246 | »Old hotel is open last time sunday«, in: Item, 12.3.1916. 247 | Ebd. 248 | Zur Rolle weißer Frauen in der Erinnerungspolitik des Neuen Südens W. Fitzhugh Brundage, »White Women and the Politics of Historical Memory in the New South, 18801920«, in: Jane Dailey et al. (eds), Jumpin’ Jim Crow: Southern Politics from Civil War to Civil Rights (Princeton: Princeton University Press, 2000), 115-39 und Caroline E. Janney, Burying the Dead but not the Past: Ladies’ Memorial Associations and the Lost Cause (Chapel Hill: University of North Carolina Press, 2008), v.a. 133-65. Zu den auch heute noch existierenden United Daughters of the Confederacy und anderen Gedenkorganisationen vgl. Cox, Dixie’s Daughters und Janney, Burying the Dead, 167-94. 249 | »Visitors thronging old St. Louis hotel«, in: Item, 3.3.1916. 250 | Ebd. 251 | »Royal Orleans Will Add St. Louis Hotel Roofline«, in: Times-Picayune, 21.4.1963.

III. Alte Stadt

America252 , kritisierte den Abriss des St. Louis Hotels im Journal des AIA heftig. Der Item, dessen Lokalreporterin Ethel Hutson eine zentrale Figur des Committee on Conservation war, druckte Whitakers Artikel ab. Dieser liest sich wie ein Manifest der Fortschrittskritik: »As you pass the spot where the old hotel once stood you cry out with an imprecation upon the vulgar progress which could destroy so precious and irreplaceable a fabric. And unconsciously you become aware of the inexpressible ugliness of the great white building which now seems to look down with a laughing mockery at the gastly remnant of brick and plaster. That modern monstrosity was the building which should have been leveled. Now it stands but only as a reproach to a careless city.« 253

In einem Rundumschlag verknüpfte Whitaker den Neubau des Courthouse mit dem Abriss des St. Louis Hotel zu einer einzigen städtebaulichen Katastrophe. Der Bruch zwischen alt und neu verlief räumlich im Vieux Carré, entlang der St. Louis Street, und in den Augen Whitakers war die falsche Seite zerstört worden: Die wertvolle, schöne Seite der Vergangenheit, und nicht die dem vulgären Fortschritt geschuldete, hässliche weiße Gegenwart. Die Vulgarität des Fortschritts war ein typisches Argument gegen die materialistische Seite der Moderne, das z.B. auch im Kampf gegen die billboards eingesetzt wurde. Es suggerierte einen Kontrast zwischen einer geschmacklosen, unkultivierten, den höheren Weihen der Ästhetik unzugänglichen und damit wertfreien Moderne und einer geschmackvollen, kultivierten und schönen Vergangenheit, in der noch Wertarbeit geschaffen wurde. Vor allem aber suggerierte es einen Kontrast zwischen denen, die der Vulgarität widerstanden, und denen, die dies nicht vermochten. Whitaker nutzte die Gelegenheit, um sich selbst zum Experten in Fragen des Geschmacks zu stilisieren und mit dem erhobenen Zeigefinger des kultivierten Kenners der Stadt New Orleans Achtlosigkeit vorzuwerfen – eine ähnliche Selbststilisierung, wie sie die Clean Up-Protagonisten mit ihrem Zetern über billboards praktizierten. Die kultivierte Elite stand den ahnungslosen Massen gegenüber, die den vulgären Reizen der Moderne erlegen waren. Es sei nur am Rande bemerkt, dass die von Whitaker als »careless« abgewerteten Befürworter des ›vulgären‹ Courthouse zum Kreise derer gehörten, die mit derselben Rhetorik zur selben Zeit gegen die Werbeschilder zu Felde zogen, Mitglieder des Stadtrats, Bürgermeister Behrman und Angehörige der business community, was den konstruierten Charakter dieser Dichotomie unterstreicht. Auch andere Amerikaner kommentierten den Abriss des St. Louis Hotel, der in der Presse über New Orleans hinaus Thema war. Charles Hooper aus 252 | Vgl. Edward K. Spann, Designing Modern America: The Regional Planning Association of America and Its Members (Columbus: Ohio State University Press, 1996). 253 | »Save the French Quarter«, in: Item, 30.3.1917.

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Seattle etwa hatte davon in der Seattle Times und im New York Periodical gelesen und beschwerte sich bei der Times-Picayune. »It would be a crying shame and disgrace if America should permit one of the very greatest of its historical monuments to pass away. I have traveled considerably in our country, but I have not yet seen a building that awakened such strong and wonderful feelings in my breast as this old hotel of ante-bellum days, the hotel that entertained royalty, that was the home of the aristocracy and of the unique civilization of the old South, the hotel that served as a mart for the terrible and yet fascinating traffic in negro slaves. To roam through its endless corridors and rooms, and up and down its winding staircases is to be transported back to other days, the days of chivalry and romance.« 254

Das St. Louis Hotel versinnbildlichte für Hooper ein anderes Zeitalter, die Antebellum-Ära, die als Zeit der »chivalry« und »romance« zum Objekt nostalgischer Verklärung wurde. Selbst der Sklavenhandel erschien im goldenen Licht der Nostalgie als ein faszinierender Bestandteil einer vergangenen Zivilisation, die von Aristokratie geprägt war. Der Besuch des Hotels kam einer Reise in diese goldene Vergangenheit gleich; diese auszulöschen wäre eine Schande für Amerika. Wie Whitaker stilisierte sich Hooper damit zum Moralapostel, der wusste, was eine Schande war und was nicht. Während Whitaker jedoch in erster Linie die ›Vulgarität‹ der Moderne ins Visier nahm und sich – als Architekt – zum Kenner des Ästhetischen erhob, schwelgte Hooper in der Verklärung einer vergangenen Gesellschaftsordnung. Die Antebellum-Ära erscheint hier tatsächlich wie ein fremdes Land, ein fremdes Land voll tugendhafter Aristokraten, romantischer Faszination und einer einmaligen Zivilisation. Hooper wohnte in Seattle; es ist unklar, ob er aus New Orleans stammte und ob sich hier wie bei Elizabeth Bisland Wetmore die Nostalgie der Heimat mit der Nostalgie der Vergangenheit und einer Kritik der Gegenwart verband. Es scheint wahrscheinlicher, dass er nicht aus New Orleans stammte, da seine Nostalgie sich doch von der Wetmores unterscheidet. Während Wetmore die Innenperspektive der Stadt einnahm und auf das frühere, glücklichere Leben dort zurückschaute, schwelgte Hooper in allgemeinen Bildern des Alten Südens, ohne auf New Orleans spezifisch einzugehen; er nahm so eher eine Außenperspektive ein. Während Wetmore nicht nach New Orleans zurückkehren wollte, um das Bild der goldenen Vergangenheit nicht zu zerstören, wollte Hooper gerade dorthin reisen, um dieses Bild zu erfahren; diese Faszination spricht auch für die Außenperspektive. Der Aspekt des Verlustes von Heimat fehlte in Hoopers nostalgischem Rückblick auf den Alten Süden. Vielleicht illustriert das den oben angedeuteten Unterschied zwischen der Vergangenheit als fremdem Land, das einst das Eigene war – die Nostalgie der in der Vergangenheit ange254 | »Makes belated plea«, Letter to the editor, in: Times-Picayune, 2.12.1916.

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siedelten Heimat – und der Vergangenheit als fremdem Land, das als Fluchtpunkt aus der Gegenwart diente – die Nostalgie der Vergangenheit tout court. Beide Formen von Nostalgie zeigen, dass das Bild der Stadt um 1900 nicht nur durch die Innen-, sondern auch die Außenperspektive geformt wurde; gerade der Blick von außen auf die Stadt war stärker noch als die Innenperspektive von einer nostalgischen Vision geprägt, die nicht primär darauf abzielte, die Individualität von New Orleans hervorzuheben, sondern in der New Orleans als Kontrapunkt zur amerikanischen Moderne eingesetzt wurde. Die Stadt am Mississippi stand gewissermaßen exemplarisch für eine bessere Vergangenheit, aber auch für die Schrecken der Gegenwart, die dieser Vergangenheit den Garaus zu machen drohten. Das moderne New Orleans war in dieser Außenperspektive das Schlechte, während das alte New Orleans das Gute war.

I M N AMEN DER V ORFAHREN Im Selbstverständnis des Committee on Conservation of St. Louis Hotel war der Abriss des St. Louis Hotel zwar ein Schlag ins Gesicht, aber keine Katastrophe. Sie betrachteten ihr Engagement für das Hotel als Fanfarenstoß für den systematischen Schutz alter Bauwerke. Dabei verstanden sie sich als Kern einer Bewegung, die nach dem Vorbild europäischer und amerikanischer Städte wie Boston, Philadelphia und New York historische Bauten aufkaufte und schützte. Dort, so verkündete das Committee, würden koloniale und andere historische Bauten aus historischen und architektonischen Gründen geschätzt.255 Auch das Scheitern im Fall des St. Louis Hotel tat dem Selbstverständnis als Initialzündung einer Bewegung keinen Abbruch. »The dome is almost entirely destroyed, and all our efforts have failed. We feel, however, that they will not have been entirely vain if they result in a movement to preserve our historic buildings and our characteristic architectural forms. In beautifying the city as we all dream of doing, and making it cleaner, more healthful, and more convenient to live, let us not destroy the fine old buildings our ancestors built nor discard native architectural forms for the newer designs devised in Northern and Western localities, without making an effort to adapt the old forms to modern uses.« 256

In ihrer Erklärung zum Abriss des St. Louis Hotel unterschrieben die Mitglieder des Conservation Committee die wesentlichen Grundsätze der Modernisierungsinitiativen, denen New Orleans in diesen Jahren unterlag. Die Frauen der 255 | »Would save part of old St. Louis hotel«, in: Item, 27.2.1916. 256 | »Report of committee on conservation of old St. Louis Hotel«, 25.10.1916, in: TU/LaRC, Ethel Hutson Papers, Mss 14, Box 7, Folder 14-7-4.

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Women’s Clubs, die Architekten des Louisiana Chapter des AIA, sie alle waren Teil der Clean Up-Koalition. Sie alle strebten nach der City Beautiful, von der sie sich ein sauberes, gesundes und bequemes – also funktionales – Lebensumfeld erhofften. Nur schien es ihnen unangemessen, dazu die baulichen Relikte der Vergangenheit abzureißen. Diese sollten stattdessen den modernen Bedürfnissen angepasst werden. Die Schlüsselwörter für die örtlichen Anhänger des St. Louis Hotel waren »native«, »characteristic« und »ancestors«. Getrieben wurden die preservationists offenbar von einer Nostalgie stadträumlicher Formen, die sie auf ihre Vorfahren und eine lokale Tradition zurückführten. Den Frauen und Architekten von New Orleans, die sich für das St. Louis Hotel engagierten, ging es ähnlich wie dem Architekten Charles Whitaker um die Bewahrung qualitativ wertvoller Bauwerke aus alten Zeiten. Dennoch war ihr Engagement in einen anderen Diskurs eingebettet. Während bei Whitaker der Gegensatz zwischen vulgärem Fortschritt und »wealth of craftsmanship in wood and iron«257 die Grundstruktur des Arguments bildete, war es bei den New Orleanians der Kontrast von »native« und »Northern and Western«. ›Alt‹ und ›neu‹ war für sie gleichbedeutend mit ›eigenen‹ und ›fremden‹ Formen, während der Gegensatz für Whitaker in ›wertvollen‹ vs. ›vulgären‹ Formen bestand. Dieser modernekritische Impuls findet sich bei den örtlichen Kämpfern für das St. Louis Hotel nicht. Zudem blieb ihre Kritik primär auf stadträumlicher Ebene, da sie sich nicht in Tiraden über den allgemeinen utilitaristischen und vulgären Geist des Fortschritts ausließen. Bei ihnen war keine Rede vom aristokratischen, romantischen Alten Süden, vom ursprünglichen, glücklichen Leben im Mondschein und von der vulgären Gegenwart, wie bei Hooper, Wetmore und Whitaker. Sie kritisierten die Moderne nur insofern, als durch sie das Eigene verloren zu gehen drohte, und sie konzentrierten ihre Kritik auf das Erscheinungsbild des Stadtraums. Warum sollte ein altes Hotel aus Antebellumzeiten nicht als modernes Kongressgebäude dienen? Ihre Haltung mag der simplen Tatsache geschuldet sein, dass sie es waren, die vor Ort den Erhalt des Hotels politisch durchzusetzen hofften, was mit einer grundsätzlich fortschritts- und gesellschaftskritischen Larmoyanz à la Whitaker kaum möglich gewesen wäre. Insofern waren die Mitglieder des Committee on Conservation vielleicht einfach ›Realpolitiker‹. Ihre Einstellung lässt aber auch Rückschlüsse sowohl auf eine differenziertere Haltung zur Moderne als auch auf ihre Prioritäten zu. Denn im Festhalten an den Formen, die von den Vorfahren geschaffen worden waren, an den einheimischen Formen also, klang jene Version der Nostalgie an, die sich bei der Schriftstellerin Elizabeth Wetmore fand. Aus dem sehnsuchtsvollen Festhalten an den Bauten der Vorfahren kann auch hier auf ein Gefühl des Verlustes geschlossen werden, das sich auf 257 | »Save the French Quarter«, in: Item, 30.3.1917.

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den heimischen Ort bezog. Letztlich ähnelt die Sehnsucht der preservationists nach den Bauwerken ihrer Vorfahren Wetmores Sehnsucht nach der Stadt der Kindheit. Obwohl sie anders als Wetmore noch in New Orleans lebten, hatten sie offenbar das Gefühl eines Verlustes des Zuhause dadurch, dass sich das Gesicht der Stadt um sie herum massiv geändert hatte. Wo war das typische New Orleans geblieben? Der gefühlte Verlust der eigenen Heimat kam wiederum einem Identitätsverlust gleich – und insofern gingen ihre Ambitionen ebenfalls über die Oberfläche des Stadtraums hinaus. Wenn New Orleans den anderen Städten immer ähnlicher wurde, was zeichnete dann den New Orleanian aus? Vielleicht mochte Elizabeth Wetmore auch deshalb nicht nach New Orleans zurückkehren, weil sie befürchtete, dort demselben Verlust von Identität ausgesetzt zu sein, wenn ihre Kindheitsbilder vor der modernen Realität verblassten. Die preservationists aber wohnten in New Orleans, weshalb sie sich anders als Wetmore nicht auf die passive Ferndiagnose beschränken konnten und sich nicht am Traum der in goldenes Licht getauchten Stadt ihrer Kindheit berauschen mochten, sondern zur Aktion aufriefen. Ihr massives Identitätsbedürfnis versuchten sie zu befriedigen, indem sie sich daran machten, die Kluft zur Vergangenheit durch die Bewahrung der alten Architekturen zu überbrücken.258

Abbildung 23: Das 1859 eröffnete French Opera House an der Ecke Bourbon/ Tolouse Street, im French Quarter, Zentrum des gesellschaftlichen Lebens von New Orleans in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s, ca. 1910 (Foto: Detroit Publishing Company). 258 | Vgl. Boyer, City of Collective Memory, 309.

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Als 1919 das berühmte French Opera House im Vieux Carré abbrannte, wiederholten sich die Muster von 1916. Das an der Ecke Bourbon/Toulouse Street im French Quarter lokalisierte Opernhaus (Abb. 23) sollte nicht wieder aufgebaut werden, was zu einem Aufschrei in der sich formierenden preservation community führte – vergeblich, denn die Überreste des Opera House wurden 1928 endgültig abgerissen.259 Ganz wie das St. Louis Hotel stand das French Opera House für die in der Kolonialzeit entstandene kreolische Kultur, die in der Antebellumzeit eine späte Blüte erfahren hatte. Mehr noch als alle anderen Bauwerke des Quarters symbolisierte es die Kultur, die die weißen Gründer der Stadt nach New Orleans gebracht hatten, auch wenn es selbst erst 1859 gebaut worden war. Opern waren in New Orleans schon seit den 1790er Jahren regelmäßig aufgeführt worden, und das Opernhaus galt als Zentrum des kreolischen kulturellen Lebens der Stadt.260 An jene kultivierten Vorfahren wollten die preservationists anknüpfen. Elizebeth Werlein, dominierende Figur der örtlichen Denkmalschutz-Szene in den 1920er und 1930er Jahren, beklagte den Verlust des Opera House und anderer Bauwerke im French Quarter als Verlust eines heiligen Bezirkes, der das Gedächtnis an die Vorfahren wachhielt. In ihrem in den 1920er Jahren erschienenen Katalog zu den schmiedeeisernen Balkonen von New Orleans betonte sie, dass gerade die Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart im Vieux Carré erfahrbar sei.261 Auch Werlein ging es folglich um ein Gefühl der Verwurzelung in New Orleans. Die Konfiguration, dass verschiedene Bürgergruppen lokale oder regionale Identitäten im nostalgischen Rückblick suchten und sich ihrer eigenen Herkunft zu vergewissern bemühten, war um 1900 nicht auf New Orleans beschränkt, sondern griff in den gesamten USA epidemisch um sich. Das Committee on Conservation of St. Louis Hotel und die Aussagen Werleins sind daher in einem nationalen Kontext zu betrachten. Besonders das sogenannte Colonial Revival weist Analogien zu den Anfängen der historic preservation in New Orleans auf. Das Colonial Revival, das sich schon in den 1870er Jahren in den USA ankündigte, war von der Sehnsucht nach einer ganz spezifischen Vergangenheit angetrieben, der Kolonialzeit. Dies äußerte sich nicht nur in verstärkten Bemühungen, koloniale Architektur zu bewahren, sondern prägte auch den Baustil der Zeit. Fotografien wie die von Wallace Nutting popularisierten die Kolonialarchitektur und koloniale Interieurs.262 Dass ›kolonial‹ dabei ein sehr elasti259 | Raffray, »Origins«, 293-94. 260 | Stanonis, Creating the Big Easy, 144; Ellis, Madame Vieux Carré, 8. 261 | Stanonis, Creating the Big Easy, 149. 262 | Kammen, Mystic Chords, 152. Vgl. William H. Truettner and Thomas A. Denenberg, »The Discreet Charm of the Colonial,« in William H. Truettner and Roger Stein (eds),

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scher Begriff war, unter den alle möglichen architektonischen Stile fielen, weist auf den imaginären Charakter der Kolonialzeit des Colonial Revival hin.263 Es scheint paradox, dass gerade die Kolonialzeit sich in den 1880er/90er Jahren außergewöhnlicher Beliebtheit erfreute, stand sie doch eigentlich für all das, von dem man sich 1776 befreit hatte. Ihre Verehrung schien der Verklärung der Frühen Republik geradezu zuwiderzulaufen. Die Fantasien über die koloniale Vergangenheit boten jedoch eine perfekte Ausflucht aus der als krisengeschüttelt perzipierten Gegenwart, da sie, so die These von David Lowenthal, das Bild eines »exclusive WASP heritage« transportierten.264 In den Neuenglandstaaten etwa wurde nach dem Bürgerkrieg vielfach der Verlust des »Old New England« beklagt. Dieses stand für eine »stable, communal, small-town Yankee world«265, die sozial homogen und von der industriellen Ordnung unberührt war.266 Hier lag die Wiege der amerikanischen Kultur; hier hatten die tapferen Pioniere, die den Kontinent eroberten und dabei jede Schwierigkeit meisterten, ihre Heimat.267 Das Bild des sozial homogenen »Old New England« war allerdings nicht nur ein idealisiertes Gegenbild zur Gegenwart, sondern widersprach auch der tatsächlichen sozialen Heterogenität der Kolonialzeit.268 »Old New England« war somit weniger Region als erfundenes kulturelles Refugium, das dazu beitragen sollte, das neue New England gegen die aufstrebenden Gebiete des Mittleren Westens zu behaupten, die den Neuenglandstaaten den Rang als Herz Amerikas abzulaufen drohten.269 Als Teil einer imaginären Geographie der Vergangenheit beherrschte »Old New England« die regionalen Identitätsfindungen im späten 19. und frühen 20. Jh.270 Hand in Hand mit der Selbstverortung einer Region im amerikanischen Selbstverständnis ging das individuelle »sense of belonging«271, das durch diese kollektive Identität gestiftet wurde und das dem Gefühl der »cultural disposses-

Picturing Old New England: Image and Memory (New Haven: Yale University Press, 1999), 79-110; Thomas Andrew Denenberg, Wallace Nutting and the Invention of Old America (New Haven: Yale University Press, 2003). 263 | Kammen, Mystic Chords, 146. 264 | Lowenthal, Past, 121. 265 | Conforti, Imagining New England, 203. Ähnlich James M. Lindgren, Preserving Historic New England: Preservation, Progressivism, and the Remaking of Memory (New York: Oxford University Press, 1995), 7. 266 | Vgl. auch Boyer, City of Collective Memory, 387. 267 | Conforti, Imagining New England, 207. 268 | Lindgren, Preserving Historic New England, 12. 269 | Conforti, Imagining New England, 204-05; 213. 270 | Ebd., 204. 271 | Ebd., 203.

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sion« angesichts des rapiden demographischen Wandels entgegenstand.272 Gerade in Neuengland war das auf privaten Initiativen beruhende historic preservation movement sehr stark. Ihre Träger waren primär »old-stock elite Brahmins«, wie die bekannte, 1910 gegründete Society for the Preservation of New England Antiquities unter William Sumner Appleton zeigt.273 Diesen ging es letztlich darum, sich durch das Colonial Revival ihrer eigenen Identität sowie ihres sozialen Status zu versichern, indem sie ihre Abstammung von den Eliten aus jener hochgejubelten Zeit deutlich machten. Je länger die lokale Ahnengalerie, desto größer das Prestige.274 Das gleiche Prinzip galt auch für den Süden: In der Quasi-Religion der Lost Cause ging es ebenfalls um ein Gefühl der Verwurzelung, und es verwundert nicht, dass norwegische Besucher den Einwohnern von Charleston und New Orleans 1908/09 eine »obsession with ancestors« bescheinigten.275 Wie alle Identitätskonstruktionen schloss das Beharren auf einer langen, an den Ort gebundenen Abstammungslinie weniger erwünschte Mitbürger von der Zugehörigkeit aus276 – in diesem Fall also jene, die sich erst seit kürzerer Zeit auf dem betreffenden Territorium aufhielten und nicht durch eine lange Geschichte mit dem Ort verbunden waren. In seiner Untersuchung zur regionalen Identität Neuenglands begreift Joseph Conforti das Phänomen des Colonial Revival daher als imaginäre Flucht der »native-born« vor den Verwerfungen der Gegenwart.277 Aufgrund der Gleichsetzung von »native-born« mit white anglo-saxon protestant und einem Fokus auf Neuengland geht die Forschung allgemein von einer primär WASP Trägerschaft des Colonial Revival278 ebenso wie des beginnenden Denkmalschutzes aus. Charles Hosmer etwa betont in seinem umfassenden Buch zur Geschichte der historic preservation, die Träger des Denkmalschutzes im frühen 20. Jh. seien weitgehend Anglo-Saxon gewesen.279 Auch Sidney Bland kommt zu dem Schluss, dass es in den Hauptstaaten des frühen Denkmalschutzes, Virginia und Neuengland »perceived challenges to Anglo-Saxon traditionalism and social and political dominance« waren, die dazu führten, dass die preservationists

272 | Ebd., 204. 273 | Lindgren, Preserving Historic New England, 8. Vgl. auch Hosmer, Presence of the Past, 122; Wallace, Mickey Mouse History, 181. 274 | Kammen, Mystic Chords, 220, 222. 275 | Ebd., 217. 276 | Ebd., 222. 277 | Conforti, Imagining New England, 206. 278 | Vgl. auch William Butler, »Another City upon a Hill: Litchfield, Connecticut, and the Colonial Revival«, in: Alan Axelrod (ed.), The Colonial Revival in America (New York: Norton, 1985), 15-51, hier 20. 279 | Hosmer, Presence of the Past, 301.

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ihre »past dominance« zu reetablieren suchten.280 Die Geschichte des 19. Jh.s erschien diesen Akteuren als Verlustgeschichte von Heimat und Identität, aber auch von Hegemonie. Die Refokussierung auf die Kolonialzeit war nicht nur der Versuch, sich durch den Verweis auf die Vorfahren der eigenen Herkunft und Identität zu vergewissern, sondern auch, sich in einem bestimmten Territorium zu verorten und auf dieses Anspruch zu erheben. Dies kam letztlich einem Anspruch auf soziale Führungspositionen in der Gegenwart gleich, der in der gesellschaftlichen Dominanz der Vorfahren und in der historischen Ortsverbundenheit zugleich begründet lag.281 Ähnlich analysiert Anthony J. Stanonis in seiner Studie zum Tourismus im New Orleans der Zwischenkriegszeit die Bestrebungen, das French Quarter zu bewahren. Seine Analyse bezieht er allerdings nur auf die in der Bewegung engagierten Frauen; die Architekten lässt er außen vor. Die Referenz auf die Vorfahren und einheimischen Formen interpretiert Stanonis als Versuche der Denkmalschützerinnen, sich selbst in die Tradition einer als zivilisiert und kultiviert betrachteten Gesellschaft der Vergangenheit einzuschreiben und sich zu deren rechtmäßigen Erben zu stilisieren.282 Integraler Bestandteil dieses Selbstverständnisses war die oben für Neuengland geschilderte Abgrenzung von jenen Mitbürgern, die nicht auf eine lange Kette einheimischer Vorfahren zurückschauen konnten. Gerade im French Quarter aber waren diese massiv präsent: die Einwanderer, die erst in den letzten Jahren des 19. Jh.s in die Crescent City gekommen waren. Damit schließt sich der Kreis zu den urban renewal-Aktivitäten wie dem Neubau des Courthouse, die das Vieux Carré aufwerten sollten. Auch den preservationists war es ein Anliegen, dem French Quarter seine »respectability«283 zurückzugeben. Nur wollten sie den Stadtteil nicht mittels Tabula Rasa und neuen, weißen Bauwerken aufwerten, sondern durch den Rückgriff auf eine ›glanzvollere‹ Zeit des Quarters und den Erhalt bzw. die Restauration jener Bauten, die für diese ›bessere‹ Zeit standen. Der nostalgische Rückblick hatte in diesem Sinne durchaus gegenwartskritisches Potential, allerdings nicht im Sinne einer allgemeinen Fortschritts- und Materialismuskritik, sondern im Sinne einer ganz konkreten Kritik an den Zuständen des Quarters. Es galt, den noblen Ort der Vorfahren aus seinem Dasein als Immigranten-Slum zu befreien – und so nebenbei an die vergangene Glorie der eigenen Vorfahren anzuknüpfen und sich selbst neu zu positionieren. Stanonis ordnet diesen Kampf der weißen middle-class Frauen aus New Orleans in den reformerischen Enthusiasmus

280 | Bland, Preserving Charleston’s Past, 85. 281 | Kammen, Mystic Chords, 295. 282 | Stanonis, Creating the Big Easy, 148-49. 283 | Ebd., 144.

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der Progressive Era ein.284 So wie man versuchte, die amerikanische Zivilisation durch das Verbot von Alkohol, das Errichten von Spielplätzen, die Anlage von Parks oder die Kontrolle der großen Wirtschaftsmonopole zu retten, so versuchte man dies nun mittels des Erhalts von Kulturgütern der Vergangenheit. In dieser Perspektive zeigt sich abermals die Nähe der Abrissgegner und Abrissbefürworter. Die auf dem common ground grundsätzlicher Modernisierungsprinzipien vereinte Clean Up-Koalition entzweite sich offenbar nur in Fragen des Umgangs mit historischen Formen. Die preservationists können damit zu jenen Reformern gezählt werden, deren Visionen Robert M. Crunden mit dem Konzept der »innovative nostalgia«285 zu fassen suchte, ein Konzept, das die inhärente Ambivalenz der progressives an die Stelle einer Dichotomie von ›Modernen‹ und ›Traditionellen‹ setzt. Preservationists und progressives strebten in den USA letztlich danach, die Gegenwart zu verbessern, und nicht danach, in die Vergangenheit zurückzukehren.286 In ihrem grundsätzlichen Modernisierungswillen glichen sie den klassischen boosters, die es als Frage moderner Ehre betrachteten, sich jeglichen alten Ballasts zu entledigen. Auch darin ähnelten die städtebaulichen Ereignisse in New Orleans denen in anderen amerikanischen Metropolen. James M. Lindgren etwa zieht im Kontext seiner Denkmalschutzgeschichte Neuenglands das Beispiel der gespaltenen Elite von Boston heran, die zum Teil die alten Stadtteile der Ostküstenmetropole als »breeding grounds for alien peoples and cultures«287 ansah und daher eine Politik der Abrisse verfolgte, zum Teil aber für die Bewahrung und Restaurierung eben dieser Viertel eintrat, um sie so aufzuwerten.288 All dies erklärt jedoch nicht, warum die Eliten von New Orleans bezüglich des Umgangs mit den baulichen Relikten der Vergangenheit so entzweit waren. Denn anders als bei den Bostoner Brahmins289, den New Yorker Knickerbockers290 oder den Eliten von Charleston291 verkörperten die ›ancestor‹- und ›native‹-fixierten preservationists nicht etwa die ›alte Elite‹, die sich gegen eine ›neue Elite‹ der erneuerungsfreudigen Wirtschaftsbosse und Politiker zu behaupten 284 | Ebd. 285 | Kammen, Mystic Chords, 271. Vgl. Robert M. Crunden, Ministers of Reform: The Progressives’ Achievement in American Civilization, 1889-1920 (New York: Basic Books, 1982). 286 | Lindgren, Preserving Historic New England, 27. 287 | Ebd., 183. 288 | So der City Beautiful-Plan »Boston – 1915«, der breite Straßen vorsah, die einen Abriss alter Stadtviertel voraussetzten. Ebd., 46. 289 | Vgl. ebd., 8. 290 | Vgl. Edwin G. Burrows and Mike Wallace, Gotham: A History of New York City to 1898 (New York: Oxford University Press, 1999), 452-55. 291 | Vgl. Yuhl, Golden Haze, v.a. 7-10.

III. Alte Stadt

suchte. Beide ›Parteien‹ waren in New Orleans zu einem großen Teil getragen von WASP Mittel- und oberen Mittelschichten, aus deren Kreis sich sowohl die Mitglieder der Association of Commerce als auch der historic preservation committees rekrutierten. Warum orientierten die einen sich am Leitbild der modernen Stadt, die anderen am Leitbild der uniqueness von New Orleans, warum waren die einen anfällig für nostalgische Visionen, die anderen nicht? Im Kontext von Boston, New York oder Charleston könnte man sagen, dass sich hier der Versuch niederschlug, kulturelle Hoheit dadurch zu beanspruchen, dass man die Errungenschaften der eigenen Vorfahren zum außergewöhnlichen Merkmal der Stadt erhob.292 Im New Orleanser Kontext greift diese Interpretation nicht nur deshalb zu kurz, weil sich die Gegner aus ähnlichen sozialen Schichten rekrutierten. Anders als die Brahmins, Knickerbockers oder die alten Eliten von Charleston waren die preservationists von New Orleans zudem nicht die tatsächlichen Nachfahren der vielbemühten »ancestors«, die die alten Bauwerke errichtet hatten. Gewissermaßen kommt hier eine zusätzliche Ebene der Fantasie ins Spiel: Elizebeth Werlein, Ethel Hutson et al. schlugen über die Kluft zwischen Gegenwart und Vergangenheit eine Brücke nicht nur zu einer verklärten Vergangenheit, sondern auch zu imaginierten Vorfahren. Denn sowohl das St. Louis Hotel als auch das French Opera House, ja, das gesamte Vieux Carré stand für eine Kultur, die den Denkmalschützern fremd war, nämlich die kreolische Kultur des kolonialen Louisiana, die die Antebellumära in der Stadt noch massiv geprägt hatte. Umso unklarer ist es, warum die preservationists sich mit Verve für diese Vergangenheit einsetzten, die eigentlich nicht die ihre war. Gleichzeitig erhält die Nostalgie und die Suche nach ›native forms‹ in New Orleans dadurch eine zusätzliche Dimension, die das Ganze zwar komplexer macht, jedoch auch dazu beitragen kann, die Faszination mit der Vergangenheit, ihre Rolle in der Identitätskonstruktion mancher New Orleanians und in den heftigen Debatten um die Identität der Stadt am Anfang des 20. Jh.s zu erhellen.

292 | Vgl. etwa ebd., 190.

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IV. Fremde Stadt »S TR ANGE AND FOREIGN « Die Faszination mit der Geschichte von New Orleans beruhte nur zum Teil auf einer Wertschätzung des Historischen an sich. Bezeichnend ist, dass die häufigen Beschreibungen der New Orleanser Vergangenheit als ›romantisch‹, ›heldenhaft‹ und ›fesselnd‹ den Eindruck erweckten, als sei das nicht bei jeder Lokalgeschichte der Fall, sondern ein ganz spezifisches Charakteristikum der Crescent City. Dass diese Stadt die »most picturesque city of America« genannt wurde, so erfuhr der Leser von Arnold Genthes Bildband, lag an ihrer »romantic past«, welche New Orleans ein weitaus reicheres und vielfältigeres »architectural heritage« hinterlassen habe als den meisten anderen amerikanischen Städten.1 Worin die besondere Romantik begründet war, die sich in einem besonderen architektonischen Erbe äußerte, lag für die Kommentatoren auf der Hand. Enthusiastisch verkündete der 1904 für die Picayune publizierte Reiseführer: »And what a past it has, this Crescent City! Of what racial variants compounded! With what dramatis personae in leading parts! In what characters abounding, strange, stately and heroic, (inglorious likewise) – figures picturesque, pathetic, aye, and tragic, oftentimes!«2 , und erläuterte für den wenig geschichtskundigen Leser: »French to-day, to-morrow Spanish, the next day French again, American till now.«3 Die Geschichte der Stadt erschien wie ein bunter Reigen von Figuren unterschiedlichster Herkunft, Hautfarbe und Charakters. Bereits 1885 hatte sich ein Artikel im Times-Democrat mit der Frage befasst, inwiefern die Vergangenheit von New Orleans etwas ganz Besonderes darstelle. »There are few cities in the world that equal New Orleans in the richness and freshness and variety of their traditions«4 , bemerkte der Autor und kam zu dem Schluss, dass in Neuengland die Städte zwar auch alt seien, jedoch nie Teil der Ausein1 2 3 4

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Genthe, Impressions, 23. Engelhardt (ed.), New Orleans, 9. Ebd., 10. »Loiterings in the French Portion of New Orleans«, in: Times-Democrat, 25.10.1885.

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andersetzungen zwischen England, Frankreich und Spanien gewesen waren. Gerade das aber »lends such a charm to the history of Louisiana«5 . Die Stadt war nicht nur 1718 von Franzosen gegründet worden, sondern hatte mehrfach die Hände gewechselt, war 1763 in spanischen Besitz übergegangen und für kurze Zeit wieder französisch, bevor sie 1803 mit dem Louisiana Purchase zu einer amerikanischen Stadt wurde. Man war sich einig, dass New Orleans aufgrund dieser kolonialen Vergangenheit außergewöhnlich war. Darin und in der daraus resultierenden, wechselhaften Geschichte der Stadt sahen viele Autoren die Individualität von New Orleans verankert. Südlichkeit war ebensowenig ein hinreichendes Alleinstellungsmerkmal der Stadt wie ihr Alter. Ihre spezifische koloniale Geschichte aber war es. Die Spuren, die diese Vergangenheit im Gewebe der Stadt hinterlassen hatte, bildeten daher die Kristallisationspunkte für die Besonderheit von New Orleans. Sie wirkten durch ihren Verweis auf die frühe Lokalgeschichte wie stete Vergegenwärtigungen einer eigenen Identität, die das New Orleans der Gegenwart von anderen amerikanischen Städten unterschied. Diese materiellen Spuren einer spezifischen Geschichte waren es, aufgrund derer Besucher New Orleans als romantisch empfinden konnten; sie bildeten für Besucher und für viele New Orleanians einen maßgeblichen Teil der New Orleans um 1900 zugeschriebenen Identität. Kern dieser Identität, wie man sie in der Lokalgeschichte und deren Relikten verankert sah, war die Fremdheit der Stadt. Das Anderssein von New Orleans war einer der Haupttopoi in den Beschreibungen der Stadt am Mississippi. Im Unterschied zu anderen amerikanischen Städten, etwa den Städten Neuenglands, zeichneten sich in diesem Narrativ die historischen Bauten der Crescent City nicht nur durch ihr Alter, sondern auch durch ihre Fremdheit aus; letztlich war damit New Orleans selbst aufgrund der identitätsstiftenden Funktion der historischen Bausubstanz gewissermaßen ›fremd‹. Ganz gleich, ob man dieses Alte und Fremde an der Stadt wertschätzte oder nicht – es herrschte in New Orleans Konsens, dass es so etwas in der Stadt gab, und dass dies die Stadt von anderen amerikanischen Metropolen unterschied. »There has been a ruthless destruction in the last ten years, and with another decade of a similar ›development‹, the stranger who visits us will not be able to guess that this city was once under French and Spanish rule, and presented to a previous generation a distinctly French or Spanish type. […] In New Orleans the chief aim seems to be to crush out any memento of the past, to destroy what old visitors found so attractive about this city, its picturesqueness and individuality, which, as they expressed it, recalled France and Spain so vividly to them. We have joined the iconoclasts, with a distinctive desire to make New Orleans as nearly like Jersey City or other Northern cities as possible« 6, 5 | Ebd. 6 | »A Question of Architecture«, in: Architectural Art and Its Allies, 8:4 (Oct. 1912), 20.

IV. Fremde Stadt

monierte die New Orleanser Architektenzeitschrift 1912. Die Vergangenheit schien gerade deshalb so perfekt geeignet, die »distinctiveness« von New Orleans zu markieren, weil sie nicht nur vergangen, sondern auch anders war als im Rest der USA. Um mit David Lowenthals Konzept des »past as a foreign country« zu sprechen, könnte man sagen, dass das nostalgisch erinnerte Land der Vergangenheit in New Orleans doppelt fremd war, weil vergangen und anders – vielleicht ein fremdes fernes Land. Die in der Vergangenheit liegende Fremdheit wirkte zwar auf das Bild, das viele Besucher von der Stadt insgesamt hatten, wurde aber letztlich an einem spezifischen Ort innerhalb des Stadtraums vergegenwärtigt: dem French Quarter. Wie die beiden geläufigen Namen für den Stadtteil – Vieux Carré und French Quarter – schon andeuten, stellte er die Inkarnation des alten und zugleich fremden Stadtraums dar. Ähnlich häufig, wie das Alter des French Quarter als Erklärung für seine pittoreske Erscheinung herangezogen wurde, wurde diese auch auf sein fremdartiges Aussehen zurückgeführt. Vor allem Besucher waren von diesem anderen Charakter des Stadtbildes fasziniert, der durch die Reiseführer des späten 19. und frühen 20. Jh.s propagiert wurde. Schon William Coleman hatte in seinem anlässlich der Cotton Exhibition erschienenen Reiseführer von 1885 entschlossen verkündet: »There can be no place in America quite like old New Orleans.«7 Das alte New Orleans war anders als Amerika. So zeigte sich Henry C. Akin aus Omaha nicht nur von der »quaintness« der Stadt beeindruckt, sondern auch von ihrer »utter difference from all others in America«8; John B. Lennon, Schatzmeister der Gewerkschaft AFL aus Bloomington, Illinois, strich ebenso die »quaintness« hervor wie die Tatsache, dass »the old quarters« ein »peculiar feature« darstellten, da dort spanische, französische und englische Einflüsse miteinander verschmolzen seien.9 ›Alt‹ und ›fremd‹ wurden in den Blicken auf das Quarter vermengt. In seiner Reportage über New Orleans im Harper’s New Monthly Magazine befand Julian Ralph 1893, dass die »relics of the past« wie der French Market und die Kathedrale maßgeblich zum »foreign air« der Stadt beitrügen. »I hope that with the manifest new energy of New Orleans they will not be ›improved‹«10, drückte er seine Befürchtung aus, der City Beautiful-Geist, der in diesen Jahren durch die Stadt wehte, werde die alten, fremdartigen Gebilde unter dem Deckmantel des Fortschritts aus dem Stadtraum tilgen. Das Fremde verschmolz mit dem Alten, und stellte damit ebenso einen Gegensatz zur eigenen Zeit dar wie zu ›Amerika‹.

7 | Coleman (ed.), Historical Sketchbook, 149. 8 | »New Orleans as Convention City«, in: Daily Picayune, 1.9.1903. 9 | Ebd. 10 | Ralph, »New Orleans«, 376.

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Auch in New Orleans selbst war man sich der fremden Wirkung des French Quarter mit seiner alten Architektur bewusst. »New Orleans, the gay and worldly, scenic, and in many of its aspects foreign and bizarre! […] New Orleans, the historic, romantic, many faceted and unique!«11 , lautete einer der ersten Sätze im Buch über New Orleans, das die Chamber of Commerce 1894 herausgab, womit sie die grundlegenden Glaubenssätze über die Stadt aufgriff: Diese war fremd und seltsam, historisch und romantisch und damit einmalig. »Perhaps there is no city this side of the water that has about it so much of the European characteristics as has the Crescent City. In the older or French portion of the city this is most marked«12 , sinnierte ein Reporter des Times-Democrat 1885 nach einem Spaziergang durch das Vieux Carré. Selbst nach Jahren der »American domination« sei der Abdruck der Kolonialmächte Frankreich und Spanien im Gewebe der Stadt sichtbar.13 Allein die Tatsache, dass ein Journalist der Lokalzeitung eigens über einen Spaziergang im second district, zu dem das French Quarter gehörte, berichtete, deutet darauf hin, wie fremd der Stadtteil den New Orleanians selbst erschien. Neben dem Karneval galt die Architektur des Vieux Carré mit ihren Innenhöfen und Balkonen als Besonderheit von New Orleans, die als spanisch oder französisch angesehen wurde.14 Auch im neuen Jahrhundert änderte sich das nicht, und selbst die Architektenzeitschrift sprach vom »foreign-appearing quarter«15 . Diese Teile der Stadt wirkten insofern auch für viele New Orleanians wenig amerikanisch, ja geradezu un-amerikanisch. Die gesamte Anlage des French Quarter stand im Gegensatz zu jenen Teilen der Stadt, die nach 1803 unter amerikanischer Herrschaft entstanden waren. Vergleicht man etwa das Vieux Carré mit dem uptown gelegenen Garden District, so lassen sich die unterschiedlichen städtebaulichen Prinzipien kontrastieren. Während die Straßen des French Quarter schmal und baumlos waren, waren die Straßen der uptown-Bezirke breit und von Bäumen gesäumt (Abb. 24 und Abb. 25).

