Ödipus: Politik des Schicksals [1. Aufl.] 9783839402528

Der Essay von Jörn Ahrens befreit König Ödipus aus den Schablonen seiner psychoanalytischen Deutung und liest das Drama

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Ödipus: Politik des Schicksals [1. Aufl.]
 9783839402528

Table of contents :
Inhalt
Der Oidipus-Mythos (Robert von Ranke-Graves)
1. Mythos/Gesellschaft
2. Gesetz
3. Schicksal
4. Ordnung
5. Souveränität
6. Subversion
7. Ödipale Gesellschaft
Anmerkungen
Literatur

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Ödipus

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) T00_01 schmutztitel.p 59220412624

Jörn Ahrens (Dr. phil.) ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsförderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft zu kulturellen Effekten der Biowissenschaften. Seine aktuellen Buchveröffentlichungen sind »Selbstmord. Die Geste des illegitimen Todes«, München 2001; »Durchstreichungen. Essays zu Tod und Literatur«, Würzburg 2001.

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Jörn Ahrens Ödipus. Politik des Schicksals

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2004 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: digitron GmbH, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-252-X Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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) T00_04 impressum.p 59220413152

Inhalt Der Oidipus-Mythos (Robert von Ranke-Graves) 7 1. Mythos/Gesellschaft 11 2. Gesetz 23 3. Schicksal 37 4. Ordnung 51 5. Souveränität 59 6. Subversion 75 7. Ödipale Gesellschaft 83 Anmerkungen 93 Literatur 107

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LITERATUR

Der Oidipus-Mythos* Robert von Ranke-Graves

a. Laios, der Sohn des Labdakos, heiratete Iokaste und regierte über Theben. Bekümmert über seine Kinderlosigkeit befragte er im geheimen das delphische Orakel. Dieses verkündete ihm, sein scheinbares Unglück sei ein Segen, denn das Kind, das Iokaste ihm gebären würde, würde sein Mörder werden. Da verstieß er Iokaste, ohne ihr den Grund seines Entschlusses anzugeben. Dies verärgerte sie so sehr, daß sie ihn trunken machte und ihn, sobald die Nacht herabgefallen war, in ihre Arme lockte. Als sie neun Monate später von einem Sohn entbunden wurde, entführte ihn Laios aus den Armen der Amme, durchbohrte seine Füße mit einem Nagel und band sie zusammen. Dann setzte er ihn auf dem Berg Kithairon aus. b. Die Schicksalsgöttinnen hatten jedoch beschlossen, daß der Knabe ein beträchtliches Alter erreichen sollte. Ein korinthischer Schafhirt fand ihn und nannte ihn Oidipus, weil seine Füße von den Nagelwunden entstellt waren. Dann brachte er ihn nach Korinth, wo zu dieser Zeit König Polybos regierte. c. Laut einer anderen Version dieser Geschichte setzte Laios seinen Sohn Oidipus nicht auf einem Berge aus, sondern verschloß ihn in einer Truhe, die von Bord eines Schiffes aufs Meer hinabgelassen wurde. Diese Truhe trieb bei Sikyon an die Küste, wo Königin Periboia, die Gemahlin des Polybos, zufällig am Strand war, um die königlichen Waschfrauen zu beaufsichtigen. Sie barg Oidipus, zog sich in ein Dickicht zurück und gab vor, von Wehen überrascht worden zu sein. Da die Waschfrauen zu beschäftigt waren, um zu bemerken, was sie tat, täuschte sie alle. Sie ließ die Frauen im Glauben, daß der Knabe gerade geboren worden war. Doch erzählte sie Polybos die Wahrheit; er – der kinderlos war – freute sich, Oidipus als seinen eigenen Sohn aufziehen zu können. Eines Tages äußerte ein korinthischer Jüngling Oidipus gegenüber spöttisch, daß er nicht im geringsten seinen vermeintlichen Eltern ähnlich sei. Da wandte sich

* Der Text erschien zuvor im Rowohlt-Verlag in: Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, 105.a-k, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 337-340. Autor und Verlag danken dem Rowohlt-Verlag für die Abdruckerlaubnis. 7

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ÖDIPUS

Oidipus an das Delphische Orakel und fragte, was ihm die Zukunft wohl bringen würde. »Weg von diesem Schreine, Elender!« rief die Pythia voller Abscheu aus. »Du wirst deinen Vater töten und deine Mutter heiraten!« d. Da Oidipus Polybos und Periboia liebte und davor zurückschreckte, Unglück über sie zu bringen, beschloß er sofort, nicht mehr nach Korinth zurückzukehren. Doch im Engpaß zwischen Delphi und Daulis traf er auf Laios, der ihn in strengem Ton befahl, einem Höherstehenden den Weg frei zu machen. Dazu muß aber erklärt werden, daß Laios in einem Wagen fuhr und Oidipus zu Fuß ging. Oidipus antwortete, er erkenne nur die Götter und seine Eltern als Vorgesetzte an. »Um so ärger für Dich!« rief Laios aus und befahl seinem Wagenlenker Polyphontes weiterzufahren. Eines der Räder verletzte Oidipus am Fuß. Darauf tötete er, vom Zorne hingerissen, Polyphontes mit seinem Speer. Dann warf er Laios, der sich in die Zügel verwickelt hatte, auf die Straße und peitschte auf das Gespann ein, so daß es Laios zu Tode schleifte. Der König von Plataiai mußte beide Leichen begraben. e. Laios war auf dem Wege zu einem Orakel gewesen, um zu erfahren, wie er Theben von der Sphinx befreien könnte. Dieses Ungeheuer war eine Tochter des Typhon und der Echidne oder, wie manche sagen, des Hundes Orthros und der Chimaira. Es war vom äußersten Teil Äthiopiens nach Theben geflogen. Man konnte die Sphinx an ihrem Frauenkopf, Löwenkörper, Schlangenschwanz und an den Adlerflügeln erkennen. Erst jüngst war sie von Hera entsandt worden, Theben zu bestrafen, weil Laios den Knaben Chrysippos aus Pisa entführt hatte. Sie ließ sich auf dem Berge Phikion, der nahe der Stadt liegt, nieder und gab nun jedem vorbeiziehenden Thebaner ein Rätsel auf, das die drei Musen sie gelehrt hatten: »Welches Wesen, das nur eine Stimme hat, hat manchmal zwei Beine, manchmal drei, manchmal vier und ist am schwächsten, wenn es die meisten Beine hat?« Die, die das Rätsel nicht lösen konnten, erwürgte sie und verschlang sie auf der Stelle. Unter den Unglücklichen befand sich auch Iokastes Neffe Haimon, den die Sphinx tatsächlich haimon oder ›blutig‹ machte. Oidipus, der sich nach dem Morde an Laios Theben näherte, erriet die Antwort. »Der Mensch«, sagte er, »denn er kriecht als Säugling auf allen vieren, steht in seiner Jugend fester auf zwei Füßen und stützt sich im hohen Alter auf einen Stock.« Die darob entsetzte Sphinx sprang vom Berge Phikion und zerschellte unten im Tale. Da riefen die dankbaren Thebaner Oidipus zum König aus, und er heiratete Iokaste, ohne zu wissen, daß sie seine Mutter war. f. Theben wurde nun von der Pest heimgesucht. Das Delphische Orakel, wieder befragt, antwortete: »Vertreibt den Mörder des Laios!« Oidipus, der nicht wußte, wen er am Engpaß getroffen hatte, sprach über den Mörder des Laios einen Fluch aus und verurteilte ihn zur Verbannung. g. Der blinde Teiresias, zu der Zeit der berühmteste Seher Griechenlands, verlangte nun eine Audienz bei Oidipus. Manche behaupten, Athene, die ihn blende-

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DER ÖDIPUS-MYTHOS

te, weil er sie nackt im Bade gesehen hatte, wäre so von der Bitte seiner Mutter gerührt gewesen, daß sie die Schlange Erichthonios aus ihrer Aigis nahm und ihr den Befehl gab: »Reinige mit deiner Zunge die Ohren des Teiresias, daß er die Sprache der prophetischen Vögel verstehen möge.« h. Andere erzählen, Teiresias hätte einst auf dem Berg Kyllene zwei Schlangen, die sich paarten, beobachtet. Als sie ihn angriffen, schlug er mit seinem Stabe auf sie ein und tötete das Weibchen. Da wurde Teiresias in eine Frau verwandelt, die eine berühmte Hure wurde; doch sieben Jahre später sah er am gleichen Orte den gleichen Vorgang wieder. Als er nun die männliche Schlange tötete, wurde er wieder zum Manne. Andere wieder sagen, daß Teiresias Kale den Preis zugesprochen habe, als Aphrodite und die drei Chariten, Pasithea, Kale und Euphrosyne sich stritten, wer von ihnen wohl die schönste sei. Daraufhin verwandelte ihn Aphrodite in eine alte Frau. Doch Kale nahm ihn nach Kreta und schenkte ihm ein weibliches Lockenhaupt. Einige Tage später begann Hera dem Zeus wegen seiner zahllosen Ehebrüche Vorwürfe zu machen. Zu seiner Verteidigung behauptete er, daß sie, wenn er ihr Lager teile, auf jeden Fall die größere Freude habe. »Selbstverständlich erleben die Frauen eine unsagbar größere Freude durch die Liebesverbindung als die Männer«, brüstete er sich. »Welch ein Unsinn!« rief Hera aus. »Genau das Gegenteil ist wahr, und du weißt es.« Teiresias, der herbeigerufen wurde, diesen Streit nach seiner persönlichen Erfahrung zu schlichten, antwortete: »Wenn die Teile der Liebesfreude als zehn gezählt werden können, so erhält die Frau drei mal drei, während dem Manne nur eins zukommt.« Hera war über das triumphierende Grinsen des Zeus so erzürnt, daß sie Teiresias blendete; aber Zeus machte den Schaden wieder gut, als er ihm das innere Sehen gab und ein Leben, das sieben Generationen währte. i. Teiresias erschien nun am Hofe des Oidipus, lehnte sich auf seinen Stab aus dem Holze der Wildkirsche, den ihm Athene gegeben hatte, und enthüllte dem Oidipus den Willen der Götter: daß die Pest nur dann ihr Ende finden würde, wenn ein ›Gesäter Mann‹ für die Stadt stürbe. Iokastes Vater Menoikeus, einer von denen, die der Erde entsprungen waren, als Kadmos die Zähne der Schlangen säte, sprang sofort von den Wällen in die Tiefe, und ganz Theben pries sein Pflichtbewußtsein als Bürger der Stadt. Teiresias verkündete dann weiter: »Menoikeus tat ein wohlgefälliges Werk, und die Pest wird nun ihr Ende finden. Doch die Götter dachten an einen anderen ›Gesäten Mann‹, einen der dritten Generation; er hat seinen Vater getötet und seine Mutter geheiratet. Wisse, Königin Iokaste, daß dies dein Gatte Oidipus ist!« j. Erst wollte keiner den Worten des Teiresias Glauben schenken, aber bald wurden sie durch einen Brief der Pheriboia aus Korinth bestätigt. Sie schrieb, daß der plötzliche Tod des Königs Polybos ihr nun erlaube, die Umstände der Adoption

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ÖDIPUS

des Oidipus zu enthüllen. Dies tat sie mit belastenden Einzelheiten. Iokaste erhängte sich aus Kummer und Schande, während Oidipus sich selbst mit einer Nadel, die er aus ihrem Gewande genommen hatte, blendete. k. Manche sagen, Oidipus hätte, obzwar von den Erinyen gequält – sie beschuldigten ihn, seiner Mutter Tod herbeigeführt zu haben –, weiter über Theben regiert, bis er glorreich im Kampfe fiel. Doch nach den Berichten anderer vertrieb ihn Kreon, der Bruder Iokastes. Zuvor aber habe er noch Eteokles und Polyneikes verflucht – sie waren sowohl seine Söhne als auch seine Brüder –, als sie ihm unverschämterweise die minderwertigen Teile eines Opfertieres, nämlich das Hinterteil anstelle der königlichen Schulter, sandten. Ohne Tränen in den Augen beobachteten sie, wie er die Stadt verließ, die er von der Macht der Sphinx befreit hatte. Als Oidipus viele Jahre von Land zu Land gewandert war, geführt von seiner treuen Tochter Antigone, kam er endlich nach Kolonos in Attika, wo die Erinyen, denen dort ein Hain geweiht war, ihn zu Tode jagten. Theseus begrub ihn am Ort der ›Feierlichen‹ in Athen und beklagte seinen Tod an der Seite Antigones.

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DER ÖDIPUS-MYTHOS

1. Mythos/Gesellschaft Die Faszination, die vom Ödipus-Mythos ausgeht, ist ungebrochen. Wie kein anderer hat es dieser antike Mythos vermocht, sich in das Gedächtnis der Gegenwart einzugraben. Das ist zweifellos vor allem seiner Lektüre durch die Psychoanalyse geschuldet. Der ÖdipusMythos konnte so zum großen, modernen Phantasma einer Subjektwerdung jedes Einzelnen avancieren. Er ist zudem komplex genug, um in den fragilen Andeutungen, die er im Laufe seiner Erzählung macht, genügend Stoff für eine unendliche Diskussion zu liefern, die, wie sehr variiert auch immer, beinahe ausschließlich um die einmal durch Freud vorgegebene Lesart kreist.1 Die Entdeckung und Popularisierung des Ödipus-Mythos ist somit zugleich die Geschichte seiner Reduktion auf ein einzelnes Motiv der ihm inhärenten, möglichen Deutungen. Wie jeder Mythos birgt aber auch dieser viele Geschichten in sich, die unter der Macht von Vatermord und Inzest verschwinden. An dieser Stelle soll eine andere Lesart der Ödipus-Geschichte gewählt werden. Das Augenmerk richtet sich auf die Konstitution von Gesellschaft unter den Bedingungen von deren symbolischer Repräsentation. Dabei wird der Fokus darauf liegen, eine Reflexion über die Reichweite der Grenzen sozialer Souveränität und ihrer Institutionalisierung anzustellen. Der Mythos, der die Geschichte von Ödipus erzählt und insbesondere die Darstellung der Figur des Ödipus im sophokleischen Drama, werden als Folie dienen, um soziale und politische Repräsentationsmuster herauszuschälen, die sonst unsichtbar blieben.2 So wird das Drama um Ödipus, die Suche nach der Wahrheit und die Verstrickung darin, zur Allegorisierung gesellschaftlicher Kategorisierungen und Transzendierungen. Das soziale Band, das dem Prozeß von Vergesellschaftung zugrunde liegt und als Routine zu einem guten Teil unsichtbar bleibt, soll mit Hilfe des Ödipus-Mythos verdeutlicht werden. Freilich ist das Bild, das sich dabei ergibt, nicht real, doch Reales soll im Bild zumindest sichtbar werden. Bollack hat in diesem Sinne einmal notiert, in der 11

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ÖDIPUS

Geschichte von Ödipus sei »die symbolische Funktion der Königswürde wichtiger als die Vaterrolle« (Bollack 1994a: 29). Die zentrale Frage des vorliegenden Versuchs lautet daher: Was läßt sich aus der Geschichte des Ödipus in Hinblick auf ein Verständnis politischer und sozialer Souveränität abzuleiten? Kann der Mythos, und mehr noch das sophokleische Drama, etwas mitteilen über die Konstitution von gesellschaftlicher Ordnung und über die Rolle, die darin die Souveränität und die Gewalt einnehmen (und zwar in der Gegenwart)? Zuletzt aber, was sich als Thema durch den ganzen Text zieht: Läßt sich eine Kategorie wie die des Schicksals – längst als überholt geltend, zumindest darin herrscht Einigkeit zwischen Moderne und Postmoderne – fruchtbar machen für eine Vernetzung der Kategorien von Subjektivität, Souveränität und Soziabilität? Deren Verbindung erfolgte immer unter der Bedingung eines spezifischen Verständnisses sowie einer entsprechenden Inszenierung des Gesetzes. Gegen das Schicksal ist heute die Kontingenz en vogue – und nicht zu Unrecht. Trotzdem droht der Kontingenzbegriff seinerseits permanent umzukippen in das modernistische, profanisierte Substitut einer antiken Schicksalsvorstellung, im Sinne einer über den Menschen waltenden Macht. Über Ödipus waltet das Schicksal explizit, und spannend ist zu sehen, ob sich gerade hier etwas herausfinden ließe über kulturelle und politische Zusammenhänge, die Ordnung und Aufrechterhaltung von Gesellschaftlichkeit betreffend. Genau dieser Aspekt einer Interpretation des sozialen Gesetzes, einer Dekonstruktion der gesellschaftlichen Ordnung und ihres Modells der Souveränität, für die die Geschichte von Ödipus mindestens auch steht, wurde bislang außer acht gelassen. Die Frage nach dem sozialen Gesetz ist wiederum nicht vollständig abzutrennen von der nach dem »individuellen Gesetz« (G. Simmel), beides hat miteinander zu tun und ist übereinandergeschoben wirksam. So erklärt sich die durchgängige Benutzung eines teilweise lacanianischen Vokabulars, das hier keiner Archäologie der Psychoanalyse zur Verfügung gestellt, sondern vielmehr konsequent sozialisiert werden soll. Das ist kein unmögliches Unterfangen, sondern eine Frage der Einbettung des Gegenstandes in den Kontext seiner Befragung. Besonders zwei Begrifflichkeiten sind Lacan entwendet: die der »symbolischen Ordnung« und die des »Realen« – zu beiden unten mehr. Wenn der Mythos so als ein Simulacrum gesellschaftlicher Ordnung verstanden wird, liegt darin ein nicht unerhebliches Risiko. Denn weder soll im Mythos die Gesellschaft verschwinden, noch soll er sie okkupieren. Der Weg über den Mythos, um eine Form gesell12

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1. MYTHOS/GESELLSCHAFT

schaftlicher Ordnung kenntlich werden zu lassen, resultiert auch nicht aus jener von Horkheimer und Adorno formulierten These – heute zutiefst umstritten –, Aufklärung sei in Mythologie umgeschlagen (vgl. Horkheimer/Adorno 1997: 16). Hingegen liefert der Mythos eine Bildlichkeit, die Aufschluß über solche Prozesse symbolischer Vergesellschaftung bieten kann, über die in Form eines objektiv ersichtlichen Faktums sonst keinerlei Auskunft zu erhalten wäre. Um Gesellschaft zu verstehen, bedarf es zu Beginn dieses Verständnisses einer Reflexion über ihr Unsichtbares. Diesem Unsichtbaren der Gesellschaft, das sich genealogisch nicht unerheblich aus einer mythologischen Tradition speist, gilt es Konturen zu geben, indem in der Erfahrung des Mythos die Affinität zur Institutionalisierung von Gesellschaft aufgezeigt wird.3 Die Relevanz der Mythenkritik liegt nach wie vor in einer aus ihr resultierenden, durch sie ermöglichten Kritik der Gesellschaft. Sofern man davon ausgeht, die sozial wirkmächtige Realität sei jenseits dieser Geronnenheit eine artifiziell stabilisierte Fiktion4, beginnen die Kategorien von Realität und Phantasma ineinander zu verschwimmen. Das Phantasma der Gesellschaft und ihre Realität nivellieren sich heute. Nicht nur erscheint das Phantasma als real; es bedeutet vielmehr selbst die Realität, indem es sie bildet und abbildet. Realität erscheint auf der Folie des Phantasmatischen, die es erlaubt, sie zu situieren, nicht aber sie festzustellen. Mit Hilfe des Mythos kann verdeutlicht werden, daß es bei aller Referentialität und Fraktalität des Sozialen dennoch eine spezifische Form der Vergesellschaftung gibt, die deshalb hegemonial ist, weil sie in sich das Apriori der symbolischen Ordnung trägt. Dieser Begriff muß nun geklärt werden, weil er allein ein schlechtes Argument ist. Insofern bedeutet die symbolische Ordnung zunächst nicht mehr und nicht weniger als eine die Gesellschaft, überhaupt Soziabilität durchziehende Symbolisierungsstruktur. Das ist weniger trivial, als es den Anschein hat, weil es sich um ein chiasmatisches Verfahren handelt. Gesellschaft muß für sich selbst Symbole finden und sie muß diese Symbole in die Prozesse ihrer Performativität, Repräsentation und vor allem ihrer Fortschreibung einspeisen. Gleichzeitig liegt dieses Symbolische dem, was Gesellschaft ist, auch zugrunde; es kann durch die Gesellschaft nicht mehr eingeholt werden. Als Unterbewußtes, als Routine bedeutet die symbolische Ordnung eine Abstraktion von Gesellschaft, die deren Konkretion in den Akten gesellschaftlicher Praxis ermöglicht. Es erscheint ziemlich heikel, die symbolische Ordnung beschreiben zu wollen und gleichzeitig davon zu sprechen, sie sei uneinholbar. Gesellschaft 13

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ÖDIPUS

bleibt paradox. Zumindest läßt sich feststellen, daß es einen distinkten Bezug des Symbolischen zur Konstitution von Gesellschaft gibt, die grundsätzlich unabhängig vom Willen der Gesellschaft selbst ist. Für jede Geste der Begründung und der Rechtfertigung ihrer spezifischen Existenz ist Gesellschaft auf die symbolische Ordnung angewiesen, die als ihr präsozialer Grund fungiert. Darin besteht die Hegemonialität des Sozialen – im Rekurs auf eine den Subjekten unmittelbar entzogene symbolische Ordnung. Die symbolische Ordnung verbürgt die Organisation des Realen, das keineswegs identisch ist mit der Realität als einem factum brutum. Vielmehr könnte man sagen, aus dem Realen entstehe Realität, indem es vermittels der Sprache die Welt der Worte und der Dinge schaffe. Das Reale, nach Lacan, steht dafür ein, daß Realität nichts den Individuen bloß äußerliches ist, sondern daß die Grenze zwischen Innen und Außen diffundiert (vgl. Lacan 1991a; Bowie 1994: 87-116). Somit ist das Reale – als Wahrnehmung von Realität – vom Symbolischen grundsätzlich durchdrungen, genauso wie dem Symbolischen etwas sehr Reales anhaften kann. Bemerkenswert bleibt außerdem, daß Lacan sich in seinen Ausführungen zur symbolischen Ordnung mit Sokrates’ »Menon« selbst auf einen Text der Antike bezieht. Anhand des »Menon« erläutert Lacan, die »gründenden Worte, die das Subjekt einhüllen, [seien] all das was es konstituiert hat, seine Eltern, seine Nächsten, die ganze Struktur der Gemeinschaft, und nicht nur konstituiert hat als Symbol, sondern konstituiert in seinem Sein« (Lacan 1991b: 31).5 Ohne daß er den direkten Bezug zu Ödipus herstellen würde, hat Lacan in diesem Satz alle für dessen Problematik wichtigen Bezugsgrößen angegeben und auf die gründende Kategorie des Symbolischen bezogen. Er fährt fort: »Es sind die Gesetze der Nomenklatur, die – zumindest bis zu einem gewissen Grad – die Allianzen bestimmen und kanalisieren, von denen ausgehend die Menschenwesen miteinander kopulieren und schließlich nicht nur andere Symbole schaffen, sondern auch reale Wesen […].« (Lacan 1991b: 31) Ein solches reales Wesen ist Ödipus; und er ist es insofern radikal, als er unauflösbar beides zugleich ist: reales Wesen und geschaffenes Symbol, das auf die symbolische Ordnung und deren Gesetz verweist. Es erweist sich also, daß ›reale Wesen‹ à la Ödipus in einem doppelten Sinne real sind. Zunächst existieren sie tatsächlich in der Welt. Zugleich aber unterliegen sie einer Täuschung und produzieren sie auch sozial. Das »reale Wesen« ist nämlich nicht 14

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1. MYTHOS/GESELLSCHAFT

das, als was es erscheint. Insofern es bloß ein Bild der Wirklichkeit abgibt, gewissermaßen als Simulation eines wirklichen Subjekts auftritt, bedeutet es eine Differenz gegenüber den anderen und auch zu sich selbst. Nun muß die symbolische Ordnung aber in ein Verständnis der gesellschaftlichen Konstituierung übersetzt werden. Dazu soll zum einen Foucaults Modell der Repräsentation dienen, andererseits eine Praxis klassischer Mythenkritik. Aus dieser symbolischen Ordnung heraus entsteht schließlich ein sozialer Nomos.6 Der Begriff des Nomos ist für den vorliegenden Versuch durchaus entscheidend, weshalb er ein wenig Konkretion erfahren soll. Von der Souveränität sagt Agamben, sie sei durch das Paradox ausgezeichnet, »zugleich außerhalb und innerhalb der juridischen Ordnung« zu sein (Agamben 1998: 15).7 Dies Paradox ergibt sich aus der schlichten Tatsache, daß die Souveränität Begründungsmacht und Ordnungsmacht in einem ist. Eine Möglichkeit, dies Paradox aufzulösen, die ihm inhärente Konfliktualität und die latente Gewalt zu minimieren und in das Gegenteil einer ungeteilten Gewalt umschlagen zu lassen, besteht in der Kreation einer Begründungsfigur von Souveränität. Die kann ihrerseits nur wirksam werden, wenn sie noch vor der Souveränität angesiedelt und daher konsequent asozial, zumindest präsozial konnotiert ist. Das löst der Nomos ein, der auf mythische Weise die symbolische Ordnung vor der Souveränität, vor dem Sozialen als eine transzendente, göttliche Ordnung konstituiert. Agamben spricht davon, die Souveränität des Gesetzes situiere sich in einer Dimension des Rätsels (enigma) und sei strikt an die Gewalt gebunden, die sie auch rechtfertige: »Der souveräne Nomos ist dasjenige Prinzip, das Gesetz und Gewalt ununterscheidbar zu machen droht, indem es beides zusammenführt.« (Agamben 1998: 31) Der Nomos als eine mythische Gewalt kann nur begründend in Richtung einer Souveränität des Sozialen wirken, weil er selbst exterritorialisiert ist. Das bedeutet, daß er nicht einholbar und nur über den Mythos kommunizierbar ist – insofern aber auch und notwendigerweise einen distinkten Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung bildet. Im Nomos findet sich somit die originäre Verbindung aller Ordnung mit der Gewalt, geschützt durch eine transzendierende Macht, die Gesellschaft zu (be-)gründen erst ermöglicht. Das Paradox des Nomos, das zugleich die einzige Möglichkeit der sozialen Implementierung eines legitimerweise anerkannten Gesetzes bildet, besteht darin, daß das Gesetz grundsätzlich Geltung für etwas beansprucht, das nicht selbst Gesetz ist. Anders könnte es kein Gesetz 15

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ÖDIPUS

begründen, sondern wäre eingebunden in den unendlichen Zirkel seiner Rechtfertigung. Das Gesetz muß aber dringend auf etwas rekurrieren, das gerade dieser Rechtfertigung nicht bedarf und deshalb in der Lage ist, seinerseits zu rechtfertigen (vgl. Palmer 1999; Palmer 1998). Das Gesetz als Nomos des Sozialen kann sich daher nicht der Dekonstruktion aussetzen, die es verunmöglichen würde. Die Dekostruktion liegt ihm zugrunde. Und vielleicht, dies ist eine der für diesen Zusammenhang maßgeblichen Fragen, bedeutet gerade Ödipus eine Mensch gewordene Dekonstruktion des Gesetzes. Entsprechend nennt Cacciari den Nomos »entwurzelt« und einen »unheimlichen Gast«. Er stamme von den Göttern und bereite die schwierige Aufgabe, sozialisiert werden zu müssen: »Nur die Überzeugung, daß es Götter gibt, kann uns davon überzeugen, daß die Gesetze eine unwandelbare Wurzel haben. Nimmt man die Götter weg, so verschwinden auch die Gesetze.« (Cacciari 1995: 109) Indes reicht die Überzeugung allein beileibe nicht aus, sie muß auch sozial wirksam werden. Der Nomos benötigt einen Repräsentanten, der seine Legitimation in die soziale Ordnung übersetzt. Das ist der Souverän. Und es ist fraglich, ob ein jeder ein Souverän sein kann. Ohne Zweifel anerkennt Ödipus die Götter und schließlich auch sein Schicksal. Dennoch scheint er der falsche Mann für die Repräsentation des Nomos als Souverän zu sein, weil der Nomos auf ihn schon immer unmittelbar Zugriff genommen hat. Ödipus scheitert als Souverän nicht zuletzt deshalb, weil er das dem Nomos eingeschriebene Paradox nicht ausfüllen kann. Er ist viel zu sehr identifiziert mit dem Nomos selbst – aber negativ, als dessen Objekt. Daher kann Ödipus den Nomos nur mit Anomie anfüllen und am Ende dekonstruieren. Schützt sich das Soziale dagegen durch seine Verwerfung? Der Zweck des Nomos liegt darin, soziale Dauer wie auch grundlegende Kriterien sozialer Normativität zu garantieren, und zwar an einem präsozialen Ort, welcher die Konstitution des Sozialen sowohl vor der rückhaltlosen Bewußtwerdung des imaginären Charakters des Realen als auch vor einem Einbruch von dessen grundsätzlicher Kontingenz schützen soll. Das normative Fundament des Sozialen bleibt daher symbolisch vermittelt und auf profane Weise nicht letztgültig begründbar. Deshalb erfolgt als Moment sozialer Institutionalisierung der Rückgriff auf ein transzendent gehaltenes Prinzip der Normbegründung in Form einer dem Realen fernsten Souveränität, die so unerreichbar, aber permanent gültig ist, daß sie das Menschliche in jedem Fall übersteigen wird: »Der Nomos im ursprünglichen Sinne aber ist grade die volle Unmittel16

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1. MYTHOS/GESELLSCHAFT

barkeit einer nicht durch Gesetze vermittelten Rechtskraft […].« (Schmitt 1988: 42) Ein Modell dafür findet sich im Mythos; die profanisierten Varianten eines fernsten Souveräns lassen sich unschwer in Rousseaus »Allgemeinwillen« oder auch in Kants »Sittengesetz« wiederfinden. Daß insbesondere die antike Polis eines solchen, sie zusammenhaltenden Gesetzes bedürfe, und daß dies auch noch für die moderne Gesellschaft gilt, hat Gehlen herausgestrichen: Der Nomos ist demnach »keine Menschensatzung; er ist selbst die immanente Gerechtigkeit, die mit dem Walten des göttlichen Logos gegeben ist« (Gehlen 1970: 31). Als solcher inkludiert er auch die Subjekte, die im Sozialzusammenhang handelnd auftreten und stiftet die Diskursnetze, in denen sie sich zeitlebens verfangen. Indem er den Topos der Souveränität begründet, stiftet der Nomos die Regeln des Sozialen. Dabei redet weder der Begriff der symbolischen Ordnung, noch der des Nomos einer Remythisierung der Gesellschaft das Wort. Das Gegenteil ist der Fall. Vielmehr erlauben sie, das Reale der Gesellschaft, wie es sich in Diskursen und Praxen repräsentiert, auf einen Kern hin zu dekonstruieren, der zum Ansatzpunkt von Kritik avancieren kann. Die symbolische Ordnung bezeichnet das Imaginäre der Gesellschaft. Wo sie begrifflich gemacht werden kann, ist die Möglichkeit gegeben, einen Zugang zur phantasmatischen Ebene von Gesellschaft freizulegen. Allerdings bleibt ihre Reichweite begrenzt, weil die Differenz, die sie setzt, ihren Kontext, worin sie sich situiert, nicht überwinden kann. Auch Dekonstruktion und Differenz bleiben somit letzten Endes demjenigen Ensemble immanent, welches sie öffnen möchten. Auf diese Weise wäre eine Möglichkeit gefunden, weiterhin von Gesellschaft zu sprechen, ohne im sozialen Essentialismus zu enden. Es ist eine irrige Annahme, die Lösung der Sozialtheorie liege darin, den Gesellschaftsbegriff zu verabschieden. Er ist vielmehr subtiler zu denken, als bisher. Die Grenzen der symbolischen Ordnung sind der Tod und das genießende Begehren (vgl. Lacan 1991c; Lacan 1991b). Beide Kategorien, die der Grenze und die der symbolischen Ordnung, finden sich im Ödipus-Mythos repräsentiert. Den Tod repräsentiert Laios, den Genuß Iokaste. Der symbolischen Ordnung ist Sozialität immanent, weil jene auch die Ordnung des Sinns abgibt (vgl. Deleuze 1993). Außerhalb des Sozialen gibt es keinen anomischen Ort, sofern die Anomie noch auf das Soziale zurückgeht. Da Anomie jedoch immer ein Aufbegehren ist, ist sie dem Sozialen als normativer Ordnung immer auch verhaftet. Das Soziale kann sich sogar nur insofern reproduzieren, als es die Revolte beinhaltet. Da jeder Rechts17

