Die Politik des Subjekts [1. Aufl.] 9783658318802, 9783658318819

Mit dem Begriff des Subjekts soll ein logisch nicht hintergehbares Erkenntnissubjekt bezeichnet werden. Der Sinn dieses

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German Pages VII, 173 [178] Year 2021

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Die Politik des Subjekts [1. Aufl.]
 9783658318802, 9783658318819

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VII
Der Weg zum Subjekt (Raphael Beer)....Pages 1-30
Die politische Einstellung – Eine philosophische Spurensuche (Raphael Beer)....Pages 31-125
Politik und Gesellschaft (Raphael Beer)....Pages 127-139
Normativität und Kritische Theorie (Raphael Beer)....Pages 141-152
Die Politik des Subjekts (Raphael Beer)....Pages 153-166
Back Matter ....Pages 167-173

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Raphael Beer

Die Politik des Subjekts

Die Politik des Subjekts

Raphael Beer

Die Politik des Subjekts

Raphael Beer Institut für Soziologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Münster, Deutschland

ISBN 978-3-658-31880-2 ISBN 978-3-658-31881-9  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31881-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung der Verlage. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Frank Schindler Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Die Idee des Subjekts entstammt der Erkenntnistheorie oder genauer: der Erkenntniskritik. Mit dieser lässt sich der Erkenntnisprozess auf ein logisch nicht hintergehbares Subjekt zurückführen, das für den Erkenntnisprozess angenommen werden muss. Gewonnen wird damit eine Instanz, die sich als emanzipationsfähiger Ausgangspunkt für eine Kritische Theorie verwenden lässt. Wenn das Subjekt logisch nicht hintergehbar ist, ist es einerseits kein Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse, weil es diesen vorausgeht. Andererseits bedeutet dies, dass dem Subjekt die Idee der Befähigung zur Gestaltung der Gesellschaft beigelegt werden kann. Die Kritische Theorie erhält auf diese Weise einen theoretischen Adressaten. Der Preis dafür ist freilich nicht gering. Das logisch nicht hintergehbare Subjekt ist zunächst als ein theoretisches Subjekt bestimmt, das aus sich heraus keinen Gesellschaftsbezug herstellen kann. Es mag in der Theorie richtig sein, taugt damit aber noch nicht für die Praxis. Um diese muss es einer Kritischen Theorie jedoch gehen. Sie muss angeben können, was an den gesellschaftlichen Verhältnissen kritikwürdig ist, und wie das Subjekt Einfluss auf die Gestaltung der Gesellschaft nehmen kann. „Die Politik des Subjekts“ soll der Frage nach einem möglichen Gesellschaftsbezug nachgehen. Die Politik soll dabei im Sinne der luhmannschen Theorie der funktionalen Differenzierung als ein Teilbereich der Gesellschaft verstanden werden. Um zu explizieren, wie aus der Perspektive einer Kritischen Theorie der Politikbegriff konkretisiert werden kann, wird dazu ein ideengeschichtlicher Streifzug durch die politische Philosophie seit der klassischen Aufklärungsepoche unternommen. Daran anschließend kann dann die zentrale Frage des vorliegenden Buches bearbeitet: Wie stellt sich der Gesellschaftsbezug des Subjekts in Bezug auf die Politik dar? Weil der Fokus indessen nicht ein rein analytischer ist, sondern es übergeordnet um eine Kritische Theorie gehen soll, wird schließlich die Frage zu untersuchen sein, welche normativen

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Vorwort

Impulse eine Kritische Theorie aus der Ideengeschichte für sich fruchtbar machen kann. Es ist schließlich das explizit intendierte Ziel, die Verhältnisse nicht nur zu beschreiben, sondern diese von einem transparent gemachten normativen Maßstab aus zu bewerten. Münster

Raphael Beer

Inhaltsverzeichnis

1 Der Weg zum Subjekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Die politische Einstellung – Eine philosophische Spurensuche . . . . . . 31 3 Politik und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 4 Normativität und Kritische Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 5 Die Politik des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

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Der Weg zum Subjekt

Alltagspragmatisch betrachtet verhält es sich doch eigentlich recht einfach. Wir sind von unzähligen Dingen umgeben, die wir mehr oder weniger problemlos wahrnehmen können. Wir sitzen auf einer Parkbank und können sicher sein, dass diese Bank unabhängig von uns existiert. Und nicht nur dies: Solange die Parkbank keine fehlerhafte Konstruktion ist und nicht beschädigt wurde, können wir sicher sein, dass sie unsere Last trägt. Wenn wir uns von der Parkbank aus umschauen, können wir Bäume, Blumen und möglicherweise andere Menschen sehen, von deren Existenz wir ebenso überzeugt sein können wie von unserer eigenen. Nicht weniger unproblematisch nehmen wir nicht-dingliche Erscheinungen um uns herum wahr. Wenn wir Musik hören, können wir diese zwar nicht unmittelbar anfassen, wir haben aber auch keinen Grund an dem Umstand zu zweifeln, dass außerhalb von uns Musik gespielt wird. Die Liste unproblematischer Wahrnehmungen ließe sich beliebig fortsetzen. Die materiellen und immateriellen Gegenstände dieser Liste sind dabei immer mit der Glaubensmodalität der Existenz verbunden. Wir gehen wie selbstverständlich davon aus, dass die Dinge um uns herum existieren auch dann, wenn wir sie gerade nicht wahrnehmen. Würden wir daran zweifeln, wäre die Bewältigung alltagspragmatischer Aufgaben derart komplex, dass wir vermutlich ständig an ihnen scheitern würden. Der Glaube an die dauerhafte Existenz der Dinge um uns herum ermöglicht die Ausbildung von Handlungsroutinen, die Unterstellung von Kausalreaktionen und damit eine Planbarkeit, die wir für unsere Zwecke in Gang setzen können. Wir können, anders formuliert, die Vergangenheit mit einer offenen Zukunft in Verbindung bringen. Auch wenn dies nur Erwartungen oder Vermutungen sind, die uns in die Zukunft planen und handeln lassen, so stützen sich unsere Zukunftspläne doch auf die grundsätzliche Annahme, die Dinge um uns herum existieren unabhängig von unserer Wahrnehmung. In der All-

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 R. Beer, Die Politik des Subjekts, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31881-9_1

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1  Der Weg zum Subjekt

tagspragmatik leben wir also vermittelt über unsere Wahrnehmungen in einer (abgesehen von intendierten Modifizierungen) stabilen Umwelt, die es uns ermöglicht, Handlungsentwürfe in die Tat umzusetzen. Dass wir uns dabei immer mal wieder irren, unsere Entwürfe scheitern, schadet dieser grundsätzlichen Einstellung nicht. In der Regel können wir dieses Scheitern auf Informationsdefizite unsererseits zurückführen. Hinzu kommt, dass wir nicht alleine in dieser Umwelt leben, sondern diese mit anderen Menschen teilen, denen wir die gleichen Wahrnehmungsfähigkeiten unterstellen können, über die wir selber auch verfügen. Die Möglichkeit der Kommunikation erlaubt es, eigene und fremde Wahrnehmungen gegenseitig anschlussfähig zu machen, sodass im Ergebnis von einer zwischenmenschlich geteilten Wirklichkeit ausgegangen werden kann. Dies erlaubt, eigene Wahrnehmungen an den Wahrnehmungen anderer zu spiegeln und gegebenenfalls zu korrigieren. Im Kontext politischer Überlegungen ergibt sich daraus der bedeutende Vorteil, dass durch die Rückführung auf gemeinsam geteilte Wahrnehmungen (Tatsachen, Fakten, Daten) eine transparente und herrschaftsfreie Kommunikation über die Umwelt und gemeinsame Handlungsentwürfe möglich werden. Würden bestimmte Wahrnehmungen nur einem exklusiven Personenkreis vorbehalten, verfügten diese über ein (Herrschafts-)Wissen, das Herrschaftsansprüche zwar nicht direkt legitimieren würde, aber dennoch nachvollziehbar machte. Unter der Prämisse gemeinsam geteilter Wahrnehmungen kann eine Transparenz im Sinne der Zeigbarkeit eingefordert werden, die im Gegenzug demokratische Regeln und Verfahren nahe legt. Das Vertrauen darin, dass unsere Wahrnehmungen uns eine stabile Wirklichkeit erfahrbar machen, hat unbestreitbar alltagspragmatische und demokratietheoretische Vorteile. Es muss daher irritierend wirken, dass im modernen, europäischen Denken eine Skepsis an diesem Modell der Wirklichkeitserfahrung formuliert wurde.1 Dennoch startet das Projekt der klassischen Aufklärung genau damit: Mit einer Skepsis an der unproblematischen Erfahrbarkeit der Umwelt. Es ist René Descartes, der zum einen auf den (erfahrbaren!) Umstand hinweist, dass unsere Sinne uns zuweilen ein falsches Bild der Wirklichkeit vermitteln. Zwar kann die Falschheit dieser Bilder nur behauptet werden, weil andere Erfahrungen oder Erfahrungskonstellationen darüber informieren, dass das erste Bild der Wirklichkeit falsch war. Es gibt jedoch, wenn Erfahrungen potenziell falsche Wirklichkeitsbilder evozieren, keinen zwingenden Grund, weiteren Erfahrungen

1Für

die folgenden Ausführungen vgl. Beer 2015.

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mehr zu vertrauen als der ursprünglichen Erfahrung. Wenn etwa ein gerader Stab im Wasser gekrümmt erscheint (erste Erfahrung), kann dies mithilfe einer taktilen Überprüfung (zweite Erfahrung) korrigiert werden. Es bleibt allerdings die Frage: Warum vermittelt die taktile Wahrnehmung verlässlichere Informationen als die optische Wahrnehmung? Um dies zu beantworten, bräuchte es eine Erfahrung zweiter Ordnung, die über die Verlässlichkeit der Sinnesorgane aufklärt. Eine solche Erfahrung steht aber nicht zur Verfügung. Kurzum: Sinnestäuschungen liefern einen Hinweis darauf, dass Erfahrungen mitunter falsche Informationen über die Wirklichkeit liefern können. Dies vermag möglicherweise das Vertrauen in die sinnliche Wahrnehmung irritieren, aber wohl nicht erschüttern. Schwerwiegender wiegt die cartesianische Bemerkung, dass nicht klar und distinkt zwischen Wach- und Traumzuständen zu differenzieren sei. Im Traum erscheinen Dinge (Einhorn) oder Handlungsfähigkeiten (Fliegen ohne Hilfsmittel) real, und zwar genau so real, wie die Dinge im Wachzustand erscheinen. Wie sollte nun unterschieden werden, welche Realität Fiktion und welche nicht Fiktion ist? Alltagspragmatisch macht dies keine Schwierig­keit. Doch philosophisch betrachtet ist es ein Problem. Es fehlt ein eindeutiger Maßstab, der eine Beurteilung anleiten könnte. Zumindest aus der Erfahrung selbst kann ein solcher Maßstab nicht gewonnen werden. Es ist ja wiederum die Erfahrung, die zur Disposition steht, bzw. die dieses Problem aufwirft. Es kann nicht einwandfrei zwischen verschiedenen Erfahrungen differenziert werden und eine weitere Erfahrung würde das Problem nur verschieben. Das Traumargument ist freilich nur ein Gedankenexperiment. Auch Descartes war wohl keineswegs davon überzeugt, dass wir in einem permanenten Traumzustand leben oder nicht hinreichend zwischen Wach- und Traumzuständen unterscheiden können. Warum ist es also ein Problem, dass mittels der Erfahrung nicht eindeutig unterschieden werden kann? Das Problem resultiert daraus, dass Descartes nicht das Ziel verfolgt hat, die Erfahrung als Informationsquelle über die Umwelt in toto zu diskreditieren. Seine Fragestellung war, wie zwischen wahrem und falschen Wissen differenziert werden kann. Dazu bedarf eines Maßstabes. Die Frage danach ist letztlich auch politisch brisant: Sollen politische Entscheidungen auf wahrem Wissen basieren, muss ein unparteiischer Maßstab für die Generierung wahren Wissens gefunden werden. Dass die Erfahrung uns ein Bild der Wirklichkeit vermittelt, mit dem wir erfolgreich operieren können, steht nicht zur Disposition. Dass aus der Erfahrung aber ohne weiteres wahres Wissen gewonnen werden kann, macht Descartes mit seinen Argumenten zweifelhaft. Die Erfahrung selbst, so ließe sich die cartesianische Skepsis zusammenfassen, liefert keinen Maßstab zur Beurteilung der aus ihr gewonnenen Informationen.

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Dies wäre nun zunächst weniger dramatisch, als es klingen mag. Es bleiben schließlich die mathematisch-logischen Begriffe, die per definitionem unabhängig von der Erfahrung sind, und die ohnehin unter anderem den Sinn haben, Erfahrungen zu ordnen und zu klassifizieren. Mathematik und Logik sind, anders formuliert, der Maßstab, der zwischen wahren und falschen Aussagen differenzieren kann. Widersprüchliche Aussagen etwa können als unwahr disqualifiziert werden. Und: Gemessenen Zuständen kommt ein höherer Wahrheitsgehalt zu, als empfundenen Zuständen. Unglücklicherweise konfrontiert Descartes jedoch auch die mathematisch-logischen Wissensbestände mit seiner skeptischen Methode. Er treibt diese bis zum Äußersten. Es könnte nämlich, so mutmaßt Descartes, einen böswilligen Gott geben, der uns – aus welchen Gründen auch immer – bezüglich der Logik und Mathematik täuscht. Wenngleich dieses Argument unter säkularisierten und postmetaphysischen Bedingungen seltsam erscheinen muss, so enthält es jedoch einen rationalen Kern. Erstens steht hinter dieser Skepsis das Problem, dass mathematische Aussagen tatsächlich ein falsches Bild der Wirklichkeit erzeugen, wenn sie unwahr sind, also falsch gerechnet wurde. Wer sein Zimmer falsch vermisst, hat anschließend entweder zu wenig oder zu viel Teppichboden. Wenn wir nun grundlegend getäuscht werden, also alle mathematischen Operationen falsch sind, lassen sich keine wahren Aussagen über die Wirklichkeit treffen. Dies gilt zumal dann, wenn die Zusatzannahme gemacht wird, die Wirklichkeit ist nach mathematischen Prinzipien aufgebaut oder sie lässt sich wenigstens widerstandslos bzw. erfolgreich mit mathematischen Prinzipien beschreiben. Zweitens treibt Descartes seine Skepsis aus theoriestrategischen Gründen bis zu seinem Dämon. Er bietet eine denkbar radikale Version des Skeptizismus auf, um den Skeptizismus gleichsam mit den eigenen Waffen schlagen zu können. Wenn es ihm trotz der radikalen Skepsis gelingt, sicheres, wahres Wissen zu finden, ist der Skeptizismus widerlegt. Das Ergebnis seines Vorgehens ist indessen zunächst, dass alles Wissen als unsicher gelten muss. Es kann nicht einwandfrei entschieden werden, was wahr und was unwahr ist. Der Skeptizismus kommt in vollem Umfang zu seinem Recht. Da er dies nach Descartes aber gar nicht soll, überwindet Descartes ihn nun dadurch, dass er trotz oder gerade wegen seiner radikalen Disqualifizierung aller möglichen Wissensquellen sein berühmtes „Ich denke, also bin ich“ freilegt. Ein denkendes Ich muss schließlich erhalten bleiben, weil sich ansonsten auch keine Skepsis denken ließe. Die kritische Überprüfung der Wissensquellen setzt immer ein Denken voraus, das diese Überprüfung durchführt. Wird die cartesianische Philosophie als Startpunkt der modernen Philosophie und Wissenschaft gesetzt, beginnt diese mit einem radikalen Subjektverständnis. Das, was Descartes da freigelegt hat, ist nicht der Mensch in seiner biologischen und psychischen Gesamt-

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heit. Es ist eine rein denkende Entität, deren Aufgabe es ist, als letzter Maßstab, als Prima Philosophia zu fungieren. Damit gilt dann, dass das, was das Subjekt denkt, nicht bezweifelbar ist. Bezweifelbar bleibt allerdings, dass die Denkinhalte mit den Dingen in der Umwelt korrespondieren. Solange in der Ich-Form gesprochen wird, kann unproblematisch mit dem Wahrheitsattribut operiert werden. Wenn hingegen eine objektive Behauptung über die Umwelt gemacht wird, ist keineswegs unmittelbar klar, dass diese Behauptung ihrerseits mit dem Wahrheitsattribut ausgestattet werden kann. Das „Ich denke“ ist sicher gegenüber skeptischen Einwänden, es schneidet jedoch zugleich eine scharfe Grenze zwischen sich und der Außenwelt. Dieses als Dualismus bekannt gewordene Problem kann einerseits als Freiheitsgewinn interpretiert werden. Das Subjekt wird aus seiner Verstrickung in die Objektivität gelöst und ist Herr im eigenen Hause. Andererseits ist genau dies das Problem. Es soll nicht nur Herr im eigenen Hause sein, sondern als sicheres Fundament wahre Aussagen über die Außenwelt verbürgen können. Dazu sind aber Erfahrungen nötig, die Descartes mit seiner skeptischen Methode diskreditiert hatte und die sich nun umso problematischer darstellen, je undurchlässiger die Grenze zwischen dem „Ich denke“ und seiner Außenwelt verstanden wird. Descartes zahlt einen hohen Preis für seinen Maßstab für wahre Erkenntnisse. Nun geht es Descartes nicht darum, Erfahrungen – verstanden als Sinneswahrnehmungen – als Quelle des Wissens über die Außenwelt zu suspendieren. Andernfalls würde er im Solipsismus enden. Er muss also einen Weg finden, sein „Ich denke“ in Kontakt mit der Außenwelt zu setzen. Die Erfahrung kann es nicht. Ebenso wenig ein reines Denken. Sie markieren die Pole, die integriert werden müssen, und keiner der Pole kann aus sich heraus die Brücke zur anderen Seite bauen. Descartes greift daher auf Gott zurück, dessen Existenz Descartes in verschiedenen Gottesbeweisen zu demonstrieren versucht, und der aufgrund seiner Allmächtigkeit kein böswilliger Gott sein kann. Er garantiert, dass die Inhalte des Denkens mit den Dingen in der Außenwelt korrespondieren. Die skeptische Methode, die alle Quellen des Wissens in den Sog der Problematisierung gezogen hatte, kann damit ad acta gelegt werden. Es gibt ein logisch nicht hintergehbares Subjekt, das mittels der Intermedialität Gottes wahre Erkenntnisse über die Welt generieren kann, wenn es seinen Verstand bemüht. Letzteres ist dabei von entscheidender Bedeutung. Das Subjekt ist auch ein Subjekt der sinnlichen Erfahrung. Es ist aber vor allem ein denkendes, ein aktives Subjekt. Das aber ohne die Hilfe Gottes nicht auskommt. Dies wirft unter modernen, postmetaphysischen Bedingungen einen Schatten zurück auf das cartesianische Cogito und vor allem den damit verbundenen Dualismus. Vielleicht hatte

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Descartes aber auch nur die falsche Methode zugrunde gelegt. Seine Skepsis ist schließlich nicht unschuldig daran, dass er in einen Dualismus mündet. Möchte er die materielle Außenwelt und ein immateriell gedachtes Subjekt korrespondenztheoretisch zusammen bringen, und kann die Erfahrung aufgrund der Skepsis dabei keine entscheidende Rolle spielen, ist der Graben schlichtweg zu breit. Es liegt also nahe, entweder den Rückzug ins Cogito anzutreten oder den Erfahrungsbegriff zu rehabilitieren. Beide Strategien finden sich in dem Paradigma des Empirismus. George Berkeley vertritt eine immaterialistische Philosophie, die zwar den Erfahrungsbegriff stärker akzentuiert, aber in ähnliche Probleme gerät wie Descartes und schlussendlich ebenfalls auf Gott zurückgreifen muss. Ganz anders positioniert sich dagegen John Locke. Er zentriert die Sinneswahrnehmung, also den Erfahrungsbegriff, und kann im Ergebnis auf eine intermediäre Entität zwischen dem Subjekt und seiner Außenwelt verzichten. Die Grundidee hat dabei nicht nur den Charme einer metaphysikkritischen Attitüde, sondern sie impliziert zudem einen Gleichheitsgedanken, auf dem eine demokratische Politikorientierung aufbauen kann. Im Kern postuliert Locke, das Subjekt wird über die Sinne durch die Dinge in der Außenwelt affiziert. Einen radikalen Bruch zwischen Subjekt und Außenwelt gibt es gar nicht. Vielmehr sind beide über die Erfahrung miteinander in Kontakt. Das freilich hat die Konsequenz, dass das Subjekt gegenüber dem Rationalismus passiver gesetzt wird. Es ist zunächst Empfänger von Umweltinformationen. Dann und darauf aufbauend kann es allerdings eine Aktivität entfalten. Die Funktion des Subjekts besteht nicht einzig darin, die Erfahrungen zu registrieren. Das Subjekt nimmt nämlich nur einfache Ideen wahr, wie etwa Härte oder Kälte. Um daraus komplexe Ideen zu machen, die der Komplexität der Außenwelt angemessen sind, bedarf das Subjekt seines Verstandes, den es aktiv einsetzen muss, um komplexe Ideen zu generieren, indem es die einfachen Ideen in ein Verhältnis setzt. Es kann dabei die Einzelerfahrungen auch kreativ und surrealistisch neu zusammensetzen und sich Einhörner auf goldenen Bergen vorstellen. Das Material auch solcher Phantasien resultiert jedoch immer aus einfachen Erfahrungen. Der Verstand ordnet diese und assoziiert sie. Er kann jedoch keine eigenen Erfahrungen seinerseits beisteuern, die nicht aus den Sinnesorganen entnommen sind. Da nun alle Subjekte gleichermaßen von den Dingen affiziert werden, und sie der Idee nach über die gleichen Sinnesorgane und einen Verstandesapparat verfügen, stehen ihnen auch potenziell die gleichen Erfahrungen zur Verfügung und somit die gleichen Informationen. Es gibt keine privilegierten Subjekte, die über Kenntnisse verfügen, die anderen Subjekten kategorial versperrt sind. Hinzu kommt, dass mit der Akzentuierung des Erfahrungsbegriffes eine Überwindung der Metaphysik denkbar wird. Aussagen über die Welt müssen sich an Erfahrungen