11 | Chamber of Commerce and Industry of Louisiana (ed.), The City of New Orleans, 5. 12 | »A Reporter’s and an Artist’s Stroll through the Second District«, in: Times-Democrat, 1.11.1885. 13 | Ebd. 14 | »The Inspiration of the Carnival«, in: Daily Picayune, 14.2.1893. 15 | »New Orleans, the Beautiful«, in: Architectural Art and Its Allies, 7:8 (Feb. 1912), 5.

IV. Fremde Stadt

Abbildung 24: St. Peter Street, eine typische schmale Straße des French Quarter, ca. 1905-1910 (Foto: Alexander Allison).

Abbildung 25: Die weitläufige, von Bäumen gesäumte St. Charles Avenue, ca. 1890-1901 (Foto: Detroit Publishing Company).

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Die Bäume erfüllten dieselbe Funktion wie die Balkone des French Quarter, indem sie die Bürgersteige überschatteten und so Schutz vor der sengenden Sonne und auch vor Regen boten. Die neueren Viertel wirkten dadurch luftiger und grüner. Hinzu kam die unterschiedliche Situierung der Häuser im Verhältnis zur Straße. In den uptown erbauten Stadtteilen waren die meisten Häuser freistehend und von einem Garten umgeben. Der front yard bildete so eine Art Puffer zwischen dem öffentlichen Bürgersteig und dem privaten Wohnraum im von der Straße zurückgesetzten Haus. Anders war dies dagegen im French Quarter, wo die Steinfassaden direkt an den Bürgersteig angrenzten: Grünflächen fanden sich dafür in den Innenhöfen, die ein weiteres Merkmal der frühen New Orleanser Architektur darstellten. Während auch die freistehenden, von Gärten umgebenen Häuser Balkone aufweisen konnten, so schienen sie insofern privater, als sie nicht direkt die Straße überdachten. Letztlich standen Viertel wie der Garden District für eine Vision von Stadt, die den öffentlichen Raum möglichst weiträumig, luftig und durchgrünt anlegte und Privatsphäre durch räumliche Auflockerung schuf. Dieser Vision stand die Anlage des French Quarter gegenüber, die eine dichte Besiedelung auf engem Raum umfasste, und dafür das Private rigider nach innen kehrte: Das Leben in den Innenhöfen war von außen nicht so einsehbar wie das der front yards. Die nach außen gekehrten Balkone des Vieux Carré wiederum waren nicht als rein private Orte gedacht: Hier versammelte man sich, um den Paraden und Prozessionen der Straße zu folgen, um Teil am öffentlichen Leben zu nehmen, um zu sehen und gesehen zu werden – eine Art Schnittstelle zwischen privatem und öffentlichem Raum. Die engen Straßen, die Balkone und die Innenhöfe gingen dementsprechend ein in den Kanon architektonischer und urbanistischer Merkmale des French Quarter, wie ihn die Zeitgenossen definierten. »And then there is the French Quarter. […] Here one finds the narrow streets with overhanging balconies, the beautiful wrought-iron and cast-iron railings, the great barred doors and tropical courtyards. […] Even today New Orleans – American city though it is – still retains a definite Latin quality«16, resümierte der Reiseführer, den das Federal Writers’ Project der Works Progress Administration im Rahmen der New Deal-Maßnahmen der 1930er Jahre verfasste. Die physische Erscheinung des French Quarter trug maßgeblich dazu bei, dass New Orleans bis zu einem gewissen Grad un-amerikanisch wirkte.

16 | New Orleans City Guide, Written and Compiled by the Federal Writers’ Project of the Works Progress Administration for the City of New Orleans (Boston: Houghton Mifflin Co., 1938), xx-xxi.

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»O LD - WORLD TOWN « Besucher wie New Orleanians versuchten dieser un-amerikanischen Fremdheit Herr zu werden, indem sie sie auf konkrete Ursprünge zurückführten und sie ganz bestimmten, definierbaren Kulturen zuwiesen. Zwei Erklärungsmuster können dabei ausgemacht werden. Zum einen galt New Orleans als europäische Stadt, zum anderen als Latin city; beide Deutungsmuster gründeten in der Vorstellung des French Quarter als eines kreolischen Stadtteils. Die diffuse Fremdheit, die sich in der Gegenwart sichtbar im Stadtraum abzeichnete, konnte zum einen durch den Bezug auf die europäische Herkunft der ersten Siedler konkretisiert und eingeordnet werden. Durch diesen Bezug wurde das Fremde gewissermaßen in der Vergangenheit lokalisiert: in der Kolonialzeit, die von französischen und spanischen Siedlern geprägt worden war. Das French Quarter verlieh New Orleans nicht einen irgendwie gearteten Aspekt von Fremdheit, sondern ein europäisches Aussehen – ob dies tatsächlich so war, und inwiefern die Bauten des Vieux Carré spanische oder französische Einflüsse aufwiesen, ist dafür irrelevant: Man nahm sie jedenfalls als solche wahr. Dies hatte Folgen für die Identität, die New Orleans um 1900 zugeschrieben wurde. Dank des French Quarter erschien die Crescent City zumindest in Teilen als Stadt der Alten und nicht der Neuen Welt. »The visitor finds this city very unlike Northern towns, with which he has been familiar. To the Creole Quarter especially there is a foreign aspect, which is intensified by the frequent sound of foreign speech. It is as if one had stepped into some old-world town and left America, with its newness, and its harshness far behind«17, erläuterte der Bürgermeister Martin Behrman 1913 in einer Rede vor der Society of Economics der Tulane University. Die Alte und die Neue Welt standen dabei nicht nur für unterschiedliche geographische Regionen, sondern auch für Vergangenheit und Gegenwart – und für gesellschaftliche Befindlichkeiten. Die »harshness«, die Härte der Moderne, wurde mit der relativen Neuheit der amerikanischen Republik gleichgesetzt und einer anders gearteten Vergangenheit, die in einer anderen Region der Welt verortet war, entgegengestellt. Inwiefern Behrman hier »harshness« kritisch mit Kälte konnotierte oder positiv mit wirtschaftlicher Effizienz, bleibt unklar. Seine Rede aber zeigt deutlich, dass die Zuschreibungen zum French Quarter als ›fremd‹ und der ›Alten Welt‹ zugehörig nicht auf das visuelle Erscheinungsbild beschränkt blieben, sondern gesellschaftlich aufgeladen wurden und umfassendere Bilder von New Orleans und seiner Gesellschaft zeichneten. Diese Bilder wurden sowohl in der Innenperspektive als auch in der Außenperspektive transportiert. Charles Dudley Warner zeigte sich bereits 1887 beeindruckt von der »foreignness of New Orleans civilization«18, 17 | Martin Behrman, Address, 5. 18 | Warner, »New Orleans«, 194.

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und die Chamber of Commerce bezeichnete 1894 die Gesellschaft des gesamten downtown-Distriktes explizit als eine andere Gesellschaft, die von anderen »social customs« beherrscht werde als die uptown-Stadtteile der sogenannten »Americanized city«19 . Dies gelte für Schwarze und Weiße gleichermaßen.20 Das Bild der fremden Gesellschaft des French Quarter, das am häufigsten beschworen wurde, schloss Schwarze jedoch von vornherein aus. Es war das einer alteingesessenen Aristokratie französischer oder spanischer Herkunft bzw. das der Nachfahren aristokratischer französischer oder spanischer Siedler der Kolonialzeit. Meist wurden die Nachfahren der ersten Siedler im späten 19. und frühen 20. Jh. mit dem Begriff der Creoles bezeichnet. Die Kreolen, so die verbreitete Auffassung, bevölkerten das Vieux Carré, wie sie es schon seit Anbeginn der New Orleanser Geschichte getan hatten, und sie ließen sich anhand von einigen hervorstechenden Merkmalen charakterisieren, die sie klar als ›fremd‹ auswiesen. Sowohl die Vorstellung von Aristokratie als auch die der französisch/spanischen Herkunft und des Alteingesessenen transportierten dabei ganz bestimmte Bedeutungen, die auf diese vermeintliche Gesellschaft des French Quarter projiziert wurden. Sie bildeten den Kern des Creole myth21, des Mythos der Kreolen von New Orleans, der mit den Wahrnehmungen des French Quarter vielfältig verflochten war und weder mit dem Antebellum-Verständnis von Creole noch mit den Lebensrealitäten des Vieux Carré um 1900 etwas zu tun hatte. Im Kontext dieses Mythos galt das French Quarter als das kreolische Viertel schlechthin. Vermeintlich kreolische Eigenschaften und das äußere Erscheinungsbild des Stadtteils liefen dabei ineinander. Allein das Konzept einer aristokratischen Gesellschaft stellte per definitionem einen Gegenpol zum Amerikanertum dar. Im French Quarter, so die Implikation, existierte wirklich eine fremde Welt. Darüber hinaus verband sich die Vorstellung, dass die Creoles Aristokraten seien, mit weiteren Bedeutungen. Zum einen wurden sie in eine Aura der Kultiviertheit und der Eleganz gehüllt. Ein Artikel in der Daily Picayune über den Zustand des Immobilienmarktes und der architektonischen Entwicklung in New Orleans etwa meinte in den baulichen Relikten aus der Kolonialzeit den Ausdruck kultivierter Aristokratie zu erkennen. Zwar schien das French Quarter eng und kompakt, aber das Innere der Häuser zeuge von Weiträumigkeit und damit, so der Artikel, von Offenheit. »The richness of their large portals, the shady cool of their courts and the great dimensions of their rooms are suggestive of a broad-minded, liberal and cultured aristocracy. All this is in strong contrast to the compact build19 | Chamber of Commerce and Industry of Louisiana (ed.), The City of New Orleans, 10. 20 | Ebd., 10. 21 | Joseph G. Tregle Jr., »Creoles and Americans«, in: Arnold R. Hirsch and Joseph Logsdon (eds), Creole New Orleans: Race and Americanization (Baton Rouge: Louisiana State University Press, 1992), 131-85, hier 132.

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ings of the east, having small vestibules, narrow halls, and rooms of plebeian dimensions.«22 Nicht nur zur Kolonialzeit der Ostküste grenzte man sich mit dem Topos der Kultiviertheit ab, sondern auch zur Gegenwart des Vieux Carré mit seinen als unkultiviert wahrgenommenen Bewohnern, den Einwanderern und schwarzen New Orleanians. Die Eleganz des French Quarter war dabei in jedem Fall eine europäische, meist französische: »On Bourbon and Royal street are to be seen the best specimens of French and Creole architecture of the city. These streets recall some of the older boulevards of Paris. The stores on them are bright with all the latest Paris nouveautés, the signs are French and the language almost universally spoken is French. At the corner of Toulouse and Bourbon is the celebrated French Opera House; at the corner of St. Louis and Royal is the Hotel Royal, formerly the old St. Louis« 23,

lockte der Reiseführer Colemans mit der Aussicht auf ein Stück Europa im Herzen einer amerikanischen Stadt. Auch im Alltag wurden die Kreolen als besonders elegant und geschmackvoll wahrgenommen. Anlässlich einer Wohltätigkeitsveranstaltung im French Opera House zugunsten der in finanzielle Nöte geratenen Diözese von New Orleans resümierte der Times-Democrat, dass das Fest mit »all that delicacy of taste and artistic skill for which the Creole ladies are noted«24 gestaltet worden sei. Der Topos des gebildeten und kultivierten Aristokraten wurde ebenfalls häufig verwendet, um Kreolen zu beschreiben, die eine herausragende Stellung im öffentlichen Leben einnahmen, so im Fall von Paul Capdevielle. Der Anwalt und Präsident einer Versicherungsgesellschaft wurde 1899 zum Bürgermeister gewählt. In den Zeitungsartikeln, die den neuen Mann an der Spitze der Stadt beschrieben, wurden weniger seine politischen Fähigkeiten hervorgehoben, als sein aristokratischer Habitus: »He is courteous and affable to all with whom he has business; but these graces of manner are tempered with a quiet and unostentatious dignity which well becomes the Chief Magistrate of the City.«25 Galant, tugendhaft und gebildet sei der neue Bürgermeister und sein Zuhause ein »center of refinement and culture.«26 Gleichzeitig verkörperte der kultivierte, aristokratische Kreole auch ein Gegenbild zum an wirtschaftlichem Erfolg und harten Geschäften interessierten zeitgenössischen Amerikaner des Neuen Südens, der sich im modernen Amerika mit seiner »harshness« sicher bewegte. Diese Kultiviertheit als Hal22 | »Architects are Growing Busier«, in: Daily Picayune, 1.6.1900. 23 | Coleman (ed.), Historical Sketchbook, 33. 24 | »A Charming Society Event«, in: Times-Democrat, 15.11.1885. 25 | »The City Ticket, so far«, in: Daily Picayune, 12.9.1899. 26 | »The Nominees: A Brief Sketch of Hon. Paul Capdevielle«, in Daily Picayune, 12.9.1899.

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tung glaubte man nicht nur bei den Kreolen der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart zu finden. William Coleman ermutigte in seinem Reiseführer 1885 den Besucher, sich das French Quarter genau anzuschauen. Die Bewohner seien sehr freundlich und würden dem Fremden ihre sagenumwobenen courtyards zeigen, »with a prettily mingled air of graciousness and reserve«27. Auch die Nachfahren der alten kreolischen Aristokraten pflegten offenbar noch aristokratische Tugenden. Die einfacheren Schichten der Kreolen wurden dabei häufig zu verarmten Aristokraten stilisiert, und selbst die Architektur des French Quarter wurde in diesen Begriffen gefasst. »Some of the finest examples of old Creole residences«28 seien für das neue Courthouse abgerissen worden, so das Lamento in einem 1926 erschienenen Fotoband zum alten New Orleans. Das neue Gebäude wirke wie ein »arrogant parvenu in the midst of proud though impoverished aristocrats«29 . Arm, aber zuvorkommend und stolz, distanziert und reserviert, so schienen die kreolischen Bewohner des Vieux Carré um 1900, und so schien auch der physische Raum, der sie umgab. Zum Komplex des ›Kreolen-als-Aristokraten‹-Mythos gehörte zum anderen die immer wiederkehrende Feststellung, wie traditionsreich und traditionsgebunden doch das Leben im Vieux Carré sei. Diesen Hang zur hingebungsvollen Pflege der alten Sitten und den Stolz auf die Gebräuche fanden Beobachter sogar bei den ärmeren Kreolen. Auch die Fremdheit dieser alten Sitten verschmolz in der Wahrnehmung der Außenstehenden mit der Fremdheit der Architektur des Quarters. »Very strange to Northern eyes this quarter […]. A little world, a world apart – in its habits, its recreations and mode of life and ideas. Sufficient unto itself (its humbler element particularly) in its life of allegresse. Clinging still to the ancestral way of old ideals; to its little backyard garden of basil, sweet olive and frascati, its lingua Franca patois, its banquette promenade and summer evening street-piano serenade, its savory regalement of filé and fine herbs, pralines and calas, its market lagniappe and currency of escalin and brass ›quartee‹« 30,

bereitete der Reiseführer der Picayune Besucher auf das vor, was sie im Vieux Carré erwartete. Nichts weniger als eine eigene kleine Welt fand sich dort, eine fremde Welt, die sich an der Vergangenheit orientierte. Nicht nur die Architektur des Vieux Carré entstammte einer vergangenen Zeit, nein, es schien, als wären auch seine Bewohner eigentlich in einem anderen Jahrhundert zuhause. »The old houses, old people, old street vendors, old customs, all are interesting 27 | Coleman (ed.), Historical Sketchbook, 63. 28 | Genthe, Impressions, 26. 29 | Ebd. 30 | Engelhardt (ed.), New Orleans, 16.

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now«31, befand schon 1885 ein Artikel im Times-Democrat. Die Tradition der Praline Women etwa – Straßenverkäuferinnen, die eine süße New Orleanser Spezialität verkauften – sei ein »relic of the old Creole days«32 . Mit der Traditionsgebundenheit einher ging die Verehrung der Vorfahren. William Coleman betonte in seinem Reiseführer von 1885, dass sich die Kreolen an der eigenen Abstammungslinie orientierten, an Vorfahren und Kindeskindern, an der eigenen Vor- und Nachgeschichte. »In this French town everything is so widely different from things in new New Orleans. Here the mover’s cart is but seldom seen; in a strange, un-American way the people are deeply rooted, and many talk of their ancestry or posterity.«33 Der Fokus auf die Herkunft und die Nachfahren schien emblematisch für das Un-amerikanische des alten New Orleans, das räumlich in Regungs- und Bewegungslosigkeit verharrte und zeitbedingten Wandel durch die Konzentration auf die Konstante der eigenen Familiengeschichte zu kompensieren suchte. Auch dieser Teil des Creole myth ließ die angeblichen Bewohner des French Quarter wie ein Gegenbild zu den anderen New Orleanians erscheinen, die von Fortschrittsgeist und Verbesserungseuphorie erfüllt ihre Herkunft und Tradition, die Verbindung zur Vergangenheit und damit ihre spezifische Identität verloren hatten. Als Paul Capdevielle zum Bürgermeister gewählt wurde, stellten ihn die Zeitungen nicht nur als edel und höflich dar, sondern auch als Nachfahren einer der besten Familien Louisianas, deren Wurzeln bis in die Kolonialzeit zurückreichten.34 Kultur- und Traditionsbewusstsein waren so die beiden Hauptzuschreibungen, die im Rahmen des Creole myth an die Vorstellung einer aristokratischen Gesellschaft und einer Stadt der Alten Welt im New Orleans der Jahrhundertwende geknüpft waren. Der Schriftsteller Lafcadio Hearn hatte bereits in den 1870er Jahren mit seinen kurzen »Creole Sketches«, die im Item erschienen, massiv zur Mythisierung der Kreolen und des French Quarter beigetragen.35 Ein Auszug aus seinem 1879 publizierten Essay »A Creole Courtyard« kontrastiert wie in einem Brennglas die beiden Welten von New Orleans. Hearn nahm dabei die nahezu voyeuristische Position eines Außenstehenden ein, der einen Blick auf die kreolische Welt im Inneren der Häuser zu erhaschen suchte.

31 | »A Reporter’s and an Artist’s Stroll through the Second District«, in: Times-Democrat, 1.11.1885. 32 | Ebd. 33 | Coleman (ed.), Historical Sketchbook, 150. 34 | »The Nominees: A Brief Sketch of Hon. Paul Capdevielle«, in: Daily Picayune, 12.9.1899. 35 | Hearn arbeitete 1878-81 für den Item, anschließend bis 1887 für den Times-Democrat. Boyer, City of Collective Memory, 326.

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»Without, cotton-floats might rumble, and street-cars vulgarly jingle their bells; but these were mere echoes of the harsh outer world which disturbed not the delicious quiet within – where sat, in old-fashioned chairs, good old-fashioned people who spoke the tongue of other times, and observed many quaint and knightly courtesies forgotten in this material era. Without, roared the Iron Age, the angry waves of American traffic; within, one heard only the murmur of the languid fountain, the sound of deeply musical voices conversing in the languages of Paris and Madrid […]. Without, it was the year 1879; within, it was the epoch of the Spanish Domination. […] A European periodical, with graceful etchings, hung upon the back of a rocking-chair at the door, through which one caught glimpses of a snowy table bearing bottles of good Bordeaux, and inhaled the odor of rich West India tobacco.« 36

Wie in einem Kokon umschlossen lebte die europäische Welt der Kolonialzeit in den Häusern des Vieux Carré weiter. Für Hearn verkörperte sie das, was der amerikanischen Gegenwart fehlte: Der kreolische Raum seiner Fantasie war eine Oase der Ruhe und des gepflegten Gesprächs, der Höflichkeit und des Traditionsbewusstseins, so ganz anders als die laute und aggressive Welt des »Iron Age«. Dieser Raum war nicht nur ein fremder Ort, weil er der Vergangenheit angehörte, sondern auch, weil er französisch und spanisch geprägt war. Die fremde Vergangenheit eignete sich noch besser für die nostalgischen Projektionen Hearns als die amerikanische Vergangenheit, da sie noch radikaler als Antithese zur amerikanischen Gegenwart konstruiert werden konnte. Bei Hearn war diese Nostalgie zudem von einem anti-materialistischen Impuls geprägt, anders als bei den meisten der New Orleanser preservationists.37 Der Kultiviertheit und dem Traditionsbewusstsein kreolischer Aristokraten kam somit die Funktion des ›Anderen‹ par excellence zu, das vorhandene Sehnsüchte des Gilded Age bündelte. Wenngleich sie sich nicht wie Hearn nostalgisch nach dem Kokon der Kolonialzeit sehnten, so orientierten sich die preservationists der Jahrhundertwende in New Orleans doch sehr am Creole myth und trugen dazu bei, ihn zu verbreiten. Die Welt, die Hearn in den innersten Räumen des French Quarter sah, war auch für diejenigen das vollkommen Andere, die sich für den Erhalt der Architektur des Vieux Carré einsetzten. In ihrer Suche nach der Einmaligkeit ihrer Stadt, nach der Individualität von New Orleans, war diese andere Welt sehr willkommen. Gleichzeitig durfte es nicht irgendeine andere Welt sein: Sie musste ehrenwert genug sein, damit man sich mit ihr identifizieren konnte. Der Mythos der Kreolen bot sich dabei an, da er eine fiktive Gesellschaft bereitstellte,

36 | Lafcadio Hearn, Creole Sketches, ed. by Charles Woodward Hutson (Boston: Houghton Mifflin, 1924), 79-81. 37 | Vgl. Boyer, City of Collective Memory, 327.

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die fern und doch zugleich angesehen, »respectable«38, war. Die preservationists stellten das French Quarter als »quaint home of a formerly prosperous, refined white people«39 dar, als romantisches und elegantes Viertel, ein Bild, das den Realitäten des Quarters als armes Einwandererviertel mit einer nennenswerten schwarzen Bevölkerung um 1900 nicht entsprach. Auf der Suche nach einem Distinktionsmerkmal ihrer Stadt konstruierten die Denkmalschützer eine fiktive europäische Aristokratie, die New Orleans durch eine positiv konnotierte Fremdheit von anderen Städten unterscheiden sollte. Gleichzeitig ähnelten die Komponenten des Creole myth stark denen des Mythos vom Alten Süden. Das Bild der edlen, noblen, ritterlichen Aristokraten mit ihrem Sinn für Umgangsformen, für Kultur, Tradition und das eigene Erbe konnte, bis auf den Bezug zur Alten Welt, auch für eine nostalgische Vision des Alten Südens stehen, wie sie in der weißen Gesellschaft des Südens nach dem Civil War verbreitet war und im Mythos der Lost Cause Ausdruck fand. Mit dieser Parallele schloss sich der Kreis zu jenen Versuchen, New Orleans eine distinkte Identität zuzuschreiben, die auf die Südlichkeit oder gar Südstaatlichkeit der Stadt Bezug nahmen. Die Funktion des Creole myth war es demnach nicht nur, New Orleans von anderen südlichen Städten zu unterscheiden, die keine kreolische Vergangenheit hatten. Er diente auch dazu, das fremd wirkende Aussehen der Stadt für andere Südstaatler in Kategorien zu fassen, die sie einordnen konnten. Damit wurde die vielzitierte Fremdheit der Stadt gezähmt und für den Besucher verständlich – und begehrenswert – gemacht. Zugleich wies das French Quarter als Ort der mythischen Kreolen die Crescent City als Antithese zum geschäftsorientierten, materialistischen, in der Gegenwart lebenden Norden aus, ohne auf den Mythos des Alten Südens rekurrieren zu müssen. Gewissermaßen war hier die Faszination mit einer alten, für die Vergangenheit stehenden Aristokratie sogar für den nordstaatlichen Republikaner politisch korrekt. In dieser identitätsstiftenden Funktion wirkte der Creole myth jedoch ebenso sehr nach innen, und er sollte nicht nur die Fremdwahrnehmung der Stadt – und damit Investoren und Touristen – beeinflussen. Dem Creole myth kam auch die Funktion zu, über den Erhalt der baulichen Struktur des French Quarter die community identity zu stärken – was sich an dem permanenten Appell der Denkmalschützer an den »civic pride« der New Orleanians ablesen lässt. Gleichzeitig trug das Bild der alten Aristokratie dazu bei, distinkte Identitäten innerhalb der New Orleanians zu schaffen. So waren die preservationists bemüht, selbst an diese edle französisch-spanische Gesellschaft anzuknüpfen: »From preservationists’ point of view, the decay of the structures within the district came to symbolize the ruins of a gracious French culture, a society to which promi38 | Stanonis, Creating the Big Easy, 152. 39 | Ebd., 148.

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nent New Orleanians sought to tie themselves via genealogy or the preservation movement«40, fasst der Historiker Anthony Stanonis die Bemühungen der Aktivisten zusammen. Wenn sie sich schon nicht als Nachfahren der edlen Kreolen ausweisen konnten, so galt es zumindest, sich durch das Engagement für das French Quarter, oder besser gesagt: für ein bestimmtes Bild des French Quarter, in die Tradition dieser sagenumwobenen Aristokraten zu stellen. Damit konnten sich die Denkmalschützer letztlich selbst zum Hüter des kulturellen Grals von New Orleans stilisieren und ihre eigene gesellschaftliche Stellung sichern. Die Kulturelite von New Orleans – Architekten, Architekturund Kunstprofessoren, Journalisten, gebildete Frauen – sahen offenbar im Denkmalschutz die Möglichkeit, nicht nur eine bestimmte Außenwirkung der Stadt zu erreichen und den Stolz der Bürger auf ihre Stadt zu wecken, sondern auch, ihre eigene Identität in Abgrenzung zu den business-Eliten schärfer zu konturieren. Wenn sie bestimmen konnten, was New Orleans war, also etwa eine alte Stadt edler Aristokraten in der Tradition der Alten Welt, und nicht eine der vielen aufstrebenden Städte des Neuen Südens, dann bedeutete das, dass sie die Deutungshoheit über die Stadt innehatten – und darüber hinaus die Experten in einem für die Identität der Stadt sehr zentralen Bereich waren, nämlich dem ihrer Vergangenheit und deren visueller Erscheinung im öffentlichen Raum. Anders als die in ihren Augen zu stark modernisierende Association of Commerce identifizierten sie sich selbst mit Traditionsbewusstsein und Kulturkenntnis. Der Fotograf Arnold Genthe brachte den Anspruch dieser Elite in seinem Vieux Carré-Bildband 1926 zum Ausdruck: »For much of the real picture-material lies hidden under the ugliness superimposed upon it by modern utilitarian life, just as in an ancient palimpsest a beautiful poem is barely legible under a later superinscribed vulgar text.«41 Wer den Wert der alten Architektur zu schätzen wusste, der hatte die Fähigkeit, Kunst zu erkennen. Letztlich ging es daher in den Debatten um das Gesicht der Stadt auch um das Selbstverständnis und die Selbstbehauptung einer kulturellen Elite, die sich hier den Anstrich europäischer Kultiviertheit zu geben und von der business community abzugrenzen suchten. Nicht nur bei letzterer stieß das Bild der old-world city dementsprechend auf Skepsis. Ähnlich wie das Bild der südlichen Stadt konnte auch das der Stadt der Alten Welt ins Negative kippen – ebenfalls aufgrund seiner möglichen Assoziation mit Rückständigkeit, was den urban boosters von New Orleans zuwiderlief. »Below Canal street everything is stamped with old world and old-time ideas. In the old book stores of French town one lives in the intellectual atmosphere of eighteenth century France […]«, befand die Daily Picayune 1893. Allzu stark solle man sich nicht in das seltsame Leben dieses Distrikts einmischen, das 40 | Ebd., 148-49. 41 | Genthe, Impressions, 28.

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von den »customs and traditions and superstitions of the past« überschattet würde, so dass der Besucher »feels the chill and dampness which clings alike to old buildings and old dogmas.«42 Die Stadt der Alten Welt war somit nicht nur mit kultivierter Aristokratie konnotiert, sondern auch mit der vordemokratischen Gesellschaftsordnung und dem Katholizismus des vorrevolutionären Frankreich, kurz, mit unamerikanischen Werten und Rückständigkeit. Ob südlich oder old-world, beide Merkmale einer Identität von New Orleans waren mit gleichermaßen ambivalenten Konnotationen verbunden.

»L ATIN CIT Y« Während das Bild der Kreolen als besonders kultiviert und traditionsgebunden auf ihrer vermeintlichen Nähe zur europäischen Aristokratie eines längst vergangenen Zeitalters beruhte, führte ihre spezifisch französische und spanische Herkunft zu einem anderen Bild, das ebenfalls dazu diente, die Fremdheit von New Orleans besser fassen zu können: Das Bild der Latin city. Dieses Bild ergänzte den Creole myth um neue Aspekte, die bisweilen sogar im Widerspruch zum Bild des noblen Aristokraten stehen konnten. Aufgrund ihrer Herkunft aus romanischen Ländern sprach man den Kreolen »latin blood«43 zu, was dem French Quarter – und damit letztlich New Orleans – eine »latin quality«44 verlieh. Der Begriff Latin wurde selten allein verwendet, sondern meist als Gegenpol zu Anglo-Saxon verstanden. Wie das Aristokratische auch, transportierte Latin eine ganz bestimmte Bedeutung. Geradezu sprichwörtlich war die Latin gaiety. In den Reiseführern wurde New Orleans als community angepriesen, »wherein reigns a Latin gayety [sic!] and hey-day to which Anglo-Saxon gravity has not been wholly proof. Where indeed, no sumptuary restrictions stint the flow of social enjoyment; whence the saying accepted very much at large, that ›New Orleans is the liveliest and freest city in the Land‹.«45 Die Latin Fröhlichkeit erschien als kulturelles Merkmal, das im Gegensatz zu angelsächsischer Ernsthaftigkeit stand. Mit dem Frohsinn verband sich Sinn für Feiern, Genuss und Vergnügen ebenso wie ein lebhaftes Temperament.46 Diesen Latin Charakter führten die Beobachter um 1900 auf 42 | »Progressive New Orleans«, in: Daily Picayune, 27.2.1893. 43 | Hearn, Creole Sketches, 145. 44 | New Orleans City Guide, xx-xxi. 45 | Engelhardt (ed.), New Orleans, 14. 46 | Damit entsprachen die Kommentare über New Orleans den Annahmen der zeitgenössischen Anthropologie, die unterschiedliche ›Rassen‹ nach distinktiven Charakterzügen klassifizierte. Vgl. Micaela di Leonardo, Exotics at Home: Anthropologies, Others, and American Modernity (Chicago: University of Chicago Press, 1998), 194-95.

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die französische Kolonialzeit zurück und verschmolzen ihn mit den aristokratischen Aspekten des Creole myth. Der offizielle Bericht über die Amtszeit des Bürgermeisters Martin Behrman betonte: »Here the French Creoles were born, and lived a wild, valorous and unrestrained life.«47 Die Kreolen waren nicht nur tapfer, sondern auch zügellos und wild. New Orleans, so der in den 1930er Jahren publizierte Reiseführer der Works Progress Administration, galt in alten Zeiten als Stadt des Tanzes, des Trinkens und des Spiels, in der bei Ehrverletzungen sofort Pistolen und Schwerter zum Einsatz kamen.48 Die Vorstellungen von den Vergnügungen des kolonialen Lebens der Franzosen in der neuen Welt wirkten offenbar bis in die Gegenwart nach. »It was they [the French] that inaugurated the pleasant New Orleans custom of enjoying life«49 , bemerkte Grace King in ihrer Einleitung zu Arnold Genthes Bildband über das French Quarter. Das Genießerische des kreolischen Lebens klang auch in der Beschreibung seines Blicks in ein kreolisches Haus durch Lafcadio Hearn an, in der nicht nur der europäisch-aristokratische, kultivierte und traditionsgebundene Charakter der Bewohner zum Ausdruck kam. So waren die Stimmen, die Hearn zu hören vermeinte, »musical«, das Zimmer wurde von einem Schaukelstuhl geschmückt, Flaschen mit gutem Bordeaux standen auf dem Tisch und es roch nach »rich West India tobacco.«50 Die Kreolen, so suggerierte das Latin Bild, wüssten, wie man es sich gut gehen lässt. Allerdings blieb dieses Bild nicht auf die Kreolen beschränkt. Im New Orleans der Gegenwart, so die weitverbreitete Diagnose im späten 19. und frühen 20. Jh.s, hätten sich die beiden Charaktere, das fröhliche Latin und das ernsthafte Anglo-Saxon, vermischt51 – und das zum Positiven. In dieser einzigartigen Mischung sah man die Wurzeln einer typischen New Orleanser Kultur. »As a community we are a blend of Latin and ›Anglo-Saxon‹-Teuton, if you will. Into our habits and our language have gone the effects of each element. We have a dash of the gaiety and insouciance of the Latin, the desire to lay aside dull care for a season every year, to be expansively hospitable, to set forth games and shows for the multitude, and to pose a bit in the process as Le Grand Seigneur – or, if we cannot do the posing, vast numbers of us are willing to enter the procession of followers and traipse about the streets to gape at gas-light magnificence of a night, or sit in the top galleries of the French Opera and watch other people revel. Likewise, we have the stolid purposeful-

47 | Martin Behrman Administration Biography, 10. 48 | New Orleans City Guide, 18-19. 49 | Genthe, Impressions, 14. 50 | Hearn, Creole Sketches, 79-81. 51 | Vgl. Engelhardt (ed.), New Orleans, 14.

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ness, the shrewd canniness of the various types of Teuto-Celt that made up the original ›American‹ strains that moved down to New Orleans in various years« 52,

erläuterte ein Artikel im Item 1916. »Latin« und »Anglo-Saxon-Teuton«, Feierlaune und Zielorientierung, Luxusbedürfnis und Sparsamkeit träfen sich im New Orleanser Charakter in perfekter Ausbalancierung. Bemerkenswert ist, dass die Kultur des Feierns hier eindeutig als spezifisch karnevaleske Kultur gekennzeichnet wurde, die auf dem Vorspiegeln und Posieren, auf Parade und Prozession, auf Inszenierung und Betrachtung von Spektakel beruhte – eine Kultur, für die New Orleans heute noch berühmt ist und die im kollektiven Bewusstsein eng mit dem Latin Charakter der Stadt verknüpft war und ist. Der Item stand nicht allein in dieser Analyse. Der »more cold, formal and phlegmatic American of Anglo-Saxon descent« brauche dringend die in New Orleans deutlich sichtbare Lebhaftigkeit des »old French, Spanish and Portuguese spirit«, um die »good qualities of his less vivacious nature« zu ergänzen, befand auch die Architektenzeitschrift von New Orleans 1912.53 Selbst Reisende nahmen das so wahr. Der französische Schriftsteller Jules Huret berichtete im Pariser Figaro über seine Reise durch die USA; seine Berichte wurden in der New York World übersetzt abgedruckt und vom Item 1903 in Teilen übernommen. In New Orleans hatte sich der Schriftsteller sehr wohl gefühlt: »Here, at last, I have been thankful to find the Anglo-Saxon coldness melted by mixture with the Latin race.«54 Was den Charakter seiner Bevölkerung anging, so das allgemeine Fazit, habe New Orleans folglich das Beste von beiden Welten erhalten. »The buoyant characteristics of her populace, a blending of the Latin and Saxon peoples, has doubtless had much to do with the city’s rapid recovery from recurring calamities; certainly pluck and indomitable energy have, time and again, been well illustrated in the conduct of her citizens after great reverses.«55 Nicht nur die Festkultur der Stadt, auch die Fähigkeit der Crescent City, politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen ebenso wie Naturkatastrophen zu trotzen, wurde auf die Herkunft ihrer Bürger zurückgeführt. Das Fremde von New Orleans, verstanden als Ausdruck des Einflusses von »Latin blood«, war insofern ein attraktives Alleinstellungsmerkmal von New Orleans. Die Crescent City wurde nicht nur von einer kultivierten, aristokratischen Gesellschaft bevölkert, sondern, so das gängige Bild, auch von einer besonders fröhlichen, warmherzigen und feierlustigen. New Orleans reklamierte für sich 52 | »Quaint and queer – and busy«, in: Item, 7.3.1916. 53 | »New Orleans, the Beautiful«, in: Architectural Art and Its Allies, 7:8 (Feb. 1912), 5. 54 | »Four Cities«, in: Daily Picayune, 29.10.1903. Seine Reiseberichte erschienen später gesammelt: Jules Huret, En Amérique: De New-York à la Nouvelle-Orléans (Paris: Bibliothèque Charpentier, 1904). 55 | Morrison, New Orleans, 70.

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eine nennenswerte Latin Kultur, die keine andere amerikanische Stadt aufweisen konnte – zumal diese offenbar nicht nur auf die Kreolen beschränkt blieb, sondern, wie viele Beobachter meinten, durch den Mix mit den Anglo-Saxons bei allen New Orleanians das perfekte Maß an Lebenslust erreicht hatte, ohne, wie die kolonialen Kreolen, in ein Übermaß an Vergnügungssucht abzugleiten. Auf der Suche nach der Einmaligkeit von New Orleans stellte diese Hybridität der Gesellschaft eine Trumpfkarte dar, die, wie auch das Bild des aristokratischen Kreolen, sowohl nach außen, als auch nach innen attraktiv und identitätsstiftend wirkte. Und so schließt sich abermals der Kreis zu jenen Versuchen, den Charakter von New Orleans über seine Südlichkeit zu begreifen. Während das Bild der alten Aristokraten des Creole myth an die mythische Gesellschaft des Antebellumsüdens anknüpfte, bewegte sich das Bild der Latin Kultur im selben Diskurs wie die Versuche, New Orleans über das südliche Klima zu fassen. Feierlust und Warmherzigkeit, Genießertum, Fröhlichkeit und Lebhaftigkeit waren Zuschreibungen, die sowohl als spezifisch Latin, als auch als südlich galten. Dass man so bemüht war, diese Aspekte der Fremdheit von New Orleans, die vielen Besuchern auffielen, als besonders positiv und den Latin Einfluss als Segen darzustellen, hat mit dem schmalen Grat zu tun, auf dem die Zuschreibungen zu einem Latin Charakter wandelten. Wie die Attribute der Südlichkeit und der old-world city auch, konnte die Zuschreibung des Latin sehr leicht ins Negative kippen. Zwischen der Fähigkeit, genießen zu können, und verschwenderischem Luxus lag nicht viel Spielraum, ebenso wenig wie zwischen Warmherzigkeit und der Unfähigkeit, kühl und klar Geschäfte zu machen oder zwischen Feierlaune und Faulheit. Nicht nur von außen drohte diese Wahrnehmung. Auch jene New Orleanians, die gegen alles Alte wetterten, weil es Stagnation und Rückständigkeit bedeute, die befürchteten, Südlichkeit könne mit Faulheit assoziiert werden, also vor allem die Mitglieder der business community, wehrten sich gegen ein Bild ihrer Stadt, das Attribute glorifizierte, die dem Unternehmergeist des Neuen Südens zuwiderliefen. »In the Association of Commerce’s ideal business climate, only a thin conceptual line separated leisure from laziness«56, fasst Stanonis dieses Problem treffend zusammen – und nicht nur die Association of Commerce bewegte sich in einem Diskurs, der Latin mit Faulheit assoziierte. Bereits Coleman beschrieb eine typische Straßenszene des Vieux Carré so, dass dem Leser die Welt des French Quarter als Welt des galanten Nichtstuns von herumhängenden Nichtsnutzen erscheinen musste: »Groups of men chattering over their cigarettes interfere with pedestrians in the alley, and stare with Gallic curiosity and gallantry after every petticoated individual that passes.«57

56 | Stanonis, Creating the Big Easy, 34. 57 | Coleman (ed.), Historical Sketchbook, 149.