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vertrag, wie Derrida in Anlehnung an Benjamin ausführt, auf Gewalt beruht, gibt es »keinen Vertrag, für den Gewalt nicht Ursprung und Ausgang wäre« (Derrida 1991: 97). Die Gewalt und die beständige Möglichkeit zur Überschreitung der gesetzten Ordnung stellen die permanente Möglichkeit des Gesellschaftlichen dar – als Drohung oder auch als Erwartung. Der soziale Nomos als unsichtbare Form der Vergesellschaftung kann somit als das auf die Diskurstheorie Foucaults übergegangene kantische Sittengesetz verstanden werden.8 Insofern wäre das Gesetz der symbolischen Ordnung als konstitutiv für die menschliche Gesellschaft zu bezeichnen. Der Zugang zu ihm erfolgt primär mythenkritisch. Auch aus diesem Grund soll die Ödipus-Lektüre auf der Folie von Nomos und Schicksal basieren. Das im Orakel repräsentierte Gesetz stellt Ödipus von vornherein nach Außerhalb. Sein Bestreben, Eintritt in das Gesetz zu erlangen, gerät zum Desaster für die thebanische Ordnung. Die Sphinx aber, die Theben zuvor bedroht hatte, kann er gerade deshalb besiegen, weil er, wie sie auch, sich außerhalb des sozialen Gesetzes befindet und diesem daher de facto nicht unterworfen ist. In Ödipus finden die soziale Ordnung und die soziale Souveränität eine Form symbolischer Repräsentation. Allerdings stellt sich methodisch möglicherweise ein Problem der Übertragbarkeit. Ist es möglich, ein mythisches Thema in den Kontext einer modernen, gesellschaftstheoretischen Reflexion zu transferieren? Dagegen spricht nicht nur die Fiktion des Mythos selbst, sondern vor allem die Transformationsgeschichte des soziokulturellen Kontextes, aus dem her der Mythos stammt. Daß die soziale Ordnung schon lange nicht mehr die der antiken Polis ist, ist zunächst trivial. Wichtiger ist, ob die im Mythos dargestellte soziale Konstellation, und insbesondere die in ihr vorgestellten Konfliktlagen, es noch irgend erlauben, Aussagen über grundlegende Aspekte von Kultur und Sozialität zu treffen. Die mythische Potenz des Sozialen liegt demnach darin, soziokulturelle Apriori aufzubewahren – auch dann, wenn sich die Formen der Institutionalisierung längst verschoben haben. Diese Möglichkeit des Mythos macht auch seine anhaltende, nie abgeklungene Attraktion aus. Damit Gesellschaft darin nicht selbst zum Mythos wird, gilt es eine Bedingung einer solchen Lektüre zu beachten: die mythische Erzählung, von der aus auch Aussagen über die (moderne) Gesellschaft getroffen werden, muß von dieser nicht nur als Phänomen, sondern auch in der Methode unterschieden werden. Der Mythos dient dann als Ausgangspunkt einer allegorischen Lesart von Sozial-

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ität, die sich durchaus am Material orientiert. Dies Material bildet die mythische Erzählung selbst, die hier als Allegorie aufgefaßt wird. Als Material bietet sie jenen Fundus an Motiven und Institutionalisierungsstrategien, die auch Rückschlüsse auf die moderne Gesellschaft erlauben. Der Umweg über den Mythos, um auf Gesellschaft zu reflektieren, stellt ein Experiment und ein Problem dar. Angestrebt ist, Distanz zu den üblichen Diskursen über Modernität herzustellen und stattdessen eine Lektüre zum Verhältnis von Souveränität und Gesellschaft vorzulegen.9 Eine zweite Schwierigkeit liegt in der Eingrenzung des Stoffes. Zwar soll die Untersuchung des Verhältnisses von Souveränität und Gesellschaft von der Mythenkritik zehren; sie will aber nicht selbst Mythenkritik in nuce sein. Das würde sie vom Gegenstand ihrer Frage zu stark entfernen, dem Gegenstand ihres Materials hingegen zu sehr annähern. Auch der Ödipus-Mythos ist ein disparater Mythos, der in verschiedenen Versionen existiert. Um eine vereinheitlichende Lektüre zu ermöglichen, dient als Textgrundlage Sophokles’ Tragödie »König Oidipus«; nur kursorisch wird auf die unterschiedlichen überlieferten Versionen des Mythos zurückgegriffen. Daraus resultiert drittens das Problem, es nicht mehr originär mit dem Mythos, sondern mit einer Tragödie zu tun zu haben, deren Thema freilich ein Mythos ist. Die dramatische Bearbeitung des Ödipus-Mythos ist nicht der Mythos selbst, sondern dessen Ästhetisierung, aber sie steht unmittelbar im Kontext seiner Rezeption. Die sophokleische Tragödie verweist auf das Problem, das für die Gegenwart oben bereits konstatiert wurde: das soziale Zusammenfallen von Phantasma und Realität. Diese strukturelle Parallele dürfte die Legitimität einer allegorischen Anwendung des Ödipus-Stoffes auf die Gegenwart unterstreichen. Immerhin entspringt die Tragödie als ästhetische Form dem Dionysus-Kult; ihr Abstand zum eigentlichen Mythos ist denkbar gering. Daß sie das Produkt einer ästhetischen Bearbeitung ihres Stoffes ist, gilt hingegen kaum als Einwand; jede Version des Mythos ist das Resultat einer kulturellen Bearbeitung. Im Gegenteil eignet sich die Variante, die der Mythos als Tragödie erfahren hat, sogar ausgezeichnet dazu, den Zusammenhang von Gesellschaftlichkeit und sozialer Souveränität zu inspizieren, weil gerade die Tragödie ein privilegiertes Verhältnis zu ihrer Gesellschaft aufweist10 – zumal Sophokles als derjenige Tragödiendichter gilt, der dieses Verhältnis abschließend vorführt und vollendet.11 Von Reinhardt wird ihm bescheinigt, als »Klassiker der reinsten Prägung« zwischen Aischylos als einem archaischen Genie und ei-

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nem manieristischen Euripides zu stehen (Reinhardt 1989: 352). Klassik entstehe aus den Tugenden von »Beschränkung, Zucht, Verzicht«, für deren Einlösung stehe Sophokles ein. Im antiken Mythos, mehr noch aber in seiner Bearbeitung als Tragödie, verdichtet sich exemplarisch jenes Verhältnis von sozialer Souveränität und Gesellschaftlichkeit, das es allegorisch und mit Hilfe des von ihm zunächst scheinbar entfernten, modernen sozialphilosophischen Materials auf die Gegenwart anzuwenden gilt. Die klassische Tragödie, formuliert Menke, stelle die »Urszene der Moderne« dar. In ihr sei sowohl die Genese von subjektiver Reflexion und Freiheit enthalten, als auch deren tragische Entzweiung (vgl. Menke 1996: 73). So soll versucht werden, einen kulturwissenschaftlichen Zugang zur Theorie der Gesellschaft zu beschreiten, welcher Gesellschaft als Kategorie und als Untersuchungsgegenstand nicht aufgegeben hat, sie aber auch nicht als Ensemble homogener sozialer Entitäten begreift. Gesellschaft wird darin als ein Produkt ihrer eigenen Phantasmagorien, ihrer eigenen Repräsentationsstrategien begriffen. Das legt nahe, sie auf dem Wege der Allegorisierung, in die Repäsentationen wie Phantasmagorien eingehen, zu analysieren. In den folgenden Kapiteln geht es zunächst darum, Ödipus’ Beziehung zum Gesetz in dessen abstrakter Form des Nomos zu untersuchen (2). Dabei soll in doppelter Weise eine Annäherung an den Begriff des Gesetzes und an die spezifisch ödipale Situierung dem Gesetz gegenüber ermöglicht werden. Wenn in diesem Zusammenhang von Prozessen des Ausschlusses und der Identität die Rede ist, dann immer in dieser zweifachen Weise einer Interpretation der Ödipus-Figur und deren Hineingeworfenheit in ein soziales Geschehen, das er nicht in der Hand hat, sowie deren allegorischer Abstraktion für die Konstitution des Sozialen. Kontrastiert und ergänzt wird dieses Konzept des Gesetzes durch das des Schicksals als einer sozial wirksamen, der Kontingenz gegenüber veranschlagten Größe (3). Das folgende Kapitel wendet sich dem Problem der Souveränität unter dem Gesichtspunkt der Ordnung zu (4). Zunächst handelt es sich dabei um eine soziale Institution, die auch innerhalb der Gesellschaft wirksam werden muß, die also einen Akteur benötigt, der mit der nötigen Autorität ausgestattet ist, sie durchzusetzen. Zugleich handelt es sich um ein Verhältnis der Abstraktion und um ein Legitimationsproblem (5). Was legitimiert, was begründet die Souveränität? Offensichtlich muß sie bis in die modernen Vertragstheorien hinein einer Begründungsgeste unterliegen, die sie vor der Notwendigkeit einer unmittelbar sozialen Legitimation schützt. 20

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Schließlich ist es eine der Aufgaben von Souveränität, ihrerseits als Legitimationsfolie zu dienen. Ihre Legitimität läge daher in einem transzendenten Verhältnis, das es mithilfe von Ödipus und seiner Verworfenheit zu enträtseln gälte. Die Frage wäre: Kann Ödipus als König am rechten Platz sein? Kann er überhaupt als ein legitimer Teilnehmer am Leben des Sozialen gelten? Eine Theorie politischer Souveränität kommt, wie sich mit Taubes, Schmitt und Bataille zeigen läßt, an der politischen Theologie kaum vorbei. Auf die Souveränität folgt die Subversion (6). Nimmt man Ödipus beim Wort, dann führt er ein anomisches, sogar ein anarchisches Element in die Gesellschaft ein. Das weiß er nicht, niemand möchte weniger anarchisch sein als er; aber er tut es. Vielleicht zeigt dann das Beispiel »Ödipus« auch etwas auf über die Möglichkeiten von Subjektivität unter den Bedingungen ihrer Unmöglichkeit. Was Ödipus an sich selbst vorführt, ist die unmittelbare Kollision von subjektiver Handlungsmächtigkeit und anthropolitischer Diskursmacht. Zuletzt wird die ödipale Gesellschaft zitiert (7). Anders als das Individuum in der Psychoanalyse sieht diese sich jedoch nicht über das Trauma konstituiert, sondern über ein Zusammenspiel von Gesetz und Schicksal.

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2. Gesetz Gesellschaftlichkeit findet sich begrenzt durch ihre Institutionalisierungen und die darin vorherrschenden, Gesellschaft und Subjektivität prägenden, kulturellen und sozialen Diskurse der Macht. In diesem Kontext entfaltet sich, für sich selbst uneinholbar, Subjektivität. Deren Gebrochenheit ist aufgrund ihrer niemals zu verwirklichenden Selbstmächtigkeit absolut. Gerade deshalb aber entfaltet Subjektivität auch Macht, denn indem der Mensch auf diese Weise nicht festgelegt ist, ist er auch unberechenbar. Sofern die kulturellen und sozialen Institutionen die Aufgabe haben, diese Unberechenbarkeit zu domestizieren, ermöglichen sie sie andererseits auch. Die Dauerhaftigkeit der Institutionen läßt sie in gewisser Weise auch verschwinden. Wenn Gehlen in diesem Sinne von »Hintergrunderfüllung« spricht, liegt darin ein Euphemismus (vgl. Gehlen 1986: 50ff.; Giddens 1988: 111ff.). Die Macht gesellschaftlicher Institutionalisierungen besteht nicht darin, im Hintergrund zu wirken. Ihr Einfluß auf die Realität der Subjektivität liegt vielmehr in der Tatsache, daß sie sozial zunehmend unsichtbar werden. Die Welt der Menschen ist so klein und umgrenzt, daß das Fundament gesellschaftlicher Realität als unsichtbares auch unerfahrbar werden kann. In dieser Konstellation entsteht jener Diskurs der Macht, der die Subjekte durchzieht, der sie zugleich dem sozialen Nomos unterwirft und als Handelnde ermöglicht, der die Macht als Begehren verankert und sie ebenso als Alptraum bebildert. An den Institutionen und am Diskurs findet Gesellschaft ihre Begrenzung. Dahinter liegt der Raum des Phantasmas (vgl. Gehlen 1986; Taubes 1970; Foucault 1974; Foucault 1991). Zwar besteht jenseits dieser Grenze Gesellschaft nicht mehr, oder ist nicht mehr vorstellbar. Doch ohne die Grenze gäbe es Gesellschaft nicht, und jede Grenze lädt bekanntermaßen zur Überschreitung ein.1 Auch das Prinzip des Diskurses, wie es Foucault folgend hier für die Organisation von Gesellschaft zugrunde gelegt wird, situiert sich innerhalb sozialer Begrenzungen. Erst der soziale 23

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Diskurs erzeugt das gesellschaftliche Subjekt. Es findet darin die Möglichkeiten seines Handelns.2 Wenn derart die Macht des Diskurses zwar ortlos erscheint, muß innerhalb der sozialen Institutionen dennoch ein Ort der Macht vorhanden sein und besetzt werden. Dies ist der Ort der Souveränität, und der Souverän, der sie als Person oder Institution repräsentiert, fungiert als sichtbarer Repräsentant des Diskurses. Seine Macht soll eindeutig sein; er vertritt das Gesetz, d.h. den sich im gesellschaftlichen Handeln entfaltenden sozialen Nomos.3 Die Tragödie des Ödipus ist nun maßgeblich eine der Souveränität.4 Seine Tragik liegt darin, daß er seinen Ort innerhalb der Gesellschaft weder kennt, noch ausfüllen kann. Selbst als er dessen Bedeutung schließlich doch noch in Erfahrung bringt, bleibt ihm als einzige Reaktion darauf nur, sich durch die Selbstblendung offensichtlich aus der Gesellschaft auszuschließen. Damit drückt er sein Einverständnis in das eigene Verschulden aus. Denn Ödipus rückt, noch bevor er geboren wird, auf die Außenseite der Gesellschaft, indem er durch ein determinierendes Schicksal verworfen ist. Daß er durch das Schicksal gezeichnet ist, kontaminiert ihn, den Menschen, mit dem Nicht-Menschlichen.5 Ödipus befindet sich nicht innerhalb des Ensembles von Gesellschaft, worin Menschen sich durch ihre Freiheit zu sich selbst auszeichnen. Die Kontingenz der Handlungsmächtigkeit ist ihm entzogen, weil die Bahn seines Lebens vorgezeichnet ist.6 Deshalb kann Ödipus de facto kein Souverän für die Gesellschaft sein: er ist nicht in sie integriert. Das Schicksal, das ihm aufgegeben ist, setzt ihn außerhalb der Gesellschaft, an welcher er keinen Anteil hat. Ödipus ist ein Fremder; er repräsentiert, was Foucault das »wilde Außen« nennt. Das Schicksal, das ihn gezeichnet und seines menschlichen Vermögens beraubt hat – nicht festgestellt zu sein, über die Freiheit eines eigenen, offenen Horizontes zu verfügen –, manifestiert sich in Ödipus auch als ein Exzeß der Gleichförmigkeit. Es verweigert ihm die Option auf Handlungsfähigkeit und damit auch die auf Kontingenzerfahrung. Innerhalb des Mythos wie des Dramas wird diese soziale Außenposition, die Ödipus einnimmt, dadurch unterstrichen, daß er noch als Herrscher in Theben ein Fremder ist, der von irgendwo kam und blieb. Sogar er selbst sieht sich als Fremder, dem die Verhältnisse in Theben unbekannt sind, und legitimiert damit seine Position: »Ödipus, als Fremder, der er ist, hat kein direktes Wissen von der Angelegenheit: sonst würde er nicht den Umweg über ein langes juristisches Verfahren nehmen [um 24

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Laios’ Mörder aufzufinden und zu verurteilen, J.A.]. Der Richter kommt hier der einfachen Autorität des fähigen Mannes zu Hilfe. […] Wenn Ödipus weiteren Nachdruck auf seine Unwissenheit legt und daran erinnert, daß er ein später Ankömmling in dieser Stadt sei (V. 222), liegt die Betonung entweder auf dem Wort ›spät‹ oder aber auf dem Wort für Bürger, was heißen würde, daß er seinen Bürgerstatus hervorhebt, so als ob er seinen Fremdenstatus vergessen machen müßte.« (Bollack 1994b: 141) Als Fremder ruht Ödipus’ Souveränität als König von Theben auf der ungewissen Anerkennung seiner Kompetenzen durch die Thebaner, die wiederum aus seiner souveränen Position als König resultieren. Sofern er diese Kompetenzen verspielt, gefährdet er auch seine Stellung als thebanischer Souverän. Deshalb fürchtet er Kreon, der als Iokastes Bruder der eigentlich legitime Anwärter auf die Macht ist. Indem Ödipus auf der verzweifelten Suche nach Laios’ Mörder das juristische Verfahren anwendet, welches er zwar kraft seiner Macht als Souverän betreibt, das ihn von dieser Macht aber auch distanzieren soll, gesteht er seinen Status als Fremdling ein, als desjenigen, der außerhalb steht. Das Attribut des Souveräns wäre Entscheidungsfähigkeit, kein investigatives Verfahren. Erst von hier aus wird Ödipus allerdings in das Innere der thebanischen Gesellschaft finden: wenn er sich selbst endlich als Schuldigem gegenübersteht. Auf den Eintritt in die Gesellschaft folgt unmittelbar auch die Verwerfung daraus. Die Homogenität von Ödipus’ Handlungen, seine nur ohne einen Begriff seiner schicksalhaften Bestimmung einleuchtende Tragik, dies alles macht ihn in einem fundamentalen Sinne asozial. Wer kann schon wirklich Teil einer Gesellschaft sein, die sich in eine Zukunft hineinwagt, von der sie höchstens einen Schemen erahnt, wenn das eigene Schicksal so unabweislich vorgezeichnet ist? Gesellschaftliches Subjekt zu sein, setzt voraus, ein zum Handeln freies Subjekt zu sein. Das ist Ödipus gerade nicht. Er bildet den Menschen in sich nur ab. Das Schicksal aber, das ihn verurteilt hat, macht ihn zum Monstrum. Ödipus hat seinen wirklichen Ort jederzeit im Außen der Gesellschaft. Er bezeichnet deren »wildes Außen«, weil er den Menschen bezeichnet, der nicht handlungsfähig ist, und der allem Wollen, allen Plänen und Leidenschaften zum Trotz verurteilt ist, ein Schicksal zu leben, das seines ist, obwohl er es bis zuletzt nicht als seins zu akzeptieren bereit ist. Das pointiert der Seher Teiresias, wenn er, um des »Menschen« Ödipus willen, sich dessen Hilfeersuchen verweigert: »Du ahnst nichts von der Leidensfülle, die dich selbst / wie deine Kinder gleicherma25

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ßen niederzwingt. / […] Denn es lebt kein Sterblicher, der schlimmer / als du zermalmt wird von der Bürde seines Unglücks.« (Sophokles: König Oidipus: V. 424-428) Als handelnder Mensch gilt Ödipus nur solange, wie er als solcher vor den anderen erscheint. Mensch als weltbezogene Person ist Ödipus nur als ein selbst geschaffenes Phantasma. Das wird zerstört, wo er endlich Wissen über sich selbst erlangt. Entsprechend entläßt ihn zum Schluß der Chor als Verworfenen aus Theben: »Deshalb richte man streng prüfend auf den letzten Lebenstag / stets den Blick und preise keinen Menschen glücklich, ehe man / ihn die ganze Lebensstrecke ohne Leid durchmessen sah!« (Sophokles: König Oidipus: V. 1528-1530) Da Ödipus sich außerhalb des Sozialen befindet, repräsentiert er eine doppelte Überschreitung der Gesellschaft. Die erste unterläuft ihm, indem er sich scheinbar der Gesellschaft integriert und sogar als deren Souverän fungiert. Die zweite Überschreitung findet sich in seinem Versuch, als dieser Souverän die Grenze des profanen Wissens aufzusprengen. Im ersten Fall überschreitet Ödipus die Grenze des Nomos. Da er, als dem Schicksal Ausgesetzter, selbst eine Allegorie des Gesetzes darstellt, ist es ihm unmöglich, daran zu partizipieren oder es als Souverän zu repräsentieren. Ödipus, der seinen Ort im Außen der Gesellschaft hat, tritt, da er darum nicht weiß, als König über Theben ins Innerste der Macht, und wähnt sich auf der Straße des Sieges. Aber diese Überschreitung transzendiert nicht das Gesetz, sondern sie verifiziert einen Akt der Nemesis am Geschlecht der Labdakiden. Das Gesetz, schreibt Foucault, »ist ja weniger das Prinzip oder das innere Gebot des Verhaltens als vielmehr das Außen, das es umgibt und jeder Innerlichkeit entreißt« (Foucault 1993a: 56f.). Das Gesetz zerfällt, wenn Ödipus als personifiziertes soziales Außen dem Gesetz sozial vorstehen soll. In der Folge muß das Gesetz sich aufgeben. In der Tragödie tritt das in dem Moment ein, da Ödipus’ Repräsentanz des Gesetzes durch den von Kreon eingeholten Auftrag des Orakels und die verschiedenen Aussagen der Thebaner im Zuge seiner Nachforschungen nach dem Mörder von Laios in eine Krise gerät. Dies Gesetz kann nicht bestehen, wo seine Ordnung die Überschreitung selbst ist, die im Grunde die Aufgabe hat, den Ort des Gesetzes negativ anzuzeigen. Denn: »Wie sollte man das Gesetz erkennen und wahrhaft verspüren, wie sollte man es zwingen, sich sichtbar zu machen, seine Macht offen auszuüben und zu sprechen, ohne es zu provozieren […]?«(Foucault 1993a: 57) Wenn jedoch die Überschreitung das Gesetz nicht mehr 26

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zum Vorschein bringt, sondern damit verschmilzt, dann entwertet dies das Gesetz insgesamt und damit auch die Reichweite von sozialer Macht und Souveränität. In seinem Begehren des Wissen-wollens, in seinem Versuch einer Mimesis an das Gesetz vollzieht Ödipus jene Verschmelzung mit dem Gesetz durch eine Geste der Überschreitung. Jene Repräsentanz des Gesetzes gibt er tendenziell auf und versucht, sich den transzendentalen Nomos direkt anzueignen. Die damit verbundene Entwertung des Gesetzes ist in der Austilgung der Differenz zwischen Gesetz und Souverän zu suchen. Diese Differenz muß aber unbedingt aufrechterhalten werden, da Sozialität auf der Unterscheidung von normativem Grund und repräsentierender Institutionalisierung aufbaut. Ödipus selbst ist entgrenzt; er akzeptiert keinerlei Grenzen. Dabei verschieben sich jedoch auf eigentümliche Art die Relationen. Denn wenn er keine Grenzen akzeptiert und die der symbolischen Ordnung permanent überschreitet, so tut er es in der Absicht, Grenzen zu errichten. Innerhalb der profanen Ordnung, der er als thebanischer Herrscher vorsteht, versucht er eine Ordnung zu bewahren oder sogar neu zu schaffen, die er in Auflösung begriffen sieht. Diese Auflösung wird zunächst durch das Erscheinen der Sphinx offenbar gemacht, dann durch den Ausbruch der Pest, schließlich durch die Erinnerung an den ungesühnten Tod von Königs Laios, Ödipus’ Vorgänger. Das alles sind aber nur Zeichen und Reaktionen bezüglich der Verstrickungen und Verschuldungen des labdakidischen Geschlechts. Fatal für das Gemeinwesen ist vielmehr, daß niemand diese Zeichen zu deuten weiß und man deshalb ihren Folgen ausgeliefert ist. Der einzige, der dazu etwas zu sagen hätte – Teiresias –, wird von seinem Adressaten – Ödipus – nicht gehört. Ödipus will Theben retten und die Wahrheit über sich selbst so lange als möglich nicht sehen. Deshalb schießt er übers Ziel hinaus und versucht, nicht nur die soziale Ordnung zu retten, sondern sie sich außerdem anzueignen. Die Ordnung des Diskurses stiftet jedoch immer auch eine Differenz zwischen den Subjekten und den gesellschaftlichen Institutionen. Eben diese Differenz trachtet Ödipus einzuebnen, wenn er die profane, soziale Ordnung nicht nur wiederherstellen, sondern zu einer geschlossenen Eindeutigkeit führen will. Die Aneignung eines absoluten – als Schicksalsspruch durch das Orakel repräsentierten – Wissens würde eben dies bedeuten. Im Urteil von René Girard ist Ödipus ohnehin bereits »buchstäblich zum Mörder der Differenz« geworden (vgl. Girard 1994: 113). Diesen Prozeß einer Entdifferenzierung setzt Girard weit vor 27

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Ödipus’ Indizienprozeß an: nämlich in den Akten von Vatermord und Inzest. Die Entdifferenzierung besteht dann darin, einen homogenen Zustand zwischen den Einzelnen herbeizuführen. Durch die Ausschaltung des Vaters und die Verschmelzung mit der Mutter bleibt schließlich nur ein großer Solipsismus übrig, worin Ödipus sich allein reproduziert. »Keine Möglichkeit von Differenz bleibt; kein Bereich des Lebens kann sich mehr der Gewalt entziehen«, urteilt Girard (1994: 114).7 Die Tendenz zur absoluten Homogenisierung führt demnach die Gewalt mit sich. Ohne das Moment der Differenz wird zuerst die Familie, dann die Gesellschaft zum Ort der Willkür und der Sühnelosigkeit. Allerdings übersieht Girard die Größe des Schicksals, dem Ödipus unterworfen ist. Wo er seinem Schicksal nachkommt, indem er das Orakel erfüllt, ebnet er nicht etwa die Differenz ein. In diesem Moment bezeichnet er die ganze Differenz zur Ordnung der Welt und zu den darin handelnden Menschen. In der Gewaltausübung, in der Zerstörung der Ordnung (Vatermord/Mutterehe), agiert Ödipus wie ein Heros, hier vollzieht er einen transzendent legitimierten Akt (vgl. Campbell 1978). Sein Exzeß der Differenztilgung setzt erst in dem Moment ein, als er versucht, der Ordnung zu entsprechen, der er enthoben ist und die sich ihm in letzter Konsequenz immer erneut verschließt. Die zweite Überschreitung – die Grenze eines profanen Wissens aufzusprengen und auf ein absolutes Wissen auszugehen – folgt bei Ödipus einer Praxis der Investigation. Sie entspricht der Arbeit des Detektivs; ihre Absicht besteht in einer rücksichtslosen Aufdeckung der Rätsel, der Lücken im System des Wissens – »Diese Spuren werte ich / beharrlich aus und werde meine Abstammung enthüllen.« (Sophokles: König Oidipus: V. 1058-1059)8 Wo diese Lücken geschlossen werden sollen, entfällt die dem sozialen Diskurs inhärente Differenz zugunsten einer Homogenität, die vermeintlich Identität zu stiften in der Lage wäre. Ödipus verfolgt ein doppeltes Begehren, das auf letztendliche Eindeutigkeit hinausläuft: ihn verlangt es nach dem absoluten Wissen und er sucht die Tilgung der Differenz. Ihre Voraussetzung besitzt diese Differenz gerade in der Uneinigkeit eines solchen Wissens sowie in der Uneinigkeit der sozialen Protagonisten. Ödipus will beides vereinheitlichen. Indem er die Praxis einer rücksichtslosen Aufdeckung der Tatsachen verfolgt und zum ersten Aufklärer überhaupt wird, der von seinem Werk vernichtet wird – »O weh! So ist wohl alles jetzt ans Licht gekommen! / Ich sehe, Sonne, dich zum letzten Mal! Ich ward / geboren gegen Wunsch und Einsicht […]!« (Sophokles: König Oidipus: V. 1182-1184) –, droht er innerhalb der Gesellschaft eine Erup28

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tion der Gewalt auszulösen. Die Pluralität der Polis würde Ödipus durch die Aneignung jenes transzendent gehaltenen, absoluten Wissens auslöschen. Die Gewalteruption fände sich in der damit verbundenen Annoncierung einer totalen Gesellschaft, deren einzig verbleibendes Subjekt das Nicht-Subjekt Ödipus wäre. Soziale Totalität findet sich in der Aufhebung solcher Differenz als Organisationsstruktur von Gesellschaftlichkeit. »Ödipus’ Verbrechen bedeuten zwar das Ende aller Unterschiede; aber gerade weil sie einem einzigen Individuum zugeschrieben werden, werden sie zur Monstrosität des Ödipus allein.« (Girard 1994: 116) Zunächst bleibt die Gewalt bei Ödipus. Aber da er in der Folge die soziale Ordnung in ihrer Gesamtheit bedroht, kann der Funke der Gewalt jeden Moment überspringen, diese Ordnung ergreifen und vernichten. Als Protagonist einer Homogenisierung, die jede Differenz zu tilgen bestrebt ist, erscheint Ödipus als Vorläufer des Bestrebens einer Tilgung aller Ambivalenzen, das sich in der modernen Gesellschaft schließlich durchsetzen sollte. Es ist genau diese Homogenität, die, wenn sie erst einmal hergestellt ist, Gewalt produziert. In diese Situation, die ihn zu zerreißen droht, gerät Ödipus, weil er nicht nur für die Gesellschaft, der er vorsteht, sondern gerade auch für sich selbst eine phantasmatische Figur ist. Von Ödipus existiert eine doppelte Repräsentation. Er ist nicht Träger einer ungeteilten Identität. Durch Ödipus hindurch geht ein Hiatus der symbolischen Ordnung, die sich an ihm zugleich bricht und verifiziert. So repräsentiert Ödipus zunächst ein Schicksal, das ihm selbst vorausgeht – die Spur seines Lebens liegt schon vor seiner Geburt in dem Schicksal offen, welches dem Kind von Laios und Iokaste prophezeit wird (vgl. Rose 1969: 179; Ranke-Graves 1984: 337; Kerényi 1966: 77).9 Das Orakel stiftet dieses Schicksal nicht erst; es teilt es nur mit. Seine Funktion ist es, den Adressaten der Botschaft des Schicksals in Kenntnis zu setzen. Von nun an ist aber kein Ausweichen mehr möglich. Sofern Ödipus durch das Orakel um sein Schicksal weiß, muß er sich ihm aussetzen. Sein Versuch, es zu überlisten, indem er sich seiner eingebildeten Familie in Korinth entzieht, grenzt an Hybris. Es gibt noch eine weitere sophokleische Figur, die einen Konflikt mit dem Gesetz austrägt: Ödipus’ Tochter Antigone. Lediglich aus anderer Perspektive steht auch hier die Frage nach der Legitimität des Souveräns und seiner Handlungen im Mittelpunkt. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied, denn die Machtfülle der Souveränität wird in der »Antigone« nicht durch das Schicksal, sondern durch das Recht begrenzt. Antigone trägt mit 29

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Kreon, der mittlerweile zum Herrscher Thebens avanciert ist, einen Konflikt darüber aus, ob sie ihren toten Bruder Polyneikes begraben dürfe oder nicht, nachdem der im Zweikampf mit dem Bruder Etéokles gestorben ist. Tradition und Religion verlangen die Bestattung. Doch im Falle von Polyneikes verbietet Kreon sie, während er Etéokles, der in jenem Kampf zwillingshaft ums Leben kam, durchaus würdig hat beerdigen lassen. Seinen Willkürakt begründet Kreon damit, Etéokles habe zuvor auf der Seite Thebens gekämpft, während der im Bruderkrieg um die Königswürde emigrierte Polyneikes gegen Theben gezogen war. Doch bemerkt Antigone gleich zu Beginn des Stückes zur Haltung Kreons: »Er hat kein Recht, mich meiner Pflichten zu entheben.« (Sophokles: Antigone: V. 48) Diese Pflicht ist die zur Bestattung des Bruders; also eine heilige Pflicht gegenüber der Verwandtschaft, aber auch gegenüber einer kulturellen Ordnung, die von stärkerer Bedeutung sein könnte, als was Kreon befiehlt. Polyneikes’ Bestattung würde bedeuten, gibt Antigones zaudernde Schwester Ismene zu bedenken, sich über das »Verbot des Staates hinwegzusetzen« (Sophokles: Antigone, V. 44). Beim Versuch, den toten Bruder zu bestatten, wird Antigone entdeckt. Zur Strafe läßt Kreon sie in einer Gruft lebendig begraben. Dieser Geschichte hat Judith Butler einen Essay gewidmet, der in erster Linie nach dem Zusammenhang zwischen Genos, Gesetz und Subjekt, genauer: zwischen »Verwandtschaft und Staat« (Butler), fragt. Trotz der durch das Verwandtschaftsverhältnis zwischen Ödipus und Antigone noch unterstrichenen Analogien gibt es einen Unterschied, der unmittelbar ins Auge fällt: Antigone befindet sich im Widerstreit mit einem Gesetz, das sie nicht teilt, um einem Gesetz, das sie für ungleich bindender erachtet, Geltung zu verschaffen. Dagegen ficht Ödipus für die Verwirklichung eines Gesetzes, von dem er meint, er als Souverän stehe im doppelten Sinne für es ein, obwohl er dieses Gesetzes de facto gar nicht teilhaftig ist. Aber verbunden sind beide Konflikte durch die Beziehung von Gesetz und Souveränität, die in ihnen verhandelt wird. Butler zufolge sieht sich Antigone, wenn sie dem Gesetz trotzt, sogar einer ganz ähnlichen Konstellation ausgesetzt, wie Ödipus: »Ihre Sprache ist nicht die einer politischen Handlungsfähigkeit, die sich überleben ließe. Ihre Worte, als Taten verstanden, sind chiastisch mit dem Jargon der souveränen Macht verknüpft […] Damit liegt die Vermutung nahe, daß sie ihr Verlangen nicht außerhalb der Sprache des Staates vorbringen kann, daß aber ihre Forderung sich auch nicht voll in den Staat integrieren läßt.« (Butler 2001: 51)