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messen lassen. Und auch dies in einer egalitären Art und Weise. Erfahrungsinhalte können potenziell anderen Subjekten vermittelt werden, weil diese in der Lage sind, die gleichen Erfahrungen zu machen. Aussagen über die Umwelt erhalten so die Aufforderung, transparent im Sinne der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit zu sein. Theorien, Aussagen oder Begriffe, die sich auf mögliche Erfahrungen zurückführen lassen müssen, verlieren damit den Status, ein Wissen zu repräsentieren, das nur einem exklusiven Kreis zugänglich ist. John Locke hat mit dem Erfahrungsbegriff also eine optimistische Programmatik entfaltet, die bestenfalls dadurch getrübt wurde, dass das Subjekt tendenziell als passives Subjekt konzipiert wird. Die rationale Aktivität des cartesianischen Cogito, die ihrerseits mit optimistischen Konnotationen in Verbindung zu bringen ist, war jedenfalls vorerst dahin. Dies änderte sich mit der nächsten Runde, die David Hume einläutete. Er hielt zwar eisern am Erfahrungsbegriff fest, scheute sich indessen aber nicht davor, diesen einer grundlegenden Kritik zu unterziehen. Was nämlich die Erfahrung nicht zeigen kann, ist, woher sie ihre Eindrücke bezieht. Dass die Sinne solche Eindrücke zur Verfügung stellen ist unbestreitbar. Ob diese Eindrücke aber mit der Außenwelt korrespondieren, darüber liefert die Erfahrung keine Informationen. Dazu bedürfte es eines externen Beobachterstandpunktes, der die Wahrnehmung mit dem Wahrnehmungsobjekt vergleicht. Aber selbst wenn es eine Außenweltkorrespondenz gibt, haftet der Erfahrung das Dilemma an, zentrale Begriffe wie Kausalität, Objektpermanenz und Ich-Identität dem Wahrnehmungsakt nicht entnehmen zu können. Wir nehmen zwar regelmäßige Abfolgen von Ereignissen wahr, nicht jedoch die Notwendigkeit in der Abfolge, die für das Prädikat kausal zwingend ist. Wir nehmen Objekte wahr, können aber nicht deren Permanenz wahrnehmen, weil wir nicht wissen können, ob unsere Sinneseindrücke mit den Objekten korrespondieren. Beim Blick in unser Inneres können wir aufeinander folgende Ich-Zustände wahrnehmen, nicht jedoch eine persistierende Ich-Identität – also einen festen Ich-Kern. Dieses Entgleiten zentraler Begriffe ist nicht nur für wissenschaftliche Zwecke problematisch. Es wirkt sich auf den ganzen Bereich alltäglichen Lebens aus. Wie bereits geschildert lassen sich Pläne für die Zukunft nur dann sinnvoll formulieren, wenn erstens die Dinge eine Permanenz haben, und wir zweites deren kausale Wechselwirkung prognostizieren können. Und schließlich entfalten Pläne für die Zukunft ihre Sinnhaftigkeit erst dann, wenn wir davon ausgehen können, (bei allen unproblematischen Weiterentwicklungen) auch zukünftig mit uns identisch zu sein. Hume steht wieder vor dem Skeptizismus, den Locke doch schon überwunden hatte. Weil Hume aber konsequent an der Fundierung seiner Philosophie in der Erfahrung festhält, bleibt ihm der Aus-

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weg, die problematischen Begriffe als Verstandesleistung zu begreifen, verwehrt. Dennoch geht er diesen Weg, verlässt aber dabei die Pfade der Philosophie. Er trennt zwischen dieser, die ihre Skepsis soll behalten können, und der Alltagspragmatik, die nun einmal die problematischen Begriffe für ein intendiertes Handeln benötigt. Auf dem Feld der Alltagspragmatik geht es nicht mehr um einen plausiblen Wahrheitsanspruch, so dass dort mit dem Begriff der Gewohnheit ein Pendant etabliert werden kann. Die wiederholte Erfahrung von Ereignisketten berechtigt nicht dazu, eine Kausalität mit dem Anspruch auf Wahrheit zu reklamieren. Sie ermöglicht aber aus Gewohnheit davon auszugehen, dass die Ereignisketten auch künftig eintreten werden. Kurzum: Letztlich ist es doch das Subjekt, das mit den problematischen Begriffen operiert. Es ist nur nicht das Subjekt der Wissenschaft oder Philosophie, sondern das Subjekt der Alltagspragmatik. Wenn dadurch Kausalität und Objektpermanenz zwar ihre Strittigkeit behalten, aber als handlungsanleitende Begriffe dennoch ihre Verwendung finden, enthält die problematische Ich-Identität eine andere Brisanz. Zwar kann auch sie alltagspragmatisch unterstellt und für Handlungssicherheiten und -zuordnungen verwendet werden. Sie kann aber eben nicht empirisch demonstriert werden. Dies hat Konsequenzen für den philosophischen Subjektbegriff, um den es hier gehen soll. Für Descartes war die Sache noch eindeutig: Es gibt eine Substanz, die res cogitans, die als Subjekt verstanden werden kann. Hume löst diese aristotelische Substanzmetaphysik auf und hinterlässt ein unrettbares Ich. Dennoch, so kann Hume entgegnet werden, braucht es eine Entität, die die Erfahrungen, um die es Hume geht, machen kann. Er braucht ein Subjekt, hat aber sicherlich nicht unrecht damit, dass es kein empirisch gesättigtes Subjekt sein kann. Es gibt keine Erfahrung eines permanenten, mit sich selbst identischen Subjekts – das Subjekt ist nicht erfahrbar. Es kann also kein Subjekt de re sein, sondern bestenfalls ein Subjekt de dicto. Die bisherigen Ausführungen münden wieder in der Ausgangssituation. Alltagspragmatisch stellt sich die Erkenntnis der Außenwelt unproblematisch dar. Irrtümer und Fehlinformationen mögen zwar einen Hinweis darauf darstellen, dass es so unproblematisch nicht ist. Sie reichen jedoch nicht aus, um das stabile Weltbild einer Subjekt-Objekt-Korrespondenz nachhaltig zu erschüttern. Dies leistet erst eine philosophische Betrachtung, die die skeptischen Hinweise auf die Erkennbarkeit der Welt nicht einfach ignorieren kann. Sie kann aber ebenso wenig leugnen, dass es alltagspragmatisch eine stabile Korrespondenz gibt. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn immer wieder versucht worden ist, den Skeptizismus auszuhebeln. Descartes geht dies theoriestrategisch auch geschickt an, indem er den Skeptizismus als Methode wählt und die Skepsis bis zu dem

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radikalen Punkt treibt, hinter dem selbst die Skepsis unmöglich wird. Er findet damit sein denkendes Subjekt, das logisch nicht hintergehbar ist. Der Preis ist aber ein Auseinanderfallen des Subjekts und seiner Außenwelt. Locke überwindet diese Kluft, indem er an die Sicherheit alltagspragmatischer Erfahrungen erinnert und dabei ohne metaphysische Zusatzannahmen auskommt. Er kann damit jedoch die philosophische Problematisierung nicht ruhig stellen. Wie Hume zeigt, ist diese Erfahrung letztlich nicht so sicher, und dies gerade dann, wenn an ihr als philosophischem Fundament festgehalten werden soll. Sie kann, salopp formuliert, nicht über ihre eigenen Bedingungen aufklären. Hume zieht daraus nicht die Konsequenz, wieder auf ein denkendes Subjekt zu setzen, das empirisch nicht demonstrierbar ist. Er flüchtet wieder in die Alltagspragmatik und kann mit dem Begriff der Gewohnheit deren Erfahrungsstabilität auch treffend umschreiben. Anders formuliert: Er gewinnt seine Stabilität der Erfahrung durch ein Verlassen der philosophischen Problematisierung. Dennoch wirken seine Argumente auf die Philosophie zurück. Es muss an dieser Stelle nicht darum gehen, dass die wissenschaftlich bedeutenden Begriffe der Kausalität und Objektpermanenz ihre Selbstverständlichkeit für die Beschreibung der Wirklichkeit einbüßen. Zentral ist die Auflösung eines identischen Subjekts, die Hume dem modernen Denken ins Stammbuch geschrieben hat. Auf dem Weg zum Subjekt muss eingeräumt werden, es gibt ein solches nicht als empirische Größe, es gibt das Subjekt nicht de re. Es muss zwar als ein Pol des Erkenntnisprozesses unterstellt werden. Unabhängig davon jedoch, wie genau dieser Prozess auch konkretisiert wird, es gerät nicht in den Blick einer möglichen Erfahrung. Sind die bisherigen Überlegungen zwar wieder am Ausgangspunkt in der Alltagspragmatik angekommen, so hat sich auf dem Weg dahin doch die Zielfigur des Subjekts entzaubert. Die cartesianische Inthronisierung des Subjekts als logisch nicht hintergehbare Instanz ist durch Hume desillusioniert worden. Es kann nicht mehr darum gehen, mit dem Subjekt eine empirische Entität zu instruieren. Es kann sich nur noch um eine theoretische Denkfigur handeln. Dass diese Denkfigur aber alles andere als eine sinnlose Spekulation ist, zeigt Immanuel Kant. Er revolutioniert die erkenntnistheoretische Fragestellung, indem er nicht mehr fragt, wie das Objekt zum Subjekt kommt, sondern andersherum: Wie können subjektive Begriffe mit der Wirklichkeit übereinstimmen? Diese Fragestellung allein macht ihn damit zum einem prominenten Vertreter des Denkens über das Subjekt. Kant leitet den Wendepunkt seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen damit ein, dass er die Kategorien von Raum und Zeit als objektive Kategorien auflöst. Das fundierende Argument dabei ist kein neues. Raum und Zeit, so Kant, sind sinnlich nicht erfahrbar. An objektive Gegebenheiten muss aber die Mess-

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latte der Erfahrbarkeit angelegt werden können. Da aber immer nur Einzelwahrnehmungen möglich sind, und nirgends ein kontinuierlicher Raum oder eine kontinuierliche Zeit erfahrbar wird, verfehlen die Kategorien Raum und Zeit diese Messlatte. Kant zieht daraus den Schluss, dass Raum und Zeit subjektive Kategorien sind, die eine Erfahrbarkeit der Dinge in Raum und Zeit überhaupt erst ermöglichen. Raum und Zeit werden nicht wahrgenommen, sie liegen jeder Wahrnehmung als subjektive Anschauung zugrunde. Kant dreht die SubjektObjekt-Achse um. Dies hat erwartbar Konsequenzen und eine davon ist, dass wir die Wirklichkeit nicht wahrnehmen wie sie (an sich) ist, sondern wie wir sie gemäß unseren subjektiven Anschauungsformen eben wahrnehmen. Damit zerfällt nicht die Korrespondenz zwischen dem Subjekt und seiner Außenwelt. Es zerfällt die Außenwelt. Diese teilt sich nunmehr in die beiden Bereiche der sinnlichen Wahrnehmung, die durch unsere subjektiven Anschauungsformen konstituiert wird, und den Bereich des „Dinges an sich“, also jene Außenwelt wie sie ohne subjektive Anschauung wäre oder ist. Letztere bleibt zwar für die Affizierung des Subjekts verantwortlich. Was Kant aber postuliert ist gleichsam eine demütige Attitüde: Wir können nur im Rahmen unserer Subjektivität die Welt erkennen. Wie die Welt an sich ist, bleibt dem Subjekt verschlossen. Mit diesem Theoriemanöver bringt sich Kant zugleich in Stellung, um die strittigen Begriffe der Kausalität oder Objektpermanenz zu retten. Hume hatte gezeigt, dass diese der Erfahrung nicht entnommen werden können. Dennoch scheinen diese Begriffe insofern keine leeren Begriffe zu sein, als sich alltagspragmatisch und wissenschaftlich mit ihnen erfolgreich operieren lässt. Auf der Grundlage einer Unterstellung von Kausalität und Objektpermanenz lassen sich Handlungspläne entwerfen und: realisieren. Es wäre also ein philosophisch eigentümliches Unterfangen, diese Begriffe nach der humeschen Kritik schlichtweg über Bord zu werfen. Kant hat dies auch gar nicht im Sinn. Er benutzt seine Argumentationslogik in Bezug auf Raum und Zeit und behauptet: Auch die strittigen Begriffe sind subjektive Natur. Ganz im humeschen Sinne hebt indessen auch für Kant jede Erkenntnis mit der Erfahrung an. Aussagen über die Welt müssen sich empirisch demonstrieren lassen. Für Kant ist es jedoch ebenfalls eine ausgemachte Sache, dass Erfahrungen alleine noch keine Erkenntnis ausmachen. Die Einzelerfahrungen müssen begrifflich eingeordnet werden, sodass ein begründetes Urteil möglich wird. Subjektive Erfahrungen sind ein subjektives Erleben, das keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben kann. Wenn zwei Ereignisse in regelmäßiger Abfolge nacheinander eintreten, ist dies zunächst eine Erfahrung. Eine Erkenntnis eines kausalen Zusammenhanges ist es noch nicht. Dazu bedarf es des Begriffes der Kausalität, der die Erfahrung der Regelmäßigkeit unter sich subsumieren

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kann. Da er aber in der Erfahrung nicht enthalten ist, so schlussfolgert Kant, ist es das Subjekt, das diesen Begriff an die Erfahrungen heranträgt. Es erkennt kausale Verhältnisse genau deshalb, weil es aufgrund seiner Verstandeskategorien kausale Verhältnisse erkennen kann. Das Subjekt ist erkenntniskonstitutiv. Es ist indessen nicht erkenntnisgenerierend. Allein die Verstandesbegriffe des Subjekts machen ebenso wenig eine Erkenntnis aus wie die Einzelerfahrungen. Das Subjekt generiert nicht aus sich heraus seine Außenwelt, es ist kein solipsistisches Subjekt. Es bedarf der sinnlichen Erfahrung, die nicht unabhängig ist von den Dingen der Außenwelt. Der Begriff der Kausalität für sich genommen ist leer. Kausale Verhältnisse finden nur dort statt, wo entsprechende Erfahrungsdaten gesammelt werden. Die subjektiven Begriffe sind die Bedingung der Möglichkeit, dass die Erfahrung regelmäßiger Ereigniszusammenhänge als Kausalität erkannt wird. Die reine Erfahrung regelmäßiger Ereigniszusammenhänge ohne deren Subsumierung unter dem Begriff der Kausalität allerdings wäre blind für deren Kausalität. Die für die Wissenschaft und Alltagspragmatik wichtigen Begriffe der Kausalität und Objektpermanenz sind dadurch (vorerst) rehabilitiert. Wie aber steht es um das Subjekt selbst? Hume hatte dieses schließlich mit seiner konsequenten und tabulosen Kritik ebenfalls dem Sog der Skepsis ausgesetzt. Nichtsdestotrotz bleibt die Erwiderung auf Hume, dass weder die Erfahrung noch die philosophische Problematisierung gänzlich ohne ein Subjekt auskommt. Kant kann dies kaum leugnen, sind es doch die subjektiven Anschauungen und Begriffe die eine stabile Erkenntnis ermöglichen sollen. Es würde daher nicht verwundern, wenn er in einem großen und gewagten Wurf das Subjekt ebenfalls rehabilitiert. Er bleibt jedoch bei seinem Diktum, dass Begriffe ohne Anschauung bzw. Erfahrung leer sind. Er folgt also dem humeschen Pfad insofern, als er konstatiert, ein Subjekt oder eine Ich-Identität lässt sich nicht wahrnehmen, sodass von einem empirischen Subjekt nicht die Rede sein kann. Er weicht aber von Hume ab, indem er an dem Argument festhält, dass ohne ein Subjekt auch keine Theorie der Erfahrung zu haben ist. Es muss eine Entität geben, die die Erfahrungen machen kann und die überdies in der Lage ist, diese Erfahrungen zu synthetisieren und unter die Begriffe zu subsumieren. Da aber im Rahmen der Anschauungsformen Raum und Zeit und der Verstandesbegriffe eine identische Subjektivität nicht wahrnehmbar ist, kann das Subjekt nur der Idee nach sein. Es bleibt also dabei: Obwohl Kant bereit ist, nach der humeschen Desillusionierung des Erfahrungsbegriffes wieder auf ein starkes Subjekt zu setzen, das die Probleme, die Hume aufgeworfen hat, lösen soll, ist es ein Subjekt nur de dicto. Es ist ein logisches „Ich denke“ – nicht mehr und nicht weniger.

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Was sich indessen radikalisieren lässt, ist die Position des Subjekts im Prozess der Erkenntnis. Bei Kant gewinnt es zwar eine Erkenntnishoheit, weil es letztlich seine Begriffe und Anschauungsformen sind, die die Erkenntnis ermöglichen, es bleibt aber auf jenes ominöse „Ding an sich“ verwiesen, dass hinter den Erscheinungen liegen soll. Das Subjekt bezieht Erkenntnisse über die Welt nur im Rahmen seiner subjektiven Erkenntnismöglichkeiten. Es bezieht aber keine Erkenntnisse darüber, wie die Welt ohne die subjektiven Filter der Erkenntnis aussieht. Es bleibt also immer die Möglichkeit, dass die subjektiven Begriffe und Anschauungsformen mit der Wirklichkeit nicht korrespondieren. Und dies obwohl die Erfahrungen, die das Subjekt macht, sich auf diese subjektlose Wirklichkeit beziehen. Mit anderen Worten: Kant behält auf eigensinnige Art und Weise den cartesianischen Dualismus bei. Er schwächt ihn zwar deutlich ab, indem er die Seite der materiellen Außenwelt auf die nicht weiter explizierte Restkategorie „Ding an sich“ reduziert. Er bleibt aber dem dualistischen Denken damit verhaftet. Einen Schritt weiter geht Johann Gottlieb Fichte. Sein Ausgangspunkt ist ähnlich wie bei Kant situiert, aber dennoch verschieden. An Kant entzündet sich nämlich (unter anderem) die Kritik, dass dieser für sich reklamiert hatte, die Verstandeskategorien transzendental deduziert zu haben. Es lässt sich indessen zeigen, dass die Kategorien einen empirischen Charakter haben. Sie beziehen sich deutlich auf die newtonsche Physik und finden sich (inklusive der Anschauungsformen) überdies bereits bei Aristoteles. Für Fichte gilt nun, dass es in der Wissenschaft einen Satz geben muss, der vor dem empirischen Wissen angesiedelt ist. Wenn nun das transzendentale Verstandessubjekt tatsächlich empirisch angereichert ist, kann es diese Rolle nicht erfüllen. Um einen ersten Satz zu finden, zieht sich Fichte in die allgemein anerkannte Logik zurück und wählt den Satz „A = A“. Damit ist einzig ausgesagt, dass wenn es ein A gibt, dieses notwendig ein A ist, es also mit sich selbst identisch ist. Der Satz „A = A“ hat nicht den Status einer Existenzaussage. Es ist ein notwendiges, aber eben kein hinreichendes Urteil. Fichte folgt hier Kant darin, dass logische Aussagen alleine keinen (hinreichenden) Wahrheitswert haben. Er folgt Kant aber auch darin, dass logische Urteile ein Subjekt voraussetzen, das diese Urteile prozessiert. Er modifiziert seinen ersten Satz daher zu dem Urteil „Ich = Ich“. Damit soll ein selbstidentisches Ich gesetzt sein, das sich zu dem Satz „Ich bin“ erweitern können soll. Die sich aufdrängende Frage ist nun: Stellt dieser Satz eine Erweiterung dar? Und wenn ja, wäre diese zulässig? Auf den ersten Blick ist es eine Erweiterung und als solche wäre sie nicht zulässig. Fichte schließt von dem logisch-formalen „Ich = Ich“ auf eine Existenzbehauptung: „Ich bin“. Er könnte darauf verweisen, dass das Urteil „Ich = Ich“ zwar formallogisch korrekt ist, aber eben leer bleiben muss oder in der Tauto-

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logie der Selbstreferenz endet. Um dieser zu entkommen, wäre es eine Möglichkeit, schlichtweg auf eine Existenzaussage zu schließen. Dies ist aber nicht Fichtes Argumentationsstrategie. Er grenzt sich mit seinem „Ich bin“ von dem verwandten „cogito sum“ ab und möchte sein „Ich“ verstanden wissen als ein Mittleres zwischen einer bloßen Form und einer Existenzaussage. Am Anfang seiner Philosophie kann schließlich keine ausgewiesene Existenzgewissheit stehen, weil diese erst empirisch einzufangen wäre, und Fichte einen obersten Satz jenseits empirischer Gewissheiten sucht. Insofern meint sein „Ich bin“ keine direkte Existenzaussage. Es ist aber auch nicht bloße logische Form, die Fichte hier aufbieten möchte. Es ist die Bedingung der Möglichkeit für Synthetisierungsprozesse. Zur existenziellen Selbstgewissheit wird das „Ich bin“ erst durch ein aktives Handeln. Das Subjekt setzt sich selbst, weil es sich nicht damit begnügt, die synthetisierende Entität im Erkenntnisprozess zu sein. Wohlgemerkt: Auch dieses aktive Setzen seiner selbst soll nach Fichte jenseits empirischer Verhältnisse geschehen, also kein im modernen Sinne (entwicklungs-)psychologischer Akt sein. Unabhängig davon, ob Fichtes Argumentationsstrategie plausibel erscheinen mag oder nicht, so trägt er doch einen Gedanken auf dem Weg zum Subjekt bei: den des aktiven Handelns. Bislang war das Subjekt aktiv in der Erkenntnisgewinnung. Es musste seinen Verstand und seine Sinne bemühen und deren Zusammenspiel koordinieren. Jetzt muss es schon vorher aktiv werden. Es muss sich selbst als erkennendes Subjekt setzen. Es erreicht mit seiner Aktivität aber zunächst nicht mehr als ein tautologisches „Ich bin“, dem iterativ ein „Ich bin“ angehängt werden kann. Es fehlt ein Gegenüber oder eben die Außenwelt, mit der das Subjekt interagieren und sich entsprechend entwickeln kann. Aus dem „Ich bin“ ist eine solche aber nicht abzuleiten, zumindest nicht dann, wenn jenseits empirischer Bestimmungen operiert werden soll. Fichte bedient sich daher abermals der Logik und greift auf den ebenfalls allgemein anerkannten Satz zurück: „-A nicht = A“. Auch dieser Satz ist zunächst inhaltleer. Er bringt einzig ein Entgegensetzen auf den Begriff. In Bezug auf das Ich wird damit allerdings ein Nicht-Ich gesetzt. Dieses markiert die materielle und soziale Außenwelt, also alles das, was eigentlich nicht originär dem Subjekt zugehörig ist. Bei Fichte muss es allerdings dem Subjekt zugehörig sein, weil sich aus dem obersten Satz „Ich = Ich“ keine Entgegensetzung im Sinne einer Entäußerung ableiten lässt. Das „Ich“ verbleibt in seinem eigenen Geltungsbereich und setzt seinem „Ich“ ein „Nicht-Ich“ entgegen. Der entscheidende Clou bei diesem Theoriemanöver besteht nun darin, dass die klassische Subjekt-Objekt-Differenz, die der Erkenntnistheorie so viele Probleme bereitet hatte, intrasubjektiv – gleichsam als re-entry – konzipiert wird. Der Nachteil dieses Theoriemanövers ist jedoch, dass