IV. Fremde Stadt

Ebenso konnte Latin allzu fremd, allzu un-amerikanisch wirken – gerade wenn die Stadt als von einer hybriden Kultur geprägt erschien, traf das ja die gesamte community. Denn während latin meist als Gegensatz zu Anglo-Saxon stand, wurde der Begriff jedoch oft auch explizit als Opposition zu American gesehen. Dabei handelte es sich offenbar um den Blickwinkel von Americans angelsächsischer Herkunft. Allein die Gleichsetzung von American mit Anglo-Saxon spricht Bände über die Annahmen, die dieser Opposition unterlagen. American war in dieser Perspektive ein exklusiver Begriff, der auf einer bestimmten ethnischen Herkunft beruhte, und nicht etwa auf der Geburt in amerikanischem Territorium; diese Dichotomie sprach den Kreolen implizit das Amerikanersein ab. Charles Dudley Warner gehörte zu denen, die die unterschiedlichen Kulturen in der Opposition Creole vs. American zu fassen suchte. »The American element itself is toned down by the climate and the contagion of the leisurely habits of the Creoles, and loses something of the sharpness and excitability exhibited by business men in all Northern cities«58, beschrieb er die Bevölkerung der Crescent City. Damit griff er einen Topos auf, der die Zeit zwischen dem Erwerb Louisianas durch die USA 1803 und dem Bürgerkrieg geprägt hatte. In dieser Zeit war die dominierende Konfliktlinie innerhalb der New Orleanser Gesellschaft die zwischen den alteingesessenen Kreolen und den neu zugezogenen Amerikanern, eine Konfliktlinie, die jedoch aufgrund der neuen gesellschaftlichen Konfigurationen nach dem Bürgerkrieg ihre politische Wirkmacht verlor. Die zunehmende Integration der Kreolen in die zunächst noch als kolonisierend empfundene amerikanische Gesellschaft in den letzten Dekaden des 19. Jh.s sowie der damit einhergehende Fokus auf race als dominierende gesellschaftspolitische Bruchlinie führte dazu, dass die binäre Opposition Creoles vs. Americans als politisch relevante Machtstruktur obsolet wurde.59 Bis ins frühe 20. Jh. hinein wurde die Gesellschaft von New Orleans dennoch immer wieder mit dieser Opposition beschrieben; mehr noch als die Opposition Latin vs. Anglo-Saxon drückte sie aus, als wie fremd die Kultur der Kreolen auch um 1900 noch wahrgenommen wurde. Das feiernde, fröhliche und lebhafte Temperament von New Orleans schien nicht zum Selbstbild des angelsächsischen Amerikas zu passen und schien vor allem für die businessmen von New Orleans nicht sehr vorteilhaft, um ihre Stadt als Industrie- und Handelszentrum eines Neuen Südens zu positionieren. Die Negativkonnotationen von Latin waren weit verbreitet. Selbst jene, die den Latin Aspekt von New Orleans wertschätzten, also jene Schriftsteller und Denkmalschützer, jene Frauengruppen und Architekten, die an der Besonderheit von New Orleans bastelten, waren von den negativen Merkmalen überzeugt – weshalb ja New Orleans auch als perfekter Mix, nicht aber als reine Latin city dargestellt wur58 | Warner, »New Orleans«, 192. 59 | Ausgezeichnet dazu Tregle, »Creoles and Americans«, 131-85.

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de. 1880 veröffentlichte der Schriftsteller und Kreolen-Fan Lafcadio Hearn im Item einen Artikel über Latin und Anglo-Saxon, in welchem er sich mit den zeitgenössischen Befürchtungen frankokanadischer Zeitungen auseinandersetzte, von Anglo-Saxons überrollt zu werden. Im Vergleich zu den Kreolen Louisianas erschienen ihm die French Canadians allerdings frei von Absorptionssorgen, da sie zu den »most thrifty, energetic, and enterprising pioneers in the world« gehören würden, mehr als alle anderen mit »Latin blood«, was er wiederum auf die stärkende Funktion des kanadischen Klimas zurückführte.60 »As we near the tropics decay becomes more rapid – not only material decay of substance, but decay of social conditions and institutions as well.«61 Da sie »semitropicalized«62 seien, seien die Kreolen weniger fähig, der Absorption zu widerstehen, als die Frankokanadier. Klima- und Gesellschaftsperzeptionen verschmolzen zu einer fatalistischen Untergangsvision; paradoxerweise schien gerade die typische New Orleanser Südlichkeit in Hearns Augen der typischen New Orleanser Latin Kultur den Todesstoß zu versetzen. Seinem Artikel allerdings merkt man an, dass er dies bedauerte. Wie für viele andere New Orleanians auch, standen die positiven Aspekte für ihn im Vordergrund. Die Chamber of Commerce hingegen bemühte sich, nach außen diese negativen Aspekte offiziell dem ›fremden Element‹ zuzuschreiben und damit eine desaströse Außenwirkung der Stadt zu vermeiden. »[…] Its Creole and alien infusion notwithstanding, it [New Orleans] is an American city, in its bright side and nightside much like the rest. With its share of orderly, industrious and thrifty people; enterprising business men; of wealth, cultivation, honor and good morals and HOME PRIDE. Yes, essentially American notwithstanding its foreign complexion.« 63

Trotz ihres fremden Aussehens sollte der Besucher oder mögliche Investor das Amerikanische der Crescent City erkennen: Das Ordentliche, Fleißige, Unternehmerische, das mit Wohlstand, Ehre und Moral einherging – und nicht mit auf der Straße Zigaretten rauchenden, Schwätzchen haltenden und Frauen hinterherschauenden Männern, die sich offenbar nur den vergnüglichen Seiten des Lebens hingaben. In den Beschreibungen von New Orleans als fremd, als Latin und old-world, finden sich folglich genau jene gegensätzlichen Positionen wieder, die im Ringen um die Identität der Crescent City auch schon das Südliche und das Alte unterschiedlich bewerteten. Sämtliche Annäherungsversuche an die Identität 60 | Hearn, Creole Sketches, 145. 61 | Ebd., 146. 62 | Ebd. 63 | Chamber of Commerce and Industry of Louisiana (ed.), The City of New Orleans, 8.

IV. Fremde Stadt

von New Orleans, sei es über das Klima, über dessen Zähmung, über das Alter oder die Fremdheit der Stadt, erscheinen wie Variationen eines Themas. Diejenigen, die das Südliche in seiner alten Form guthießen, weil es den einmaligen old-world und Latin Charakter von New Orleans ausdrückte und so zur uniqueness der Stadt beitrug, strebten nach einem Bild ihrer Stadt, das deren Individualität in den Vordergrund rückte. Sie waren bereit, Altes und Fremdes zu schützen, weil es typisch war. Dies stand dem Leitbild der Modernität entgegen, das für den Ausdruck von Südlichkeit nur neue Formen vorsah – die Markisen statt der Balkone – und sowohl mit southern als auch mit ›alt‹, old-world und Latin Eigenschaften konnotierte, die vielleicht individuell, aber nicht erstrebenswert waren, da sie nicht als modern galten. Indem die ›Fremdheit‹ als individuelle Komponente von New Orleans hinzukam, offenbarte sich das Leitbild der Modernität letztlich auch als Leitbild der Amerikanität. Das Fremde wurde zwar mit dem Alten, Südlichen, Rückständigen assoziiert und damit dem Modernen entgegengesetzt, galt aber gleichzeitig als Antithese zum Amerikanischen. Im Kontext der Debatten um das St. Louis Hotel forderte E. J. Sammons, ein nach New Orleans gezogener Unternehmer, in einem prägnanten Leserbrief an den Herausgeber des Item die New Orleanians auf, die für ihn unsinnige Beschäftigung mit der Vergangenheit zugunsten von amerikanischem »pep« aufzugeben und die uniqueness dem »enterprise« zu opfern: Jackson Square zu bewahren, reiche vollkommen aus, meinte Sammons: »The rest of the 196 miles comprising the city of New Orleans should be given over to solid latter-day enterprise and good old American ›pep‹.« […] Pray tell a comparative stranger in your midst why the people of New Orleans cling so tenderly to their ancient, gangrened, dilapidated and highly insanitary buildings in the far-famed ›Vieux Carre‹. […] Is it not far better to get rid of the ›old St. Louis hotel‹, and the rest of those eyesores ›below‹ Canal street, than to permit them to stand until they fall on someone? What good are they doing for the City of New Orleans today? […] Instead of having beneficent fires, we have been willed ›hysterical‹ societies, willing to go to any extreme, in order that the ›past‹ may be preserved. New Orleans does not want to remember her past. […] I have often heard it said that New Orleans is unique among American cities. After five years residence here I am willing to subscribe to those sentiments. I came here, however, to make a living – not to hear and see relics of the past. But for heaven’s sake let’s forget the days of Bienville, O’Reilly and the rest, and bend our efforts towards getting somewhere.« 64

»Getting somewhere« war so ein Synonym zu in die Zukunft gerichtetem amerikanischen Unternehmergeist, der der Obsession mit der Vergangenheit, dem aristokratischen Fokus auf die Vorfahren und der Suche nach der Besonderheit der 64 | »Save the Square! Let Rest of Old Town Go«, Letter to the Editor, in: Item, 19.3.1916.

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Stadt entgegenstand. Die temporale Opposition verschmolz mit der kulturellen zu einer normativen Opposition, die das Leitbild der Individualität dem des Modernseins und Amerikanerseins gegenüberstellte – zumindest in den Augen jener, die mit den denkmalschützerischen Bestrebungen nichts anfangen konnten. Für die anderen stellte diese Opposition gar keine Opposition dar. New Orleans war amerikanisch und modern, und zusätzlich noch fremd und alt. Es verwundert jedoch nicht, dass die positiven Darstellungen des Latin character immer verbunden waren mit der Klarstellung, dass New Orleans nichtsdestotrotz eine amerikanische Stadt war. So wie ein Artikel des Item im Kontext des Balkonstreits von 1914 darauf hinwies, dass man nicht notwendigerweise modern aussehen müsse, um modern zu sein65, so müsse sich die Stadt nicht durchweg amerikanisch geben, um amerikanisch zu sein. Ihr fremdes Aussehen und ihre fremden Traditionen würden für die Crescent City eher ein zusätzliches Auszeichnungsmerkmal darstellen, das ihrem Amerikanischsein keinen Abbruch tat: »But in all the evolution which our city has undergone through all the years that have elapsed since French and Spanish control came to an end, and New Orleans became an American city of the great American Republic, it has retained and maintained many of its ancient peculiarities, and what is most remarkable, the American additions to the population take as much interest in maintaining some of these peculiarities as do the descendants of the ancient French and Spaniards. Chief among these relics of the past are the Carnival and the opera. They are the pride as much of the Anglo-Saxon population as of the citizens of the ancient Latin blood.« 66

Der Artikel in der wichtigsten Tageszeitung der Stadt betonte die innere Harmonie der community und suggerierte nach außen hin Einigkeit hinter den Traditionen jener New Orleanians mit »Latin blood«. Altes (»relics of the past«) verschmolz damit mit Tradition (»ancient peculiarities«), Alte Welt (»French and Spaniards«), »Latin blood«, Kulturbewusstsein (»opera«) und Festkultur (»Carnival«) verbanden sich zu einem Amalgam, das die Besonderheit von New Orleans, der fremden amerikanischen Stadt, ausmachte.

E XOTISCHE S TADT In einem Zeitalter des ansteigenden Nationalismus seit den 1880er Jahren, in dem sich Amerika auch im kulturellen Bereich verstärkt auf sich selbst konzentrierte und weniger an den Formen und Traditionen der Alten Welt orientierte –

65 | »A definition and an endorsement«, in: Item, 8.5.1914. 66 | »The Inspiration of the Carnival«, in: Daily Picayune, 14.2.1893.

IV. Fremde Stadt

dem sprichwörtlichen Zeitalter der »Amerikanisierung Amerikas«67 –, mutet es seltsam an, dass sich führende Gruppen einer amerikanischen Stadt mit fremden Wurzeln identifizierten, sich an die Alte Welt banden und das Latin blood der eigenen Bevölkerung als Trumpfkarte zogen.68 Das späte 19. Jh. und das frühe 20. Jh. waren in den Vereinigten Staaten von einer zunehmenden Selbstreflexion gekennzeichnet. Mit dem spanisch-amerikanischen Krieg von 1898 betrat die noch junge Nation die Weltbühne. Aus dem imperialen Engagement und dem neuen Status als Kolonialmacht resultierten interne Debatten über die eigene Rolle in der Welt, die eng an die Frage nach dem Selbstverständnis der USA geknüpft waren. Auch die Einwanderungswellen des späten 19. Jh.s trugen zu dieser Selbstreflexion bei. Die Präsenz einer Vielzahl von Immigranten, die möglicherweise andere Loyalitäten außer zu ihrer neuen Heimat pflegten, führte zu massiven Identitätsdiskussionen.69 Was war amerikanisch, wer war amerikanisch, und wie konnte die Einheit der Nation gewährleistet bleiben? Im Kontext sozialdarwinistischen Gedankenguts band eine Antwort auf diese Fragen die nationale Identität an die Überzeugung, dass die »Anglo-Saxon race« allen anderen überlegen sei, eine Theorie, wie sie etwa der Historiker John Fiske vertrat.70 ›Amerikanisch‹ und white Anglo-Saxon protestant wurden damit zu austauschbaren Begriffen, was nicht nur Rassismus gegenüber African-Americans implizierte, sondern auch Diskriminierungen gegenüber ethnischen Minderheiten und Katholiken. Letztlich führte dieses Verständnis einerseits zur restriktiven Einwanderungspolitik des frühen 20. Jh.s, andererseits zu einem selbstbewussten imperialistischen Gebaren in der Welt. Eine andere Antwort auf die Frage nach der amerikanischen Identität gab der Historiker Frederick Jackson Turner 1893 in seiner Rede »The Significance of the Frontier in American History«, die er anlässlich der Weltausstellung in Chicago vor der American Historical Association hielt. Turners berühmte frontier thesis verortete die Merkmale des amerikanischen Charakters – seiner Ansicht nach: Demokratiebewusstsein, Individualismus, Freiheitsliebe – nicht in der Herkunft der Amerikaner, sondern in deren Auseinandersetzung mit der amerikanischen Umwelt, vor allem als Pioniere in der Besiedlung des Westens. Der Kern dieser These beläuft sich folglich darauf, dass all jene, die sich auf dem amerikanischen Boden zurechtfinden und ein Leben in der Neuen Welt meistern, einen wahrhaft amerikanischen Charakter entwickeln würden. Diese Antwort auf die Frage des nationalen Selbstverständnisses schuf letztlich Raum für 67 | Begriff nach Hochgeschwender, Amerikanische Religion, 148-49. 68 | Vgl. Kammen, Mystic Chords, 175: Im Kontext des »nascent nationalism« entwikkelte sich die Wertschätzung von »old world traditions« hin zu einer Präferenz amerikanischer Kultur zwischen 1870 und 1915. 69 | Vgl. ebd., 239. 70 | Vgl. ebd.

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die Integration von Einwanderern, denen so eine doppelte Loyalität ermöglicht wurde. Aber auch in der Retrospektive waren in dieser Logik die französischen und spanischen Siedler sowie ihre Nachfahren nicht weniger amerikanisch als jene angelsächsischer Abstammung, da sie sich mit der ›Wildnis‹ des neuen Kontinents gleichermaßen erfolgreich auseinandergesetzt hatten. Auch im engeren kulturellen Sinn hatten diese Selbstreflexionen Konsequenzen. Eine endgültige Loslösung von Europa und selbstbewusste Behauptung auf der Weltbühne sowie die Suche nach dem amerikanischen Charakter spiegelten sich in einer Abkehr von europäischen Mustern in den Künsten. In der Architektur dominierten zwar noch die europäischen Neo-Stile des Historismus und Eklektizismus, aber Architekten wie Louis Henry Sullivan begannen, nach einem eigenen Stil für spezifische, amerikanische Bauformen eines neuen Jahrhunderts zu suchen.71 Sullivans 1896 erschienener Artikel »The Tall Office Building Artistically Considered« kann dafür exemplarisch stehen. In diesem Artikel prägte er die in der Architektur der Moderne vielzitierte (und oft missverstandene) Formel des form follows function, die letztlich dem Postulat einer organischen Entwicklung architektonischer Form aus der Funktion heraus gleichkam – und damit aus dem jeweiligen Kontext. Nur wenn dieser berücksichtigt werde, könne eine wahrhaft amerikanische Architektursprache entstehen.72 Gleichzeitig mit diesem zukunftsorientierten Entwurf Sullivans begann, wie oben erläutert, der Denkmalschutz, sich zaghaft in den USA bemerkbar zu machen – historische Formen galten fortan nur etwas, sofern sie an bestimmte Momente der amerikanischen Geschichte geknüpft waren. Auch wenn sie aus Europa importiert waren, standen sie doch für eine frühe amerikanische Geschichte, die gerade die Abkehr von Europa symbolisierte; sowohl die Bewahrung alter Bauwerke als auch die Errichtung neuer Hochhäuser gründete auf demselben Boden, wenngleich mit unterschiedlichem Akzent. Mit dem verstärkten Nationalismus wurde die amerikanische Zukunft wichtig, aber auch die Geschichte, sofern es die war, die man als die ureigene empfand. Kreolische Geschichte musste also amerikanische Geschichte sein, um überhaupt als identitätsstiftendes Narrativ dienen zu können, und sie konnte amerikanische Geschichte sein, wenn man sich im weiteren Kontext der frontier-These bewegte. Die immer wiederkehrende, weitverbreitete und positiv gemeinte Betonung des fremden Charakters von New Orleans nicht nur durch Besucher, sondern durch Einheimische, verwundert dennoch. Bei aller Suche nach einem Alleinstellungsmerkmal der Stadt bleibt es rätselhaft, warum die New Orleanians, die die Individualität der Crescent City zu profilieren suchten, gerade die Fremdheit ihrer Stadt propagierten, führte das doch dazu, dass sie immer auch explizit 71 | Vgl. ebd., 169. 72 | Louis Henry Sullivan, »The Tall Office Building Artistically Considered«, in: Lippincott’s Magazine 57 (March 1896), 403-09.

IV. Fremde Stadt

betonen mussten, wie amerikanisch New Orleans sei. Wie kamen einige New Orleanians auf die Idee, die sichtbare Fremdheit ihrer Stadt zum Distinktionsmerkmal zu erheben? Dass sie damit nur den möglichen negativen Konnotationen entgegentreten wollten, ist keine ausreichende Erklärung: Zu sehr war die Koalition der preservationists in den französischen und spanischen Charakter ihrer Stadt verliebt.73 So wie das Phänomen der Nostalgie einen Kontext bereitstellte, der die Umwertung des Alten verständlich machte, kann das Konzept der Exotik einen Kontext für die Attraktivität des Fremden liefern. New Orleans als exotische Stadt zu begreifen, lieferte einen festgefügten Verständnisrahmen, innerhalb dessen das Latin- und old world-Flair der Stadt nicht nur attraktiv schien, sondern der gleichzeitig auch die Americanness sowie die kulturelle Raffinesse des Betrachters bestätigte. Wenngleich die Zeitgenossen das New Orleans des späten 19. und frühen 20. Jh.s nicht explizit als exotisch bezeichneten, so entstammten doch die Topoi der Fremdheit, mit denen die Crescent City beschrieben wurde, dem Diskurs des Exotismus, der im 19. Jh. in Europa seine Blütephase erreichte. Unter Exotismus wird dabei die Faszination mit dem Exotischen verstanden, wie es in Europa definiert wurde. Das Exotische galt als das Andere und Fremde par excellence, dessen Charme man nicht widerstehen könne; es war insofern die anziehende Seite des Fremden, die romantisiert wurde. Dies setzte eine Stereotypisierung voraus, die dem Fremden ganz spezifische Merkmale zuwies, welche als binäre Opposition zu den Bildern vom Eigenen konstruiert wurden. Der Exotismus entstand im Kontext des von Europa ausgehenden Kolonialismus seit dem 17. Jh. und boomte zusammen mit diesem im 19. Jh. Vor allem die Kulturen Afrikas, Asiens und Südamerikas wurden zum Objekt exotischer Faszination, die sich auf ferne, fremde Länder kaprizierte.74 Als grundlegendes Differenzmerkmal wirkte die andere Rasse der fremden Völker, aber auch ethnische und kulturelle Differenzen machten ferne Länder zu Objekten der Romantisierung.75 Indem er darauf beruhte, eine Dichotomie zwischen dem Fremden und dem Eigenen zu konstruieren, wirkte der Exotismus normierend. Das Fremde galt als das Andere, das von der Norm abwich. Als eurozentristische Vision diente der Exotismus auch als Legitimationsstrategie des kolonialen Projekts: Negative Stereotypen, die mit dem Anderen verbunden waren, machten eine Beherrschung dieser Kulturen notwendig und suggerierten die eigene Überlegenheit. Positive Stereotypen, wie sie durch den 73 | Etwa »A Question of Architecture«, in: Architectural Art and Its Allies, 8:4 (Oct. 1912), 20. 74 | Vgl. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (Stuttgart: J. B. Metzler, 1998), s.v. »Exotismus«. 75 | Kamala Kempadoo, »Gender, Race, and Sex: Exoticism in the Caribbean«, www. desafio.ufba.br/gt5-003.html, Stand 8.4.2011.

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Exotismus hervorgehoben wurden, fungierten zwar als Korrektiv für das Eigene, führten letztlich indirekt aber auch zur Beherrschung der fremden Kulturen durch ihre Vereinnahmung. Exotische Kulturen wurden zum Objekt der Betrachtung, das man konsumieren konnte. Während der Exotismus die anderen und fernen Kulturen einerseits überhöhte, wies er ihnen andererseits durch ihre Kommodifizierung einen niedrigeren Status zu.76 Dabei war der Grat zwischen Faszination und Verachtung schmal, denn das Exotische war letztlich eine Projektionsfläche für westliche Fantasien und Sehnsüchte, die den Bildern des Eigenen entgegenstanden. Das ›verbotene Eigene‹ war es oft, das als Hauptzuschreibung des Exotischen dessen Faszination ausmachte.77 Eine bekannte Ausdrucksweise fand der Exotismus in der französischen Malerei des späten 19. Jh.s, wie sie etwa Paul Gauguin verkörperte. Seine Aufenthalte in Tahiti und die dort gemalten Bilder zeugen von einer Faszination mit dem vermeintlich primitiven, ursprünglichen Leben der dortigen Bewohner. Authentizität war eine der Zuschreibungen zu exotischen Kulturen, die in den der Industrialisierung unterworfenen westlichen Ländern besondere Anziehungskraft entfaltete. Aber auch andere Stereotype gehörten klassischerweise zum Topos des Exotischen, ganz gleich auf welche Länder sich die Faszination richtete. Eine Form des Exotismus war der Orientalismus.78 Verstanden als romantisierender Diskurs des ›Okzidents‹ über den ›Orient‹, also westlicher Länder über den Nahen und Fernen Osten, transportierte der Orientalismus ganz bestimmte Bilder, die allerdings denen anderer ferner Länder ähnelten. Eine gewisse Form der Ursprünglichkeit ging in diesen Bildern Hand in Hand mit einer Disposition zu Irrationalität und Sinnlichkeit, weshalb der ›Orient‹ als feminin galt.79 Dekadenz und Korruption waren oftmals die Negativzuschreibungen, die diese romantisierten Visionen des ›Orients‹ ergänzten.80 Der Exotismus blieb jedoch nicht nur auf die europäischen Kolonialmächte wie Frankreich oder Großbritannien begrenzt. In den USA zeigte man sich fasziniert von den Bildern ferner Länder, die das ethnisch und kulturell Andere verkörperten. Besonders in den Weltausstellungen des 19. Jh.s kulminierte diese Faszination. Seit der Londoner Weltausstellung von 1851 gehörten Gemälde und Artefakte anderer Kulturen zum Standardrepertoire der Weltausstellungen. 76 | Ebd. 77 | Vgl. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, s.v. »Exotismus«. 78 | Vgl. Edward Said, Orientalism (New York: Vintage, 1979). 79 | Vgl. John M. MacKenzie, Orientalism: History, Theory and the Arts (Manchester: Manchester University Press, 1995), 43-67, der die orientalistische Malerei als Ausdruck westlicher Verlusterfahrung im Zeitalter der Industrialisierung interpretiert. Ausführlicher zum Orientalismus in der Malerei Roger Diederen und Davy Depelchin (Hgg), Orientalismus in Europa: Von Delacroix bis Kandinsky (München: Hirmer Verlag, 2010). 80 | Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, s.v. »Orientalismus«.

IV. Fremde Stadt

Die Pariser Weltausstellung von 1889 trieb dies noch weiter, da französische Anthropologen lebende ethnologische Ausstellungen mit Bewohnern der französischen Kolonien zeigten.81 Die World’s Columbian Exposition von Chicago präsentierte 1893 dementsprechend nicht nur die White City als Idealbild der amerikanischen Stadt, sondern auch einen Überblick über andere Kulturen. Im Midway Plaisance, jenem Abschnitt der Ausstellung, in dem die populären Vergnügungen stattfanden, gab es sowohl ein afrikanisches Dorf mit 69 Afrikanern und eine ›Straße von Kairo‹ mit Ägyptern, Kamelen und Bauchtänzerinnen, als auch ein deutsches Dorf mit Konzerten deutscher Militärkapellen, ein türkisches und ein irisches Dorf, ein algerisches Theater und vieles mehr, nicht zu vergessen ein Modell des Petersdoms zu Rom im Größenverhältnis von 1:60.82 Der Midway war unter der Ägide von Anthropologen explizit als lebendes Outdoor-Museum konzipiert worden, das den Besuchern den Fortschritt der Zivilisation bis zu ihrem Höhepunkt, der White City, vor Augen führen sollte.83 Gleichzeitig waren all diese ethnologischen Ausstellungen kommerzielle Unterfangen, für die Unternehmer Lizenzen erhalten hatten. Die Anziehungskraft der Amüsiermeile Midway Plaisance lag daher eher im exotischen Essen und den zahllosen Shows, wie etwa Bauchtanz, als in ihrer edukativen Funktion; kaleidoskopartig und chaotisch entfalteten sich hier die vielfältigsten Szenerien.84 Dennoch wird deutlich, dass Exotismus nicht nur auf die traditionellen Kolonialmächte begrenzt war und sich nicht nur auf eigene Kolonien fokussierte; ebenso waren nicht nur Völker anderer Hautfarbe aus entfernten Ländern Objekt des Interesses, sondern all jene Ethnizitäten und Kulturen, die als anders als die weiße, anglo-protestantische Leitkultur der Vereinigten Staaten galten. Die Kommodifizierung dieser Kulturen für den passiven Konsum

81 | Curtis M. Hinsley, »The World as Marketplace: Commodification of the Exotic at the World’s Columbian Exposition, Chicago, 1893«, in: Ivan Karp and Steven D. Lavine (eds), Exhibiting Cultures: The Poetics and Politics of Museum Display (Washington: Smithsonian Institution Press, 1991), 344-65, hier 345-46. 82 | W. B. Conkey Company, World’s Columbian Exposition Group (ed.), Official Catalogue of Exhibits on the Midway Plaisance (Chicago: s.n., 1893), www.encyclopedia. chicagohistory.org/pages/11421.html, Stand 16.9.2011. Vgl. Badger, Great American Fair, 107-09. 83 | Vgl. Rydell, All the World’s a Fair, 55-68; di Leonardo, Exotics at Home, 5-7. Zur Stellung dieser Art ethnologischer Ausstellungen innerhalb der Anthropologie vgl. Hinsley, »World as Marketplace«, 348-50. 84 | Robert W. Rydell, »Rediscovering the 1893 Chicago World’s Columbian Exposition«, in: National Museum of Art, Revisiting the White City: American Art at the 1893 World’s Fair (Hanover: University Press of New England, 1993), 38-44; Hinsley, »World as Marketplace«, 351-52.

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durch den Besucher der Weltausstellung ging mit ihrer Einordnung auf den unteren Rängen der ›Zivilisationsskala‹ Hand in Hand.85 Dementsprechend kann der Umgang mit der kreolischen Kultur im New Orleans der Jahrhundertwende mit dem Konzept des Exotismus gefasst werden. Das Bild des French Quarter als Ort einer anderen, fremden Kultur, die aristokratische, europäische Ursprünge hatte und von »Latin blood« geprägt war, weist ebenso wie die Konstruktion einer binären Opposition zwischen dieser Kultur und dem ›Amerikanischen‹ oder ›Angelsächsischen‹ auf Strukturen des Exotismus hin, die in New Orleans am Werk waren.86 Die latente Sehnsucht nach einer authentischen Kultur, die typisch für New Orleans sein sollte und prä-kapitalistische Züge trug, erinnert ebenso an andere Exotismen wie die konkreten Zuschreibungen zu dieser vermeintlich originalen Kultur – sowohl in ihren positiven als auch in ihren negativen Ausprägungen, die nur von einer dünnen konzeptionellen Linie getrennt blieben. Das Aristokratische, Edle und Noble der Kreolen erinnert an Rousseaus Edlen Wilden, es glänzte als Gegenpol zum Materialismus der Industriemoderne. Die Traditionsgebundenheit, das Festfrieren in der Epoche der spanischen Kolonialzeit, wie Hearn es in seinem »Creole Courtyard« schilderte, passt zur scheinbaren Zeitlosigkeit ›orientalischer‹ Traditionen, wie sie etwa in Jean-Léon Gérômes Gemälden anklingt. Die Lebensfreude, Heißblütigkeit und Sinnlichkeit, die dem Latin Charakter von New Orleans zugeschrieben wurden, finden sich in den Klischees des Orientalismus wieder, ebenso wie die femininen Zuschreibungen zu den Kreolen: Glänzten diese nicht eher im Kulturbereich, in der Oper, bei Bällen, als im Abwickeln von Geschäften in der harschen Realität des Neuen Südens? Selbst die Mechanismen des Exotismus finden sich in New Orleans: Man denke an den Voyeurismus des Hearnschen Blicks hinein in das kreolische Haus – und Voyeurismus ist als eine der »exoticist tropes«87 bezeichnet worden, die den konsumierenden Blick des Beobachters und die Heimlichkeit dieses Blicks beschreibt. Es war nur ein flüchtiger Blick, den Hearn vom Inneren des kreolischen Heiligtums erhaschen konnte. Der mysteriöse Reiz des Exotischen wurde gerade durch Schriftsteller wie Hearn oder Grace King in ihren Texten über das French Quarter festgeschrieben. »New Orleans is called a city of mystery«, schrieb King in ihrer Einleitung zu Arnold Genthes Vieux Carré-Bildband, »as the strangers pass the open courtyards, 85 | Hinsley, »World as Marketplace«, 352-55. 86 | Schon vor dem Bürgerkrieg galt New Orleans als ›amerikanischer Orient‹, vgl. Möllers, Kreolische Identität, v.a. 45-67; das Schwelgen in dieser Andersartigkeit ist allerdings ein Phänomen des späten 19. Jh.s. 87 | Graham Huggan, »Exoticism, Ethnicity, and the Multicultural Fallacy«, in: Isabel Santaolalla (ed.), ›New‹ Exoticisms: Changing Patterns in the Construction of Otherness (Amsterdam: Rodopi, 2000), 91-96, hier 92.

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they with excited imagination peep into them, sometimes pushing indiscreetly through closed gates, to see the old yard with its worn and weary looking flowers, oleanders and orange trees in tubs, its three-stories galleries and maze of rickety stairways, and the high jealous brick walls covered with vines that protect them on the rear.«88 Der Blick ins French Quarter mit all seinen Besonderheiten war ein heimlicher, aufregender Blick in eine abgeschlossene, fremde Welt. Die Faszination mit dem räumlich fernen Fremden überlagerte sich in diesen Blicken mit der Sehnsucht nach dem zeitlich fernen Fremden, mit der Nostalgie der Kolonialzeit, zu einem Amalgam der romantischen Fantasie, das die Macht hatte, identitätsstiftend zu wirken. Nicht nur die Schriftsteller trugen zu diesem Bild bei, sondern auch die World’s Industrial and Cotton Centennial Exposition von 1884/85, in der New Orleans als exotischer Ort präsentiert wurde.89 In Anklang an die großen Weltausstellungen durfte eine »Creole Historical Exhibit«90 nicht fehlen; es scheint kaum ein Zufall, dass das Wort ›Creole‹ mit dem Wort ›Historical‹ in engste Verbindung gebracht wurde. Gerade im Zeitalter des Nationalismus machte es Sinn, auf fremde Wurzeln zurückzugreifen, sofern diese als das Andere erschienen, das aufgrund seiner Exotik letztlich dazu beitragen konnte, sich des Eigenen zu vergewissern. Außenstehende konnten sich im Angesicht der Exotik von New Orleans besonders amerikanisch fühlen; die New Orleanians hingegen fanden etwas Faszinierendes in ihrer Stadt, das diese von anderen abgrenzte und ihre Identität als New Orleanians profilierte; gleichzeitig blieb dieses Faszinierende durch die Beschreibungen als exotisch gewissermaßen in einem vorgefertigten und anerkannten diskursiven Rahmen, der zusammen mit der Exotik von New Orleans auch die Americanness der Beschreibenden suggerierte – nicht nur der Besucher, sondern auch der New Orleanians. Gerade angesichts des vielzitierten Mix der Bevölkerung konnte man sich dank des exotistischen Kniffes einerseits mit dem vermeintlichen kreolischen Erbe identifizieren und nach außen hin abgrenzen, andererseits nach innen hin von eben diesen Kreolen absetzen. Die Kenntnis um das Faszinationspotential des Exotischen wiederum setzte die Koalition jener New Orleanians, die etwa für den Erhalt der Balkone eintraten – die Schriftsteller, Architekten und gebildeten Frauen, die Kunstprofessoren und Mitglieder der Stadtverwaltung –, von der business-orientierten community ab: Sie empfanden die Fremdheit ihrer eigenen Stadt nicht als Bedrohung, sondern wussten daraus Kapital zu schlagen und sich selbst in die Reihe der Kenner des Exotismus in der internationalen Kunstszene dieser Jahre zu stellen. Wie Arnold Genthe es so schön formuliert hatte: Sie erkannten das Gedicht unter dem vulgären Text – das exotische Gedicht unter einem amerikanischen Text. 88 | Genthe, Impressions, 13. 89 | Gotham, Authentic New Orleans, 65. 90 | »Louisiana Creoles«, in: Daily Picayune, 21.6.1886.

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W HITENING Allerdings unterschied sich das Exotische von New Orleans in einer Hinsicht deutlich von dem Exotischen, das im Zeitalter der Entdeckungsreisen und des Kolonialismus in fernen Ländern ausfindig gemacht wurde: Das, was New Orleans fremd wirken ließ, befand sich mitten in der Stadt, es war im Inneren gelegen, nicht irgendwo an den Peripherien. Es unterschied sich aber auch von den Exotismen der Weltausstellungen, da das Fremde nicht auf ein umzäuntes, kleines Territorium innerhalb eines Ausstellungsgeländes begrenzt war. Es nahm zwar an einem Ort seinen Ausgangspunkt – im Vieux Carré –, durchzog aber, wie der »Latin character« oder die Balkone auf Canal Street und St. Charles Avenue, die ganze Stadt. Es war zudem nicht nur temporär in der Stadt zu Gast, sondern permanent dort zuhause. Die Voraussetzung dafür, dass die Exotik im Eigenen als Distinktionsmerkmal dienen konnte, war, dass sie mindestens ebenso unbedrohlich und ungefährlich wirkte wie die Exotik eines fernen, beherrschten Landes oder eines afrikanischen Dorfes der Weltausstellung. Die Kreolen des Creole myth, die edlen Aristokraten der Alten Welt mit ihrem Latin blood, eigneten sich dafür perfekt. Nicht umsonst waren sie das Konstrukt eben jener Führungsschicht, die sich für den Denkmalschutz und die Bewahrung der alten Kultur von New Orleans einsetzte. All die, die am Creole myth bastelten und ihn zur Grundlage ihrer Haltung gegenüber architektonischen Merkmalen ihrer Stadt machten, vereinnahmten letztlich das kreolische Erbe für sich – welches jedoch ein kreolisches Erbe ihrer Fantasie war. Denn es gab ein wesentliches Merkmal der mythischen Kreolen, das nicht in der historischen Realität begründet war, aber eine Grundvoraussetzung für die Wirkmacht des Creole myth bildete: Sie waren weiß. Die letzten Jahrzehnte des 19. Jh.s. sahen eine radikale Umdefinierung des Begriffs der Kreolen in Louisiana. Vor dem Bürgerkrieg bezeichnete man diejenigen als Kreolen, die in Louisiana geboren waren. Diese Definition zielte auf die Abgrenzung zu allen zugewanderten Bewohnern ab. Ethnische Herkunft oder Hautfarbe spielten in diesem Begriffsverständnis keine Rolle; das Unterscheidungskriterium war schlicht der Geburtsort. Im späten 19. Jh. erfuhr der Begriff eine Einengung. Creole sollte nur noch die Nachfahren der spanischen und französischen Siedler bezeichnen. Damit wurde der Begriff nicht nur ethnisch eingeschränkt, sondern vor allem in Hinblick auf die race deutlich profiliert. Die Kreolen wurden weiß.91 91 | Gotham, Authentic New Orleans, 84; konzise Übersicht zur Definitionsproblematik bei Tregle, »Creoles and Americans«, 132-33; 137-41. Vgl. auch Virginia R. Dominguez, White by Definition: Social Classification in Creole Louisiana (New Brunswick: Rutgers University Press, 1986), die ausführlich die Konstruktion einer kreolischen Identität zwischen schwarz und weiß im Kontext des Rechtssystems von Louisiana untersucht;

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Es verwundert nicht, dass dieser Prozess der Neudefinierung des Kreolischen parallel zur Verstärkung der Segregation im Rahmen der Jim Crow-Gesetzgebung des Südens verlief. Denkmalschützer, Schriftsteller und die gesamte kulturelle Elite der Stadt waren bemüht, die ›rassische Reinheit‹ der weißen Elite von New Orleans seit der Gründung der Stadt zu betonen.92 Vor dem Bürgerkrieg war das nicht notwendig gewesen, da aufgrund des Sklavereisystems in jedem Fall nur Weiße um politische Macht konkurrierten. Der Machtkampf fand innerhalb der weißen Gesellschaft statt und verlief entlang von ethnischen Grenzen. Es war daher gut möglich, selbst schwarzen »native-born« New Orleanians das Attribut des Kreolischen zuzugestehen, das dann auf die unterschiedliche Kultur zu den African-Americans verwies. Die eigene »nativity« zu betonen diente den weißen Kreolen dabei als Legitimation von Machtansprüchen den später nach New Orleans zugereisten Amerikanern gegenüber.93 Nach der Abschaffung der Sklaverei geriet dieses System aus den Fugen. Das Szenario schwarzer politischer Macht wirkte auf die weißen Südstaatler bedrohlich, weshalb es galt, sich der eigenen weißen ›Reinheit‹ zu vergewissern. Das Label des Creole – auf weiß und schwarz gleichermaßen angewendet – drohte in den Augen weißer Kreolen nun, ihnen den Anspruch auf whiteness zu entziehen und sie in unliebsame Nähe zu den Schwarzen zu rücken.94 Ein Aufschrei ging daher durch die Stadt, als 1885 der gebürtige New Orleanser George Washington Cable seinen Artikel »The Freedman’s Case in Equity« publizierte, in dem er den im Süden herrschenden Rassismus kritisierte, der den befreiten Schwarzen de facto kein Fortkommen erlaubte.95 Wie stark die Ressentiments gegen ein Aufweichen der color line in New Orleans waren, zeigt etwa die vehemente Kritik an Cable in einem Editorial des Times-Democrat. In einem rassistischen Rundumschlag betonte der Leitartikel, dass sich die Situation der Afro-Amerikaner in jedem Fall verbessern solle – »but it will be as a separate and distinct race, without any social intercourse or mixture between the two«. Eine soziale Gleichheit stand außer Frage, da sonst die Gefahr drohe, dass es dem Süden wie San Domingo ergehe: Mit einer gemischten Rasse stünden »barbarism, immorality and crime« vor der Tür, eine Vision, die, dem Artikel zufolge, dem Instinkt des Kaukasiers zur Bewahrung seiner Rassenreinhistorischer und stärker auf die gens de couleur libres konzentriert Möllers, Kreolische Identität, v.a. 249-314. Zur frühen Geschichte der Afro-Kreolen vgl. Gwendolyn Midlo Hall, Africans in Colonial Louisiana: The Development of Afro-Creole Culture in the Eighteenth Century (Baton Rouge: Louisiana State University Press, 1992). 92 | Stanonis, Creating the Big Easy, 197. 93 | Tregle, »Creoles and Americans«, 172. 94 | Ebd., 173. 95 | George Washington Cable, »The Freedman’s Case in Equity«, in: The Century Magazine 29 (January 1885), 409-18. Vgl. Hale, Making Whiteness, 44-49.

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heit zuwiderlaufe, dank dem er sich zum Wächter über Zivilisation und zum Herrscher der Welt gemacht habe.96 1890 führte der Staat Louisiana ein separate but equal-Gesetz ein, welches die zunehmende Rassentrennung im öffentlichen Leben legalisierte97; nur wenige Jahre später bestätigte das berühmte separate but equal-Urteil des Supreme Court im Fall Plessy vs. Ferguson (1896) die Rechtmäßigkeit der Segregation in den Südstaaten.98 Mit einer Geschichte der Rassenmischung konnten und wollten sich die weißen Südstaatler des späten 19. und frühen 20. Jh.s nicht identifizieren; auch nicht-kreolische New Orleanians wehrten sich gegen die Darstellungen Cables, da die kreolische Geschichte als Geschichte der miscegenation nicht weiter als Distinktionsmerkmal von New Orleans gegenüber anderen Städten hätte verwendet werden können und ein schlechtes Licht auf die Geschichte der Stadt geworfen hätte. Hybridität war nur denkbar, wenn sie innerhalb der weißen Rasse zwischen verschiedenen Kulturen stattfand. Der permanente Verweis auf den gemischten Charakter der New Orleanser Bevölkerung – Latin und AngloSaxon – liest sich vor diesem Hintergrund wie die indirekte Beteuerung, dass jegliche Vermischung auf einer Seite der color line stattfinde und diese Grenze keinesfalls übertreten werde. Dementsprechend häufig wurde der kosmopolitische Charakter der Stadt betont. Zum Gründungsmythos von New Orleans, wie er in literarischen Texten und der Kulturpolitik der Stadt nach dem Bürgerkrieg erschaffen wurde, gehörte nicht nur der Creole myth, sondern auch das Bild einer von Anfang an kosmopolitischen Hafenstadt, in der die unterschiedlichsten Menschen zusammenkamen.99 Kevin Fox Gotham hebt in seiner Studie zur Rolle des Tourismus in New Orleans hervor, dass um 1900 viele lokale promotional campaigns mit dem Bild der ethnischen und kulturellen Diversität von New Orleans kokettierten, aber die »racial dynamics« der Stadt komplett ignorierten. Diese blieb schlicht unsichtbar.100 Hand in Hand mit dem whitening der Creoles ging ein Prozess der Entfernung schwarzer Kultur aus den Identitätsdebatten in der Stadt – lediglich als Kuriosität für Touristen aus dem Norden fanden die schwarzen New Orleanians noch Eingang in die öffentlichen Debatten, die ihnen so jegliche Handlungsfreiheit absprachen und einen wichtigen Teil der New Orleanser Kultur aus dem öffentlichen Gedächtnis tilgten.101 Vor allem für jene Kreolen, die vor dem Bürgerkrieg als gens de couleur libres stolz auf ihr europäisches, französisches Erbe 96 | »Cable and the Dark Hobby«, in: Times-Democrat, 18.3.1888. 97 | Tregle, »Creoles and Americans«, 183. 98 | Zur Rolle der Creoles in diesem Gerichtsfall und die Folgen, die er für sie hatte, Möllers, Kreolische Identität, 288-312. 99 | Gotham, Authentic New Orleans, 74. 100 | Ebd., 82-83. 101 | Stanonis, Creating the Big Easy, 197.