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2. GESETZ

Ganz wie Ödipus leidet Antigone daran, daß ihr Verhältnis zum Gesetz des Staates, mithin zu dem des Sozialen so sehr Schaden genommen hat, daß sie handlungsunfähig wird. Ihr desparates Handeln ist in keiner Weise integriert in die souveräne Ordnung der Gesellschaft. Das müßte es aber sein, um in irgendeiner Weise Erfolg zu haben. Gleichzeitig steht ihr nur der Kontext einer solchen Souveränität zur Verfügung, um sich zu artikulieren. Außerdem ist für Antigone die Exklusion aus einem sozio-politischen Zusammenhang von Sprechen, Handeln und Bedeutung die Folge einer gezielten Verneinung. Zuallererst sagt sie Nein zum Souverän, also zu Kreons Gesetzen, erst danach, als logische Konsequenz eines sich gegen Dissidenz behauptenden Gesetzes, erfolgt ihr Ausschluß. Es verwundert daher kaum, daß Butler entsprechend betont, Antigone schließe »sich selbst aus dem Gemeinwesen aus, und in diesem Exil kann sie nicht überleben« (Butler 2001: 110). Dies ist der Unterschied zwischen Antigone und Ödipus. Antigone hat eine entscheidende Handlung zu ihrer eigenen Verfügung: sie entscheidet sich für ihr Schicksal und sie wählt das Gesetz des Genus. Damit folgt sie einer Prämisse ihres Geschlechts, worin, bis hin zum Ahn Kadmos, immer schon Genus und individuelles Handeln unmittelbar ineinander verschränkt waren. Diese Wahl hat Ödipus eben nicht. Die eine heroische Handlung, bevor er sich ins gesellschaftliche Aus setzt, hat er nicht einmal zur Verfügung. Er ist ja immer schon ins Aus gesetzt und existiert nur, um genau dies, die Macht des Schicksals, vor aller Welt zu verifizieren. Mag er ein Heros sein – er ist es, weil er durch das Gesetz unmittelbar symbolisch affiziert ist, nicht aber wegen seiner wirklichen Taten. Antigones’ Entscheidung, für die Würde des Bruders auch mit ihrem Leben einzutreten, ist eine wirkliche und eine heroische Handlung; sie ist existentiell. Ödipus’ Handlungen hingegen sind Ausdruck eines Realen, dem er folgt, weil er von der Wirklichkeit gar nichts weiß. Der Unterschied zwischen Vater und Tochter liegt in der Fülle des Wissens. Antigone weiß um die Verhältnisse; sie weiß um ihre Determination und sie könnte, wie ihre Schwester Ismene, sich der Genealogie verweigern. Aber sie tut es nicht, und insofern sie damit ziemlich widerborstig den Tod wählt, wählt sie auch die Freiheit (»Ich wagte es, jawohl, ich streite es nicht ab« [Sophokles: Antigone: V.443]). Indes sucht Ödipus die Freiheit, er versucht seine Verfügungsmächtigkeit über ein Handeln in existentieller Freiheit als Souverän zu verifizieren. Sein Scheitern ist vorgezeichnet, weil er »gar nichts weiß« (Teiresias). Wenn Antigone sich daher für ein bestimmtes Schicksal als ihr Schicksal entscheidet, dann handelt sie existentiell als Subjekt, wo31

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ÖDIPUS

hingegen Ödipus, sofern er überhaupt darüber Bescheid wüßte, sich im vorgegebenen Rahmen eines immer schon existenten Schicksals entscheiden müßte. Gemessen an ihrer beider Stellung dem Gesetz gegenüber ist Antigone deshalb eindeutig im Vorteil. Butler irrt, wenn sie Ödipus als bösartigen, greisen Patriarchen zeichnet, der aus lauter Verbitterung über die eigenen Verluste sogar seine Kinder verflucht: »Vor seinem Tod spricht Ödipus mehrmals, und diese Äußerungen gewinnen den Status eines Fluchs. Er verdammt Antigone, aber diese Verdammung bindet sie an ihn. […] [Er fordert,] daß sie für alle Zeit keinen anderen als den toten Mann haben soll, und obgleich dies eine Forderung ist, ein Fluch, den Ödipus ausstößt, der die Position ihres einzigen Mannes für sich beansprucht, ist deutlich, daß sie seinem Fluch zugleich gehorcht und nicht gehorcht, wenn sie die Liebe zum Vater auf den Bruder verschiebt.« (Butler 2001: 97) Im Gegenteil, in »Oidipus auf Kolonos« beschreibt Sophokles eine sehr enge, sogar liebevolle Beziehung zwischen Vater und Tochter. Tatsächlich verflucht er darin den Polyneikes, weil dieser ihn aus Theben fortgejagt habe, nachdem er dort die Macht übernommen hatte (Sophokles: Oidipus in Kolonos: V. 1348-1396).10 Von Antigone spricht Ödipus nur als der »lieben Tochter«. Die geschlechtliche Differenz, die Antigone durch den Fluch des Vaters vermännliche und deshalb dem Tod aussetze, liegt im Stück nicht vor (Butler 2001: 99). Doch Butler liegt richtig, wenn sie das Zentrum des Konflikts in der Beziehung der Protagonisten zum Gesetz sucht. Es geht eindeutig um die Wahl zwischen zwei Formen des Gesetzes, zwischen denen man sich zu entscheiden habe – das göttlich sanktionierte Gesetz des Vaters, der Nomos, sowie das profane Gesetz des Staates, in diesem Falle ein Usurpator.11 Antigone entscheidet sich für das väterliche Gesetz, während das des Staates von einer unmittelbaren Willkür politischer Interessen zeugt – Kreon benutzt es ausschließlich, um seine Herrschaft zu sichern – und ebenso unmittelbar auch Gewalt evoziert – als Mord an Antigone und im Selbstmord von Kreons Familie. Wenn Butler daher feststellt, Antigone befinde sich nur partiell außerhalb des Gesetzes, dann hat sie sowohl Recht als auch Unrecht. Ihre Schlußfolgerung daraus, »daß weder das Gesetz der Verwandtschaft noch das Gesetz des Staates die ihnen unterworfenen Individuen tatsächlich beherrscht«, ist unstimmig (Butler 2001: 55). Es ist ja keineswegs so, daß angesichts eines Plurals an Gesetzen, die um Einbindung der Individuen ringen, sich trotzdem nur 32

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deren Unterwerfung unter ein singuläres Gesetz herausdestilliert. Die »Antigone« erzählt gerade von einem Widerstreit zwischen dem Nomos und dem profanen Gesetz, die auseinandergefallen sind und deren gemeinsame Repräsentation, was seine Aufgabe wäre, auch Kreon nicht zu vollziehen in der Lage ist. Zwar bleibt innerhalb des Gesetzes eine Differenz offen, die für sich genommen soziales Handeln erst ermöglicht; ansonsten wären alle Individuen, wie Ödipus auch, definitiv abgeschnitten von der Möglichkeit zum eigenen Handeln. Trotzdem ist gerade Antigone ganz innerhalb des Nomos situiert – mit dem Ödipus gegenüber entscheidenen Unterschied, sich dafür selbst entschieden zu haben. Sie ist lediglich Objekt des Widerstreits zwischen Nomos – hier: die Pflicht der Bestattung – und profanem Gesetz als bloßem Ausdruck individueller Macht. Dieser Widerstreit wird am Schluß der »Antigone« völlig deutlich, wenn sich Ödipus’ Tragik an dessen Antipoden Kreon wiederholt. Auch hier tritt just nach dessen alles entscheidender Handlung, dem Befehl, Antigone lebendig einmauern zu lassen, Teiresias auf (»Drum fort mit ihr, so schnell wie möglich! Schließt sie fest / im Grabgewölbe ein, so wie ich es befahl! / Laßt ganz allein sie drinnen, mag sie sterben dort, / mag in der Gruft sie, wohlbestattet, weiterleben! / Doch wird sie niemals mehr im Kreis von Menschen leben!« [Sophokles: Antigone: V. 885-890]). Ganz wie Ödipus versichert Kreon den Seher zunächst seiner überaus großen Wertschätzung (»Was gibt es Neues, werter Alter? / […] / Ich habe deinen Rat bisher noch nie verschmäht« [Sophokles: Antigone: V. 991993]), um ihn in dem Moment, als er Kreon falsches Handeln vorwirft und daraus folgendes Unheil prophezeit, zu beschimpfen: »Ihr alle, guter Alter, richtet eure Pfeile / als Schützen gegen mich. Ich habe ja Erfahrung / mit eurer Seherkunst und ward von euresgleichen / auch früher schon verraten und verkauft! / […] / Welche Art Gemeinplatz käust du wieder? / […] / Der ganze Seherklüngel giert doch nur nach Geld.« (Sophokles: Antigone: V. 1033-1055) Der Seher ist nichts wert, der ein mißliebiges Schicksal kennt und damit den offenen Horizont einer kontingenten Zukunft versperrt. »Dein Urteilsspruch stürzt Theben ins Verderben. / Denn Herde und Altäre, Weihstätten, wurden / durch Vögel wie durch Hunde mit zerfetztem Fleisch / des armen Toten Polyneikes schwer besudelt! / So hören jetzt die Götter nicht auf unser Flehen / und billigen auch unsere Opferflammen nicht.« (Sophokles: Antigone: V. 1015-1020) Daß Kreon die nomistische Ordnung verachtet, sie sogar durch sein 33

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eigenes Gesetz meint substituieren zu können, zeigt, wie wenig er von der Souveränität begriffen hat, die er ausfüllen möchte. Er fällt deshalb dem Nomos zum Opfer, auch wenn er schließlich doch ein Einsehen hat, Teiresias’ Rat befolgen und Antigone freilassen will. Dieser Entschluß kommt aber zu spät, das angekündigte Unheil befindet sich schon im Vollzug; Antigone, Haimon und Euridike begehen Selbstmord, Kreon bleibt geschlagen allein zurück. Kreon hat den Augenblick seiner Chance, ein mythisches ›Nu‹, nicht genutzt. »Da ist ja der König selber zur Stelle, / er trägt auf den Armen den sichtbaren Nachweis / des Unglücks, das keineswegs Fremde verursachten, / nein – erlaubt sei das Wort –, er persönlich, allein!« (Sophokles: Antigone: V. 1257-1260), kommentiert der Chorführer den seinen toten Sohn tragenden Kreon, der gleich erfahren muß, daß auch seine Frau sich aus Verzweiflung um den Tod Haimons umgebracht hat. Kreon ist zum Verhängnis für seine Familie geworden; er hat ein Schicksal heraufbeschworen, das ihn zerstört. Damit ist er am Ende Ödipus ganz ähnlich geworden, obgleich er sich doch als die ultimative Alternative zu diesem begriffen hatte. Doch wie bei Antigone auch, liegt der entscheidende Unterschied im Moment der Entscheidung. Kreon hätte dies Schicksal in dem Moment abwenden können, als Teiresias es ihm offenbarte; diese Möglichkeit hat er schlicht nicht genutzt. Sowohl die Möglichkeit zu Handeln als auch das Amt der Verantwortung liegen in dieser Situation eindeutig bei Kreon. Ödipus hingegen hat niemals eine Alternative zu seinem Schicksal gehabt; er hat nicht einmal gewußt, daß er eins hat. Kreon hingegen hat sein Schicksal zugelassen, als er den Nomos mißachtete und sein eigenes Gesetz vorzog. Noch bevor Teiresias auftaucht, hatte Antigone ihm die Dichotomität der Gesetze verdeutlicht, die die Entscheidung für eins von beiden verlangt. Sie läßt keinen Zweifel daran, daß es bei dieser Wahl keine Wahl gibt, weil nur ein Gesetz das richtige ist: »Kreon: Du wagtest dieses Staatsgesetz zu übertreten? / Antigone: Jawohl: Nicht Zeus hat dies Gesetz für mich erlassen, / auch Dike, die im Hades bei den Toten wohnt, / gab nie den Menschen ein Gesetz von solcher Art. / Auch hielt ich deinen Heroldsruf, ein Menschenwort, / für allzu schwach, um göttliche Gesetze zu / zerbrechen, die, auch ungeschrieben, ewig gelten / […] / Nicht diese wollte ich verletzen – gar aus Furcht / vor eines Menschen Hochmut – und dann von den Göttern / mich strafen lassen!« (Sophokles: Antigone: V. 449-460) Antigone, um das noch einmal zu betonen, ist nicht teilweise außerhalb des Gesetzes: sie ist es ganz, wo es sich um das profane Gesetz 34

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des Staates handelt, das sich abgekoppelt hat von jenem Nomos der Götter, den zu vollziehen seine eigentliche Aufgabe ist. Antigone ist aber ganz und gar im Gesetz, insofern sie sich dem göttlichen Nomos integriert weiß. Freilich bedeutet diese Integration für sie den Tod, und das weiß sie auch. Butler meint deshalb, Antigone sei »schon im Leben tot«, weil sie im Dienst des Todes stehe – indem sie ihres Lebens ungeachtet den Bruder bestatten will (vgl. Butler 2001: 80). Aber das stimmt nur insofern, als die Wahrung ihrer Integrität den Tod erfordert. Mehr noch als im Dienst des Todes steht sie im Dienst des Gesetzes, und sie setzt es schließlich auch wieder durch. Schade ist daher, daß Butler an dieser Stelle ihr früheres von Lacan entlehntes Diktum unterläuft, die menschliche Ordnung sei dadurch charakterisiert, »daß die symbolische Funktion in jedem Moment und auf allen Stufen ihrer Existenz interveniert« (Butler 2001: 72)12, und es einen unmittelbaren Zusammenhang gebe zwischen Antigones Handeln, dem Symbolischen und dem Gesetz. Diesen Strang führt Butler zunächst nicht mehr aus, kehrt ihn ja sogar tendenziell um, um einer Geschlechterperspektive Platz zu machen, die Antigone weniger als eingebunden in die Funktionalität des Nomos beschreibt, denn in die Hegemonie des väterlichen Gesetzes. Die Zusammenhänge des antiken Dramas jedoch lassen sich Butler zufolge für eine Analyse aktueller Phänomene fruchtbar machen. Die Annäherung an das mythische Thema von einer gegenwärtigen Perspektive aus verbindet Butlers Lektüre der sophokleischen »Antigone« mit der hier verfolgten Lektüre von Ödipus. Signifikant scheint zu sein, daß auch nach Butlers Lesart das Thema des Gesetzes eines ist, das sich entweder durch Sophokles’ Werk hindurchzieht oder aber für das Geschlecht der Labdakiden maßgeblich ist. Auch sie sieht Ödipus durch den Schicksalsspruch, dem er ausgesetzt ist, in ein Außenverhältnis zur Gesellschaft gesetzt und der eigenen Handlungsmöglichkeit entrückt. »Indem er mordete, erfüllte er die Worte, die auf ihm lasteten; seine Tat wird untrennbar vom gesprochenen Akt […].« (Butler 2001: 101) Daraus entwickelt sich sein spezifisches Verhältnis zum Gesetz.

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3. Schicksal Von verschiedenen Positionen aus haben Bultmann und Benjamin auf die Kategorie des Schicksals aufmerksam gemacht, welches das sich souverän wähnende Subjekt durchkreuzt. Ödipus’ Identität bleibt aufgespalten. Er verfügt über eine profane Identität, die denjenigen Teil seiner selbst repräsentiert, der ihm bekannt ist, und um dessentwillen er sich als Subjekt unter anderen Subjekten wähnt. Diese profane Identität ist die Folie seiner im Sieg über die Sphinx errungenen sozialen Souveränität, der Königswürde. Daneben aber – und das ist für Ödipus, ohne daß er darüber Kenntnis besitzen könnte, weit wichtiger – ist er behaftet mit einer transzendenten, durch das Schicksal oktroyierten Identität. Sie macht ihn zum Träger einer erbarmungslosen Bestimmung, der zu entkommen unmöglich ist. Diese Determinierung wiederum macht Ödipus zum denkbar ungeeignetsten Souverän. Der Theologe Bultmann etwa geht davon aus, das Individuum könne sich seinen Ausgangsort nicht wählen. Insofern fielen die Ziele des Einzelnen, die von dieser existentialen Ausgangsposition aus anvisiert werden, durchaus mit seinem Schicksal ineins. »Die Mächte, die schicksalhaft den Menschen beherrschen und oft vergewaltigen, sind nicht nur fremde Mächte, die sich seinem Wollen und Planen entgegenstellen, sondern sie wachsen oft gerade aus seinem eigenen Wollen und Planen hervor.« (Bultmann 1958: 3) Diese Feststellung trifft auf Ödipus allerdings nicht zu, der in sein Schicksal hineingeboren ist, anstatt es mitzuproduzieren. Begreift man, wie Bultmann, Schicksal als sich verdichtende Lebensgeschichte, dann ersteht aus ihm heraus auch das Subjekt, das dieses Schicksal an sich exemplifiziert. Die Unabsehbarkeit der Folgen des eigenen Handelns ermöglicht dem Individuum ein Bewußtsein von Schicksal. Es bedeutet derart, daß das Leben sich nicht im subjektiven Willen erschöpft.1 Das aber stellt auch die Frage, »ob unsere 37

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persönliche Existenz noch einen wirklichen Sinn hat, wenn unsere eigenen Taten uns sozusagen nicht angehören« (Bultmann 1958: 4). Für Bultmann liegt just an diesem Punkt die Verbindungslinie zwischen christlicher Religion und griechischer Mythologie. Beides verbürge eine Ordnung, die feststehe und deren Autorität uneinholbar sei. Der entscheidende Unterschied liege darin, daß der Mensch im Gehorsam gegen Gott frei sei, da er darin »sicher und geborgen« sei. Die antike Ordnung besitze hingegen noch ein Moment an Willkür, das ihre Subjekte überfallen kann. In diese Ordnung sei der Mensch eingefügt; sie präge die Gesetze von Existenz und Geschichte. Übereinstimmung herrsche aber insofern, als »das Gesetz der Ordnung der Geist [ist], und Geist ist auch das Wesen des Menschen« (Bultmann 1958: 6). Freiheit läge also darin, sich dem Gesetz einer die Menschen übersteigenden Ordnung zu unterstellen, von der aus ein wahrhaftiges Verhältnis zur Welt erst möglich wäre. Dies setzte voraus, die symbolische Ordnung des Sozialen als wahr zu akzeptieren. Das Reale entsteht als Wirklichkeit aus der Verifikation und aus der Anerkennung der Legitimität dieser Ordnung heraus, die das Menschliche begrenzt, ihm zugleich aber Möglichkeiten eröffnet.2 Diese Auffassung vom Gesetz sieht Bultmann auch innerhalb der Bestrebungen nach Freiheit und Autonomie in Idealismus und Aufklärung fortgeführt. Autonomie bedeutet daher, einem Gesetz zu gehorchen, das gerade nicht blind übernommen ist, sondern das als Gesetz des eigenen Wesens erkannt und bejaht wird (vgl. Bultmann 1958: 8). Einen Begriff von Schicksal zu besitzen, ermöglicht demnach überhaupt erst einen Begriff von Freiheit. Die aporetische Konstellation, in welcher sich demnach Subjekt und Gesellschaft befinden, hat Taubes auf die Formel gebracht, das Individuum sei keine Abstraktion, sondern ein geschichtliches Ereignis, weshalb es auch »immer verstrickt in gesellschaftliche Ordnungen« bleibe (Taubes 1970: 86). Beides bedingt einander notwendig und unauflösbar. Jegliche Subjektivität gerät so in den Strudel der Vergesellschaftung, der sie sich nicht entschlagen kann. Aber ohne das Subjekt in seiner Gewalt gäbe es auch diesen Strudel nicht, weil sich dann niemand ein Bild von ihm machte. Die auch für ein Verständnis von subjektiver Freiheit entscheidende Frage, die Taubes daran anschließt, ist die, ob jene von Kant attestierte Unmündigkeit des Menschen tatsächlich selbstverschuldet sei. Sie kann es dann nicht sein, wenn das Subjekt geschichtlich und gesellschaftlich ein Ereignis ist, das auf eine spezifische Genealogie zurückblickt. Trifft das zu, gehört niemand sich selbst, sondern einer ortlosen Macht der Vergesellschaftung, die 38

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3. SCHICKSAL

mühelos in den Begriff des Schicksals zu übersetzen wäre. Dieser Sachverhalt erhellt sich an Ödipus. Ödipus bezeichnet dasjenige Subjekt, das sich beim Wort zu nehmen versucht. Er unternimmt den Versuch, sich dem Schicksal seines Lebens nicht zu fügen und sich als Subjekt zu behaupten. Doch erweist sich dieser Schritt als Hybris; Ödipus scheitert vollständig. Das Schicksal zeigt sich mächtiger als der subjektive Verstand. Ödipus’ Räsonnement kostet ihn also seine ohnehin nur gestundete Zugehörigkeit zur thebanischen Gesellschaft. Das ist der Tribut für sein Begehren nach einem Zuviel an Erkenntnis. Auch für Ödipus zeigt sich so, daß der Grund des Gesetzes unerreichbar ist. Der Grund des Gesetzes muß außerhalb jedes Diskurses stehen. Nur dann kann das Gesetz auch Gültigkeit erlangen und die Subjekte werden sich ihm einfügen. »Die Achtung wird nur dem Sittengesetz geschuldet, das ihre einzige Ursache ist, obwohl es sich niemals selbst zeigt.« (Derrida 1999: 43) In diesen Grund bleibt das Subjekt involviert. Seiner Sogkraft ist es ausgesetzt, noch wo es sich gänzlich autonom setzen will. Das gesetzlose Subjekt ist auch das ortlose und verschwindende Subjekt – so wie Ödipus am Ende abgestraft aus der Welt der Bürger (und das heißt antik: aus der Welt der Menschen) verschwindet. Noch das gesetzlose Subjekt ist aber das Subjekt eines Gesetzes, dem es sich unterwerfen muß.3 Das negative Gesetz des anomischen Subjekts negiert das Gesetz nicht, sondern sucht die Verweigerung als Legitimationsbasis auf. Aus dem Schicksal Freiheit zu gewinnen, erscheint für Ödipus unmöglich. Sein Schicksal gereicht ihm als ein Urteil, das ihn von der Zukunft abschneidet. Ödipus besitzt nur Vergangenheit und Gegenwart. Das Schicksal offenbarende Orakel trennt ihn von der Zukunft. Indem die Macht des Schicksals Ödipus subjektiv determiniert, nimmt es ihm auch die Möglichkeit wirklichen Handelns. Damit wird Ödipus weltlos gemacht. Der Zugang des Individuums zur Welthaftigkeit erschließt sich über dessen Fähigkeit zu handeln und dadurch Subjektivität im gesellschaftlichen Kontext zu erlangen. Welt erschließt sich erst über das Erscheinen des handelnden Subjekts, dessen Möglichkeiten unabgeschlossen, kontingent und offen sind. Die Fähigkeit zu handeln, erläutert Arendt, befähige den Menschen dazu, »sich mit seinesgleichen zusammen zu tun, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen, sich Ziele zu setzen und Unternehmungen zuzuwenden, die ihm nie in den Sinn hät-

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ÖDIPUS

ten kommen können, wäre ihm nicht diese Gabe zuteil geworden: etwas Neues zu beginnen.« (Arendt 1987: 81) Unter dieser Bedingung wird Ödipus’ Misere vollends deutlich: Obwohl er an die Stelle des Souveräns getreten ist und diesen Ort wie ein Phantasma ausfüllt, ist er keinesfalls dazu in der Lage, ein wirkliches politisches, handelndes Wesen zu werden. In jedem Augenblick bleibt er der ahnungslose Agent seines Schicksals und jede seiner Handlungen, jeder seiner Schritte bereitet nur seine Verwerfung aus der Welt der Menschen vor. Dies Charakteristikum hat schon Hegel an Ödipus hervorzuheben gewußt und ihn als das handlungsunfähige (Un-)Subjekt par excellence vorgestellt, das eher für eine symbolische Repräsentation des sozialen Gesetzes steht, als für sich selbst.4 Daß Ödipus der Fremde ist, weil er durch sein vorgezeichnetes Schicksal grundsätzlich asozial bleibt und er das Reale symbolisch ausstreicht, ist bereits wesentliches Motiv der hegelschen Ödipus-Interpretation. Arendt geht noch einen Schritt weiter und betont, erst durch das Handeln komme der Mensch in die Welt. Die Unfähigkeit zu handeln verurteile auch zur Weltlosigkeit, weil sie den intersubjektiven Bezug der Menschen zueinander abschneide (vgl. Arendt 1991: 204). Ödipus gehört daher nicht zur sozialen Welt. Sein vorgezeichnetes Schicksal erwächst gerade nicht aus seinem »Wollen und Planen«. Vielmehr verhält es sich umgekehrt. Das gesetzte Schicksal bedingt Ödipus’ Handeln. Aus diesem Grund kann er seiner Aufgabe als Souverän, der die Macht verwaltet und aufteilt, nicht nachkommen. Denn es ist die Macht, die den öffentlichen Raum stiftet und erhält. Als solche ist sie dasjenige Element, »was die Welt als ein gegenständliches Gebilde von Menschenhand wortwörtlich am Leben hält, nämlich überhaupt erst lebendig macht« (Arendt 1991: 198).5 Ödipus steht also als ohnmächtiger Souverän da. Seine Macht hat keine Legitimation, weder von außen noch aus sich selbst heraus. Sie gilt nur solange, wie niemand auf die Idee kommt, sie in Frage zu stellen. In ihr wirkt nicht sie selbst als souveräne, politische Macht, auch nicht die Gewalt des Gesetzes. Die Macht, die Ödipus sein eigen nennt, speist sich einzig aus der machtvollen Routine der sozialen Institution. Und die kommt ohne den Souverän aus. Ödipus, als ohnmächtiger Souverän, stürzt die Institution in eine schwere Krise. Das Bestreben, die durch Laios’ Tod ausgelöste Krise der Souveränität durch die Neueinsetzung eines Königs zu lösen, verschärft sie nur. Die Katharsis der souveränen Macht ist nur durch die Ausstoßung von Ödipus als falschem Souverän möglich. 40

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3. SCHICKSAL

Mit der Internalisierung seines ihm oktroyierten Schicksals erfolgt für Ödipus auch eine Umkehrung der Schuld. Sein Schuldverhältnis ist nicht länger eingebettet in ein objektives gesellschaftliches Verhältnis, das sich aus der Überschneidung von Fehlhandeln und individueller Schuld ergibt. Ödipus muß die Verantwortung für sein Tun übernehmen, auch wenn die Ursache dafür nicht bei ihm, mithin bei den Göttern liegt. Damit steht er einerseits in Gegensatz zum neuzeitlichen Schuldverständnis und entspricht ihm dennoch (vgl. Schwan 1997: 22ff.). In Ödipus ist der Prototyp einer Subjektivierung des Schuldverhältnisses gesetzt. In seiner Person zeigt das ihm widerfahrende Übel erstmals die Existenz einer inneren Schuld an, wie sie das Christentum zur Effizienz bringen wird (vgl. Schwan 1997: 24; Foucault 1993b). Gerade als Träger dieser Schuld wird Ödipus zum Repräsentanten des Nomos. Als solcher ist er jedoch aus der Gesellschaft und ihren Institutionen ausgeschlossen. »Ödipus ist der Fremde« (Bollack). Er, der außerhalb des Sozialen steht, wird schließlich zu dessen Souverän und Mittelpunkt, als er König von Theben wird. Damit gerät er hinsichtlich seines Verhältnisses zum Gesetz in eine paradoxe Situation. Er, der am Nomos als dem Gesetz des Sozialen keinen Anteil hat, erlangt schließlich die Aufgabe, ihn zu repräsentieren. In diesem Sinne erweist sich Ödipus wiederum als die personifizierte Metaphorisierung desjenigen Gesetzes, dem er niemals angehören kann. Indem er ihm nicht angehören kann und es dennoch repräsentiert, verweist er auf den Kern des Gesetzes. Denn sofern das Gesetz phantastisch ist, weil es aus einer nicht einholbaren, nicht legitimierbaren Erzählung herrührt, »begreift man, daß ›das Gesetz‹ wesentlich unzugänglich bleibt, selbst wenn es sich zeigt oder sich verheißt« (Derrida 1999: 57). Das Gesetz ist sein eigener Mythos. Es ist das Gesicht der Macht, das sich beliebiger Masken bedient. Es kann nur anerkannt sein, solange es unerkannt bleibt. Es ist »in persona, wenn man so sagen darf, niemals gegenwärtig« (Derrida). Solche Gegenwärtigkeit erreicht das Gesetz in seiner metaphorischen Personifikation durch Ödipus, den dieses aporetische Verhältnis auch seinen Status des Menschlichen kostet. Der Nomos ist eine abstrakt bleibende Macht, und als solche stellt er zwar die Grundlagen von Sozialität bereit, bleibt selbst aber in der so gestifteten Gesellschaft notwendig uneinholbar. Das Verhältnis von Nomos und Gesellschaft bleibt deshalb symbolisch; Ödipus aber, der durch das ihm aufgegebene Schicksal unmittelbar durch den Nomos gezeichnet ist, ist dessen Repräsentant. Die Identität des Ödipus besteht in einer radikalen Differenz zum Sozialen, dessen Signifikanz er repräsentiert. Deshalb ist er 41

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vom Sozialen auch nicht gänzlich fernzuhalten. Sein Tod ist aufgehalten, solange die ihm inhärente Differenz des Gesetzes bedeutsam bleibt (vgl. Ahrens 2000). Ödipus muß aber Opfer der Differenz für dieses Soziale werden, sofern sie aufbricht, indem sie öffentlich wird. Offenbar wird sie in dem Augenblick, da sie nicht mehr unwissentlich existiert. Wenn Ödipus sich seines Status der Differenz bezüglich der Gesellschaft und des Gesetzes bewußt wird und sich aktiv und nicht allein symbolisch durch das Orakel aus der Gesellschaft ausschließt, transformiert sich auch jene Differenz in ein Verhältnis der Eindeutigkeit gegenüber der Gesellschaft. Das erstrebte Wissen birgt sein Urteil: »Aus dem Nichts erklomm Ödipus höchste Höhen und wurde zum unvergleichlichen Symbol des Aufschwungs. Welch ein Irrtum ist daher die Annahme, sein Wissen und seine Unwissenheit, Größe und Fall seien widersprüchlich und ohne Zusammenhang. […] Diese Vorbestimmtheit läßt Ödipus zum Agens des Schicksals werden […].« (Bollack 1994a: 82) Solange dies Wissen über sein Verhältnis einer Differenz zu Nomos und Sozialität des Subjekts nicht offenbar ist, besitzt Ödipus noch eine zweite, vordergründig aktive Identität. Der vermeintliche Sohn des Königs von Korinth bildet sich ein, ein Ödipus zu sein, welchem das freie Handeln in der Welt offensteht. Solange er dieser Überzeugung ist, kann er sich und andere bezüglich seiner schicksalhaften Determination blenden, sich als Subjekt unter Subjekten wähnen und sich ein Handeln in die Zukunft hinein suggerieren, das ihm tatsächlich nicht offen steht, da er keine Zukunft besitzt. Seine profane Identität ist ja die ihm einzig bewußte Identität. An ihr orientiert er sein Verhältnis zur Welt und sucht teilzuhaben am den Menschen schaffenden Zusammenhang eines Erscheinens in der Welt. Seine Tragik liegt darin, daß er an dieser Identität aufgrund einiger Indizien zu zweifeln beginnt und sich auf die Suche nach seiner wahren Identität begibt. Deren Entdeckung soll seine Zerstörung sein, denn sie gibt ihn dem Angesicht des Schicksals preis; und das Schicksal ist das Monströse, weil es eigentlich unsichtbar bleiben sollte. Seine korinthische Identität ist jedoch, gemessen am Schicksal, das Ödipus auferlegt ist, eine offensichtliche Fiktion. Sie ist bloßer Ausfluß des Phantasmas ihres Subjekts und erfüllt gerade damit die Bedingung von Identität. Wenn nun Identität selbst zunächst als Fiktion angelegt ist und als Flucht »weg von sich selbst«, hinein in eine phantasmatische Traumwelt beschrieben werden 42

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kann, stellen Identitätskonstruktionen stets den unaufhörlichen Versuch dar, »die Spannung zwischen Leben und Tod und zwischen Liebe und Leid zu ertragen« (Forster 1998: 320). Ödipus’ Konstruktion einer personalen Identität situiert sich genau innerhalb dieses Spannungsfeldes. Eingekreist von den Determinanten getöteten Lebens und leidvoller Liebe, sucht er sich zu behaupten und wählt den Weg einer Investigation der Wirklichkeit. Wo diese sich enthüllt und sein Status der sozialen Differenz in die Eindeutigkeit der sozialen Verwerfung mündet, vollstreckt sich das Schicksal als Urteil und wartet nicht weiter auf den plötzlichen Augenblick seiner Erfüllung. Subjektivität, die sich am Willen zur Macht und am Willen zum Wissen orientiert, bleibt der Kontingenz ihrer Umstände unterlegen – an Ödipus zeigt sich, daß Kontingenz durchaus ein Schicksal sein kann. Personale Identität erscheint als das, was sie ist: ein kleines Kunstwerk für sich, eine fragile Plastik, die vor dem Sturz aufs Pflaster bewahrt werden muß. Die Realisierung von Subjektivität und Identität erfordert kulturelle und soziale Voraussetzungen, die Ödipus in ihrer Mehrheit von Anfang an verwehrt sind. In diesem Sinne bewahrheitet sich an Ödipus das Diktum Walter Benjamins, eine Beziehung auf Unschuld komme im Schicksal nicht vor (vgl. Benjamin 1961: 50). Bezogen auf die griechische Fassung des Schicksalsgedankens führt Benjamin aus, das einem Menschen zuteil werdende Gück sei »ganz und gar nicht als die Bestätigung seines unschuldigen Lebenswandels aufgefaßt [worden], sondern als die Versuchung zu schwerster Verschuldung, zu Hybris« (Benjamin 1961: 49f.). So werden Unglück und Schuld als zwei Kategorien des Schicksals zu Maßen der Person. Wenn in der Tragödie die rechtsetzende Kraft des Schicksals als Verschuldung durch das Subjekt zunächst durchbrochen wird, dann nur, um in Hybris und Gewalt zu enden. Aus dem Schicksal gibt es keine Befreiung; es ist »der Schuldzusammenhang des Lebendigen« (Benjamin 1961: 51).6 Das Schicksal zeigt sich also vorzüglich in der Betrachtung eines Lebens als eines verurteilten Lebens. Recht verurteilt auch zur Schuld. Insofern ist es, folgt man Benjamin, gerade nicht der Mensch, der ein Schicksal hat. Zentral wird somit die Kategorie der Schuld, die sich als soziale Kernkategorie erweist, von der aus sich Sozialität und vor allem auch Moralität konstituiert. Unter Rekurs auf Kant heißt es in diesem Zusammenhang bei Baas: »Die vernünftige Gemeinschaft der Menschen ist die Gemeinschaft ihrer Schuld und/oder ihrer Pflicht (Schuldigkeit), d.h. auch die Gemeinschaft ihres Schuldig-geworden-Seins.« (Baas 1994: 96) Das soziale Leben insgesamt steht demnach unter der Schuld-Metapher. 43