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die beiden Sätze „Ich = Ich“ und „Ich = Nicht-Ich“ sich gegenseitig aufheben. Fichte reagiert darauf mit einer quantitativen Bestimmung. „Ich“ und „NichtIch“ werden zu teilbaren Mengen, die beide im „Ich“ nebeneinander existieren können. Dieses wird entsprechend gedoppelt. Es ist einerseits absolutes Ich und andererseits das gesetzte und teilbare Ich. Als absolutes Ich vollbringt es die Handlung der Setzung eines (teilbaren) Ich und eines (teilbaren) Nicht-Ich. Zweifellos ist die Argumentationsarchitektur Fichtes ein Unternehmen, das keine besondere Überzeugungskraft hat. Die Schlüsse von formal-logischen Sätzen auf Existenzbehauptungen, die dann doch keine sein sollen, und an deren Ende ein absolutes Ich steht, vermag einer kritischen Prüfung wohl nicht standhalten. Unabhängig davon steuert Fichte jedoch Anregungen bei, wenn es um das Subjekt geht. Zum einen ist es die Idee, dass das Subjekt in einem radikalen Sinne aktiv zu denken ist. Es ist nicht nur aktiv in der Erkenntnisgewinnung. Es ist aktiv beteiligt an der Erkenntnisgenerierung. Dazu muss es zum anderen die Differenz zum Objekt in sich selbst zurückziehen. Was Fichte andeutet ist die Überwindung des Dualismus zugunsten des Subjekts, nachdem im französischen, eliminativen Materialismus der Dualismus zugunsten des Objektiven aufgelöst worden war. Der Dualismus weist zwar sicherlich zu Recht darauf hin, dass ohne eine Entgegensetzung ein Entwicklungs- und Reflexionsprozess des Subjekts nicht zu haben ist. Er kann aber das Problem nicht lösen, wie ein immateriell gedachtes Subjekt mit einem materiell gedachten Objekt korrespondieren kann. Fichte behält den Hinweis auf die Entgegensetzung bei, ohne auf zwei grundverschiedene Entitäten zurückgreifen zu müssen. Die Entgegensetzung oder Fremdreferenz findet im Subjekt statt. Damit deutet sich eine Radikalisierung auf dem Weg zum Subjekt an, die jedoch die Eigentümlichkeit aufweist, mit dem Terminus des „absoluten Ich“ als Resultat einer fragwürdigen Herleitung einer Philosophie aufzusitzen, die eine begründete Bestimmung des Subjekts verfehlt. Allein, nach Fichte wurde es ohnehin ruhig um die Fragen der Erkenntnistheorie und damit um die Fragen nach dem Subjektstatus im Erkenntnisprozess. Dies dürfte zwei wesentliche Gründe haben. Zum Einen hatte Kant die erkenntnistheoretische Fragestellung ausgereizt. Er hatte die Grenzen des Erkennbaren bestimmt, die Erfahrung mit der Ratio versöhnt und mit seinem dialektischen Vernunftbegriff die übrig gebliebenen Fragen aus dem Feld der Erkenntnistheorie vertrieben. Zum Anderen drängten sich gewichtigere Fragen in den Vordergrund. Die Französische Revolution hatte den Startschuss für die Ausbreitung der demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften gegeben, und was so hoffnungsvoll begonnen hatte, endete schnell in einer Desillusionierung. Die kapitalistische Wirtschaft setzte zwar die Produktionskräfte frei und vermehrte den gesellschaftlichen Reichtum. Er kam aber nur bei wenigen an und

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die große Mehrheit der Bevölkerung fristete ein Leben in Armutsverhältnissen. Damit drohte dann zugleich das Versprechen auf eine umfassende Demokratisierung unhaltbar zu werden. Wenn die wohlhabenden Milieus aufgrund ihrer dominierenden ökonomischen Stellung auch eine dominierende politische Stellung einnehmen, gerät das demokratische Gleichheitspostulat auf eine schiefe Bahn. Kurzum: Gegenüber Fragen der Erkenntnis wurden Fragen der Gesellschaft dringender. Einer der Ersten, der sich an diese Fragen wagte, war Karl Marx. Das Subjekt verlor bei ihm auch prompt seine hoheitliche Stellung, die es in der Erkenntnistheorie gewonnen hatte. Dafür sind zwei Motive verantwortlich. Zum einen steht Marx fest auf dem Boden des Materialismus und dies bedeutet, das Bewusstsein als aus den gesellschaftlichen Verhältnissen abgeleitet zu konzipieren. Mit anderen Worten: Das Subjekt wird hintergehbar. Zum anderen ist es die Zeitdiagnose von Marx, die an den Verhältnissen kein gutes Haar lässt. Das Subjekt ist ausgebeutet, entfremdet, unterliegt bewusstseinsverzerrenden Fetischismen und wird zum Anhängsel der Maschinerie. Deutlicher lässt sich die subordinäre Stellung des Subjekts gegenüber der Gesellschaft nicht auf den Begriff bringen. Es bleibt aber durchaus erstaunlich, dass bereits ein halbes Jahrhundert nach Kants Inthronisierung des Subjektbegriffes von diesem nicht mehr viel übrig ist. Die Fragen, die sich aufdrängen sind freilich: Hat Marx Recht mit seiner Beschreibung? War es ein grundsätzlicher Fehler, auf die Erkenntnistheorie zu setzen? Die Frage, ob Marx Beschreibung treffend ist, ist sicherlich nicht leicht zu beantworten. Sie hängt vom Referenzrahmen ab. Wenn das Subjekt theoretisch in eine subordinäre Stellung gebracht wird, spricht nichts dagegen, diese Stellung empirisch mit entsprechenden Begriffen zu umschreiben. Ob freilich die marxsche Gesellschaftsdiagnose sui generis die moderne, kapitalistische Gesellschaft trifft, kann hier nicht final diskutiert werden. Soviel allerdings kann postuliert werden: Marx trifft sicherlich einen Kern moderner, kapitalistischer Gesellschaften, wenn er darauf insistiert, dass das einzelne Subjekt kaum über die gesellschaftliche Rolle verfügt, die ihm in der klassischen Aufklärungsperiode einst zugedacht worden war. Es ist nicht der politische Gestalter der Gesellschaft, sondern es findet sich in zahlreichen Abhängigkeitsverhältnissen, die das Projekt der Emanzipation bedrohen. Das Aufklärungsprojekt, das den Menschen aus seiner (selbst- und fremdverschuldeten) Unmündigkeit befreien sollte, schlägt um in eine „Dialektik der Aufklärung“. Unterschiedliche Autoren von Hegel bis Habermas arbeiten sich in unterschiedlicher Art und Weise daran ab, und trotz der Theoriedifferenzen bleibt im Kern die These, dass die Aufklärung nur halbiert realisiert wurde und es einer Aufklärung der Aufklärung bedarf. Die Französische

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Revolution und die europäischen Demokratisierungsbestrebungen in ihrem Anschluss haben jedenfalls das Versprechen auf eine befreite Menschheit noch nicht eingelöst, so der Tenor einer aufgeklärten Aufklärungskritik. Die andere Frage, ob es ein Fehler war, auf die Erkenntnistheorie zu setzen, kann dagegen mit einem eindeutigen Nein beantwortet werden. Sie wäre nur dann zu bejahen, wenn die Frage, wie menschliche Erkenntnis möglich ist, eindeutig geklärt wäre oder es gute Gründe gäbe, diese Fragestellung unbearbeitet zu lassen. Dies ist aber mitnichten der Fall. Gerade in einer Gesellschaft, die dem wissenschaftlichen Prozedere einen hohen Stellenwert einräumt, bedarf es der Thematisierung der Grundlagen der Wissenschaft bzw. der wissenschaftlichen Erkenntnis. Damit bleibt die erkenntnistheoretische Fragestellung aktuell, auch wenn sie seit Kant eher im wissenschaftstheoretischen Gewand verhandelt wird. Wenn es um das Subjekt geht, zeigt sich allerdings ein Bruch zwischen der Erkenntnis- und der Gesellschaftstheorie. Lässt sich erkenntnistheoretisch ein logisch nicht hintergehbares Subjekt begründen, verliert dieses seine Nicht-Hintergehbarkeit, wenn auf einen gesellschaftstheoretischen Diskurs umgestellt wird. Nun wäre es denkbar, schlichtweg auf eine der beiden Optionen zu setzen, und diese gegen die anderen auszuspielen. Damit wäre allerdings wenig gewonnen. Die Diskussion zwischen den beiden Paradigmen dürfte in einem Remis enden. Die hier verfolgte Strategie ist es deswegen vielmehr, an der erkenntnistheoretischen Stellung des Subjekts festzuhalten, und dennoch die gesellschaftstheoretischen Hinweise ernst zu nehmen. Es wäre angesichts der modernen Bedrohungen für die Subjektivität, die insbesondere der kritische Gesellschaftsdiskurs benennt, naiv, dogmatisch bei einem triumphalen Subjektverständnis stehen zu bleiben. Der gesellschaftstheoretische Diskurs entfaltet ein analytisches Potenzial, das für die weiteren Überlegungen einen gewichtigen Impuls darstellt. Sie ermöglicht einerseits eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse, die dem Aktivitätspotenzial des Subjekts entgegenstehen. Sie ermöglicht andererseits zu erklären, warum die Subjekte geneigt sind, Verhältnisse mindestens zu akzeptieren, die ihrem Aktivitätspotenzial Hindernisse in den Weg räumen. Wenn die Subjekte, wie im gesellschaftlichen Diskurs tendenziell angenommen, immer auch Produkt ihrer gesellschaftlichen Verhältnisse sind, dann wird es probabilistisch erwartbar, dass sie jene Werte prozessieren, die konstitutiv für die Verhältnisse sind. Was dieser Diskurs, zumal dann, wenn er kritisch ausgerichtet ist, nicht mehr hinreichend in den Blick bekommt, sind Momente der Widerständigkeit und der mögliche Verweis auf eine andere, freie Gesellschaft, die durch ein aktives und nicht hintergehbares Subjekt begrifflich begründbar werden. Dies detaillierter auszuführen, ist eine Aufgabe der folgenden Überlegungen.

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Der gesellschaftstheoretische Diskurs hält im Prinzip das Grundmuster der Erkenntnistheorie aufrecht. Während hier von einer Subjekt-Objekt-Differenz ausgegangen wird, die mit dem Objekt vornehmlich die materielle Umwelt gemeint hatte, geht es im gesellschaftstheoretischen Diskurs um die Grundposition Subjekt-Gesellschaft, wobei meist vom Individuum anstelle vom Subjekt die Rede ist. Es gibt freilich eine Abweichung von dieser Grundposition. George Herbert Mead hatte den Vorschlag gemacht, auf die Grundfigur SubjektSubjekt umzustellen. Das Gegenüber des Subjekts ist damit nicht mehr eine leblose Materie oder eine anonyme Instanz wie die Gesellschaft, sondern ein sinngenerierendes Subjekt, dem die gleichen Eigenschaften unterstellt werden müssen, die der je eigenen Subjektivität auch zugesprochen werden. Und nicht nur dies. Das Subjekt als Umwelt des Subjekts hat eine Responsefähigkeit, die sowohl der Materie als auch der Gesellschaft als Ganzes abgeht. Das Subjekt muss sich also auf eine ihrerseits aktive Umwelt einstellen. Es agiert damit aber auf Augenhöhe mit seiner Umwelt, und Gesellschaftstheorien wie die von Jürgen Habermas, der sich das Intersubjektivitätsparadigma zu eigen gemacht hat, implizieren nicht jene subordinäre Stellung des Subjekts, die etwa bei Marx so drastisch beschrieben wird. Dies bedeutet nun aber nicht, dass das Subjekt seine logische Nicht-Hintergehbarkeit zurück erhält. Das Intersubjektivitätsparadigma deduziert das Subjekt nicht (wie in der Erkenntnistheorie aus der Erkenntniskritik), sondern setzt es als (mehr oder weniger) empirisches Subjekt. Den Gedanken aufnehmend, dass ein solipsistisches Subjekt zur Eigenentwicklung nicht in der Lage ist, ist dieses Subjekt auf andere Subjekte angewiesen. Die intersubjektive Dialogsituation übernimmt dabei den Motor der Entwicklung. Problematisch ist nun, dass das Subjekt bereits Subjekt sein muss, um an der Dialogsituation partizipieren zu können, es seine Subjektivität aber erst in der Dialogsituation entfaltet. Die Konstitution des Subjekts ist zirkulär. Und selbst wenn dies invisibilisiert wird, bleibt es zudem dabei, dass das Subjekt hintergangen wird: durch die Dialogsituation. Der Exkurs über die Gesellschaftstheorie sollte deutlich gemacht haben, dass der Weg zum Subjekt keineswegs allein über die Erkenntnistheorie führt. Diese hatte zwar das Subjekt als Nebenprodukt bei der Beantwortung ihrer generellen Fragestellung auf die Agenda der Moderne gesetzt. Der Umschwung in die Gesellschaftstheorie hat aber eben sein starkes Motiv darin, dass sich im Anschluss an die Französische Revolution die Ausbreitung der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft mit Problemen konfrontiert sah, die eine Neujustierung des Aufklärungsdiskurses nahe legten. Es konnte jetzt nicht mehr darum gehen, politische und gesellschaftliche Ideale in Anschlag zu bringen – dies war im 17. und 18. Jahrhundert zur Genüge getan worden –, sondern

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es musste geklärt werden, wieso diese Ideale in der Realität entweder nicht funktionierten, oder warum sie nicht hinreichend verwirklicht wurden. Den Blick dabei auf gesellschaftliche Strukturen zu werfen, hatte zwei Vorteile. Erstens suspendiert dieser Blick von einer moralischen Verurteilung. Wenn es die gesellschaftlichen Strukturen sind, die für die Probleme verantwortlich sind, macht es nur begrenzt Sinn, konkrete Menschen dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Zweitens war der Blick auf die gesellschaftlichen Strukturen ein Novum, das schließlich zur Etablierung der Soziologie als Wissenschaft führte. Damit konnte ein vollständigeres Bild der Umwelt des Subjekts gezeichnet werden. Denn dies steuert der gesellschaftstheoretische Diskurs auf dem Weg zum Subjekt bei: die Thematisierung der sozialen Umwelt des Subjekts, die anders zu verhandeln ist als die materielle Umwelt, die in der Erkenntnistheorie die zentrale Rolle spielt. Weil aber die soziale Umwelt anders als die materielle Umwelt eigensinnig (re-)agiert und sich nicht einfach in die naturwissenschaftlichen Begriffes des kantischen Verstandes synthetisieren lässt, verschiebt sich der Stellenwert des Subjekts. Es ist die Eigensinnigkeit des Sozialen, die zu ignorieren sich des Verdachts der Naivität nicht erwehren könnte. Es ist aber zugleich die Eigensinnigkeit des Sozialen, die die Schwierigkeit ausmacht, die logische Nicht-Hintergehbarkeit und erkenntnistheoretische Hoheit des Subjekt umstandslos zu perpetuieren, sobald der Diskurs der Erkenntnistheorie überschritten wird. Wenn das Subjekt als relevante Größe im gesellschaftstheoretischen Rahmen operieren können soll, müssen die Hinweise auf die soziale Stellung des Subjekts ernst genommen werden. Trotz der gestiegenen Bedeutung der Gesellschaft als eigenständigem Thema gab bzw. gibt es weiterhin erkenntnistheoretische Überlegungen. Im 20. Jahrhundert war es vor allem Edmund Husserl, der an den cartesianisch-kantischen Diskurs anschloss. Zur Erinnerung: Dieser Diskurs laborierte an einem Dualismus, der es nicht überzeugend geschafft hatte, das Subjekt mit dem Objekt in ein korrespondierendes Verhältnis zu setzen. Der Weg über die Sinne, der einen direkten Kontakt zwischen beiden zu ermöglichen schien, verfehlte die zentralen Begriffe, die das Subjekt zur alltagspragmatischen und wissenschaftlichen Prozessierung seiner Umwelt bedarf. Der rational-idealistische Weg hat zwar keine Schwierigkeiten diese Begriffe zu bestimmen, kann diese aber nur im Subjekt lokalisieren und dann keine hinreichende Auskunft mehr über die Seite des Objektiven bzw. über das Passungsverhältnis der subjektiven Begriffe mit der Objektivität geben. Letzteres ist dabei im Übrigen nicht nur ein Erfordernis der Erkenntnistheorie, der es schließlich um die Erkenntnis der Objektivität geht. Es ist auch ein Erfordernis an die demokratische Verfasstheit der Gesellschaft. Soll sich diese in ihren Diskursen an intersubjektiv überprüfbaren Aussagen über die

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Welt orientieren, bedarf es der Klärung, wie sich solche Aussagen überprüfen lassen. Fichte hatte bereits eine Möglichkeit angedeutet, den Dualismus zu überwinden ohne ihn in toto zu suspendieren. Er reagierte damit auf den Umstand, dass Begriffe nur über ihre Differenzsetzung eine qualifizierte Aussage darstellen. Das Subjekt braucht ein Gegenüber, an dem sich eine je eigene Entwicklung entzünden kann. Husserl nun nimmt den Gedanken der Verlagerung der SubjektObjekt-Differenz in das Subjekt auf, und umschreibt ihn mit dem Terminus der phänomenologischen Reduktion. Er bezieht sich dabei zwar durchaus auf Descartes, wirft diesem aber vor, mit seinem Ansinnen, im Cogito ein letztbegründendes Prinzip gefunden zu haben, fehlzuschlagen. Eben weil es Descartes um die Begründung objektivierender Aussagen ging, mündet seine Philosophie wieder im Skeptizismus – zumindest wenn die intermediäre Entität Gott weggelassen wird. Der Skeptizismus, so räumt Husserl jedoch ein, ist tatsächlich nicht zu überwinden – außer dadurch, dass er wahr gemacht wird. Entsprechend steigt er mit dem Skeptizismus ein. Er geht von einem unproblematischen Alltagsbezug aus, den die Philosophie, aus oben bereits erörterten Gründen, infrage stellen muss. Die Annahme einer subjektunabhängigen Außenwelt klammert Husserl ein, und er zieht sich in eine subjektive Bewusstseinsimmanenz zurück, in der zwar alle Dinge der Außenwelt weiterhin existieren: aber eben nur als subjektive gedachte. Damit soll eine subjektunabhängige Außenwelt keineswegs geleugnet werden. Die objektivierende Aussage, es gäbe keine subjektunabhängige Außenwelt, unterliegt genauso den skeptischen Einwänden wie eine bejahende Existenzaussage. Husserl entledigt sich eher des Problems. Er ist nicht darauf aus, eine Ontologie des Subjekts oder Objekts zu begründen. Er zieht sich gegenüber dem Skeptizismus in eine subjektive Immanenz zurück, die sichere Aussagen ermöglicht. Wenn ein Subjekt einen Gegenstand wahrnimmt, ist das Wahrnehmen unbezweifelbar. Bezweifelbar wird erst die Aussage, dass der Gegenstand tatsächlich ein objektives Gegenüber ist. Soweit war die Tradition von Descartes bis Fichte bereits vorgestoßen. Der Rückzug ins Subjektive sichert die Möglichkeit von unbezweifelbaren Aussagen. Was Husserl dieser Tradition hinzufügt, ist die Idee des „intentionalen Bewusstseins“. Grob zusammengefasst meint dies, dass das Bewusstsein immer schon auf einen Gegenstand verwiesen ist. Die Subjekt-Objekt-Differenz wird also auch bei Husserl keineswegs aufgegeben. Er zieht sich wie Fichte in das Subjekt zurück, benötigt aber keine aufwendigen, formal-logischen Deduktionen aus dem absoluten Ich, um das Nicht-Ich – als begriffliche Kategorie des Objektiven – im Differenzspiel einfügen zu können. Das intentionale Bewusstsein bringt das Objekt gleichsam immer schon mit und löst so die Vermittlungsprobleme, die die klassische

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Erkenntnistheorie umgetrieben hatte. Es löst diese Probleme freilich nur im eigenen Geltungsbereich. Eine übergreifende Vermittlung zwischen einem Subjekt und einer subjektunabhängigen Wirklichkeit kann auch die Philosophie Husserls nicht anbieten. Was Husserl anbietet ist die mit dem „intentionalen Bewusstsein“ verbundene Konkretisierung des Wahrnehmungsaktes. Es geht nicht allein darum, den Gegenstand der Wahrnehmung unter die Verstandesbegriffe zu synthetisieren. Der Gegenstand der Wahrnehmung erscheint in mannigfaltigen Perspektiven und das Subjekt muss diese unterschiedlichen Perspektiven zu einem identischen Wahrnehmungsgegenstand integrieren. Während damit unterschiedliche räumliche Gegebenheitsweisen thematisiert werden, wird mit den Begriffen der Retention und der Protention die zeitliche Dimension der Wahrnehmung markiert. Die Wahrnehmungsgegenstände haben eine Vorgeschichte und sie verweisen auf einen offenen Zukunftshorizont. Beim Hören von Musik wird dies besonders deutlich. Der einzelne Ton steht in einer Reihe mit anderen Tönen und erst aus der zeitlichen Einordnung entsteht eine Melodie. Gleichsam übergeordnet stehen die unterschiedlichen Glaubensmodalitäten. Ein Gegenstand kann als existierend, als zweifelhaft oder als geglaubt prozessiert werden. Je nachdem, welche Glaubensmodalität zur Anwendung kommt, verändern sich die möglichen Anschlussoperationen. Subjekte reagieren anders auf die Annahme einer Existenz der Dinge, als wenn sie deren Existenz bezweifeln. Für die erkenntnistheoretische Stellung des Subjekts bedeutet dies, dass es einerseits seine hoheitliche Stellung, die es in der cartesianisch-kantischen Tradition bereits eingenommen hatte, behält, und andererseits wird diese Stellung dadurch konkretisiert, dass es darauf ankommt, mit welchen Intentionen und Modalitäten das Subjekt auf die Wahrnehmungsgegenstände zugreift. Mit anderen Worten: Das Subjekt ist nicht nur die Synthetisierungsinstanz für naturwissenschaftliche Erkenntnisprozesse. Es ist sinngenerierend. Der Gegenstand der Wahrnehmung ist jeweils ein anderer, je nachdem wie, bzw. mit welchen Intentionen und Modalitäten, das Subjekt auf diesen zugreift. Erkauft wird diese Stellung des Subjekts freilich mit dem Rückzug in dasselbe. Husserl Philosophie funktioniert als Subjektimmanenz. Der Vorteil ist, dass sich Husserl den skeptischen Einwänden entziehen kann, weil er objektivierende Aussagen vermeidet. Er zielt nicht wie Descartes und die ihm folgende Tradition darauf ab, das Subjekt mit einer subjektunabhängigen Wirklichkeit korrespondieren zu lassen. Dieses Theoriemanöver kann dann dazu genutzt werden, den problematischen Dualismus aufzugeben. Es ist der Radikale Konstruktivismus, der diesen Schritt vollzieht. Dessen disziplinäre Wurzeln finden sich allerdings nicht alleine in der Philosophie, sondern auch in der Neurobiologie. Diese hatte mit der These einer