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gewesen waren und häufig auf dunkelhäutigere African-Americans herabschauten, bedeutete das rassendichotomische Gesellschaftssystem der PostbellumÄra einen bitteren Kampf um ihre Kultur. »Jim Crow laws had collapsed the city’s multiracial heritage into two tiers, white and colored.«102 Dabei standen gerade jene Bauwerke, die die preservationists des frühen 20. Jh.s zu bewahren suchten, für eine langjährige Kultur intensiver Kontakte zwischen den Rassen. Kreolen mit schwarzen Vorfahren etwa hatten ebenso Abonnements für die French Opera wie weiße Kreolen – eine Tradition, die jede Familie mit französischen Vorfahren hochhielt, gleich welcher Hautfarbe.103 Vor allem die Schriftstellerin Grace King, die sich im Streit von 1914 auch für die Balkone engagierte und 1916 für den Erhalt des Old St. Louis Hotel eintrat104 , war eine der vehementesten Propagatorinnen des Mythos der weißen, reinrassigen Kreolen. Mit ihren Büchern gelang es ihr, ein breites Publikum über Louisiana hinaus zu erreichen und den Creole myth zu festigen. Vor allem ihr 1921 erschienenes Buch Creole Families of New Orleans, in welchem sie die Geschichte jener New Orleanser Familien erzählte, deren französische Wurzeln bis in die Kolonialzeit reichten, festigte in der öffentlichen Wahrnehmung die Verbindung von Creole und weißen Kolonialherren.105 Auch der Schriftsteller Lyle Saxon schrieb über das sogenannte Creole life – das eindeutig weiß war. Bemerkenswerterweise wurden grundlegende Elemente des Creole myth – dass die Kreolen Aristokraten seien, dass sie kultiviert, herkunfts- und traditionsbewusst seien – als sicherer Beweis für ihre whiteness herangezogen: Nur Weiße könnten eine solche Zivilisation hervorbringen.106 Ein Mythos begründete den anderen; erst so konnten die Creoles zu den Knickerbockers von New Orleans werden.107 Während der Mythos der weißen Kreolen zu Kings und Saxons Zeit schon weit etabliert war, hatten in den 1890er Jahren vor allem einige Kreolen selbst an ihrer weißen Identität gearbeitet. Eine Figur war dabei zentral: Charles Etienne Arthur Gayarré. Der Historiker und Lehrer von Grace King, die seine Arbeit nach seinem Tod weiterführte, setzte sich seit den 1880er Jahren auf lo102 | Ebd., 213. Vgl. Möllers, Kreolische Identität, 249-314 und Powell, Accidental City, 277-313. 103 | Ebd., 214. 104 | »Old St. Louis hotel open to the public«, in: Item, 2.3.1916. 105 | Grace King, Creole Families of New Orleans (New York: Macmillan, 1921). Vgl. Stanonis, Creating the Big Easy, 216. 106 | Lyle Saxon, Fabulous New Orleans (New York: Century, 1928). Zu Saxon vgl. James W. Thomas, Lyle Saxon: A Critical Biography (Birmingham: Summa, 1991). 107 | Stanonis, Creating the Big Easy, 218-19. Den Vergleich mit den Knickerbockers bemühte der kreolische Historiker Charles Gayarré, »The Creoles of History and the Creoles of Romance: A Lecture Delivered in the Hall of the Tulane University, New Orleans, on the 25th of April 1885«, 14, in: TU/LaRC, 976.3G285c.

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kaler Ebene unermüdlich dafür ein, das Image der Kreolen zu ›bereinigen‹.108 Gerade die Werke von George Washington Cable lösten großen Aktivismus seitens Gayarré aus, da sie dazu beitrugen, die Aufmerksamkeit einer breiten nationalen Leserschaft auf die Kreolen Louisianas zu richten. Bereits vor dem Erscheinen seines »Freedman’s Case in Equity« hatte George Washington Cable zwei Bücher verfasst, die in der weißen kreolischen Gesellschaft mit Entsetzen aufgenommen worden waren. 1880 publizierte Cable The Grandissimes, einen Roman, dessen Handlung im kreolischen Milieu kurz nach dem Louisiana Purchase von 1803 spielte.109 Während das Buch beim breiteren amerikanischen Publikum sowie bei Literaturkritikern auf Begeisterung stieß, wehrten sich die Kreolen von New Orleans vehement gegen das Bild, das Cable in diesem Roman von ihnen zeichnete. Tatsächlich evozierte The Grandissimes das Bild einer rückwärtsgewandten, fortschrittsfeindlichen Kultur, die rassistisch, träge und abergläubisch war. Cable suggerierte vor allem eine kreolische Doppelmoral in Rassefragen, da seine Romanprotagonisten sich einerseits uneingeschränkt die white supremacy auf die Fahnen schrieben und Nachkommen rassengemischter Beziehungen brutal ausgrenzten, andererseits miscegenation stillschweigend duldeten. Woran sich die weißen New Orleanser Kreolen besonders störten, war jedoch ihre Darstellung als sprachlich minderbemittelte Unterschicht, die sich lediglich in einem kaum verständlichen englischen Kauderwelsch ausdrückte, das sie selbst eher mit den schwarzen Landarbeitern des Südens assoziierten.110 Hiermit traf Cable den Nerv einer Gesellschaft, die sich als kultiviert, bilingual und vor allem weiß betrachtete. In seinem nächsten Buch, The Creoles of Louisiana (1884), definierte Cable die Kreolen zwar selbst als weiß, spielte aber permanent auf ihren Hang zur Rassenmischung und die oben erwähnte Doppelmoral an.111 Dass Cable selbst in New Orleans geboren worden war, machte das Ganze in den Augen vieler Kreolen nur noch schlimmer; seine Werke empfanden sie nicht nur als Verleumdung ihrer Kultur und Vergangenheit, sondern auch als Verrat an der Heimatstadt. Als immer mehr Touristen Cables Bücher als Reiseführer verwendeten und sich in New Orleans auf die Suche nach den Roman-

108 | Stanonis, Creating the Big Easy, 215; zum Folgenden vgl. Tregle, »Creoles and Americans«, 174-76. Ausführlicher zu Gayarré und dessen zentraler Rolle bei der Erschaffung des Creole myth Möllers, Kreolische Identität, 272-76. 109 | George Washington Cable, The Grandissimes: A Story of Creole Life (New York: Scribner’s Sons, 1880). 110 | Vgl. »Mr Cable’s Freedman’s Case in Equity«, in: Times-Democrat, 11.1.1885. Ausführliche Analyse von Handlung und Bedeutung der Grandissimes bei Möllers, Kreolische Identität, 253-71. 111 | George Washington Cable, The Creoles of Louisiana (New York: Scribner’s Sons, 1884).

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orten und -figuren machten, wurde zudem deutlich, dass gerade dieses Bild kreolischen Lebens eine große, internationale Leserschaft erreichte.112 Anschlussfähig an die nicht-kreolische Gesellschaft wurde der kreolische Protest gegen Cable mit dem Erscheinen des »Freedman’s Case in Equity«, der auch im restlichen Süden Empörung hervorrief.113 Gayarré legte in zwei ausführlichen Artikeln im Times-Democrat im Januar 1885 seinen Lesern dar, dass einem Autor, der die »white race of the whole South«114 angriff, nicht getraut werden könne, und er nutzte die Gunst der Stunde, um daran zu erinnern, dass auch die Kreolen schon ähnlich verleumdet worden seien.115 In einer Reihe von öffentlichen Vorträgen griff er zudem Cables Werk an und zeichnete das Gegenbild einer kreolischen Gesellschaft, die weiß, aristokratisch und kultiviert war. Mit Gayarrés Vortrag »The Creoles of History and the Creoles of Romance« an der Tulane University im April 1885, so der Historiker Joseph Tregle, wurden letztlich alle Elemente des Creole myth in einer kohärenten Gesamtmythologie zusammengeführt, deren Basis die whiteness der Kreolen darstellte.116 »It has become high time to demonstrate that the Creoles of Louisiana […] have not, because of the names they bear, a particle of African blood in their veins […]«117, dozierte Gayarré. Das Streben nach reiner whiteness und die Panik davor, mit »miscegenation, which we abhor«118 in Verbindung gebracht zu werden, erweist sich als charakteristisch für die Akzentverschiebung in der Konstruktion einer kreolischen Identität im späten 19. Jh. durch jene Kreolen, die sich als weiß betrachteten. Fortan gründete kreolischer Stolz zunächst in Hautfarbe und Rassenzugehörigkeit und erst in zweiter Linie in ethno-kulturellen Besonderheiten119 – was wiederum eine zentrale Voraussetzung für die Anschlussfähigkeit des Creole myth an die weiße, nicht-frankophone Gesellschaft von New Orleans im späten 19. Jh. darstellte. Gayarré war nicht der einzige, der das whitening der Kreolen aktiv vorantrieb. 1886 gründeten prominente New Orleanser Kreolen die Creole Association of Louisiana.120 Deren erklärtes Ziel war es, ihren Mitgliedern soziale Hilfe zukommen zu lassen, Wissen über die wahre Herkunft und den Charakter der Kreolen Louisianas zu verbreiten und für das »advancement of the Creole Race 112 | Tregle, »Creoles and Americans«, 177. 113 | Ebd., 177-79. 114 | »Mr Cable’s Freedman’s Case in Equity«, in: Times-Democrat, 11.1.1885. 115 | Ebd. und »Mr Cable’s Freedman’s Case in Equity – no. 2«, in: Times-Democrat, 18.1.1885. 116 | Gayarré, »Creoles of History«. Vgl. Tregle, »Creoles and Americans«, 180. 117 | Gayarré, »Creoles of History«, 3. 118 | »Mr Cable’s Freedman’s Case in Equity«, in: Times-Democrat, 11.1.1885. 119 | Tregle, »Creoles and Americans«, 179-182. 120 | »The Creole Association«, in: Times-Democrat, 21.6.1888.

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of Louisiana« Sorge zu tragen.121 Als Mitglieder zugelassen waren »all descendants of original Creoles of Louisiana and all white male persons of age and of good standing […]«.122 Aus der Gründungsrede des Vizepräsidenten Charles A. Villeré geht hervor, wie sehr die Darstellungen Cables die weiße kreolische Elite der Stadt verletzt hatte. »We are battling for our rights, and under a name scoffed at, ridiculed, blackened, tortured, deformed, caricatured, our vindication is of importance far and wide. This is our soil. We are in the house of our fathers.«123 Damit wird wie bei Gayarré deutlich, von welcher Seite aus diese Kreolen ihre Stellung bedroht sahen: Nicht durch Amerikanisierungsbestrebungen seitens ihrer angelsächsischen, weißen Mitbürger, wie es vor dem Bürgerkrieg der Fall gewesen war, sondern durch ihr Image als nicht ganz rein weiß, ein Image, das sie in den Südstaaten der Jim Crow-Ära jeglicher gesellschaftlicher Stellung berauben konnte. Weiß oder schwarz, das war die alles bestimmende Frage auch des New Orleanser Alltagslebens nach dem Bürgerkrieg – Hybridität und ein Zwischenzustand waren im rassendichotomischen System der Nachkriegszeit nicht mehr denkbar.124 Als historischer Beleg für die kreolische whiteness diente Villeré wie so vielen nach ihm die mantra-artige Evozierung der aktiven Rolle von »Creole boys« auf Seiten der White League in den blutigen Auseinandersetzungen des 14. September 1874.125 Es ist bemerkenswert, dass die Rede Villerés weniger vom selbstbewussten Erbe einer distinkten Kultur zeugt als vom gegenteiligen Bemühen, die Kreolen als integralen Teil des weißen, angelsächsischen Amerika darzustellen. Vier weitere identitätsstiftende Abgrenzungslinien zog Villeré dabei jenseits des Betonens von whiteness – entlang nationaler, regionaler, ethnischer und sozialer Kriterien. Indem er die kreolische Beteiligung am Kampf gegen England im War of 1912 und gegen die Nordstaaten im Bürgerkrieg hervorhob, implizierte Villeré, dass die Kreolen in erster Linie Amerikaner und Konföderierte waren. Ebenso bemühte er sich, die Kreolen dank ihrer nativity von der »un-American« 121 | Creole Association of Louisiana, Charter, By-Laws and Rules, incorporated June 24, 1886 (New Orleans: Crescent Steam Print, 1886), in: Tulane University Special Collections, Vertical File, Benevolent Societies. 122 | Ebd. 123 | »The Creole Association«, in: Times-Democrat, 21.6.1888. 124 | Was besonders die Nachfahren der gens de couleur libres, die sich dank ihrer hellen Hautfarbe gewissermaßen ›zwischen den Rassen‹ bewegt hatten, ihrer Identität beraubte. Vgl. dazu Möllers, Kreolische Identität und Shirley Elizabeth Thompson, Exiles at Home: The Struggle to Become American in Creole New Orleans (Cambridge: Harvard University Press, 2009). Zur Problematik einer Identität zwischen schwarz und weiß nach dem Bürgerkrieg vgl. auch Nystrom, New Orleans After the Civil War, 140-59. 125 | Tregle, »Creoles and Americans«, 182, vgl. auch ebd., 172. Ebenso etwa »Le 14 Septembre«, in: Le Réveil, 14.9.1899.

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Einwanderung der letzten Dekade abzugrenzen. Nicht zuletzt betonte er den elitären sozialen Status vieler Kreolen als New Orleanser Rechtsanwälte, Ärzte und dergleichen.126 Damit waren die Kreolen letztlich zumindest auf diskursiver Ebene in den führenden Schichten der weißen Südstaatengesellschaft und des weißen, angelsächsischen Amerika angekommen. Villeré sprach dabei für jene weißen Kreolen, die innerhalb der New Orleanser Gesellschaft einen prominenten Status erlangt hatten. Das Gründungsdokument unterzeichneten unter anderem der Richter am Louisiana Supreme Court Felix Poché, der ehemalige Konföderierten-General Pierre Gustave Toutant Beauregard, der Bürgermeisterkandidat der Good Government League von 1912, Charles F. Claiborne, der auch Mitglied der Association of Commerce war und der Professor für romanische Sprachen und Präsident der Louisiana Historical Society Alcée Fortier.127 Aus einigen Zeitungskommentaren lässt sich schließen, dass es Kritiker der Association gab, die sie als »egotistical and exclusive« bezeichneten, was die Daily Picayune mit dem Verweis auf die Gründungscharter zu widerlegen suchte. Allerdings unterschlug die Zeitung beim Zitieren der Mitgliedschaftskriterien schlicht die Worte »white male« aus »all white male persons«.128 Dass alle in Frage kommenden Mitglieder weiß und männlich sein mussten, erschien der führenden lokalen Presse unhinterfragbar; eine Kritik dieser Einschränkung der Mitgliedschaft schien dementsprechend absurd und war kein Grund, die Association der Exklusivität zu bezichtigen. Diese Bemühungen, die weiße kreolische Identität in einer allgemeinen weißen amerikanischen Identität zu verorten, blieben für die frankophone Kultur in New Orleans nicht ohne Folgen. Der »enspiriting Gallic tone«129, der einst die Stadt geprägt hatte, verschwand im späten 19. Jh. zusehends, und das Französische büßte seine Stellung als dem Englischen gleichberechtigte Sprache ein. Frankophone Institutionen litten unter dem Rückzug des Französischen aus dem New Orleanser Alltagsleben. Zahllose französische Zeitungen mussten eingestellt werden, französische Buchläden mussten schließen130 und die traditionsreiche Französische Oper ließ primär anglophone Kompagnien gastieren, da französischsprachige Aufführungen zu wenig Publikum anzogen.131 Jene Gesetze, die die Lesefähigkeit von Bürgern als Voraussetzung zur Wahlberechtigung etablierten und so Schwarze auszugrenzen suchten, gingen lediglich von einer Lesefähigkeit in der englischen Sprache aus132; immer mehr 126 | »The Creole Association«, in: Times-Democrat, 21.6.1888. 127 | Ebd. 128 | »Louisiana Creoles«, in: Daily Picayune, 21.6.1888. 129 | Tregle, »Creoles and Americans«, 183. 130 | Ebd., 184. 131 | »Les Français en Louisiane«, in: Le Réveil, 31.5.1900. 132 | »Le Suffrage«, in: Le Réveil, 13.3.1898.

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nach New Orleans entsandte katholische Priester waren anglophon133, und ein Gesetz Louisianas vom Mai 1914 entzog auch der ältesten, 1827 gegründeten französischen Zeitung von New Orleans, der traditionsreichen L’Abeille/The Bee, die Existenzgrundlage, indem es die Veröffentlichung von Gerichtsmitteilungen auf französisch nicht mehr für verpflichtend erklärte.134 1925 musste die Publikation der Abeille eingestellt werden. Englisch war spätestens in den ersten Dekaden des 20. Jh.s zur »language of the day and place«135 avanciert.

S ELBSTMY THISIERUNGEN Der Verlust der eigenen Sprache und damit einhergehend die Bedrohung der eigenen Kultur war den führenden Kreolen im New Orleans des späten 19. Jh.s durchaus bewusst. Obwohl das Hauptinteresse in diesen Jahrzehnten darauf lag, sich selbst als weiße Amerikaner zu positionieren, kämpften einige von ihnen zusätzlich um den Erhalt ihrer spezifisch kreolischen Identität. Das Bestreben, als white und American aufzutreten, ging dabei mit dem Versuch einher, auch eigene, kreolische Distinktionsmerkmale innerhalb der (weißen) amerikanischen Gesellschaft von New Orleans beizubehalten, um nicht gänzlich in dieser aufzugehen. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte dabei der Gebrauch der französischen Sprache. Bereits 1876 riefen prominente Kreolen wie der Arzt und Autor Dr. Alfred Mercier, General Beauregard und die Brüder Paul und Armand Capdevielle – Paul war später Bürgermeister, Armand der Herausgeber der Abeille – das Athénée Louisianais ins Leben, einen frankophonen Klub, der sich die Bewahrung der französischen Sprache auf die Fahnen schrieb.136 Erklärtes Ziel des Athénée war es, wissenschaftlichen und literarischen Austausch auf französisch zu fördern. Die Vereinigung stand daher nicht nur Kreolen offen, sondern all jenen, die der französischen Sprache mächtig waren und ihren Erhalt unterstützen wollten. Ein regelmäßig erscheinendes Publikationsorgan, die Comptes Rendus de L’Athénee Louisianais, sowie monatliche Treffen mit Vorträgen und musikalischen Darbietungen und die jährliche Verleihung von Literaturpreisen boten dazu ein Forum.137 133 | »Une Vieille Coutume«, in: Le Réveil, 6.1.1898. 134 | »French Publication Legal Notices Loses«, in: Item, 21.5.1914. 135 | »French advertising«, in: Item, 24.5.1914. 136 | Règlements de l’Athénée Louisianais (New Orleans: Imprimerie Cosmopolite, 1876), in: UNO/LaSC, Athénée Louisianais Collection, Mss 16, Folder 16-17; »Acte d’Incorporation de l’Athénée Louisianais, 26.7.1892«, in: UNO/LaSC, Athénée Louisianais Collection, Mss 16, Folder 16-1. 137 | Vgl. Tregle, »Creoles and Americans«, 183; »Athénée Louisianais«, in: Daily Picayune, 13.5.1901.

IV. Fremde Stadt

Hinter diesen Bemühungen um die französische Sprache steckte letztlich das Bewusstsein, auf dem besten Weg zu einer vollständigen Assimilierung an die amerikanische Gesellschaft zu sein. Vor allem in den Leitartikeln der Zeitung Le Réveil, die zwischen 1897 und 1901 zweimal wöchentlich erschien und die sich in der kurzen Zeit ihrer Existenz zum Sprachrohr aller weißen Kreolen und Franzosen in New Orleans erklärte, klingt dieses Bewusstsein an.138 Während das Athénée Louisianais mit seinen kulturellen Veranstaltungen versuchte, den Gebrauch des Französischen zumindest in gebildeten Zirkeln aktiv zu fördern, beschränkte sich der Réveil darauf, den Untergang kreolischer Kultur lautstark zu beklagen und die Bevölkerung allgemein dazu aufzurufen, an ihrer Kultur festzuhalten. In polemischer Weise wetterten die Leitartikel des Réveil primär gegen den zunehmenden Rückzug der französischen Sprache aus dem kreolischen Leben in New Orleans, den sie als Grund allen Übels betrachteten. Wenn dem nicht Einhalt geboten werde, dann sei das Schicksal der frankophonkreolischen Kultur in New Orleans besiegelt und die vollständige Absorption in die amerikanische Gesellschaft unausweichlich. »Cette assimilation complète qui deviendra l’extinction et qu’on aurait tort de cacher du voile de l’illusion, est un danger qui nous menace et que nous ne pouvons pas, sans l’aggraver, feindre d’ignorer«139 , malte der Réveil den Teufel an die Wand. Besonders das Engagement anglophoner Kompagnien an der Französischen Oper nahm der Réveil zum Anlass für düstere Prophezeiungen: »Nous avons vu tomber une des dernières retraites du Français – l’Opéra. Dans une ville de trois cent mille âmes une troupe française ne trouve plus de quoi vivre pendant trois mois. C’est aussi triste que honteux, mais il faut s’incliner devant l’américanisation qui passe la tête haute. Race créole, vous étiez digne d’un meilleur sort; vous auriez pu mieux faire aussi. C’est trop tard. Vous êtes morte ou vous mourez. Je vous salue dans vos glorieux souvenirs!«140

Die Schuld an der bevorstehenden vollständigen Amerikanisierung des Kreolischen sah der Réveil in der Nachlässigkeit der Kreolen selbst. Vor allem der jüngeren Generation warfen die Redakteure vor, nicht geschlossen hinter der Bewahrung einer eigenen, besonderen Kultur zu stehen, sondern die Sprache ihrer Vorfahren zu vernachlässigen und indifferent die Amerikanisierung in Kauf zu nehmen. Letztlich, so der Réveil, hätten die Frankokanadier es ja auch geschafft, ihre Sprache, Sitten, Zeitungen und ihren Nationalcharakter innerhalb einer anglophonen Nation zu bewahren.141 Es ist dabei bemerkenswert, 138 | Vgl. Louisiana Newspaper Project (Baton Rouge: LSU Libraries, 31999). 139 | »Le Français en Louisiane«, in: Le Réveil, 31.5.1900. 140 | »Décadence«, in: Le Réveil, 7.11.1897. 141 | »Le Français en Louisiane«, in: Le Réveil, 31.5.1900.

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wie selbst dieses an einer frankophonen Renaissance interessierte Organ tief in die Mottenkiste der gängigen negativen Kreolen-Klischees griff, um sein Anliegen voranzutreiben. Feige sei es, auf die Sprache der Mutter zu verzichten, ein Vergehen, das nur eine »race décadente« begehen könne, die sich ohne Rückgrat an den Trends der Zeit orientiere.142 Mit diesen Klischees stand der Réveil nicht alleine da. Sogar in den Publikationen des Athénée Louisianais, die eine gewisse wissenschaftliche oder literarische Qualität vorauszusetzen meinten, findet sich das altbekannte Stereotyp des Kreolen. Den typischen Kreolen, so ist zu lesen, treffe man an der Straßenecke im »vieux quartier«, »la cigarette à la bouche, parlant, gesticulant, prenant un vif intérêt à toutes choses, mais, faut-il l’avouer, avec le défaut de sa race, n’approfondissant pas, étudiant, lisant et travaillant peu, et cependant ayant la crânerie d’attaquer n’importe quelle question de front!«143 In der Hoffnung, die frankophone Bevölkerung von New Orleans ob ihres eigenen Schicksals aufzurütteln, bemühten die frankophonen Publikationen jenes Klischee des nachlässigen, wenig engagierten, passiven und selbstverliebten Kreolen, das oft als Teil des Latin Charakters der Stadt gesehen wurde.144 Für die Kreolen, die sich mit Hilfe des Athénée Louisianais und anderer frankophoner Organe bemühten, eine spezifisch weiße, kreolische Individualität innerhalb der New Orleanser Gesellschaft zu fördern, schlossen sich dabei amerikanische und kreolische Identität nicht aus. »Le Créole est fier de son titre d’américain, il se glorifie de son origine latine-française«145 , betonte ein Artikel in der Zeitschrift des Athénée. Loyalität gegenüber den USA schien ihnen kein Grund, leichtfertig auf eine eigene Kultur zu verzichten. »La conservation des moeurs, des coutumes, de l’individualité, qui sont chères comme le souvenir même des aieux, n’est pas incompatible avec l’attachement au pays d’adoption, la soumission à ses lois, l’intérêt à son progrès«146, befand auch der Réveil. Die Individualität der eigenen Gruppe hervorzustreichen schien ihnen dabei die letzte Bastion der Selbstdefinition, wenn schon ihre Autorität im Sinne politischer Macht am Ende des 19. Jh.s verloren gegangen war.

142 | »Décadence«, in: Le Réveil, 7.11.1897. 143 | Paul Villeré, »Le Créole – Réflexions d’Après-Guerre«, in: Comptes Rendus de l’Athénée Louisianais 3 (Juillet 1921), 65-85, hier 66. Ähnlich Alcée Fortier, »Les Créoles de la Louisiane«, in: Comptes Rendus de l’Athénée Louisianais, 8e série, 2:5 (Septembre 1901), 317-28, hier 328. 144 | Vgl. etwa Coleman (ed.), Historical Sketchbook, 149. 145 | John L. Peytavin, »Réfutation des erreurs de M. Geo.W. Cable au sujet des Créoles«, in: Comptes Rendus de l’Athénée Louisianais, 3e série, 3:4 (Juillet 1888), 125-33, hier 128. 146 | »Le Français au Canada et en Louisiane«, in: Le Réveil, 9.1.1900.

IV. Fremde Stadt

»Il importe donc que les Français de la Louisiane secouent leur indifférence et s’évertuent à conserver leur individualité, s’ils n’ont pas réussi à conserver leur autorité. Le temps n’est plus où ils envoyaient des gouverneurs français à Bâton-Rouge, mais il est encore temps de préserver les vieilles institutions françaises, d’en créer de nouvelles, de les développer, de vulgariser la langue, d’appuyer les mesures ayant un caractère français ou créole, de défendre l’Opéra contre l’envahisseur, et même de lire les journaux français. Tout ce qui a ce caractère doit être défendu et conservé, à titre de relique, sinon d’utilité.« 147

Gewissermaßen stellten Sprache und die damit verbundene Kultur im Sinne von Institutionen wie der Französischen Oper, Zeitungen und Bücher, oder langjährigen Traditionen wie jener, Todesanzeigen an den Pfosten in der Stadt anzubringen148, den kleinsten gemeinsamen Nenner dar, der noch ein gewisses Maß an Gruppenkohäsion und -profil bieten sollte.149 Die französische Sprache und die frankophone Kultur, das hatte die Führung des Athénée Louisianais unter Alfred Mercier längst erkannt, war die letzte Bastion des Kreolentums. »Nous tous Créoles« lautete die inklusive Formel, die bei den Treffen des Athénée Louisianais immer und immer wieder beschworen wurde, meist verbunden mit einer Aufforderung zur Bewahrung der Traditionen.150 In ihrem Fokus auf Sprache, Traditionen und kulturelle Institutionen begaben sich die Kreolen jedoch selbst in eben jene ›Kulturecke‹, der sie auch in der Fremdwahrnehmung durch andere New Orleanians, wie sie sich im Creole myth ausdrückte, zugewiesen wurden. Längst war das Französische kein relevanter Faktor mehr in den Bereichen Wirtschaft, Recht und Politik, was Gayarré, Mercier und die anderen schon in den 1880er Jahren erkannt hatten.151 Die Sprache konnte wenn überhaupt im Bereich der Kultur und der »lettres«, der Geisteswissenschaften, bewahrt werden – von diesem Anspruch her rührte auch der Name Athénée Louisianais, der auf das Athenaeum als Versammlungsort von Gelehrten verwies.152 Mit dieser Konzentration auf die französische Sprache als Instrument der Bildung und Gelehrsamkeit trug die Elite der Kreolen selbst zu der Entwicklung bei, der Sprache ihrer Vorfahren den aktiven Gebrauch im 147 | »Le Français en Louisiane«, in: Le Réveil, 31.5.1900. 148 | »Une Vieille Coutume«, in: Le Réveil, 6.1.1898. 149 | Tregle, »Creoles and Americans«, 184. 150 | Etwa Minutes de l’Athénée Louisianais Nov. 7, 1913 – May 7, 1931, 29.4.1921, in: UNO/LaSC, Athénée Louisianais Collection, Mss 16, Folder 16-14, 90. 151 | Charles Gayarré, »La Race Latine en Louisiane«, in: Comptes Rendus de l’Athénée Louisianais, 3e série, 1:2 (Mars 1885), 79-100, hier 79; Alfred Mercier, »Progrès de la Langue française en Louisiane«, in: Comptes Rendus de l’Athénée Louisianais, 2e série, 2:5 (Septembre 1883), 417-19, hier 419. 152 | Gayarré, »Race Latine«, 79.

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alltäglichen Leben abzusprechen und sie in den Bereich elitärer Kultur zu verbannen. Als Garant literarischer Qualität und kultureller Institutionen wie der Oper kam der französischen Sprache die Funktion zu, Traditionen zu erhalten, während diesen Traditionen die Funktion zukam, die Sprache zu erhalten; beide gingen eine Symbiose ein. Letztlich lag die kreolische kulturelle Identität damit in der Vergangenheit begründet. Es ging darum, Sprache und Sitten der Vorfahren zu ehren, nicht darum, in der Gegenwart als frankophone Gruppe soziale oder politische Rechte durchzusetzen, etwa frankophone Schulen o.ä., wie es zur selben Zeit in Kanada der Fall war. Der Preis für Integration und Amerikanisierung war ein Verschieben der »ethnic identity« in die Vergangenheit.153 Als 1914 ein neuer Herausgeber die Tageszeitung L’Abeille/The Bee übernahm, wurde bezeichnenderweise über diesen berichtet: »Mr. de la Vergne, whose father, grandfather and great-grandfather were New Orleans people – and who traces his ancestry back to noble French blood, has set out to uphold in his newspaper the ›beautiful French language, the old French traditions and to inspire the Creole and French youth of the city to learn the speech, the songs, the stories of their forefathers‹.«154 In ihrer engen Bindung an das, was als Kultur der Vorfahren perzipiert wurde, verwandelte sich die Sprache selbst in ein Relikt aus anderen Zeiten, das wehmütig und nostalgisch betrachtet wurde. Die Frankophonie selbst stellte so nur noch eine nostalgische Reminiszenz an die Vergangenheit dar. Sogar der kleinste gemeinsame Nenner der Kreolen war fest im Reich der Nostalgie angesiedelt und bildete einen wichtigen Bestandteil des Mythos vom weißen, aristokratischen und kultivierten Kreolen. Derselbe Diskurs, der in den nicht-kreolischen Bevölkerungsteilen von New Orleans die koloniale Vergangenheit als aristokratisch und edel verklärte, prägte dabei auch unter den Kreolen das Reden über die Vergangenheit. Von der eigenen »noble origine« war ebenso häufig die Rede wie von einer »belle époque, cette époque chevaleresque«155, deren Andenken mit den Traditionen aus eben jener Zeit hochgehalten werden sollte. Man verstand sich selbst als »race distinguée«.156 Mit dieser Verklärung und Mythisierung der eigenen Geschichte zeigt sich, dass auch in kreolischen Kreisen – wie weiter oben für Neuengland angeführt – die Distanz zur eigenen Vergangenheit schon so groß war, dass man sich in nostalgischen Sphären bewegte. Dementsprechend ähnelte die Sprache 153 | Anschauliche Analyse dieses Phänomens des »distancing ethnic identity« anhand der Situation von Aboriginal People in Kanada bei Evelyn I. Légaré, »Canadian Multiculturalism and Aboriginal People: Negotiating a Place in the Nation«, in: Identities 1:4 (1995), 347-66, v.a. 352-54. 154 | »French news still will be featured«, in: Item, 29.3.1914. 155 | »Une Vieille Coutume«, in: Le Réveil, 6.1.1898. 156 | Charles F. Claiborne et Edgar Grima, »Nécrologie: Charles Théodore Soniat du Fossat«, in: Comptes Rendus de l’Athénée Louisianais 2 (Avril 1918), 37-47, hier 44-45.

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der Kreolen, wenn sie über die zu bewahrende Vergangenheit sprachen, der der preservationists. »Un peuple ne doit pas toucher à ces vestiges de son histoire, à ces anciennes coutumes, reliques des aieux […].«157 Wie die architektonischen Traditionen erschienen auch alle anderen alten Sitten als schützenswerte Relikte einer längst vergangenen Zeit und als verehrungswürdige Reliquien zugleich. Wenn es schon keine nützlichen Gründe gab, Elemente einer kreolischen Kultur zu bewahren, so sollten sie zumindest als Reliquien erhalten werden.158 Letztlich erweisen sich damit der Creole myth in all seinen Facetten sowie der darauf beruhende Umgang mit der Vergangenheit von New Orleans als ein Produkt des Wechselspiels gleichartiger Selbst- und Fremdzuschreibung, und das über die bloße Grundvoraussetzung der whiteness hinaus.

A LTE UND NEUE W ISSENSORDNUNGEN Gelegentlich lassen sich um die Jahrhundertwende sogar präzise Momente greifen, in denen die lebendigen Traditionen einer neuen Ordnung weichen mussten, Momente des Übergangs von der im Réveil angesprochenen Nützlichkeit der Sitten zu ihrem Verschwinden oder zu ihrem Bewahren als Reliquie. Der vormals ›nützliche‹ Wert der Traditionen der alten kreolischen Kultur war im Kanon des nunmehr gültigen Wissens nicht mehr verständlich. Während das Athénée Louisianais explizit politische und religiöse Fragen aus seinem Programm ausgeschlossen hatte und sich auf Kultur und Sprache konzentrierte, sich damit also letztlich mit dem Verlust an Autorität im politischen Leben der Stadt abfand, legte der Réveil immer wieder die Finger in die Wunde des Machtverlustes, indem er über den Bedeutungsverlust des alten, kreolischen Wissens klagte. In genau dieser Bewusstwerdung des Verlustes lag jedoch der gleichzeitige Übergang zur nostalgischen Verehrung. Ein Beispiel wären die bereits erwähnten Todesanzeigen, die üblicherweise an die Pfosten der Stadt geheftet wurden. Einer Stadtverordnung, die Werbung im öffentlichen Raum verbot, fiel auch diese langjährige Tradition zum Opfer, da die Todesanzeigen als Werbemaßnahme für religiöse Versammlungen angesehen wurden. Allerdings erfüllte diese Tradition eine ganz spezifische Funktion im Kontext des New Orleanser Klimas. Bei der großen Hitze konnte oft nicht bis Redaktionsschluss der lokalen Zeitungen gewartet werden, um dort eine Todesanzeige zu veröffentlichen – bis dahin war die Bestattung schon längst erfolgt. Das visuelle Verbreiten der Nachricht im Stadtraum war daher zu Zeiten, zu denen die meisten Zeitungen nicht täglich erschienen, die schnellste

157 | »Une Vieille Coutume«, in: Le Réveil, 6.1.1898. 158 | »Le Français en Louisiane«, in: Le Réveil, 31.5.1900.

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Art und Weise, ein größeres Publikum zu erreichen.159 Mit den großen Tageszeitungen und den Kühlmöglichkeiten des späten 19. Jh.s schien diese Methode jedoch schlicht überflüssig. Die Vision einer harmonischen und uniformen City Beautiful, in der der Stadtraum nicht durch private Interessen verschandelt werden durfte, und schon gar nicht, wenn deren Funktionalität für die Allgemeinheit nicht erkennbar war, schloss eine solche Form der Nachrichtenübermittlung aus. Indem der Réveil auf den nützlichen Aspekt der öffentlich ausgehängten Todesanzeigen verwies, suggerierte er, dass jene, die diese Tradition pflegten, mit dem Klima von New Orleans bestens vertraut seien; sie seien native to the soil und wüssten, wie sie mit der subtropischen Hitze umzugehen hätten. Nützlich schien diese Tradition daher nur im räumlichen Kontext des lokalen Klimas und im zeitlichen Kontext der Antebellumära; nur innerhalb dieses Rahmens machte die alte Tradition als Ausdruck von funktionalem Wissen Sinn und ihre Anhänger wurden als Experten der örtlichen Gegebenheiten ausgewiesen – aber auch als Bewohner einer längst vergangenen Zeit. Diese Gepflogenheit um 1900 bewahren zu wollen, schien schlicht anachronistisch oder wies auf nostalgische Sehnsucht. Tatsächlich war der Protest wirkungsvoll: Nach einem Monat konnte der Réveil melden, dass die Todesanzeigen im öffentlichen Raum wieder zugelassen waren.160 Ein weiteres Relikt der Vergangenheit war damit in den Neuen Süden hinübergerettet. Dieselbe grundlegende Argumentationslinie der Nützlichkeit einer alten Tradition verfolgte der Réveil auch in den gleichzeitigen Debatten um den Ausbau der levees, jener Dämme, die den Mississippi daran hindern sollten, bei Hochwasser über die Ufer zu treten. Levees hatten in New Orleans eine lange Geschichte. Die ersten Schutzwälle entlang des Flusses waren bereits 1727 durch die Compagnie des Indes errichtet worden.161 Auch unter spanischer Herrschaft hatte der Erhalt der levees oberste Priorität; er wurde sogar mit öffentlichen Geldern finanziert. Während die Stadtbevölkerung so durch die öffentliche Hand geschützt wurde, war es in den angrenzenden ländlichen Gebieten Privatsache, den Überschwemmungen vorzubeugen. Eine mangelhafte Flutprävention auf dem Land hatte jedoch auch für die Stadt Konsequenzen. Trat der Mississippi außerhalb der Stadt über die Ufer, so konnte das Wasser seitlich in die Stadt Eingang finden.162 Kolonialgesetze von 1728 und 1743 legten daher fest, dass Landeigentümer außerhalb von New Orleans selbst levees errichten mussten. Dies war allerdings eine kostspielige Angelegenheit und nur für wohlhabende Plantagenbesitzer denkbar, die Sklavenarbeit einsetzen konnten. Ärmere Land159 | »Une Vieille Coutume«, in: Le Réveil, 6.1.1898. 160 | Le Réveil, 30.1.1898. 161 | Vgl. Colten, Unnatural Metropolis, 19. 162 | Vgl. ebd., 19-20.

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besitzer kamen ihrer Verpflichtung daher kaum nach; darüber hinaus erwiesen sich die privat gebauten levees häufig als instabil und wurden immer wieder von den Fluten durchbrochen.163 Dennoch war das Land flussaufwärts von New Orleans so immerhin zum Teil geschützt. Hinter den levees lag das fruchtbare Hinterland der Stadt, während die ungeschützten Stellen stetig überflutet wurden.164 In den ersten Jahrzehnten nach der Staatswerdung Louisianas wurde das alte System beibehalten: In der Stadt wurden die levees mit Steuergeldern bezahlt, außerhalb der Stadt wurden die Landbesitzer verpflichtet.165 Erst in den 1840er Jahren rief der Staat Louisiana das Amt des state engineer ins Leben, der für das gesamte levee-System verantwortlich zeichnete. Die state engineers waren es, die als erste explizite Kritik an der »levees-only policy« äußerten.166 Bereits 1817 hatte der Geograph William Darby festgestellt, dass die Begrenzung des Flusses durch die levees seinen Wasserstand deutlich erhöht hatte, was ihn wiederum gefährlicher werden ließ und einen Teufelskreis aus levee-Erhöhung und höherem Wasserstand nach sich zu ziehen schien.167 1846 schlug der state engineer Paul Octave Hébert vor, dass man stattdessen versuchen solle, den Wasserstand des Flusses zu senken, indem man seine outlets, also Seitenarme, wieder öffne. Nur so könne die Gefahr wirklich gebannt werden.168 Allerdings blieben die Vorschläge des Ingenieurs, die levee-Politik durch outlet-Politik zu ergänzen, ungehört. Die Pflanzer befürchteten, ihre an den Bayous liegenden Plantagen würden überschwemmt, sobald die Bayous als outlets dienten. Der Staat Louisiana befand die Öffnung von outlets für viel zu teuer, da das Land dafür erst erworben werden musste.169 Auch der Nachfolger Héberts, Absalom D. Wooldridge, setzte sich entschieden dafür ein, einen Teil der Fluten via outlets zum Meer abzuleiten. Der stete Unterhalt und Ausbau der levees erschien ihm deutlich kostspieliger als diese Lösung; die Anwohner der Bayous sollten zudem in seinen Augen bereit sein, einen Teil der Flutenlast zu

163 | Ebd., 20. 164 | Ebd., 21. 165 | Ebd., 22. 166 | Ebd., 25. 167 | William Darby, A Geographical Description of the State of Louisiana (New York: James Olmstead, 1817), 63; vgl. Colten, Unnatural Metropolis, 22. 168 | Paul Octave Hébert, Annual Report of the State Engineer to the Legislature of the State of Louisiana (New Orleans: The Jeffersonian, 1846), 10-11; vgl. Colten, Unnatural Metropolis, 26; vgl. George S. Pabis, »Subduing Nature through Engineering: Caleb C. Forshey and the Levees-only Policy, 1851-1881«, in: Craig E. Colten (ed.), Transforming New Orleans and Its Environs: Centuries of Change (Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 2000), 64-83, hier 65. 169 | Colten, Unnatural Metropolis, 26.