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Gesellschaft ist ohne einen Begriff von sozialer, konstituierender Schuld nicht denkbar; auf dieser beruht »jede empirische politische Gesellschaft« (Baas). Die Schuldgemeinschaft kultiviert sich als Gemeinschaft, die dem einzelnen auch Anerkennung angedeihen läßt. Ohne ein Moment der Schuld bestünde keine Verpflichtung der Einzelnen gegeneinander. Das Subjekt des Schicksals bleibt allerdings unbestimmbar. Es inkarniert sich in einer nomistischen Macht, welche Gesellschaft präfiguriert, ermöglicht und durchherrscht.7 Dieser Nomos sedimentiert sich als sein eigenes Abbild in der Gestalt des Ödipus. Ödipus ist Träger eines Bildes vom Gesetz; er ist der Signifikant einer lebendigen Allegorisierung des Gesetzes. Weil das Gesetz nicht einholbar ist, darf er das nicht wissen. In dem Moment, da er es errät, verfällt er endgültig dem Ausschluß aus der Gesellschaft. Das Schicksal fungiert in diesem Sinne als ein Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem. Jedoch ist ein solcher Bedeutungszusammenhang »nie kausal zu begründen« (Benjamin 1961: 48). Er ist der Wechselwirkung zwischen dem wirkenden Menschen und der auf diesen einwirkenden (gegenständlichen und sozialen) Außenwelt ausgesetzt. So ist kein Subjekt solipsistisch in sich selbst geborgen, sondern wird Subjekt erst, indem es sich der Macht eines Außen ausliefert, das jenseits der Grenze des wirkenden Menschen liegt. Daraus speist sich für Benjamin das Schicksal, das den einzelnen Menschen als Wirkmächtigkeit eines diesen noch umgebenden Außen übersteigt. Nicht der Mensch hat das Schicksal, sondern dieses bemächtigt sich des Menschen, da es als zukünftiges stets schon zur Stelle ist (vgl. Benjamin 1961: 47). Wenn Bultmann also darauf abhebt, daß es einen unmittelbaren Zusammenhang von Geschichte und Gesetz gibt, dann setzt Benjamin hier einen anderen Akzent. Gemessen an Bultmanns Darlegung erscheint Ödipus determiniert durch Geschichte. Er muß dem Gesetz gewordenen Schicksal notwendig entsprechen. Ödipus geht irre, solange er das Gesetz nicht kennt, respektive es nicht wählt. Gleichzeitig beläßt ihn diese Irre in der Illusion, eine nicht festgelegte personale Identität zu besitzen. Als Subjekt kann Ödipus hier nur erscheinen, sofern er seine Bestimmung nicht endgültig aufgedeckt hat. Dennoch kann er auch der Teleologie dieser Bestimmung nicht entgehen. Benjamin hingegen setzt den Akzent gerade auf den verschuldenden Charakter des Schicksals, das eine Schuld hervorbringt, die niemals zu tilgen sein wird. Damit widerlegt er Bultmanns Absicht eines Freiheit verbürgenden Schicksals. Das Schicksal, das man sich erwirbt, setzt den Menschen immer 44

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schon ins Unrecht vor der Welt. Gleichzeitig aber, darin liegt eine Affinität Benjamins zu Bultmann, ermöglicht es als einwirkendes Außen des Menschlichen wie auch des Sozialen den wirkenden Menschen. Dieser wäre ohne ein solches Außen nicht handlungsfähig, ein abgeschlossener Solipsismus seiner selbst. Nur in dem beständigen Ausgreifen über sich selbst hinaus, das wiederum als Schicksal in den Menschen zurückkehrt, werden menschliche Subjektivität und Handlungsmächtigkeit möglich. Wenn Ödipus dies versagt ist, so deshalb, weil ihn sein Schicksal von Anfang an inhärent ist. Ödipus selbst besitzt kein Außen mehr. Zwar bedeutet er auf bildhaft, allegorische Weise das Außen des Sozialen. Er selbst hat deshalb aber noch kein eigenes Außen. Ödipus erscheint als eine extrem introvertierte, introspektive, fast monadische Figur. Dies dem Menschlichen und dem Sozialen Äußerliche ist in Form des Schicksalsspruchs in Ödipus hineingewandert und beschneidet daher dessen basale Handlungsfähigkeit. Weil Ödipus kein solches Außen besitzt, wird er selbst zu einem »Außen« der ganzen Gesellschaft. Darin befindlich ist er Foucault zufolge der »Herrschaft der Repräsentation« entzogen (vgl. Foucault 1993a: 47ff.). Ohne Außen gibt es für ihn kein Bild des Bezugs, keine Adressierung sozialer Relationen mehr. Doch verfalle, wer in dieses im Grunde unzugängliche Außen der Gesellschaft und damit auch des Gesetzes eingehe, zugleich dem tiefsten Vergessen. Daß Ödipus dieses Außen darstellt, zeigt, daß sich in ihm, insofern er Träger eines eindeutigen Schicksals ist, in erster Linie eine symbolische Repräsentation des Gesetzes sedimentiert. Ödipus fehlt die Kontingenz und die Ambivalenz subjektiver Handlungsmächtigkeit. Sein Handeln ist immer schon überlagert durch die in seinem Schicksal vorweggenommene Ergebnisteleologie. Genauso ist ihm die individuelle Handlungsmächtigkeit verwehrt, denn sein Schicksal steht fest, bevor er geboren wird und kann nicht mehr Ergebnis eines subjektiven Prozesses sein. Ödipus’ Handeln bleibt daher hinsichtlich seiner Optionen auf eine Lösung des Schicksalsspruches notwendigerweise konsequenzenlos. Die Bedingung gelungener Individualisierung, auch wenn diese unter dem disziplinierenden Modus der Vergesellschaftung steht, erfüllt er als Schicksalsträger gerade nicht: »Als lebende Beobachter – man könnte auch sagen: als innere Zeugen des eigenen Lebens – übernehmen die Individuen im entstehenden Individualismus die Optik einer Fremdsicht auf sie selbst […].« (Foucault 1993a: 207) Diese Fremdsicht ist Ödipus unmöglich. Da er kein Bewußtsein von seiner Herkunft und davon hat, wer er wirklich ist, muß ihn die eigene 45

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Perspektive auf seine Individualität betrügen. Bestenfalls verführt sie zu einem Entlastungsglauben der thebanischen Gesellschaft gegenüber – »Ich spreche als ein Unbeteiligter, ich habe / mit dem Orakel nichts, nichts mit dem Mord zu tun.« (Sophokles: König Oidipus: V. 219-220) Gerade in seiner Eigenschaft als Fremder fühlt sich Ödipus entlastet, und gerade in der Fremdheit sieht er sein Potential als Krisenüberwinder. Das mag gar nicht so weit hergeholt sein, denn am Ende scheitert er ja nicht an seiner Fremdheit, sondern daran, daß er den Geschehnissen nur zu vertraut war. Schlimmer noch wiegt allerdings seine Selbstüberschätzung, die aus der Verkennung seiner Lage resultiert – etwa wenn er den greisen Seher Teiresias verhöhnt: »Kommen mußte / erst ich, der Oidipus, der gar nichts weiß. Ich stürzte / die Sphinx durch meine Klugheit, nicht nach Vogelschreien!« (Sophokles: König Oidipus: V. 396-399) Jeder Versuch, eine Außenperspektive sich selbst gegenüber einzunehmen, bringt Ödipus nur noch etwas mehr um die Möglichkeit, sich der Wahrheit anzunähern, macht ihn wütender, rasender, verwikkelt ihn in alle Varianten seines Sentiments.8 So nimmt seine Verblendung die spätere Blendung vorweg, denn selbst wo Ödipus die Wahrheit sagt, betrügt diese noch seine Wahrnehmung: »So will ich handeln, voll im Einverständnis mit / dem Gott und dem Ermordeten. Dem Mörder gilt / mein Fluch […].«(Sophokles: König Oidipus: V. 244-246) In diesem Ausruf teilt sich Ödipus selbst entzwei – das vermeintlich integre Herrschersubjekt Ödipus verflucht den noch unentdeckten Mörder Ödipus. Das Bild einer geteilten Subjektivität trifft exakt auf Ödipus zu, der zwischen seinem subjektiven Phantasma von Identität und der Determiniertheit durch das Schicksal changiert. Zumal ein Teil von ihm als symbolische Repräsentation nomistischer Mächtigkeit in Form des Orakels außerhalb des gesellschaftlichen Rahmens steht. Insofern ist Ödipus Träger einer geteilten Subjektivität. Ein anderer Teil von ihm jedoch personifiziert als vermeintliches Subjekt den vermeintlichen Souverän Ödipus im Inneren des Sozialen. Ödipus ist sich dieser Teilung keineswegs bewußt. Wo sie ihm bewußt wird, ist er sozial bereits tot. Um sich als Subjekt zu erhalten, muß er daher auch das Phantasma seiner subjektiven, monadologischen Einheit wahren. Es fehlt Ödipus das Bewußtsein seiner Dividuation. Er kann als der, der er sein will, nur bestehen, solange er für sich selbst bewußtlos bleibt. Die Crux besteht darin, daß Ödipus der Träger eines äußerst modernen Begehrens nach dem Wissen ist, das auf die Aufdeckung von Sachverhalten abzielt. Die Inthronisierung des Wissens soll dem Geheimnis den Garaus machen. Sie zielt auf eine 46

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Perfektionierung der Naturbeherrschung und bewirkt als weiteren Effekt eine subtile Disziplinierung der dem Procedere des Wissens unterworfenen Subjekte (vgl. Blumenberg 1996; Foucault 1983; Kittsteiner 1992). Gegen vielfältigen Widerstand, einschließlich seines eigenen, führt Ödipus die Untersuchung nach dem Mörder von Laios und damit auch nach seiner wirklichen Identität durch – »Diese Spuren werte ich / beharrlich aus und werde meine Abstammung enthüllen.« (Sophokles: König Oidipus: V. 1058-1059) Seine Unbeirrbarkeit wird ihn ins Verderben stürzen. Der Besitz der Wahrheit ist, wo nicht tödlich, so doch verbunden mit der Verwerfung aus der zwischenmenschlichen Welt. Er kann nicht länger, wie Iokaste empfiehlt, »nach Möglichkeit ins Blaue« hineinleben (vgl. Sophokles: König Oidipus: V. 979). In der Verfolgung dieses Begehrens beginnt Ödipus, seine Identität aufzulösen. Die Geteiltheit der Subjektivitä müßte, um subjektiv werden zu können, sich selbst bewußt sein. Die Teilung, welche Ödipus auszeichnet, und ihn als Prototyp eines modernen Bewußtseins ausweist, darf gerade nicht bewußt werden. Sie stützt sich auf ein Phantasma der Ungeteiltheit, das mit seiner eigenen Widerlegung auch sein Subjekt widerlegen wird. Das subjektive Bestreben nach einer Form der Allmacht sedimentiert sich in einer Okkupation des sozialen Raumes. In diesen wird zwar eingedrungen, doch ist es ihm nicht möglich, seinerseits in das Subjekt einzudringen. Das soziale Band zwischen den Subjekten ist somit nicht eines der »Konsubjektivität« (Sloterdijk), sondern es wird monolinear vom Subjekt her vermittels des Begehrens ausgerichtet. Das subjektive Begehren zielt ab auf die Entdeckung der Welt und gleichzeitig auf deren Einverleibung. Von einem solchen Begehren wird auch Ödipus getrieben, wenn er unbedingt und entgegen alle Widerstände zunächst den Mörder des Laios, dann aber die Wahrheit über sich selbst entdecken will. Lyotard schreibt, noch vor dem Bestreben, die »objektiv erste Ursache« des Geschehens zu eruieren, stehe die Tatsache, »daß der Wille, den Ursprung des Übels zu identifizieren, selbst vom Begehren genötigt wird. Denn es gehört zum Wesen des Begehrens, auch die Befreiung von sich selbst zu begehren, weil das Begehren unerträglich ist. Man glaubt also dem Begehren ein Ende zu setzen, und verwirklicht doch nur seinen Zweck.« (Lyotard 1989: 60) Die Verwirklichung des Begehrens konsumiert dessen Subjekt. Das vollendete Begehren hebt sein Subjekt auf und verliert damit auch seinen Gegenstand. Denn Gegenstand des Begehrens ist in erster 47

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Linie gerade nicht das Begehrte, sondern das begehrende Subjekt, dem es inhärent ist und das es immer weiter in ein subjektiv reales Feld hineinführt. Das durch Ödipus artikulierte doppelte Begehren ist das, mit sich identisch zu sein und zu diesem Zweck ein absolut gültiges Wissen über seine Identität zu erlangen. In der Ödipus-Erzählung fallen der Held und sein Gegenspieler, der Detektiv, zusammen. Wenn der Held »in dem Maße zum Schuldigen [wird], wie ihn der Detektiv demaskiert« (Lyotard 1989: 57), zeigt sich bereits darin Ödipus’ personale Zwiegespaltenheit an, die sich konfliktorisch äußert. Die Bewußtwerdung, welche Ödipus damit anstrebt, kann ihm keine Katharsis bringen. Er ist auf die Unbewußtheit seiner zerspaltenen Verfaßtheit angewiesen, um in seinem Phantasma von Subjektivität bestehen zu können. Selbst wo Ödipus unter den Bedingungen der Bezugnahme auf und durch andere in einem »konsubjektiven Raum« (Sloterdijk) agiert, muß er zwangsläufig davon ausgehen, es sei ein monadologischer. Fällt seine eigene Geteiltheit konfliktorisch in sich zusammen, so steht am Ende nicht die Aufhebung, sondern als einzige Alternative die Erfüllung des Orakels und damit auch die Ausstoßung von Ödipus. Diese Verwerfung erfolgt aus dem Raum des Menschlichen, der sich gesellschaftlich im öffentlichen Raum konstituiert. »Jedes Subjekt im realen konsubjektiven Raum ist ein enthaltendes, sofern es anderes Subjektives aufnimmt und erfaßt, und ein enthaltenes, sofern es von den Umsichten und Einrichtungen Anderer umfaßt und verzehrt wird.« (Sloterdijk 1999: 87) Einer solchen Enthaltung will Ödipus, wie das moderne Subjekt überhaupt, dessen Prototyp er ist, sich enthalten. Wo er ihrer, in der Verifikation des ihm versprochenen Schicksals, ansichtig wird, da implodiert auch sein Konzept von Subjektivität, das zwar Selbsterhaltung nach außen, nicht aber Kontextualität nach innen beinhaltet. Ebensowenig beinhaltet Ödipus’ Konzept von Subjektivtät eine Gerichtetheit auf die Zukunft als unbestimmbare Größe. Der Wille zum Wissen, dem Ödipus nachhängt, schließt die Domestizierung der Zukunft in sich ein. Das kann im Falle von Ödipus auch gar nicht anders sein, da er keine Zukunft besitzt, sondern ein Schicksal. Seine Zukunft ist seine größte Illusion. Wenn Iokaste sich in das Urteil der Zukunft ergibt – »Wozu soll man sich fürchten? Wird man doch beherrscht / vom Zufall, gar nichts kann man von der Zukunft wissen« (Sophokles: König Oidipus: V. 977-978) –, dann beugt sie sich der Kontingenz allen Geschehens. Ödipus tut das nicht, weil er bereits ahnt, daß er der Verworfene ist (vgl. Sophokles: König Oidi48

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pus: V. 744-745). Trotzdem will er das Gegenteil beweisen. So verlängert zuerst Ödipus die Beherrschbarkeit der Welt in die Zukunft hinein. Er möchte die Ambivalenz austilgen, die eine existentielle Ungewißheit einschließt. Sein Begehren nach einer Homogenität des Sozialen in Raum und Zeit ist ganz modern; das moderne Subjekt bemüht sich um diese Austilgung von Ambivalenz und einer zukünftigen Ungesichertheit.

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4. Ordnung Folgt man in Hinblick auf Ödipus weiterhin der Unterscheidung zwischen einer profanen und einer symbolisch/transzendenten Identität, dann entspricht es seiner profanen Identität, wenn er die Rolle als Souverän Thebens für sich beansprucht. Es bleibt daher weiterhin fraglich, ob Ödipus diese Stellung des Souveräns überhaupt einnehmen, ob er im Wortsinn souverän sein kann, wenn darin jener transzendent/symbolische Teil seiner Identität faktisch unterlaufen wird. Findet sich in Ödipus nicht vielmehr der Träger eines vom Schicksal ausgehenden Stigmas, das ihn aus der Gesellschaft ausschließt, bis hin zu jenem Punkt, der ihm die Inanspruchnahme profaner Souveränität verwehrt? Zwar ist Ödipus von der Gesellschaft und vom Nomos exkludiert. Dennoch erlangt er aufgrund der seinem Intellekt geschuldeten Verdienste der Rettung Thebens von der Sphinx zunächst die Herrscherwürde. Die symbolische Ebene der Identität des Ödipus – die einer Repräsentation des Gesetzes – ist in der Tat durch ein unpersönlich verhängtes Schicksal gedeckt.1 Sein Schicksal ist eine numinose, vergiftete Gabe der Götter an Laios’ Geschlecht.2 Diese Schicksalsgabe nun macht es Ödipus unmöglich, seine Stellung als Souverän in der Gesellschaft einzunehmen. Als Adressat der göttlichen Gabe (und Ödipus’ Schicksal, weil es durch Apollon, den delphischen Gott gestiftet wird, ist eine Gabe) erleidet er auch deren Mächtigkeit. »Die als Gabe empfangene Sache bindet magisch, religiös, moralisch, juridisch Schenkenden wie Beschenkten. Selbst eine Macht, verschafft sie Macht über den, der sie nimmt.« (Berking 1996: 65f.) Ödipus hat keine andere Wahl als die, an sich selbst schuldig zu werden. Damit verliert er die entscheidende Voraussetzung des Souveräns, nämlich ausschließlich verpflichten zu können, ohne selbst verpflichtet zu sein. Die Souveränität, die Ödipus einnimmt, bleibt illusorisch. Sie gründet sich auf ein Nicht-Wissen um sein Schicksal, da er die bereits vollzogene Gabe noch nicht kennt. Für Ödipus wird es schließlich fatal sein, die längst über ihn gekommene 51

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Gabe seines Schicksals aufzudecken. Die Zeichnung durch sein schicksalhaftes Stigma verunmöglicht es Ödipus schließlich, die Stelle eines Souveräns der profanen gesellschaftlichen Ordnung einzunehmen. Der Souverän ist ein Mittler zwischen den Gewalten. Er ist durch die Transzendenz des Nomos legitimiert, die er in die Gesellschaft hinein vertritt.3 Doch ursprünglich kommt auch er aus dieser Gesellschaft, in der ihn erst seine Initiation zum Souverän enthebt und ihn einer nomistisch verfaßten Transzendenz teilhaftig werden läßt. Stellt Ödipus als Souverän deshalb eine bloße Fiktion dar? Gesellschaftlichkeit gründet sich maßgeblich auf Verhältnisse intersubjektiver Affizierung, wie auch auf die Installierung gesellschaftlicher Souveränität, welche ihren Subjekten die Ordnung und die Grenzen des Sozialen anzeigt.4 Die Stellung des Subjekts dem Souverän gegenüber bleibt aber disparat. Die Befolgung des Nomos entläßt die Individuen nicht aus ihrer Schuld und somit auch nicht aus ihrer Angst gegenüber dem Souverän. In ihm zentriert sich das Potential an Ordnung, das eine Gesellschaft herzustellen fähig ist.5 Solange seine Repräsentation gelingt, gelingt auch die fortwährende Zeugung der Gesellschaft. Deshalb bleibt Souveränität unbedingt verbunden mit der Ermöglichung von Individualität einerseits und mit dem beständigen Fluß einer diskursiven Macht andererseits. Souveränität bildet eine Grenze der Gesellschaft. Sie bezeichnet und garantiert deren grundlegende Dispositive. Im Souverän findet Gesellschaft ihre Abbildung, aber auch ohne sichtbaren Souverän muß sie sich mitteilen können, wenn sie nicht anomisch auseinanderbrechen will. Souveränität ist also selbst eine soziale Institution. Wo sie ihre Subjekte konsumiert hat, ist sie ganz auf ihrer Höhe. Es ist eine konsumierende Souveränität, die jene identische Ordnung gewährleistet. Seine Rechtfertigung bezieht der Souverän aus der nomistischen Sphäre, die Bedingung für die soziale Ordnung ist. Indem er als dieser zugehörig gilt, vermag er auch die profane Ordnung zu beherrschen, weil er die heilige Ordnung repräsentiert.6 Ödipus ist tatsächlich nicht dazu in der Lage, eine soziale Institution zu repräsentieren, da er, bedingt durch sein Schicksal, bereits pejorativ eine symbolische Repräsentation des Nomos abgibt. Seine Eigenschaft als Agent einer symbolischen Repräsentation des Nomos erlaubt es nicht, diese Repräsentation an ihm auch sozial praktisch werden zu lassen. In diesem Sinne stellt Ödipus eher eine Allegorisierung des schicksalstiftenden Nomos dar.

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4. ORDNUNG

Nach Gehlen bedeutet die »allen Institutionen wesenseigene Entlastungsfunktion von der subjektiven Motivation und von dauernden Improvisationen fallweise zu vertretender Entschlüsse [eine] der großartigsten Kultureigenschaften« (Gehlen 1986: 43). Sie garantiere eine kulturelle und ontologische Stabilisierung und damit auch eine Absicherung der einzelnen Existenz im Allgemeinen. So soll die im Zuge der kulturellen Institutionalisierung bewirkte »Habitualisierung des Verhaltens« (Gehlen) selbst wiederum produktiv werden, da sie eine Entlastungschance für kulturelle Fortentwicklung gegenüber einer ansonsten übermächtigen Wirklichkeit bietet. Diese Wirklichkeit konstituiert sich gesellschaftlich in Form einer Institutionalisierung des Realen. So wird das Reale zum Bild dessen, was wirklich ist, als Wirkliches aber zugleich unerreichbar ist. Erst die Institutionen schaffen Gehlen zufolge denjenigen Kontext von Wirklichkeit, worin Menschen sich soziabel begegnen können. Die nackte Wirklichkeit stünde dem entgegen. Kulturalisation im Sinne Gehlens benötigt ein Fundament, das noch vor dem Bewußtsein liegt und dem Einzelnen eine klare Sicherheit seiner sozialen Existenz vermittelt. Einer sozialen Existenz, die aus einem subjektiven Phantasma heraus entsteht, das durch Vergesellschaftung domestiziert wird. Dieses »fundamentale Bedürfnis nach Grundsätzlichem und Stabilem«, welches sich in den Institutionen verwirkliche, bezeichnet Gehlen als »moderne Form der Magie« (Gehlen 1986: 44). Die Institutionen koppeln sich sukzessive von den Menschen ab, die sie hervorbrachten und werden zu Garanten des Realen, indem sie das Phantasma ermöglichen; sie repräsentieren weniger eine artifizielle Schöpfung, als vielmehr ein schöpfendes Apriori. Auf dieser Folie entsteht schließlich Subjektivität als eine, die menschliche Kultur, Menschliches überhaupt, gewährleistet und von der bloßen Numinosität überleitet in die bürgerliche Variante einer vergesellschafteten Form der Autonomie. Für Gehlen induziert die Institution den Gründungsmythos der Gesellschaft. In ihr überlagern sich subjektive Emanzipation als Sicherung der Welt für den Menschen und ein mythologisches Beharren in Form der unhinterfragten Hintergrundserfüllung und der Bestandsgültigkeit der Institutionen. »Das naive und tiefe Bedürfnis der Menschen nach Stabilität der Welt, empfunden durch ihre uns zugekehrten Schwerpunkte hindurch, ist also immer zugleich das nach der Hintergrundserfüllung auf Dauer, nach der beibehaltenen Bedürfnisdeckungslage, aber dieses wieder ist das nach Entlastung und nach der Vollzugsfreiheit höheren Verhaltens überhaupt.« (Gehlen 1986: 56) 53

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ÖDIPUS

In einer Replik darauf hat Taubes, der die Unumgänglichkeit kultureller Institutionalisierung durchaus anerkennt, angemerkt, daß die Institutionen, die das Individuum tatsächlich erst konstituieren, es im Akt der Konsumtion auch wieder okkupieren: »Die gesellschaftlichen Konflikte schlagen ins Leben des Individuums zurück, und die geschichtliche Konstellation gerinnt in der Krankengeschichte des Individuums.« (Taubes 1970: 86) So bleibt das Individuum immer ein Anhängsel seiner heteronomen Institutionen, die ihm den Weg zu Mündigkeit und Autonomie versperren. Derart manifestiert sich durch die gesellschaftlichen Institutionen die symbolische Ordnung des Realen. Sie entzieht das Individuum auch sich selbst und ermöglicht ihm nicht nur soziale Handlungsfähigkeit, sondern lehrt es zudem die Notwendigkeit blinder Unterwerfung. Entsprechend stellt Žižek fest, die Zeit des Subjekts sei diesem niemals gegenwärtig. Das bedeute, »daß das Subjekt niemals ›ist‹, daß es nur ›gewesen sein wird‹: wir sind niemals frei, erst im nachhinein entdecken wir, wie frei wir gewesen sind« (Žižek 1994: 71). Subjektwerdung im Kontext der Institutionalisierung legt daher eine paradox wirkende Dialektik offen. Die Menschwerdung als Subjekt findet darin nur um den Preis der Aufgabe einer Subjektivität statt, die an die apriorische, souveräne Institution abgegeben wird. Taubes nennt das ein »molochitisches Opferritual«. Geschichte selbst, und damit der institutionelle Diskurs von Subjektivität, vollzieht sich als »verwaltendes Geschick« (Taubes 1970: 93). Subjektivität gerät zum Anhängsel der gesellschaftlichen Apparatur. Sie muß, gerade aus Gründen der sozialen Ordnung, der Abwehr von Devianz und Anomie, auf ein Minimum beschränkt werden, damit sie im Vergesellschaftungsprozeß überhaupt garantiert werden kann. Die Institution als Herrschaftszusammenhang rechtfertigt sich nach Taubes, indem sie sich eine Aura des schicksalhaft Unabwendbaren zulegt. Damit kehrt das mythologische Konstrukt einer Legitimierung gesellschaftlicher Gewalt zurück. Sie entspringt einem Zusammenhang des Nomos, der selbst als apriorisch verfaßt gilt. Als solcher wird der Nomos zum Garanten der symbolischen Ordnung. Das eine gibt es nicht ohne das andere. Ihre chiasmatische, unentrinnbare Struktur jedoch verhärtet die Vorstellung vom Schicksal, das nicht zu durchbrechen sei und drängt damit das Vertrauen in subjektive Handlungsmächtigkeit zurück. Anders als für Bultmann, der das Schicksal noch der Subjektivität selbst und ihrem Wirken in der Welt entspringen sah, ist der Begriff des Schicksals so verstanden dem Begriff von Herrschaft synoym: »Im Begriff des Schicksals, der den Menschen blinder Herrschaft unterstellt, reflek54

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4. ORDNUNG

tiert sich die Herrschaft, die Menschen ausüben.« (Taubes 1970: 91) In dieser Perspektive einer funktionalen Erhärtung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse gerinnt »Schicksal« zu einer Metapher der Institutionalisierung. Die kulturellen Institutionen, die der Mensch hervorbringt, um daraus als Subjekt hervorzugehen, besitzen die Macht des Schicksals im Mythos. Orakel, Schicksal, Mythos sind äquivalente Kategorien zur modernen Institution der Vergesellschaftung. Für diese Mythologisierung der Institution als unentrinnbarem Schicksal steht Ödipus paradigmatisch ein. Sein Schicksal ist dasjenige, dem man sich nicht entziehen kann. Wer das tun und sich entziehen will, handelt gegen sich selbst und erfüllt das Schicksal am Ende trotzdem. Genauso funktioniert der moderne Mythos, der besagt, man könne sich nicht um ein Jota den sozialen Institutionen entziehen. Die durch Max Weber erfolgreich in die Welt gesetze Version von der modernen Gesellschaft als jenem »stahlharten Gehäuse«, welches seine Subjekte mütterlich totalitär in sich einschließe, mythologisiert deren mangelnde Handlungsmächtigkeit (vgl. Weber 1988: 203). In einem stählernen Gehäuse, das kein Außen mehr kennt, hieße jeder »Ödipus«. Auch deshalb kann Ödipus kein wirklicher, sondern nur ein scheinbarer Souverän sein: er selbst stellt eine Allegorie der sozialen Institutionalisierung dar. Notwendig bewegt er, der selbst Signifikant eines Phantasmas ist, sich ausschließlich in den Bahnen des vorgezeichneten Schicksals. Er ist ein Opfer der ihm eigenen Illusion, mündiges Subjekt sein zu können. Obschon er um dieses Verhältnis hätte wissen, es zumindest hätte erahnen können. Das Problem, mit dem sich Ödipus konfrontiert sieht, liegt darin, daß er gerade in seiner Eigenschaft als handelndes Subjekt nur ein Bild seiner selbst ist. Sofern er zu sich kommt, entsagt er auch dem subjektiven, kontingenten Handeln. Hier setzt jedoch Ödipus’ Verdrängung ein. Für die Gewalt des ihm durch das Orakel offenbarten Schicksals interessiert er sich nicht. Später hingegen entfacht er einen unstillbaren Durst nach Wissen. Dieser Wissensdurst richtet sich allerdings nicht auf die Wirkmächtigkeit des Schicksals, dem Ödipus unterworfen sein soll, sondern es treibt ihn das bloße, radikale Verlangen danach, um den Grund des Schicksals zu wissen. Nicht das Schicksal selbst interessiert Ödipus. Das gälte es, wie Teiresias verdeutlicht, geduldig zu ertragen, anstatt es durch Könnerschaft im Rätsellösen zu depotenzieren und in subjektives Wissen überführen zu wollen.7 Ödipus will wissen, woher das Schicksal stammt, es geht ihm um die Frage der Kausalität, die seiner subjektiven Einwilligung in das Schicksal vorausgehen muß. Damit berührt 55

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ÖDIPUS

er eines der Kernprobleme von Vergesellschaftung. Setzt man soziale Kausalität voraus, so entkräftet man damit auch die Handlungsmächtigkeit der Subjekte. Kausalität innerhalb der Gesellschaft ist das prekäre Gegenteil einer Autonomie des Subjekts, wie sie sich gerade Ödipus als eingebildeter Souverän wünscht. Ödipus kämpft gegen den Diskurs der Macht. Er will herausfinden, ob er die Gesellschaft dominiert oder das Abstraktum Gesellschaft ihn. Es ist dieser konfliktorische Aspekt an Ödipus, der ihn von einer bloßen Repräsentation der symbolischen Ordnung und aus der bloßen Agentenhaftigkeit diskursiven Reglements abhebt. Wo Ödipus die Legitimität des Schicksals in Frage stellt und ihm zuerst zu entkommen, es dann zu enthüllen sucht, greift er nach dem Motiv einer sich selbst gewissen Subjektivität, die die Möglichkeit von Souveränität in sich trüge. Erst eine souverän gewordene Subjektivität wäre frei von der Herrschaft eines blinden, institutionellen Schicksals. Sich dem Schicksal nicht zu fügen, das Taubes wie Gehlen als Agentur der Subjektgenerierung benennen, bedeutet den entscheidenden Schritt hin zu Subjektivität und Mündigkeit. Indem Ödipus das Schicksal verweigert, klagt er für sich Subjektivität kompromißlos ein. Ödipus versucht den verzweifelten Kraftakt einer Loslösung vom eigenen Schicksal oder: von der Institution. Der von Kant in »Was ist Aufklärung?« formulierten These, die Unmündigkeit des Menschen sei selbstverschuldet, setzt Taubes entgegen, dies sei so moralistisch wie individualistisch gedacht. Unmündigkeit sei vor allem sozial und geschichtlich und erst danach subjektiv bedingt: »Vergangenheit und Gegenwart der Gesellschaft sind die Schuld, die das Individuum trägt und abträgt […].« (Taubes 1970: 86) So bleibt Gesellschaft gezeichnet durch eine Schuld, die sie den Subjekten aufgibt und aus der heraus sie sich begründet. Ödipus versucht, sich vom Primat der Schuld zu befreien, um für sich frei zu werden. Ganz gegenteilig definiert aber Schwan, Schuldbefreiung heiße nicht, Schuld abzuweisen, sondern sie zu übernehmen. Frei durch Schuld werde, wer sie sich inkorporiert und subjektiviert. Auf diese Weise stünde ein jeder für sich subjektiv für eine gesellschaftlich konstituierte Schuld ein. Schuld ist dann das letztgültige Scharnier zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft (vgl. Schwan 1997: 46). Es kann nicht verwundern, wenn Schwan die soziale Kategorie der Schuld sozial verallgemeinern und positivieren möchte: »Der Umgang mit Schuld, der echte Gemeinschaft stiftet, liegt in wahrhaftiger Selbstdurchleuchtung, in ›Reinigung‹ und Wiedergutmachung.« (Schwan 1997: 52) Diese Schuld und das durch sie gerechtfertigte Schicksal 56