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„undifferenzierten Codierung“ darauf aufmerksam gemacht, dass das Gehirn autopoietisch funktioniert und dies bedeutet: Es gibt keinen Informationsinput aus der Umwelt. Das Gehirn erzeugt seine Informationen über die Umwelt selber. Die Sinnesorgane informieren das Gehirn nur über die Reizintensität, also etwa grelles Licht oder laute Musik. Sie geben jedoch keine qualitativen Informationen über die Reizquelle und damit über die Außenwelt. Das Gehirn operiert auf der Grundlage des Prinzips „order from noise“ und konstruiert nach Maßgabe je eigener Kriterien seine mentalen Umweltrepräsentationen. Das, was Descartes, Kant oder Fichte bereits spekulativ vermutet hatten, scheint sich mithilfe der Neurobiologie mit harten Fakten belegen zu lassen: Das Subjekt konstruiert die Informationen über seine Umwelt mittels des Gehirns selber und bildet diese nicht passiv über die Sinne vermittelt ab. Die Strategie, die Dualität zwischen Selbst- und Fremdreferenz im Subjekt zu lokalisieren, wird dabei ebenfalls perpetuiert. Es ist das Subjekt, bzw. dass Gehirn, das im eigenen Geltungsbereich die Differenzlinie zwischen Innen und Außen zieht. Die klassische Frage nach der Wahrheit als Korrespondenzoder Adäquatioverhältnis zwischen Subjekt und Objekt verliert damit seine Relevanz. Sie wird uminterpretiert in das Passungsverhältnis subjektiver Wirklichkeitskonstruktionen untereinander. Philosophiegeschichtlich betrachtet, wird auf diese Art und Weise zwar an die kantische Tradition angeschlossen. Dies allerdings ohne die Kategorie des „Ding an sich“. Jene kantische Hommage an den Materialismus und seine eigensinnige Fortsetzung des Dualismus wird restlos aufgegeben. Daraus folgt auch in diesem Fall nicht, die Existenz einer subjektunabhängigen Wirklichkeit zu leugnen. Es bedeutet lediglich, dass die Erkenntnis dieser Wirklichkeit als subjektives Erleben konzipiert wird. Der Radikale Konstruktivismus ist keine ontologische, sondern eine epistemologische Theorie. Wenn nun aber Erkenntnis als subjektives Erleben begriffen wird, hat dies die Konsequenz, dass die subjektunabhängige Wirklichkeit nicht mehr der Prüfstein für Wahrheit sein kann. Der Radikale Konstruktivismus geht zwar auch davon aus, dass die subjektiven Konstruktionen durch äußere Impulse angeschoben werden. Er negiert aber, dass die Subjekte qualifizierte Informationen über diese Impulse, bzw. deren Quellen, gewinnen können. Es bleiben also nur die subjektiven Konstruktionen, die sich anstatt an einem Wahrheitswert an ihrem pragmatischen Nutzen messen lassen müssen: Sie müssen funktionieren. Ob sie dies tun oder nicht, hängt zweifellos mit der Umwelt zusammen. Der entscheidende Fokus des Radikalen Konstruktivismus richtet sich aber allein auf das subjektive Erleben, weil eben ein objektives Wissen über die Umwelt nicht zu haben ist. Wenn nun allerdings das Subjekt keine qualifizierten Informationen aus der Umwelt erhält, wird konsequenterweise der Status empirischer Wissen-

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schaften fragil. Die „harten Fakten“, die die Neurobiologie anbietet, entpuppen sich ihrerseits als Konstruktionen der Wirklichkeit und nicht als deren empirisches Abbild. Anders formuliert: Die Neurobiologie, die empirisch gestartet war, kommt in ihrem Ergebnis zu dem Schluss, dass ein objektivempirisches Wissen über die Welt nicht zu haben ist. Die Schlussfolgerung widerspricht der Anfangsprämisse und die Frage ist: Ist der Radikale Konstruktivismus damit gescheitert? Die Antwort lautet: Nein. Der Radikale Konstruktivismus ist nämlich nicht auf die Hirnforschung als alleinigem Begründungszusammenhang angewiesen. Er kann sich rein philosophisch aufstellen und dabei auf die Traditionslinien des Skeptizismus, des Rationalismus und des Idealismus berufen. Jene bereits skizzierten Argumente, die den Erkenntnisprozess als Abbildungsverhältnis einer objektiven Umwelt demontieren, münden dann in das Paradigma des Radikalen Konstruktivismus. Was dieser hinzufügt, ist die Überwindung des Dualismus und des kantischen Apriorismus. Es gibt zwar mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ein Gegenüber von Subjekt und Objekt. Der Radikale Konstruktivismus fokussiert jedoch die eine Seite, die Seite des Subjekts, und enthält sich in skeptischer Manier objektivierender Aussagen. Übrig bleibt dann ein Subjekt, das die Wirklichkeit in seinem eigenen Geltungsbereich vorfindet oder anders formuliert: das die Wirklichkeit (epistemologisch) konstruiert. Weil es dabei aktiv und eigensinnig operiert, entfällt die Idee apriorischer Begriffe. Kants Verstand war auf die newtonsche Physik ausgerichtet. Vor dem Hintergrund des Radikalen Konstruktivismus (und flankiert durch Entwicklungen in der Physik etwa durch Einstein und die Quantenphysik) muss indessen gelten: Die Wirklichkeit könnte eine andere sein. Es kommt eben darauf an, welche Begriffe die Subjekte entwickeln. Bislang hat sich zweifellos der Kausalitätsbegriff als pragmatischer Glücksfall erwiesen. Er kann jedoch nicht als Begriff a priori verstanden werden, sondern eher als entwicklungspsychologisch zu erwerbender Begriff. Wenn die Subjekte ihre Begriffe erst im Laufe der Ontogenese erwerben, kann dies fatalerweise zur Folge haben, dass sie sie auch nicht erwerben und dann andere Wirklichkeitskonstruktionen prozessieren und entsprechend eine andere Wirklichkeit erleben. Die Überlegungen starteten bei einem unproblematischen Weltbezug. Die Dinge um uns herum erscheinen uns wie selbstverständlich als Gegenstände, die wir mittels unserer Sinne erkennen können. Unsere Erkenntnisse können wir dann dazu nutzen, Absichten und Pläne zu formulieren, und ein intendiertes Handeln in Gang zu setzen. Zwar passieren immer wieder Fehler und Irrtümer. Diese reichen jedoch nicht aus, um dieses Weltbild eines unproblematischen Bezuges auf unsere Umwelt nachhaltig zu erodieren. Eigensinnigerweise kann

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die Philosophie diese Sicherheit, die unsere Alltagspragmatik auf einen festen Boden stellt, nicht bestätigen. Der skizzenhafte und einseitige Streifzug durch die Philosophiegeschichte hat den unproblematischen Weltbezug demontiert und endet bei einem Subjekt, das die Wirklichkeit in dem Sinne konstruiert, dass es seine Begriffe sind, die eine je eigene Wirklichkeit konstituieren.2 Es erzeugt nicht ontologisch die Wirklichkeit – diese bleibt subjektunabhängig –, sondern im Erkenntnisprozess sind es die subjektiven Begriffe und Kriterien, die das Erleben der Wirklichkeit anleiten. Das Subjekt erkennt nach Maßgabe seiner eigenen Subjektivität und nicht nach Maßgabe eines Inputs seitens der Umwelt. Der sich daraus ergebene Weltbezug bleibt für das pragmatisch orientierte Subjekt weiterhin unproblematisch. Solange die je eigenen Konstruktionen funktionieren, funktionieren sie eben, und wenn nicht, müssen sie modifiziert werden, oder es müssen neue Konstruktionen entwickelt werden. Problematisch wird jedoch der Wahrheitsbegriff. Dieser hatte stets ein Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt vorausgesetzt. Wird dieses Verhältnis gekappt, fehlt dem klassischen Wahrheitsbegriff das Fundament. Denn dies ist eine Konsequenz des radikalen Subjektverständnisses: Der Dualismus wird in das Subjekt zurückgezogen. Der Vorteil, der damit errungen wird, ist, dass die Probleme des tradierten Dualismus nicht länger zu irritieren vermögen. Der Dualismus hatte es schlichtweg nicht geschafft, den Graben zwischen Subjekt und Objekt überzeugend zu überwinden. Der Nachteil ist freilich, dass das Subjekt des Radikalen Konstruktivismus damit zwar widerspruchsfrei gedacht werden kann, aber über seine Subjektivität nicht hinreichend hinaus gelangt. Gemeint ist damit nicht, dass dem Subjekt die Entwicklungschancen fehlen würden. Da die Dualität im Subjekt stattfindet, steht sie dem Subjekt für die Ontogenese auch zur Verfügung. Gemeint ist, dass mit dem Subjekt mehr intendiert sein soll, als das Subjekt als theoretisch konsistente Entität und den Erkenntnisprozess als unbelastet durch den Dualismus auszuweisen. Wenn, wie in den folgenden Ausführungen beabsichtigt, der Fokus auf dem Politischen liegen soll, reicht eine reine Begrifflichkeit des Subjekts nicht aus. Wenn also trotzdem am dem Subjektbegriff, wie er sich aus dem Radikalen Konstruktivismus ableiten lässt, festgehalten werden soll, muss dies begründet und erläutert werden. Um den Begründungsversuch transparenter zu machen, ist es sinnvoll, zunächst die argumentative Frontstellung noch einmal zu verdeutlichen. Auf der einen Seite steht ein aus der Erkenntnistheorie und vor allem der Erkenntniskritik

2Für

ausführlichere Argumente und Gegenargumente vgl. Beer 2004a, 2013, 2015.

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konsistent abgeleitetes Subjekt. Dieses löst die Probleme des Dualismus, ohne in einer Tautologie der Selbstreferenz zu verharren, weil über die Methode des reentry die Dualität im Subjekt weiter stattfinden kann. Es wappnet sich zugleich gegen die Einwände des Skeptizismus, weil objektivierende Aussagen zwar weiterhin möglich sind, aber um die Wahrheitsfunktion verkürzt werden. Auf der anderen Seite ist es der Kern von Wissenschaft und Philosophie wahre Aussagen über die Objektivität zu machen. Dies hat den Vorteil, Strukturen und Prozesse benennen zu können, die evidentermaßen die Aktivität des Subjekts behindern oder sogar unmöglich machen, und die damit eine empirische Hintergehbarkeit der logischen Nicht-Hintergehbarkeit des Subjekts demonstrieren. Es wäre gerade angesichts der kolossalen Verbrechen des 20. Jahrhunderts naiv oder sogar zynisch, eine Subjekttheorie zu verhandeln, die aufgrund ihrer Begrifflichkeiten derartige Verhältnisse nicht thematisieren könnte. Der Nachteil dieser objektivierenden Gesellschaftstheorien, wie sie von Marx über Adorno bis Jürgen Habermas und Niklas Luhmann erarbeitet wurden, besteht nun freilich darin, jene erkenntniskritischen Einwände, die dem radikalen Subjekt zugrunde liegen, nicht hinreichend parieren zu können. Erkenntnistheoretisch lässt sich schließlich behaupten, auch gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse gibt es als wirksame Handlungsbeschränkungen und/oder -ermöglichungen nur dann, wenn sie entsprechend von Subjekten erkannt werden. Die logische Nichthintergehbarkeit des Subjekts gilt auch im Fall gesellschaftlicher Verhältnisse. Es gibt unter postmetaphysischen Bedingungen keine Theorie, die derart in sich geschlossen bzw. problemlos sein würde, dass sie nicht einen Preis bezahlen müsste. Es ist also eine Frage der Entscheidung, welcher Theorie der Vorzug gegeben wird. Die Frage verschiebt sich damit darauf, welche Überlegungen einer solchen Entscheidung zugrunde liegen. Im vorliegenden Fall geht es nicht nur um Erkenntnistheorie und deren Vermittlung mit der Gesellschaftstheorie. Es geht zentral auch um eine Kritische Theorie. Diese verfolgt – in einer vorläufigen Formulierung – das Ziel einer umfassenden Emanzipation von unbegründeten Herrschafts- und Autoritätsansprüchen. In ihrer klassischen Gestalt vom Marx bis Adorno, Horkheimer und Marcuse hat sie sich zentral darauf konzentriert, die gesellschaftlichen Verhältnisse daraufhin zu untersuchen, ob sie dem aufklärerischen Versprechen auf Emanzipation gerecht werden oder nicht. Dabei hat sie mit unterschiedlichen Themensetzungen auch aufschlussreiche Einsichten generiert, die aber letztlich den aufklärerischen Impetus zu verlieren drohten. Das emanzipationsfähige Subjekt, an dem in der Hinterhand immer festgehalten wurde, droht in der Beschreibung der Verhältnisse nicht nur ausgehebelt zu werden. Es wird zur bewusstlosen Reproduktionsinstanz der (falschen) gesellschaftlichen Verhältnisse. Mit der Kapitulation des Subjekts vor dem totalen

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Verblendungszusammenhang erodiert aber auch der Maßstab der Kritik.3 Wer, so die Frage, soll denn die aufklärerischen Versprechen auf Emanzipation umsetzen, wenn nicht ein emanzipationsfähiges Subjekt? Verliert nun das Subjekt seine Emanzipationsfähigkeit und reduziert sich auf eine bloße Erfüllungsinstanz der Systemimperative, fehlt der Bezugspunkt für eine Kritische Theorie, die letztlich immer auch auf eine gesellschaftsverändernde Praxis abzielt. Es läuft auch hier auf die gleiche Problematik hinaus, die mit dem Radikalen Konstruktivismus als Bezugstheorie generell verbunden ist. Die klassische Kritische Theorie kann erklären, warum die Subjekte solche gesellschaftlichen Verhältnisse akzeptieren oder reproduzieren, die aus der Sicht einer umfassenden Emanzipation eigentlich überwunden werden müssten. Wenn die Subjekte derartig degeneriert sind, dass sie ihre epistemologische Hoheit eingebüßt haben und ungefiltert durch die Verhältnisse präjudiziert werden, kann von ihnen kein Widerstand erwartet werden. Soll eine Kritische Theorie nicht zum kritischen Selbstzweck werden, bedarf es aber genau eines solchen Subjekts, das seine epistemologische Hoheit verteidigt und den Versuch eines selbstbestimmten Lebens wagt. Anders: Soll die Kritik nicht reine Kritik sein, muss sie ein optimistisches Potenzial aufbieten, das die Umsetzung der Kritik in der Praxis denkbar werden lässt. Ein solches Potenzial bietet das aus der Erkenntniskritik deduzierte Subjekt des Radikalen Konstruktivismus. Die Begründung für die Theorieentscheidung liegt also auf dem Feld der praktischen Theorie. Es ist die Möglichkeit, einen Adressaten und Maßstab für die Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse aufzubieten, die den Radikalen Konstruktivismus für eine Verwendung auf dem Feld der Kritischen Theorie attraktiv macht. Das Subjekt ist der Träger des Emanzipationsversprechens, weil seine erkenntnistheoretische Hoheit Emanzipation zu denken erlaubt. Es ist der Maßstab, von aus dem die Kritik entfaltet wird, und es ist der Adressat der Kritik, dem eine emanzipatorische Praxis zugetraut werden kann. Der Radikale Konstruktivismus und die Kritische Theorie sind die beiden Quellen, aus den sich die folgenden Überlegungen speisen. Beide kulminieren in der Idee einer radikalen Subjektivität und können auf der Grundlage dieser Idee in ein Ergänzungsverhältnis gebracht werden. Dazu bedarf es jedoch modifizierender Erläuterungen zur Verwendung des Radikalen Konstruktivismus. Es bleibt schließlich das Problem, dass aus einer Außenperspektive der Radikale

3Eine

Ausnahme macht Herbert Marcuse. Dessen Versuch, ein emanzipationsfähiges Subjekt mittels einer freudianischen Triebstruktur auszuweisen, ist allerdings aufgrund des metaphysischen Überhangs wenig überzeugend.

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Konstruktivismus seine Probleme nicht lösen kann. Innerhalb seines eigenen Referenzrahmens bietet er eine konsistente Erkenntnistheorie und daraus abgeleitet ein konsistentes Subjektverständnis. Die komplette Umwelt bleibt als subjektinternes Erleben erhalten und das Subjekt fungiert als Fixpunkt jeglicher Erkenntnis. Er erreicht seine Konsistenz aber nur durch die Preisgabe jeglicher Korrespondenzansprüche. Die Frage danach, ob unsere Erkenntnisse der Umwelt entsprechen, kann er nicht beantworten. Er zieht damit zwar die Konsequenz aus der Erkenntniskritik seit Descartes und Hume, hinterlässt damit aber eine Lücke, die gerade auch im Kontext des Politischen irritiert. Wenn politische Prozesse sich an wahren Aussagen orientieren sollen, müssen solche Aussagen möglich sein. Und schlimmer: Politische Prozesse sind immer Prozesse, die mindestens zwei Subjekte involvieren. Damit geht es nicht mehr nur um die Erkenntnis der materiellen Umwelt, sondern zugleich um eine intersubjektive Anschlussfähigkeit, die die epistemologische Hoheit des Subjekts zu relativieren droht. Andere Subjekte lassen sich nicht mit naturwissenschaftlichen Begriffen umstandslos erfassen. Andere Subjekte sind ihrerseits sinngenerierend und sie markieren damit eine Umwelt des Subjekts, die sich der Einordnung durch subjektive Begriffen immer wieder entzieht. Zusammengefasst lassen sich die beiden großen Probleme des Radikalen Konstruktivismus mit den Termini Wahrheitsrelativismus und Solipsismus umschreiben. Der Solipsismus, um es kurz zu machen, lässt sich als drohende Theoriefigur im Hintergrund nicht überzeugend wegdiskutieren. Dass der Solipsismus eine höchst spekulative, kontraintuitive und wirklichkeitsfremde Theorie ist, braucht nicht weiter ausgeführt werden. Es lassen sich zwar alle alltagspragmatischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse auch aus einem solipsistischen Subjekt ableiten, weil es keinen Grund gibt, warum ein solipsistisches Subjekt nicht alltagspragmatische Problemlösungen anstreben und wissenschaftliche Forschungen betreiben sollte. Problematisch bleiben indessen andere Subjekte, die sich den je eigenen Begriffsoperationen nicht umstandslos einordnen lassen. Damit scheitert der Solipsismus, wenn es darum geht, eine kritische Gesellschaftstheorie zu erarbeiten. Ähnliches gilt für das Problem des Wahrheitsrelativismus. Dieses wird noch dadurch dramatisiert, dass es auf den Radikalen Konstruktivismus zurückschlägt. Der Radikale Konstruktivismus kann sich nicht als wahres Theorieparadigma anbieten, wenn sein Ergebnis darin besteht, den Wahrheitsbegriff ad acta zu legen. Dies unbeachtet, stellt der Wahrheitsrelativismus insofern ein Problem dar, als eine kritische Gesellschaftstheorie ohne einen Begriff mit zumindest einer wahrheitsäquivalenten Funktion in eine Beliebigkeit abgleiten würde, die sich auf die Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse auswirken muss. Eine Kritik, die

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ihre eigenen Maßstäbe nicht ausweisen kann, und diese Maßstäbe auch mit einem Geltungsanspruch versieht, droht in Intransparenz umzuschlagen und damit verfehlt sie den Anspruch auf die Zielfigur einer umfassenden Emanzipation. Der Radikale Konstruktivismus muss also insbesondere auch im Hinblick auf die Idee einer Kritischen Theorie mit aller Vorsicht verwendet werden. Dies meint, er kann und soll nicht mehr sein als eine Heuristik. Er schließt damit andere Theorieparadigmen nicht nur nicht aus, sondern kann auf diese zugreifen und für eine Kritische Theorie fruchtbar machen. Der zentrale Fokus auf einem aktiven, erkenntniskonstitutiven Subjekt bleibt, und dies bedeutet dann auch, dass theoretisch jedes Subjekt seine eigene Wahrheit hat. Es geht, anders formuliert, letztlich um das subjektive Erleben von Wirklichkeit. Aber eben auch um diese Wirklichkeit. Wissenschaftliche Theorien oder Forschungen, die diese mit einer objektivierenden Attitüde beschreiben, stellen zwar einen alternativen Entwurf zum Radikalen Konstruktivismus dar, bleiben aber relevante Wirklichkeitsbeschreibungen. Sie können als gleichwertige Konstrukte (oder Heuristiken) zum Konstrukt (oder zur Heuristik) des Radikalen Konstruktivismus verhandelt werden, und sie können dabei, wie etwa in den Arbeiten von Marx oder Adorno, helfen, Emanzipationshindernisse zu dechiffrieren. Nichtsdestotrotz bleibt das radikale Subjektverständnis die Folie, auf die diese Beschreibungen eingetragen werden. Ein Schnittpunkt zwischen objektivierenden Wirklichkeitsbeschreibungen und dem radikalen Subjektverständnis ist dabei der Begriff der Selbstdetermination.4 Dieser greift insbesondere in Bezug auf die gesellschaftliche Umwelt des Subjekts, um die es hier gehen soll. Gesellschaftliche Bezüge wie der auf die Politik zeichnen sich dadurch aus, dass sie (wenn auch nicht ausschließlich) erwartbare Strukturen und Prozesse markieren. Diese lassen sich, wie noch darzustellen sein wird, mit dem Begriff der Selbstdetermination subjektintern repräsentieren. Wenn sich das Subjekt auf gesellschaftliche Zusammenhänge wie der Politik oder der Kunst einlässt, behält es seine epistemologische Hoheit bei. Es kann diese Zusammenhänge jederzeit verlassen und es kann diese auf eine eigenwillige Art und Weise prozessieren. Es würde allerdings den Sinn verlieren, wenn es dies beliebig tun würde. Wenn das Subjekt Politik prozessiert, prozessiert es Politik – bzw. das, was es unter Politik versteht – und nicht Wissenschaft oder Kunst oder Gartenbau. Mit anderen Worten: Es operiert mit erwartbaren Anschlussoperationen und es repräsentiert damit jene Strukturen und

4Vgl.

dazu auch Beer 2018.