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tragen.170 Die folgenden Jahrzehnte waren von einem heftigen Streit innerhalb der Ingenieurszunft geprägt, der die Anhänger der »levees-only policy« und ihre Kritiker entzweite.171 Ein wichtiges Argument der Anhänger der levee-Politik war, dass outlets dem Geist der Zeit zuwiderliefen, jenem Geist, der der Natur Land zur Kultivierung abgewann.172 Die Natur mittels der Ingenieurskunst einzudämmen schien in einer von Fortschrittsoptimismus und Technikgläubigkeit geprägten Zeit deutlich passender, als dem Mississippi outlets zu eröffnen und ihm so in gewissem Sinn nachzugeben, weshalb sich die »levees-only policy« weiter durchsetzen konnte.173 Levees stellten letztlich für die meisten Ingenieure ein effizientes Mittel zur Eroberung der Natur dar, eine Haltung, die bis in die 1920er Jahre innerhalb der Ingenieurszunft vorherrschte.174 Eine Kehrtwende in der levee-Politik hätte zudem fundamentale Eingriffe in das bestehende System und die Umwelt bedeutet, denen sich weder Stadt noch Staat stellen mochten.175 Bis zur großen Flut von 1927, als nur noch das Sprengen der levee zu einem künstlichen outlet die Stadt retten konnte, blieb die »levees-only policy« daher das Instrument erster Wahl bei der Überschwemmungsprävention.176 1897 kursierten Pläne in der Stadt, die bereits existierenden levees flussabwärts auszubauen, etwa auf Höhe des Third District. Diese Pläne sorgten für eine öffentliche Debatte in der lokalen Presse. Die Picayune unterstützte das Vorhaben der Ingenieure und empfahl, die betroffenen Anwohner zu enteignen, um den Ausbau der levees zu ermöglichen.177 Der Réveil hielt dagegen, dass es Barbarei sei, den vorwiegend ärmeren Einwohnern dieses Distrikts auch noch ohne Entschädigung ihre kleinen Stücke Land am Fluss abzunehmen, die häufig ihr einziges Eigentum darstellten.178 Weniger als ein rein kreolisches Sprachrohr betrachteten sich die Herausgeber des Réveil als Vertreter des alten Faubourg Marigny, des Third District, jener downtown wards (7th, 8th, 9th ward), die flussabwärts des French Quarter zwischen Esplanade Avenue und der Grenze des Stadtbereichs lagen (vgl. Abb. 10) und vorwiegend von Kreolen, zugereisten Franzosen – den sogenannten »foreign french«179 – und anderen Immig170 | Ebd., 29; vgl. Pabis, »Subduing Nature«, 65. 171 | Ausführlich ebd., 64-83. 172 | So etwa der Ingenieur George Willard Reed Bayley 1849, Pabis, »Subduing Nature«, 66. 173 | Vgl. ebd., 82-83. 174 | Vgl. ebd., 66. 175 | Vgl. Colten, Unnatural Metropolis, 30. 176 | Ebd., 142. Ausführliche Geschichte der Flut von 1927 bei Barry, Rising Tide. 177 | »Les Levées et les Ingénieurs«, in: Le Réveil, 9.9.1897. 178 | Ebd. 179 | Vgl. Paul F. Lachance, »The Foreign French«, in: Hirsch and Logsdon, Creole New Orleans, 101-30.

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ranten bewohnt wurden. Den Protest gegen die Enteignung bettete der Réveil in eine grundsätzliche Kritik der levees ein. In ihrer Argumentation gegen den Ausbau der Dämme stellte die frankophone Zeitung überspitzt zwei Wissensordnungen einander gegenüber, die einen fundamental anderen Umgang mit dem Mississippi implizierten. Die eine stützte sich auf die wissenschaftliche und technische Expertise der Ingenieure, die andere auf die über Generationen hinweg tradierten Erfahrungen der Anwohner des Flusses. Der Réveil wetterte dabei gegen die Ingenieure, die auf Basis ihres Expertentums die Hoheit über den Umgang mit dem Mississippi beanspruchten und unfehlbar erschienen. Ihnen entgegen stellte er die Erfahrungen derjenigen, die an den Ufern des Flusses alt geworden waren. »L’expérience vaut parfois mieux que la science«, befand die Zeitung, denn der Mississippi habe in der Vergangenheit gezeigt, dass er kapriziös sei und sich im Falle von Hochwasser sein eigenes Flussbett suche. Damit befürwortete der Réveil die Theorie der natürlichen outlets. Wie die state engineers der Mitte des 19. Jh.s argumentierte der Réveil, dass gerade eine Einengung des Flussbettes durch die Dämme bei starkem Regen dazu führe, dass der Wasserpegel ansteige. Die natürlichen outlets – Bayous und Flussarme – dürften nicht abgeschnitten werden, sondern sollten als Ventile erhalten bleiben.180 Der Réveil war sich durchaus bewusst, dass diese Theorie nicht der Mehrheitsmeinung innerhalb der Ingenieurszunft entsprach und führte seine Kritik daher auf einer noch grundlegenderen Ebene: Er zweifelte die Stellung der Ingenieure als neutrale Experten per se an und deutete auf das Eigeninteresse der Ingenieure hin, Dämme aus-, um- und aufzubauen.181 Damit lieferte die frankophone Zeitung ein in den öffentlichen Debatten um die Stadtgestalt im New Orleans der Jahrhundertwende seltenes Beispiel der Modernisierungskritik, die sich nicht darauf beschränkte, einer Expertenmeinung eine andere entgegenzusetzen, sondern die die zeitgenössische Verehrung des Experten an sich in Frage stellte. Nicht wissenschaftliche und technische Kenntnis sollten die Basis für den Umgang mit dem Mississippi liefern, sondern die langjährige, generationsübergreifend tradierte Erfahrung eines Lebens am und mit dem Fluss. Die Deutungs- und Handlungshoheit über den Mississippi sprach der Réveil damit jenen zu, die sich rühmten, dass sie schon seit Generationen in Louisiana ansässig waren; letztlich also den Kreolen. Wie im Fall der Todesanzeigen wies er die Kreolen als intime Kenner der lokalen Umweltbedingungen aus, aber auch als Anhänger einer wissenschaftlich überholten Haltung. Dass es um die Profilierung der alteingesessenen Bevölkerung ging und nicht um eine allge180 | »Les Levées et les Ingénieurs«, in: Le Réveil, 9.9.1897. Ebenso »Le Long de la Levée du Troisième District«, in: Le Réveil, 25.7.1897. 181 | »[…] il faut se défier de l’ingénieur parce qu’il est partie intéressée«, »Les Levées et les Ingénieurs«, in: Le Réveil, 9.9.1897.

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meine und grundsätzliche Modernisierungskritik konservativer Kreolen, zeigt sich daran, dass der Réveil in vielerlei Hinsicht die Modernisierungsbestrebungen im Stadtraum unterstützte, so die drainage und die sewerage.182 Die Debatte um die levees verdeutlicht, dass zumindest ein Teil der frankophonen community offenbar nicht bedingungslos ein jegliches Modernisierungsprojekt bejubelte, sondern von Fall zu Fall unterschiedliche Wissensbestände gegeneinander abwog. Dabei wurde die Sicht des Réveil auf die Gegner und Befürworter der levees der Kluft innerhalb der Ingenieurszunft in Sachen levees nicht gerecht. Was zum tradierten Wissen einer alteingesessenen Bevölkerungsgruppe stilisiert wurde, entsprach durchaus den Ansichten eines Teils der Ingenieure, stellte somit auch eine mögliche Meinung innerhalb der auf technischer Expertise basierenden Wissensordnung dar – wenngleich eine Minderheitsmeinung. Zudem waren gerade die alten Pflanzer im 18. und 19. Jh. gegen die outlet-Lösung gewesen, da outlets drohten, ihre Plantagen zu überschwemmen. Offenbar wurde das aber von den Herausgebern des Réveil so nicht wahrgenommen. Dass sie die alte kreolische Tradition mit der outlet-Lösung identifizierten, ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass in den 1830er Jahren ein erbitterter Streit Kreolen und Amerikaner entzweit hatte, dessen Grundlage auch eine unterschiedliche Perzeption des Mississippi bildete. Die kreolische Elite dieser Jahre hatte sich im Stadtrat, den sie dominierte, gegen den von Amerikanern flussaufwärts im Faubourg St. Mary geplanten Ausbau des Hafens von New Orleans ausgesprochen, da sie der Überzeugung war, dass die natürlichen Sedimentierungsprozesse des Flusses den Neubau zunichte machen würden.183 Der Mississippi, so der Grundtenor, dürfe nicht misshandelt werden, sonst würde er eines Tages den Hafen gänzlich vernichten.184 Letztlich war der Protest der kreolischen Elite auch ihrer Befürchtung geschuldet, die Amerikaner könnten den Handel auf dem Mississippi monopolisieren und Wirtschaft und Politik in der Stadt dominieren.185 Möglicherweise aber blieb die Nähe zum Fluss, der Widerwille, diesen nach Gutdünken zu formen, im kollektiven Gedächtnis als kreolische Position haften. Dass der Réveil die Bruchlinie zwischen dem alten, kreolischen Wissen und dem neuen Ingenieurswissen verlaufen sah und nicht zwischen zwei konkurrierenden Ingenieursmeinungen, deutet jedoch auch an, wie sehr er die kreolische Bevölkerung schon als vom aktuell gültigen Wissen und damit vom Zugang zu politischer Macht ausgeschlossen betrachtete. Dieses Beispiel zeigt so weniger den faktischen Übergang von kreolischer Macht 182 | »Les Egouts«, in: Le Réveil, 6.10.1898. 183 | Ari Kelman, A River and Its City: The Nature of Landscape in New Orleans (Berkeley: University of California Press, 2003), 71. 184 | Ebd., 73. 185 | Ebd., 71.

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zur Bewahrung einer kulturellen kreolischen Identität als Reliquie, sondern eher einen solchen gefühlten Übergang und die damit einhergehende Konstruktion einer kreolischen ›outlet-Tradition‹, einer Tradition des Umgangs mit dem Mississippi. Der Réveil bewegte sich auch hier im Rückblick auf ein (fiktives) Leben im Einklang mit dem Mississippi bereits auf nostalgischem Terrain. Nur gelegentlich kippte die Frustration im Angesicht des Machtverlusts und des Übergangs in das Reich der Nostalgie um in den alten amerikanerfeindlichen Diskurs der Antebellumära. Allerdings bemühte man die Dichotomie »amerikanisch – französisch« nur noch dann, wenn sie als deckungsgleich mit Klassendifferenzen wahrgenommen wurde. Der im Athénée Louisianais organisierten kreolischen Elite war der Rückgriff auf diese Opposition daher fremd. Im Réveil jedoch finden sich regelrechte Ausbrüche des Neids auf das sogenannte uptown oder amerikanische Viertel. Gerade im Kontext der Stadtverschönerungsmaßnahmen zeigt sich auch hier, dass es weniger um grundlegende Modernisierungskritik ging, als um das latente Gefühl, ein armer Stadtteil werde benachteiligt und erhalte nicht den ihm zustehenden Teil des Modernisierungskuchens. Der Gegensatz von Arm und Reich wurde dabei in den alten ethnischen Kategorien von französisch und amerikanisch gefasst. Bisher, befand der Réveil 1897, waren alle öffentlichen Gelder in die Entwässerung und Straßenpflasterung des »quartier américain« geflossen.186 Die Stadtteile flussabwärts der Canal Street, vor allem aber der Esplanade Avenue, also der Dritte Distrikt, seien dagegen völlig vernachlässigt worden. Zu einer Stadt zu gehören bringe nichts, wenn man nur Steuern zahlen müsse, ohne davon zu profitieren. »Alors il vaudrait mieux aviser à une séparation, à revenir libres comme jadis«187, tönte der Réveil und liebäugelte mit der Vorstellung einer Sezession des Dritten Distriktes aus der Stadtgemeinschaft. Damit spielte er auf die Antebellumära an, in der New Orleans zeitweilig in drei unabhängige Kommunen geteilt worden war. Ursache war der oben erwähnte Streit um den Ausbau des Hafens, der die Stadt entlang ethnischer Grenzen teilte. Als sie sich mit ihren Vorhaben nicht hatten durchsetzen können, hatten die Amerikaner des Faubourg St. Mary (uptown) die Sezession aus der Stadtgemeinschaft vorangetrieben. Von 1836 bis 1852 bestand New Orleans aus drei municipalities, deren Grenzen mit den späteren Distrikten deckungsgleich waren (Abb. 26). Jede dieser Kommunen wählte einen eigenen Stadtrat und einen eigenen Bürgermeister.188

186 | »Au Troisième District«, in: Le Réveil, 8.8.1897. 187 | Ebd. 188 | Kelman, A River and Its City, 72-75.

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Abbildung 26: Die First, Second und Third Municipalities, drei getrennte Gemeinden, in die New Orleans zwischen 1836 und 1852 geteilt war (Karte: Norman’s Plan of New Orleans and Environs, 1849). »Si la chose était possible le quartier français aurait au moins la satisfaction de savoir que son argent ne servirait plus à l’embellissement du quartier américain«189, seufzte der Réveil und klagte: »On prend l’argent du 3ème district, par exemple, et on le passe aux quartiers riches afin de continuer à les embellir.«190 ›Reich‹ und ›amerikanisch‹ waren dabei ebenso Synonyme wie ›arm‹ und ›französisch‹.

S ALONKULTUR UND POLITISCHE M ACHT Dass weder das Athénée Louisianais noch die Tageszeitung L’Abeille in dieselbe Kerbe schlugen, lässt erahnen, wie unmöglich es um 1900 geworden war, ›die‹ Kreolen in eine politisch aktive, kohärente Gruppe zu formen. Mit dem whitening der Kreolen und ihrer Amerikanisierung rückten die ethnischen Konfliktlinien der Antebellumzeit in den Hintergrund. Gemeinsame politische Interessen fanden sich eher auf Stadtteil- oder Klassenbasis. Ihrer eigenen sozialen Position waren sich etwa die Mitglieder des Athénée Louisianais durchaus bewusst. In den Protokollen der Sitzungen wurde häufig vermerkt, welch 189 | »La Rue du Canal«, in: Le Réveil, 5.8.1897. 190 | »Répartition des Fonds au Conseil de Ville«, in: Le Réveil, 16.1.1898; auch »Le Long de la Levée du Troisième District«, in: Le Réveil, 25.7.1897.

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glanzvolles Publikum zu den Veranstaltungen des Athénée erschien. »Ce jour à 5 heures du soir dans les salons dorés de l’Hôtel Grunewald se pressait une foule distinguée composée de l’élite de la société néo-orléanaise«191, lautete beispielsweise der Kommentar zum Gastvortrag eines Professors aus Paris. Auch die Art der regulären Versammlungen und ihr Ablauf deuten darauf hin, dass sich hier ein anderes Publikum einfand als jene Kreolen, zu deren Sprachrohr sich der Réveil erklärt hatte. Meist fanden die monatlichen Treffen abends bei einem der Mitglieder statt, und sie folgten immer demselben Ablauf. Gegen 20:30 Uhr eröffnete der Präsident des Athénée die Sitzung, dann folgte das den Verein betreffende Geschäftliche – Korrespondenz, Abstimmungen –, daraufhin trug ein Mitglied etwas Literarisches oder Literaturkritisches vor, im Anschluss wurde musiziert und es erklangen französische Lieder. Später am Abend wurden Erfrischungen gereicht.192 Nicht selten lautete die Adresse der Gastgeber »Avenue de l’Esplanade«, eine der edelsten Adressen downtown und traditioneller Wohnort der kreolischen Elite193, und die Protokolle der Sitzungen wurden nicht müde, das stilvolle Ambiente der Treffen »dans les vastes et beaux salons« der Mitglieder zu loben.194 Die regelmäßigen Treffen des Athénée Louisianais glichen daher von Inhalt und Ablauf her eher dem Versuch, die Pariser Salonkultur in der Neuen Welt fortzuführen. Die Treffen erschienen weniger als pragmatische Arbeitssitzungen mit dem Ziel, einem breiteren Publikum die französische Sprache schmackhaft zu machen, als vielmehr als eine Gelegenheit für die Mitglieder des Athénée, sich in ihrer eigenen Welt der literarischen Salons selbst zu beklatschen. Den elitären Anspruch spiegelten auch die Ehrengäste, die zu den Versammlungen geladen waren. Professoren und Autoren aus Frankreich mit ihren Familien oder der französische Konsul in New Orleans waren gern gesehene Gäste.195 »In January 1970, l’Athénée Louisianais celebrated the ninety-fourth anniversary of its founding in New Orleans by an élite intent on preser-

191 | Séance du 8 décembre 1919, in: UNO/LaSC, Athénée Louisianais Collection, Mss 16, 16-14 Minutes de l’Athénée Louisianais November 7, 1913 – May 7, 1932, 67. 192 | Vgl. etwa Séance du 14 décembre 1913, in: UNO/LaSC, Athénée Louisianais Collection, Mss 16, 16-14 Minutes de l’Athénée Louisianais November 7, 1913 – May 7, 1932, 4. 193 | Nur ein Beispiel ist das Treffen bei M. et Mme Bussière Rouen, Séance du 7 november 1913, in: UNO/LaSC, Athénée Louisianais Collection, Mss 16, 16-14 Minutes de l’Athénée Louisianais November 7, 1913 – May 7, 1932, 1. 194 | Etwa Séance du 20 Mai 1918, in: UNO/LaSC, Athénée Louisianais Collection, Mss 16, 16-14 Minutes de l’Athénée Louisianais November 7, 1913 – May 7, 1932, 63. 195 | Vgl. Séance du 14 décembre 1913, in: UNO/LaSC, Athénée Louisianais Collection, Mss 16, 16-14 Minutes de l’Athénée Louisianais November 7, 1913 – May 7, 1932, 4.

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ving the Latin heritage of its forebears«196, fasste eine Festschrift von 1970 das Gründungsprogramm zusammen. Knapp 100 Jahre nach der ersten Sitzung des Athénée war das elitäre Selbstverständnis dieser Assoziation ungebrochen. Der elitäre Zirkel des Athénée Louisianais blieb zudem nicht auf jene beschränkt, die sich selbst als Kreolen bezeichneten. Während der Verein mit seinen Aktivitäten kaum ein breiteres kreolisches Publikum erreichte, arbeitete er eng mit jenen anglophonen New Orleanians zusammen, die sich als Retter der ›wahren‹ kreolischen Kultur betrachteten und damit eifrig am Creole myth strickten. Grace King etwa, Schriftstellerin und Aktivistin im Balkonstreit, wurde 1915 zum »membre actif« des Athénée ernannt.197 Die kreolische Assoziation war folglich in das Netzwerk der anglophonen kulturellen Elite von New Orleans eingebunden, wohingegen sie der allgemeinen kreolischen Bevölkerung der Stadt fern blieb.198 Auch das zeugt von einer fortgeschrittenen Integration der Creoles ins amerikanische New Orleans. Ganz wie ihre anglophonen Mitbürger, waren die Kreolen um 1900 keine homogene Gruppe, sondern von großer sozialer Diversität geprägt. Der Verlust an Macht im wirtschaftlichen und politischen Leben der Stadt, über den der Réveil so klagte, traf zwar für die Kreolen als ethnische Gruppe zu – man konnte schon lange nicht mehr von einem Creole council sprechen wie noch in den 1830er Jahren, als ›die‹ Kreolen den Stadtrat dominiert hatten –, doch bekleideten einzelne Kreolen wichtige Ämter in Politik und Wirtschaft. Während die Creoles of Color, wie sie nach dem Bürgerkrieg genannt wurden, die bittere Erfahrung machten, im amerikanischen rassedichotomischen System aufgrund ihrer Hautfarbe dem sozialen Abstieg preisgegeben zu sein – es sei denn, sie waren so hellhäutig, dass sie als Weiße durchgehen konnten –, bewegten sich einige der weißen Kreolen in den Zentren lokaler Macht. Dementsprechend waren sie auch an den Debatten um die Gestalt des Stadtraums beteiligt, die die New Orleanser Öffentlichkeit um 1900 beschäftigten – und nahmen dabei wie ihre anglophonen Mitbürger die unterschiedlichsten Positionen ein. Es mag verwundern, dass sich kaum prominente Kreolen für den Denkmalschutz einsetzten. Einer der wenigen Denkmalschützer kreolischer Abstammung war der Architekt Samuel Stanhope Labouisse, der ab 1907 zusammen mit den Architektenkollegen Allison Owen und Moise Goldstein im neu eingeführten Architekturstudiengang der Tulane University lehrte.199 Das denkmalschützerische Netzwerk aus gebildeten Frauen, Schriftstellern, Architekten, Künstlern und Kunstprofessoren stand zwar im Kontakt 196 | James F. Bezou, L’Athénée Louisianais (1970), in: UNO/LaSC, Athénée Louisianais Collection, Mss 16, 16-13, 1. 197 | Séance du 27 mars 1915, in: UNO/LaSC, Athénée Louisianais Collection, Mss 16, 16-14 Minutes de l’Athénée Louisianais November 7, 1913 – May 7, 1932, 38. 198 | Tregle, »Creoles and Americans«, 184. 199 | http://architecture.tulane.edu/about/history, Stand 11.7.2011.

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zur kulturellen Elite der Kreolen – wie das Beispiel Grace Kings zeigt –, doch scheint es, als konzentrierten sich die im Athénée Louisianais organisierten Kreolen ausschließlich auf den Erhalt der französischen Sprache. Obwohl der langjährige Präsident des Athénée (1892-1914), Alcée Fortier, auch von 1894 bis 1914 Präsident der Louisiana Historical Society war, beteiligte er sich nicht am Streit um den Erhalt der alten Architektur. Es liegt nahe, dass den Mitgliedern des Athénée die Förderung der Frankophonie als kreolisches Distinktionsmerkmal bedeutender schien als die Bewahrung der alten Bausubstanz, für die sich eine breite Koalition anglophoner New Orleanians einsetzte.200 Prominente Kreolen fanden sich vor allem auf der anderen Seite der urbanen Debatten, auf der Seite der Modernisierer in der Association of Commerce. Charles Allan Favrot (1866-1939) etwa gehörte einer der Familien an, die im späten 19. und frühen 20. Jh. Eingang in all jene Bücher fanden, die sich mit den alten Familien von Louisiana oder dem Leben in New Orleans vor dem Bürgerkrieg befassten.201 Die Favrots hatten offenbar bereits in den 1730er Jahren den Weg nach Louisiana gefunden, weshalb sie zu den angesehensten Familien von New Orleans gehörten. Charles Allan Favrot war Architekt im Architekturbüro Favrot and Livaudais202 , seit 1913 Präsident des Louisiana Chapter des American Institute of Architects203 und aktives Mitglied der Association of Commerce. Als Vorsitzender des City Planning Committee der A of C unterstützte er deren Vorstöße, den Stadtraum von New Orleans grundlegend umzugestalten und zu modernisieren.204 Anders als sein Kollege Samuel Stanhope Labouisse gehörte er nicht zu jenen, die den Verlust der alten Bausubstanz beklagten oder für den Erhalt der Balkone eintraten, vielleicht weil er eng in die Association of Commerce eingebunden war, während sich Labouisse eher im Milieu der Tulane University bewegte. Eine Vermittlerposition zwischen den Fronten im Balkonstreit nahm Edward E. Lafaye ein. Lafaye wurde in den Bürgermeisterwahlen von 1912 auf dem Ticket der regulären Demokraten unter Martin Behrman in das Amt des Com200 | Das bestätigt das Engagement Alcée Fortiers für eine Reihe von franko-amerikanischen Organisationen, vgl. »Rapport du Comité chargé de préparer la nécrologie de notre regretté Président Alcée Fortier«, in: UNO/LaSC, Athénée Louisianais Collection, Mss 16, 16-14 Minutes de l’Athénée Louisianais November 7, 1913 – May 7, 1932, 18-20. 201 | Stanley Clisby Arthur, Old Families of Louisiana (New Orleans: Harmanson, 1931), 376; vgl. auch Eliza Ripley, Social Life in Old New Orleans: Being Recollections of My Girlhood (New York: Appleton, 1912), 177. 202 | Gary Van Zant, »James Freret«, in: KnowLA Encyclopedia of Louisiana, www. knowla.org/entry.php?rec=967, Stand 12.7.2011. 203 | Architectural Art and Its Allies, 8:6 (Dec. 1912), 8. 204 | »Report of the City Planning Committee«, 9.6.1916, in: UNO/LaSC, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, Ms 66, 66 -17 Bound vol. Jan. 14 – Dec. 29 1916.

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missioner of Public Property gewählt. In dieser Funktion hatte Lafaye die letztliche Entscheidungshoheit über den Umgang mit dem öffentlichen Raum: Dem Department of Public Property waren sämtliche Straßen und Plätze, Parks und Spielplätze sowie öffentliche Gebäude unterstellt. Die improvements des Stadtraums waren Lafaye eine Herzensangelegenheit. Vor allem tat er sich zwischen 1914 und 1916 durch die Initiierung diverser städtischer Clean Up-Kampagnen hervor. Während des Balkonstreits nahm Lafaye wiederholt an den Sitzungen des Committee on Canal Street Beautifying der Association of Commerce teil und zeigte sich empfänglich für ihr Anliegen.205 Den Modernisierungsbestrebungen der A of C kam er entgegen, indem er selbst an einem Plan zur Erneuerung der Canal Street arbeitete und die Notwendigkeit neuer Beleuchtungssysteme hervorstrich.206 Gleichzeitig aber unterhielt Lafaye engen Kontakt zur Denkmalschutzszene. Die Journalistin Ethel Hutson, die den Lokalteil des Item betreute und maßgeblich an der Formierung einer frühen Denkmalschutzbewegung beteiligt war, stand in regelmäßigem brieflichen Austausch mit Lafaye. Sie bewunderte den Commissioner für seine vorsichtige Abwägung aller Positionen und versuchte, ihn in zahllosen Briefen von der Haltung der preservationists zu überzeugen.207 Ihr war klar, dass letztlich Lafaye über das Schicksal der Balkone entscheiden musste208; dementsprechend rege fiel ihre Lobbyarbeit aus. Tatsächlich verliefen die Initiativen der Association of Commerce 1914 im Sand, da Commissioner Lafaye für Geduld plädierte, bis er seinen umfassenden Erneuerungsplan für das gesamte Areal der unteren Canal Street vorgelegt habe.209 Die Balkone dort gewannen damit Zeit. 1916 flammte der Streit erneut auf, diesmal bezüglich der Balkone in dem Teil der St. Charles Avenue, der im business district lag. Eine Verordnung der Stadtverwaltung von 1915 erlaubte dort explizit Balkone, sofern sie zu privaten Wohnhäusern gehörten, zwang aber Eigentümer von ›sheds‹, also den schlichten Überdachungen der Straße, diese abzureißen, es sei denn, sie dienten dem Sonnenschutz für Schaufenster. Auch elaboriertere Balkone, die kommerziell genutzt wurden, sollten aus dem Straßenbild verschwinden.210 Eine Folge von Klagen durch Eigentümer zeigte, wie schwer es war, einerseits zwischen Balkonen und ›sheds‹, andererseits zwischen privatem und kommerziellem Gebrauch zu unterscheiden, und stell205 | »Report of Committee on Beautifying Canal Street«, 8.5.1914, in: UNO/LaSC, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, Mss 66, 66-16 clasp vol. Dec. 16, 1913-Jan. 11, 1915. 206 | »To Campaign for City Beautiful«, in: Item, 30.4.1914. 207 | Etwa Ethel Hutson an E. E. Lafaye, 21.7.1914, in: TU/LaRC, Ethel Hutson Papers, Mss 14, Box 4, Folder 14-4-10. 208 | »What we all want«, in: Item, 20.5.1914. 209 | »Women Join in Balcony Fight«, in: Item, 10.5.1914. 210 | Ordinance 2386 CCS, 11.5.1915.

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te damit den kompromisshaften Charakter der Verordnung in Frage.211 Lafaye schlug dem Stadtrat gleichzeitig eine Verordnung vor, um im gesamten business district ein neues Beleuchtungssystem zu installieren. Er betonte, dass dieses mit den alten Balkonen kompatibel war und nicht deren Abriss verlangte.212 Dabei folgte er dem Argument der Balkonanhänger, dass Balkone als Schutz vor Sonne und Regen einen unschätzbaren Wert hätten.213 Edward E. Lafayes Politik war damit definitiv eine Politik des Ausgleichs zwischen den »art and business beauty ideas«214 im Stadtraum von New Orleans. Diese sicherte Lafaye eine breite Anhängerschaft, eine Schlüsselstellung im Machtgefüge der Stadt und einen festen Platz auf dem Behrmanschen Ticket. All dies war keineswegs selbstverständlich, denn selbst an einem im politischen Leben der Stadt aktiven und für Modernisierungen offenen Kreolen wie Lafaye hafteten die Zuschreibungen des Creole myth. Seine Benennung für den Posten des Commissioner of Public Property stellte für die Beobachter der Wahl von 1912 eine Überraschung dar.215 Kritische Stimmen wurden laut, als man den erst 32-jährigen Lafaye auf dem demokratischen Ticket entdeckte. »A typical French Creole«, habe man Lafaye genannt, erinnerte sich die Journalistin Ethel Hutson nach seinem Amtsantritt. »And that, on the lips of the average New Orleans business man, is synonymous with picturesque and polite inefficiency. […] First judgements about him are most deceiving. It is hard to realize that under his gentle, almost effeminate exterior, there are latent fires of indignation, shrewd bargaining purposes, far-reaching and statesmanlike plans. Men note his easy, boyish, genial manner, and scoff at the suggestion that he is made of other stuff than the thousand and one ›Gigis‹ that clerk in our banks and stores and create nothing more important than cigarette smoke« 216,

notierte die Journalistin, die von dem frischen Wind, den Lafaye in die Stadtverwaltung brachte, begeistert war. Dabei hing sie selbst offenbar auch denselben Kreolen-Klischees an, die die New Orleans business men verbreiteten. Auch sie befand ihn für »gentle« und nahezu »effeminate«, für »slender, boyish, nervous – a typical coffee-drinking, cigar-smoking Frenchman in appearance and manner; suave, courteous to all«217 (Abb. 27). 211 | »Owners Promise to Contest Shed Fines«, in: Item, 4.10.1916. 212 | »Change in Lighting Spares Balconies«, in: Item, 10.10.1916. 213 | Ebd. 214 | »Art and Business Beauty Ideas Clash«, in: Item, 20.5.1914. 215 | »Mr. Lafaye«, in: Times-Picayune, 15.1.1919. 216 | Notizen über E.E. Lafaye, s.d., in: TU/LaRC, Ethel Hutson Papers, Mss 14, Box 7, Folder 14-7-6. 217 | Ebd.

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Abbildung 27: Edward E. Lafaye, »Commissioner of Public Property« von New Orleans zwischen 1912 und 1918. Bild und Bildüberschrift (»young man behind the cigar«) spielen mit den typischen KreolenKlischees (Foto: Item, 1.7.1914). Allerdings sah Ethel Hutson unter dieser Oberfläche des eleganten Kreolen nicht den stereotypischen Kreolen, der ineffizient, feminin, in der harten Welt der Geschäfte und der Politik fehl am Platze und einer anderen, pittoresken Welt der Vergangenheit zu entstammen schien, sondern etwas anderes: den Nachfahren der ›tapferen‹, ›heißblütigen‹ französischen Pioniere, die gegen

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alle widrigen Umstände New Orleans auf einem Sumpf erbaut hatten.218 Seine »statesmanlike plans« und sein scharfsinniges Verhandlungsgeschick im Minenfeld lokaler Politik führte sie somit auf einen weiteren amerikanischen Mythos zurück, den Pioniermythos. Der Unternehmergeist der Pioniere, ihre Zähigkeit im Kampf gegen die Natur – und damit der Lafaye zugeschriebene Charakter – entsprachen dabei letztlich den Idealen der business-Welt des Neuen Südens. Lafayes Qualitäten wurden auch in der Times-Picayune bei seinem Rücktritt 1918 – er hatte den lukrativeren Posten des Vizepräsidenten einer lokalen Bank angenommen219 – in den Begriffen gefasst, die den Selbstzuschreibungen der business community des Neuen Südens entstammten. Die Rede war von seinem Fleiß, seiner Energie und seinem Fokus auf die Arbeit, alles Eigenschaften, die an Lafaye überraschten, weil sie nicht dem gängigen Bild des zeitgenössischen Kreolen entsprachen.220 Diese ›unkreolischen‹ Eigenschaften kombinierte Lafaye, so läßt sich den Kommentaren entnehmen, mit den besten kreolischen Charakterzügen, mit den positiven Aspekten des Creole myth. Bereits vor der Wahl betonten die Tageszeitungen, dass er von einer der ältesten Familien von New Orleans abstamme.221 Nach seinem Rücktritt wurde hervorgehoben, dass er eine große Familie habe und den typisch kreolischen Stolz, allen familiären Verpflichtungen nachzukommen.222 Lokale Verwurzelung und Familiensinn verband Lafaye in den Augen seiner Anhänger mit »progressiveness«223 – offenbar verkörperte er für die Zeitgenossen jene ideale Mischung der stereotypischen Latin und Anglo-Saxon Charakteristika, die New Orleans dem Mythos nach auszeichneten. Die neiderfüllten Tiraden des Réveil, die zwanghafte Konzentration auf Literatur und Kultur des Athénée sowie die Erfolge eines Edward E. Lafaye unterstreichen die Vielschichtigkeit allein des weißen Creole life in New Orleans um 1900. Das Bemühen der weißen Kreolen, ihre whiteness zum primären Identitätsmerkmal zu machen, und die Aufspaltung der Kreolen entlang von rassischen Zuschreibungen führten zu einer rapiden Amerikanisierung und Integration der weißen Kreolen in die anglo-amerikanische Gesellschaft, was sich als zweischneidiges Schwert erwies. Einerseits gelang es einigen der weißen Kreolen, losgelöst von ihrer Zugehörigkeit zu einer wie auch immer definierten kreolischen Identität erfolgreiche Positionen in der Stadt einzunehmen. In diesen Funktionen beteiligten sie sich aktiv an der Gestaltung der Stadt, sie waren 218 | Ebd. 219 | »Associates give Lafaye silver set«, in: Times-Picayue, 15.1.1919. 220 | »Mr. Lafaye«, in: Times-Picayune, 15.1.1919. 221 | »Both Tickets Now About Complete«, in: Daily Picayune, 18.9.1912. 222 | Ethel Hutson an Clinton Rogers Woodruff, 19.11.1918, in: TU/LaRC, Ethel Hutson Papers, Mss 14, Box 5, Folder 14-5-4. 223 | Ebd.

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mit Macht ausgestattete Handelnde, die nicht nur als nostalgische Reminiszenz durch die Mythenwelt von New Orleans geisterten. In den Konflikten um den städtischen Raum und um die Identität der Stadt New Orleans, wie sie das späte 19. und das frühe 20. Jh. sahen, spielten sie eine ebenso wichtige Rolle wie ihre anglo-amerikanischen Kollegen – nicht als Stellvertreter einer ethnischen Gruppe, sondern je nach individueller sozialer und beruflicher Position, je nach Einbindung in bestimmte gesellschaftliche Netzwerke, auf der einen oder anderen Seite im Konflikt. Andererseits hatten die Creoles von New Orleans seit der Antebellumära als ethno-kulturelle Gruppe an Einfluss in der Lokalpolitik verloren. Zudem bedeutete die Amerikanisierung, dass die kreolische Kultur, die noch das New Orleans der Antebellumära geprägt hatte, verloren ging, was sich beispielsweise im erfolglosen Kampf um die Bewahrung der französischen Sprache durch das Athénée Louisianais ausdrückte. Besonders die Creoles of Color jedoch waren existentiell von dem Verlust der Anerkennung ihrer Kultur bedroht, der bei ihnen Hand in Hand mit einer Einordnung in die Kategorie ›schwarz‹ ging und damit mit dem politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abseits im Jim Crow-Süden. Für die weißen Kreolen bedeutete der Amerikanisierungsprozess letztlich einen Einzug in den Bereich des Mythos und der Nostalgie. Kreolische Kultur wurde eng mit einer längst vergangenen Zeit assoziiert und wurde so zum Konsumobjekt, ganz wie ›der Kreole‹ zur fast karikaturhaften Figur wurde, der als »historic character«224 im Leben der Gegenwart nur noch Staffage war: Das Beispiel des konföderierten Generals Beauregard, der nun die Lottozahlen für die staatliche Lotterie zog, kann dafür exemplarisch stehen. Es ist dabei bemerkenswert, wie stark in diesen Jahrzehnten der Creole myth wirkte. Selbst an den mächtigen Figuren wie Edward E. Lafaye, der den Stadtraum von New Orleans aktiv gestaltete, hafteten die Stereotype, die den Mythos ausmachten. Dieser Prozess der Mythisierung war keinesfalls lediglich ein Produkt von Fremdzuschreibungen; die Kreolen selbst trugen mit ihren Bemühungen um Integration ins amerikanische System dazu bei, ihre eigene Kultur in einer nostalgisch betrachteten Vergangenheit und damit im Bereich des Imaginären zu verorten.

224 | Ralph, »New Orleans«, 379.

V. Geordnete Stadt E IN UMFASSENDER P L AN Die Perzeption des French Quarter als besonderer Ort, der die Individualität von New Orleans im Konzert der amerikanischen Großstädte ausmachte, beruhte letztlich auf einer nostalgischen Vision der Vergangenheit, die mit dem Reiz des Exotischen zu einem faszinierenden Amalgam verschmolz. Die Stadt am Mississippi wurde paradoxerweise just durch jene Modernisierungs- und Amerikanisierungsprozesse einmalig, die im Lauf des 19. Jh.s das Fremde der ehemaligen französischen und spanischen Stadt ebenso zu tilgen drohten wie die Sichtbarkeit ihres Alters; das Fremde und das Alte schienen angesichts dieser Prozesse zunehmend gefährdet, was einen fruchtbaren Boden für den Creole myth sowie den nostalgischen Rückblick in die Kolonialzeit bildete. Das Fremde und das Alte wurden so zunehmend dem Reich der Fantasie zugewiesen und ihre Verklärung bildete die Grundlage dafür, dass das Vieux Carré als identitätsstiftendes Merkmal von New Orleans überhöht wurde: Es stellte nichts weniger dar als das physisch greifbare, im Raum sichtbare Epizentrum vom mythischen Kreolentum der Vergangenheit. Den ›alten‹ und ›fremden‹ Teil der Stadt zu erhalten sollte das individuelle Gesicht der Crescent City garantieren, und zusammen mit dem Image des freundlichen Sommerlandes sollte dies zum Distinktionsmerkmal von New Orleans werden. Dieses Streben nach der Individualität der Stadt stand allerdings bis in die 1910er Jahre hinein den Modernisierungstendenzen entgegen, wie sie die Association of Commerce vertrat. Den Charme des Alten und den Reiz des Exotischen konnten die Anhänger der Rundumerneuerung nicht nachvollziehen. Altes und Fremdes gehörte in ihren Augen ebenso wie eine allzugroße Präsenz ungezähmter Natur in geordnete, moderne Bahnen gelenkt. Ab der Mitte der 1910er Jahre ist jedoch ein Wandel zu beobachten, der die beiden Parteien einander näherbrachte. Die wirtschaftlichen und die kulturellen Eliten bildeten in den 1920er Jahren tatsächlich eine Koalition für die Umgestaltung des urbanen Raums. Den formalen Rahmen, innerhalb dessen diese Annäherung möglich war, lieferten die Bemühungen um systematische Stadtplanung in New Orleans, die letztlich in den Comprehensive City Plan von 1927 mündeten. Dieser

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Plan stellte eine Art finaler Einigung dar zwischen dem Leitbild der im Historischen und Exotischen gründenden Individualität von New Orleans und dem der Modernität und ›Amerikanität‹ der Stadt. In diesem Rahmen fanden sowohl die moderne Strukturierung der Stadt als auch die Bewahrung des Historischen einen Platz. Der Ursprung des City Plan von 1927 lag in den beautification- und Clean Up-Aktivitäten der Association of Commerce. Dasselbe Komitee der A of C, das sich so vehement für den Abriss der Balkone auf der Canal Street einsetzte – das City Beautifying Committee – unternahm 1915 erstmals einen Schritt in Richtung einer umfassenden und systematischen Stadtplanung. Nur noch ein Subkomitee sollte sich mit dem Projekt der »cleaner city« befassen, während ein anderes »subcommittee on a comprehensive plan« gegründet wurde, das den Auftrag erhielt, »to study the entire situation of New Orleans, its physical conditions, its opportunities and resources«.1 Einige Monate später bat das Komitee den Landschaftsarchitekten John Nolen aus Cambridge, Massachusetts, um Rat bezüglich der genauen Vorgehensweise in der Gestaltung eines umfassenden Plans. Nolen empfahl umgehend eine »civic survey«, die die grundlegenden Fakten zur Bebauung der Stadt, zu Industrie- und Wohnvierteln sowie zu Grünanlagen zusammentragen und präsentieren sollte. Aus dieser Studie sollte dann ein Plan entstehen, anhand dessen man den Stadtraum »more efficient in use and more appropriate and more beautiful in appearance« gestalten könne. Alle bisherigen einzelnen Bemühungen um improvements im Stadtraum sollten darin koordiniert werden. Prompt engagierte die A of C Nolen selbst, um die von ihm vorgeschlagene »civic survey« durchzuführen. Mit Lafaye handelte die A of C aus, dass es eine städtische, vom Bürgermeister benannte »City Planning Commission« geben sollte, deren Befugnisse Lafaye und die A of C gemeinsam in einer Stadtverordnung festlegten. Unter der Aufsicht dieser Kommission sollte Nolen arbeiten.2 Parallel dazu sammelte das nunmehr eigenständige City Planning Committee der A of C relevante Daten und Fakten über Stadtplanung im ganzen Land.3 In typisch progressivistischer Weise näherten sich die Befürworter der Stadtplanung ihrem Projekt, das sie mit dem umfassenden Zusammenstellen von Statistiken und anderen Daten begannen. 1 | »Report of City Beautifying Committee for February 1915«, 10.3.1915, in: UNO/ LaSC, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, Mss 66, 66-20 Scrapbook Dec. 31,1914 – Dec 29, 1915. 2 | »Reports of General Manager, Bureaus, Departments and Committees for August 1915«, in: UNO/LaSC, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, Mss 66, 66-20 Scrapbook Dec. 31,1914 – Dec 29, 1915. 3 | »Report of the City Planning Committee«, 9.6.1916, in: UNO/LaSC, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, Mss 66, 66-17 Bound volume Jan 14 – Dec. 29, 1916.