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4. ORDNUNG

nimmt Ödipus bis zum Schluß nicht an. Seine akribische Selbstdurchleuchtung soll ihn bereits von der leisesten Ahnung einer Schuld frei machen. Indem er sich gegen sein Schicksal und dessen Schuldinhalt auflehnt, es zu umgehen versucht, versucht er als Einzelner in einer vom Schicksal verwalteten Welt mündig zu werden und sich als Subjekt vor der Macht des Schicksals zu positionieren.8 Paradoxerweise macht gerade der Versuch, das Orakel nicht zu erfüllen, Ödipus zu dessen Erfüllungsgehilfen. Auf dem Weg nach Theben, fort von Korinth und den vermeintlichen Eltern, stößt er auf seinen Vater und tötet ihn. Anschließend, da er König von Theben geworden ist, nimmt er seine Mutter Iokaste zur Frau. Baas hat eine solche Konstellation das »doppelte Gesetz« genannt, welchem die Subjekte durch das »öffentliche Ding« Gesellschaft unterworfen seien: »Das öffentliche Ding macht uns zu einem Sein, das schuldig ist (in der Schuld steht), und droht uns damit, (eines Verschuldens) schuldig zu sein. Genauer: wir verurteilten uns, (eines Verschuldens) schuldig zu sein, wenn wir für uns in Anspruch nähmen, uns von einem Schuldigsein (im Sinne eines In-der-SchuldStehens) freisprechen zu können.« (Baas 1994: 120) Ödipus scheint schon deshalb nicht als Souverän geeignet zu sein, weil er der Unentrinnbarkeit seiner Vergangenheit sowie seiner Familie ausgesetzt ist. Sie bezeichnet die Schuld, welche sein Schicksal formt und macht ihn latent unmündig. Damit verliert er endgültig seine Illusion von Subjektivität. Die Macht des Schicksals muß er sich erst beweisen, indem das Schicksal ihn den Mörder des Laios finden läßt. Die unnachgiebige Investigation nach dem Mörder enthüllt Ödipus am Ende sich selbst. Sie offenbart die Macht des Schicksals über jeden Einzelnen. Zwar erlaubt der soziale Diskurs das Handeln, und ist die Macht auch produktiv, indem sie ihren Subjekten Mittel zur sozialen Reproduktion in die Hand gibt. Der Diskurs als Schicksal ist jedoch insofern restriktiv, als er seine bewußte und endgültige Überschreitung nicht duldet. Die Ordnung des Sozialen bleibt gebunden an die Anerkennung der dem Sozialen von den Individuen selbst gesetzten institutionellen Grenzen – »Nicht lebbar wird das Leben, wenn man die lebensspendende Macht der Ordnung nicht anerkennen will.« (Forster 1998: 349) Subjektivität hat selbst ihre Grenze an der symbolischen Ordnung, die sie zwar überschreiten, aber nicht aufheben kann. Das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Institution besitzt auf Seiten der Institution eine enigmatische Dominanz. Wenn Subjektivität ihre Herkunft und ihre Begrenzung in der sozia57

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len Institutionalisierung findet, dann wird sie niemals dazu in der Lage sein, sich von der Institution zu emanzipieren. Wenn Taubes also ausführt: »Alle Emanzipation heißt Rückführung der menschlichen Verhältnisse auf den Menschen selbst« (Taubes 1970: 95), dann offenbart er damit zwar seine ungelöschte Hoffnung auf eine Überwindung der Institutionen durch mündig gewordene Subjekte. Er verkennt aber die vorher von ihm selbst betonte Notwendigkeit dieser Institutionen und deren grundsätzliche Hegemonie über das Reale. Ohne die Produktion eines Phantasmas des Realen im Kontext der sozialen Institutionen wäre das Leben tatsächlich nicht lebbar. Die Ordnung der Gesellschaft als eine Ordnung des Diskurses setzt für das Subjekt die transzendente Grenze des Nomos und des Schicksals. Wer diese, wie Ödipus, nicht anzuerkennen bereit ist, verfällt selbst dem Verdikt, nicht anerkannt und aus der gesellschaftlichen Ordnung verstoßen zu werden. Das ist die Tragik des Ödipus: sein dringender Wunsch nach Anerkennung führt zur Verstoßung. »Denn das Anerkennen verhält sich zum anderen gerade so, daß sich das Anerkennen in eine voraussetzende Bestätigung und in eine entwerfende Stiftung des Anzuerkennenden spaltet.« (García Düttmann 1997: 52) Wer anerkannt ist, ist deshalb noch nicht gesichert als er selbst, doch im Morast der sozialen Verhältnisse hat er Grund unter den Füßen. Ödipus aber sinkt nur immer tiefer ein.

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4. ORDNUNG

5. Souveränität Das Problem einer durch Ödipus vertretenen Souveränität resultiert also daraus, daß dieser ohnehin schon aus dem Außen des Sozialen kommt. Mitten durch Ödipus hindurch geht ein Hiatus des Gesetzes. Das Gesetz spaltet ihn nicht bloß so, wie das eine ethische Forderung tut – »Der Mensch ist in sich selbst gespalten und zerrissen durch den Gegensatz zwischen sinnlichen Gefühlen und verstandesmäßigen Einsichten […].« (Bernet 1994: 30) Der Hiatus teilt ihn vielmehr in unterschiedliche Modifikationen einer symbolischen Repräsentation, denen er nicht mehrfach entsprechen kann. Die Entsprechung funktioniert nur solange, wie weder Ödipus noch die Thebaner von diesem Hiatus wissen. Sobald sie wissen, daß Ödipus selbst Träger einer Repräsentation der symbolischen Ordnung ist, hat er sein Schicksal als Subjekt wie auch als Souverän verwirkt und kann nicht mehr an Gesellschaft teilhaben. Die Gewalt des Souveräns und seiner Institution muß anonym sein. Wenn die Institution bzw. derjenige, der sie repräsentiert, transparent wird, ist die suggestive Funktionalität von Gesellschaft aufgehoben. Dennoch hatte Ödipus einmal zum Souverän erhoben werden können. Diesen Platz einzunehmen, war zum fraglichen Zeitpunkt der Bedrohung Thebens durch die Sphinx niemand außer ihm in der Lage. Genauso wie die Sphinx gehört auch Ödipus nicht in den Kontext des Sozialen. Aus diesem Grund konnte er allein der Sphinx ebenbürtig gegenübertreten: weil beide durch eine Gemeinsamkeit verbunden waren; jedoch ohne, daß er oder die Sphinx das gewußt hätten. Damit hatte Ödipus, ohne selbst davon zu wissen, der Sphinx etwas voraus, die ihm (wie er sich selbst) im Kontext profaner Anthropozentrik begegnete und ihm ihr Rätsel präsentierte. Die Sphinx, deren Trumpf darin bestand, über ein exklusives Wissen zu verfügen, wußte nicht, daß Ödipus in Wirklichkeit ein Heros war, daß auch er seinen Ort im Außen der Gesellschaft hatte. Also konnte er sie besiegen, weil er der Sphinx glich, beide das aber nicht ahnten. »Es gab einmal eine Zeit in der Weltgeschichte, in der Rätsel 59

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noch mehr waren als ein Zeitvertreib für Kinder, eine Zeit nämlich […], in der ein Rätselwettstreit zu einer Angelegenheit von Leben und Tod werden konnte.« (Sagan 1987: 200) Das ist auch hier der Fall. Ödipus obsiegt aufgrund seiner verdeckten symbolischen Repräsentation des Gesetzes, die ihn aus der Gesellschaft heraushebt, die ihn zum Fremden macht und das Fremde töten lassen kann. Er selbst aber weiß nichts von alledem.1 Gleichzeitig erkennt Ödipus zwar im Rätsel der Sphinx den Menschen, nicht aber sich selbst. Das Rätsel, das die Sphinx den Vorübergehenden stellt, ist schließlich auch eine Paraphrase auf das Diktum des delphischen Orakels: »Erkenne Dich selbst!« Die symbolische Repräsentation des Nomos, die Ödipus anhaftet, ist nicht identisch mit seiner subjektiven Repräsentation als herrschender Souverän. Sie ist verdeckt und muß mühevoll aufgedeckt werden, wenn sie nicht nur als numinoses Schicksal zu sich kommen soll. Indem Ödipus sie schließlich aufzudecken sucht, sucht er sie auch zu widerlegen. Denn im Grunde will er gerade nicht wissen, daß er als schlichter Agent des numinosen Schicksals agiert. Seine Absicht ist es, seine Subjektidentität definitiv zu beweisen, indem er Laios’ Mörder findet und sich selbst damit in seiner Position als legitimer Souverän Thebens rechtfertigt. Die Bestimmung dieser sozialen Position des Souveräns hat Carl Schmitt ausdrücklich unter die kategoriale Gewalt der Theologie gestellt. Also transzendiert der Souverän die Gesellschaft, der er vorsteht. Der Souverän besetzt den gesellschaftlichen Ort einer absoluten Entscheidungsgewalt. Zudem setzt er, da er über den Ausnahmezustand verfügt, auch die Grenzen des Sozialen; er definiert den Innenraum des Sozialen. So hält der Souverän eine Macht inne, die er nur überschreiten kann, indem er sie verliert. In ihm sedimentiert sich ein Bild von der Gesellschaft, der er vorsteht; in ihm findet Gesellschaft ihr Bild und ihre Sprache. Die profane Gesellschaft kommt erst und nicht anders zu ihrer Ordnung, als daß sie eine numinose Instanz der Geltung installiert, auf die sie sowohl sinnhaft als auch normativ rekurrieren kann. Deshalb kann Schmitt auch sagen: »Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.« (Schmitt 1993: 43) Sie seien es sowohl ihrer historischen, ideengeschichtlichen Entwicklung zufolge, als »auch in ihrer systematischen Struktur, deren Erkenntnis notwendig ist für eine soziologische Betrachtung dieser Begriffe« (Schmitt 1993: 43). Die Setzung des Souveräns erfolgt nicht gänzlich willkürlich, doch seine Rechtfertigung entstammt nicht der Gesellschaft, sondern einem numinosen Außen derselben. Als dieses Außen verankert der Souverän den Nomos einer göttlichen 60

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5. SOUVERÄNITÄT

Gewalt im Profanen. Sein Mittel ist das der Entscheidung, wie Schmitt es paradigmatisch bei Hobbes verwirklicht sieht – »Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut.« (Schmitt 1993: 18) Der Kontext des Souveräns ist die Gewalt über den Ausnahmezustand, jener Zustand, worin Gesellschaft sich ganz in die Figur der Souveränität zusammenzieht. Insofern scheint es folgerichtig, daß für Schmitt das Subjekt der Souveränität dieser Souveränität bereits entspricht; zwischen Signifikant und Signifikat gibt es in diesem Fall keine Differenz (vgl. Schmitt 1993: 14). Die Entscheidungsgewalt ist absolut. Die Differenz besteht vielmehr zwischen der Souveränität und der Ordnung, die sie letztlich verbürgen soll. Die Souveränität muß dieser Ordnung enthoben sein, sofern sie sie setzen und bestimmen soll. Sie muß ihr andererseits aber auch angehören, sofern sie diese Ordnung repräsentieren und aus ihr heraus ihre Legitimität erfahren soll. Taubes konstatiert daher richtigerweise: »Das Prinzip der Hierarchie setzt in allen seinen Manifestationen einen Souverän voraus, der ›jenseits‹ der Ordnung steht, der gegenüber dem System des Gesetzes ›transzendent‹ bleibt, der als ›prima causa‹ das System der Ordnung garantiert.« (Taubes 1996: 260) Taubes irrt aber, wenn er meint, dieses Modell sei nur für ein hierarchisches System gültig, in einem demokratischen dagegen hinfällig. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Gerade die demokratische Ordnung benötigt dringlich Medien ihrer Rechtfertigung und Orte zu ihrer symbolischen Manifestation.Wo die Souveränität objektiv ausgetrieben sein soll, aber dennoch Normativität, die immer mit dem Prinzip des Nomos verzahnt bleibt, auch innerhalb des Politischen Gültigkeit beansprucht, da gibt es auch einen Ort dieser jenseitigen, transzendenten Souveränität. Auch die Republik zehrt noch von einem Begriff der Ausnahme, das hat nicht nur die französische Revolution vorgeführt, selbst dann, wenn ein profanisierter Ausnahmezustand mitunter wirken mag wie seine eigene Groteske. Der soziale Ort der Souveränität liegt immer in der symbolischen Ordnung der Gesellschaft begründet. In letzter Instanz rekurriert Gesellschaft immer auf einen Begriff der Souveränität, der sich über eine aus einem Schuldverhältnis konstituierte Ethik begründet. Der freie Diskurs autonomer Einzelner findet bloß in deren Vorhof statt. Im Gegenteil kann der Diskurs der Bürger nur dann gelingen, wenn er durch einen souveränen Nomos gedeckt bleibt, der ihn nicht ins Chaos abgleiten läßt. Ödipus aber, der diesen Diskurs sogar als Souverän zu führen bereit ist und ihn schließlich durch seine 61

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ÖDIPUS

souveräne Machtfülle pervertiert, greift die Ordnung der Gesellschaft direkt an. Der Souverän führt keinen öffentlichen Diskurs; er rechtfertigt ihn nur durch seine Anwesenheit. Der Diskurs muß zusammenbrechen, wo er keine transzendente Rechtfertigung durch den Souverän mehr besitzt. Das geschieht, wenn der Souverän sich aus seiner Stellung löst und selbst am diskursiven Räsonnement teilnimmt. In dieser Situation droht das Chaos in die Gesellschaft einzubrechen, das der Souverän durch die Verfügung über den Ausnahmezustand bislang hatte aufhalten können. Im Chaos verschwindet die Gesellschaft und mit ihr natürlich auch ihre Ordnung. »Es gibt keine Norm, die auf ein Chaos anwendbar wäre. Die Ordnung muß hergestellt sein, damit die Rechtsordnung einen Sinn hat. Es muß eine normale Situation geschaffen werden, und souverän ist derjenige, der definitiv darüber entscheidet, ob dieser normale Zustand wirklich herrscht.« (Schmitt 1993: 19) In dieser Vorgehensweise sucht sich auch Ödipus zu bestätigen, dem einzig an der Wiederherstellung der Ordnung gelegen ist. Ödipus verwirft seine Position als Souverän, indem er in den Diskurs der Bürger, in den argumentativen Widerstreit eintritt. Der argumentative Diskurs allerdings kann den Souverän absolut nicht gebrauchen und bricht im Ausnahmezustand ab. Der Ausnahmezustand, wie der Souverän, müssen diesem Diskurs, der nur bei grundsätzlich egalitären Teilnehmern funktioniert, deshalb transzendent bleiben. Ödipus verliert seine profane Souveränität als transzendenter Sachwalter der Gesellschaft in dem Augenblick, da er sich bewußt nicht nur seinem Schicksal entgegenstellt, sondern ihm außerdem über den Diskurs kommunikativen Handelns auf die Spur kommen will. Darin liegt die Crux einer über sich hinausschießenden Vernunft, die noch ihre Begrenzung in sich hineinholen möchte. Wo der Souverän sich über die ihm eigene Entscheidungsgewalt definiert, da definiert sich das menschliche Subjekt über seine Handlungsmächtigkeit. Beides schließt sich zwar nicht aus, doch besteht bei weitem keine Deckungsgleichheit. Es gibt noch einen anderen Entwurf von Souveränität, der mit dem Schmitts in Teilen korrespondiert, und dessen Stoßrichtung sich Ödipus gleichfalls anzunähern versucht. Dieser Entwurf stammt von Bataille. Er führt das Begehren des Subjekts aus, in seiner eigenen Souveränität sich des Souveräns zu entledigen und beides – das Selbst und den Souverän – in sich zusammenfallen zu lassen. Dann existierte nur noch ein solipsistisch verfaßter Nomos des Sozialen, der nicht mehr die Ordnung der Gesellschaft gewährleistete, son62

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5. SOUVERÄNITÄT

dern die souveräne, ethische Autarkie des Einzelnen. Ganz wie die Schmitts ist diese Konzeption von Souveränität dezisionistisch angelegt als eine Form der »Autonomie von Entscheidungen« (Bataille 1978: 47). Bataille schließt damit an die antike, besonders die aristotelische Philosophie vom Menschen an. Die kannte zwar kein Programm des Subjekts oder der Subjektautonomie, wußte aber sehr deutlich zwischen freien und souveränen Bürgern sowie arbeitenden Bürgern und Sklaven zu unterscheiden. Der souveräne Mensch Batailles entspricht weitgehend dem antiken, souveränen Bürger. Er nimmt eine Freiheit oberhalb deren üblicher, durch die allgemeine Vergesellschaftung umgrenzten Möglichkeiten ein. Gegenüber der objektiven Freiheit, die das Soziale verspricht, bedeutet die seine einen Mehrwert. Der souveräne Mensch ist dem Nomos vielleicht nicht gänzlich enthoben, aber zwischen diesem und ihm steht nicht mehr die Institution eines Souveräns. Demnach ist nach diesem Modell der souveräne Mensch sein eigener Souverän, jedoch ohne der Souverän der ganzen Gesellschaft zu sein. »Souveränität«, führt Bataille aus, »kommt allein demjenigen zu, der prinzipiell alles negiert, was die Autonomie seiner Entscheidungen einschränkt.« (Bataille 1978: 48) Diese Souveränität repräsentiert zuallererst eine neurotische Monadologie. Das ändert allerdings nichts daran, daß sie zum Ideal einer absoluten Freiheit des bürgerlich verfaßten, autonomen Subjekts avancieren konnte. Sie lebt von den Grenzen, die sie sich im Bewußtsein ihrer Fallibilität selbst setzt; ihre Moral ist nicht sozial sondern strikt solipsistisch ausgerichtet. Es ist die Moral des Einzigen, der keinen Anderen mehr hat, außer sich selbst. An einer solchen Souveränität müssen Ethik und eine Praxis der Anerkennung scheitern. Der souveräne Mensch anerkennt nur sich selbst und die Macht seiner Entscheidungen, die seine unbestimmte Grenze repräsentieren. Deshalb kann seine Freiheit auch nur die einer Herrschaft über andere sein. Der souveräne Mensch hat keinerlei Begriff von einer pluralen Freiheit. Seine Freiheit ist grundsätzlich antagonistisch und elitär. Eine Gesellschaft souveräner Subjekte bliebe angewiesen auf Parias. Das souveräne Subjekt ahnt nicht einmal die Möglichkeit einer Freiheit für die ganze Menschheit. Folgerichtig grenzt Souveränität nach Bataille sich scharf vom kantisch oder rousseauistisch geprägten Freiheitsbegriff ab: »Wir bezeichnen gewöhnlich als Freiheit, was nur ein freiwilliger Verzicht auf Freiheit ist.« (Bataille 1978: 47) Wer sich dem Gesetz unterwerfe, um darin seine Freiheit zu finden, sei zwar »ein freies Wesen, aber er ist kein souveränes Wesen« (Bataille 1978: 47), at63

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tackiert Bataille die aufklärerische Vermengung von Freiheit und Verpflichtung. Diese Freiheit bleibt ein Phantasma, wirkliche Freiheit hingegen braucht Souveränität, um nur durch selbst gesetzte Grenzen begrenzt zu sein. Diese Form der Freiheit strebt Ödipus an; er möchte unbedingt sein. Als Souverän fühlt er sich nur sich selbst verpflichtet. Das Gesetz, dem er folgt, ist sein eigenes. Ödipus’ Verständnis des Gesetzes erinnert deutlich an das von Bataille entworfene. Die kantische Version hingegen, die das Gesetz als freiwillig auferlegte Pflicht auslegt, worin man frei wird, indem man sich unterwirft, schließt Ödipus aus. Auch die Modi der Vergesellschaftung treiben die Teilung, welcher das Subjekt ohnehin schon unterworfen ist, noch weiter voran, da sie die Gesellschaft dem Subjekt einschreiben. Das intendiert eine Tendenz zur sozialen Entfremdung. Dieser entgegen strebt Bataille zufolge ein allgemeines Verlangen nach Souveränität. Das Bestreben nach Souveränität ist die gegenstrebige Entwicklung von Menschwerdung und Kulturalisation. Das Phantasma der erlangten Souveränität will sich der Schuld und des Verbots entledigen; es kennt nicht mehr die Praxen einer Vergesellschaftung, die der »Konsubjektivität« verpflichtet bleibt. Bataille sieht aber sehr wohl, daß es gerade diese Bereiche sind, die die Souveränität zu überwinden trachtet, die zugleich den Menschen schaffen. Er ist durchaus der Ansicht, »daß mit den Verboten das wesentlich menschliche Verhalten eingeführt wurde« (Bataille 1978: 51). Die Verbote verändern die menschliche Animalität und schaffen den Grund der conditio humana. Ihre eindringlichste Entäußerung finden sie bekanntlich hinsichtlich des Umgangs mit Tod und Zeugung. Beide werden durch rituelle Praxen des Tabus belegt. Es stellt sich die Frage, ob Ödipus, der – zumal als Souverän – diese Tabus bricht, nicht auch eine Allegorie auf diese den Menschen schaffenden Verbote darstellt (vgl. Durkheim 1994).2 Wenn sie ihre negative Materialisierung in Ödipus fänden, der sie im Verlangen nach einer strikt unbegrenzten Souveränität zu überschreiten sucht, dann verschmölze Ödipus in persona mit jener die conditio humana begründenden Instanz des Verbots; er selbst wäre dessen sichtbare Manifestation außerhalb einer nomistischen Transzendenz. Das unterstriche, daß es sich bei der Figur des Ödipus um ein personifiziertes Phantasma der symbolischen Ordnung handelt, worin sich dessen wesentliche Aspekte – Gesetz und Verbot – vereinen. Gleich in mehrfacher Hinsicht bezeichnet Ödipus eine allegorische Figur gegenüber der Welt des Sozialen, in die er geworfen ist und an der er de facto genau deshalb nicht teilhaben kann, weil er ihre verkörperte Repräsentation ist, weniger ihr Be64

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5. SOUVERÄNITÄT

standteil. Daß er lebt, verdankt er dem Irrtum über sich selbst, ein Mensch zu sein wie jeder andere. Als allegorische Repräsentation steht Ödipus sowohl für das Gesetz des Sozialen wie auch für dessen Differenz ein. Ödipus scheitert so gesehen schließlich aus dem einen Grund, daß er als Souverän noch seine scheinbar letzte nomistische Begrenzung abwerfen möchte. Er möchte als Souverän nicht bloß mit dem Nomos ineins fallen, sondern er möchte es selbst sein, der den Nomos setzt. Damit verlangt Ödipus, nicht mehr nur eine Repräsentationsfigur des transzendenten Jenseits der Gesellschaft zu sein, sondern selbst der Gesellschaft transzendent zu werden. Daß er, der sich durch sein Schicksal ohnehin schon, wenn auch unwissentlich, außerhalb der Gesellschaft befindet, sich derart über die Gesellschaft zu erheben wünscht, daß er den Nomos nicht nur repräsentieren, sondern in sich einschließen möchte, ist nicht ohne Ironie. Ödipus möchte, das zeigt er schließlich im Zuge seiner unnachgiebigen Ermittlungen und der Ausschaltung des Sehers Teiresias, Zugang zum absoluten Wissen erhalten. Das wäre jenes Wissen, das grundsätzlich nur durch die Götter oder durch das Schicksal gedeckt ist; solches Wissen bezeichnet das Nicht-Identische, die notwendige Differenz zwischen Mensch und Welt. Das Ergebnis dieser Einebnung der Differenz, wie sie schließlich durch die bürgerliche Gesellschaft initiiert werden soll, wäre die totale Homogenität der Phänomene, ein Absolutismus der im Wissen ermächtigten Definition des Faktischen. Ödipus ist der Urahn dieser Moderne am Beginn der Erschließung des Wissens. Teiresias bleibt jener Differenz des Sozialen verpflichtet, wenn er es ablehnt, Ödipus sein Wissen zu enthüllen – selbst wenn davon die Erlösung Thebens von der Pest abhinge (vgl. Sophokles: König Oidipus: V. 324/325ff.). Wo Ödipus sich in die Welt des Menschlichen als Verantwortung tragender Handelnder hineintastet, da muß er die Probe bestehen, die Differenz, und damit auch Kontingenz, gelten zu lassen. Von beidem hängt das Soziale ab. Diese Probe muß er zwangsläufig verlieren, weil er bereits unwissentlich gezeichnet ist. Diese Zeichnung erscheint ihm sogar derart absurd, daß er nicht einmal willens ist, sie zur Kenntnis zu nehmen, wo der genervte Teiresias sie ihm grob ins Gesicht sagt: »Der Königsmörder, den du suchst, der bist du selbst // […] Du hast mit deinen Nächsten unsittlich verkehrt / und weißt es nicht – ahnst nicht, wie tief du schon gesunken!« (Sophokles: König Oidipus: V. 376/377) Wie anders als erzürnt, sollte sich Ödipus, der sich doch für einen so laute65

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ÖDIPUS

ren wie legitimen Souverän hält, verhalten? Für ihn muß es unmöglich sein, die Differenz zu akzeptieren, die zwischen ihm und seiner Geschichte auf der einen und zwischen ihm und dem Schicksal Thebens auf der anderen Seite liegt. Um seiner Verpflichtung als Souverän gerecht zu werden – nämlich die Stadt zu schützen –, hat er keine andere Wahl, als den Zugriff auf ein Wissen zu suchen, das ihm nicht zusteht; das sich zwar nur ihm als Souverän enthüllen kann, das aber nicht er als Schicksalsparia enthüllen sollte. Wo Ödipus diese Enthüllung doch in Angriff nimmt, kommt es, wie Bollack sagt, zur »Implosion«: »Im ›König Ödipus‹ aber ist die Öffnung auf Nichts nicht der Endpunkt einer wahnwitzigen, zentrifugalen Expansion in der Außenwelt – wie etwa bei den Trojanern, die dafür ihren immensen Reichtum einbüßen. Was sich bei den Nachkommen von Kadmos zugetragen hat, ist gerade umgekehrt die interne Akkumulation des Identischen, eine Regelverletzung aus ständigem Streben nach Konzentration. Grenzenlosigkeit im Innern: so könnte eine Definition der Gestalt des Ödipus lauten.« (Bollack 1994b: 59) Absolute Souveränität verlangte auch das absolute Wissen. Dieses Wissen, da es eine Repräsentation des Wirklichen enthält, die menschlich nicht nachvollziehbar ist, bleibt jedoch strikt transzendent. Es verschließt sich dem menschlichen Zugriff. Dem Subjekt steht immer nur ein perspektivischer Blickwinkel darauf frei. Der zwangsläufige Perspektivismus des Sozialen begründet die Kontingenz aller Verhältnisse und verhindert damit auch die Verabsolutierung einer einzelnen Subjektivität vor allen anderen. Genau das aber hat Ödipus vor. Wo das absolute Wissen dennoch aufgeschlossen wird, schlägt es gegen den zurück, der es enthüllt. Wo der Wille zur Wahrheit als Wille zum Wissen Macht generiert, da fällt das absolute Wissen mit dem Akt der Überschreitung zusammen. Die dramatische Lage Thebens zum Zeitpunkt der Tragödie besteht nun zudem darin, daß die Heimsuchung der Stadt durch die Pest der Auflösung eines weiteren Rätsels bedarf. Das macht Ödipus’ Appell an Teiresias deutlich: »Auf unsere Frage stellte Phoibos die Erlösung / von dieser Pest uns nur in Aussicht unter der / Bedingung, daß die Mörder wir des Laios / entlarven, dann sie töten oder auch verbannen. / Verschweige uns nun, bitte, nicht den Ausweg, den / der Vogelschrei und andre Seherzeichen nennen, / beschütze dich und Theben und beschütze mich / vor jedem Makel, den die Mordtat auf uns wirft!« (Sophokles: König Oidipus: V. 306-313) 66

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5. SOUVERÄNITÄT

Was von Ödipus gefordert wird, ist ein Beweis. Er muß den Schuldigen an Laios’ Tod finden, damit Theben seinen Frieden mit Phoibos machen und genesen kann. Von dieser Geste hängt auch Ödipus’ Legitimität als Souverän ab. Die Grenzen der Macht liegen in dem Vermögen, sie auszufüllen. Die Souveränität, die Ödipus verwaltet, durchkreuzt seine Existenz. Zwar führt sie ihn auf die Höhe der Macht, doch nur um zugleich mit dem Absturz zu drohen. Ähnlich wie Gehlen bezeichnet auch Bataille die Existenz des Menschen als eine in »äußerster Spannung«, da sie zwischen den Polen der Einfügung in ein ethisches Prinzip menschlicher Würde und der souveränen Negation, der radikalen Auflehnung gegen jede Form des Gegebenen changiert. Der Mensch der Gesellschaft und des Gesetzes erscheint in dieser Perspektive als der »nützliche Mensch«. Er ist derjenige Mensch, »der sich vor allem mit Bedingungen beschäftigt, die im Grenzfall der souveräne Mensch negiert« (Bataille 1978: 54). Der nützliche Mensch unterwirft sich dem Verbot. Er trägt das Gesetz in sich, in das er Einlaß begehrt. Das ermöglicht es, eine soziale Ordnung zu entwerfen, die zuvorderst die Unterwerfung der subjektiven Freiheit zum Zwecke der sozialen Befriedung garantiert. Der souveräne Mensch hingegen begehrt keinen Einlaß mehr in das Gesetz, sondern will sich selbst eines schaffen. Er ist Gesetzgeber im solipsistisch/politischen Sinn. »Denn das Gesetz ist das Verbot/ene«, proklamiert Derrida und bezeichnet diese Amalgamierung als den »erschreckende[n] double-bind seines eigentlichen Statthabens« (Derrida 1999: 62). Das Subjekt des Gesetzes im emphatischen Sinn kann daher nur dasjenige Subjekt sein, das vor dem Gesetz ist, d.h.: außerhalb des Gesetzes. »Vor dem Gesetz ist der Mensch Subjekt des Gesetzes, indem er vor ihm erscheint. […] Aber vor ihm, weil er nicht in es eintreten kann, ist er auch außerhalb des Gesetzes […] Subjekt des Gesetzes: außerhalb des Gesetzes.« (Derrida 1999: 63) Soll das Subjekt des Gesetzes nicht länger außerhalb desselben situiert sein, sondern unmittelbar im Gesetz erscheinen oder aus ihm heraustreten, so muß es auch mit dem Gesetz zusammenfallen. Ein souveränes Subjekt wäre dann das materialisierte Gesetz, dem sich alles andere zu unterwerfen hätte. Ödipus als profaner Souverän Thebens, als symbolischer Repräsentant einer Gesellschaft, zielt darauf ab, genau diese Form von Souveränität zu erlangen und sie sogar noch zu überschreiten. Die Überschreitung, so Foucault, ist nun eine Geste, die es mit der Grenze zu tun hat: »Nichts in der Überschreitung ist negativ. Sie bejaht das begrenzte Sein, sie bejaht 67

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jenes Unbegrenzte, in welches sie ausbricht und das sie damit erstmals der Existenz erschließt.« (Foucault 1993a: 33) Mit der absoluten Souveränität zielt Ödipus demnach auf die Unendlichkeit.3 Er ist aber durch sein Schicksal festgelegt; eine Souveränität, wie sie Bataille entwirft und wie sie unbedingte Autonomie kennzeichnete, ist deshalb gerade ihm verwehrt. Gerade er ist jedoch verzweifelt darum bemüht, diesen Status zu erlangen. Anders kann er sich nicht als der großartige Rätsellöser verbürgen, der zu sein er beansprucht. Diese Qualität sichert ihm schließlich seine Souveränität, einschließlich der Aussicht auf eine Rettung Thebens. Da Ödipus durch das Orakel, das er in Delphi erhielt, einen Ausblick auf sein Schicksal gewonnen hat, versucht er nun das Unmögliche menschenmöglich zu machen und den Wink des Orakels in einen persönlichen Vorteil zu verwandeln, der es ihm erlauben soll, das Schicksal zu umgehen. Was Ödipus dabei im Auge hat, ist nicht weniger als eine Praxis der Hybris, worin das Schicksal gezwungen werden soll, zu einer subjektiven Möglichkeit zu werden. Hier wird also versucht, eine Entscheidung zu erzwingen, die das Subjekt über das Schicksal stellt, eine Entscheidung, welche Gesellschaft als Handlungsmöglichkeit und als Handlungsmächtigkeit einzig für das Subjekt begreift. Die Dezision kennt nur noch das Subjekt und den Gegenstand seiner Entscheidung. Sie kennt keinerlei Interdependenz zwischen den Regeln und dem Nomos der Gesellschaft auf der einen und dem subjektiven Bewußtsein auf der anderen Seite. Die chiasmatische Beziehung von Welt und Subjekt wird in der Dezision aufgelöst zugunsten einer radikalen Verfügung des Subjekts »Ödipus« über die Welt. Die Entscheidung durch den Souverän bricht die Kraft des Nomos gesellschaftlich auf. Durch sie eignet der Souverän sich die transzendente nomistische Kraft selbst an, ohne die Transzendenz des Nomos weiterhin anzuerkennen. Im Nomos findet ein Moment der Setzung einer Verbindlichkeit seinen Ausdruck, die nicht zu hintergehen sein soll. Dieses transzendente Moment des Sozialen bildet den Ausgangspunkt sowohl der profanen Sozialordnung, wie auch der symbolischen Ordnung. Aber die Entscheidung hebt die Transzendenz des Nomos auf und überführt sie in die profane Macht des Souveräns. Dort schlägt der Dezisionismus tendenziell um in Despotie und Terror und bewirkt damit eine Affizierung von Politik durch eine dem Schicksal ähnliche Gewalt. Sofern Ödipus daher durch das Moment der Dezision versucht, das Schicksal zu überschreiten, verstrickt er sich erst recht darin. Er kann nicht handeln, und er kann auch nicht die symbolische Ordnung usurpieren, da er durch das Schicksal gezeichnet 68