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Prozesse, die in einer objektivierenden Beschreibung der Politik thematisiert werden. Trotz der Probleme mit dem Wahrheitsrelativismus, die sich aus dem Bezug auf eine Kritische Theorie ergeben, hat dieser freilich auch Vorteile. Dass theoretisch jedes Subjekt seine eigene Wahrheit hat, ist nicht nur eine theoretische Einsicht. Sie findet sich empirisch bestätigt. Studien wie die von Pierre Bourdieu zeigen, dass in sozial ungleichen Gesellschaften mit unterschiedlichen Wahrheiten gerechnet werden muss. Und es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass dies in eher egalitären Gesellschaften anders wäre. Insofern spiegelt das theoretische Ergebnis des Radikalen Konstruktivismus durchaus einen empirischen Umstand. Der zudem im Kontext einer beabsichtigten Kritischen Theorie auch politisch wünschenswert ist, zeugt er doch von einem (demokratischen) Pluralismus. Im Sinne Adornos ließe sich auch formulieren: Das Subjekt neigt zum NichtIdentischen.5 Der zweite Vorteil des Wahrheitsrelativismus knüpft daran an. Gerade weil der Radikale Konstruktivismus für sich selbst keine Wahrheit reklamieren kann, ist er für dogmatische oder orthodoxe Instrumentalisierungen weniger anfällig. Dies entspricht dem Ansinnen auf eine umfassende Emanzipation, sodass sich die Desillusionierung des Wahrheitsbegriffes mit der Zielfigur der Kritischen Theorie trifft. Wie gesagt: Dieser allgemeine normative Überhang des Radikalen Konstruktivismus darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Kritische Theorie dennoch nicht ohne eine ausgewiesenen Maßstab der Kritik auskommt. Es braucht also einen begrifflichen Fixpunkt, der die Kritik der Gesellschaft anzuleiten vermag. Mit dem Subjekt steht ein solcher Fixpunkt zur Verfügung: Die aus der Erkenntniskritik abgeleitete epistemologische Hoheit des radikal verstandenen Subjekts verbürgt zugleich seine generelle Emanzipationsfähigkeit. Ob diese genutzt wird oder nicht, ist damit nicht entschieden. Gesellschaftliche Verhältnisse jedoch, die der Emanzipation des Subjekts Hindernisse in den Weg legen, können aus der Perspektive dieses Subjekts kritisiert werden. Damit ist nicht gesagt, dass der Begriff des Subjekts Wahrheit für sich beanspruchen kann. Der Begriff des Subjekts bleibt einerseits im Sinne Humes oder Kants ein Begriff de dicto und andererseits vor dem Hintergrund seiner theoretischen Herleitung aus dem Radikalen Konstruktivismus eine Heuristik. Als solche kann er kann er aber die gesuchte wahrheitsäquivalente Begrifflichkeit

5Ohne

dass das Subjekt das Nicht-Identische bezeichnen würde. Als Begriff und zumal als paradigmatischer Fixpunkt der Theoriebildung unterliegt es selbstverständlich der Kritik Adornos.

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ausfüllen, die für eine Kritische Theorie unabdingbar ist. Er kann die Beliebigkeit und drohende Intransparenz der Kritik auffangen. Der Weg zum Subjekt startete in einer unproblematischen Ausgangssituation. Das Subjekt kann sich auf seine Wahrnehmungen verlassen und findet sich über diese vermittelt in einer stabilen Umwelt wieder. Die philosophische Problematisierung dieser Ausgangssituation desillusioniert diese Sicherheiten, indem sie sowohl den zugrunde liegenden Erfahrungsbegriff desavouiert und mit ihm schließlich auch die mathematisch-logischen Wissensbestände in Zweifel zieht. Unabhängig von der Verschiedenheit der Versuche, trotz der gravierenden Skepsis erneute Sicherheiten zu finden, bleibt als Variable das Subjekt als erkennendes Subjekt übrig. Ein solches muss gesetzt werden, wenn es um die Prozesse der Erfahrung und Erkenntnis geht. Weil es aber eben auch um Prozesse der Erfahrung geht, kann dieser Begriff auch nicht einfach ad acta gelegt werden. Mindestens als regulative Idee bleibt er im Kontext der Erkenntnistheorie unabdingbar. Wird er gar als Maßstab der Erkenntnis erhoben, schlägt dies auf das Subjekt zurück: Es ist nicht als erfahrbar, sondern nur als de dicto konzipierbar. Dies bedeutet: Der Begriff des Subjekts fokussiert nicht den Menschen als Ganzes – also als biologisches und psychologisches Wesen, sondern nur in der Reduktion auf den Erkenntnisprozess. Der Begriff des Subjekts referiert nicht auf eine materielle Entität, sondern auf eine Abstraktion im Kontext der Erkenntnisgewinnung. Diesem haftet aber immer noch das Problem an, dass mit der Skepsis am Erfahrungsbegriff unklar ist, wie denn Erkenntnisse zustande kommen. Der hier skizzierte Gang der Überlegungen reagiert darauf mit dem Rückzug ins und der gleichzeitigen Aufwertung des Subjekts. Dieses kommt zwar ohne Erfahrungen nicht zu Informationen über die Umwelt. Bei der Erkenntnisgenerierung spielt es aber eine aktive Rolle, weil es das Subjekt ist, dass mit seinem Verstandesapparat entscheidende Begriffe für die Wirklichkeitsbeschreibung beisteuert. Damit sind zumindest die logischen und begrifflichen Anteile im Erkenntnisprozess gesichert. Es verbleibt die Lücke zur Umwelt bzw. die offene Frage: Wie passen die subjektiven Begriffe zur Umwelt? Ein sicherer Erfahrungsbegriff ist nicht zu haben. Ein solcher wäre aber nötig, um diese Frage beantworten zu können. Um wissen zu können, ob die subjektiven Begriffe mit der Umwelt korrespondieren, muss ein erfahrungsbasierter Kontakt zu dieser Umwelt hergestellt werden können. Eine mögliche Reaktion auf dieses Dilemma ist es, den Rückzug ins Subjekt zu radikalisieren und damit den Dualismus, der diesem Dilemma zugrunde liegt, zu überwinden. Es geht dann nicht mehr um einen Erfahrungsbegriff, der über das Subjekt hinausgeht, und einen Informationsinput in das Subjekt ermöglicht, sondern um die Frage nach dem subjektinternen Erleben

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und Verarbeiten der Umwelt. Diese wiederum bleibt als Subjektinterna vollständig erhalten, weil das Prozessieren von Fremdreferenzen notwendig ist, um die Ontogenese des Subjekts plausibel machen zu können. Informationen sitzen grundsätzlich einer Differenzsetzung auf, und diese wird subjektintern als Unterscheidung zwischen Innen und Außen gesetzt. Die Sicherheit der Ausgangssituation dieser Überlegungen ist damit subjektintern wieder erreicht. Entsprechend wird der Erfahrungsbegriff als Begriff des Erlebens reinterpretiert. Es geht zentral darum, welche Begriffe das Subjekt zur Beschreibung seiner Umwelt verwendet. Dass es dabei eine epistemologische Hoheit genießt, bedeutet nicht, dass subjektive Beschreibungen nicht fehlschlagen können. Die Irrtumsanfälligkeit der sensuellen Erfahrung bildet sich subjektintern als Irritation der subjektiven Konstrukte untereinander ab. Dass dies mit der Umwelt zu tun hat, wird nicht geleugnet. Mit dem Paradigma des Radikalen Konstruktivismus lässt sich also die unproblematische Ausgangssituation in reinterpretierter Form begrifflich erfassen. Es fügt dieser Ausgangssituation hinzu, dass das Subjekt nicht in passiver Art und Weise auf Umweltinformationen reagiert, sondern an deren Generierung aktiv beteiligt ist. Damit hat es den Status einer logischen Nicht-Hintergehbarkeit, der zwar nur logisch ist, mit dem sich aber als Heuristik eine Kritische Theorie der Gesellschaft fundieren lässt. Einerseits kann das Subjekt als normativer Fixpunkt bzw. als Zielfigur einer gesellschaftlichen Praxis auf der Grundlagen der Kritischen Theorie verstanden werden. Es geht darum, das Subjekt aus unbegründeten Herrschaftszusammenhängen frei zu setzen, um die theoretische hergeleitete Erkenntnishoheit empirisch realisieren zu können. Das Subjekt muss frei von Herrschafts- und Autoritätsansprüchen seine potenzielle Fähigkeit zur je eigenen Gestaltung seiner Umweltbeschreibungen umsetzen können. Gesellschaftliche Hindernisse, die diese Fähigkeit aushebeln, können dann andererseits als zu überwindende Hindernisse kritisiert werden. Wie sich dies in Bezug auf den Bereich des Politischen darstellt, soll in den folgenden Überlegungen ausgearbeitet werden.

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Die politische Einstellung – Eine philosophische Spurensuche

Die klassische Aufklärungsperiode begann nicht nur erkenntnistheoretisch mit einer Reanimierung der antiken Skepsis1 und der erneuten Erschütterung der Wahrnehmungs- und Erkenntnissicherheiten. Auch die politische Philosophie startete mit einer Erosion tradierter Grundsätze. Eigentlich war auch hier alles klar. Von Aristoteles (1991a) stammte die Überzeugung, dass der Mensch von Natur aus ein Gemeinschaftswesen, und der Staat die höchste Ausdrucksform der Gemeinschaft (Aristoteles 1991b) ist. Entsprechend ist der Staat und das Leben in ihm eine natürliche Angelegenheit. Die Aufgabe der politischen Philosophie ist es dann nur noch, die richtige und gute Form des Staates zu finden. Dass aber die Gemeinschaft staatlich organisiert ist, daran kann kein Zweifel bestehen. Und dennoch hat Thomas Hobbes diesen Zweifel auf die Agenda modernen Denkens gesetzt. Indem er nach den Konstitutionsbedingungen des Staates fragt, trennt er den Staat von seiner Natürlichkeit. Der Staat wird zu einer artifiziellen, von Menschen gemachten Organisationsform, die ihren Nimbus als unhinterfragbare Gegebenheit verliert, und damit jederzeit abgeschafft werden kann. Dies allerdings ist es, wovor Hobbes eindringlich warnt. Seine Prämissen mögen noch als Vordenkertum einer staatenlosen Gesellschaft gelten. Sein politisches Denken richtet sich gegen jegliche Form der Staatskritik. Als Zeitzeuge des Dreißigjährigen Krieges und des englischen Bürgerkrieges (Vgl. dazu Hobbes 1668/2015) hatte er die Auflösung staatlicher Ordnungen miterlebt und sein Hauptinteresse galt dem Nachweis der funktionalen Notwendigkeit des Staates. Den Staat als Ausgangspunkt für die politische Philosophie zu negieren, bedeutet – vor allem im Zeitalter der klassischen Aufklärung – einen alternativen

1Vgl.

dazu Ricken 1994.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 R. Beer, Die Politik des Subjekts, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31881-9_2

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2  Die politische Einstellung – Eine philosophische Spurensuche

Ausgangspunkt zu setzen. Da der Staat ausfällt, muss dieser alternative Ausgangspunkt die Bedingung erfüllen, die Charakteristika der Staatlichkeit auszuschließen. Hobbes geht von einem Naturzustand aus, der sich vor allem dadurch auszeichnet, dass es keine unparteiische Justiz, keinen unparteiischen Schiedsrichter gibt. Gleichzeitig fehlen allgemein anerkannte Normen, die ein friedliches Miteinander ermöglichen, oder im Konfliktfall eine Entscheidung anleiten könnten. Es gibt nur gleiche Individuen, deren Gleichheit darin besteht, dass sie über dieselben natürlichen Rechte verfügen. Unterschiede in der körperlichen Stärke oder den kognitiven Fähigkeiten mögen zwar eine Rolle spielen, sind jedoch für den hobbistischen Naturzustand nicht konstitutiv. Hobbes geht davon aus, dass körperliche Stärke und kognitive Fähigkeiten gleichmäßig verteilt sind und dennoch vorkommende Unterschiede sich durch Hinterlist oder Bündnisschließungen ausgleichen lassen. Im gewissen Sinne klingt dies zunächst nach einem idealen Zustand: Alle Menschen sind gleich. „Die jetzt bestehende Ungleichheit“, so Hobbes (1642/1994: 80), „ist durch das bürgerliche Gesetz eingeführt worden.“ Der Naturzustand hat jedoch seine Kehrseite. Die Menschen orientieren sich an ihren egoistischen Interessen. Dies allein wäre sicherlich noch unproblematisch. Sie gehen dabei jedoch soweit, dass sie nicht nur einen möglichen Schaden anderer in Kauf nehmen. Hobbes attestiert ihnen den Willen, anderen zu schaden. Er reiht zwar eine Reihe natürlicher Gesetze auf (Ebd.: 85 ff.), die eine friedliche Orientierung und damit ein friedliches Zusammenleben auch ohne Staat ermöglichen würden, deren Einhaltung aber offensichtlich zweifelhaft ist. Den Willen, anderen zu schaden, scheint Hobbes als stärkeres Motiv einzuschätzen, sodass der Naturzustand, anstatt ein friedliches Paradies zu sein, in der Konsequenz bedeutet: „Krieg aller gegen alle“ (Ebd.: 83). Und genau dadurch wird die Abstinenz einer staatlichen Ordnung brisant. Mit ihr fehlt eine Institution, die die Durchsetzung der natürlichen Friedensgebote im Zweifel überwachen und notfalls erzwingen könnte. Es bleibt nur das mit der Gleichheit verbundene gleiche natürliche Recht auf Selbstverteidigung mit allen Mitteln. Einzelne Subjekte, die auf dieses Recht verzichten würden, würden sich an die natürlichen Gebote halten, dadurch aber keinen hinreichenden Beitrag zur Friedenserhaltung leisten. Sie würden schlichtweg zum Opfer des Kriegszustandes und dies kann bedeuten: Sie würden ihr Leben riskieren. Das meint nicht, dass es den Subjekten nicht möglich wäre, sich an die natürlichen Gebote zu halten. Dass sie es nicht tun, hat einerseits seinen Grund in dem Streben nach Macht und Reichtum, und andererseits in dem Umstand, dass der allgemeine Kriegszustand sowohl die Subjekte freisetzt, ihrem Streben nachzugehen, als auch gewissermaßen nötigt, an ihm teilzunehmen. Insofern handelt es sich bei Hobbes nicht um ein anthropologisches

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Theorem, dass sich die Subjekte im Naturzustand kriegerisch verhalten. Sie müssen es bei Strafe des eigenen Untergangs tun. Ansonsten droht ihnen, dass sie ihren Besitz und/oder ihr Leben verlieren. Die natürlichen Friedensgebote weisen allerdings darauf hin, dass ein anderer Zustand denkbar und damit auch möglich wäre. Die Gleichheit der Subjekte erlaubt es allen, Macht und Reichtum zu erwerben. Es gibt keine allgemein anerkannten Regeln, nach denen ein solcher Erwerb stattfinden sollte, so dass jedes Mittel legitim ist, um den je eigenen Reichtum oder die je eigene Macht zu vermehren. Gerade aber weil dies allen Subjekten zusteht, ist kein Subjekt davor geschützt, selbst Opfer der kriegerischen Handlungen anderer zu werden. Es gibt keine Sicherheit, weil es keine Institution gibt, die diese Sicherheit garantieren könnte. Ein möglicher Ausweg wäre es, Bündnisse militärischer Art zu schließen. Dadurch würde die Fähigkeit zur Selbstverteidigung ausgebaut. Es gibt jedoch zwei Anschlussprobleme. Das eine besteht darin, dass es keine Gewähr dafür gibt, dass die Bündnispartner sich an die Abmachungen des Bündnisses halten. Es fehlt schließlich nach wie vor eine Instanz, die die Einhaltung der vertraglich geregelten Bündnisverpflichtungen sanktionieren könnte. Das andere Anschlussproblem besteht darin, dass mit militärischen Bündnissen der Kriegszustand möglicherweise nur potenziert wird. Es treffen dann nicht mehr vereinzelte Subjekte aufeinander, sondern ganze Gruppen, deren Konflikt möglicherweise kriegerischer und langwieriger ausgetragen wird. Es gibt kein Entrinnen aus dem Kriegszustand, sodass Hobbes als Leitfaden nur festhalten kann, dass die Subjekte zwar den Frieden suchen sollen, solange dies möglich ist, aber gleichzeitig den Krieg führen müssen, solange es nötig ist. Die Subjekte im Naturzustand leben in einem Dilemma. Sie streben nach Reichtum und Macht, können dies aber nur unter erschwerten und unsicheren Bedingungen erlangen. Nach Hobbes sind sie allerdings nicht nur strebsam, sondern auch vernunftbegabt. Es ist daher plausibel nachzuvollziehen, dass sie ihre Vernunft gebrauchen, um einen Ausweg aus dieser Situation zu finden. Es wurde bereits deutlich, was fehlt: Eine Institution, die eine gegenseitige Friedensverpflichtung überwachen und durchsetzen kann. Die Aufgabe, die sich den Subjekten im Naturzustand stellt, ist es, eine solche Institution zu erschaffen. Die Idee von Hobbes ist, dass die Subjekte aus praktischer Klugheit und Einsicht in die Sinnhaftigkeit, der letztlich selbstzerstörerischen Situation zu entkommen, gegenseitig auf ihr Recht auf Selbstverteidigung mit allen Mitteln verzichten, und dieses Recht auf eine dritte Person übertragen, der die Funktion zukommt, die gegenseitige Verzichtserklärung und damit den Frieden abzusichern. Diese dritte Person ist der Staat oder der Souverän. Und damit dieser seine Aufgabe nachkommen kann, wird er mit absoluten Vollmachten ausgestattet. Als absolute

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Souveränität steht sie über dem Gesetz und sie darf nun ihrerseits jegliches Mittel anwenden, das ihr nötig erscheint, um den Frieden zu sichern. Die Staatsbürgersubjekte, die sie nunmehr geworden sind, erhalten im Gegenzug die Sicherheit und Ordnung, die sie benötigen, um ihren privaten Reichtum zu akkumulieren. Für Hobbes bedeutet dies, dass sie über die entsprechenden Freiheiten verfügen, wie etwa „die Freiheit des Kaufs und Verkaufs oder anderer gegenseitiger Verträge, die Wahl der eigenen Wohnung, der eigenen Ernährung, des eigenen Berufs, der Kindererziehung, die sie für geeignet halten, und dergleichen mehr“ (Hobbes 1651/1992: 165). Trotz der absoluten Macht, über die die Souveränität verfügt, impliziert der bürgerliche Zustand bei Hobbes liberale Grundfreiheiten. Diese hängen zwar von der Willkür der Souveränität ab. Es ist aber sicher nicht das Ziel der bürgerlichen Gesellschaft, eine totale Kontrolle und staatliche Verhaltensvorschriften zu etablieren, sondern eine stabile Rechtsordnung innerhalb derer die Bürger ihren Geschäften nachgehen können. Es ist für Hobbes auch keine ausgemachte Sache, dass der Staat zwingend eine Monarchie sein muss – auch wenn er aus Gründen der effizienteren und schnelleren Entscheidungsfindung für die Monarchie plädiert. Ebenso gut könnte aber auch eine Demokratie die Aufgabe der Friedenssicherung übernehmen. Sie wäre allerdings genau wie die Monarchie eine absolute Macht und sie müsste im Zweifel genauso zu grausamen Mitteln greifen, wenn dies notwendig erscheint, um den Frieden zu sichern. Die Pointe des hobbistischen Kontraktualismus besteht schließlich darin, dass die Subjekte auf ihre natürlichen Rechte zugunsten der Souveränität verzichten. Sie haben also im bürgerlichen Zustand keine Rechte mehr, die sie gegen staatliche Eingriffe schützen könnte. Wenngleich die bürgerliche Gesellschaft für Hobbes einen rechtlichen Zustand herstellt, sind die Bürger dieser Gesellschaft eigentümlich rechtlos. Sie haben nur die Rechte und Freiheiten, die der Souverän gewährt, und dies auch nur solange, wie der Souverän sie gewährt. Es braucht nicht lange diskutiert werden: Hobbes legitimiert mit seiner politischen Philosophie den Absolutismus. Seine Sorge gilt einem staatenlosen Zustand, in dem der Krieg unentrinnbar ist. Der schlechteste Staat, so lässt sich Hobbes zusammenfassen, ist immer noch besser als kein Staat. Dennoch kann Hobbes auch in eine andere Denktradition gestellt werden. Er hat eine eindeutige Schlagseite zum Absolutismus, macht aber gleichzeitig ernst mit grundlegenden Einsichten des politischen Liberalismus. Der Staat verliert seinen Nimbus als natürliche Gegebenheit, über die eine Diskussion nicht sinnvoll geführt werden kann. Er wird zu einem artifiziellen Produkt, das aus der Kommunikation vereinzelter Subjekte hervorgeht. Was auf diese Weise erschaffen wird, kann auch wieder abgeschafft werden. Für Hobbes wäre dies gleichbedeutend mit dem

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Rückfall in den „Krieg aller gegen alle“. Dennoch hat Hobbes das moderne Denken mit seiner Denaturalisierung des Staates nachhaltig justiert. An die hobbistische Denaturalisierung des Staates kann sich eine staatskritische Attitüde anheften, die schließlich dazu führen wird, den Staat in seiner Machtfülle zu begrenzen. Wenn der Staat nicht mehr von Natur aus legitimiert ist, dann bedarf er einer alternativen Legitimationsquelle. Bei Hobbes ist dies die Sicherheits- und Ordnungsfunktion. Kommt der Staat dieser nicht mehr hinreichend nach, verliert er entsprechend seine Legitimation. Grundsätzlich kann unterstellt werden: Die Subjekte müssen die Existenz eines Staates begründet nachvollziehen können. Ein weiterer Schritt in die Richtung des politischen Liberalismus ist, dass der Staat einem politischen Akt der individuierten Subjekte aufsitzt. Sie sind es, die den Staat überhaupt erst konstituieren. Dass Hobbes ihnen dann in der bürgerlichen Gesellschaft diverse Freiheiten zuspricht, ist nur konsequent. Der Staat wurde von den Subjekten aus funktionalen Gründen geschaffen und er hat sich streng genommen an diese Funktion zu halten. Die Subjekte hatten ihre individuellen Freiheiten im Sinn, als sie sich per Vertrag auf eine Staatskonstituierung verständigt haben, und es wäre disfunktional, wenn der Staat diesem Ansinnen nicht nachkommen würde. In diesem – Hobbes gegen Hobbes lesenden – Sinne ist Hobbes ein Mitbegründer des modernen Individualismus. In diesem Zuge räumt er dann gleich mit einer moralisierenden Einordnung der Individuen auf. Die Subjekte des Naturzustandes einigen sich nicht aus moralischen Gründen auf eine gegenseitige Aufgabe ihres Selbstverteidigungsrechtes. Ihrem Entschluss liegt ein egoistisches Kalkül zugrunde. Sie suchen den Schutz einer starken Souveränität, die es ihnen ermöglicht, ihre Interessen zu verfolgen. Sie suchen den Frieden nicht um seiner selbst willen, und wären auch bereit, dafür individuelle Opfer zu bringen. Sie suchen den Frieden aus einem (ökonomischen) Kalkül: Frieden als bestmögliche Rahmenbedingung für die Reichtumsakkumulation. Es sind also keine moralischen Überlegungen, die die Subjekte anleiten. Es lässt sich auch sicher nicht zu Unrecht konstatieren, dass moralische Appelle in der Geschichte tatsächlich eine geringe Bindungskraft gehabt haben. Sicher haben sie vereinzelte Individuen oder kleinere Gruppen erreicht, die sich dann in ihrem Denken und Handeln moralisch aufgestellt haben. Gesamtgesellschaftlich haben sich aber die unterschiedlichen Moralien kaum durchgesetzt. Die christliche Moral etwa hätte mit den Motiven der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit die Mittel gehabt, einen friedlichen Zustand auch ohne einen absoluten Staat zu begründen. Dass die Gesellschaften zu Hobbes Zeiten wesentlich durch diese Motive geprägt gewesen wären, kann allerdings kaum behauptet werden. Insofern bietet Hobbes mit seiner Strategie, erst gar nicht über den Weg der Moral zu gehen, eine interessante Alternative an, die dann vor allem