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Nicht minder typisch war das Bemühen, diese Daten einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Im Dezember 1917 organisierte das Komittee daher eine zweiwöchige City Plan Exhibit in den Räumen der A of C, die offenbar von ca. 500 New Orleanians besucht wurde.4 Die folgenden zwei Jahre verbrachte das Komitee damit, weitere Daten und Statistiken über die einzelnen Straßen von New Orleans zusammenzustellen, um sie dann einem Stadtplanungs-Spezialisten vorzulegen.5 Der Grundstein war so gelegt für eine systematische Umgestaltung des Stadtraums im Geiste der improvement- und beautification-Welle der Progressive Era unter der Führung von fachlichen Experten wie John Nolen, der Stadtverwaltung und der business community; individuelle Initiativen wie die der Frauenclubs rückten damit in die zweite Reihe, während sich v.a. die Association of Commerce zum gleichrangigen Entscheidungsbefugten in Sachen Stadtraum ernannte. Parallel und passend dazu verdrängte auch innerhalb der A of C das Bemühen um einen zentralen City Plan die einzelnen und disparaten beautification-Initiativen. Nicht umsonst ersetzte 1917 das City Plan Committee einfach das City Beautifying Committee.6 Ausgehend von den Stadtverschönerungsmaßnahmen des späten 19. Jh.s und der Jahrhundertwende, die dem Reformgeist der Progressive Era entsprangen und die typischen Methoden jener Zeit nutzten, war man hier auf dem besten Weg zu den umfassenderen, zentralisierteren und von weniger Beteiligten gesteuerten Planungsmaßnahmen des 20. Jh.s. Auf Basis der gesammelten Daten über Tendenzen der Stadtplanung in den USA insgesamt wurde man sich bewusst, dass die neue Technik des zoning ein wichtiges Instrument für einen Plan darstellte. Flächennutzungs- und Bebauungspläne konnten das Wachstum der Stadt in eine gewünschte Richtung lenken und den unterschiedlichen Funktionen der Stadt je ihren eigenen Raum zuweisen. »Like good housekeeping, it [zoning] provides a place for everything and tries to keep everything in its place. Like good industrial management it plans for an orderly growth and expansion of the plan.«7 Nichts weniger als Ordnung und Effizienz in Gegenwart und Zukunft erhoffte man sich von diesem 4 | »Summary of the Activities of the Civic Bureau for the Year of 1918«, in: UNO/LaSC, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, Mss 66, 66-14 Bound volume March 9, 1917 – Dec. 21, 1919. 5 | »Report Civic Bureau for Year 1919«, 31.12.1919, in: UNO/LaSC, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, Mss 66, 66-19 Bound volume Jan 6, 1919 – Dec. 31, 1919. 6 | »Report Civic Bureau«, 14.8.1917, in: UNO/LaSC, Chamber of Commerce of the New Orleans Area Collection, Mss 66, 66-18 Bound volume Jan 10 – Dec. 21, 1917. 7 | City Planning and Zoning Commission (CPZC), Handbook to Comprehensive Zoning Law for New Orleans (New Orleans: printer’s dummy, 51935), Chapter I, 1, in: NOPL/CA, AQ3111929h.

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Instrument, das die amerikanischen Planer aus Deutschland übernommen hatten und nun adaptierten.8 Vorreiter war die Stadt New York, die bereits 1916 eine umfassende zoning ordinance erließ, die erstmalig in den USA die Nutzung des gesamten städtischen Territoriums ebenso regelte wie Höhe und Maximalfläche der einzelnen Gebäude. Die grundlegende Einteilung der Zonen in »residential«, »business« und »unrestricted« folgte der Funktion, die man dem jeweiligen Gebiet zusprach.9 Als Reaktion auf die stete Lobbyarbeit der Association of Commerce und ihres City Planning Committee ernannte in New Orleans der Bürgermeister Andrew J. McShane 1923 eine städtische City Planning and Zoning Commission (CPZC). Diese sollte einen Comprehensive City Plan vorbereiten, als dessen sine qua non man einen Comprehensive Zoning Plan betrachtete.10 Die CPZC erhielt viel Zuspruch durch die Öffentlichkeit. Vor allem Bürger, die eine »invasion« ihres »residential districts« durch Fabriken fürchteten, meldeten sich bei der CPZC und forderten einen Zoning Plan. Auch seitens der business community erfuhr die CPZC Unterstützung. Die Mehrheit der business men, die kurz nach der Gründung der CPZC bei dieser vorsprachen, setzten sich für einen umfassenden Zonenplan ein. Wohnviertel sollten von Geschäftsvierteln und von Industrievierteln getrennt werden; ebenso forderten viele Bürger die Regulierung von Bauhöhen und Bebauungsflächen. Ergänzend zu der Einteilung in Zonen sprachen sich die business men für ein umfassendes Straßensystem mit großen Boulevards, für konsequente Straßenpflasterung und eine systematische Anlage von Parks und Spielplätzen aus.11 Mit der rigiden Einteilung in unterschiedliche funktionale Zonen sollte die Planbarkeit der Stadt überhaupt erst ermöglicht werden. Welche Straßen wo gebaut werden mussten, welche Infrastrukturmaßnahmen wo vonnöten waren, all das konnten die städtischen Autoritäten so antizipieren. Auch privaten Investoren sollte die Zonenplanung eine gewisse Sicherheit verschaffen, dass sie ihr Unternehmen, ihre Fabrik oder ihr Wohnhaus an geeigneter Stelle errichteten.12 Ebenso erhoffte 8 | Vgl. Rodgers, Atlantic Crossings, 177-78, 185, 205-06. 9 | Vgl. Keith D. Revell, »Regulating the Landscape: Real Estate Values, City Planning, and the 1916 Zoning Ordinance«, in: David Ward and Oliver Zunz (eds), The Landscape of Modernity: Essays on New York City, 1900-1940 (New York: Russell Sage Foundation, 1992), 19-45, hier 20. 10 | Ordinance 7353 CCS. CPZC, Handbook to Comprehensive Zoning Law, Introduction, s.p. und Chapter IV, 3-4. 11 | »Annual Report of the City Planning and Zoning Commission, July 17, 1923 – August 31, 1924«, in: NOPL/CA, Annual Reports of the City Planning and Zoning Commission, Folder AQ200 1923-24. 12 | Annual Report of the City Planning and Zoning Commission, January 1, 1930 – Dec. 31, 1930, in: NOPL/CA, Annual Reports of the City Planning and Zoning Commission, Folder AQ200 1930.

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man sich von einer Zoneneinteilung, der Ballung von Menschen und Verkehr in bestimmten Stadtteilen entgegenzuwirken, für genügend Luft und Licht im städtischen Gewebe zu sorgen und damit letztlich Krankheit, Verbrechen und Unmoral zu verhindern.13 Die gesellschaftsordnende Stoßrichtung des Plans war unverkennbar, unverkennbar auch sein ideeller Ursprung in den environmentalistischen Überzeugungen der Progressive Era. Nicht nur sollten Verkehr und Kanalisation, Parks und Baumreihen, Müllabfuhr und Beleuchtungssysteme in effizienter Weise eingerichtet werden und Investoren möglichst ökonomisch handeln können, sondern auch das gesellschaftliche Zusammenleben sollte entsprechend reibungslos funktionieren und die soziale Ordnung aufrecht erhalten werden. Mit einem umfassenden Plan sollte der Praxis der vorherigen Jahrzehnte ein Ende bereitet werden, jeweils einzelne zoning laws für einzelne Straßenzüge und Teile der Stadt zu erlassen, was zu einem unüberschaubaren Wirrwarr an ca. 400 zoning laws geführt hatte, die sich teilweise überschnitten oder sogar ausschlossen. »Conflict and confusion« hatten die Durchsetzung dieser Verordnungen zu einem Ding der Unmöglichkeit gemacht.14 Rechtlich stützten sich diese partiellen sogenannten »piecemeal zoning laws« auf die City Charter von 1882, die der Stadt die Befugnis gab, die Lage von solchen Betrieben zu regulieren, die potentiell die öffentliche Sicherheit und Gesundheit bedrohten – gemeint waren vor allem Schlachthöfe.15 Ein umfassender Plan jedoch sollte nicht mehr lediglich Abhilfe schaffen, wenn bestimmte industrielle Tätigkeiten als störend empfunden wurden, sondern präventiv Wohngegenden von Industriegebieten trennen. Erst ein Gesetz des Staates Louisiana von 1918 (Act 27, 18.6.1918) erlaubte den Städten mit mehr als 50.000 Einwohnern, mittels Verordnungen tiefgreifend in die Gestaltung des Stadtraums einzugreifen und die Bebauung des urbanen Territoriums grundlegend zu regulieren.16 Die Verfassungskonformität dieses Gesetzes wurde in den folgenden Jahren in einigen Gerichtsfällen bestätigt mit der Begründung, dass zoning-Maßnahmen durch die Stadt nicht in ästhetischen Betrachtungen wurzeln, sondern dem allgemeinen Wohl und der öffentlichen Gesundheit dienen würden. Daher würden sie keine unrechtmäßigen Enteignungen von privatem Eigentum darstellen. Act 240 des Staates Louisiana von 1926 ergänzte diese Befugnisse der öffentlichen Hand, indem es allen Städten das Recht auf comprehensive zoning law zusprach.17 13 | CPZC, Handbook to Comprehensive Zoning Law, Chapter II, 5-7. 14 | Ebd., Chapter II, 15-16. 15 | Ebd., Chapter IV, 1. 16 | Ebd., Chapter IV, 2. 17 | Vgl. Charter Committee for the City of New Orleans, »Research Report No. 1 on City Planning and Zoning Commission, June 8, 1951«, in: Boards and Commissions: Reports Prepared for Charter Committee for the City of New Orleans, 242 und 251.

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Rechtliche Entwicklungen auf Staatenebene gingen so Hand in Hand mit lokalen Forderungen. Die CPZC beauftragte 1926 das Stadtplanungsbüro Harland Bartholomew & Associates aus St. Louis, Missouri, mit dem Entwurf eines Gesamtplanes, zu dem sowohl ein Bebauungsplan als auch Pläne für Verkehrswege und Infrastrukturen gehören sollten.18 Harland Bartholomew kann als der erste professionelle Stadtplaner der USA gelten. Nach dem Studium der Ingenieurswissenschaften wurde der aus Massachusetts stammende Bartholomew 1914 von der Stadt Newark, New Jersey, in Vollzeit als Stadtplaner eingestellt. Dies war das erste Mal, dass sich eine amerikanische Stadt einen hauptberuflichen Planer leistete. Sein für Newark gestalteter Plan machte Bartholomew in Stadtverwaltungskreisen bekannt. Wenige Jahre später engagierte ihn die Stadt St. Louis, Missouri, als Ingenieur in ihrer neu eingerichteten City Planning Commission, eine Tätigkeit, die er bis 1954 ausübte. Aufgrund des bundesweiten großen Interesses an seinen Planungen gestattete ihm die Stadt, nebenberuflich sein eigenes Planungsbüro Harland Bartholomew & Associates zu gründen, das in vielen amerikanischen Städten entwerfend und beratend tätig wurde.19 Zwischen 1927 und 1931 publizierte das Büro von Bartholomew neun Studien und Pläne zu unterschiedlichen Aspekten des Stadtlebens von New Orleans, die zusammengenommen den Comprehensive City Plan bildeten. Straßenanlage, Verkehrsleitung, Eisenbahnzugänge, Hafenplanung, Industrieverteilung und die Einbindung von New Orleans in einen regionalen Plan bildeten die zentralen Elemente neben dem Zoning Plan. Selbst ein Civic Art Report gehörte zu den umfassenden Planungen, die das New Orleans der Zukunft gestalten sollten.20 Aus den Clean Up- und Verschönerungskampagnen der Jahrhundertwende war, angeregt durch die Association of Commerce, ein wahrhaftes Planungsfieber entstanden, das die Stadtverwaltung von New Orleans in diesen Jahren ergriff. Im Fokus auf Infrastruktur und Verkehrsfluss, auf Ordnung und Einheitlichkeit des Stadtraums klingen deutlich jene Bestrebungen der vorherigen Jahrzehnte nach, New Orleans zu einer modernen Stadt des Neuen Südens zu machen. Es scheint, als habe sich das Leitbild der Association of Commerce, die Modernität der Stadt – und damit ihre in Kauf genommene Ähnlichkeit mit anderen amerikanischen Städten – durchgesetzt. Ob dies der Triumph der »business beau18 | CPZC, Handbook to Comprehensive Zoning Law, Chapter IV, 5. 19 | Eldridge Lovelace, Harland Bartholomew: His Contributions to American Urban Planning (Urbana: University of Illinois Department of Urban and Regional Planning, 1992), 6-8. Lovelace war Mitarbeiter von Bartholomew, weshalb sein Buch eher den Charakter einer apologetischen ›internen Geschichtsschreibung‹ annimmt und daher mit Vorsicht zu genießen ist. 20 | Harland Bartholomew, City Planning Report (1931), Chapter VI: The Plan for Civic Art, in: NOPL/CA, AQ 202 1931.

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ty idea«21 war, jenes »Association of Commerce ideal«, das die Verteidiger der Balkone als »commercial and Yankee and singularly unbeautiful« abstempelten und als Gegensatz zu den »New Orleans things and ways« der »New Orleans people«22 empfanden? Von allen Komponenten des City Plan war besonders der Zoning Plan für die Zukunft des Vieux Carré entscheidend, der über die Funktion dieses Stadtteils und damit über sein Erscheinungsbild bestimmte.

S ONDERZONE Zur selben Zeit, als die CPZC und ihr Berater Harland Bartholomew den Zoning Plan vorbereiteten, erreichten die denkmalschützerischen Aktivitäten einen neuen Höhepunkt, der gemeinhin als Anfang der historic preservation in New Orleans gilt. Diverse Clubs und Assoziationen bildeten sich, die sich auf die Architektur des French Quarter konzentrierten und dieses durch Aufkaufen und Restaurieren vor dem Verfall und Abriss bewahrten. Dieselben New Orleanians, die schon um 1900 an denkmalschützerischen Initiativen beteiligt gewesen waren – sei es im Kampf gegen den Abriss der Cabildo, oder in den Protesten für den Erhalt der Balkone – finden sich auch in diesen Gruppierungen wieder. Das Netzwerk der Kulturelite von New Orleans festigte sich in den 1920er Jahren, etablierte sich institutionell in offiziellen Assoziationen und forderte zunehmend staatliches Engagement für den Denkmalschutz. Grace Kings Le Petit Salon und zwei Architektenvereinigungen, das Louisiana Chapter des American Institute of Architects sowie die Louisiana Architects Association, waren federführend in den Forderungen an das City Council, endlich eine städtische Kommission einzurichten, die Maßnahmen ergreifen sollte, um das Vieux Carré als »historical ground«23 zu bewahren. Unterzeichner einer entsprechenden Petition des Petit Salon waren unter anderem Grace King höchstpersönlich sowie Kuratoren des Louisiana State Museum, Mitglieder der Louisiana Historical Society, Mitglieder des Petit Théâtre du Vieux Carré und der Sons of the American Revolution, die Vizepräsidentin der Colonial Dames, aber auch der in der Association of Commerce aktive Architekt Allison Owen – ein schlagkräftiges Netzwerk der wichtigsten lokalen historisch engagierten Organisationen, erweitert um

21 | »Art and Business beauty ideas clash«, in: Item, 20.5.1914. 22 | Ethel Hutson an E. E. Lafaye, 21.7.1914, in: TU/LaRC, Ethel Hutson Papers, Mss 14, Box 4, Folder 14-4-10. 23 | Le Petit Salon Committee for the Preservation of the Vieux Carré an Mayor Martin Behrman and Members of the Commission Council, 10.8.1925, in: NOPL/CA, City Council Records, Official Proceedings, Box 4/28 – 12/23 1925, Folder Oct 13, 1925 – Council Minutes.

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einen für seine Modernisierungsinitiativen angesehenen Architekten.24 1925 wurde die Vieux Carré Commission gegründet. Ihre primäre Aufgabe war es, eine Studie der Bausubstanz des Vieux Carré anzufertigen und jene Bauwerke herauszufiltern, die »of special historic interest« waren oder deren »old, quaint, or unusual architecture or construction make them objects of special interest«.25 Auf Grundlage dieser Studie sollte die Kommission den City Council beraten. Da es dem City Attorney der Stadt zufolge keine rechtliche Basis gab, auf derer die Kommission das private Eigentum im French Quarter hätte regulieren und Baugenehmigungen hätte verweigern können, beschränkte sich ihre Funktion auf eine beratende Tätigkeit.26 Bedroht sahen die Denkmalschützer das Vieux Carré vor allem durch die stete Ausbreitung des modernen New Orleans, welches sie in Gewerbe und Industrie verkörpert sahen27 – eine Furcht, die die Existenzberechtigung der Vieux Carré Commission darstellte: »[…] the encroachment of modern business is gradually affecting said district and destroying the historic and ideal spirit of the old Vieux Carré and such encroachment should be restricted or regulated in the interest of the public«28 . Mit dieser Furcht vor einem Übergreifen des modernen Geschäfts- und Industrielebens auf den alten Stadtteil schloss sich der Kreis zu den zeitgleichen zoning-Überlegungen, die ebenfalls in erster Linie von dem Gedanken motiviert waren, Wohnviertel vor der ›Invasion‹ durch Industrie und Handel zu schützen. Die nahezu militärische Sprache des ›Übergriffs‹ (»encroachment«) und der ›Invasion‹ etablierte dabei eine deutliche Hierarchie zwischen wirtschaftlichen und industriellen Tätigkeiten, die als Aggressoren betrachtet wurden, und den Räumen, die davor geschützt werden mussten. Für viele New Orleanians gehörten zu letzteren ihre Wohnviertel, für einige aber auch der historische Stadtteil des French Quarter. Dementsprechend befasste sich die Koalition der Denkmalschützer auch mit dem zoning-Prozess. Während Harland Bartholomew 1926/27 den entsprechenden Vorschlag vorbereitete, unterstützten die Architektenvereinigungen die Vieux Carré Commission bei der Begutachtung jedes einzelnen Bauwerks im French Quarter. Die Architekten stellten dabei klar, dass es ihnen nicht darum 24 | Ebd. 25 | Ordinance 8735 CCS, 21.10.1925. 26 | City Attorney T. Semmes Walmsley an Commission Council, 13.10.1925, in: NOPL/ CA, City Council Records, Official Proceedings, Box 4/28 – 12/23 1925, Folder Oct 13, 1925 – Council Minutes. Vgl. Ordinance 8735 CCS, 21.10.1925. 27 | Le Petit Salon Committee for the Preservation of the Vieux Carré an Mayor Martin Behrman and Members of the Commission Council, 10.8.1925, in: NOPL/CA, City Council Records, Official Proceedings, Box 4/28 – 12/23 1925, Folder Oct 13, 1925 – Council Minutes. 28 | Ordinance 8735 CCS, 21.10.1925.

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ging, das gesamte Quarter als business-freie Zone einzustufen. Vielmehr sollten die Gebäude einzeln als gut oder schlecht, und damit als schützenswert oder freigegeben klassifiziert werden.29 So trafen zwei Herangehensweisen aufeinander, die nicht vereinbar schienen. Zoning sollte ganze Viertel oder zumindest Straßenzüge nach bestimmten Funktionen kategorisieren, nicht aber individuelle Häuser. Zudem legten die Architekten andere Kriterien bei ihrer Klassifizierung an als die Funktion eines Bauwerks, welche die Basis des zoning darstellte. Ästhetik und Alter sollten ein Bauwerk der einen oder anderen Kategorie zuweisen. Diese waren jedoch nicht zwingend deckungsgleich mit der Funktion des Gebäudes. Eine zusätzliche Schwierigkeit bei dieser individuellen Vorgehensweise erkannte der omnipräsente Allison Owen, der der Begutachtung vorsaß. Manche Gebäude schienen ihm für sich genommen zwar nicht bewahrenswert, aber er sah die Gefahr, dass deren Abriss zu Neubauten führen könnte, die wiederum daran angrenzende, schützenswerte Bauwerke verschandeln könnten.30 Damit brachte Owen, wenn auch nicht explizit, das Konzept des tout ensemble auf, das letztlich eine einheitliche Zonierung des Vieux Carré verlangte – allerdings nach architektonischen und historischen Kriterien, nicht nach funktionalen, wofür die rechtliche Basis jedoch nicht gegeben war. Im Einklang mit ihrer Herangehensweise hielten die Architekten an ihrer Position fest, business im French Quarter zu erlauben, solange bestimmte historische Bauwerke nicht beeinträchtigt würden.31 Die Architektenvereinigungen beauftragten sogar einen Rechtsanwalt, in diesem Sinne zoning ordinances zu entwerfen, die »industrial plants« im Quarter verbieten, eine Höhenbegrenzung von Neubauten vorgeben und eine »Art Commission« ins Leben rufen sollten. Ohne die Zustimmung dieser Kommission sollte keine Baumaßnahme möglich sein. Diesem Plan sprach der Anwalt jedoch kaum eine Chance zu, da einer solchen Kommission die rechtliche Grundlage fehlte.32 Aktive Lobbyarbeit in Sachen zoning leistete gleichzeitig auch die Vieux Carré Association (VCA). Anders als die anderen Gruppierungen, die auf die Zonierung des French Quarter Einfluss zu nehmen suchten, vertrat die Vieux Carré 29 | »Minutes of the meeting of the Board of Governors of the Louisiana Architects Association and the President and Executive Committee of the Louisiana Chapter A.I.A.«, 29.9.1926, in: TU/SEAA, A.I.A. New Orleans Chapter Records, Box 24, Folder 4; »Minutes of the second meeting of the Board of Governors of the Louisiana Architects Association and the President and Executive Committee of the Louisiana Chapter A.I.A.«, 6.10.1926, in: TU/SEAA, A.I.A. New Orleans Chapter Records, Box 24, Folder 4. 30 | Ebd. 31 | »Minutes of the meeting of the Louisiana Architects Association«, 11.10.1926, in: TU/SEAA, A.I.A. New Orleans Chapter Records, Box 24, Folder 4. 32 | »Minutes of the meeting of the Louisiana Architects Association«, 8.11.1926, in: TU/SEAA, A.I.A. New Orleans Chapter Records, Box 24, Folder 4.

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Association die Interessen der Geschäftsleute, Grundeigentümer und Anwohner des Vieux Carré; die Mitgliedschaft war exklusiv auf diesen Personenkreis beschränkt. 1925 gegründet, war es ihr explizites Ziel »to promote, to assist and encourage in any manner whatsoever the advancement of the civic, aesthetic and material prosperity and progress of that portion of the City of New Orleans known as the ›Vieux Carré‹ […], particularly to bring more business into this section; to secure more light, more police protection, better sanitary conditions and do those things that will be helpful to the business interests; to co-operate in preserving the historical landmarks located in said section, and to co-operate with the City officials and Association of Commerce in every way.« 33

Denkmalschutz war folglich eher ein Mittel zum Zweck: Im Vordergrund stand für die VCA die wirtschaftliche Aufwertung des Stadtteils im Sinne einer zunehmenden Geschäftstätigkeit und einem Anstieg der Grundstückswerte. Ähnlich wie die alten Straßenassoziationen fasste die VCA daher Modernisierungen des Stadtraums ins Auge, wie etwa die Installation von Straßenbeleuchtung und Clean Up-Arbeiten; die Bewahrung einiger herausragender historischer Stätten sollte ebenfalls dazu beitragen, die Grundstückswerte steigen zu lassen. Vor allem Geschäftsleute und Hauseigentümer waren in der VCA aktiv, da sie ein persönliches, wirtschaftliches Interesse an der Aufwertung ihres Stadtteils hatten. Dementsprechend sprach sich die VCA ursprünglich gegen jegliches zoning im French Quarter aus, da der potentielle Ausschluss von Industrien und bestimmten Unternehmen ihrem Vorsatz, mehr business anzulocken, diametral entgegenstand. Der neue Vorstand der VCA konnte sich jedoch 1926 darauf einigen, immerhin in den vier die St. Louis Cathedral umgebenden Blocks Einschränkungen der Geschäftstätigkeit zu tolerieren, aber auch nicht in dem Maße, wie die Architekten sie vorgeschlagen hatten (Abb. 28).34

33 | The Vieux Carré Association, Recorded in Mortgage Office Book 1319, Folio 494, 1925, in: NOPL/CA, Vieux Carré Commission Records, Box 2, Folder »Organizations (prior to Vieux Carré Commission)«. 34 | Zwischen Toulouse und St. Ann, Chartres und Bourbon Street. Vieux Carré Association an Bertrand F. Cahn, City Attorney, 20.12.1926, in: NOPL/CA, City Attorney Records, Box 2, Folder »City Attorney – Correspondence – Vieux Carré Association 1926-1928«.

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Abbildung 28: Stadtplan des Vieux Carré (French Quarter). Eingezeichnet sind die verschiedenen Vorschläge, welche Straßenzüge im Rahmen eines Zoning Plan zum Quarter gehören und damit gesonderten Bestimmungen unterliegen sollten sowie die tatsächlichen Regelungen in der Comprehensive Zoning Ordinance (1929) und der Vieux Carré Ordinance (1937) (Plan: Sanborn Fire Insurance Maps, New Orleans, 1887). 1. Vieux Carré Association, 1926 2. Louisiana Chapter des American Institute of Architects und Louisiana Architects Association, 1926 3. City Planning and Zoning Commission, 1927 4. Petition von Camelia D. Waddill, 1927 5. Zoning Ordinance, 1929 6. Vieux Carré Ordinance, 1937 Anders als die Architekten hatten die business men des Viertels keinerlei Interesse daran, ganz normale Wohnhäuser vor den durch industrielle Tätigkeiten hervorgerufenen Veränderungen zu schützen oder gar eine Kunstkommission für Bautätigkeiten ins Leben zu rufen. Von der Konzeption des French Quarter als denkmalgeschütztem tout ensemble waren sie denkbar weit entfernt. Mit ihrem Vorschlag eines kleinen, historischen Kerndistriktes um die Kathedrale sah sich die VCA jedoch als Vermittler zwischen jenen Kräften, die für das zoning des Quarters waren, und jenen, die sich gänzlich dagegen aussprachen.35 35 | Ebd. »proponents of zoning« meint hier nicht grundsätzliche Befürworter des zoning-Systems – schließlich hätte das French Quarter ja als »unrestricted« klassifiziert werden können, also letztlich ohne Einschränkungen weiterexistieren können –, sondern implizierte, dass jene Befürworter für eine wie auch immer geartete Einschränkung von Industrie und Handel im Quarter waren.

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Auf all die Vorschläge seitens diverser Lobbygruppen wollte die Stadtverwaltung nicht offiziell reagieren, bis die CPZC und Harland Bartholomew ihre Tentative Zoning Ordinance vorstellten, die 1926/27 in Arbeit war.36 Aus internen Sitzungsprotokollen geht jedoch hervor, dass sich die Stadtverwaltung gerade bezüglich des French Quarter der konfligierenden Interessen bewusst war, die an die CPZC herangetragen wurden. Im Vieux Carré befanden sich tatsächlich einige Fabriken, die den Denkmalschützern, etwa den Architekten, ein Dorn im Auge waren, aber, wie die CPZC spekulierte, vermutlich nicht ohne »great upheaval« – seitens der Geschäftsinteressen im Quarter – von dort entfernt werden könnten. Die CPZC setzte ihre ganzen Hoffnungen auf Schlichtung durch eine »compromise ordinance«, die die Zustimmung sowohl der »business men« als auch derjenigen »interested in preserving historical buildings« finden sollte.37 Am 22. Juni 1927 stellten Bartholomew & Associates der CPZC ihren Entwurf einer Tentative Zoning Ordinance vor, über die die Kommission einige Monate beriet, um sie dann im Oktober 1927 der Öffentlichkeit zu präsentieren.38 Bis dahin traf die CPCZ auch eine Entscheidung bezüglich der umstrittenen Klassifikation des Vieux Carré. Ihr Vorschlag war in dreierlei Hinsicht ein Kompromiss. In einer Sitzung vom 5. August 1927 einigte sich die CPZC darauf, das übliche Schema der »use classification« für das Vieux Carré zu erweitern und eine spezifische »additional classification« für diesen Teil der Stadt zu verabschieden. Diese spezifische Zone sollte einen Kompromiss darstellen zwischen »light industrial« und »retail business section«.39 Grundsätzlich wurden alle Gewerbe zugelassen, außer einigen explizit genannten Ausnahmen, wie größere Färbereien und Wäschereien, Sägewerke, Stallungen, Lagerhallen sowie jegliche Produktionsstätten, die nicht direkt vor Ort auch einen Verkauf anboten.40 Die CPZC weichte damit die von den Denkmalschützern vorgeschlagenen Einschränkungen deutlich auf, indem sie industrielle Tätigkeit nicht grundsätzlich aus dem Quarter ausschloss. Auch vom schieren Umfang der vom zoning betroffenen Fläche her war der Vorschlag der CPZC ein Kompromiss. Er sah im Vergleich zur Vision der Denkmalschützer einen reduzierten Umfang des Vieux Carré vor. Die preservationists, vor allem die Architekten, waren von der 36 | »Minutes of the meeting of the Louisiana Architects Association«, 9.5.1927, in: TU/SEAA, A.I.A. New Orleans Chapter Records, Box 24, Folder 5. 37 | »Minutes of the meeting of the City Planning and Zoning Commission«, 13.7.1927, in: NOPL/CA, City Planning and Zoning Commission Minute Book, Vol. 2, 1926-27 incl., AQ 300 1926-1927. 38 | CPZC, Handbook to Comprehensive Zoning Law, Chapter IV, 8. 39 | »Minutes of the meeting of the City Planning and Zoning Commission«, 5.8.1927, in: NOPL/CA, City Planning and Zoning Commission Minute Book, Vol. 2, 1926-27 incl., AQ 300 1926-1927. 40 | Ebd.

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gesamten Fläche der kolonialen Stadt zwischen Canal Street und Esplanade Avenue und zwischen Rampart Street und dem Mississippi ausgegangen (vgl. Abb. 28). Die CPZC beschränkte das Vieux Carré auf die Blocks zwischen Conti und Barracks Street und zwischen Dauphine und Royal Street, sowie auf je zwei Blocks um die Kathedrale und um den als historische Landmarke anerkannten Ursuline Convent (vgl. Abb. 28).41 Damit war der Vorschlag der CPZC auch vom denkmalschützerischen Ansatz her ein Kompromiss, da er die Idee einer einheitlichen Regulierung für ein tout ensemble von den Architekten übernahm, dieses aber einerseits flächenmäßig eingrenzte, andererseits dafür um einzelne Sehenswürdigkeiten erweiterte. Ende 1927 präsentierte die CPZC den gesamten zoning-Entwurf der Öffentlichkeit. In zahlreichen öffentlichen Anhörungen sowie mittels Petitionen konnten die Bürger von New Orleans Einspruch erheben. Die CPZC stellte zudem einen Großdruck der Tentative Zoning Map in ihrem Büro aus, so dass interessierte Bürger sich mit den Details vertraut machen konnten.42 Der Grundtenor der Proteste lässt sich in zwei Kategorien einteilen, die sich ungefähr die Waage hielten: Während die einen gegen eine Einstufung als »residential districts« protestierten, bemühten sich die anderen, eine solche durchzusetzen. Gegen die Klassifizierung einer Gegend als »residential« sprachen sich viele Bürger aus, die ein Geschäft oder Unternehmen dort aufgebaut hatten. Läden, die seit vielen Jahrzehnten an einer »business corner« existiert hatten, sollten nun weichen, da sie in der neuen Zone nicht mehr berechtigt waren.43 Nicht nur Inhaber protestierten dagegen, sondern auch einige Anwohner, die sich zum Sprachrohr vor allem der ärmeren Bewohner des jeweiligen Stadtteils machten. Der Anwalt A. P. Touro, der jenseits von Esplanade Avenue im 7th ward downtown wohnte, betonte, wie wichtig es sei, die Geschäfte vor Ort zu erhalten, damit gerade die hart arbeitende Bevölkerung dort einkaufen könne. »The majority of the people in that vicinity are laborers and belong to the industrial classes, and some of them have to get up very early in the morning to go to work. If they had to go seven or eight blocks to get a loaf of bread to eat with their coffee before they go to work, they would be late on the job and maybe lose their job […]. We feel the need

41 | Genaue Beschreibung der Grenzen: »Minutes of the meeting of the City Planning and Zoning Commission«, 5.8.1927, in: NOPL/CA, City Planning and Zoning Commission Minute Book, Vol. 2, 1926-27 incl., AQ 300 1926-1927. 42 | CPZC, Handbook to Comprehensive Zoning Law, Chapter IV, 10. 43 | Etwa »District No. 2, Hearing at Sophie B. Wright School, Napoleon Ave near St. Charles Ave«, 1.12.1927, in: City Planning and Zoning Commission, Report of Public Hearing District No. 1-8 (New Orleans: s.n., 1927-28), 20, in: NOPL/CA, AQ 305 1927-28.

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of beautifying the city […] but we would ask […] that these commercial centers asked be granted the people« 44 ,

befand auch Dr. J. A. Harding, der Touro unterstützte. In anderen Distrikten gab es dieselben Befürchtungen.45 Gleichzeitig beklagten sich viele gerade darüber, dass es in ihren Wohngegenden eine »commercial zone« geben sollte.46 Sie fürchteten eine Verschandelung ihres Straßenzuges durch den Einzug von Industrie und Kommerz.47 Dr. George J. Mire aus der North Broad Street äußerte direkt den Verdacht, dass Touro und Harding nicht in dem Viertel wohnen würden, von dem sie sprachen. »We downtown people here are crying for a zone, and of course, a lot of people that live way uptown […] would like to open business places in our district«, unterstellte er den Geschäftsbefürwortern, ein Vorwurf, der allerdings auf Harding und Touro nicht zutraf.48 Es waren primär die Anwohner der großen Boulevards, die in diesem Sinne bei der Stadt vorsprachen. Traditionell waren die größeren Boulevards prestigeträchtigere Wohngegenden als die kleineren Parallelstraßen. Nicht nur Anwohner der Prachtstraßen St. Charles und Esplanade Avenue beschwerten sich über mögliche Geschäfte in ihrer Nähe, auch Anwohner anderer Boulevards wie etwa Broad Street versuchten, die Zoning Ordinance zu nutzen, um ihre Straße zur »residential area« erklären zu lassen. Mit Eckläden, Werkstätten und Manufakturen assoziierten die wohlhabenderen New Orleanians offenbar Beschäftigte und Kundschaft, die sie lieber nicht in ihrer Nähe dulden wollten. Zweimal im Jahr müsse er die Polizei rufen, weil in den businesses um ihn herum »riots« ausbrächen, beschwerte sich Mr. Bendix aus der Esplanade Avenue.49 Mittels der Klassifizierung als »residential area A« ließen sich bestimmte Bürger aus der Gegend heraushalten. Solche Beschwerden gab es sowohl flussabwärts, als auch flussaufwärts von Canal Street, wobei sich im neidischen Blick der downtown-Elite auf uptown jenes alte Gefühl der 44 | »District No. 4, Hearing at John McDonogh School, Esplanade Ave and Rocheblave St«, 8.12.1927, in: City Planning and Zoning Commission, Report of Public Hearing, 5-7, 19. 45 | Etwa »District No. 3, Hearing at Warren Easton High School«, 6.12.1927, in: City Planning and Zoning Commission, Report of Public Hearing, 9. 46 | Exemplarisch »District No. 2, Hearing at Sophie B. Wright School, Napoleon Ave near St. Charles Ave«, 1.12.1927, in: City Planning and Zoning Commission, Report of Public Hearing, 18. 47 | Vgl. auch »District No. 4, Hearing at John McDonogh School, Esplanade Ave and Rocheblave St«, 8.12.1927, in: City Planning and Zoning Commission, Report of Public Hearing, 20. 48 | Ebd., 7. 49 | Ebd., 1-2.

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Vernachlässigung äußerte, das 30 Jahre zuvor in den Tiraden des Réveil zum Ausdruck gekommen war. Der Zoning Plan, wie ihn Stadtverwaltung und Experten 1927 vorstellten, traf folglich nicht auf einheitlichen Protest. Die radikale planmäßige Strukturierung der Stadt, ihre Unterteilung in funktionale Zonen, stieß nicht prinzipiell auf Kritik. Widerstand entfaltete sich lediglich dort, wo lokale, individuelle Interessen betroffen waren; über das Einzugsgebiet einer Straße reichten diese meist nicht hinaus. Stadtweite Gruppeninteressen wurden nicht artikuliert. Auch die preservationists dachten offenbar nicht stadtweit: Was die Klassifizierung als Industriedistrikt für manches historische Bauwerke bedeutete, wurde nirgends thematisiert. Der Entwurf einer Comprehensive Zoning Ordinance führte in manchen Fällen zu individueller Unzufriedenheit, was den Vorsitzenden der CPZC, Charles A. Favrot, in einem Hearing zur lakonischen Schlussbemerkung veranlasste: »Of course, you understand that we cannot please all of you. Somebody is going to suffer somewhere.«50 Die Art dieser Unzufriedenheit lässt sich am ehesten nach Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht fassen. Bewohner von ärmeren Gegenden hielten stärker an der traditionellen walking city fest, um aus Zeit- und Geldgründen Wohnen, Arbeiten und Einkaufen auf möglichst engem Raum verbinden zu können, wohingegen Anwohner wohlhabenderer Straßenzüge in einem homogenen sozialen Umfeld residieren wollten und Wege gerne in Kauf nahmen. In diesen Protesten ging es letztendlich um den eigenen Alltag, das persönliche Leben und wirtschaftliches Eigeninteresse, und so bildeten sich die Konfliktlinien zwischen individuellen Bürgern und der Stadtverwaltung, zwischen ärmeren und wohlhabenderen New Orleanians und zwischen kleinen, lokalen business interests und gut situierten Anwohnern. Worum es nicht ging, das war eine ideale Vision des Stadtraums und die Frage, welche Vision einer New Orleanser Identität angemessen wäre. Zwar implizierten die Petitionen und Protestreden bestimmte Vorstellungen von Stadtleben – etwa von der urbanen walking city oder der grünen residential city –, diese Visionen blieben jedoch sehr punktuell auf einige Straßen begrenzt und wurden nicht im Zusammenhang mit dem Charakter der Crescent City insgesamt gedacht, wie es beispielsweise beim Balkonstreit der Fall gewesen war. Lediglich in wenigen Aunahmen griffen die Proteste über das einzelne Grundstück oder einige Blocks hinaus. Die Anwohner des Jefferson Davis Parkways etwa zeichneten zum einen das typische düstere Bild eines von »oil stations, factories, foundries and alleged soft drink stands« verschandelten Boulevards, der doch eigentlich als parkway die beiden großen städtischen Parks, 50 | »District No. 2, Hearing at Sophie B. Wright School, Napoleon Ave near St. Charles Ave«, 1.12.1927, in: City Planning and Zoning Commission, Report of Public Hearing, 45.