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5. SOUVERÄNITÄT

bleibt, das ihm die entscheidende Qualität des Menschlichen abspricht: nicht festgestellt zu sein und daher über kontingente Handlungsmächtigkeit zu verfügen. Das Bestreben, über die souveräne Entscheidungsgewalt verfügen zu können, illustriert Ödipus’ Sehnsucht nach einer vom Schicksal grundsätzlich unabhängig gewordenen Handlungsmächtigkeit. Daß er mit dieser Sehnsucht scheitert, illustriert nicht nur das antike Vertrauen in die göttliche Macht des Schicksals. Übersetzt in eine moderne Perspektive verweist es auch auf die Unmöglichkeit des einzelnen Subjekts, in einem absoluten Sinn souverän sein zu können. Die Einbindung des Subjekts in die mannigfaltigen Diskurse der Gesellschaft und in das Regelwerk eines subtil wirkenden sozialen Nomos enteignet es sich selbst; das Subjekt heute gehört dem Gesetz der Gesellschaft. Der Einzelne gehört also nicht wirklich sich selbst. Vielmehr wirkt er als Teil des gesellschaftlichen Ensembles, das sich durch ihn hindurch verwirklicht und ihm zuallererst die Möglichkeiten subjektiven Handelns eröffnet, immer auch als sein eigener Fremder. Die Fremdheit des Subjekts am eigenen Leibe gewährleistet dessen sozialen Status und ermöglicht ihm die Reflexion auf sich selbst. »Daß die Reflexion einen gewissen Spielraum von Ungebundenheit und Freiheit eröffnet und sich nicht an das Vorgegebene bindet, sondern es in Frage stellt, dies ist eben eine zweideutige Möglichkeit.« (Schulz 1994: 17) Daß das Subjekt für sich selbst immer schon ein anderer ist, als es zu sein wünscht, bedeutet daher, daß ihm seine soziale Involviertheit immer auch voraus ist. Sie zu überschreiten, hieße asozial zu werden im Sinne eines Ausscheidens aus der Gesellschaft. Nur wer an der Vergesellschaftung keinen Anteil hat, gehört ganz sich selbst. Die Frage ist nur, ob ihm das in dieser exklusiven Situation noch etwas nutzt. In der Gesellschaft in Erscheinung zu treten, zu handeln und teilzunehmen an dem, was Arendt den »Erscheinungsraum« nennt, setzt aber voraus, auch die Institution »Gesellschaft« hinzunehmen. Doch der Erscheinungsraum liegt für Arendt grundsätzlich noch vor dem Akt der Staatsgründung, meint also eine Bedingung des Menschlichen selbst. Das geht in die Bestimmung von Gesellschaft ein: »Die Gesellschaft ist die Form des Zusammenlebens, in der die Abhängigkeit des Menschen von seinesgleichen um des Lebens selbst willen und nichts sonst zu öffentlicher Bedeutung gelangt, und wo infolgedessen die Tätigkeiten, die lediglich der Erhaltung des Lebens dienen, in der Öffentlichkeit nicht nur erscheinen, sondern die Physiognomie des öffentlichen Raumes bestimmen dürfen.« (Arendt 1991: 47) 69

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Wer der Gesellschaft daher die Legitimation versagt, dem ergeht es wie dem Abtrünnigen bei Rousseau: er bleibt in einem sozialen Außenraum, der kein wirkliches Handeln mehr zuläßt. Genau dies ist Ödipus’ Position. Er ist von Vergesellschaftung durchdrungen, wie kein anderer; sie sedimentiert sich in ihm als Schicksal. Trotzdem gehört er nicht dazu. Weil Ödipus am wenigsten frei von allen ist, möchte er es am meisten sein. Das Nicht-Wissen kann Ödipus nicht hinnehmen, weil es ganz unmittelbar seine Autorität bedroht. Seine Freiheit, die er für sich verlangt, die er zuerst gegen Teiresias, dann gegen Kreon behauptet, die er schließlich gegen beide verliert, ist notwendig an die Bedingung des Wissens gekoppelt. Dem Schicksal ausgeliefert, hat Ödipus keine andere Wahl, als es zu vernichten, wenn er frei sein will. Solche Freiheit bedeutet den Tod, zumindest den symbolischen Tod der Umnachtung, da gerade im Schicksal auch eine Qualität des Menschlichen liegt, die Ödipus allegorisch verdeutlicht. Das Schicksal und die Kontingenz sind als Konstituentien des Menschlichen nicht voneinander zu trennen. »Der Mensch dagegen ist dem Schicksal ausgesetzt. Hier spielt der Begriff der Verblendung eine wesentliche Rolle. Der Verblendete lädt Schuld auf sich, aber diese Schuld ist objektiv, ein nicht gewolltes, ja nicht einmal bewußtes Verfehlen der Ordnungen.« (Schulz 1994: 19) Schulz bezieht sich an dieser Stelle explizit auf Ödipus, welcher für sein Schicksal einzustehen habe, trotzdem er als »subjektiv vollkommen unschuldig« anzusehen sei. Ganz anders möchte Bataille die »Qualität des Menschlichen« verstanden wissen. Anstatt so etwas wie ein Schicksal hinzunehmen bestehe jene Qualität im Gegenteil gerade darin, einen »notwendig unentschiedenen Kampf« zu führen, »in dem derjenige begriffen ist, der das Gegebene, was immer es sein mag, zurückweist, weil es das Gegebene ist« (Bataille 1978: 55). Dies »Gegebene« finde sich, sofern er nur frei und souverän sein will, in dem durch den Menschen zurückzuweisenden Verbot. Das Verbot aber bezeichnet auch das Maß des Menschlichen, das bei seiner Zurückweisung überschritten zu werden droht. »Aber wenn er das Maß überschreitet, beschränkt sich die Verweigerung darauf, das Sein zu verweigern oder auf den Selbstmord.« (Bataille 1978: 55) Ödipus steht der Selbstmord nicht frei, denn dazu muß man dem Gesetz verbunden sein, das ihn sanktioniert. Ödipus aber steht, wie gesagt, völlig jenseits des Gesetzes; er hat in keiner Weise daran teil, da er das Schicksal in sich trägt.

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5. SOUVERÄNITÄT

Für ihn ist der Selbstmord eine Unmöglichkeit, sodaß ihm schließlich nur die Blendung bleibt (vgl. Ahrens 2001: 35ff.). So gesehen mag Ödipus für die thebanische Gesellschaft jenes »wilde Außen« abgeben, von dem Foucault spricht: »Es ist immer möglich, daß man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ›Polizei‹ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muß.« (Foucault 1991: 25) Ödipus kann nicht »im Wahren« sein, weil er dem Sozialen exkludiert bleibt, daher auch keinen Eingang in das Diskursgeschehen findet. Als die personifizierte Repräsentation eines »wilden Außen« des Sozialen ist Ödipus wohl in der Lage, die wahren Verhältnisse aufzudecken. Er kann sich darin aber nicht mehr ins Recht setzen. Vielmehr muß er daraufhin verschwinden und seine Schuld am Vorgefallenen abbüßen. »Es ist, als würden der Wille zur Wahrheit und seine Wendungen für uns gerade von der Wahrheit und ihrem notwendigem Ablauf verdeckt.« (Foucault 1991: 16f.) Ödipus will beides zusammenführen und muß diesem Versuch auch zum Opfer fallen. Denn der wahre Diskurs und derjenige, der die Macht ausübt, sind, wie Foucault weiter ausführt, voneinander strikt geschieden. Das impliziert zum einen eine Täuschung über die Verhältnisse – oder wahlweise, nach Bataille, über das »Gegebene« –, eröffnet aber zum anderen gerade aufgrund dieser Differenz die Spielräume des Menschlichen, weil es einen Perspektivismus garantiert. Wäre Ödipus’ Projekt erfolgreich gewesen, dann hätte er als Souverän die volle Gewalt über die Wahrheitskonstitution erlangt und damit die conditio humana in ihrem Kern angegriffen. »Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven.« (Arendt 1991: 57) Das alles setzt Ödipus ja auf’s Spiel, und daher tun die Thebaner auch recht daran, ihn fortzujagen. Die Freiheit des Einzelnen im Rahmen einer über die Institution des Nomos diskursiv verlaufenden Vergesellschaftung liegt in der Unhintergehbarkeit der Kontingenz (vgl. Marquardt 1986). Da Kontingenz die subjektive Existenz bedingt und ihr auch jedes Handeln unterliegt, existiert innerhalb des sozialen Diskurses durch sie ein Maß an Freiheit und Unberechenbarkeit, das die Subjekte innerhalb der Welt verortet. Über das Faktum der Kontingenz erschließt sich den Subjekten Welt als eine, die sich nicht in purer Vergesellschaftung erschöpft. Steffens hat eine Politik menschlicher Weltbemächtigung, die auf eine Neuschaffung des Menschen und

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damit auch der Welt abzielt, »Anthropolitik« genannt. Ihr Ziel bestehe in der »Aufhebung der Kontingenz als Beseitigung jener Bedrohung, als welche der Zufall im menschlichen Leben überwiegend erfahren wird« (Steffens 1999: 187). Daß aber der Zufall als Bedrohung erfahren wird, und nicht als Ermöglichung des Menschlichen, ist der Struktur einer symbolischen Ordnung des Sozialen geschuldet, die in der Freiheit nur die Anomie und die Dekomposition fürchtet. Die Einhegung der Ordnung in eine aller Äquivokationen entledigte Homogenität ist ein prinzipielles Problem von Herrschaft, die mit Vergesellschaftung unmittelbar zusammengeht. Wichtig für eine Perspektive des Menschlichen im Zusammenhang von Gesellschaft ist daher die grundsätzliche Anerkennung des Zufalls als einer Bedingung für eine dem Menschlichen adäquate Existenz, da nur die Existenz des Zufalls auch eine Gewähr für ein Neubeginnen und für Veränderbarkeit im Kontext gesellschaftlichen Handelns bietet. In Hinblick auf die Kontingenz erscheint Ödipus jetzt als gespaltenes Subjekt. Er möchte sie für sich ausschließen, wo er die souveräne Gewalt über die Dezision zu erlangen anstrebt. Seine Überwindung der Kontingenz soll ihm zur Existenzsicherung dienen. Der Vorgriff auf ein transzendent gehaltenes Wissen ist für den Souverän, der unter dem Makel eines ungesühnten Todes steht, ein Akt der Selbsterhaltung. Die Enthüllungen des wütenden Teiresias seinerseits wütend zurückweisend, muß Ödipus dennoch auf der totalen Enthüllung aller Geheimnisse bestehen – auch unter dem Risiko, daß Teiresias am Ende Recht erhalten sollte (vgl. Sophokles: König Oidipus: V. 345-443). Dieses Risiko geht Ödipus schließlich gezielt ein, da Teiresias ihm prophezeit, die Kunst des Rätsellösens werde ihn zugrunde richten, und erwidert: »Das schert mich nicht, wenn ich die Stadt dadurch errette.« (Sophokles: König Oidipus: V. 443) Jedoch ahnt er nicht einmal, daß er überhaupt nie eine Option auf Kontingenz besessen hat. Die Determination durch das Schicksal hat Ödipus von Beginn an von der Kraft der Kontingenz abgeschnitten; der Zufall gehört ohnehin nicht zu seiner Existenz. Das bringt ihm aber keine Potenz ein, sondern bewirkt im Gegenteil eine Entmächtigung seiner Menschlichkeit. Der determinierte Mensch agiert in einem Umfeld der Schuld, weil er ein Schicksal zu erfüllen hat, das nicht zu rechtfertigen ist. »In der Mißachtung der Zufälligkeit wird das Individuum aufgehoben und ihm als Schuld angelastet, worüber es in keiner Weise hat verfügen können.« (Steffens 1999: 188f.) Wo keine Kontingenz mehr ist, da bleibt nur die untilgbare Schuld des Menschen gegenüber der Welt, in die er sich geworfen 72

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sieht. Nur wer mit solch einer untilgbaren Schuld behaftet ist, wie der von Ödipus, ist wirklich in die Welt geworfen, mit aller daraus folgenden Verzweiflung und Ohnmacht. Jeder andere hingegen besitzt die Chance einer zur Veränderung drängenden Handlungsmächtigkeit. Ödipus konnte nicht über das Maß und die Ursache seiner Schuld verfügen. Er ist Objekt eines Schicksals, das im Grunde nicht das seine ist. Er wird zum Werkzeug einer Rache an der Schuld der Eltern, vor allem des Vaters. Seine Schuld besteht darin, daß er ahnungslos eine Schuld zu sühnen hat. Ödipus widerlegt jede Ethik an sich selbst. Handlungsmächtig ist er nur für den Akt der eigenen Zerstörung: »Gerade da Ödipus in der Selbstzerstörung am Leben bleibt, verwirklicht er seine Rolle als Richtender. Indem er an sich selbst Hand anlegt, wird er zum autonomen Subjekt.« (Bollack 1994a: 32) Die Würde der Souveränität – zu richten – verwirklicht Ödipus im Akt der subjektiven Aberkennung dieser Souveränität. Seine Autonomie währt nur für den einen Augenblick, wo er Unendlichkeit im Auge hatte.

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6. Subversion In seinem Bemühen um Aufklärung versucht Ödipus, sich dem Schicksal zu entziehen und die prophetische Funktion des Orakels zu unterlaufen. Er beginnt ein Kräftemessen zwischen dem Menschlein, das er ist, und der Gewalt des durch das göttliche Orakel angezeigten Schicksals. In diesem Wagnis liegt Ödipus’ Größe. Sich dem Schicksal, das er schon bald zumindestens annähernd durchschaut, nicht zu fügen, bedeutet im Mythos den entscheidenden Schritt zur Subjektivität – und allegorisch hat er noch immer Gültigkeit. Ödipus sucht den Eingang zur Mündigkeit. Das ist die selbstbewußte Umkehrung des kantischen Diktums vom erforderlichen Ausgang der Menschen aus »selbstverschuldeter Unmündigkeit«, und es ist die Geburt des Individuums als historischem Ereignis, wovon Taubes und Gehlen sprechen. Die Pointe im »Fall Ödipus« besteht ja unter anderem darin, daß seine Unmündigkeit (oder anders gesagt, was aber auf dasselbe hinausläuft: seine Schuld) keine selbst auferlegte Unmündigkeit ist. Das wird von allen Kommentatoren hervorgehoben. Ödipus ist der Anti-Kant. Paradoxerweise verhält es sich schließlich gerade so, daß sein verzweifelter Versuch, das Orakel nicht zu erfüllen, sich als Aufklärer par excellence und rücksichtslos gegen sich selbst zu betätigen, sich als Erfüllungshilfe für das Orakel entpuppt. Diese Wendung ließe, nimmt man die Geschichte paradigmatisch, nicht einmal mehr eine »Dialektik der Aufklärung« erkennen, sondern würde von deren schlichter Vergeblichkeit erzählen – »Nicht lebbar wird das Leben, wenn man die lebensspendende Macht der Ordnung nicht anerkennen will.« (Forster 1998: 349) Die Ambivalenz der Moderne, jede mögliche Dialektik spielt sich ausschließlich im Ordnungsrahmen von Gesellschaft ab. Wer daraus aussteigt, ist zumindest sozial tot – und als Siegel darauf sticht Ödipus sich die Augen aus und erblindet. Aus diesem Grund ist Ödipus als Souverän absolut nicht geeignet, sondern wirkt in dieser Position eher in einer das Amt subvertierenden Weise. Die Unmöglichkeit, seiner Vergan75

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genheit – und vor allem der Geschichte seines Genos – zu entrinnen, macht ihn zum prinzipiell Unmündigen. Damit steht, bleibt man bei einer allegorischen Lesart, die Konsistenz von Subjektivität insgesamt in Frage. In dieser Konstellation einer verweigerten, aber von ihm eingeforderten Freiheit liegt Ödipus’ ungeahnte Möglichkeit. Indem er nur um den Wink seines Schicksals weiß, nicht aber um dessen Verstricktheiten, kann er, auf der Höhe der profanen Macht als Souverän über Theben angelangt, dem Nomos gegenüber subversiv werden. Wo Ödipus nicht die Überschreitung gelingt, gelingt ihm die Subversion. Dieser Akt der Subversion unterminiert die absolute Gültigkeit des Nomos. Die Subversion ist jene Widerlegung oder auch Entmachtung des Nomos, die in diesen selbst eingegangen ist. Eine solche Qualität der Subversion ist Ödipus eingegeben. Sie wird in dem Moment virulent, da er sich, ohne es zu ahnen, selbst verflucht: »So will ich handeln, voll im Einverständnis mit / dem Gott und dem Ermordeten. Dem Mörder gilt / mein Fluch, mag er das Licht als Einzeltäter scheuen, / mag er sich hinter Spießgesellen decken wollen. / Im Elend soll er kümmerlich sein Leben fristen. / Und mehr noch: Sollte er mit meinem Wissen etwa / am Herde meines Hauses weilen, soll der Fluch, / den eben ich ihm angedroht, mich selber treffen!« (Sophokles: König Oidipus: V. 244-251) In diesem Akt schlußendlicher Selbstverfluchung unterläuft Ödipus die ihm eigene Souveränität. Kraft seines Amtes hat er die Macht, einen derartigen Fluch auszusprechen; zugleich ist er aufgrund seiner Unkenntnis der wahren Verhältnisse das erste Objekt seiner Sanktion. Bollack faßt knapp zusammen: »In der Verfluchung zerstört Ödipus sich von ferne, in der Blendung dann von nahem […].« (Bollack 1994a: 31) Die normative Kraft des Nomos begrenzt die Gesellschaft. Sie durchzieht die Subjekte und verlagert die Gesellschaft in diese hinein, noch bevor die Subjekte in die Gesellschaft hineinwirken können. Doch Ödipus ist in einem Ausmaß nomistisch überdeterminiert, daß sein dem Schicksal entgegenstehender Wille, handelndes Subjekt zu sein, sich in eine Aushöhlung des Gesetzes verwandelt. Statt es zu überschreiten, unterläuft er es. Wo er aus dem Gesetz heraustritt, macht er sich nicht im souveränen Sinne frei, er geht auch nicht auf eine Unbegrenztheit zu. Ödipus verliert das Gesetz vielmehr. Seine Subvertierung zeigt, daß sogar der vermeintliche Souverän dem Gesetz da zum Opfer fallen kann, wo er sich als dessen 76

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6. SUBVERSION

Besitzer inszeniert. Zum Nomos gehört offenbar eine Kontingenz gegen seine Subjekte, die ihn vor einer Vereinnahmung durch dieselben schützt. Ödipus’ Unterlaufen des Gesetzes ist seine Form der Subversion. Der Souverän selbst kann dem Nomos entzogen sein. Ist der Nomos dann delegitimiert? Der Nomos, so Schmitt, verwandelt Gewalt in Recht. In Ödipus hat sich das einmal aus der Gewalt herausdestillierte Recht in persona so sehr potenziert, daß er zum Abbild des Nomos der Gesellschaft und damit zur Gewalt gegen sich selbst werden kann. Wo das Individuum mit dem Nomos eins wird, zerstört es sich als Subjekt. Es bezeichnet dann weniger ein langsam verrinnendes Gesicht im Sand, als ein Gesicht, das in sich zerfällt. Ödipus befindet sich in einem Stadium subjektiven Deliriums. Er hat sich bereits selbst, ohne je zu sein. Erst dadurch entgleitet er sich auch. Denn weil er mit dem Nomos amalgamiert ist, hat er sich, so wie der Nomos jeden Einzelnen hat. Doch da er durch die Macht des Schicksals überdeterminiert ist, kann er niemals zu sich selbst als Subjekt in der Welt kommen. Der Nomos als gesellschaftliche Ordnungsmacht steht außerhalb des Sozialen. Eben weil er nicht in das Soziale involviert ist, weil er die einzige Instanz ist, die der chiastischen Beziehung von Subjektivität und Gesellschaft entgeht, kann er die Legitimität einer souveränen Institution der Gesellschaft schaffen. So ist der Nomos die Grenze des Sozialen, dessen Rahmung; er bleibt eine Vorgabe sozialer Existenz. Jedoch ist keine menschliche Existenz ohne eine soziale denkbar, da, wie Bataille ausführt, der Mensch erst in dem Augenblick möglich wurde, »in dem ein Wesen, von unüberwindlichem Schwindel erfaßt, mit aller Kraft versuchte, nein zu sagen« (Bataille 1994: 63). Die Voraussetzung für eine solche Geste ist schlichtweg eine gesellschaftliche Ordnung, die den Widerspruch herausfordert und ermöglicht. Denn, fährt Bataille fort: daß die Welt der Vernunft auf Verboten beruht, macht die Verbote noch keineswegs vernünftig. In der Person von Ödipus fällt der Nomos als striktes, nicht als sich erst generierendes Schicksal in den Menschen ein. Ödipus hat keine Ahnung von seiner Trägerschaft des Schicksals. Er hält sich für ein Subjekt, dem die Möglichkeit absoluter Souveränität – als Figur der Überschreitung des transzendenten Nomos – offen steht. Er ist aber zu dieser Überschreitung nicht in der Lage, weil das für ihn bedeuten würde, sich selbst zu überschreiten. Insofern verwandelt sich sein Begehren nach dem Absoluten, das sich im Verlangen nach dem Wissen ausdrückt, in eine Subversion desjenigen Nomos, den er schicksalhaft in sich trägt und bewußtlos reprä77

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sentiert. Wo er ihn aufdecken will, um ihn zu enthüllen, da enthüllt er sich selbst. Ödipus zerstört die Institutionen der Gesellschaft an sich selbst. Er muß erblinden, weil er der Institution ein Ende machen will. Die Institution aber stellt eine unhintergehbare Bedingung von Sozialität und von Geschichtlichkeit dar – keine Menschlichkeit, keine Gesellschaft ohne Institutionen. Dennoch erscheinen die Institutionen als Regreß des menschlichen Bewußtseins: von ihnen als den »historisch gewachsenen Wirklichkeiten« muß sich der Mensch auch konsumieren lassen. Das bedeutet, daß eine Bedingung der Möglichkeit von Menschlichkeit gerade in der institutionellen Heteronomie liegt (Gehlen 1986: 8). »Man kann sogar sagen, daß der abstrakte Gehalt der Institutionen einer Gesellschaft, ihr Rechtssystem, die Grammatik ihrer Bedürfnisse ist.« (Gehlen 1986: 78) Indem Ödipus die bestehenden sozialen Institutionen in der Hoffnung auf eine Freiheit gewährleistende Enthüllung attackiert, attackiert er auch den Grund des Menschlichen. Dieser Grund liegt in der Konsumtion durch die institutionelle Wirklichkeit, nicht aber in ihrer Fraktalisierung. Das bekommt Ödipus deutlich zu spüren. Sofern er das Gesetz subvertiert, tut er das als direkter Repräsentant des Nomos, der gegen sich selbst agiert. Wo er sich selbst erschafft, geht er auch über sich hinaus und schafft die Voraussetzungen für seine Ausstoßung. Für Ödipus gibt es keine Handlungsmöglichkeit im Inneren des nomistischen, sozialen Ensembles. Denn der Nomos, auch als nomistische Repräsentation, handelt nicht selbst, sondern ermöglicht das Handeln der Anderen. Wo es Ödipus zum autonomen Handeln drängt, kommt es daher zur sozialen Implosion. Die Grenze der sozialen Souveränität macht sich am Nomos fest. Der Nomos ist letztendlich aber nicht überschreitbar. Um noch einmal an Bataille anzuknüpfen: »Oft ist die Überschreitung des Verbots nicht weniger an Regeln gebunden als das Verbot selbst. Es handelt sich nicht um Freiheit: in diesem Augenblick und bis hierher ist das und das möglich – das ist die Bedeutung der Überschreitung.« (Bataille 1994: 65) Wenn die Überschreitung daher nicht mit der Freiheit zusammenfällt, bedeutet ihr Gelingen letztlich deren Negation. Freiheit im emphatischen, utopischen Sinn kann nicht existent sein, wo Gesellschaft ist. Ödipus möchte aber an sich selbst diese Freiheit trotzdem verwirklichen, da er sich gegen ein gesetztes Schicksal auflehnt, von dem er durch das Orakel und durch Teiresias’ Äußerungen immer78

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6. SUBVERSION

hin eine rudimentäre Ahnung hat. Die Gesellschaft fordert immer das Schicksal für ihre Subjekte ein, darin liegt ihre diskursive Macht. Am Ende durchbricht und verläßt Ödipus die Unmöglichkeit dieser Freiheit als Subjekt und damit auch die Grenze einer Ordnung des Subjekts. Die von Ödipus angezielte Homogenität des Sozialen läßt sich nicht verwirklichen, wo das Subjekt chiasmatisch verfaßt und nomistisch begrenzt ist. An genau diesem Chiasmus, der das Verhältnis von Subjektivität und Gesellschaft durchzieht, bricht sich auch die Figur der Souveränität, die über die Gesellschaft, welche sie repräsentiert, nicht schrankenlos verfügen kann.1 Auch Souveränität scheitert in ihrem Verlangen nach Absolutheit an der Kontingenz der durch die symbolische Ordnung gestifteten Verhältnisse. Der totale Zugriff auf die Welt, der unbeschränkte Handlungsmächtigkeit garantieren würde, ist im Ensemble von Mensch, Welt und Gesellschaft unmöglich. Das Unmögliche erscheint daher nicht nur als Grenze, sondern, ganz wie die Kontingenz, als eine Ermöglichung des Menschlichen. Wäre ein solcher totaler Zugriff möglich, so würde dies in eine Praxis der Wirklichkeitsneutralisierung münden. Eine Praxis, die über Menschen und Menschliches maßlos verfügte, wäre das Ende des Menschlichen. Ihre zu einem endgültigen Ende gekommene Herrschaft würde die Welt ihrer Subjekte im Zuge der Inbesitznahme von Welt auslöschen. Eine solche Inbesitznahme duldet dann kein Zwischen des Menschlichen mehr, worin sich eine subjektiv sinnhafte Welt entfalten kann. Wenn Ödipus einen Modus des absoluten Wissen anstrebt, worin er das durch die Götter beschlossene Schicksal zu überwinden gedenkt, macht er sich zum Prototypen einer modernen Anthropolitik. Nicht nur rennt er blindlings gegen eine anthropologisch zwingende Institution an, wenn er seinen Schicksalsspruch mißachtet. Er tendiert auch zur Hybris eigener Welterschaffung, die nur ihn berücksichtigt, nicht aber die soziale Institution, die Instanz des Anderen und die Gebrochenheit eines subjektiven Weltbezuges, die sich Welt nie vollständig wird aneignen können. Indem Ödipus derart die Existenz der Menschheit riskiert, will er sich seiner eigenen Existenz absolut vergewissern. Zwar erliegt er nicht der modernen Konsequenz der Anthropolitik – der Menschenvernichtung. Doch indem er die symbolische Ordnung zu diesem Zweck aufbricht, zerstört er zugleich die symbolischen Grundlagen der Gesellschaft und ihres Weltbezuges. Daß Ödipus abgestraft wird, richtet nicht nur ihn durch das Schicksal, sondern es rettet auch die Gesellschaft vor ihrer Usurpierung durch die totale Institution des einen homogenen 79

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Weltbezugs. Im Schicksal wehrt sich die Welt paradoxerweise gegen das Bestreben, sie zu homogenisieren. Das Schicksal, das über Ödipus richtet, wahrt auch die Äquivokheit der sozialen Grundverfassung. Eine absolute Verfügung über Wirklichkeit kann es nur im Zuge totaler Wirklichkeitsneutralisierung geben. Eine solche Neutralisierung hat Ödipus im Blick, wenn er den unmittelbaren Zugriff auf die Konstitution der Wirklichkeit im Schicksal anstrebt. Was er nicht weiß, ist daß er auch das erste Opfer dieser Neutralisierung wäre. Die neutralisierte Wirklichkeit offenbart als allererstes sein Schicksal, nichts deckt es mehr zu; es ist Ödipus’ Zugriff vollkommen ausgesetzt. Der es ans Licht zerrende Zugriff verwirklicht das Schicksal: »O weh! So ist wohl alles jetzt ans Licht gekommen! / Ich sehe, Sonne, dich zum letzten Mal! Ich ward / geboren gegen Wunsch und Einsicht – wurde Gatte / dann gegen Brauch und Zucht – und Mörder wider Willen!« (Sophokles: König Oidipus: V. 1182-1185) Die Neutralisierung der Wirklichkeit war Ödipus’ Versuch, sich Macht absolut anzueignen. Er scheitert, wo er den Zugang zu ihr findet. Mit ihr gibt er den Weltbezug auf, der ihm einzig eine Handlungsmächtigkeit garantiert, die über Macht verfügen könnte. So aber enthüllt er eine weltlos gewordene, unabgeschlossene Diskursmacht, die sich zunächst gegen ihn selbst kehrt. Was Ödipus einzuebnen und in eine soziale Homogenität der Verfügungsmacht zu überführen sucht, ist die »anthropologische Differenz« als existentiale Voraussetzung des Menschlichen (Steffens). Wenn Ödipus diese Differenz zu schließen sucht, dann gleicht sein Projekt, einem zentralen Problem des ausgehenden 20. Jahrhunderts, »das die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung in Identität aufzulösen wünscht. Aber Differenzlosigkeit ist ein anderes Wort für Tod.« (Steffens 1999: 82) Wo sie in ihrer ganzen Konsequenz für das Subjekt in den Blick gerät, kann sie als »Auseinandertreten erahnter menschlicher Bestimmung und tatsächlich gelebter Existenz, […] sich zum Verdacht der Weltausgeschlossenheit steigern. Dann erweitert sich der Bruch zwischen Menschsein und Existenz zum Bruch zwischen Welt und Menschsein […].« (Steffens 1999: 161f.) Ihre Auslöschung bedeutet im Effekt jene Neutralisierung des menschlichen Weltverhältnisses, von der oben die Rede war. 80

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6. SUBVERSION

War Ödipus zuvor nach außerhalb der Gesellschaft gesetzt, da er das Mal des Schicksals trug, so initiiert er nunmehr einen Prozeß der Weltlosigkeit, weil er die Grundbedingung des menschlichen Weltverhältnisses – jene Differenz zwischen Bestimmung und Erfahrung – in Homogenität auflöst. Die hereinbrechende Weltlosigkeit zerstörte den sozialen Bezug der Menschen untereinander. Weltlosigkeit tilgt die grundlegende Ambivalenz, die Gesellschaft als Verhältnis von Intersubjektivität ermöglicht. In der Weltlosigkeit existiert der Andere nicht. Kein Antlitz fordert den Einzelnen dazu heraus, sich zu ihm zu verhalten. Das Subjekt ist nun nicht mehr die Geisel des Anderen, sondern nimmt sich vielmehr die Welt als Geisel. Das initiiert einen Prozeß sozialer Auflösung, der gestoppt werden muß, sofern Gesellschaft fortbestehen soll. Deshalb muß sich Ödipus am Ende auch opfern: damit die Gesellschaft ein Recht auf Fortexistenz hat. Girard nennt dies ein »versöhnendes Opfer«, das Ödipus für die Gesamtheit zu erbringen habe. »Damit die Ordnung sich wieder einstellen kann, muß erst das Chaos auf seinen Höhepunkt gelangen; damit die Mythen sich wieder neu bilden können, müssen sie zuerst gänzlich zerfallen.« (Girard 1994: 121)2 Der trügerische Souverän kann am Ende doch noch die Gesellschaft erneut befrieden, allerdings nur um den Preis der Selbstaufgabe. Ödipus erscheint als Wiedergänger seines Vaters. Dessen Verfehlung hat er sein Schicksal zu verdanken und durfte ihn dafür umbringen – was wie eine vorweggenommene Rache erscheint. Die Aufspaltung des Ödipus setzt sich also fort. Es ist nicht nur eine Teilung in die Aspekte von profaner und transzendenter Souveränität; es ist auch eine Teilung in die Identität des Sohnes und des Vaters. Als Verbrecher ist Ödipus nicht einmal der Verursacher des Verbrechens, sondern bloß Ausführender einer genealogischen Verkettung. Sein Verbrechen resultierte aus dem Umstand, daß er nicht wußte, wer er war. Sein Begehren nach diesem Wissen impliziert von Anfang an auch seine Bereitschaft zur Sühne. Darin liegt die versöhnende Geste seines Selbstopfers. Souveränität und Opfer gehören bei Ödipus notwendig zusammen. Durch sein keineswegs selbstverständliches Einverständnis mit dem ihm auferlegten Schicksal gelingt Ödipus schließlich die Wiedereinsetzung ins Recht. Es ist freilich eine halbierte Wiedereinsetzung, weil er der Verbannung nicht entgeht. Trotzdem hat er den Thebanern am Ende ein zweites Mal das Leben gegeben (und die Pest gestoppt) und selbst seine ungewußten Untaten gesühnt. Insofern steht er nicht ganz so solitär da, wie es zunächst scheint. Ödipus steigert in seiner Determiniertheit nur ein grundlegendes 81

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ÖDIPUS

Dilemma des Menschlichen. An ihm wird exemplarisch, daß kein Mensch Autor seiner Geschichte ist, daß der Wille zur biographischen Gestaltung sich der Ausführung entzieht, weil er sich einem Meer der Kontingenz ausgesetzt sieht. »Kein Mensch kann sein Leben ›gestalten‹ oder seine Lebensgeschichte hervorbringen, obwohl ein jeder sie selbst begann, als er sprechend und handelnd sich in die Menschenwelt einschaltete.« (Arendt 1991: 175) Das Unmögliche besteht demzufolge in der Herstellung einer Kongruenz von subjektivem Gestaltungswillen und sich vollziehender Geschichte. Wohl gibt es eine der Totalität verpflichtete Erzwingung dessen, was ganz unwahrscheinlich scheint. Wer es fertigbringt, die grundsätzliche Offenheit des menschlichen Handelns dahin zu wenden, daß er eine ins Extrem getriebene Verwirklichung der darin angelegten Möglichkeiten betreibt, macht sich unweigerlich zum Agenten des Unmenschlichen, mithin des Totalitären. Mit solch einer Praxis hatte Ödipus ja schon begonnen. Hätte seine Ausgeliefertheit an das Schicksal ihn nicht gestoppt, Ödipus hätte sich zum absoluten Souverän aufgeworfen, indem er Wissen und Diskursmacht unlösbar miteinander verschmolzen hätte. Insofern entpuppt sich hier ein weiteres Mal ausgerechnet das Schicksal als Sachwalter des Menschlichen. Gerade in ihm findet man einen Bürgen der Differenz. Solche »absolute Differenz« (P. Bürger) zwischen den Einzelnen ist der Garant für das Welt stiftende »Zwischen«. »Die (absolute) Differenz, die das Ich vom Andern trennt, ist nicht etwas zu Überwindendes, sondern etwas, das gerade auch in der sprachlichen Verständigung aufrechterhalten werden muß.« (Bürger 1992: 87) Ödipus kann das nur vestehen, wo er ohne Pardon mit seinem Schicksal konfrontiert wird. Vorher meint er, nur die Zerstörung von Differenz erschließe wahre Wirklichkeit und produziert damit freilich nur Wirklichkeit als Reales.