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im Wirtschaftsliberalismus weiter verfolgt werden wird. Aus der egoistischen Interessensverfolgung resultiert summa summarum ein gesellschaftlicher Zustand, der die Ziele der Moral erreicht, ohne die Moral zu bemühen. Theoriestrategisch lässt sich dies als eine Variante lesen, vom worst case auszugehen, anstatt mit der (kontrafaktischen) Unterstellungen eines moralischen Subjekts zu operieren. Trotz der liberalistischen Denkansätze, die sich bei Hobbes finden lassen, darf nicht übersehen werden, dass er die wichtigsten Einsichten des Liberalismus verfehlt. Die Subjekte haben in der bürgerlichen Gesellschaft keine Rechte gegenüber dem Souverän und dieser steht über dem Gesetz, was in der Konsequenz politische Willkür bedeutet. Dem Ansinnen einer Kritischen Theorie, die eine umfassende Emanzipation zum Ziel hat, wird Hobbes damit in keiner Art und Weise gerecht. Es lassen sich aber bei Hobbes dennoch Anhaltspunkte für eine politische Einstellung der Subjekte finden, die auch im Kontext einer Kritischen Theorie überdenkenswert sind. Die Subjekte handeln und denken politisch nicht so sehr aus moralischen Überlegungen heraus, sondern sie sind legitimiert, ihre Interessen in die politischen Prozedere einfließen zu lassen. Und weil sie es sind, die den Staat als Ordnungsmacht konstituieren, sollten sie es auch sein, die die Ordnungsmacht immer wieder kritisch daraufhin evaluieren, ob sie ihrer Funktion nachkommt, oder ob sie in ihrer Verfasstheit korrigiert, oder sie sogar abgeschafft und durch eine bessere substituiert werden sollte. Dass es überhaupt eine Ordnung braucht, auch dazu steuert Hobbes gute Gründe bei. Wenngleich er eine zu eindeutige Pointierung der Sicherheits- und Ordnungsproblematik verfolgt hatte, trifft er damit doch einen wichtigen Punkt. Ohne Sicherheiten können die Subjekte ihre Interessen und/oder ihre moralischen Überzeugungen nicht störungsfrei verfolgen. Auch eine Gesellschaft, die sich an einer umfassenden Emanzipation ihrer Mitglieder orientiert, darf diesen Aspekt nicht vernachlässigen. Sie tut allerdings gut daran, diesen Aspekt nicht, wie es Hobbes gemacht hatte, zugunsten der individuellen Freiheiten gegenüber dem Staat auszuspielen. Sie sollte den Subjekten hinreichenden Schutz gewähren, ohne selbst zur Gefahr für die individuellen Freiheiten zu werden. Der Autor, der diesen Gedanken auf die Agenda modernen politischen Denkens gesetzt hat, war John Locke. Auch Locke fundiert seine politische Philosophie in den Ideen eines Naturzustandes und des Kontraktualismus. Die entscheidende Abweichung, die den Unterschied zur politischen Philosophie von Hobbes anschiebt, ist, dass Locke den Naturzustand in helleren Farben malt. Auch für ihn ist der Naturzustand zunächst dadurch charakterisiert, dass es keine unabhängige Schiedsinstanz gibt, die im Konfliktfall mit friedlichen Mitteln zu schlichten vermag. Entsprechend

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sind auch bei Locke die Subjekte im Naturzustand mit natürlichen Rechten ausgestattet, für deren Durchsetzung sie mittels der Selbstjustiz selbst verantwortlich sind. Anders als bei Hobbes lässt Locke indessen die Wahrscheinlichkeit gewalttätiger, kriegerischer Auseinandersetzungen sinken. Anderen zu schaden, ist laut Locke bestenfalls dann zulässig, wenn es um den Selbsterhalt geht, und er scheint damit zu rechnen, dass die Subjekte sich im Großen und Ganzen an diese Maxime auch halten. Begrifflich sind damit Natur- und Kriegszustand voneinander getrennt, weil die Subjekte über eine Vernunft verfügen, die ihnen eine grundsätzliche Friedensfähigkeit und -orientierung ermöglicht. Kurzum: Die Vorstellung eines barbarischen „Krieges aller gegen alle“ ist nicht die locksche Vorstellung eines Naturzustandes. Sein Bild ist wesentlich optimistischer, und wenngleich es zwar immer wieder zu Konflikten kommen kann, gibt es keinen hinreichend Grund, den Zustand individueller Freiheiten zugunsten der Subordination unter bürgerliche Gesetze aufzugeben. Es ist dieser Unterschied in der Bestimmung des Naturzustandes, der theoriearchitektonisch den Unterschied in der Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft im Vergleich zu Hobbes ausmacht. Die Fallhöhe von einem freiheitlichen Zustand und der Unterstellung einer gewaltfreien Selbstregulierung durch vernunftbegabte Subjekte in die staatlich organisierte Gesellschaft erhöht sich bei Locke. Für Hobbes war die Sache unmittelbar einsichtig zu machen. Der Staat ist eine nahe liegende Variante, um dem permanenten Krieg zu entkommen. In einem Naturzustand jedoch, der eher paradiesische Züge trägt, lässt es sich nur schwer plausibel darlegen, warum die natürlichen Freiheiten aufgegeben werden sollten. Locke stellt an den Anfang seiner politischen Philosophie einen emphatischen Freiheitsgedanken, der in den natürlichen Rechten der Subjekte verankert ist. Und da der Kriegszustand und die permanente Bedrohung der individuellen Freiheiten als Motivationsgrund für die Konstituierung einer bürgerlichen Gesellschaft ausfallen, muss Locke weitere Zusatzannahmen machen. Das Motiv, den Naturzustand und die mit ihm verbundenen Freiheiten zu verlassen, kommt bei Locke aus der Ökonomie. Er hat mit seiner politischen Philosophie schließlich nicht nur einen Beitrag zur Entfaltung politischer Ideen geleistet. Er hat auch die kapitalistische Wirtschaft bzw. die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse (Vgl. dazu Noll 2016) legitimiert. Zu diesem Zweck unterteilt er den Naturzustand in zwei chronologische Phasen. In der ersten Phase gilt das göttliche Gebot, die Erde allen Subjekten gemeinsam gegeben zu haben. Die private Aneignung ist nur dadurch legitim, dass die Subjekte die Dinge bearbeiten. Ob dies das Pflücken von Obst, das Bestellen von Feldern oder das Schmieden von Hufeisen ist: Durch die je eigene Arbeit werden die Dinge ihrem natürlichen Zustand enthoben und dadurch zum privaten Eigentum. Da aber gleichzeitig das Gebot des gemeinsamen Besitzes existiert,

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findet die Eigentumsakkumulation eine Grenze. Die Subjekte dürfen die Dinge nur insoweit anhäufen, wie sie für den eigenen Gebrauch benötigt werden. Eine Lagerung von Obst etwa, um dieses dann möglicherweise gewinnbringend zu veräußern, ist damit ausgeschlossen, weil das Obst verdirbt und damit auch für den eigenen Bedarf nicht mehr zur Verfügung stünde. Dies käme einem Diebstahl gleich, weil dadurch den anderen Subjekten der Verzehr dieses Obstes verwehrt wird. Die Grenze der Reichtumsakkumulation entfällt aber laut Locke mit der Einführung des (Münz-)Geldes. Dieses hat die Eigenschaft, nicht zu verderben, und darf daher in unbegrenzter Menge akkumuliert werden. Die Folge ist eine ungleiche Verteilung der Ressourcen, die allerdings zunächst nicht problematisch wird, da Locke davon ausgeht, dass es eine hinreichende natürliche Ressourcendeckung gibt, und die Selbstregulierung letztlich zu einer ausgewogenen Verteilung führt. Die ungleiche Leistungsbereitschaft hingegen forciert dann die ungleiche Verteilung, und daraus resultieren soziale Spannungen, die es dann doch sinnvoll werden lassen, sich unter den Schutz eines unparteiischen und mit Sanktionsmitteln ausgestatteten Staates zu stellen. Dieser wird bei Locke letztlich ökonomisch begründet, sodass er proklamieren kann: „Das große und hauptsächliche Ziel, weshalb Menschen sich zu einem Staatswesen zusammenschließen und sich unter eine Regierung stellen, ist also die Erhaltung ihres Eigentums.“ (Locke 1690/1992: 278). Es sind nicht die Subjekte, die sich gegenüber anderen Subjekten schadhaft verhalten, die die Staatskonstitution einsichtig machen. Es sind ökonomische Verteilungskonflikte, denen die lockschen Subjekte entkommen möchten, und zu diesem Zweck geben sie ihre natürlichen Freiheiten auf und unterwerfen sich einer bürgerlichen Gesellschaft. Weil es aber nicht die gewaltbereiten Subjekte an sich sind, die die Staatlichkeit einfordern, braucht der Staat keine absoluten Befugnisse, um diese Subjekte kontrollieren zu können. Er trifft auf vernunftbegabte und friedensorientierte Subjekte, denen auch im bürgerlichen Zustand Rechte zugeschrieben werden können. Im hobbschen Naturzustand war es erforderlich geworden, dass die Subjekte auf ihre natürlichen Rechte verzichten, weil sie damit nicht verantwortungsbewusst umzugehen wussten. Der Kontraktualismus nach Locke sieht eine solche Verzichtserklärung und Übertragung der Rechte auf einen Dritten nicht vor. Der Kern seines politischen Denkens ist es vielmehr, dass die Subjekte ihre fundamentalen Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum beim Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft behalten. Diese zu schützen, ist die Aufgabe des Staates, und Locke misstraut dann eher diesem als den Subjekten, wenn er die staatliche Aktivität mit den individuellen Rechten blockiert. Der Staat hat eine Schutzfunktion, die ihn jedoch nicht befugt, alle Mittel anzuwenden, die für nötig erachtet werden. Er ist, wie es dann später

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formuliert wurde, ein Nachtwächterstaat, der sich in ethischen Fragen oder bezüglich der ökonomischen Entscheidungen der Subjekte neutral verhalten soll. Er gibt Regeln vor und achtet auf deren Einhaltung. Ansonsten sind die Subjekte insoweit frei gesetzt, als sie ihre privaten Angelegenheiten autonom gestalten können. Dass es sich bei Locke vornehmlich um ökonomische Privatsubjekte dreht, braucht an dieser Stelle nicht zu interessieren. Von Interesse ist hier, dass mit Locke der politische Liberalismus einen Gründervater gefunden hat, der die Idee unveräußerlicher Rechte auch im und auch gerade gegen den Staat fixiert hat. Dies manifestiert sich dann nicht zuletzt darin, dass Locke explizit ein Widerstandsrecht vorsieht, das für Thomas Hobbes noch undenkbar gewesen war. Der Unterschied, der den Unterschied ausmacht, ist eine andere Vorstellung von den Subjekten im Naturzustand. Während Hobbes pessimistisch bezüglich der Friedfertigkeit ist, sieht Locke dies wesentlich optimistischer. Der Staat braucht entsprechend nicht wolfsartige Subjekte zu domestizieren, wie es bei Hobbes der Fall war. Er kann sich darauf beschränken, Regeln zu formulieren, die auf die gegenseitige Achtung der Grundrechte auf Leben und Besitz abzielen. Die politische Einstellung der Subjekte, die sich aus den Überlegungen von Hobbes und vor allem von Locke ableiten lässt, ist damit zunächst einmal eine staatskritische Einstellung. Der Staat ist in beiden Fällen kein Selbstzweck. Er hat die Aufgabe, die Sicherheit der Gesellschaftsmitglieder zu gewährleisten, und er verfehlt seine Existenzlegitimation, wenn er dieser Aufgabe nicht mehr nachkommt. Der Unterschied ist, dass in einem Fall die Subjekte aufgefordert sind, auch eine schlechte Staatlichkeit zu akzeptieren, und im anderen Fall mittels ihrer Rechte die Staatlichkeit begrenzen und im Zweifel Widerstand leisten dürfen. Locke sieht, anders formuliert, einen Schutzwall gegen den Beschützer vor. Bei Hobbes drängt sich die Frage auf, warum ein Staat, der sich möglicherweise barbarisch gegen die Gesellschaftsmitglieder verhält, einem barbarischen Naturzustand vorzuziehen sein sollte. Im Naturzustand erhalten die Subjekte immerhin ihre natürlichen Freiheiten zurück. Sie können dann selbst entscheiden, welche Mittel sie für angemessen halten, ihr Leben und ihr Eigentum zu schützen, und sie sind nicht länger schutzlos einer willkürlichen Machtausübung unterworfen. Nun steht nicht zu vermuten, dass Hobbes mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgeht, dass die Staaten derartig degenerieren, dass sie zum Unrechtsstaat mutieren. Lockes Vision von Gesellschaftsmitgliedern, die die Staatsaktivität kritisch kontrollieren können, kann aber eher damit rechnen, dass die Souveränität nicht zu unverhältnismäßigen Mitteln greift, die eine Unterscheidung zum Naturzustand auch in seiner denkbar kriegerischsten Form schwierig machen. Wenn die Bürger des Staats – an die Frauen war zu jener Zeit noch nicht gedacht worden – sich gegen Übergriffe des Staats mit rechtlichen Mitteln wehren

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können, sinkt die Hemmschwelle des Staates für solche Übergriffe, und wenn sie dennoch in hinreichend großer Zahl stattfinden, bleibt den Bürgern das Recht, den Staat zu stürzen oder eine neue Regierung einzusetzen. Die politische Einstellung ist aus diesem Grund mit der Aufforderung an die Subjekte verbunden, ihrer politischen Rolle in der Gesellschaft nachzukommen. Es obliegt ihnen, ihre Rechte gegen die Souveränität geltend zu machen, und es obliegt ihnen, die Souveränität entsprechend zu kontrollieren. Ziehen sie sich in ihre Privatsphäre zurück, trocknet das staatskritische Potenzial aus, und die Souveränität kann im Zweifel in dieses Vakuum eindringen, um fundamentale Rechte zu schleifen. Wenn der Staat kein Selbstzweck ist, ist er ein Instrument in den Händen derjenigen Subjekte, die den Staat konstituiert haben, und wie jedes Instrument muss auch die Staatlichkeit immer wieder gewartet werden. Das Instrument Staatlichkeit darf sich nicht verselbstständigen, da ansonsten der Gründungszweck zu verschwinden droht. Die Konsequenz wäre in diesem Fall eine staatliche Dominanz gegenüber den Subjekten, und damit ein Verfehlen der reinen Schutzaufgabe. Die liberale Grundidee des Staates muss, anders formuliert, durch ihr permanentes öffentliches Prozessieren perpetuiert werden. Ansonsten droht ein politischer Freiheitsverlust. Zu diesem Zweck ist es dann sicherlich hilfreich, wenn die Subjekte über eine hinreichende (politische) Bildung verfügen, die sie in Stand setzt, die fundamentale Bedeutung der liberalen Grundrechte intrinsisch nachvollziehen zu können. Eine rein empirische, auf einem ökonomischen Kalkül basierende Einstellung zu diesen Grundrechten mag zwar im Einzelfall ausreichend sein, um den Wert dieser Rechte einschätzen zu können. Wie die Geschichte gezeigt hat, und wie theoretische Überlegungen nahe legen (Vgl. Beer 2002), haben die fundamentalen Werte einer Gesellschaft jedoch nur dann eine Chance, auf Dauer gestellt zu werden, wenn die Subjekte diese Werte (auch) unter normativen Gesichtspunkten verhandeln (können). Orientieren sie sich einzig an einem ökonomischen Kalkül, kann es sinnvoll sein, in bestimmten Situationen auf grundlegende Rechte zu verzichten, wenn dafür die Ziele erreicht werden, die dem Kalkül gemäß erreicht werden sollen. Zu einer politischen Einstellung, wie sie sich aus den bisherigen Überlegungen ableiten lässt, gehört auch, dass die Subjekte die normativen Werte nicht nur prozessieren, sondern diese auch in Form einer gesellschaftlichen Organisation schützen müssen. Ob die Organisationsform dabei zwingend ein Staat sein muss, kann hier offen gelassen werden. Sowohl Hobbes als auch Locke zeigen jedoch plausibel, dass die Inanspruchnahme individueller Rechte nur dann erfolgreich sein kann, wenn es eine unabhängige und unparteiische Institution gibt, die im Konfliktfall auch über ein Sanktionspotenzial verfügt, um die Rechte

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zu garantieren. Im Fall von Hobbes hat dies sogar die Attitüde der Notwendigkeit, weil sein Ausgangspunkt Subjekte sind, die grundsätzlich bereit sind, anderen zu schaden, wenn es zu ihrem Vorteil ist. Was dabei konkret als Vorteil gesehen wird, ist unerheblich. Es besteht eine permanente Gefahr der Übergriffigkeit. Nun macht es allerdings aus der Perspektive des Radikalen Konstruktivismus keinen Sinn, mit anthropologischen Setzungen zu operieren. Und selbst Hobbes hat seine pessimistische Sicht des Menschen nicht als Anthropologie verstanden. Dennoch bietet er ein denkwürdiges Argument an. Die Subjekte könnten sich jederzeit zu einem übergriffigen Handeln entscheiden. Argumente, die davon ausgehen, dass die Subjekte grundsätzlich friedensorientiert sind und sich in ihrem Handeln auch danach ausrichten, könnten sich zwar als richtig erweisen, operieren aber mit einer hohen Unsicherheit, solange ein eindeutiger Nachweis nicht vorliegt. Und es darf vermutet werden, einen solchen Nachweis zu erbringen ist unmöglich, weil ein solcher Nachweis in die Zukunft operieren müsste. Theoriestrategisch vom Gegenteil auszugehen, bedeutet daher, politisch und moralisch auf der sicheren Seite zu sein. Weil es aber auch für die Annahme einer permanenten Übergriffsgefahr keine anthropologische Konstante und damit eine theoretische oder empirische Sicherheit gibt, folgt aus dieser Annahme nicht, wie es Hobbes gemacht hatte, dass notwendig ein absoluter Staat benötigt wird. Es wird eine Organisationsform benötigt, die im Zweifelsfall Konflikte mit friedlichen Mitteln lösen kann. Es wird aber keine Organisation benötigt, die wie die Subjekte ständig Gefahr läuft, ihrerseits zum Konfliktauslöser zu werden. Aus der Perspektive einer Kritischen Theorie fällt die Entscheidung zwischen Hobbes und Locke nicht schwer. Zwar sehen beide die Idee der bürgerlichen Gesellschaft darin, einen Schutzrahmen für individuelle Freiheiten zu etablieren. Bei Hobbes wohnt diesem jedoch zu eindeutig die Möglichkeit inne, selbst zum Aggressor zu werden. Dies ist zwar sicherlich von Hobbes in der Art nicht vorgesehen und seine anvisierte Form des absoluten Staats soll letztlich den Frieden sichern und damit den Subjekten ein störungsfreies Leben und eine störungsfreie Reichtumsakkumulation. Dennoch stattet er mit seiner Absolutheit den Staat mit Mitteln aus, die mehr oder weniger unkontrolliert zur Anwendung gebracht werden können, und die in diesem Fall das Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft unterlaufen. Locke dagegen zieht mit seiner Rechtsausstattung der Subjekte diesbezüglich eine Linie, die die staatliche Aktivität auf verhältnismäßige Mittel beschränkt und die mit freien Individuen eine Kontrollfunktion vorsieht. In Bezug auf die Idee der umfassenden Emanzipation trägt Locke den Begriff der Selbstbestimmung bei, der den Subjekten zutraut, ihre eigenen ethischen Prinzipien auszubilden und entsprechend zu agieren. Sie sind sowohl von staatlicher und, zur Zeit der Aufklärung nicht unwichtig, von klerikaler Bevormundung freigesetzt.