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Audubon Park und City Park, verbinden sollte. Ganz in der Tradition der elitären Reformvereinigungen des späten 19. Jh.s beanspruchten sie, für Schönheit und Ästhetik und gegen schnöde Kommerzialisierung einzutreten.51 Anders als andere Proteste gegen die Zoning Ordinance argumentierten sie jedoch dazu noch mit ideellen Werten. Schließlich setzten sich die United Daughters of the Confederacy dafür ein, den gesamten Boulevard mit Ehrenmonumenten für die ›Helden der Konföderation‹ zu schmücken. »This parkway is a memorialization of our heroes, not that we want to keep up the feeling between the North and the South, but we love our heroes.«52 Der Schrein des Gedenkens an die Konföderation sollte nicht durch alltägliches Arbeitsleben und die damit einhergehenden Menschen entweiht werden – ein typisches Denkmuster der elitären Gedenkorganisationen der Jahrhundertwende und des frühen 20. Jh.s, wie es auch die Handlungen der preservationists prägte. Einen Sinn für Ästhetik und Geschichtsbewusstsein musste man sich zunächst einmal leisten können. Bewahren, erinnern und verschönern bedeutete zugleich ausschließen; im Namen des südstaatlichen Charakters von New Orleans konnte dieser Exklusionsprozess vorangetrieben bzw. argumentativ untermauert werden. Es verwundert nicht, dass die Konfliktlage bezüglich des zoning im Vieux Carré komplexer war als in den anderen Vierteln. Sämtliche Diskurse um den Wert des alten Stadtteils und um seine Bewahrung, die sich in den zwei Jahrzehnten zuvor herausgebildet hatten, wurden in den Debatten um die Zoning Ordinance wie in einem Brennglas gebündelt. Das Bemerkenswerte allerdings ist, dass die Gegner nicht mehr wie zu Balkonstreitzeiten die business elite der Association of Commerce und die preservationists waren. Andere Bruchlinien taten sich auf. Auf der einen Seite bewegten sich nach wie vor jene, die auch schon im Vorfeld eine möglichst strikte Zonierung für das Vieux Carré gefordert hatten. Mit dem von der CPZC vorgeschlagenen Kompromiss – nur einen kleinen Teil des French Quarter für bestimmte Industrien zu sperren – zeigten sie sich unzufrieden und forderten eine Erweiterung des Territoriums bis zu den Grenzen der alten kolonialen Stadt53 oder, wie die Aktivistin Camelia D. Waddill, zumindest um etwa einen Block an jeder Seite (vgl. Abb. 28).54 Dabei bemühten die Denkmalschützer die altbekannten Argumente, die sie in ihren Petitio51 | »District No. 6, Hearing at Delgado Trade School, City Park Ave and Orleans St«, 15.12.1927, in: City Planning and Zoning Commission, Report of Public Hearing, 85. 52 | Ebd., 10. 53 | »District No. 4, Hearing at John McDonogh School, Esplanade Ave and Rocheblave St«, 8.12.1927, in: City Planning and Zoning Commission, Report of Public Hearing, 27-28. 54 | Vgl. Petition von Camelia D. Waddill, Petition No. 377, 8.12.1927, in: NOPL/CA, City Planning and Zoning Commission Collection, Public Hearing – Petitions from Property Holders, Boxes, District IV, Folder 5.

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nen und Ausführungen manifestartig vortrugen. Waddill etwa beschwor den Wert des Künstlerischen und Historischen und bezeichnete das Vieux Carré als »living evidence of our romantic past«, das die Einmaligkeit von New Orleans ausmache. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Uniformisierung und Standardisierung der Städte sah sie im French Quarter die Chance, eine besondere Stadtlandschaft zu bewahren. Sie ging zudem über die ursprünglichen Forderungen der Architekten hinaus und verlangte sogar eine ergänzende Klausel in der Zoning Ordinance, dass »no building shall be erected or altered out of architectural harmony with its surroundings«, eine Forderung, mit der sie der Zoning Law eine ästhetisch regulierende Funktion zusprach. Waddill unterstellte dabei, dass es ein allgemein anerkanntes Verständnis von Schönheit gebe, dem sich niemand entziehen könne; dieses Verständnis solle die Grundlage für Stadtplanung bilden. »No one would care to live in a city designed and built solely for utility. It would be intolerable, a horrible nightmare, fit only for animals and lunatics«, spitzte sie die klassischen anti-utilitaristischen Annahmen der Denkmalschützer zu.55 Ergänzend hinzu trat jedoch ein Argument, das in den Dekaden zuvor nicht die Bedeutung eingenommen hatte, die man ihm nun zumaß. Ein Teil der Denkmalschützer kaprizierte sich darauf, den wirtschaftlichen Vorteil der Bewahrung des Vieux Carré für die Stadt New Orleans und für individuelle Interessen herauszustreichen. E. A. Parsons etwa betonte in einem Hearing, das Vieux Carré sei »the best asset that the City of New Orleans has to sell«. Die Einmaligkeit des Quarter wurde in diesem Argument vom identitätsstiftenden Faktor und vom ästhetischen Genuss zum materiellen Wert.56 Damit reagierte Parsons auf die Kritiker, die das Verbot bestimmter Industrien als Einschränkung ihrer business-Interessen im French Quarter betrachteten. A. Romanski, Inhaber eines Fotogeschäfts im Vieux Carré, befürchtete, Investitionen würden dadurch ausbleiben, alte Häuser in ihrem Verfallszustand verharren, Mieten und Grundstückswerte sinken und eine »undesirable class of tenants« einziehen. Romanski malte eine Spirale des Untergangs an die Wand, die das gesamte Vieux Carré von einem lebendigen Distrikt in eine Ruine verwandelte – »a paradise for the historian, a cemetery for the bulk of the active population«. »We work and live for to-day and not for yesterday«, fasste er die klassische businessArgumentation zusammen, wie sie in den Jahrzehnten zuvor auch von der Association of Commerce vertreten worden war, und stichelte: »Fifty large city squares are too large to be sacrificed to a handful of men and women living in other parts

55 | Ebd. 56 | »District No. 4, Hearing at John McDonogh School, Esplanade Ave and Rocheblave St«, 8.12.1927, in: City Planning and Zoning Commission, Report of Public Hearing, 25.

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of the city, blinded by a historical notion only«.57 Gegen solche Argumente hielt Parsons dagegen: »My purpose is to save the Vieux Carré, but in doing it I help everybody that is doing business there, because the minute that it is set aside, the property will become much more valuable.«58 Erstaunlich ist, dass gerade Parsons diese Ansicht vertrat. Parsons war Mitglied der Vieux Carré Association, jenes Zusammenschlusses von Grundeigentümern und Geschäftsleuten im French Quarter, der sich ein Jahr zuvor gegen jegliches zoning ausgesprochen hatte. Das offizielle Organ der lokalen business community des Vieux Carré hatte in Sachen Denkmalschutz eine Kehrtwendung vollzogen. Anders als von Romanski vermutet, waren es keineswegs nur noch wenige Geschichtsfreaks aus anderen Stadtteilen, die sich für die historic preservation einsetzten. Lokale Geschäftsinteressen standen im Vieux Carré offenbar anderen lokalen Geschäftsinteressen entgegen, die sich wiederum mit der stadtweiten Denkmalschutz- und Kulturelite verbündet hatten, um den legalen Rahmen der Zoning Ordinance möglichst im Sinne des Denkmalschutzes auszulegen. Die Association of Commerce, vormaliger Erzfeind der Denkmalschützer, trat in all dem als Mediator auf. Aus den Bemühungen der A of C heraus war der Zoning Plan überhaupt erst in Angriff genommen worden; ihre Mitglieder waren prominent in der CPZC vertreten, die sich beim zoning letztlich als Vermittler zwischen den Fronten begriff. Allison Owen und Charles Allan Favrot waren beide führende A of C-Mitglieder, die in der CPZC eine wichtige Rolle spielten;59 sie beide waren zudem aktive Architekten im Louisiana Chapter des AIA – der eine Kreole, der andere nicht; auch hier spielte diese Unterscheidung keine Rolle mehr. Besonders Owen war zuvor vehementer Gegner der Balkonbewegung gewesen. Nun setzte er sich im Rahmen der Architektenvereinigung für das denkmalschützerische Konzept des tout ensemble ein und vertrat zusammen mit Favrot die Kompromisspolitik der CPZC in den Hearings. Es scheint, als hätten sich die alten Fronten der preservationists vs. business community aufgelöst, bzw. verschoben: Die großen, stadtweit bekannten Unternehmer, die in der A of C organisiert waren, dienten nun als Vermittler zwischen den ebenfalls stadtweiten Denkmalschutzorganisationen und den kleineren lokalen businessInteressen. A of C und Denkmalschützer kamen sich dabei so nah wie nie zuvor. 57 | Petition von A. Romanski, Petition No. 375, 24.12.1927, in: NOPL/CA, City Planning and Zoning Commission Collection, Public Hearing – Petitions from Property Holders, Boxes, District IV, Folder 5. 58 | »District No. 4, Hearing at John McDonogh School, Esplanade Ave and Rocheblave St«, 8.12.1927, in: City Planning and Zoning Commission, Report of Public Hearing, 28-29. 59 | Favrot war seit ihrer Existenz sogar Vorsitzender der CPZC, Owen sein Stellvertreter, vgl. die Jahresberichte der Kommission: NOPL/CA, Annual Reports of the City Planning and Zoning Commission, AQ 200 1923-24ff.

V. Geordnete Stadt

M USE ALISIERUNG Die Ursachen hierfür lagen sicherlich zum einen im inneren Wandel begründet, den die A of C – ähnlich wie die VCA – in diesen Jahren binnen kurzer Zeit vollzog. Im beginnenden Zeitalter des Automobils profitierte New Orleans zunehmend von Individualreisenden. Die Logik der Tourismusindustrie fügte sich nahtlos in die Logik des Denkmalschutzes ein; in einer quasi-symbiotischen Beziehung konnten die beiden der Stadt am Mississippi zum Durchbruch als beliebtes Tourismusziel verhelfen. In den 1920er Jahren begann dementsprechend das Paradigma der Konsumstadt das der Produktionsstadt abzulösen. New Orleans’ führende business-Elite erkannte, dass das – auch und gerade wirtschaftliche – Heil ihrer Stadt im Wandel von einer Handels- und Industriestadt hin zur Tourismus- und Dienstleistungsstadt zu finden war. In der Zwischenkriegszeit, so stellt Anthony J. Stanonis fest, legte die wirtschaftliche Elite von New Orleans die Basis für den späteren Tourismusboom, indem sie »turned from homogenizing symbols of modernity such as skyscrapers to an elaboration of the city’s unique heritage.«60 Zum anderen lag der Grund für eine Annäherung der früheren Kontrahenten darin, dass die Bemühungen um historische Bausubstanz im Rahmen der Zoning Ordinance auf das Vieux Carré begrenzt blieben. Immerhin hatte sich der Balkonstreit von 1914-1916 ja an den Balkonen der Canal Street entzündet und war später in der St. Charles Avenue im Bereich des business district weitergefochten worden. Für das Herz des business district setzte die A of C offenbar andere stadträumliche Leitlinien an als für das sonderbare, alte French Quarter. Insofern stimmt die Beobachtung von Stanonis, dass das kulturelle Erbe der Stadt als einmaliges Symbol für New Orleans die allgemeinen Symbole der Modernität im Denken der urban boosters ablöste, nur bedingt. Vielmehr existierten beide Ideale in unterschiedlichen räumlichen Territorien parallel zueinander weiter. Zwischen Herbst 1927 und Sommer 1929 wurde der zoning-Entwurf in einigen Details überarbeitet, aber nicht mehr grundlegend geändert, so dass New Orleans’ erste Comprehensive Zoning Ordinance am 6. Juni 1929 vom Stadtrat angenommen werden konnte.61 Die endgültige Regelung teilte die Stadt in »area districts« ein. A und B waren »residential«, C und D »apartment«, E, F und G »commercial«, I, J und K »industrial« und L »heavy industrial/unrestricted«. Zwischen G und I schuf die Stadtverordnung eine Sonderzone »H Special Vieux Carré District«, die damit wie ursprünglich von der CPZC vorgeschlagen nicht nur in der Nomenklatur eine Kompromissstellung zwischen

60 | Stanonis, Creating the Big Easy, 241. 61 | Ordinance 11,302 CCS, 6.6.1929, vgl. CPZC, Handbook to Comprehensive Zoning Law, Chapter IV, 10.

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»commercial« und »industrial« einnahm.62 Territorial wurde das Vieux Carré in der Stadtverordnung als zwischen Burgundy, Conti, Barracks und Decatur Street liegend definiert (vgl. Abb. 28).63 Damit berücksichtigte die CPZC den Protest der Denkmalschützer, indem sie die Grenzen der Sonderzone im Vergleich zu ihrem ursprünglichen Plan erweiterte. Gleichzeitig wurde diese Zone H auch explizit als »historic district« bezeichnet (Abb. 29).64

Abbildung 29: Legende zur Zoning Map der Zoning Ordinance 11,302 CCS vom 6.6.1929, in der der »Special Vieux Carré District« als »Historic District« bezeichnet wird. Letztlich verkörperte die Zoning Ordinance auf einer grundlegenden Ebene einen Kompromiss zwischen den Leitbildern der Modernität (die Amerikanität implizierte) und der Individualität (die Historizität akzeptierte), die einander in den öffentlichen Debatten um die Gestalt des Stadtraums seit dem späten 19. Jh. gegenüber gestanden hatten. Die Stadtverordnung erlaubte bis zu einem gewissen Grad Industrie- und Handelstätigkeit im alten Quarter und sah von denkmalschützerischen Bestimmungen ab. Sie setzte aber auch fest, dass das Vieux Carré als »special district«65 definiert wurde und rechtlich einen Sonderstatus erhielt. Fortan war ein Präzedenzfall für die Sonderbehandlung dieses Territoriums etabliert. Wenngleich die Zoning Ordinance selbst keinerlei im engeren Sinne denkmalschützerische Klauseln umfasste, so bot sie damit jedoch die Basis für einen weiteren Ausbau des Sonderstatus des Vieux Carré und benannte diese Zone als eine historische. Die Clean Up-Koalition, die in der Bal62 | Ebd., Chapter Va, 29. 63 | Ordinance 11,302 CCS, 6.6.1929. 64 | Ebd. 65 | Ebd., Chapter Va, 9.

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konfrage zerbrochen war, fand in den 1920er Jahren daher wieder zusammen; der common ground der grundsätzlichen Modernisierungswilligkeit stellte dafür die Grundlage bereit, während die Klassifizierung des French Quarter als historische Sonderzone eine konkrete Brücke schlug. Der ausschlaggebende Impuls, einen entscheidenden Schritt weiterzugehen und den historischen Distrikt des French Quarter unter Denkmalschutz zu stellen, kam durch Harland Bartholomews Plan for Civic Art. Dieser Plan war, wie auch die zoning-Empfehlung, Teil des Comprehensive City Plan, den der Berater für New Orleans entworfen hatte. 1931 überreichte er dem Stadtrat den Bericht, in dem er sich mit dem allgemeinen Erscheinungsbild der Stadt – von der Art der Straßenbeleuchtung über den Zustand der Parks zum Problem der Werbeschilder – befasste. Ein eigenes Kapitel in Bartholomews Bericht nahm das Vieux Carré ein. Dieses zeugt davon, wie stark Anfang der 1930er Jahre das Bild des French Quarter gefestigt war. Der externe Planer übernahm bestimmte Zuschreibungen zu diesem Teil der Stadt als gesetzte Fakten, die drei Jahrzehnte zuvor noch als romantisierende Haltung einiger Künstler, Literaten und Frauen gegolten hatten. Im Gewand eines Expertenberichtes schienen sie gleichsam losgelöst von den inneren Auseinandersetzungen in der Stadt, als faktische Charakterdarstellung von außen an das Vieux Carré und damit an New Orleans herangetragen. Wie selbstverständlich beschrieb der Stadtplaner, der beauftragt worden war, New Orleans ein modernes Gesicht mittels eines modernen Plans zu geben, das Vieux Carré als »distinguishing mark« der Crescent City. Geschichtsträchtigkeit, Romantik und »old world atmosphere« machten, so Bartholomew, die Einzigartigkeit des French Quarter aus.66 Sein Wert als Touristenattraktion und Quell des Lokalstolzes sei unschätzbar.67 Bartholomew verurteilte dementsprechend den Abriss eines Blocks des Vieux Carré für das neue Gerichtsgebäude als einen bedauerlichen Akt der Zerstörung68 und hob die vielen privaten Initiativen hervor, die alte Bauwerke vor dem Verfall gerettet hatten.69 Er empfahl jedoch, aufgrund seines unschätzbaren Werts die Sorge um das Vieux Carré in die Obhut der Stadtverwaltung zu geben.70 Zu diesem Zweck entwarf er eine Vieux Carré Ordinance, die einer neuen Vieux Carré Commission die Befugnis geben sollte, alle ihrer Einschätzung nach bewahrenswerten Gebäude des Quarters zu erfassen und Baugenehmigungen für

66 67 68 69 70

| Bartholomew, City Planning Report, Chapter VI, 25. | Ebd., 32. | Ebd., 27. | Ebd., 32. | Ebd.

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Neu- und Umbauten an diesen geschützten Bauwerken zu erteilen.71 Das Quarter definierte er dabei der Zoning Ordinance von 1929 gemäß.72 Im übrigen Bericht folgte Bartholomew klar der Vision der modernen Stadt, wie die A of C sie seit der Jahrhundertwende angepriesen hatte. Zwar erkannte er den Wert der Balkone bei Regen und Hitze, forderte aber Baubestimmungen, die ein »standard design of a uniform height«73 einführen sollten, um das Straßenbild harmonischer zu gestalten. Er lobte die neue Straßenbeleuchtung, das Straßenpflaster sowie den Abriss vieler alter Balkone auf Canal Street74 und warnte vor »obstructions«, die den Fußgängerverkehr auf den Gehwegen behinderten75 , ebenso wie vor planlosem Baumpflanzen.76 Während die Topoi des Verkehrsflusses, der Reibungslosigkeit, des Lichts, des Grüns und der visuellen Uniformität seine Vision der Stadt prägten, regte er jedoch für das French Quarter den weitgehenden Erhalt des Status Quo an, der Enge, Stagnation und optische Diversität billigend in Kauf nahm. 1936 stimmten die Wähler von Louisiana einer Verfassungsänderung des Staates zu, die eine Vieux Carré Commission mit breiter Polizeigewalt überhaupt erst rechtlich ermöglichte.77 1937 erließ der Stadtrat auf dieser Basis die sogenannte Vieux Carré Ordinance, »for the preservation of buildings and other structures having historical or architectural value in the Vieux Carré section of the City«.78 Dabei wurde das Vieux Carré territorial viel weiter gefasst als in der Zoning Ordinance von 1929: Von der Parallelstraße der Canal Street (Iberville Street) bis Esplanade Avenue und von Rampart Street bis zum Mississippi (vgl. Abb. 28). Die Kommission sollte aus neun Mitgliedern bestehen, die vom City Council zusammen mit dem Bürgermeister bestimmt werden sollten. Eines von ihnen sollte durch die Louisiana Historical Society vorgeschlagen werden, eines durch das Louisiana State Museum und eines durch die Association of Commerce. Drei Architekten durfte das New Orleans Chapter des AIA vorschlagen, lediglich die letzten drei Mitglieder konnten Bürgermeister und Stadtrat frei aussuchen.79 New Orleans war damit die zweite Stadt der USA nach Charleston mit einem rechtlich verankerten »historic district«, innerhalb dessen eine städtische Kommission Autorität über privates Eigentum innehatte. Es scheint, als habe

71 | Ebd., 37. 72 | Ebd., 38. 73 | Ebd., 7. 74 | Ebd., 3. 75 | Ebd., 11. 76 | Ebd., 16. 77 | Article XIV, Section 22A der Verfassung des Staates Louisiana von 1921. 78 | Ordinance 14,538 CCS, 3.3.1937. 79 | Ebd.

V. Geordnete Stadt

sich das denkmalschützerische Paradigma in den 1930er Jahren in der New Orleanser Stadtpolitik durchgesetzt. Allerdings ist es bezeichnend, welche Stellung dem denkmalgeschützten Bereich der Stadt zugewiesen wurde. Der behutsame Umgang mit historischer Architektur erstreckte sich keinesfalls auf die gesamte Stadt, sondern beschränkte sich auf eine klar definierte Zone. Diese nahm zwar eine Sonderstellung ein, als eine Zone unter vielen war sie jedoch integraler Bestandteil der neuen urbanen Ordnung. Die Vision einer rational gegliederten, aus Gründen der Effizienz und Reibungslosigkeit in funktionale Bereiche aufgeteilten Stadt stellte gewissermaßen die übergeordnete Struktur dar, der die Zone H überhaupt erst ihre Existenz verdankte. Innerhalb dieser Zone galten fortan andere Kriterien zur Gestaltung des Stadtraums als außerhalb. Auch diese Kriterien entsprangen jedoch der Vision jener modernen Stadt, die Christine Boyer als »decomposed into pure forms and rigid classifications and dedicated to machine efficiency and technological progress«80 beschreibt. Die moderne Stadt verstärkte die Sehnsucht nach der Vergangenheit und nach dem Fremden, eine Sehnsucht, die sich in der Faszination mit den Artefakten der Geschichte und des Exotischen ausdrückte.81 Der »historic district« sollte ein Sammelbecken werden, in dem diese Artefakte für alle sichtbar gemacht werden konnten. In der Sonderzone H sollte genau jenes Spektakel geboten werden, das aus dem Rest der Stadt verbannt wurde: Das visuelle Schauspiel des Sehens und Gesehenwerdens82 – in engen Gassen, auf den Balkonen –, die Montage unterschiedlicher Zeitschichten nebeneinander in Form von alten Architekturen, das Gefühl, nicht nur andere Zeiten zu besuchen, sondern auch ferne Orte.83 Aus dem Fluss der Zeit herausgenommen, wurde exotische Vergangenheit fortan im Vieux Carré regelrecht inszeniert. Nicht als Ausstellung oder Jahrmarkt, sondern »reappropriated in situ as public property belonging to a common heritage«84 fungierte das French Quarter als lebendiges Museum, das den visuellen Konsum einer mythischen, exotischen Vergangenheit ermöglichte. Diese wirkte so konkret im Raum der Stadt, »spatializing territories into fixed, static, unchanging landscapes that existed in temporalities outside of modernity«85 . Die Musealisierung und das Zurschaustellen aber beruhten auf denselben Prämissen wie das Ideal des reibungslosen Fließens zwischen funktionalen Zonen: Sie 80 | Boyer, City of Collective Memory, 122. 81 | Ebd., 27. 82 | Ebd., 122. 83 | Ebd., 51. 84 | Ebd., 269. 85 | Harry Harootunian, »Foreword: The Exotics of Nowhere«, in: Yaël Rachel Schlick (ed.), Essay on Exoticism: Victor Segalen, An Aesthetics of Diversity (Durham: Duke University Press, 2002), vii-xx, hier ix.

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organisierten mit Hilfe von Expertenwissen das undurchschaubare Wirrwarr der Stadt – sei es ihren Verkehr, sei es ihre kosmopolitische Bevölkerung, sei es ihre komplexe Geschichte – in eine überschaubare Ordnung und waren damit selbst zutiefst modern.86 In diesem Organisationsprozess, der letztlich auch ein Interpretationsprozess war, geriet das Vieux Carré zu einem Ort exotischer Geschichte, der zu einem großen Teil im Reich der Fantasie lokalisiert war. Diese Fantasie stützte sich auf den Creole myth. Nicht nur die historische Bausubstanz, auch die Kreolen selbst wurden so in dieser Schau zu Figuren des Vergangenen und des Exotischen. »To his ancestral mode of life the Creole clings tenaciously. He must have wine, and his morning café noir, his Sabbath diversion, and frequent holiday cheer. His dining is as much a matter of duty with him as his prayers. His side of the city is old-fashioned.«87 Gleich den Native Americans in Bildern und Beschreibungen des Westens wurde ›der‹ Kreole Objekt des visuellen Konsums – eine Position, zu der die Kreolen selbst einen guten Teil beigetragen hatten, wie oben erläutert. Aufgrund dieser Musealisierung jedoch konnte das Bild der ›un-amerikanischen‹ kreolischen Kultur und damit das Vieux Carré zum identitätsstiftenden Moment für die gesamte Stadt werden. Diese Kultur in die Vergangenheit und ins French Quarter zu verweisen trug weiter dazu bei, sie zu entschärfen und sowohl zeitlich als auch räumlich einzudämmen; sie stellte keine ernsthafte Konkurrenz mehr für eine weiße, anglo-amerikanische Dominanz dar, wie das noch vor dem Bürgerkrieg der Fall gewesen war. Gerade in seinem Schwinden konnte das kreolische New Orleans als Marker für die Individualität der Crescent City fungieren. Es versinnbildlichte die Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart und des Fremden im Eigenen. Das French Quarter/Vieux Carré kann so mit Michel Foucault als Heterotopie gefasst werden, als real existierender Raum des Anderen im Eigenen.88 Weniger als ein Aufbewahrungsort für das von der gesellschaftlichen Norm abweichende Andere, wie die von Foucault als Beispiel für einen solchen Raum angeführten Gefängnisse oder Altenheime89, präsen86 | Boyer, City of Collective Memory, 289-90; zur Denkmalpflege als »genuines Produkt der Moderne« Gerhard Vinken, »Das Fremde als das Eigene: Das St. Alban- und das St. Johannstor in Basel«, in: Marion Wohlleben (Hg.), Fremd, vertraut oder anders? Beiträge zu einem denkmaltheoretischen Diskurs (München: Deutscher Kunstverlag, 2009), 115-23, hier 121. 87 | Chamber of Commerce and Industry of Louisiana (ed.), The City of New Orleans, 10. 88 | Michel Foucault, »Des espaces autres«, in: Daniel Defert et François Ewald (dir.), Michel Foucault: Dits et écrits 1954-1988 (Paris: Gallimard, 1994), tome 4, 752-62, hier 755-56. 89 | Ebd., 757.

V. Geordnete Stadt

tiert sich die spezifische Heterotopie des Vieux Carré als Raum der Inszenierung von – beherrschter und ungefährlicher – Fremdheit und von fremder, anderer Zeit. Damit kommt sie dem nahe, was Foucault als eine Heterotopie begreift, die mit einer Heterochronie einhergeht, also mit einem Bruch mit der alltäglichen Zeit. Museen ebenso wie Feste sind ein Beispiel für diese Orte, an denen die aktuelle Zeit hinterfragt wird.90 Das Vieux Carré erweist sich so als Raum, in dem nicht nur Fremdheit im Inneren einer existierenden Ordnung inszeniert und vermittelt wird, sondern auch eine andere Zeit produziert und dargestellt werden kann; vielleicht könnte man es als Heterochronotopie bezeichnen. Die soziale Realität des Vieux Carré wurde im ›Quarter der Fantasie‹ dabei ausgeblendet – ein Prozess, der in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s nicht nur in New Orleans mit der Gentrifizierung an Fahrt gewann und gesellschaftliche Konsequenzen nach sich zog. Die ferne Exotik der mythischen weißen, kreolischen Kultur bot genügend Reiz, ohne die Gesellschaftsordnung der Gegenwart in Frage zu stellen, wie es etwa eine kreolische Kultur der Rassenmischung getan hätte. Damit blendete diese Vision auch die Realität der kreolischen Geschichte und die Tradition einer lebendigen afro-kreolischen Kultur aus. Gleichzeitig negierte der Mythos des Vieux Carré als kreolisch-aristokratischem Ort auch die Präsenz einer Vielzahl von Einwanderern in diesem Stadtteil. Schwarze New Orleanians und ihre Geschichte gehörten in die auf dem Creole myth basierende Fantasie ebenso wenig hinein wie »macaroni factories«, die verpönt waren als »inelegant uses which should cause Bienville and his fellow builders to turn over in their graves«91 . Es verwundert folglich nicht, dass die business community und die Kulturelite der Stadt, die sich im Balkonstreit noch erbittert gegenübergestanden hatten, in diesem Vieux Carré ihrer Fantasie einen Konsens erzielen konnten. Die reizvolle, ungefährliche Romantik, Exotik und Geschichtsträchtigkeit von New Orleans konnte so bewahrt werden, allerdings an einem begrenzten und klar definierten Ort, der der Entwicklung der modernen Stadt nicht im Weg stehen würde. Die diese Planungen vorantreibende weiße Elitenkoalition traf sich damit in den 1920er Jahren innerhalb eines urbanistischen Diskurses, der seine Wurzeln im 19. Jh. hatte. Wenngleich die funktionale Unterteilung der Stadt in den USA tatsächlich erst eine Errungenschaft des 20. Jh.s war, so war das Denken in klar 90 | Ebd., 759-60. Abgrenzend zur Heterotopie bezeichnen Volker Barth et al., »Einleitung«, in: dies. (Hgg), Xenotopien: Verortungen des Fremden im 19. Jahrhundert (Berlin: LIT Verlag, 2010), 7-23, hier 15-16 solche Räume als Xenotopie, womit sie auf den Aspekt des Inszenierens und Vermittelns von Fremdheit abzielen, der ihnen zufolge bei der Foucaultsche Heterotopie fehlt. Allerdings hat Foucault selbst Museen und Bibliotheken als Heterotopien bezeichnet; die Dimension des Inszenierens ist also durchaus in seiner Begrifflichkeit enthalten. 91 | Bartholomew, City Planning Report, Chapter VI, 27.

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Die Balkone von New Orleans — Städtischer Raum und lokale Identität um 1900

getrennten Räumen fest in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s verankert. »Victorian Americans conceived of civilization itself as a regime of boundaries, sequestering women from men, class from class, virtue from vice, moral values from material interests, (private) home from (public) market, (private) property from (public) politics. Bourgeois urbanists sought to incorporate that geography of ›lines‹ and ›spheres‹ into the spatial fabric of New York«92 , schreibt David M. Scobey über den New Yorker Urbanismus des 19. Jh.s., und Charles S. Maier macht die Denkfigur der von klaren Grenzen getrennten Flächen gar als mehr oder minder abstraktes Grundprinzip gesellschaftlicher Ordnung im späten 19. Jh. aus, das sämtliche Lebensbereiche durchzog: »Something there was that must have loved a wall… For not only geographical frontiers: social and class upheaval at home as well as renewed international competition compelled an obsession with social enclosures of all sorts: the boundaries that separated nation from nation, urban from rural, and the zones within cities, the conceptual frontiers that divided church from state, public from private, household from work, alleged male from reputed female roles – social and political order was conceivable only through spatial partition.« 93

Weil das Vieux Carré als Heterotopie klar abgegrenzt war vom restlichen New Orleans, konnte es der Abgrenzung der Crescent City gegenüber anderen amerikanischen Städten nach außen dienen. Ob es dabei gleichzeitig nach innen die community identity stärkte, wie von Kevin Fox Gotham postuliert94, ist fraglich, da sich während der Einrichtung der Zone H neue gesellschaftliche Brüche offenbarten und die Konstruktion des mythischen Vieux Carré per se an ausschließende Mechanismen geknüpft war. Letztlich einigten sich hier weiße Eliten, die sich seit dem späten 19. Jh. im Streit um die Form der Stadt noch erbittert gegenüber gestanden hatten, auf ein und dieselbe Vision der Crescent City: In klare Kompartimente strukturiert, konnte New Orleans altmodisch und exotisch, modern und amerikanisch zugleich sein, als einmalige amerikanische Stadt ein »espace double«95 voller Ambiguitäten.

92 | Scobey, Empire City, 170. 93 | Charles S. Maier, »Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era«, in: American Historical Review 105 (June 2000), 807-31, hier 817. 94 | Gotham, Authentic New Orleans, 88-89. 95 | Andreas Mahler, »Venedig als Xenotopos in der Literatur des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts«, in: Barth et al. (Hgg), Xenotopien, 209-21, hier 217.

Schluss: Stadt der Ambivalenzen

In den 1920er Jahren stand für führende New Orleanians ebenso wie für außenstehende Beobachter fest, dass die Stadt am Mississippi etwas ganz Besonderes war. Es war eine unhinterfragbare Grundannahme, dass die Crescent City sich von allen anderen amerikanischen Städten abhob: New Orleans war unique. An den New Orleans exceptionalism zu glauben war kein kurzlebiges Phänomen der Zwischenkriegszeit. Nicht nur urban boosters, die ihre Stadt als Marke im Bewusstsein von Touristen zu verankern suchten, sondern auch Besucher und Kommentatoren gingen wie selbstverständlich davon aus, dass die Stadt am Mississippi etwas Einmaliges darstellte. Der Planer Harland Bartholomew gründete in den 1930er Jahren seine Empfehlungen zur Gestaltung der Stadt auf der Prämisse, dass New Orleans »so different from the stereotyped American city«1 sei; in den 1960er Jahren hob der Historiker Hodding Carter in seinem Standardwerk zur Geschichte von New Orleans auf die Ausnahmestellung der Stadt im US-amerikanischen Kontext ab.2 Bis heute gilt New Orleans als Sonderfall der amerikanischen urbanen Landschaft. Worauf diese Besonderheit zurückgeführt wurde oder wird, auch das blieb über die Jahrzehnte relativ konstant und wurde und wird stetig wiederholt. Bartholomew nannte die Lage der Stadt am Mississippi, ihre ungewöhnliche Topographie, das subtropische Klima und die bunte und wechselhafte Geschichte.3 Auch Carter verschmolz Klima und Geschichte und konzipierte New Orleans als südeuropäische Stadt.4 Diese Faktoren machten New Orleans zu einer »City of Charm«5 . Die der Stadt im 20. Jh. so konstant zugeschriebene Identität bestand folglich aus einem Amalgam von klimatischen und topographischen sowie histo1 | Bartholomew, City Planning Report, Chapter VI, 2. 2 | Eckstein, Sustaining New Orleans, 14. Hodding Carter, The Past as Prelude: New Orleans, 1718-1968 (New Orleans: Tulane University Press, 1968). 3 | Bartholomew, City Planning Report, Chapter VI, 2. 4 | Eckstein, Sustaining New Orleans, 14. Carter, Past as Prelude. 5 | Bartholomew, City Planning Report, Chapter VI, 22.

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Die Balkone von New Orleans — Städtischer Raum und lokale Identität um 1900

rischen Besonderheiten. New Orleans war eine südliche Stadt und es war eine alte Stadt, deren Geschichte zudem noch der Hauch des Exotischen umwehte. Die Identität dieser »City of Charm« beruhte zu einem großen Teil auf ihren physischen Gegebenheiten. Die warme Sommerluft, der tropische Regen, die Lage unter dem Meeresspiegel, die Kessellage zwischen Mississippi und Lake Pontchartrain, der aus französischer Kolonialzeit stammende Grundriss des Stadtkerns, koloniale Architekturen französischer und spanischer Herkunft, südstaatliche Antebellumplantagen und herrschaftliche Villen – all dies trug seinen Teil dazu bei, New Orleans als Stadt des Sommers und des Wassers, der Geschichte und des Exotischen zu profilieren. Gleichzeitig beeinflussten aber auch die Vorstellungen, die die New Orleanians von der Identität ihrer Stadt hatten, ihre Einstellung zum sie umgebenden physischen Raum und damit die Art und Weise, in der sie ihn formten und veränderten oder für seinen Erhalt eintraten. Für New Orleans waren die Jahrzehnte nach dem Ende der Reconstruction bis in die 1920er Jahre hinein eine Art temps de passage. Wohin sollte sich die alte Queen City of the South, stolze Königin des Antebellum-Baumwollsüdens in einer Zeit wenden, in der die Eisenbahn das Dampfschiff ablöste und die industrialisierten Nordstaaten dem Süden wirtschaftlich den Rang abliefen? Wie den Herausforderungen einer neuen Gesellschaftsordnung nach dem Ende der Sklaverei begegnen? Kurz: Wie sich politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich einfügen in die Union und in einen Neuen Süden, sich aber trotzdem eine herausragende Stellung sichern? In diesen Jahren bemühten sich viele New Orleanians, ihre Stadt im Gefüge der amerikanischen Metropolen neu zu verorten und sich selbst innerhalb der Stadt neu zu positionieren. Angesichts des rasanten Wandels schien es vor allem den führenden Schichten der Stadt wichtig, eine übergreifende urbane Identität zu etablieren, die zugleich den eigenen Führungsanspruch innerhalb der Stadt zementieren, nach innen Brüche überwinden und nach außen abgrenzend wirken konnte. Obwohl sie auf einige gemeinsame Prämissen zurückgriffen, waren die weißen Eliten, die um 1900 die Führung in der Stadt beanspruchten, bezüglich ihrer Vision einer Identität von New Orleans entzweit. Konkurrierende Bilder der Stadt, konfligierende Erzählungen über die Stadt, der Bezug auf unterschiedliche Wissensbestände, um die eigene Vision von New Orleans zu untermauern, sowie konkrete Handlungen im städtischen Raum zeugten von Differenzen bezüglich dessen, was man als typisch für New Orleans wahrnahm und als New Orleanser Identität durchsetzen wollte. Unterschiedliche Visionen des Stadtraums wurzelten so in divergierenden Konzepten der New Orleanser Identität, während diese divergierenden Identitätsvorstellungen zugleich in unterschiedlichen Perzeptionen des Stadtraums gründeten. Die von späteren Beobachtern wie Bartholomew oder Carter für selbstverständlich gehaltene Identität als alte, exotische Sommerstadt war folglich das Ergebnis von komplexen Aushandlungsprozessen zwischen den Bewohnern der Stadt, in denen es

Schluss: Stadt der Ambivalenzen

um gesellschaftliche Ordnungen ging, und vom Wechselspiel der Zuschreibungen durch Bewohner und Besucher, von Innenbild und Außenbild. Diese Prozesse verliefen keineswegs geradlinig. Zwischen den 1880er und 1920er Jahren kollidierten die unterschiedlichen Vorstellungen, die sich New Orleanians von ihrer Stadt machten. Bis zur »City of Charm« von Bartholomew war es ein weiter Weg, der letztlich nicht nur in einen innerelitären Schulterschluss, sondern auch in die Exklusion einer Vielzahl anderer New Orleanians mündete. Schon seit dem Ende des Bürgerkrieges propagierten eine kleine kulturelle Elite sowie Reisende das Bild von New Orleans als einer typisch südlichen und südstaatlichen Stadt, deren visuelle Form folglich auch dem Klima angemessen gestaltet werden sollte. Schriftsteller wie Lafcadio Hearn, aber auch wohlwollende Besucher aus dem Norden wie Charles Dudley Warner oder Julian Ralph schwelgten in den Beschreibungen eines perennial summerland, das sie als Balsam für die Seele des nordstaatlichen Wanderers empfanden. Südlichkeit erschien als Metapher für Sonne und ewiges Blühen, für Warmherzigkeit und einen Lebensstil, der für einen gemächlichen Lebensfluss, für Freundlichkeit und Mitmenschlichkeit einstand. Dieser Lebensstil wurde der Kälte des Nordens nicht nur wörtlich, sondern auch metaphorisch diametral entgegengesetzt. Südlichkeit war daher ein wichtiges Identitätsmerkmal, das nicht nur den physischen Raum von New Orleans, sondern auch die Gesellschaft der Stadt prägte. Letztlich war es somit das Klima, das New Orleans zu einem großen Teil definierte: Die Stadt am Mississippi war eine Stadt der Natur, die ohne Wasser, Sonne, Hitze und Regen so nicht denkbar war. Dies war ein Teil des common ground, auf dem sich um 1900 die Eliten der Stadt, aber auch die Besucher bewegten. Allerdings waren einige New Orleanians sensibler als andere für mögliche Negativkonnotationen, die der Topos des ewigen Sommerlandes transportierte. Zwar warb selbst die führende Wirtschaftselite der Stadt mit Blütenduft und Balsamluft, doch verglichen die businessmen, das wirtschaftliche Interesse der Stadt vor Augen, New Orleans stärker mit anderen amerikanischen Städten. Neidisch blickten sie auf den Wirtschaftsboom, der bestimmte Städte des Neuen Südens und des Mittleren Westens nach dem Bürgerkrieg erfasst hatte. Als eine Ursache für die Probleme der Stadt am Mississippi, mit den jüngsten Entwicklungen Schritt zu halten, machten sie die negativen Kehrseiten des Sommerlandes aus und wiesen auf die Ambivalenz des Klimas im Mississippidelta hin, das sich Fremden – potentiellen Investoren und Handelspartnern – aufdrängen musste. Vor allem die Dominanz der Natur schien in dieser Hinsicht ein problematisches Merkmal von Südlichkeit. Zu große Hitze war schlicht unangenehm und führte in Kombination mit hoher Luftfeuchtigkeit zu Epidemien. Subtropische Regenfälle konnten die Stadt dank ihrer Topographie gelegentlich vollständig unter Wasser setzen, was nicht gerade vorteilhaft fürs Ge-