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6. SUBVERSION

7. Ödipale Gesellschaft Weit mehr als die des Vatermords ist die ödipale Gesellschaft die des Schicksals und die eines Gesetzes, das sich den Einzelnen ortlos und subjektlos mitteilt und auf diese Weise Gesellschaft ermöglicht. Das Gesetz als Nomos erlaubt es in eins Ethik, Herrschaft, Institutionalisierung und Soziabilität zu verwirklichen. Zentral für es ist, daß es hinsichtlich der ihm unterworfenen Subjekte eine Art NichtWissen über sich selbst konstituiert. Dieses Nicht-Wissen ist das Apriori nomistischer Macht. Das Gesetz ermöglicht und bedingt zwar Gesellschaft, ist aber der Gesellschaft nicht immanent. Vielmehr vollzieht sich, was in der Gesellschaft, bedingt durch das Gesetz geschieht, stets vor dem Gesetz. Sich das Gesetz einzuverleiben, sich ihm anzugleichen, hieße, es sich anzueignen und zu besitzen. Wer aber das Gesetz besitzt, ist als Gesetzgeber Souverän. Dann teilt sich der Nomos nicht mehr via Diskurs den Subjekten mit, sondern unterliegt der Verfügung des Einen, der ihn sich eingeschrieben hat. Dieser teilt nunmehr das Gesetz aus. Nicht mehr das Gesetz legitimiert dann die Macht des Souveräns, indem es sich über ihn sozial mitteilt, sondern der Souverän legitimiert in diesem Fall das Gesetz, weil er es besitzt und allein stiften kann. Das implizierte eine Gesellschaft, die dem Prinzip einer totalen Herrschaft unterläge. Solange aber der Nomos uneinsehbar vor jedem einzelnen steht, stellt er auch Egalität her. Das Gesetz, so Derrida in seiner Interpretation von Kafkas Parabel »Vor dem Gesetz«, »läßt den Menschen sich frei bestimmen, es läßt ihn warten, es läßt ihn im Stich. […] Das Gesetz tritt auf, erscheint (ohne sich zu zeigen, also ohne zu erscheinen) im Raum dieses Nicht-Wissens.« (Derrida 1999: 68) Das Gesetz muß immer auch das Gesetz desjenigen sein, der ihm unterliegt. Insofern erfordert und produziert es zugleich Subjektautonomie und Determination. Die Differenz von beidem ist gering. In dieser Hinsicht bleibt Derrida Kant verbunden. Freiheit vom Gesetz kann es nur als eine vor dem Gesetz geben. Autonomie ist bedingt dadurch, daß sie vom Nomos umfaßt bleibt. 83

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ÖDIPUS

Deshalb gibt es keine Autonomie, und deshalb wird der Mensch immer eine Erfindung bleiben, die wieder vergeht. Sein Projekt will, wo es nicht sowieso gesetzlos ist, sich den Nomos einverleiben. Absolute Souveränität verrät aber immer den Menschen, der sie trägt. Wer, wie Ödipus, ein absolutes Wissen über das Gesetz und über sein Schicksal in seinen Besitz bringen will, zerstört das Gesetz und damit auch die Ordnung des Sozialen – also die Repräsentationen von Welt und Wirklichkeit. Es ist, wie Forster ausführt, »dieses unbedingte Wissenwollen, das das Fiktive ins Wirkliche verwandelt – durch Beschwörung. Sie ist an die Stelle der Erfahrung gesetzt, die bloß die ›Unverbindlichkeit des Fiktiven‹ stärkt.« (Forster 1998: 445) Ödipus beschwört die Katastrophe herauf, indem er nach der Macht eines unmenschlichen, dem Nomos inhärenten Wissens verlangt. Mehrfach warnt ihn der Seher Teiresias vor diesem Plan und deutet die Konsequenzen an, die dessen notwendiges Scheitern nach sich zöge. Aber Ödipus verstößt ihn nur wütend. In sein Schicksal ist Ödipus von Anfang an verstrickt. Weil es feststeht, noch bevor er es handelnd herstellen kann (wie z.B. im Falle von Antigone und Kreon), verschmilzt er negativ mit dem nomistischen Prinzip, das sich an ihm manifestiert. Hätte er sich dreingefügt, und das Schicksal sich an ihm vollziehen lassen, hätte er auch seine Bestimmung als Mensch außerhalb des Menschlichen erfüllt. Trotzdem wäre er in jedem Fall von den Anderen getrennt geblieben, die der Kontingenz ihrer Handlungen und allen Geschehens in der Welt zwar genauso blind ausgeliefert sind, sie aber partiell gestalten können. Dieser Hiatus zwischen ihm und den anderen wäre unaufhebbar gewesen. Ödipus mag sogar ein Bewußtsein von Kontingenz besitzen, er nimmt an ihr aber nicht teil; das ihm aufgegebene Schicksal trennt ihn von der Kontingenz. Was ihm widerfährt, kann sogar kontingent vermittelt sein – das letztendliche Ergebnis steht bindend fest. Daß ausgerechnet Ödipus, der durch den Nomos selbst aus der Kontingenz herausgenommen ist und als Exempel die gestaltende Macht des Nomos repräsentiert, diese Kontingenz angreift und in Eindeutigkeit und Homogenität überführen will, erscheint absurd – immerhin fällt gerade er nicht unter die Bedingungen der Kontingenz, und darum ist er auch die denkbar ungeeignetste Person, um diese zu beenden. Aber vielleicht kann auch nur er eine Vorstellung von dem Abhängigkeitsverhältnis erhalten, das für Subjektivität mit dem Faktum der Kontingenz verbunden ist, gerade weil er, obschon unbewußt, ein distanziertes Verhältnis zu ihr hat. Die Macht, die ihn nicht umschließt, kann er angreifen, weil er kein Bewußtsein von ihr hat. Von seinem Schick84

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sal weiß er nichts und zur Kontingenz hat er keinerlei Verhältnis; jedes andere Individuum wird, was ihm kontingent widerfährt, eher als sein »Schicksal« begreifen, als es Ödipus tut. Wenn das zutrifft, bestünde die Faszination der Geschichte von Ödipus zunächst in der so hilflosen wie unnachgiebigen Umkreisung des Gesetzes durch ein darin befangenes Subjekt, das den aussichtslosen Ausbruch probt. Sodann käme genau hier die doppelte Begrenzung von Subjektivität durch Kontingenz und Schicksal zum Tragen. Allerdings ist diese Begrenzung eine Ermächtigung: ohne sie gäbe es kein menschliches Handeln. Ödipus wehrt sich nicht gegen das Schicksal, obwohl das Schicksal und nicht die Kontingenz sein Verhängnis bildet. Wo er es als sein eigenes erkennt, beugt er sich ihm auch. Gegen die Kontingenz kann er sich nur deshalb wehren, weil er an ihr keinen Anteil hat. Wenn sie unabdingbar zur conditio humana gehört, dann macht sich Ödipus daran, diese conditio humana im Zuge seines Aufbegehrens zu zerstören. Er versucht, die Grenze des Nomos zu überschreiten und nicht mehr nur als symbolischer Repräsentant, sondern als handelnder Signifikant mit dem Nomos zu verschmelzen. Dann wäre er der absolute Souverän. Als solcher höbe Ödipus das differente Weltverhältnis der Subjekte auf, etablierte einen Zustand der Weltlosigkeit und der totalen Herrschaft. Doch die Stelle des Souveräns kann er nicht wirklich einnehmen, weil er nicht wirklich Teil der Gesellschaft ist – er kann sie nur simulieren. Als Schicksalsträger steht er selbst dann noch außerhalb der Gesellschaft, wenn er im Zuge seiner Investigationen zum Kern des Nomos vorgedrungen ist. Ödipus kann nicht zum Herrn des Diskurses werden. Da er seinen Ort außerhalb des Sozialen hat, wird sich an ihm vorher noch sein unabwendbares Schicksal als Urteil vollziehen. Indes macht Ödipus’ Geschichte eines klar: es kann, gerade im Sinne einer Theorie der Gesellschaft, nicht darum gehen, das Schicksal lediglich als Verhängnis, als sich am Subjekt vollziehendes Urteil zu verstehen. Das Schicksal ist als distinkte Kategorie der Analyse von Kultur und Gesellschaft anzuerkennen; das vorzuführen sollte die Aufgabe des vorliegenden Textes sein. Entgegen der Moderede von der Kontingenz bliebe also festszustellen, daß es weniger die Gesellschaft aufbrechende Kontingenz ist, die die Gesellschaftsordnung verbürgt, denn das diese Ordnung beständig perpetuierende Schicksal. Gesellschaft als Organisationseinheit ist immer an ein Moment des Schicksals gebunden, wohingegen ihr die A-Sozialität einer freien, plötzlichen Kontingenz eher abgeht. Die Crux des Schicksals ist, daß es eben immer schon ist. Für das 85

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Schicksal gibt es eine Art verborgener Urschrift. Indem diese Urschrift den Subjekten verborgen bleiben muß, besteht für diese im Grunde kein Unterschied zwischen dem Schicksal und der Kontingenz. Beides wird durch Ereignisse markiert, die vom Subjekt so nicht unbedingt intendiert sein müssen, die Vorhaben durchkreuzen, Absichten vereiteln. Das Erleben des Subjekts macht keinen Unterschied zwischen dem Schicksal und der Kontingenz. Der Unterschied liegt allein im dahinterstehenden Prinzip einer alle kulturelle und soziale Bindung negierenden Kontingenz sowie der Einfügung in ein Schicksal, das sich naturgemäß dem subjektiven Nachvollzug entzieht. Das Schicksal wird so zum Repräsentanten sozialer Transzendenz, einer Ordnung vor den Subjekten, die nichtsdestotrotz deren Freiheit erst ermöglicht, während diese im Kontext bloßer Kontingenz sich einem Naturzustand gewaltsamen Handelns opfert. Gerade vor der Folie der Kontingenz läßt sich eine Homogenisierung des Sozialen betreiben, indem das Handeln der Anderen und damit deren Einfluß auf kontingente Ereignisse abgeschnitten wird. Das Schicksal hingegen gilt für jeden gleichermaßen; es enthält einen egalisierenden, gegen soziale Usurpation gefeiten Aspekt. »Reine Souveränität«, nach Derrida sowohl Bedingung als auch Negation von Demokratie (vgl. Derrida 2003: 141f.), gibt es nur im Rahmen einer maßlosen Steigerung von Kontingenz. Die bittere Lektion des Ödipus ist daher die: daß sich ein Schicksal nicht in Kontingenz domestizieren läßt. Ödipus ist, bemerkt Lacoue-Labarthe, schon deshalb als Tyrann zu charakterisieren, weil er sich selbst durch seine hermeneutischen Fähigkeiten des Rätsellösens für einen König göttlichen Rechts hält (vgl. LacoueLabarthe o.J.: 29). Das freilich ist er nicht, sogar am wenigsten, und selbst als ein solcher bliebe ihm dennoch das Wissen des Göttlichen verschlossen, das er nun zu erschließen sucht. Bewaffnet mit diesem göttlichen Wissen würde Ödipus über jene »reine Souveränität« verfügen, die »stärker ist, als alle anderen Mächte auf der Welt« (Derrida). Eben dies wäre die Voraussetzung und die Bedingung für einen erfolgreichen Totalitarismus. Aber weil er ein Schicksal hat, kann ihm genau das nicht gelingen. Und deshalb findet sich in Ödipus auch nur eine »Tragödie der Kohärenz, d.h. der Konsequenz« (Lacoue-Labarthe). Die Welt wird aus der performativen Begrenztheit ihrer Subjekte heraus gerettet, das ist der metaphysische Kern der Ödipus-Geschichte für eine gegenwärtige Gesellschaftsanalyse. An ihr wird deutlich, daß immer noch ein metaphysischer Bezug des Sozialen gegeben ist. Mag sein, dieser Bezug funktioniert in der säkularen Gesellschaft unreligiös, sogar unterirdisch, aber er bleibt 86

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vorhanden. »Der Rückzug Gottes ist das Gesetz.« (Lacoue-Labarthe o.J.: 39) Das Gesetz erscheint als absolutes Substitut Gottes, und es konvergiert mit einem Begriff von Schicksal, ohne den das Gesetz als Kategorie wie auch als Praxis undenkbar wäre. Offen bleibt schließlich die Frage, wo sich bei Ödipus, dem von Beginn an Verurteilten, der Prozeß und das über ihn verhängte Urteil situiert – beides im Sinne Kafkas und seiner Lektüre bei Derrida. Beides entfällt, weil seine Verurteilung ausschließlich transzendent und allegorisch ist. Bollack und Girard identifizieren Ödipus unisono als Träger einer Erbschuld, der vollenden muß und dafür einzustehen hat, was das väterliche Geschlecht bis hinunter zu Kadmos, dem Begründer Thebens, zu verantworten hat. Derrida stellt fest, daß Prozeß und Urteil die notwendigen Instanzen sind, um überhaupt vor dem Gesetz erscheinen zu können (vgl. Derrida 1999: 39). Ödipus erscheint ja keineswegs vor dem Gesetz. Er ist immer vom Gesetz geschieden, exkludiert; bestenfalls unterläuft er es, wo er es zu besitzen hofft. Durch sein ihm auferlegtes Schicksal ist er zwar von vornherein in das Zentrum des Gesetzes selbst gestellt – aber nur als Allegorie. Die eigene Teilhabe am Gesetz bleibt ihm versagt; dem Sozialen ist er entäußert. Die für Ödipus zuständige Kategorie ist allein die der Schuld, und die bleibt subjektiv. Natürlich ist Ödipus von Anfang an schuldig, schuldig noch vor der Geburt, weshalb die Eltern, die das wissen und trotzdem glauben, sie könnten ihr Schicksal bluffen, sich seiner zu entledigen suchen. Aber für sich schuldig kann Ödipus erst werden, wo er dieser Schuld auch gewahr wird – »Die Schuld verlegt die Verfehlung in das subjektive Bewußtsein.« (Schwan 1997: 25) Bevor sie dort nicht zur Geltung kommt, ist sie auch nicht in der Welt. Schuld ist immer abhängig von ihrem Eingeständnis durch den Delinquenten. Dazu kommt es für Ödipus am Schluß; wenigstens als »versöhnendes Opfer« kann er noch etwas Sühne tun. Daran wird deutlich, daß das Gesetz des Sozialen im Kern voraussetzungslos sein muß. Sein Bild kann nur das des Bundes sein. Schon der Vertrag hat mit einer Leerstelle der Begründung zu kämpfen, die er niemals wird schließen können. »Offenbar dürfte das Gesetz als solches niemals irgendeiner Erzählung stattgeben. Seine kategorische Autorität kommt dem Gesetz nur zu, wenn es ohne Geschichte, ohne Genese, ohne mögliche Ableitung ist. Dies wäre das Gesetz des Gesetzes. Die reine Moralität hat keine Geschichte […].« (Derrida 1999: 44f.) Ödipus ist dafür der Kronzeuge. Dagegen hält Heinrich, Sophokles’ 87

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»Oidipus«-Tragödie sei »im Grunde ein unmoralisches Stück, sie hebt die sittliche Verantwortung des Menschen auf, zeigt göttliche Mächte als die Anordner des Verbrechens und die Ohnmacht der sittlichen Regungen des Menschen, die sich gegen das Verbrechen wehren« (Heinrich 1993: 109). Im Gegenteil. Lediglich wird der Mensch vorgeführt als Bestandteil eines Ensembles von Diskursen und Institutionen. Darin aber erlangt er gerade erst eine Ermächtigung zum Handeln. Was bedeutet es dann zu sagen, die ödipale Gesellschaft sei eine Gesellschaft des Gesetzes, mehr noch aber eine des Schicksals? Bekanntlich unterscheidet sich diese Feststellung zunächst nicht vom Ausgangspunkt der Psychoanalyse. Nicht die Reduktion auf die Eltern-Kind-Beziehung, auf kindliches Begehren und Tötungswünsche bildet darin ja den Kern des Ödipus-Komplexes. Vielmehr erlangt der Ödipus-Komplex seine Bedeutung und Wirksamkeit erst aus der kulturellen Dimension, in die er eingelassen ist – aus der Einführung einer verbietenden Instanz, »die den Zugang zur natürlich gesuchten Befriedigung verschließt und den Wunsch und das Gesetz untrennbar miteinander verknüpft« (Laplanche/Pontalis 1994: 355). Das ist der nach wie vor bedeutsame Aspekt des ÖdipusKomplexes in der Psychoanalyse, aber er greift trotzdem viel zu sehr über die Verflechtung des Vaters mit dem Gesetz auf die Problematik zu. Hingegen sollte hier zum einen gezeigt werden, daß mit der Instanz der Souveränität eine nicht hintergehbare Bedingung von Gesellschaft vorliegt, die zwar präsozial gedacht werden muß, jedoch dem Sozialen absolut inhärent ist. Das bedeutet ein chiastisch angelegtes Bedingungsgefüge von Subjektivität, sozialer Ordnung und Handlungsmächtigkeit. Darin sind der Vater und das Gesetz gerade nicht deckungsgleich. Im Gegenteil, weil der Vater sich antipodisch zum Gesetz verhält, wird auch Ödipus genealogisch aus dem Gesetz ausgeschlossen. Zwar sollte der Vater das Gesetz vollziehen; zwischen beiden besteht aber eine klare Unterscheidung. Zum anderen konnte anhand der Geschichte von Ödipus demonstriert werden, welche Relevanz die Kategorie des Schicksals nach wie vor für die Analyse gesellschaftlicher und kultureller Verhältnisse entfalten kann, wenn man sie der Kontingenz gegenüber in Anschlag bringt. Kontingenz als scheinbar unbegrenzte, Freiheit, Plötzlichkeit und individuelle Souveränität suggerierende Determinationskategorie erhält im Begriff des Schicksals ein notwendiges, durch diverse religionsphilosophische bis poststrukturalistische Überlegungen zur Ordnung des Sozialen gedecktes Korrektiv. Indem daher nach einem Deutungspotential des Mythos 88

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7. ÖDIPALE GESELLSCHAFT

jenseits der Psychoanalyse gefragt wird, rückt dieser in das Interesse einer politischen Theorie der Souveränität. In dessen Mittelpunkt stehen Fragen nach den Bedingungen und Aporien einer solchen Souveränität. Der Ödipus-Mythos wird so zur Interpretationsfolie eines Problems, das weit über den »Fall Ödipus« hinausgeht. Ödipus als einen zwar unfreiwilligen aber notwendigen Protagonisten sozialer Subversion zu deuten, erlaubt es, das Stück als ein politisches Drama über die Möglichkeit von Subjektivität und Gesellschaftsbildung zu lesen. Wenn es vergesellschaftete (bzw. sich selbst vergesellschaftende Subjekte) nur gibt, sofern sie eine personale Identität ausbilden, diese Identität aber nur durch einen Bezug auf ein Außen zu haben ist, das in dieser Identität nicht aufgeht, stellt die Figur des Ödipus die radikale Unmöglichkeit von Subjektivität bzw. von Gemeinschaftsbildung dar. Und zwar nicht nur, weil in Ödipus das Außen des Subjekts und das Projekt der Identitätsausbildung ununterscheidbar zusammenfallen (dies könnte immer noch eine Extremform von Souveränität sein), sondern weil es sich einerseits bei diesem Außen um ein Schicksal handelt (den Vater zu töten und die Mutter zu heiraten), das dem Toten und nicht den Lebendigen Grund gibt, und weil es sich andererseits bei der Identitätsbildung um eine Hybris des Subjekts handelt (»Erkenne dich selbst!«), die jeden Bezug zu einem Außen zu tilgen sucht und damit die Ausbildung gesellschaftsstiftender Subjekte gerade verfehlt. In diesem Kontext wird eine Neubestimmung des Schicksalsbegriffs möglich, die innerhalb der laufenden Diskussionen um den Kontingenz-Begriff eine Korrektivfunktion wahrnehmen kann. Das Rätsel, das Ödipus löst, wird immer nur die Bestätigung des anderen Orakels sein, dem er von je her verfallen ist. Das macht Ödipus’ Tragik aus. Daß er sich sein Schicksal als Todgeweihter durch sein Begehren nach einer absoluten Immanenz von Subjektivität erst zum Bewußtsein bringt, begründet seinen Status als absolutes Außen von Gesellschaft. Nicht nur steht von Anfang an sein Schicksal für die Unmöglichkeit einer vom Nomos abgelösten Gemeinschaftsbildung; das Begehren nach einer absoluten subjektiven Immanenz zeigt außerdem die Möglichkeit der Pervertierbarkeit von Gesellschaft auf jeder ihrer Stufen. Insofern ist die ödipale Gesellschaft doppelt markiert. Sie verweist auf eine Determination der Subjekte durch deren soziale Institutionen, die sich mühelos als Schicksal bezeichnen läßt. Es ist gerade dieser Aspekt des Schicksals, der das Prinzip der Konsubjektivität und Soziabilität gelingen läßt und Gesellschaft zu einem nicht geschlossenen Handlungsraum macht. Uneingeschränkte subjektive 89

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Handlungsmächtigkeit hingegen, der Versuch, aus dieser Determination auszubrechen, würde Gesellschaft, die auf einen derartigen Handlungsraum unbedingt angewiesen ist, zerstören und souveräner Willkür preisgeben. In der ödipalen Gesellschaft stellt sich heraus, daß subjektive Freiheit zugleich die Freiheit des Gesetzes ist. Diese Konjunktion zwischen Freiheit und Gesetz bildet das Schicksal des Subjekts. Diese Dimension des Sozialen, das chiastische Verhältnis von Freiheit und Gesetz kann der Begriff der Kontingenz allein nicht deutlich machen. Kontingenz setzt als Einbruch von Plötzlichkeit immer eine Differenz, beinahe einen Hiatus, zwischen das Subjekt und die Gesellschaft, die es umgibt. Mag sein, daß diese Ordnung insofern kontingent ist, als sie ein kulturelles Artefakt darstellt. Nichtsdestrotz etabliert sie sich für ihre Subjekte als eine notwendige Ordnung, deren Gesetze eine über das Subjekt deutlich hinausschießende Gültigkeit besitzen. Allein auf Kontingenz abzustellen bedeutet, das Subjekt von Gesellschaft zu befreien, es nahezu autonom in einen Kontext unwillkürlichen Geschehens zu stellen. Von diesem Geschehen mag es getrieben und überfallen werden, es bleibt davon dennoch insofern getrennt, als die Kontingenz selbst nicht Teil des Sozialen ist, sondern gerade dessen Widerlegung. Kontingenz erzählt ausschließlich von der Vergeblichkeit des Sozialen; während das Schicksal eingelassen ist in eine Ordnung des Sozialen und daher sowohl Raum läßt für die Gesellschaft stiftende Bedeutung des Nomos, als auch für den das Subjekt von sich selbst distanzierenden Einbruch der Plötzlichkeit. Vor allem die Plötzlichkeit verhindert ja eine Verabsolutierung des Subjekts und damit die hermetische Abriegelung von Gesellschaft durch den Willen eines despotischen Subjekt-Souveräns. Indes ist Gesellschaft immer gefährdet durch den Willen ihrer Subjekte nach äußerster Souveränität über ihr Schicksal. Als Subjekt ganz souverän zu werden, bedeutet eben, alle Aspekte möglicher Kontingenz und eines möglichen Schicksals auszuschalten. Gelänge dies, wäre der Platz des Nomos nicht länger präsozial uneinholbar, sondern okkupiert durch ein Herrschersubjekt. An diesem Punkt setzte dann eine Totalisierung von Gesellschaft ein, die ihre Individuen erst recht von jeder Form des Handelns abschnitte und sie in eben das Verhältnis zu einem – jetzt durch den profanen Souverän definierten, nicht mehr nur repräsentierten – sozialen Nomos setzte, in dem sich auch Ödipus befindet. Eine Okkupation dieser Art hat Kreon versucht. Damit wäre der Weg frei für eine Anthropolitik, deren Differenz in erster Linie zwischen dem Souverän als humanem Subjekt und den anderen als seinen Objekten verliefe. 90

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Gerade der Aspekt des Schicksals ist in der Lage, dies zu verhindern. Die Überschreitung des Nomos durch den Souverän scheitert gerade an dessen Einbettung in ein soziales Schicksal, das sich nicht singulär reduzieren läßt. Insofern es notwendig plural organisiert ist, bietet es auch den nötigen Widerstand gegen Versuche der Usurpation. Auch das hat Ödipus versucht und ist gescheitert. Schicksal als soziale Kategorie ist rehabilitierbar. Etwas anderes ist die Subversion des Nomos, die Ödipus vollzieht. Der Nomos wird subvertiert, indem er durch jemanden repräsentiert ist, der diese Repräsentation gar nicht leisten kann. In dieser Situation ist der Nomos nicht mehr wirklich aktionsfähig und es kommt zur Krise der sozialen Ordnung. Weil die ödipale Gesellschaft permanent gefährdet ist durch einen möglichen Zusammenbruch des Nomos im Zuge subjektiver Willkür, sie aber gleichzeitig genau die Bedingungen dafür bereitstellt, daß Subjektivität sich innerhalb eines sozialen Ordnungsrahmen entfalten kann, verdeutlicht sie wie keine andere die Fragilität menschlichen Zusammenlebens. Das Schicksal kann daher nur ambivalent rezipiert werden – worin sich bereits dessen Gewähr für die Äquivokheit der Welt widerspiegelt. Es wirkt in negativer Weise auf die Subjekte, indem es deren Absichten durchkreuzt, und es wirkt für die Subjekte positiv, indem erst es einen Rahmen bereitstellt, worin sich eine notwendig plurale Freiheit des Handelns entfalten kann.

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7. ÖDIPALE GESELLSCHAFT

Anmerkungen Dieses Buch geht zurück auf ein Seminar mit dem Titel »Ödipus: Subversive Souveränität« an der Freien Universität Berlin im Sommer 1999. Die dort geführten Diskussionen haben den Text entscheidend mit auf den Weg gebracht. Wichtige Hinweise sind Hartmut Böhme zu verdanken. Am Ende tauchte hilfreich Lars Friedrich auf. Nicholas Hübner hat allem einmal den Anstoß gegeben.

1. Mythos/Gesellschaft 1. Vgl. bspw. Freud 1992; Freud 1974; Deleuze/Guattari 1975; Chasseguet-Smirgel 1986; Irigaray 1979a; Irigaray 1979b; Kimmerle 1998 2. Zur Theorie des Mythos vgl. v.a. Horkheimer/Adorno 1997; Guthke 1971; Heinrich 1983; Blumenberg 1990; Losev 1994; Kamper/Wulf 1997 3. Damit wird an die durch die idealistische Philosophie aufgeworfenen Fragen zum Verhältnis von Welt resp. Gesellschaft und Subjektivität angeknüpft. Sie gilt es für eine kulturwissenschaftliche Analyse zu berücksichtigen, die dem Problem der Realität gerecht werden möchte, ohne in den Abgründen der Metaphysik stecken zu bleiben. In diesem Zusammenhang sind zunächst Kants Überlegungen zur Diskrepanz von Erfahrung und Einbildungskraft in der »Kritik der reinen Vernunft« zu nennen. Daneben ist insbesondere auf die daran anschließenden Erörterungen Hegels in der »Phänomenologie des Geistes«, sowie Fichtes Diskussion der Möglichkeit von Subjektivität hinsichtlich der Diskrepanz von »Ich« und »Nicht-Ich« in der »Wissenschaftslehre« zu verweisen. Die Untersuchung dieses Verhältnisses am Beispiel eines einen Interpretationsraum eröffnenden Mythos ist als beispielhafte Demonstration des Verfahrens gedacht. Zugleich ist sie aber mehr als das. Zwar besteht Grund, darauf zu vertrauen, auf diese diffizile 93

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Art und Weise Kulturwissenschaft auch am empirischen Gegenstand ausüben zu können. Doch zeigt gerade der Mythos die Verflechtung von gesellschaftlicher Imagination und subjektiver Erfahrung an. Dazu stellt er für beide verschiedene Motive bereit, wie das des Schicksals und der herrschaftlichen Souveränität. So wird Gesellschaft nicht in Mythologie übersetzt; auch wird nicht – wie bei Lévi-Strauss – behauptet, jene trage deren Struktur fort. Vielmehr erscheint umgekehrt der Mythos als Allegorie auf das Verhältnis der Vergesellschaftung und erlaubt so einen Blick auf deren verdeckte, unsichtbare Funktionszusammenhänge. 4. Pierre Bourdieu spräche an dieser Stelle von »Imaginatio« (vgl. Bourdieu 1998). 5. Im sokratischen Dialog »Menon« dreht sich bekanntlich alles um die Möglichkeiten der Erkenntnis und deren Verstellung, womit Platon Lacan eine Vorlage für dessen Kategorien des »Realen« und des »Symbolischen« an die Hand gibt (vgl. Platon 1991). 6. Der Begriff geht in diesem Zusammenhang zurück auf Carl Schmitt (Schmitt 1988; Schmitt 1959; vgl.a. Ahrens 2001: 21ff., 61ff.). Im Unterschied zu Schmitt werden im folgenden die Begriffe Gesetz und Nomos synonym verwendet. Der Versuch einer Scheidung, den Schmitt vornimmt, erscheint wenig sinnvoll. Aus der Synomität der Begriffe folgt auch die ausschließliche Verwendung des Terminus »Gesetz« im Singular. Die juridische Ebene, für die der Plural »Gesetze« angebracht wäre, ist hier nicht entscheidend. Als nomistische Kategorie, die zudem transzendent gehalten ist, ist »das Gesetz« hingegen ein feststehender Topos innerhalb der religionsphilosophischen Rezeptionslinie. 7. Zitate aus Agamben sind eigene Übersetzung des Autors. 8. Zwar hat Foucault versucht, die Theorie der Souveränität, der die Kategorie des Nomos letztlich zugeordnet ist, als überholt zu widerlegen. Seine Absicht war, sie durch sein Theorem der diskursiven Macht zu ersetzen. Doch hat er selbst eingeräumt, daß die Ersetzung der Souveränität durch den bloßen Diskurs historisch und damit auch sozial zu keinem Zeitpunkt, auch nicht gegenwärtig, gelungen ist. Auch wo Souveränität faktisch keine Rolle mehr spielt, tritt sie noch als soziales Phantasma und als sozialer Kitt auf (vgl. Foucault 1999: 31ff.). 9. Das bedeutet auch, daß nicht beabsichtigt ist, an die Diskussion um das Verhältnis von Mythos und Moderne anzuknüpfen (vgl. u.a. Bohrer 1983; Kemper 1989). Auch wenn es einige Berührungspunkte geben mag, so ist diese Debatte kein Bezugspunkt für diesen Text. Hier geht es weniger um die Auslotung eines Ver94

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hältnisses von Mythos und Moderne, als darum, mit den Mitteln einer allegorischen Lesart des Mythos Aussagen über die moderne Gesellschaft zu treffen. 10. Ursprünglich ein Schauspiel, inszeniert als Freudenfest zu Ehren des Dionysos, transformiert sich dies immer mehr in Richtung Trauerspiel und begründet auf diese Weise die Tragödie. Erst Aischylos, dann Sophokles geben dieser ihre Kontur. »Obwohl die Tragödien noch immer zur Feier der dionysischen Festspiele aufgeführt wurden, gewann die ausführliche Darstellung von ›traurigen‹ Begebnissen, die gegen den ›Dionysos-Kult‹ Einwände erhob, immer mehr die Oberhand.« (Boehm 2001: 140) Der sophokleische Held sodann sei eine ästhetische Reaktion auf die von der historischen Realität geschaffene psychische Verfassung der Gesellschaft. Im Zentrum stehe stets der Konflikt von Freiheit und Autonomie des Individuums im Verhältnis zur Polis. »Die Polis erscheint als Ausgangs- und Endpunkt sophokleischen Dichtens.« (Rohdich 1980: 232) Durch die Tragödie werde sie gerechtfertigt und bejaht. Hingegen hat Hösle hervorgehoben, Sophokles’ Dichtung sei ganz dem Individuum, nicht der Verwirklichung der Institution, zugewandt. Allerdings trage der darin dargestellte Heros nicht nur subjektive Merkmale; seine Besonderheit liege vielmehr darin, »in höchstem Maße allgemein, objektiv zu sein« (Hösle 1984: 94). 11. Schadewaldt datiert Sophokles’ Geburtsjahr auf etwa 497/6 v.u.Z.; sein Tod stehe für das Jahr 406/5 fest (vgl. Schadewaldt 1968: 436ff.). Aus wohlhabendem Hause stammend, wirkte er an prominenter Stelle im Großstaat Athen, war vertraut mit Perikles wie auch Priester eines Heros’ aus dem Kreise des Heilgottes Asklepios. Seine Tragödien, so Schadewaldt, seien »Dokumente griechischer Religion« – »und diese Religion ist der Raum, in dem man sie aufsuchen muß«. Gleichwohl habe ihn seine Frömmigkeit nicht gehindert, innerhalb der Kunst als energischer Neuerer aufzutreten. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es freilich interessant, der Fährte nachzugehen, die Nietzsche gelegt hat, als er über den dionysischen Ursprung der Tragödie schrieb, »dass alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne Prometheus, Oedipus u.s.w. nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind« (Nietzsche 1988: 71). Denn was Nietzsche die »Mysterienlehre der Tragödie« nennt, das findet sich für Ödipus explizit. Über das religiöse Mysterium hinaus soll dem hier Aussagekraft auch für die symbolische Ordnung von Kultur und Gesellschaft abgefordert werden: »die Grunderkenntniss von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Übels, die Kunst als die freudige Hoff95

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nung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit« (Nietzsche 1988: 73).