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Worin sich Hobbes und Locke bei einer groben Betrachtung einig sind, ist die aus ihren Axiomen ableitbare kritische Haltung gegenüber dem Staat. Wird der Staat dann noch – wie bei Locke – verstanden als eine Art des Schutzes individueller Rechte und ihrer entsprechenden Einklagbarkeit, verliert der Staat seine Präponderanz. Dieses grundsätzliche Denken über den Staat ist zweifelsohne ein bedeutsamer Beitrag zu einer Kritischen Theorie mit dem Ziel der Emanzipation. Erreicht ist aber zunächst nur eine grobe Vorstellung subjektiver Selbstbestimmung. Es fehlt das Motiv, die Kontrolle über das staatliche Handeln zu haben. Dies liefert der dritte prominent gewordene Vertragstheoretiker JeanJacques Rousseau. Rousseau ist ein eigensinniger Vertreter der klassischen Aufklärungsepoche. Er setzt nicht so sehr, wie üblich in der Aufklärung, auf die Vernunft, sondern bietet einen emphatischen und die Romantik vorwegnehmenden Naturbegriff auf. Diese wird immer wieder verherrlicht, als Quelle des Guten und Richtigen mobilisiert, und zum Inbegriff dessen, was einst verloren gegangen ist: Die Einfachheit des natürlichen Lebens, das Rousseau vor allem in der ländlichen Bevölkerung zu finden meint (Vgl. dazu Rousseau 1782–89/2011; Seeberger 1978). Die Wissenschaft und die Kunst, jene Sphären der menschlichen Vernunft, die im 18. Jahrhundert als Blüte der Menschheitsentwicklung verstanden wurden, überzieht er demgegenüber mit scharfer Kritik. Beide, Wissenschaft und Kunst, haben letztlich nur einen Sittenverfall befördert, der das ganze Übel der Gesellschaft mitverantwortet (Rousseau 1750/1995). Auf deren Fortschritt zu hoffen, ist also nicht nur vergeblich, sondern grundfalsch, weil die Hoffnung eher in einer Mimesis an die Natur zu finden ist. Dieses Grundmotiv der Naturverherrlichung paart sich bei dem aus Genf stammendem Rousseau mit einem calvinistischem Denken und mit der Erfahrung republikanischer Verhältnisse. Seine Biographie, die lange Zeit von Armut und Unglück geprägt ist, lässt ihn zu einem kompromisslosen Kritiker der Gesellschaft werden, der er die Werte der Freiheit und der Gerechtigkeit entgegenhält. Wohl nicht zuletzt deswegen, weil er dies in besonders scharfer und unmissverständlicher Form betreibt, wird er schließlich zum Paten der Französischen Revolution – insbesondere während der Jakobinerherrschaft. Die Nachfolger Robespierres überführen seinen Leichnam dann sogar in das Panthéon in Paris und gewähren Rousseau damit die Ehre, zum Kreis berühmter französischer Persönlichkeiten zu gehören. Der Gesellschaft seiner Zeit wirft er vor, in Dekadenz, Macht-, Besitz- und Ruhmstreben und in einer allgemeinen Oberflächlichkeit verkommen zu sein. Sein politisches Ansinnen ist damit auch kulturphilosophisch zu verstehen, da es Rousseau nicht allein darum geht, die politischen Verhältnisse zum Besten zu ordnen, sondern auch darum, den gesellschaftlichen Verfallsprozess in der Sphäre

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der Kultur zu korrigieren. Sein Modell des Naturzustandes hat entsprechend nicht die Funktion, natürliche Rechte zu begründen. Es dient mehr als kulturelle Leitidee, die dann für politische Fragen fruchtbar gemacht wird. Gemäß seiner vernunft- und wissenschaftskritischen Attitüde bedient er sich keiner analytischen oder ethnologischen Überlegungen, um seinen Naturzustand auszumalen. Er entwickelt ihn intuitiv und das bedeutet: Der Naturzustand à la Rousseau ist rein fiktiv. Und er hat alle Züge des paradiesischen. Locke und vor allem Hobbes wirft er vor, von den entfremdeten Umständen ihrer Zeit auf einen Naturzustand geschlossen zu haben, und diesen dann fälschlicherweise als Kriegszustand misszuinterpretieren. Die Freilegung des homme naturell zeige vielmehr einen Zustand, in dem es weder um Rechtsgleichheit noch um kriegerische Verhältnisse geht. Es ist ein Zustand, in dem der homme naturell zwar einem Selbsterhaltungstrieb folgt, aber erstens nicht böswillig ist und zweitens gilt: „Die einzigen Güter, die er in der Welt kennt, sind Nahrung, ein Weibchen und Ruhe; die einzigen Übel, die er fürchtet, sind Schmerz und Hunger“ (Rousseau (1755/1993: 107). Überdies neigt er eher zum Mitleid, als dazu, anderen Schaden zufügen zu wollen. Kurzum: Der rousseausche Naturzustand ist das genau Gegenteil des hobbistischen Krieges aller gegen Alle. Der Preis ist dafür ist allerdings nicht gering. Der homme naturell ist ohne Vernunft oder Reflexion und notwendig existieren dann auch keine natürlichen Rechte oder Moralvorstellungen für ihn. Diese mögen beide entbehrlich sein, weil es keine Konflikte gibt, innerhalb derer je eigene Rechte oder Moralvorstellungen eine konfliktlösende Rolle spielen könnten. Die Abstinenz von Denken und Vernunft hingegen macht den Naturzustand kaum zu einer Folie für die Entfaltung einer politischen Philosophie. Aber das soll sie auch gar nicht. Sie dient vor allem als kulturkritischer Hintergrund, an dem sich politisch verfasste Gesellschaften orientieren sollen. Und um die geht es. Der Naturzustand verhaart nämlich nicht in diesem Paradies der Friedfertigkeit. Die Subjekte beginnen Sprache und Bewusstsein zu entwickeln und damit die Unterscheidung von Gut und Böse, von Richtig und Falsch. Und noch schwerwiegender und bedrohlicher für den ursprünglichen Frieden wiegt die Einführung des Privateigentums und der Arbeitsteilung. Daraus resultiert nach Rousseau eine gegenseitige Abhängigkeit und der natürliche Selbsterhaltungstrieb entwickelt sich zur Selbstsucht, die versucht, andere zu subordinieren, um der eigenen Abhängigkeit von Anderen zu entkommen. Die Entwicklung der Gesellschaft mündet in einem Verfallsprozess. Der natürliche Mensch war noch friedfertig. Im gesellschaftlichen Kontext wird er dann tatsächlich zu jenem Wolf, den Hobbes bereits im Naturzustand vermutet hatte. Rousseau nimmt mit dieser Einschätzung eines der zentralen Motive der späteren Soziologie vorweg. Die Subjekte werden durch ihre gesellschaftliche Umwelt geprägt. Es ist

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nicht die Erbsünde, wie der damalige Katholizismus noch behauptete, es ist auch keine biologische Konstante, die die Subjekte unmoralisch werden lässt. Es sind gesellschaftliche Verhältnisse, denen sich die Subjekte akkommodieren. Um also andere Subjekte, mit anderen moralischen Eigenschaften zu bekommen, müssen die gesellschaftlichen Verhältnisse so arrangiert werden, dass den Subjekten mit hoher Wahrscheinlichkeit moralische Orientierungen adäquater oder vorteilhafter erscheinen. Da für Rousseau der Weg zurück in den Naturzustand ausgeschlossen ist, bleibt nur die Flucht nach vorne, und das heißt: in die Republik (Vgl. dazu Rousseau 1762/1988). Sie soll so gestaltet werden, dass die ursprüngliche Freiheit im Naturzustand unter den Bedingungen der Gesellschaftlichkeit zumindest annähernd wieder hergestellt wird. Da die Subjekte nicht wie bei Locke aus dem Naturzustand natürliche Rechte mitbringen, die eine individuelle Freiheit garantieren könnten, muss Rousseau andere Mechanismen finden, bzw. einen anderen Freiheitsbegriff aufbieten. Es kann bei ihm nicht darum gehen, mittels bürgerlicher Rechte eine Privatsphäre zu definieren, innerhalb derer die Subjekte Schmied ihres eigenen Glücks sind. Er begreift Freiheit vielmehr als Unterwerfung unter ein allgemeines Gesetz. Diese Unterwerfung kann allerdings nur unter der Bedingung als Freiheit verstanden werden, wenn die Subjekte nicht nur Adressat sondern auch Autor der allgemeinen Gesetze sind. Mit anderen Worten: Es geht Rousseau um die unpersönliche Herrschaft des Gesetzes, die die Freiheit aller Subjekte verbürgen soll, weil alle Subjekte am Rechtssetzungsprozess beteiligt sind. Der Freiheitsbegriff, den Rousseau zur Anwendung bringt, impliziert zweierlei. Zum einen bedeutet Freiheit nicht Regellosigkeit. Dies lässt sich bereits bei Locke so verstehen, denn gerade im politischen Liberalismus gilt die Devise, dass die Freiheit grundsätzlich an der Freiheit Anderer begrenzt wird. Zum zweiten ist die Freiheit bei Rousseau wesentlich eine öffentliche Freiheit. Frei sind die Subjekte, wenn sie in öffentlichen Rechtssetzungsverfahren solche Gesetze entwickeln, denen sie aus freier Entscheidung zustimmen können. Was also Rousseau zur Frage des Politischen beiträgt, ist der Gedanke einer radikalen Demokratie, bzw. die Idee der Basisdemokratie. Diese ist bei Rousseau allerdings deutlich eingetrübt. Die Subjekte sollen nach seiner Vorstellung nicht beliebig Gesetze entwickeln können. Per Vertrag, der die republikanische Gesellschaft konstituiert, unterwerfen sich die Subjekte nicht nur dem unpersönlichen Gesetz. Sie begründen einen allgemeinen Willen, den berühmten volonté général, der als Gegenpol zum Willen der Mehrheit oder sogar zum Willen aller (volonté de tous) eingeführt wird. Dieser volonté général ist sicherlich nicht ganz einfach zu begreifen. Er stellt eine Entität dar, die ähnlich wie der hobbistische Souverän

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zu funktionieren scheint. Er steht über der Gesamtheit der Subjekte. Gleichzeitig ist es aber kein menschliches Wesen oder eine politische Institution, die im Dialog mit den Subjekten stehen würde. Dem Begriff des volonté général wird wohl am ehesten gerecht, wenn er als ein Prinzip der Republik verstanden wird, das dafür zu sorgen hat, dass nur solche Gesetze verabschiedet werden, die dem Gedanken der Republik förderlich sind. Es dürfte sich dabei um Gesetze handeln, die das Allgemeinwohl fördern, wobei Rousseau mit seiner kulturkritischen Folie des Naturzustandes vor allem dies im Sinne gehabt haben dürfte: Allgemeine Regeln, die Dekadenz, Besitz- oder Machtstreben und eine übermäßige gegenseitige Abhängigkeit verhindern. Es ist dann nicht mehr so sehr die individuelle Freiheit, die mit der Republik auf Dauer gestellt werden soll. Die Subjekte müssen bei ihren öffentlichen Handlungen und Urteilen darauf achten, dass sie das Allgemeinwohl und das Bestehen der Republik berücksichtigen, oder akzentuierter formuliert: Sie müssen ihre individuellen Interessen und Überzeugungen dem Allgemeinwohl unterordnen. Dies funktioniert zweifelsohne dann am besten, wenn die Republik durch eine mehr oder weniger homogene Kultur charakterisiert ist (vgl. Fetscher 1993: 207 ff.). Differenzieren sich Interessen und Überzeugungen in einem bedrohlichen Maße aus, läuft die Republik Gefahr, an den Konflikten zu scheitern, die bereits die Gesellschaften vor der Republik so kritikwürdig machten. Zur Homogenisierung der Kultur gehört dann für Rousseau folgerichtig auch ein wirtschaftspolitischer Interventionismus, der mögliche wirtschaftliche Ungleichheiten reduziert, weil „kein Staatsbürger so reich sein darf, um sich einen anderen kaufen zu können, noch so arm, um sich verkaufen zu müssen“ (Rousseau 1762/1988: 82). Und schließlich darf es in der rousseauschen Republik auch keine Parteien geben, die sich durch unterschiedliche oder sogar gegensätzliche Interessen und Überzeugungen auszeichnen. Dies bedeutet nicht, dass Rousseau die Idee der freien Individualität in toto ausschließen würde (Vgl. dazu auch Cassirer 1932/2004). Es sind die individuierten Subjekte, die sich entschließen, per Vertrag die Republik zu gründen. Dieses Motiv teilt Rousseau mit seinen Vorgängern Hobbes und Locke. Damit einher geht die Beibehaltung der staatskritischen Attitüde. Auch die Republik ist kein Selbstzweck. Sie soll als politische Verfasstheit der Gesellschaft diese vor dem Entfremdungsprozess bewahren, in den die Gesellschaften nach der Entdeckung der Sprache, des Bewusstseins und des Privateigentums geraten waren. Ob die Einrichtung der Republik, wie Rousseau es vorschwebt, tatsächlich die individuelle Freiheit ermöglicht, bleibt dennoch umstritten. Die Subjekte sind in ihrer politischen Einstellung dazu aufgerufen, einen moral point of view einzunehmen, dessen Ergebnisse im Einzelfall mit den individuellen Interessen deckungsgleich sein mögen. Sie dürfen aber nicht ihre individuellen Interessen

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an den Anfang ihrer politischen Urteile stellen. Dies hatte der Liberalismus, wie Locke ihn propagiert hatte, nicht nur zugelassen. Es kann als ein Zweck des liberalen Staats gesehen werden, dass die individuierten Subjekte ihre Interessen störungsfrei verfolgen können. Rousseau wird eine individuelle Freiheit wohl nur dann zugesprochen werden können, wenn sein Freiheitsverständnis akzeptiert wird. Aus der Perspektive der Emanzipation greift dieses aber deutlich zu kurz. Freiheit ohne das Recht auf die Verfolgung individueller Interessen oder individueller Überzeugungen beschneidet die Selbstverwirklichungschancen und damit die Möglichkeiten je individueller Emanzipationsentwürfe. Rousseaus Republikvorstellung punktet dagegen in den Fragen der Demokratisierung des Politischen. Sein Ideal einer radikalen Demokratie, die weit über das Modell der Repräsentation hinaus geht, und die Rousseau für seine Republik anvisiert, eröffnet die Möglichkeit zu einer allgemeinen Partizipation an den Belangen, die für die Subjekte von Bedeutung sind. Warum dann aber die Subjekte sich in ihrer politischen Urteilsbildung an letztlich externen Faktoren wie dem Allgemeinwohl orientieren sollen, bleibt eine offene Frage. Die Idee einer umfassenden Emanzipation geht einher mit einer Pluralisierung der Gesellschaft. In pluralisierten Gesellschaften lässt sich nun aber das Allgemeinwohl nur schwer bestimmen. Es ist streng genommen ein ideologischer oder sinnfreier Terminus, der den Verdacht nicht ausräumen kann, die individuelle Freiheit im Zweifel zu opfern. Wird der rousseauschen Republik die Idee des volonté général entzogen, bleiben freilich interessante Motive für die politische Einstellung der Subjekte. Sie sind deutlich dazu aufgefordert, tatsächlich politische Subjekte zu werden. Sie sind aufgefordert, sich in die öffentlichen Angelegenheiten einzumischen. Dazu müssen die politischen Institutionen jedoch so aufgestellt sein, dass sie eine allgemeine Beteiligung auch ermöglichen. Jegliche Barriere, und Rousseaus Kritik am Repräsentationsmodell kann hier dazu gerechnet werden, die die Subjekte von einer politischen Partizipation ausschließt, unterläuft den radikaldemokratischen Impetus der Republik. Die Idee der Selbstgesetzgebung durch die Subjekte bleibt im Kontext der Idee einer umfassenden Emanzipation ein überzeugendes Prinzip, das Rousseau trotz aller Kritik an seiner politischen Philosophie zu einem wichtigen Denker der Moderne und dem Projekt einer Kritischen Theorie werden lässt. Er bürdet damit den Subjekten in der politischen Einstellung allerdings auch eine hohe Last auf. Es reicht nicht aus, liberale Grundfreiheiten zu verteidigen. Die Subjekte müssen sich in die öffentlichen Diskurse einbringen und gestaltend am politischen Prozedere partizipieren. Ungeachtet der Kritik an der Allgemeinwohlorientierung, bedeutet dies dennoch, dass sie sich dabei nicht allein an ihren Interessen orientieren können. Sie müssen

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den Fortbestand der republikanischen Institutionen mitberücksichtigen – und dies durchaus im Interesse der Erhaltung der je eigenen Partizipationsmöglichkeiten. Treffen sie Entscheidungen, die einer Bevölkerungsgruppe übermäßige Lasten aufbürdet, könnte eine mögliche Reaktion dieser Bevölkerungsgruppe darin bestehen, sich gegen die Institutionen selbst zu wenden. Bekanntermaßen haben die Nationalsozialisten auf diesem Wege einen Teil ihres Erfolges erzielt. Sie haben die berechtigte Kritik an sozialen Missständen in eine Demokratiekritik umfunktioniert. Die öffentlichen Diskurse und die aus ihnen resultierenden Entscheidungen sollten also bemüht sein, einen allgemeinen sozialen Ausgleich herzustellen, sodass keine Bevölkerungsgruppe vom politischen Prozedere ausgeschlossen wird. Dies betrifft minimal die Grundversorgung, geht aber weit darüber hinaus bis zu Fragen der Bildung und zu Fragen der sozialen Ungleichheit und daraus resultierender Machtverhältnisse. Zusammenfassend ließe sich formulieren: Jede Form der Diskriminierung muss vermieden werden, sollen die radikaldemokratischen Institutionen nicht ihren Sinn und ihren Zweck der allgemeinen Partizipation verlieren. Rousseaus Anforderungen an die politische Einstellung der Subjekte haben es damit in sich. Sie müssen ihre privaten Interessen und Überzeugungen mit öffentlichen Belangen in eine Balance bringen, oder mit Konflikten zwischen beiden Bereichen rational umgehen können. Hobbes, Locke und Rousseau dürfen zu den drei kanonisierten Vertretern des klassischen Kontraktualismus gezählt werden. Deren politisches Denken ist fundiert in der Unterstellung eines Naturzustandes, der indessen unterschiedlich ausgemalt wird. Die Spannbreite reicht von Subjekten, die anderen ein Wolf sind, bis zu Subjekten, die unterhalb der Schwelle des Bewusstseins und der Reflexion tendenziell gutmütig sind. Zwei bedeutende Denkmuster sollen für den vorliegenden Zusammenhang festgehalten werden. Zum einen wird jegliche politische Ordnung zu einem artifiziellen Produkt subjektiver Tätigkeit. Es gibt keine politische Ordnung, wenn die Subjekte keine generieren, und wenn sie eine generieren, können sie die politische Ordnung nach ihren Vorstellungen gestalten. Das Politische wird mit der Moderne zu einem Bereich potenzieller Gestaltungsfähigkeit. Es gibt keine Naturgesetzlichkeiten, die das Politische begründen, und es gibt keine soziokulturellen Notwendigkeiten, die das Politische begründen. Es sind die Subjekte, die aus ihren Überzeugungen und Interessen das Politische so einrichten können, wie es ihren Überzeugungen und Interessen entspricht. Anders formuliert: Die Subjekte bestimmen die Spielregeln des Spiels. Die Zusammenstellung von Hobbes, Locke und Rousseau zeigt zum anderen, dass die Begründung spezifischer politischer Ordnungen scheinbar nicht

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unabhängig davon ist, was den Subjekten an Vernunft und Reflexivität zugetraut wird. Für Hobbes ist die Sache klar: Die Subjekte verfügen zwar in jedem Fall über eine praktische Klugheit, die ihnen nahe legt, die bürgerliche Gesellschaft zu konstituieren, die es ihnen aber zugleich ermöglicht, solche Handlungspläne zu schmieden, die anderen zum eigenen Vorteil schaden. Die Subjekte müssen durch einen starken, absoluten Staat gebändigt werden. Der Gegenpol wird von Rousseau vertreten. Der homme naturel, würde er nur gelassen, ist friedfertig und bedarf mitnichten einer staatlichen oder sonstigen Regulierung. Zwar ist der homme naturel unter gesellschaftlichen Bedingungen nicht mehr in toto zu rehabilitieren. Werden aber die richtigen Weichen gestellt, können sich die Subjekte ihrem natürlichen Zustand wieder annähern. Es braucht dann auch keinen absoluten Staat, sondern nur eine ‚Institution‘ (volonté général), die mahnend darauf hinwirkt, dass die Subjekte die Weichen nicht wieder in falsche Bahnen lenken. Ansonsten kann den Subjekten die Gestaltung ihrer gesellschaftlichen Angelegenheiten überlassen werden. Die bei Rousseau problematische Einschränkung des Gestaltungsspielraumes durch den volonté général wurde bereits diskutiert. Den „realistischen“ Ansatz vertritt Locke. Seine Subjekte sind vernunft- und friedensbefähigt, was sie nicht davon abhält, zuweilen anderen zu schaden. Naturzustand und bürgerliche Gesellschaft unterscheiden sich aber nicht dadurch, dass die Subjekte sich anders orientieren würden. Weder werden sie derart in der bürgerlichen Gesellschaft gebändigt, dass sie ihre Charaktereigenschaften modifizieren, noch verkommen sie in der bürgerlichen Gesellschaft zu dekadenten, macht- und ruhmsüchtigen Subjekten. Was Locke damit verdeutlicht: Die Frage nach dem Menschenbild hinter der politischen Theorie ist unsinnig. Die Subjekte sind wie sie sind: Mal gutmütig, mal anderen zum Schaden. Entscheidend bei der Frage nach dem Politischen ist die Frage nach den normativen Zielen der politischen Ordnung (Sicherheit, Frieden, Freiheit,…) und den dazu passenden Regeln. Dass eine politische Ordnungsfindung dabei dann auch nicht von rein gutmütigen Subjekten ausgehen kann, muss auch einer (herrschafts-) kritischen Theorie grundsätzlich bewusst bleiben. Es wäre mindestens naiv, wenn nicht grob fahrlässig, grundsätzlich moralisch integere Subjekte zu unterstellen, um von dieser Prämisse aus dann jegliche Ordnung oder jeglichen Regelbedarf zurückweisen zu können. Was allerdings mit dem hier zugrunde gelegten Subjektverständnis in jedem Fall gilt, ist die Unterstellung von Subjekten, die qua Vernunft in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbstständig und ohne äußere Anleitung zu regeln – und dies notgedrungen, weil ein Informationsinput in das Subjekt theoretisch ausgeschlossen wird. Das Denken von der Prämisse eines Naturzustandes ist den drei angeführten Denkern nicht allein vorbehalten. Auch Samuel von Pufendorf reiht sich in dieses

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Denkmuster für die politische Philosophie ein – und er macht dabei einen eigensinnigen Vorschlag. Wenn er vom Naturrecht spricht, meint er nicht in liberaler Manier Rechte, die den Subjekten zukommen, sondern er buchstabiert sein Verständnis des Naturrechts aus in einem Katalog von Pflichten. Diese werden unterteilt in Pflichten gegen Gott, gegen sich selbst und gegenüber anderen. Angesichts der Idee einer Rechtsausstattung der Subjekte mutet dies nicht nur wie ein chronologischer Rückgang in der Besprechung der politischen Ideengeschichte an. Es drängt sich die Frage auf, wieso Pufendorf auf den Gedanken kommt, anstelle von Rechten von Pflichten zu sprechen? Zunächst dürfte dabei sein Subjektbild entscheidend sein. Es ist nicht das mehr oder weniger atomisierte Subjekt des Naturzustandes, wie es bei Hobbes, Locke oder Rousseau zu finden ist, sondern es ist funktional auf die Gemeinschaft angewiesen. Pufendorf macht eine aristotelische Rolle rückwärts und beginnt seine politische Philosophie wieder mit einem starken Gemeinschaftsbezug. Das Subjekt braucht die Anderen, „ist aber auch bestens geeignet zur gegenseitigen Förderung“ (Pufendorf 1673/1994: 47). Dies hindert die Subjekte nicht – und hier schwenkt Pufendorf auf die bisherige Theorielinie ein – anderen Schaden zuzufügen. Für Pufendorf ist der Naturzustand zwar explizit eine Fiktion, er argumentiert aber exakt wie Hobbes oder Locke. Im Naturzustand gibt es keine Sicherheit für das eigene Leben oder das eigene Eigentum. Dies wird erst im Rahmen einer staatlichen Ordnung erreicht. Es verblüfft in diesem Zusammenhang, dass Pufendorf den Naturzustand gleichsetzt mit „Leidenschaften, Streit, Furcht, Armut, Hässlichkeit, Einsamkeit, Roheit, Unwissen und Zügellosigkeit“, den Staat hingegen mit „Vernunft, Frieden, Sicherheit, Wohlstand, Schönheit, Geselligkeit, Geschmack, Bildung und Wohlwollen“ (Ebd.: 144). Verblüffend sind diese Attributionen deshalb, weil sie einerseits mit dem Gemeinschaftsbezug der Subjekte kollidieren, und weil sie andererseits den Pflichten widersprechen, die Pufendorf auflistet. Wenn die Subjekte aufeinander angewiesen sind, und zur gegenseitigen Förderung auch befähigt sind, mutet es merkwürdig an, dass sie dann trotzdem in Einsamkeit, Furcht und Armut leben. Ähnlich merkwürdig erscheint die drastische Beschreibung des Naturzustandes im Lichte der Pflichten, die Pufendorf anführt. Diese stammen von Gott, der deren Urheber ist, und der erste Katalog von Pflichten bezieht sich dann auch auf Gott. Die Subjekte sind dazu verpflichtet, die Existenz Gottes anzuerkennen und damit gleichzeitig seine Regentschaft über die Welt. Für Pufendorf spielt die Religion jedoch nicht nur eine spirituelle Rolle. Sie ist ein Kitt der Gesellschaft, weil mit der Regentschaft Gottes eo ipso eine höchste Richtergewalt einhergeht, deren Sanktionspotenzial, bzw. die Furcht vor diesem, die Einhaltung der Pflichten wahrscheinlicher macht. Auf der anderen Seite müssen dann die Subjekte in