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schäft war. Insofern bemühte sich diese Wirtschaftselite, ein Alternativbild von New Orleans zu entwerfen. Angenehm südlich sollte es sein, aber gleichzeitig geprägt durch eine extreme Fortschrittlichkeit, die der klimatischen Unbill entgegentrat, die dominierende Natur in ihre Schranken wies und so den Negativaspekten von Südlichkeit erfolgreich entgegenwirkte. Damit hofften die Vertreter der Wirtschaft auch, weitere Merkmale von Südlichkeit jenseits der klimatischen Probleme zu beseitigen, Merkmale, die sie als unmodern und altmodisch betrachteten. Sie traten jenen im späten 19. Jh. verbreiteten Vorstellungen entgegen, nach denen südliche Klimata zu Trägheit und Faulheit und damit zu Geschäftsuntüchtigkeit und Misserfolg führten. Zugleich sollte der in den Köpfen vieler Beobachter fortbestehende Zusammenhang zwischen Südlichkeit und Südstaatlichkeit – im Sinne einer rückwärtsgewandten Gesellschaft des Alten Südens – aufgelöst werden. New Orleans sollte nicht mehr mit der Vergangenheit assoziiert werden, sondern mit progressiver Gegenwart und Zukunftsträchtigkeit. Die Identität als southern city lief letztlich Gefahr, nicht nur ewig blühendes Sommerland zu bedeuten, sondern auch resignierte Unterwerfung unter die Natur des Südens, klimatisch bedingten Müßiggang und Unterordnung unter den Norden aufgrund der Assoziation mit einer femininen Südstaatenschönheit. Damit aber entsprach New Orleans keinesfalls den Idealen, nach denen die business communities in der Zeit zwischen den 1880er und 1920er Jahren strebten. Der Unternehmergeist des Gilded Age und die Suche nach Effizienz der Progressive Era waren kaum mit den Bildern von Ergebenheit in natürliche Bedingungen, von Warmherzigkeit, Weiblichkeit, Trägheit und Südstaatlichkeit vereinbar. Solche Bilder galten als Stolpersteine auf dem Weg zu Fortschrittlichkeit und Modernität, also zu jenen abstrakten Idealen, die konkrete Werte wie unternehmerische Aggressivität und Effizienz zugleich bedingten und ausdrückten. Letztere sollten wirtschaftliche Blüte garantieren und galten in der Logik des industriellen Kapitalismus eines Neuen Südens als Chiffre für Erfolg. Dementsprechend sollte sich New Orleans durch eine Neugestaltung seiner öffentlichen Räume als fortschrittliche Stadt des Neuen Südens ausweisen, als Stadt voller Energie, Dynamik und Unternehmergeist. Ihre Modernität sollte sich gerade im Kampf gegen Naturgewalten und Umweltbedingungen äußern. Ein zentrales Thema in der Beschäftigung mit dem öffentlichen Raum war daher in den Dekaden um 1900 die Einrichtung von Infrastrukturen, die die Unannehmlichkeiten des New Orleanser Klimas beseitigen sollten. Ein adäquates Entwässerungssystem nahm dabei eine eminente Stellung ein. Politische und wirtschaftliche Eliten bemühten sich um 1900, ihre Stadt mithilfe von Experten (vor allem Medizinern und Ingenieuren) und einem drainage system buchstäblich aus dem Sumpf zu holen. Trockenlegung schien das verheißungsvolle Mittel, New Orleans zu neuer wirtschaftlicher Blüte und Expansion zu verhelfen und kontraproduktive Klischees auszuhebeln. Die Bändigung der Natur konnte

Schluss: Stadt der Ambivalenzen

den Unternehmergeist, die Willensstärke und die Modernität der New Orleanians zugleich demonstrieren. Nicht funktionierende existierende Infrastrukturen wurden dabei auf Fehler der Vergangenheit geschoben, auf eine altmodische Vorgehensweise, die man nun überwand. Der Vergangenheit wurde ein fehlender Plan und mangelnde Wissenschaftlichkeit vorgeworfen, weshalb sie mit Stagnation und Verfall assoziiert wurde, die man im in der Stadt stagnierenden und verfaulenden Wasser versinnbildlicht fand; im Gegenzug symbolisierte abfließendes Wasser den Fortschritt der zeitgenössischen Metropole. Das Alte, aus der Vergangenheit Stammende war so letztlich als Wurzel allen Übels im Umgang mit den negativen Aspekten der Südlichkeit ausgemacht. Damit wurde zugleich der Beginn eines neuen Zeitalters proklamiert, der Beginn eines new order der Modernität. Angesichts der gesundheitlichen Dringlichkeit fanden Unterfangen wie das drainage system breite Unterstützung in New Orleans. Keiner sprach sich grundsätzlich dagegen aus, die Stadt aus dem Sumpf zu holen. Dass New Orleans eine fortschrittliche Stadt war, war innerhalb der Stadt ebenfalls konsensfähig. Selbst die kulturelle Elite, die weniger persönliches Interesse an den Infrastrukturprojekten hatte als die Wirtschaftselite oder die sich in dem Bereich etablierenden Experten, war überzeugt, dass New Orleans den Idealen des Neuen Südens entspreche oder zumindest nach der Realisierung der Projekte entsprechen werde. Der common ground, auf dem sich die diversen Eliten der Stadt um 1900 bewegten, war daher die Annahme, dass die Identität ihrer Stadt von Südlichkeit geprägt sei, aber auch, dass New Orleans so fortschrittlich sei, dass mögliche negative Aspekte dieser Identität ausgeschlossen werden könnten – eine Sicht auf die Stadt, die von Außenstehenden kaum geteilt wurde. Die Besonderheit von New Orleans lag in dieser Perspektive ebenso sehr in der Südlichkeit wie in dem erfolgreichen Kampf gegen die Widrigkeiten, die das Attribut der Südlichkeit gleichermaßen beinhaltete. New Orleans, das war in der Innenperspektive der Stadt ihre Natur und der Kampf gegen diese Natur zugleich. Die Crescent City war moderne und fortschrittliche Sommer-, Blumen- und südliche Stadt. Ergänzend zu den großen Infrastrukturprojekten wie der drainage trat eine Politik des Clean Up. Städtische Einsatzkommandos und Freiwillige sollten gemeinsam die Stadt zu einer City Beautiful machen und sie von Dreck und Müll befreien. Die vielfältigen Eliten der Stadt zogen auch hier an einem Strang. Mediziner und Ingenieure, Lokalpolitiker, Architekten, Frauenclubs und Geschäftsleute waren gleichermaßen daran beteiligt, das breite Publikum für das Clean Up zu gewinnen. Allerdings schieden sich die Geister hinsichtlich der Frage, was zum Dreck gehörte, der vom Straßenbild entfernt werden sollte. In den Augen der Association of Commerce gehörten selbst die alten Balkone, die die urbane Landschaft von New Orleans prägten und die Straßen der Stadt überdachten, zu den Störfaktoren im öffentlichen Raum. Sie sollten abgerissen und

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nach dem Vorbild anderer Städte durch progressive Markisen ersetzt werden. Hieran zerbrach die Koalition des Clean Up. Die business community der Stadt folgte mit dem Vorschlag, Balkone abzureißen, weniger dem Leitbild der Individualität der Stadt als dem ihrer Modernität. Das verhieß zunächst ein Gleichziehen mit anderen Städten, aber auch die Möglichkeit, diese an Fortschrittlichkeit zu überbieten und damit das eigene Profil zu stärken. Südlichkeit sollte nur insofern als Identifikationsmerkmal dienen, als sie die Modernität New Orleans’ nicht in Abrede stellte und lediglich mit angenehmem Klima und freundlichen Menschen konnotiert war. All jenen Aspekten von Südlichkeit hingegen, die potentiell mit dem Alten, Vergangenen assoziiert werden konnten – alte Architektur oder die Kultur der Antebellumära –, sollte durch bewusste Modernität entgegengewirkt werden, um die Identität von New Orleans als moderne Stadt des Südens zu festigen. Weniger das Südliche, als das mit ihm konnotierte Alte oder Stagnierende erwies sich dabei als Stein des Anstoßes für die business community: Altes stand unter dem Generalverdacht der Rückständigkeit. Die Modernisierung des Stadtbildes stieß bei der kulturellen Elite, bei Architekten, Kunstprofessoren und -studenten, sowie bei vielen engagierten Frauen aus der Mittelschicht allerdings an ihre Grenzen, sofern sie die Individualität der Stadt antastete, ohne dass dadurch grundlegende wirtschaftliche oder gesundheitliche Probleme behoben wurden. Im Kontext des subtropischen Klimas, so ihr Argument, würden die traditionellen Balkone zudem durchaus Sinn machen. Sie würden den Fußgänger vor einem zuviel an Sonne sowie vor subtropischen Platzregen schützen und so einen unschätzbaren Beitrag dazu leisten, das Sommerland genießbar zu machen. New Orleans sei eine südliche Sommerstadt, und diese Architektur drücke eine solche Identität für alle sichtbar aus. Der common ground der fortschrittlichen Sommerstadt wurde folglich in dem Moment verlassen, als Charakteristika des südlichen New Orleanser Stadtraums zur Debatte standen, die alt und wenig fortschrittlich waren, aber anders als die veralteten Infrastrukturen den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Zustand der Stadt nicht bedrohten. Die einen setzten die Modernität der Stadt über alles und verteufelten dabei all jene Attribute der New Orleanser Identität, die in irgendeiner Weise rückständig wirken konnten. Dafür nahmen sie in Kauf, dass die Crescent City einen Teil ihrer Individualität einbüßen und anderen amerikanischen Städten ähnlicher werden würde. Die anderen hingegen setzten die Südlichkeit und damit die Individualität der Stadt über ihre Modernität und akzeptierten dafür Abstriche in Sachen Fortschrittlichkeit; Hauptsache, New Orleans grenzte sich von anderen amerikanischen Metropolen ab. Die Eliten entzweiten sich just an der Ambivalenz jener Vision, die die Identität von New Orleans als südlich und fortschrittlich zugleich konzipierte, gewissermaßen an der Nahtstelle zwischen Sommerstadt und progressiver Stadt. Anders gesagt: Sie nahmen unterschiedliche Positionen auf der zwischen diesen beiden

Schluss: Stadt der Ambivalenzen

Polen liegenden Skala ein, je nachdem, ob sie die Individualität ihrer Stadt für wichtiger erachteten oder deren Modernität. Im Unterschied zur business community waren die Frauen aus der Mittelschicht und Architekten, Künstler und Schriftsteller nicht von einer Phobie des Alten geplagt. Ihrem Leitbild der Individualität der Stadt entsprechend waren sie nicht nur willens, Altes als individuelles Merkmal von New Orleans zu akzeptieren, sondern sie maßen dem Alten – sofern es sich nicht gerade um marode und lebensbedrohliche Infrastrukturen handelte – auch einen positiven Wert bei. Daher argumentierten sie nicht nur mit der klimatischen Funktionalität der Balkone, sondern auch mit ihrem historischen Charakter. Für sie war New Orleans nicht nur eine südliche Stadt, sondern auch eine alte Stadt; Südlichkeit und Geschichtsträchtigkeit ergänzten einander in ihrer Vision einer New Orleanser Identität. Diese New Orleanians bewegten sich damit weniger im Fortschrittsdiskurs des Neuen Südens als im Kontext der nostalgischen Revivals der Jahrhundertwende. Dabei konstruierten sie sehnsuchtsvoll eine romantische Vergangenheit, zu deren Kennern sie sich stilisierten. Balkone und alte Bauwerke mussten geschützt werden, um die Individualität von New Orleans zu bewahren. Indem sie sich in Sachen Denkmalschutz zu Experten erhoben, beanspruchten sie zugleich die Deutungshoheit über die Identität ihrer Stadt und machten diese der business community streitig. Die Geschichte von New Orleans war für sie zudem besonders einmalig, da es eine exotische Geschichte war, die die Stadt am Mississippi von anderen amerikanischen Städten unterschied. Aufgrund seiner französischen und spanischen Kolonialgeschichte haftete New Orleans das Flair der old-world city und der Latin city an. Schriftsteller, Journalisten, Architekten und Frauenclubs waren gleichermaßen daran beteiligt, das Bild von New Orleans als Stadt der alten Welt und als Latin city zu etablieren. Dieses Bild beruhte in erster Linie auf dem Creole myth, dem Mythos der weißen, aristokratischen Kreolen, die als direkte Nachfahren französischer oder spanischer Siedler über die Stadt geherrscht hatten, bis ihnen im Lauf des 19. Jh.s die zugereisten Amerikaner den Rang abliefen. Auch wenn die Denkmalschützer selbst keine Kreolen waren, so identifizierten sie sich doch mit dem Bild dieser kultivierten und vor allem weißen Aristokratie, in deren Tradition sie sich durch die Bewahrung ihrer Architektur zu stellen suchten. Die weißen Kreolen selbst waren im späten 19. Jh. schon weitestgehend amerikanisiert und assimiliert. Als distinkte ethnische Gruppe hatten sie keinerlei politische Macht mehr; dieses Machtverlustes waren sie sich bewusst, weshalb sich einige führende weiße Kreolen zumindest für den Erhalt der frankophonen Kultur in New Orleans einsetzten. Dabei trugen sie jedoch dazu bei, ihre eigene Kultur zu folklorisieren und zu musealisieren, indem sie das Kreolentum auf den Erhalt der Sprache und alter Traditionen begrenzten. Gleichzeitig waren sie seit dem Bürgerkrieg bestrebt, die eigentliche kreolische Kultur

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der Antebellumära, die auf einer dynamischen Austauschbeziehung zwischen Schwarz und Weiß beruht hatte, zu negieren, um sich selbst als weiß zu definieren. Dadurch beschleunigten sie sowohl den Amerikanisierungsprozess als auch die eigene Mythisierung. Als Inbegriff des kreolischen Stadtteils galt das French Quarter oder Vieux Carré, das der alten Kolonialstadt entsprach. Der Creole myth und die nostalgische Überhöhung einer romantisierten Vergangenheit lieferten die Grundlage dafür, dass das Vieux Carré als physisch präsenter und sichtbarer Ausdruck dieser Mythen zum identitätsstiftenden Merkmal von New Orleans werde konnte – zumindest in den Augen jener, die sich für den Denkmalschutz einsetzten und Altes als urbanes Charakteristikum wertschätzten. Bis in die 1910er Jahre stand diese Auffassung den Modernisierungsbestrebungen der business community diametral entgegen. Die wirtschaftliche Elite der Stadt sah im Vieux Carré einen verfallenden Slum; wie die Südlichkeit identifizierte sie das Alte und das Kreolische mit unamerikanischer Rückständigkeit. Nachdem zu Anfang des 20. Jh.s im Namen des Fortschritts sogar ein gesamter Block des French Quarter abgerissen worden war, fand in den 1920er Jahren ein Paradigmenwechsel statt. Unter dem Einfluss des zunehmenden Tourismus in dieser Dekade öffnete sich die Association of Commerce dem urbanistischen Leitbild der Individualität, das dem Alten und Fremden in der Stadt gezielt Platz einräumte, weil diese das Gesicht der Stadt prägten und von anderen Städten abgrenzten. Im Rahmen eines umfassenden City Plan, dessen Herzstück eine Comprehensive Zoning Ordinance bildete, die die Stadt in funktionale Zonen einteilte, näherten sich die einstigen Kontrahenten des Balkonstreits einander an; die Instrumente der modernen Stadtplanung stellten somit ein Mittel dar, die zerbrochene Clean Up-Koalition zu erneuern. Die Denkmalschützer begnügten sich damit, ihre Forderungen auf das Vieux Carré zu beschränken, so dass die Modernisierung der restlichen Stadt ungehindert vorangetrieben werden konnte. Der Zoning Plan, den der Stadtrat verabschiedete, traf auf breite Zustimmung innerhalb der Wirtschafts- und Kultureliten. Er schuf eine Sonderzone für das French Quarter, das so aus den üblichen Klassifizierungen herausgenommen wurde. Zwar fanden sich im Zoning Plan selbst noch keine denkmalschützerischen Bestimmungen, aber er bildete die Grundlage für eine Sonderbehandlung des Vieux Carré, die zehn Jahre später in ein Gesetz mündete, das die Entscheidung über Baugenehmigungen im French Quarter ganz in die Hand einer städtischen Vieux Carré Commission legte. Diese Kommission bestand sowohl aus Mitgliedern der business community als auch der kulturellen Elite der Stadt. Damit wurde das Vieux Carré jedoch endgültig zu einem musealen Bereich, der gleichsam aus dem Zeitlauf herausgelöst das Alte im Modernen und das Fremde im Eigenen verkörperte. In diesem Sinne könnte man das Viertel als Heterotopie bezeichnen, als einen Raum, in dem das Fremde im Eigenen in-

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szeniert wurde. Gleichzeitig diente es der Aufbewahrung und Zurschaustellung des mythischen Zeitalters der Kreolen. Als Zone innerhalb eines urbanen Zonenplans ordnete sich dieser historic district der Fantasie in die Logik der modernen Stadtplanung ein, die jeder Funktion einen getrennten Raum zuwies. Nur in diesem Rahmen konnten sich die einstigen Kontrahenten unter den New Orleanser Führungsschichten annähern. Die so neu geschaffene, zu bewahrende Vergangenheit schien nicht nur ungefährlich – sie war weiß und aristokratisch –, sondern auch noch klar begrenzt auf einen ganz spezifischen Ort, an dem sie nicht drohte, den Fortschritt der Stadt zu behindern. Das Alte und das Neue, das exotische Fremde und das Amerikanische konnten koexistieren, solange sie sich in unterschiedlichen räumlichen Kompartimenten bewegten, vor allem solange das Alte nicht verwahrlost und heruntergekommen und das Fremde nicht allzu fremd war. »No culture obsessed more about borders than the one taking shape by the mid-nineteenth century, insisting on national, racial, gender, and class lines. The modern world was gripped by the episteme of separation«6, befand Charles S. Maier in seiner Analyse des 20. Jh.s. Nur dank dieser Grenzziehungen konnte die Ambivalenz der Identität von New Orleans in der Innenperspektive einen Konsens finden und die Stadt am Mississippi südlich und gegen Südlichkeit kämpfend, alt und modern, fremd und amerikanisch zugleich sein. Inwiefern diese Identität der koexistierenden, aber separierten Ambivalenz allerdings die community identity nach Innen tatsächlich förderte, ist mehr als fraglich. Denn es handelte sich um einen Konsens innerhalb der weißen Eliten, der auf den rassistischen Prämissen, wie sie den Creole myth prägten, gründete. Sämtliche Aushandlungsprozesse um die Identität von New Orleans waren seit den 1880er Jahren zwischen konkurrierenden, weißen Eliten ausgetragen worden. Einsprüche gegen die neu erschaffene Identität der Stadt und mit ihr einhergehende Ausschlüsse, die zu neuen Bruchlinien unter den New Orleanians führten und alte Fragmentierungen verstärkten, gab es genug. Lokale, kleine Geschäftsleute etwa waren gegen den strengen Denkmalschutz in ihrem Viertel, weil er ihren wirtschaftlichen Interessen entgegenstand. Die weißen Kreolen wurden endgültig der Vergangenheit zugewiesen und die gesellschaftliche Realität des French Quarter negiert. Weder die lebendige afro-kreolische Kultur, noch afro-amerikanische Einflüsse oder die Präsenz der italienischen Einwanderer fanden Eingang in das überhöhte Idealbild des Vieux Carré. Letztlich wirkte die neugeschaffene Identität der separierten Ambivalenz vor allem in einem Punkt nach innen identitätsstiftend: als Bindemittel zwischen vormals konkurrierenden, weißen Eliten, das dazu beitrug, deren Deutungshoheit über die Stadt zu festigen.

6 | Maier, »Consigning the Twentieth Century to History«, 819.

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Nach außen wirkte der neue Kompromiss auf umfassendere Weise. Denn die Kompartimentalisierung von New Orleans erlaubte es, das Bild der alten, exotischen Sommerstadt des Südens zu fixieren, das Harland Bartholomew und andere Beobachter für die ausschließliche Identität der Stadt hielten und das bis heute vor allem in der Außenwahrnehmung und der Außendarstellung weiterexistiert. Modernität und Fortschrittlichkeit waren in diesem Bild nicht vorhanden. Es barg jedoch selbst auch Ambivalenzen in sich, da es freundliche Warmherzigkeit und ineffiziente Trägheit, reichhaltige Tradition und unmoderne Rückständigkeit, faszinierende Exotik und unamerikanische Fremdheit implizieren konnte. Gerade die inneren Ambivalenzen dieser Vision von New Orleans übten eine besondere Anziehungskraft auf Außenstehende aus, da sie eine liebenswerte Fehlerhaftigkeit der Stadt am Mississippi suggerierten. Bereits Charles Dudley Warner hatte versucht, diese Liebenswürdigkeit zu fassen – und er hatte sie im Vieux Carré verortet: »I liked it all from the first; I lingered long in that morning walk, liking it more and more, in spite of its shabbiness, but utterly unable to say then or ever since wherein its charm lies. I suppose we are all wrongly made up and have a fallen nature; else why is it that while the most thrifty and neat and orderly city only wins our approval, and perhaps gratifies us intellectually, such a thriftless, battered and stained, and lazy old place as the French quarter of New Orleans takes our hearts?«7

Nun, da die New Orleanians aufgrund des historic district gewissermaßen eine geographisch begrenzte alte, fremde Sommerstadt im Vieux Carré konstruiert hatten, konnten sie die positiven Assoziationen dieses Bildes für die gesamte Stadt beanspruchen, mögliche negative aber in das French Quarter und damit in eine romantisierte Vergangenheit verweisen. Gleichzeitig wich die Crescent City auch nicht zu sehr von der Norm amerikanischer Städte ab, weil sich lediglich ein ›gezähmtes Anderes‹, wohlgeordnet, rational strukturiert und nicht allzu fremd, im Inneren der Stadt fand. Selbst das Bild der exotischen und alten Stadt des Südens bewegte sich daher im sicheren Rahmen grundlegender amerikanischer Stadtgestaltung des 20. Jh.s, in einem Rahmen, der nicht durch Tabus wie Planungsunfähigkeit oder Rassenmischung gesprengt wurde. Die von ihnen in inneren Aushandlungsprozessen geschaffene ambivalente Identität der Stadt als moderne Stadt des Südens erlaubte es den führenden New Orleanians, selbstbewusst das bei Besuchern so beliebte, ebenfalls ambivalente Bild des alten, fremden Sommerlandes zu tolerieren. Außenstehende konnten dieses Narrativ fortschreiben, ohne dass die New Orleanians stetig dagegenhalten mussten, weil sie negative Konnotationen befürchteten. Selbst die business

7 | Warner, »New Orleans«, 186.

Schluss: Stadt der Ambivalenzen

community konnte nun bedenkenlos mit dem wenig fortschrittlichen Image werben. New Orleans war folglich von ambivalenten Zuschreibungen auf verschiedenen Ebenen charakterisiert. Die Identität der Stadt, wie sie zwischen den 1880er und 1920er Jahren von weißen, New Orleanser Eliten und Außenstehenden im Wechselspiel konstruiert wurde, war geprägt von einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Die Stadt war alt; das konnte traditionsreich, aber auch rückständig bedeuten. Gleichzeitig war sie neu und fortschrittlich. New Orleans verkörperte zudem das Fremde im Eigenen: Die Crescent City war ebenso exotisch faszinierend wie beängstigend unamerikanisch; sie war jedoch zugleich auch amerikanisch. Und sie war warmherzig südlich und träge, kämpfte aber gleichzeitig gegen eben diese Südlichkeit, so wie sie irgendwo zwischen Wasser und Land lokalisiert war. Letztlich lag die Signatur von New Orleans in ihrer selten explizit reflektierten, doch permanenten Kopräsenz von Gegensätzen, die ambivalente Zuschreibungen ermöglichte und aus diesen resultierte. Diese inneren Widersprüche von New Orleans blieben im Bild der Stadt, wie die weißen Eliten es geformt hatten, immer innerhalb eines gewissen Rahmen; ethnische und ›Rassen‹-Grenzen wurden nicht überschritten, die Kreolen des Creole myth fungierten als das ›ungefährliche‹ Andere. Zugleich konnten die widersprüchliche Aspekte des Bildes dank einer funktionalen Strukturierung bei Bedarf immer getrennten Räumen zugewiesen und dadurch in scheinbare Eindeutigkeiten aufgelöst werden8 . Auf diese Weise konnten die Individualität und Identität der Stadt in ihrer Ambivalenz wurzeln und New Orleans als contradictio in se, als in einem »perpetual state of betweenness«9 verstanden werden.

8 | Anders als beim Bild des ambivalenten Venedig, das Mahler, »Venedig als Xenotopos«, 209-21, untersucht. 9 | Rob Shields, »Delta City«, in: Phil Steinberg and Rob Shields (eds), What is a City? Rethinking the Urban after Hurricane Katrina (Athens: University of Georgia Press, 2008), 78-93, hier 93.

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Abkürzungen

AIA: American Institute of Architects A of C: New Orleans Association of Commerce CPZC: New Orleans City Planning and Zoning Commission HNOC/WRC: The Historic New Orleans Collection, Williams Research Center NOPL/CA: New Orleans Public Library, Louisiana Division, City Archives TU/LaRC: Tulane University, Special Collections Division, Louisiana Research Collection TU/SEAA: Tulane University, Special Collections Division, Southeastern Architectural Archive UNO/LaSC: University of New Orleans, Louisiana and Special Collections Department VCA: Vieux Carré Association VCC: Vieux Carré Commission

Abbildungen

Umschlagbild: Chartres Street, New Orleans, Louisiana, ca. 1906. Unbekannter Fotograf. Library of Congress, Prints and Photographs Division, Detroit Publishing Company Photograph Collection, LC-D4-19296. Abbildung 1: Balkone auf der Royal Street (Ecke St. Peter Street), New Orleans, Louisiana, 2012. Fotografie Cherie Tregre. Abbildung 2: Canal Street, New Orleans, Louisiana, s.d. Fotografie George François Mugnier. New Orleans Public Library, Louisiana Division/City Archives Photograph Collection, George François Mugnier Photograph Collection, Streets #7. Abbildung 3: Royal Street, New Orleans. Louisiana, ca. 1890-1901. Unbekannter Fotograf. Library of Congress, Prints and Photographs Division, Detroit Publishing Company Photograph Collection, LC-D4-5738. Abbildung 4: St. Charles Street and Hotel, New Orleans, Louisiana, s.d. Fotografie George François Mugnier. New Orleans Public Library, Louisiana Division/City Archives Photograph Collection, George François Mugnier Photograph Collection, Streets #8. Abbildung 5: Plan de la ville de la Nouvelle Orléans, 1723. Newberry Library, Chicago, Manuscript Map Collection, Cartes Marines, Acc. # VAULT drawer Ayer MS, Map 30, Sheet 81. Abbildung 6: Plano de la Ciudad de Nueva Orleans, 1798. Carlos Trudeau. Louisiana State Museum, Historic Map Database, Acc. # 11552.005. Abbildung 7: Plan dressé en éxécution de l’arrêté du Conseil de Ville de la Nlle Orléans, approuvé par le Maire le 15 Juin 1807, 1809. James Tanesse. Louisiana State Museum, Historic Map Database, Acc. # 1975.115.002.14. Abbildung 8: Canal Street from the Clay Monument, ca. 1890. Fotografie William Henry Jackson. Library of Congress Prints and Photographs Division, Detroit Publishing Company Photograph Collection, LC-D418-8101. Abbildung 9: Canal Street, New Orleans, Louisiana, ca. 1903. Unbekannter Fotograf. Library of Congress Prints and Photographs Division, Detroit Publishing Company Photograph Collection, LC-D4-16320.

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Abbildungen

Abbildung 25: St. Charles Avenue, New Orleans, Louisiana, ca. 1890-1901. Unbekannter Fotograf. Library of Congress Prints and Photographs Division, Detroit Publishing Company Photograph Collection, LC-D4-4899. Abbildung 26: Norman’s Plan of New Orleans and Environs, 1849. B.M. Norman, Shields and Hammond. Louisiana State Museum, Historic Map Database, Acc. # T0101.1996.0025. Abbildung 27: Edward E. Lafaye clipping, in: New Orleans Item, 1.7.1914. Tulane University, Louisiana Research Collection, Ethel Hutson Papers, Box 9, Folder 7. Abbildung 28: Eingezeichnet in: Sanborn Fire Insurance Maps, New Orleans, 1887, vol. 2, key map. Detail. Library of Congress, Geography & Map Reading Room. Abbildung 29: Legende zur Zoning Map der Zoning Ordinance 11,302 CCS, 6.6.1929. New Orleans Public Library, Louisiana Division/City Archives, City Planning and Zoning Commission, Handbook to Comprehensive Zoning Law for New Orleans (New Orleans: printer’s dummy, 51935).

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Register

A Abwasserkanäle 83, 112, 123, 159 Akadier 52-53 American Institute of Architects, Louisiana Chapter 40, 134, 222, 228, 312, 316 Amerikanischer Bürgerkrieg 19-20, 62-67, 78, 215-216, 218, 223-224, 249, 272 Anderson, Sherwood 182 Antebellum-Ära 33-35, 62-70, 140, 216, 218, 223, 226, 228, 230, 235, 244, 254, 280, 285-286, 294, 322, 326-328 Appleton, William Sumner 232 Arthur, Stanley Clisby 183 Artists’ Association (New Orleans) 210-213 Athénée Louisianais 274-279, 285-289, 293-294 Atlanta 17, 79, 194

B Backswamp 85, 121-122 Bartholomew, Harland 300-302, 306, 315-316, 321-323, 330 Battle of New Orleans 208 Bayou St. John 27, 29, 48 Beauregard, Pierre Gustave Toutant 273-274, 294 Beaux-Arts-Stil 127, 193-197, 206

Bebauungsregulierung 39-40, 157, 159, 298-300 Behrman, Martin 24, 40, 103-112, 118, 120, 136, 139, 154, 161-162, 169, 179, 182, 193, 225, 243, 252, 289, 291 Bénard de la Harpe, Jean-Baptiste 49-50 Billboards 169-171, 225, 315 Boston 54, 78, 213, 227, 234-235 Boston Brahmins 232, 234-235 Burnham, Daniel 127, 152, 196

C Cabildo 189, 210-213, 221, 301 Cable, George Washington 42-43, 267-268, 270-272 Canal Carondelet s. Old Basin Canal Canal Street 23-37, 39, 41-44, 56-57, 59, 71-77, 80, 94, 102, 131, 134, 141142, 150, 153, 168-169, 171-172, 178180, 186, 202, 266, 290, 296, 313 Capdevielle, Armand 274 Capdevielle, Paul 245, 274 Charleston 46, 79, 181, 214, 232, 234-235, 316 Chartres Street 30, 179, 191-192, 222 Chicago 17, 79, 119, 127 Choctaw Club s. Parteimaschine City Beautiful Movement 37-38, 80, 126-127, 131, 136-139, 143, 150-153,

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157-168, 174-175, 196-197, 228, 234, 239, 280, 325 City Charter (New Orleans) 106, 299 City Functional 126-127 City Planning and Zoning Commission (New Orleans) 298, 300-301, 306-314 Civic center 152, 196-197 Civic league (New Orleans) 128-130, 134, 137-138, 141, 150, 153-154, 156 Civic pride 39-40, 97, 135-139, 142, 170, 173-174, 197, 224, 249 Civil Rights Movement 205 Claiborne, Charles F. 107, 273 Coleman, William H. 57-59, 184186, 189-190, 203, 206, 209, 212, 214, 239, 245-247, 254 Coliseum Square 133 Colonial Dames 224, 301 Colonial Revival 230-232 Colored Young Men’s Christian Association 128, 141 Committee on Conservation of St. Louis Hotel 222-224, 227-228 Compagnie des Indes 49, 280 Comprehensive City Plan (New Orleans) 295-298, 301, 315, 328 Confederate Revival 216 Courthouse (New Orleans) 191-201, 204-210, 213-214, 225, 233, 246 Courtyards 242, 246-247, 264 Creole Association of Louisiana 271273 Creole myth 244-254, 266-271, 277-279, 288, 291-295, 318-319, 327-329, 331 Curtis, Nathaniel 184

D Dallas 44-46, 56, 71, 78-80, 171, 173, 222 Darby, William 281 Demokratische Partei 105-107, 144, 216, 289, 291 Denkmalschutz 21, 35, 180-184, 191, 205-206, 210-214, 216, 218, 221235, 248-250, 255, 260-261, 266, 269, 279, 288, 290, 301-320 Downtown (New Orleans) 121, 141-142, 188, 198, 244, 282, 287, 307-308 Drainage Board (New Orleans) 95, 97 Drainage tax 87-93, 95, 113, 117

E Ecole des Beaux-Arts (Paris) 194 Einwanderung 20, 37, 116, 119, 142, 165, 202, 215, 218, 233, 259, 273 Eisenbahn 17, 31, 78-79, 111, 184, 190, 216, 300, 322 Emerson, Ralph Waldo 187 Environmentalismus 89, 139, 161, 205, 212, 299 Era Club 104, 145, 147-148 Esplanade Avenue 103, 142, 159, 198, 282, 285, 307-308, 316 Exchange Alley 191-192, 198, 208 Exotismus 261-265

F Faubourg Marigny 219, 282 Faubourg St. Mary 28-30, 43, 284285 Faulkner, William 182 Favrot and Livaudais 289 Favrot, Charles Allan 289, 309, 312 Flower, Walter C. 144 Fortier, Alcée 273, 276, 289 Fortier, James J. A. 183

Register

Fortschrittsoptimismus 70, 91, 116117, 164, 199, 218, 282 Frankokanadier 256, 275, 278 Free people of color 10, 65, 267-269, 272 French Opera House 59, 229-230, 235, 245 Frontier thesis 259 Front yards 242

G Gauguin, Paul 262 Gayarré, Charles Etienne Arthur 269-272, 277 Gelbfieber 83, 85, 104, 111, 125-126, 136, 139, 204 Gens de couleur libres s. free people of color Genthe, Arnold 183-184, 237, 250, 252, 264-265 Goldstein, Moise 288 Good Government League (New Orleans) 105, 107, 154, 273 Grady, Henry 70-71, 216

H Hearn, Lafcadio 186-187, 212, 247248, 252, 256, 264, 323 Hébert, Paul Octave 281 Heterotopie 318-320, 328 Holt, Joseph 83-84, 87-89, 94-99, 109, 112, 160, 162, 165-166, 169, 178 Hooper, Charles 225-226, 228 Hotel Royal s. St. Louis Hotel Hutson, Ethel 134, 202-203, 220, 225, 235, 290-293

I Immigration s. Einwanderung Imperialismus 60, 218, 259 Industrialisierung 20, 37-38, 68, 70, 215-215, 262

Italian community (New Orleans) 34, 119, 142, 144, 202-204, 329

J Jackson, Andrew 207-208 Jackson Square 133, 189, 203, 210211, 257 Jazz 10, 12, 146 Jefferson Davis Parkway 309-310 Jefferson Parish 101 Jefferson, Thomas 28, 137, 218, Jim Crow-Gesetze 20, 63-64, 119, 122, 267, 269, 272, 294

K Karneval 10-11, 34, 157, 240, 253 Kaufhäuser 31, 43, 115 Kessler, George E. 80 King, Grace 11, 41, 183, 186, 252, 264, 269, 288, 301 Kinsey, Alberta 182 Kolonialzeit 10, 12-13, 27, 48-50, 85, 110-111, 210-213, 218, 230-233, 244248, 252, 264-265, 269, 295, 322 Konföderation 67, 129, 215, 223-224, 272-273, 294, 310 Kreolische Aristokratie 244-246, 249, 327

L L’Abeille 274, 278, 286 Labouisse, Samuel Stanhope 43, 288-289 Ladies’ Confederate Memorial Association 224 Lafaye, Edward E. 24, 37, 154-157, 167, 289-294, 296 Lafayette Square 133, 201 Lake Pontchartrain 11, 27-28, 31, 34, 48, 51, 85, 100, 104, 119-120, 322

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Die Balkone von New Orleans — Städtischer Raum und lokale Identität um 1900

League of American Municipalities 108-109, 193 Le Petit Salon du Vieux Carré 183, 301-302 Le Petit Théâtre du Vieux Carré 182 Le Réveil 35, 275-280, 282-288, 293, 309 Levees 16, 47-48, 50, 97, 121-122, 280-285 »Little Palermo« 203 Lokalpatriotismus s. civic pride Longfellow, Henry Wadsworth 52-53, 57 Lost Cause-Mythos 62-65, 67, 71, 216, 232, 249 Louisiana Federation of Women’s Clubs 129, 137, 171, 222 Louisiana Historical Society 224, 273, 289, 301, 316 Louisiana State Board of Health 83, 141, 154 Louisiana State Museum 183, 301, 316

M Manifest Destiny 187 Mardi Gras s. Karneval Mauberret, Victor 91 McEnery Stuart, Ruth 41-43 McFarland, Horace 128, 133 McKim, Charles 152 McKim, Meade and White 194 McShane, Andrew J. 105, 298 Mercier, Alfred 274, 277 Miasmenlehre 45, 82-83, 85-86, 94, 112 Midway Plaisance 263-264 Moses, Robert 204

N Neoklassizismus 152, 176-177 New Basin Canal 28

Newcomb Art School 40-41, 74, 134, 171 New Orleans Parking Commission 161-168 New Orleans Tree Society 160-162, 175, 178 New South Creed 70-71, 129 New York City 11, 39, 70, 78, 105, 121, 164, 204-205, 227, 235, 298, 320 New York Knickerbockers 235, 269 Nixon, Louise 182 Nolen, John 296-297 Nostalgie 217-221, 226-228, 235, 248, 261, 278, 285, 294 Nutting, Wallace 230

O Oklahoma City 44-46, 56, 71, 173, 222 Old Basin Canal 227-229 »Old New England« 231 Orientalismus 262, 264 O’Sullivan, John L. 187 Outlets 281-285 Owen, Allison 44-45, 74, 109, 134, 143, 162, 165, 169, 171, 288, 301, 303, 312

P Palmen 129, 166-169 Paris 51, 60, 76, 194, 245, 248, 287 Parsons, E. A. 311-312 Parteimaschine 105-106, 144 Pauger, Adrien de 49, 178 Paving 37, 91-92, 100, 117-118, 124, 126-127, 193, 298, 316 Philadelphia 78, 115-117, 152, 164, 227 Philadelphia Centennial Exhibition 218 Picturesque 73, 161, 175-179, 185, 203, 209, 212, 220-221, 237-239, 291-292

Register

Pioniermythos 108, 114, 231, 259, 292-293 Place d’Armes s. Jackson Square Planungseuphorie 88, 94-95, 113-115, 160, 166, 296-301, 325 Plaquemines Parish 101 Plessy vs. Ferguson 146, 268 Poché, Felix 273 Pontalba Buildings 211 Progressivismus 38-39, 89, 105, 116, 135-140, 144, 151-152, 160, 164, 218, 296

R Ralph, Julian 59-70, 81, 239, 323 Rassentrennung 21, 31, 122-123, 146, 267-268 Reconstruction 16-17, 31, 34, 89, 215, 220, 322 Regionalism 183 Regional Planning Association of America 224-225 Republicanism 137, 150, 157 Ring s. Parteimaschine Robinson, Charles Mulford 37, 151 Rotlichtdistrikt s. Storyville Royal Street 9, 25, 34, 193, 195, 202, 245, 307 Ruddy, Ella Giles 50-51, 54, 56 S Saxon, Lyle 182, 269 Segregation s. Rassentrennung Sewerage 83-84, 96, 98, 104, 107, 109, 124, 161-162, 194, 200, 206, 284 Sizilianer s. Italian community Slum clearance 205 Society for the Preservation of New England Antiquities 232 Sons and Daughters of the American Revolution 224, 301

Southern belle 63-70, 77 Southern lady 68 Sozialdarwinismus 60-61, 259 Stadtgründung (New Orleans) 48-50, 110, 238, 267-268 St. Bernard Parish 101 St. Charles Avenue 16, 34, 159, 241, 266, 290, 308, 313 St. Louis 17, 79, 300 St. Louis Cathedral 211, 304 St. Louis Hotel 222-228, 230, 235, 245, 257, 269 St. Louis Street 146-147, 191-192, 198, 222-223, 245 Stern, Edgar B. 44, 46, 55-57, 71, 7374, 78, 109, 169 Stern, Marion H. 173 Story, Sidney 145-146 Storyville 10, 145-148 Straßenbegrünung 159-169, 171-172 Straßenpflaster s. paving Street improvement commission 124, 153, 160 Sumpf 48, 53, 82, 84-86, 91, 98, 100-102, 104, 119-122, 293, 324-325 Sullivan, Louis Henry 196, 260 T Tammany Hall 105 Taxonomie 116 Teilung New Orleans’ (1836) 285286 The Bee s. L’Abeille Thoreau, Henry David 187 Tocqueville, Alexis de 187 Topographie (New Orleans) 47-49, 83, 94, 99, 113, 321, 323 Tourismus (New Orleans) 11, 18, 180, 189-190, 233, 268, 313, 328 Turner, Frederick Jackson 259

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Die Balkone von New Orleans — Städtischer Raum und lokale Identität um 1900

U Überschwemmungen 12, 19, 47, 4950, 81, 84, 91, 95, 97-98, 101, 104, 108, 112, 122, 280, 282 United Daughters of the Confederacy 224, 310 Uptown (New Orleans) 43, 121, 141143, 200, 202-203, 240, 242, 244, 285, 308 Urban renewal 204-205, 233 US Daughters of 1776-1812 173, 224 V Vieux Carré Association 182, 303-305, 312-313 Vieux Carré Commission 181-183, 302, 315-316, 328 Vieux Carré Ordinance (1937) 305, 315-316 Villeré, Charles A. 272-273 W Waddill, Camelia D. 305, 310-311 Warner, Charles Dudley 18, 47-48, 50, 53-55, 58, 60, 65-70, 72, 81, 87, 96, 159, 178-180, 182, 185, 189, 203, 206, 209, 212, 214, 243, 255, 323, 330 War of 1812 208 Weltausstellung 1893 Chicago 195-197, 201, 259, 263 1851 London 262 1889 Paris 263 Werlein, Elizebeth 183, 230, 235 Werlein, Philip 183 Wetmore, Elizabeth Bisland 220-221, 226, 228-229 Whitaker, Charles H. 224-226, 228 White City 195-196, 201, 263 White League 31, 34, 119, 272 White supremacy 63-64, 270

Wissenschaftsglaube 116, 218 Wood, A. Baldwin 120 Wood Screw Pump 120-121 Wooldridge, Absalom D. 281 World’s Industrial and Cotton Centennial Exhibition (New Orleans) 60, 184, 186, 189-190, 239, 265 Wrigley’s 148-149 Y Yellow jack s. Gelbfieber Z Zirkulation (Luft, Verkehr) 74-76, 98, 115, 127, 150 Zoning 13, 39, 152, 191, 297-316, 328 Zoning Ordinance (New Orleans, 1929) 191, 298, 305-306, 308316, 328

Amerika: Kultur – Geschichte – Politik Bärbel Harju Rock & Religion Eine Kulturgeschichte der christlichen Popmusik in den USA September 2012, 272 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2050-4

Charlotte A. Lerg Amerika als Argument Die deutsche Amerika-Forschung im Vormärz und ihre politische Deutung in der Revolution von 1848/49 2011, 392 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1670-5

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