2. Gesetz 1. Für Bataille liegt in der Figur der Überschreitung ohnehin eine Praxis, die Gesellschaft auf ihren negativen Grund hin transzendiert. Das gesellschaftslose Subjekt der Überschreitung ist demnach das einzige, das erahnt, was Freiheit bedeutete (vgl. Bataille 1994). 2. Bei Foucault heißt es: »Wir sind der Produktion der Wahrheit durch die Macht unterworfen und können die Macht nur über die Produktion der Wahrheit ausüben.« (Foucault 1978: 76) Der daraus resultierende, objektlos und unsichtbar bleibende Diskurs der Vergesellschaftungsprozesse bildet folglich den Hintergrund jeder gesellschaftlichen Äußerung. 3. Aus der mittelalterlichen Verbindung von Theologie und Jurisprudenz stammend, findet die Theorie der Souveränität ihren stärksten Ausdruck bei Hobbes (Hobbes 1991) und wird über Rousseau (Rousseau 1989) bis in die Gegenwart hinein tradiert. Über das transzendent gehaltene Konstrukt der Souveränität, wie es sich im Mittelalter entwickelt hat und Gesellschaft bedingt, gibt Kantorowicz Auskunft (Kantorowicz 1994). 4. Denkbar wäre der Einwand, ob das Modell der Souveränität überhaupt kompatibel ist mit einer Sozialordnung wie der im »König Ödipus« angezeigten thebanischen Gesellschaft. Entscheidend dafür ist die Frage, wie es sich mit Tyrannis und Königtum verhält. Im »Staat« führt Platon (1987) aus, der Tyrann sei ein Usurpator, der – in macchiavellistischem Stil – alle abräumt, die ihm im Wege stehen, »bis weder von Feind noch Freund irgend einer übrig ist, der etwas taugt« (567); und in den »Gesetzen« merkt er an, der Tyrann neige dazu, dem »schlechten Lebenswandel« zu verfallen (696 St.). Vom Königtum spricht Platon allerdings gar nicht. Die Herrschaft des einen über alle anderen kennt er nur als Tyrannis, und insofern liegt die Apostrophierung von Ödipus als Tyrann – ganz im Sinne Hölderlins – nahe. Aristoteles hingegen kennt das Königtum durchaus im Sinne des »lebenslänglichen Feldherrenamts« (Politik, 1285a). Er zieht aber die Aristokratie als Staatsform aufgrund ihrer pluralen Aspekte in jedem Fall vor. Ein einziger könne auch gar nicht das Gesetz repräsentieren, das sich immer auf alle beziehe: »denn die Ordnung ist ein Gesetz, und es liegt also 96

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hierin, daß es vorzuziehen ist, wenn das Gesetz regiert und nicht ein einzelner von den Staatsbürgern« (1287a). Der Tyrann kommt noch schlechter weg; er regiere despotisch und nach Gutdünken (1295a). Im Sinne der Mäßigung votiert Aristoteles natürlich für eine »mittlere Verfassung«. Ein Tyrann ist also nicht vorgesehen, zumindest ist er im Kontext der griechischen Antike nicht erwünscht, und es scheint schwer vorstellbar, daß ein dahergelaufener Rätsellöser vom Volk freiwillig zum Despoten gekrönt würde. Vielleicht sind Platon und Aristoteles schon zu aufgeklärt. Die mythischen Erzählungen berichten allesamt von Königen als Helden. Vielleicht liegt darin aber auch schon ein allegorisches Moment, das das Motiv des Nomos in ein soziales Bild kleidet: Der Nomos herrscht als einzelner über alle; er bleibt den Bürgern, den Institutionen enthoben; sie sollen ihn lediglich ausführen. Das kann durchaus auf dem pluralen Wege von Aristokratie oder Demokratie geschehen, doch die Herrschaft des einen Nomos vor der der vielen Subjekte bleibt als Voraussetzung von Sozialität unangefochten. Möglich, daß jemand wie Ödipus in der Lage seines Konflikts darauf ein stimmiges Bild abgibt. Ödipus übt eine Tyrannis aus. Es gibt so gesehen keinen Widerspruch zwischen der Souveränität und der Tyrannis. Im Gegenteil, im Sinne ihrer Lesart bei Bataille oder bei Schmitt ist die Souveränität in der Tat äußerst kompatibel mit der Tyrannis. Diese ist besonders gut in der Lage, den einzelnen als souverän Handelnden zu inszenieren, und gleichzeitig ist gerade sie gefordert, ihre Übereinstimmung mit dem sozialen Nomos und seinem fernsten Souverän zu demonstrieren, zu zeigen, daß sie in der Lage ist, dieser Souveränität eine Repräsentation als soziale Institution zu geben. Die füllt der Herrscher aus – Ödipus, der Tyrann. Insofern ist es die Tyrannis, die in sich das Bild des transzendenten Nomos repräsentiert, der über die Gesellschaft herrscht, wie ein (unsichtbarer) König. Der sichtbare König erscheint so gesehen wie seine eigene sichtbar gemachte Allegorisierung. Praktisch könnte man Ödipus als einen souveränen Diktator im Sinne Schmitts bezeichnen – eine Lesart der Diktatur, die ohnehin nur vor Schmitts Modell des Nomos möglich ist. Der Diktator erscheint hier als der legitime Herrscher des Ausnahmezustands, nicht als Usurpator politischer Freiheit, sondern als deren letztendlicher Bewahrer: »Denn der Diktator ist kein Tyrann und die Diktatur nicht etwa eine Form der absoluten Herrschaft, sondern ein der republikanischen Verfassung eigentümliches Mittel, die Freiheit zu wahren.« (Schmitt 1994: 6) Das Charakteristikum des Diktators be97

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stehe allerdings darin, daß er auch alles tun dürfe, »was nach Lage der Sache erorderlich ist« (Schmitt 1994: 11). Das ist ein bedeutender Unterschied zu Ödipus’ Strategie, der den Weg der souveränen Entscheidung gerade nicht wählt, sondern die Variante der langwierigen, formalen Untersuchung des Wahrheitsgehaltes einschlägt – eine Geste, die deutlich macht, wie sehr Ödipus im Grunde von der Souveränität seiner Herrschaft entfernt ist. Als souveräner Diktator mag er wohl eingesetzt sein, was der Krisenlage Thebens in jener Situation auch entspräche. Als Diktator weist er noch einmal mehr auf das nomistische Verhältnis von Gesellschaftlichkeit hin, das er ohnedies negativ an sich selbst repräsentiert. Nun muß er es als Souverän aber auch nach innen, in die Gesellschaft hinein, repräsentieren. Dieser Anforderung kann Ödipus nicht genügen, womit sein Schicksal endgültig besiegelt ist. 5. Zum Nicht-Menschlichen vgl. Böhme 1999. Im übrigen manifestiert sich das Schicksal nicht im Spruch des Orakels (wie vielfach mißverstanden wurde), sondern dieses fungiert nur als dessen offenbarendes Medium. 6. Die Kategorie des Schicksals soll im Rahmen einer allegorischen Lektüre ernst genommen werden. Durch sie kann verdeutlicht werden, was es bedeutet, den einhegenden Rahmen des Nomos zu verlassen; ebenso zeigt sie die Grenzen eines allein auf Kontingenz abstellenden Konzepts von Sozialität und Individualität an. In der Interpretationsgeschichte des sophokleischen Ödipus ist die Bedeutung des Schicksals schon früh in Frage gestellt worden. Es ist Hölderlin, der zu bedenken gibt, das Orakel spreche keineswegs eindeutig von einem »Schicksal«; dies folge erst einer Interpretationsleistung von Ödipus selbst (vgl. Hölderlin 1963: 618ff.). Otto Küster schließt daran an; kein Schicksal motiviere das Drama. Im Gegenteil verunmögliche ein Schicksal auch alle Schuld; die Rede über Ödipus würde tautologisch. Denn Schuld setze voraus, »daß man anders handeln konnte« (Küster 1947: 170). Diese Möglichkeit eröffne das Schicksal gerade nicht. Küster verkennt damit die Spezifität des Nomos, dessen Exklusion Ödipus durchaus zum Handeln zwingt. Daß dieses Handeln vergeblich und dem Schicksal geschuldet bleibt, zeigt vor allem an, daß er keinen Anteil am sozialen Nomos hat, somit auch nicht Teil der Gesellschaft ist. Es sei vielmehr ein Drama des Wissens – »daß der Geist des Oedipus in zorniger Ahnung alles weiß« –, welches sich hier inszeniere (vgl. Küster 1947: 168). Daß das Schicksal unbedingt an eine Strategie des Wissens gekoppelt ist, übersieht Küster. Natürlich geht Ödipus’ Verlangen auf das Wissen aus. Mit ihm könnte er sein Schicksal – von dem er 98

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gar nichts weiß – domestizieren. Zwischen dem Wissen und dem Schicksal existiert weder ein Dissens noch ein Widerspruch. Die Aversion gegen eine (und sei es nur eine ästhetische, allegorische) Kategorie des Schicksals geht offenbar auf ein sehr bürgerliches Empfinden zurück, das Schiller in dem Satz zusammengefaßt hat, »eine blinde Unterwürfigkeit unter das Schicksal [sei] immer demütigend und kränkend für freie, sich selbst bestimmende Wesen« (Schiller o.J.: 490). Von diesem Affekt zehrt noch Boehm, wenn er den Begriff des Schicksals im Kontext der Tragödie, worin es ohnehin nur eine untergeordnete Rolle spiele, durch den des »fatalen Zufalls« ersetzt sehen möchte. »Wenn in der Tragödie etwas ›schuld‹ ist am Untergang ihres Helden oder ihrer Heldin, dann nicht deren (unschuldige?) Schuld, noch ein unerbittliches Schicksal, sondern jedesmal ein Wahn.« (Boehm 2001: 143) Was dieser Wahn begrifflich, kategorial bedeuten soll, erklärt Boehm nicht. Es scheint, daß er als »fataler Zufall« nicht viel mehr darstellt als eine rationalisierte Variante des Schicksals, die am Tatbestand selbst nichts ändert. 7. Unabhängig davon und auch von den hier gegen Girard angeführten Einwänden, hat Walter Burkert die von Girard herausgestellte, exemplarische Funktion des Ödipus-Mythos für die Kulturgenese durchgestrichen, mit der dieser sich zudem stark an die von Freud in »Totem und Tabu« ausgeführte Vatermordthese anlehnt. Ein einzelnes Ereignis, wie gräßlich auch immer, könne eine solche prägende Bedeutung nicht entfalten. Viel wichtiger für die Ansetzung der Kulturgenese ist für Burkert die Frage, »wo der Mord seine notwendige und in der Tat evolutionsbestimmende Funktion hatte: als die Australopithezinen Paviane erschlugen und verspeisten und gelegentlich auch ihresgleichen«, hätten sich Voraussetzungen dafür ergeben, »auf dem Töten die Ordnung der Kultur« zu errichten (vgl. Burkert 1997: 87ff.). Die paradigmatische Stellung der Geschichte von Ödipus hinsichtlich der Genese einer Kulturgeschichte aus dem Geist des Opfers wäre damit hinfällig. 8. Daß es möglich ist, den sophokleischen Ödipus als antike Detektivgeschichte zu lesen, hat Claus Reinert vorgeführt. Von besonderem Interesse ist die »Rolle als Aufklärer«, die Ödipus spielt, worin der Detektiv mit dem Akteur subjektiver Emanzipation zusammenfällt. Dennoch streicht Reinert den Unterschied heraus, Aufklärung sei »bei Sophokles noch kein methodisch-wissenschaftliches, sondern ein existentielles Problem« (Reinert 1975: 26). Forster zufolge besteht die Praxis detektivischer Investigation in nichts anderem, als dem Bemühen, die Ordnung wiederherzustellen. Daß 99

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die Untersuchung, die Ödipus bezüglich des Mörders von Laios durchführt, bis ins Detail einer polizeilichen Vernehmung gleicht, ist offenbar. »Ordnung schaffen: beseitigen von Mehrdeutigkeit, herstellen von Eindeutigkeit, von Kausalität und von Entdecken der Wahrheit. Hergestellte Ordnung ist absolute Transparenz und Sichtbarkeit.« (Forster 1998: 300) 9. Kerényi berichtet die Vorgeschichte der schickalhaften Stigmatisierung des Ödipus in aller Ausführlichkeit. Ihren Beginn nimmt sie mit Ödipus’ Vater Laios, der in seiner Jugend den Chrysippos, Sohn des Pelops, aus Leidenschaft geraubt hatte: »Der Fluch des Pelops begleitete den Knabenräuber: nie dürfe er einen Sohn zeugen, oder, wenn er es dennoch tun sollte, durch den Sohn sollte er getötet werden.« Ödipus, der gehindert ist, sich als Mensch/Subjekt zu konstituieren, ist somit das Opfer eines faux pas seines Vaters, der am Kreuzweg wiederum zu seinem Opfer wird. Damit schließt sich ein Zirkel der Schuld, der das Geschlecht der Labdakiden auslöschen soll. Dieses Fazit zieht auch Bollack: Laios’ »zum Untergang geborener Sohn schöpft sein Vermögen wie sein Verderben aus jener Überfülle, die das Genos nicht mehr eindämmen konnte. […] In Ödipus richtet sich die Macht, die seit dem Bestehen der Familie ständig angewachsen war, gegen sich selbst.« (Bollack 1994a: 17) 10. In diesem Detail weicht Sophokles von seiner eigenen Dramaturgie aus »König Oidipus« ab, wo Kreon ihn noch unmittelbar als thebanischer König ablöst. Hingegen ist nun zuerst noch der Bruderkrieg zwischen Etéokles und Polyneikes zwischengeschaltet, aus dem Kreon als Nutznießer erst dann hervorgeht, wenn beide Brüder sich umgebracht haben. 11. Freilich ist es hier nicht zwingend einsichtig, zu unterscheiden. Bekanntlich ist im Sinne der Psychoanalyse beides identisch und auch für die Religionsphilosophie ist dieser Nachweis geführt worden (vgl. Palmer 1998). Trotzdem wird eine Unterscheidung letztlich weiter führen als die Annahme schlichter Identität. Auch im Verhältnis der einen Form des Gesetzes zur anderen handelt es sich um ein Repräsentationsverhältnis. Entscheidend ist daher deren Differenz, nicht die Identität. 12. Butler zitiert hier Jacques Lacan (Lacan 1991d: 42).

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3. Schicksal 1. Vgl. dazu Giddens’ Ausführungen zu unbewußten Handlungsfolgen. Giddens betont, »daß eine offenbar unbedeutende Handlung in Raum und Zeit weit entfernte Ereignisse auslösen kann […]. Im allgemeinen gilt, daß, je weiter die Handlungsfolgen in Raum und Zeit von dem ursprünglichen Handlungskontext entfernt sind, desto weniger wahrscheinlich jene Folgen beabsichtigt sein dürften – dies ist aber selbstverständlich sowohl durch den jeweiligen Horizont der Bewußtheit der Akteure als auch durch die Macht, die sie mobilisieren können, beeinflußt.« (Giddens 1988: 62) Diese nachdrückliche Betonung der kontingenten Wirkung von Handlungen erweist sich als die säkularisierte Variante eines Schicksalsbegriffes, wie er bei Bultmann religiös motiviert auftritt: der Mensch ist seiner selbst nicht mächtig. Das ist an Ödipus’ Beispiel nachvollziehbar. Der Unterschied besteht darin, daß das Schicksal für Bultmann wie für Giddens aus dem offenen Horizont des Handelns heraus entsteht. Für Ödipus hingegen ist es vorgezeichnet. Er wirkt als perfektes Instrument einer groß angelegten Inzenierung. Seine Frage ist nicht die, weshalb er geworden ist und wer er ist, sondern: weshalb er ist und wer er sein soll. 2. Diese Grenzen des Realen, welche eine spezifische Vorstellung von Realität bedingen, hat zuerst Kant in seiner »Kritik der reinen Vernunft« in den Begriffen der »Synthesis« und der »Vorstellungskraft« beschrieben. So etwa – »was die Gegenstände an sich selbst sein mögen, würde uns durch die aufgeklärteste Erkenntnis der Erscheinungen derselben, die uns allein gegeben ist, doch niemals bekannt werden« (Kant 1974: 87). Das Gesetz bestimmt Kant als sittliche Kategorie, das derart vorgestellte Reale in einen sozial konsistenten Zusammenhang zu bringen. Bultmann verbindet eine solche Vorstellung vom Gesetz protestantisch mit dem Glauben, der es hervorbringt und legitimiert. Der Glaube bleibt hier ein paradoxes Phänomen: »Er ist freie Tat, und er weiß sich erwählt […].« (Bultmann 1993: 157) 3. Erst in »Oidipus in Kolonos« kann Ödipus wieder als Subjekt des Gesetzes reussieren. Verschwinden muß er gleichwohl, denn seine Rehabilitation ist zugleich an die Bedingung seines Sterbens geknüpft (vgl. Sophokles: Oidipus in Kolonos). 4. Ödipus sei »an sich das Negative, das ein ihm Anderes, ein ihm, der das Wissen ist, Fremdes gegenüberstellt. Die Wirklichkeit hält daher die andere, dem Wissen fremde Seite in sich verbor-

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gen und zeigt sich dem Bewußtsein nicht, wie sie an und für sich ist […]« (Hegel 1973: 347). 5. An diesem Punkt stimmt Arendt mit Foucault in der Bestimmung der Macht überein. 6. Diese Figur des »Schuldzusammenhangs des Lebendigen« verbindet die griechische mit der jüdischen und auch mit der christlichen Tradition. 7. Cacciari schreibt, der Nomos habe »tatsächlich Geltung insofern, als er immer auch theios ist und die Spur einer göttlichen Ordnung in sich trägt« (Cacciari 1995: 109). Die Spur dieser göttlichen Ordnung im Nomos macht den Nomos aber auch unerreichbar für die menschlichen Subjekte. Er besitzt Gültigkeit als normative Richtschnur, aber er kann niemals wirkliche Heimat sein. »Im Gesetz zu Hause sein – das würde vor jeder Gefahr der Hybris schützen, das wäre göttlicher Friede. Doch schon die Tragödie stellt dies als Unmögliches dar.« (Cacciari 1995: 112) Das beste Beispiel dafür ist Ödipus, der in dem Wahn lebt, er sei als Souverän im Gesetz beheimatet, obwohl er tatsächlich auf eine ganz andere Art im und durch das Gesetz lebt und genau dieser Tatbestand ihn in Wahrheit von Beginn an aus der Gesellschaft exkludiert hat. 8. In seinen Vorlesungen über »Diskurs und Wahrheit« hat Foucault genau dieses Verhalten als für den König völlig inadäquat hervorgehoben; ein Verhalten, das den Herrscher desavouiert und delegitimiert: »Denn wenn es dem König an Selbstbeherrschung mangelt, wenn er von seinen Leidenschaften fortgerissen wird und wütend über den Boten wird, dann hört er nicht die Wahrheit und wird daher ein schlechter Herrscher für die Stadt.« (Foucault 1996: 30) Die Beziehung von Ödipus zu Teiresias ist darin gut getroffen. Ödipus beschimpft Teiresias, weil der ihm schlechte Neuigkeiten bringt, und in diesem Moment wird er definitiv zum schlechten Herrscher, weil er die Sorge um die Stadt gegen die bloße Sorge um sich selbst vertauscht.

4. Ordnung 1. Das entspricht gerade nicht einem Konzept der »Dividualität« (Sloterdijk), das auf eine grundsätzlich in sich gespaltene »Identität« setzt. Die Identität, die Ödipus anhaftet, ist vielmehr dualistisch. Er ist in zwei Identitäten geteilt. Doch Ödipus erkennt sich nicht als geteilt. Er ist geteilt, doch er vollzieht die Teilung nicht an sich selbst. Deshalb kann er sie auch nicht mitteilen und einen 102

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Fluß zwischen seinen Dividualitäten initiieren. Seine dualistische Identität besteht aus zwei solipsistischen, voneinander vollkommen unabhängigen Einheiten. Ödipus ist insofern als Person weniger geteilt als gedoppelt. Daran wird er scheitern. 2. In dieser Gabe vollzieht sich auch die Wendung des kadmeischen Geschlechts. War Kadmos ein bedeutender Heros, eng mit den Göttern verwandt, Großvater sogar des Dionysus, so vollzieht Laios, der der daraus resultierenden Verpflichtung nicht gerecht wird, den Bruch. Ödipus hat schließlich das ganze Gesetz in sich zu tragen und wird stellvertretend für seine Familie gerichtet. Die Stellung des Heros nimmt auch er ein, wie sein Tod beweist. Doch das Unglück des Heros, das Kadmos nur an den eigenen Kindern vollzogen sah, vereinigt sich nunmehr mit dem Heros selbst. 3. Eli Sagan hat diesen Aspekt der Souveränität in Verbindung mit deren Bedeutung für das Aufkommen von Individualität in seiner Studie über die Gesellschaften Bugandas, Tahitis und Hawaiis im 19. Jahrhundert minutiös herausgearbeitet. Dabei fällt besonders seine häufige Bezugnahme auf den Ödipus-Mythos auf, mit der er die Affinität dieser Kulturen mit der griechischen Antike zu unterstreichen sucht (vgl. Sagan 1987). 4. Es ist einigermaßen sträflich, Gesellschaft ohne Souveränität zu konzipieren. In einem Modell freier Assoziation fehlt z.B. die Notwendigkeit, soziale Autorität zu institutionalisieren, was immer die Gefahr birgt, in gewaltsame Herrschaft umzuschlagen. Im Falle einer Orientierung an sozialen Systemen wiederum fehlt das vitale Moment der Subjekte, die in der systemischen Beschreibung keineswegs aufgehen. Daß Gesellschaft eine artifizielle Institution ist, muß schließlich nicht bedeuten, daß Subjektivität der durch sie hervorgebrachten Technologie entspricht. 5. Das Problem der Souveränität erweist sich als konstantes Motiv des sophoklischen Theaters. Besonders in der »Antigone« findet es sich wieder, was deshalb pikant ist, da es sich bei diesem Stück um eine Fortschreibung des Ödipus-Stoffes handelt. Peplinski hat daran auch gezeigt, wie normativ eng die sophokleische Tragödie geführt ist. Inhaltliche und strukturelle Elemente seien weitgehend festgelegt. Sophokles mache dem Publikum »verbindliche Orientierungsangebote«; prägend sei »die dominierende Stellung religiöser Normen und der Nachdruck, der ihnen mit Hilfe göttlicher Sanktionen verliehen wird« (Peplinski 1994: 87). Auch Rohdich unterstreicht an der »Antigone«, hier gehe es vor allem darum, die »Affirmation des Lebens und der Polis durch das Individuum selbst« zu affirmieren (vgl. Rohdich 1980: 228). Die normative Ausrichtung 103

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fällt, da sie unmittelbar mit der Polis gekoppelt und nicht individuiert ist, mit der Legitimationsfolie der Souveränität zusammen. Auf die Verbindung zwischen Souveränitätsmotiv und (aussöhnender) Grabsetzung im Falle der sophokleischen Dramen hat Böhme hingewiesen (vgl. Böhme 2002). Am Motiv der legitimen Bestattung zeigt auch Böhme die Bedeutung einer »Ordnung der Götter« als Nomos, die der Polis vorgeht. Wer sich ihr entgegenstellt (Böhme zeigt das anhand des Kreon in der »Antigone«), stellt sich selbst nicht nur außerhalb der Polis, sondern der Kultur überhaupt – »er ist Barbar« (Böhme). 6. Hobbes hat diese Kategorie des Souveräns im »Leviathan« ausgeführt. Der Staat als »sterblicher Gott« ist die äußerste Manifestation der Macht des der Gesellschaft vorstehenden Souveräns. Im Anschluß daran hat Rousseau Souveränität wieder reabstrahiert, indem er sie von der repräsentierenden Person ablöste und im Allgemeinwillen aufgehen ließ. Doch weit davon entfernt, Souveränität auf diesem Wege zu pluralisieren, läßt Rousseau sie erst recht auf derbe Art mächtig werden. Die Ordnung der Gesellschaft, welcher Souveränität in Form des Allgemeinwillens aller Gesellschaftsglieder vorsteht, erhält nunmehr die Aura des Heiligen. Das Heilige und die Gesellschaft sind nicht länger getrennt, sondern fallen zusammen. Da die Gesellschaft selbst heilig geworden ist, wird sie allerdings auch monströs. Das Heilige fordert seine Opfer. Während bei Sophokles noch Ödipus als das letztendliche und mit den Göttern aussöhnende Opfer ausgereicht hat, ist jetzt die Opferung sämtlicher Delinquenten erforderlich geworden. Dem Heiligen schuldet man (einen mithin erzwungenen) Gehorsam oder den Tod. Dieses Verhältnis ist alternativlos: »jedweder, der dem Gemeinwillen den Gehorsam verweigert, wird vom ganzen Körper dazu gezwungen werden. Das heißt nichts anderes, als daß man ihn zwingen wird, frei zu sein.« (Rousseau 1989: 395) 7. Vgl. Sophokles: König Oidipus: »Oidipus: Zu rätselhaft und unklar redest du in allem. / Teiresias: Du kannst doch von Natur am besten Rätsel lösen. / Oidipus: Verhöhne nur, worin du meine Stärke findest! / Teiresias: Zugrunde wird dich freilich dieses Können richten.« (V. 439-442) 8. Es ist Schwan zu Gute zu halten, daß sie ihre Studie zur Schuld in Hinblick auf das Verhältnis der deutschen Nachkriegsgesellschaft zum Erbe des Nationalsozialismus geschrieben hat. Die Schuld, die sich aus den Verbrechen des Nationalsozialismus ergibt, versucht sie in eine soziale Sinnstiftung zu überführen. Dabei verkennt sie die tragische Dimension des der Schuld inhärenten Opfers. 104

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ANMERKUNGEN

Die Schuld kennt weder Pluralismus noch kennt sie Egalität. Sie kennt nur das heteronome Verhältnis zum Gläubiger. Schuld zum programmatischen, nicht zum abstrakten, Konstituens einer Gesellschaft zu machen, kann sich nur fatal auswirken. Schuld kann durchaus Bestandteil einer modernen Gesellschaft sein. Doch ihr den Primat zuzuerkennen, führt direkt zurück in den Ritus der Opferung. Für die deutsche Gesellschaft heißt das allerdings keineswegs, daß in einem solchen Modell die Deutschen notwendigerweise als neue Schuldige durch ihre ehemaligen Opfer geopfert würden. Das Gegenteil ist bekanntlich der Fall.

5. Souveränität 1. Vgl. Hegel: »Aber die Befehle dieses wahrredenden Gottes und seine Bekanntmachungen dessen, was ist, sind vielmehr trügerisch. Denn dies Wissen ist in seinem Begriffe unmittelbar das Nichtwissen, weil das Bewußtsein an sich selbst im Handeln dieser Gegensatz ist. Der, welcher die rätselhafte Sphinx selbst aufzuschließen vermochte, wie der kindlich Vertrauende werden darum durch das, was der Gott ihnen offenbart, ins Verderben geschickt.« (Hegel 1973: 537) 2. Durkheim weist eindringlich nach, inwieweit das Verbot als grundlegendes soziales Imaginäres fungiert. Über dessen Realisierung kann sich ein Verständnis des Menschen herstellen, das eine Differenz zum Sakralen wie zum Animalischen hält. Ödipus, der diese Differenzen durch sein Stigma einebnet, bezeichnet daher, wie Girard sagt, das Monströse: das, was an sich selbst dem Verbot anheim fallen müßte. »Keine Möglichkeit von Differenz bleibt; kein Bereich des Lebens kann sich mehr der Gewalt entziehen.« (Girard 1994: 114) 3. Trotzdem sichert die Überschreitung auch eine Grenze: die zwischen Heiligem und profaner Welt. Sie liegt immer an beider Schnittstelle, und so weit sie auch vorgeschoben wird, sie wird beide Sphären nicht einziges Mal vermengen können.

6. Subversion 1. Zum Chiasmus vgl. Merleau-Ponty, Maurice (1994) 2. Zwar birgt der Akt der Buße sozial ein klar versöhnendes Moment, die eigentliche Versöhnung, die alle drei Faktoren (Soziali105

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tät, Souveränität und Ödipus selbst) in den Stand der Rechtfertigung versetzt, erfolgt allerdings erst später, in der Geschichte von »Oidipus in Kolonos«. Hösle spricht von einem »Versöhnungsdrama«; Julius Maria Becker nennt es eine »Apotheose des Ödipus«, die sich mit gewaltigem Donner ankündige. Das Chaos, die Unversöhntheit noch im von Ödipus an sich selbst dargebotenen Versöhnungsopfer wird darin aufgehoben. Noch zu Beginn des Stückes erscheint Ödipus, auf der Suche nach einem Platz zum Sterben, als Ausgestoßener, als Flüchtling, dem die Integration in die Sozialität und deren nomistische Ordnung versagt ist. Als er am Ende schließlich sterben darf, geschieht es im Heiligen Hain der Eumeniden; Ödipus wird im Tode zu dem Heros, den er im »König Oidipus« vergeblich darstellen wollte. »Der tragische Protagonist wird selber zu einer Art von Gott, nachdem schon lange zuvor der eigentliche Fortgang des Geschehens unter starke transzendente Einwirkungen getreten war.« (Bekker o.J.: 65) Ohne dieses Ende gebe das Drama um Ödipus bloß einen »Struwelpeter für Erwachsene« ab. Vom Schicksal abrückend gibt Hösle zu bedenken, ob es überhaupt gerechte Götter geben könne, wenn Ödipus tatsächlich schuldlos leide (vgl. Hösle 1984: 91). Dieser Satz ist gut gemeint, geht aber völlig fehl. Jeder weiß, daß die griechischen Götter nichts weniger sind, als gerecht. Hösles Einwand verkennt völlig, die von vornherein symbolische Bedeutung; Person im eigentlichen Sinne wird er erst im Tod. Mit seiner Rechtfertigung erhält er auch Eingang in den sozialen Kontext, keinesfalls aber als Lebender. Wer, wie Ödipus, außerhalb des Nomos steht und bloß Objekt einer Demonstration der nomistischen Macht ist, kann sicher nicht in den Genuß von Gerechtigkeit kommen, die nur als Subjekt dieses Nomos möglich ist. Sophokles ist durchaus davon ausgegangen, es könne ein unverschuldetes Leiden geben, und es ist ihm wohl gelungen, dies mit seiner Frömmigkeit in Einklang zu bringen (vgl. Hösle 1984: 93).

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ÖDIPUS

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