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ihren Entscheidungen frei sein, weil nur freie Subjekte gegen die Pflichten verstoßen können und nur freie Subjekte rechenschaftsfähig für ihre Taten sind. Ihre Selbsterhaltung macht den zweiten Pflichtenkatalog aus. Dies freilich nicht in dem Sinne einer unabhängigen Individualität. Die Subjekte sollen sich derart entwickeln, dass sie weder Gottes Gaben noch die Gemeinschaft schädigen. Sie sind verpflichtet, moralisch integere Subjekte zu werden, und damit ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft. Auf diese bezieht sich der dritte Pflichtenkatalog, der binnendifferenziert wird in allgemeine Pflichten und konkrete Pflichten, die durch spezifische Formen der Vergemeinschaftung entstehen. Die allgemeinen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft lassen sich dahin gehend zusammenfassen, dass die Subjekte Anderen keinen Schaden zufügen sollen. Spezifische Pflichten in Bezug auf konkrete Vergemeinschaftungen sind die Vertragstreue, ein transparenter Sprachgebrauch und die Achtung fremden Eigentums. Solche Pflichten machen natürlich nur dann Sinn, wenn die Gemeinschaft überhaupt Verträge oder Eigentum kennt. Der Pflichtenkatalog malt das Bild eines harmonischen Zusammenlebens, sofern die Pflichten eingehalten werden. Sie sind alle mehr oder weniger auf den Gesellschaftserhalt gerichtet. Die prioritäre Stellung des individuierten Subjekts gegenüber der Gesellschaft verkehrt sich indessen in eine subordinäre Stellung. Schließlich sind es Pflichten, die die Subjekte haben, und eben keine Rechte. Sie haben die Pflicht sich anderen gegenüber moralisch integer zu verhalten. Sie haben aber keine Rechte, die dies einklagbar machen würde. Nichtsdestotrotz: Weil die Subjekte ohnehin auf die Gemeinschaft angewiesen sind, muss deren Präponderanz nicht zwingend zum Nachteil gereichen, solange die Subjekte sich an die Pflichten halten. Dann leben sie in einer normativ integrierten Gesellschaft, die fundamentale Rechte nicht benötigt. Die Subjekte können mit hoher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass sie störungsfrei und unter sicheren Bedingungen ihren Geschäften und ihrem Alltag nachgehen können. Anders formuliert: Wären die Subjekte in ihrem Urteilen und Handeln tatsächlich moralisch orientiert, bräuchte es keines Rechtsstaates oder streng genommen sogar überhaupt keines Staates. Pufendorf selber desillusioniert die Verhältnisse jedoch: „Das Naturgesetz schreibt zwar vor, dass sich die Menschen von allem Unrecht gegenüber anderen fernhalten. Doch diesem Gesetz wird nicht so viel Beachtung geschenkt, dass gewährleistet ist, dass die Menschen im Stande der natürlichen Freiheit genügend sicher leben können.“ (Ebd.: 161). Wie schon bei Hobbes oder Locke gesehen, hilft auch hier nur die Staatsgründung weiter. Gut rousseauisch ist dieser Staat für Pufendorf eine „eigene Rechtspersönlichkeit“ (Pufendorf 1673/1994: 165), der „als Wille aller gilt“ (Ebd.: 166). Eine kontrollierende Institution der Machtausübung durch die Souveränität sieht

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dieser Staat nicht vor. Der Träger der Souveränität „ist niemandem rechenschaftspflichtig und damit unanklagbar und unbestrafbar, da dies die Existenz eine Übergeordneten voraussetzen würde, der in diesem Fall nicht vorhanden sein kann, da es in derselben Existenzordnung nichts Höheres als das Höchste geben kann. Aus demselben Grund ist der Souverän nicht an die bürgerlichen Gesetze gebunden.“ (Behme 1995: 131) Und da eine Rechtsausstattung der Subjekte ebenso fehlt, ist der Unterschied für die Subjekte gegenüber dem Naturzustand, dass die Pflichten jetzt zu Bürgerpflichten werden, die sich als Gehorsamspflichten titulieren lassen, weil sie unter anderem vorsehen, dass die Bürgersubjekte jegliche Maßnahme der Souveränität zu ertragen haben. Sie können nur auf jene Integrität der Souveränität hoffen, die Pufendorf ihr ins Stammbuch schreibt, wenn er anmahnt, sich bei der Gesetzgebung am Allgemeinwohl zu orientieren. Seine Zuversicht liegt scheinbar darin, dass sowohl die Souveränität ihre Macht nicht missbraucht, und dass die Subjekte sich grundsätzlich an die staatlichen Regeln halten, sodass eine strenge Regelung oder Sanktionierung nicht notwendig wird. Beide Seiten, die Souveränität und die Bürger, sollen sich harmonisch auf ihre jeweiligen Pflichten einstellen und so die staatlich verfasste Gesellschaft zum Wohl Aller einrichten. Genau hier kann Pufendorf allerdings dem Verdacht nicht entgehen, insgesamt wenig konsistent zu argumentieren. Auf der einen Seite unterstellt er eine Moralität bei der Souveränität, von der unklar ist, wo sie herkommen soll. Rechtlich gibt es keine Schranken für die Ausübung der Souveränität, und Pufendorfs wiederholte Hinweise auf die Schlechtigkeit des Menschen lassen eher schlimmeres vermuten, als dass die Träger der Souveränität sich allein am Allgemeinwohl orientieren. Auf der anderen Seite unterstellt Pufendorf eine Gehorsamstreue bei den Bürgern, bei denen das gleich gilt. Wenn die Subjekte mit niederen Motiven ausgestattet sind, die schließlich die Staatsgründung begründen, dann ist auch in diesem Fall unklar, wo die Gehorsamstreue herkommen soll. Den einzigen Hinweis, den Pufendorf angibt, ist der auf eine staatliche Erziehung, so „dass sich die Bürger weniger aus Furcht vor harten Strafen als aus guter Gewohnheit den Vorschriften der Gesetze gemäß verhalten“ (Pufendorf 1673/1994: 183). Mit der Idee einer freien Individualität ist solch ein Vorhaben nicht zwingend vereinbar und angesichts mannigfaltiger Misserfolge von Erziehungsprogrammen bleibt es eine empirisch und auch für Pufendorf selbst offene Frage, ob es überhaupt gelingen kann, „dass der Wille der Bürger so gelenkt und geleitet wird, wie es dem Staatswohl dient“ (Ebd.). Pufendorf darf wohl zu Recht in die Reihe konservativer Vordenker eingeordnet werden. Sein Staats- und Gesellschaftsmodell zielt auf eine befriedete Gesellschaft, die die Aufgabe der Friedenssicherung zentral dem Staat zuordnet. Das Vertrauen in die Subjekte, dass für den Liberalismus grundlegend ist, und das

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sich in der Ausstattung der Subjekte mit fundamentalen Rechten wiederfindet, transportiert Pufendorf auf eigensinnige Weise in seine politische Philosophie. Irgendwie vertraut er darauf, dass die Souveränität und die Bürger sich am Allgemeinwohl orientieren. Menschenrechte, die die Bürger vor dem Staat schützen, und diesen in seinem Wirkungskreis begrenzen, braucht es dann nicht (Vgl. Müller 2000). Mit ihnen fehlt aber auch eine institutionell verankerte Privatsphäre, deren Beachtung einzig auf einen guten Willen seitens Anderer hoffen darf. Pufendorf schlägt eine deutliche Dominanz der Gesellschaft gegenüber dem Subjekt vor. Was kann dann eine Kritische Theorie von Pufendorf lernen? Es sind auch im Fall Pufendorfs die grundlegenden Argumentationsmuster, die Pufendorf interessant machen. Wie konservativ auch immer er eingeordnet wird, er spielt mit der Idee einer freien und gleichen Gesellschaft, die getragen wird durch Subjekte, die keine staatliche Ordnung brauchen, weil sie sich in ihrem Handeln an Grundsätzen orientieren, die eine gegenseitige Achtung der Freiheit und Sicherheit möglich machen. Um den Staat dann doch zu begründen, wird Pufendorf nicht müde, zu betonen, dass diese Grundsätze zwar existieren, nur leider nicht eingehalten werden. Er muss den Subjekten absprechen, sich faktisch ohne Furcht vor einem Sanktionspotenzial an normative Regeln zu halten, die eine friedliche Koexistenz garantieren könnten. Soweit war die Diskussion bereits mit dem Liberalismus vorgedrungen: Es macht keinen Sinn von Subjekten auszugehen, die anderen keinen Schaden zufügen. Dann aber bietet sich Pufendorfs Ausarbeitung seiner politischen Philosophie als Negativfolie an. Sein Vorschlag, anstelle von Rechten auf Pflichten zu setzen, ist zahnlos, wenn nicht ohne Abstriche von Subjekten ausgegangen werden kann, die sich an die Pflichten halten. Dann hilft nur noch eine Obrigkeit, bei der auch nur zu hoffen ist, dass sie sich an die grundlegenden Pflichten hält. Der liberalistische Vorschlag, den Subjekten gegen die Obrigkeit Schutzrechte zur Verfügung zu stellen, ist wesentlich radikaler. Die Schutzrechte gelten schließlich nicht nur gegen die staatliche Ordnung, sondern wirken auch in die Gesellschaft. Andere Subjekte, die einem selbst Schaden zufügen, können mittels der Schutzrechte genauso angeklagt werden wie eine Regierung, die ihre Befugnisse überschreitet. Mit anderen Worten: Gerade dann, wenn nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit pflichtbewusste Subjekte unterstellt werden können, ist die Rechtsausstattung ein weitreichendes Instrument für eine politische und gesellschaftliche Sicherheitsgarantie. Und nicht nur dies: Sie ist zugleich eine Garantie für die Freiheit und Unabhängigkeit der Subjekte. Trotzdem soll Pufendorf nicht als allzu negative Folie gelten. Zwischen ihm und dem Liberalismus spannt sich die Idee, dass den Subjekten durchaus eine Selbstregulierung ihrer Angelegenheiten zugetraut werden kann, und damit: Den Subjekten können Freiheiten gegenüber

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den gesellschaftlichen Institutionen eingeräumt werden. Als Maxime formuliert: Je mehr die Subjekte ihre Angelegenheiten selbstständig regeln können, je weniger (staatliche oder ähnliche) Ordnung braucht es. Die Frage ist, wie viel Selbstregulierung kann von den Subjekten erwartet werden. Eine eher pessimistische Antwort darauf hatte Baruch de Spinoza gegeben. Er gehört sicherlich nicht zu den prominentesten Vertretern der politischen Philosophie. Wesentlich mehr Beachtung hat seine Metaphysik gefunden, die einen monistischen Gegenvorschlag zum cartesianischen Dualismus anbietet. Es besteht ja kein Zweifel daran, dass der Dualismus mit enormen Anschlussproblemen zu kämpfen hatte bzw. hat. Er kann die Kluft zwischen Geist und Natur nicht zufriedenstellend mit Bordmitteln überwinden. Dass Spinoza darauf mit einer monistischen Strategie reagiert, ist indessen für die Frage nach dem Subjekt nicht ohne Konsequenzen. Grob zusammengefasst besteht sein Vorschlag darin, von nur einer Substanz auszugehen: Gott. Denken und Ausdehnung, res cogitans und res extensa, sind auf diese Weise nicht länger selbstständige Substanzen, für deren Vermittlung Gott zuständig wäre. Denken und Ausdehnung werden zu Attributen der einen Substanz Gott. Sie bleiben damit eigene Bereiche, fallen aber aufgrund ihres gemeinsamen Grundes nicht kategorial auseinander. Zwei Konsequenzen dieses Ansatzes sind für den vorliegenden Kontext von Bedeutung. Erstens ist der Mensch keine eigene Substanz, sondern er besteht aus „gewissen Modifikationen der Attribute Gottes“ (Spinoza 1677/1989: 58). Da nun Gott aus Notwendigkeit handelt, ist der Mensch, zweitens, dieser Notwendigkeit unterworfen. „Alle Dinge sind nämlich aus der gegebenen Natur Gottes notwendig gefolgt und kraft der Notwendigkeit der Natur Gottes bestimmt, auf gewisse Weise zu existieren und zu wirken.“ (Ebd.: 34) Auf die subjekttheoretische Folie bezogen bedeutet dies, dass spinozistische Subjekt ist ein empirisches Subjekt ohne freien Willen, denn „wenn die Menschen sagen, diese oder jene Handlung des Körpers gehe von der Seele aus, die die Oberherrschaft über den Körper hat, so wissen sie nicht, was sie sagen, und tun nichts anderes, als dass sie mit tönenden Worten eingestehen, dass sie die wahre Ursache dieser Handlung nicht wissen, ohne sich darüber weiter zu wundern“ (Ebd.: 113). Das Subjekt ist ein Teil der (göttlich eingerichteten) Natur und mitnichten jenes idealisierte Subjekt, das sich im Anschluss an Descartes finden lässt oder für das vor allem Kant Pate stehen wird. Die logische Nichthintergehbarkeit ist ad acta gelegt. Dies meint nicht, dass Spinoza keine Vernunft unterstellen würde. Neben die Vernunft hat er jedoch eine Affektenlehre gestellt, die die Programmatik eines empirischen Subjektverständnisses ausbuchstabiert. Sie kommt in einem naturwissenschaftlichen Gewand daher und verzichtet (zunächst) auf eine normative Gewichtung.

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Es ist nicht Spinozas Angelegenheit, die Affekte gegen die Vernunft auszuspielen oder die Affekte mit moralphilosophischen Postulaten zu diffamieren. Die Affekte sind Teil der Natur des Menschen, und sie umfassen auch negativ konnotierte Affekte wie Hass, Neid oder Ruhmsucht. Das Christentum hatte diese Affekte als schlechte Eigenschaften des Menschen kritisiert. Rousseau wird diese später zu einem Makel der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit erklären. Für Spinoza gehören sie schlichtweg zur menschlichen Natur und mit ihnen ist gerade auch im politischen Kontext zu rechnen. Zwar geht Spinoza (dann doch durchaus moralphilosophisch) davon aus, dass die Affekte mittels der Vernunft gemäßigt werden können, und gut rationalistisch bedeutet Freiheit für ihn, mittels der Vernunft die Knechtschaft der Affekte zu lindern. Dennoch notiert er: „Wer sich deshalb einredet, eine Menschenmenge oder diejenigen, die in öffentlichen Angelegenheiten zerstritten sind, könnten dazu gebracht werden, nach einer bloßen Vorschrift der Vernunft zu leben, der träumt von goldenen Zeitalter der Dichter oder von einem Märchen.“ (Spinoza 1677/1994: 13) Kurzum: Spinoza verpflichtet das politische Denken auf eine „realistische“ Einstellung. Die liberalistische Idee, dass die Subjekte sich im öffentlichen Raum als Vernunftsubjekte präsentieren und ihre Angelegenheiten rational aushandeln, wird auf diese Weise zu einer Träumerei degradiert. Die Subjekte, so muss im Anschluss an Spinoza einkalkuliert werden, sind wesentlich durch ihre Affekte getrieben. Wären dies ausschließlich positiv konnotierte Affekte, wäre dies sicherlich kein Problem. Der entscheidende Punkt bei Spinoza ist indessen, dass die gesamte Affektpalette zur Anwendung kommt und somit öffentliche Aushandlungen nur im Ausnahmefall einem rationalen Prozedere gleichen. Es ist bei Spinoza nicht ganz eindeutig, welche Rolle seine Affektenlehre spielen soll. Auf der einen Seite präsentiert er sie in einer modernen nüchtern-wissenschaftlichen Perspektive. Auf der anderen Seite empfiehlt er, den Affekten mithilfe der Vernunft beizukommen, um Freiheit zu erreichen. Es ist für ihn eine ausgemachte Sache, dass Subjekte, die unkontrolliert ihren Affekten frönen, geknechtet sind. Die Vernunft nimmt jedoch nicht einen kategorialen Gegenpart ein, der etwa darin bestehen würde, die Affekte zugunsten rationaler Einstellungen zu unterdrücken. Spinozas Therapievorschlag besteht darin, dass die Vernunft zunächst die Ursache der Affekte transparent macht und dann unerwünschte Affekte mit einem Gegenaffekt konfrontiert. Wer unter übermäßiger Ruhmsucht leidet, könnte den Affekt der Bescheidenheit mobilisieren. Die Freiheit, die dadurch erreichbar wird, bleibt freilich eine Freiheit, die den deterministischen Rahmen der spinozistischen Metaphysik nicht überwindet. Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit bzw. den kausalen Naturzusammenhang, in dem auch das Subjekt verwurzelt ist.

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Was bedeutet dies nun für die politische Einstellung der Subjekte? Zu erwarten ist eine politische Theorie, die sich nicht an Idealen orientiert, sondern versucht, das Feld der Politik in seinen Wirkungszusammenhängen zu verstehen. Dennoch operiert auch Spinoza mit der Idee eines Naturzustandes als Folie für eine staatliche, bürgerliche Ordnung. In einem solchen Naturzustand haben die Subjekte natürliche Rechte, die sie befähigen, alles in ihrer Macht stehende zu unternehmen. Der Begriff der Macht ist hier zu verstehen als Fähigkeit und meint nicht ein asymmetrisches Verhältnis zweier Subjekte. Es sind in diesem Sinne keine natürlichen Rechte à la Locke, die dann in einer staatlichen Ordnung als kodifizierte Rechte wieder auftauchen würden. Er ist schlichtweg das Recht, alles zu tun, was einem Subjekt möglich ist, ohne dass dies auf irgendeine Art und Weise normativ einzuordnen wäre. Die Subjekte können ihre Fähigkeiten zu kooperativen Zwecken in Anschlag bringen. Sie können ihre Fähigkeiten aber auch zum Nachteil anderer einsetzen, sodass die ständige Furcht vor Übergriffen es nahe legt, den Naturzustand zugunsten einer staatlichen Ordnung zu verlassen. Es ist das sicherheitspolitische Kalkül, dass bereits bei den behandelten Autoren – mit Ausnahme von Rousseau – die Etablierung eines Staates begründet. Den Vertragsschluss, der zum Staat führt, denkt sich Spinoza allerdings in Anlehnung an Rousseau. Die natürlichen Rechte werden nicht auf einen einzelnen Souverän, also einen Dritten, übertragen, sondern auf die Gemeinschaft. „Nicht mehr dem Einzelnen wird das Recht zugestanden, zu tun, was in seiner Macht steht, sondern der Vereinigung der Individuen. Der Staat hat die höchste Macht und daher auch das höchste Recht zu allem, was er vermag. Dieser Macht muss sich der Einzelne unterordnen.“ (Seidel 1994: 120). Es ist dennoch nicht der hobbistische Leviathan, den Spinoza im Sinn hat. Er diskutiert zwar auch die Staatsformen der Monarchie und der Aristokratie, präferiert aber deutlich die Demokratie. Martin Saar (2013) hat mit einer poststrukturalistisch anmutenden Perspektive den Machtbegriff Spinozas als zentralen Begriff seiner politischen Philosophie untersucht, und dabei den Begründungszusammenhang der Demokratie auf interessante Weise herausgestellt. Saar konzentriert sich auf den Machtbegriff als Begriff subjektiver Wirksamkeit, die sowohl kooperativ als zum Schaden anderer zur Anwendung gebracht werden kann. Weil Macht allen Subjekten in unterschiedlicher Ausprägung zukommt, ist der Machtbegriff relational zu verstehen. Er bezieht sich aber nicht nur auf intersubjektive Verhältnisse, sondern auch auf das Verhältnis zu den politischen Institutionen. Innerhalb einer politischen verfassten Gesellschaft, so die Pointe, muss deshalb grundsätzlich mit der Macht des Staatsvolkes gerechnet werden. Dies gilt für alle Staatsformen, sodass auch Monarchen oder aristokratische Regierungsformen nicht gegen das Staatsvolk regieren können, wenn sie die

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Stabilität der Gesellschaft bzw. des Staates nicht aufs Spiel setzen wollen. Sie müssen die Affektgebundenheit der regierten Subjekte in ihre politischen Entscheidungen als relevanten Faktor einfließen lassen, und sich bemühen, die Affekte durch entsprechende Arrangements in rationale Bahnen zu lenken. Sie müssen die Lernprozesse, die Spinoza als Therapie gegen die Knechtschaft der Affekte empfiehlt, auf politischer Ebene organisieren oder besser: dazu anregen. Spinoza, so Martin Saar (Ebd.: 247), „versteht effektives Regieren als umsichtige Leitung oder Führung, welche die Natur oder Eigentätigkeit der Regierten in Rechnung stellt und auf sie indirekt, über die Beeinflussung ihrer Umwelt, einwirkt. Regieren bezieht sich bei Spinoza somit auf die menschliche Naturalität und auf die – menschlichen politischen Subjekten wesentliche – Fähigkeit zur Selbststeuerung, das heißt auf ihre Freiheit. Regieren geht also nicht in Unterwerfung oder Zwangsherrschaft auf, es bleibt ein relationales, zerbrechliches Interaktionsspiel zwischen Machtpolen“. Dem Staatsvolk kommt also sowohl bei der kontraktlichen Gründung des Staates eine konstituierende Rolle zu, als auch in der staatlichen Ordnung als Machtfaktor. „Die faktische Macht der Menge ist der erste und letzte Bezugspunkt politischer Herrschaft, weil nur sie Institutionen und Herrschaftsfähigkeit ermöglicht.“ (Ebd.: 347) Eine demokratische Regierungsform wird diesem Umstand am gerechtesten, sodass Spinoza deutlich die Demokratie präferiert, die auch anders als bei Hobbes nicht mit strenger Hand operieren darf. Die Regierenden sollen „die Herrschaft behaupten, indem sie für das Allgemeinwohl sorgen und alles nach dem Gebot der Vernunft leiten“ (Spinoza 1670/1994: 238). Wenn Spinoza von Demokratie spricht, bleibt er dennoch von der liberalistischen Vorstellung unabhängiger politischer Subjekte entfernt. Seine Vorstellung einer Demokratie ließe sich mit Konnotationen wie aufgeklärt aber auch autoritär umstellen. Die Staatsbürgersubjekte sind von ihm aufgerufen, Befehle zu befolgen und nur das als Recht anzuerkennen, was die höchste Gewalt als Recht setzt (Vgl. ebd.: 238 ff.). Dies folgt aus den beiden Staatszwecken. Der erste besteht darin, Sicherheit und Stabilität zu gewährleisten. Spinoza traut den Subjekten eine Selbstregulierung potenziell zu, sieht diese aber immer wieder durch die Affekthaftigkeit der Subjekte bedroht. Der andere Staatszweck ist es daher, die Subjekte zu einem vernünftigen Umgang mit sich selbst und mit der Gesellschaft anzuleiten. Der Staat oder die Regierung übernimmt die Aufgabe eines Lehrers oder Therapeuten, dem es darum geht, die Subjekte von der Last der Affektgetriebenheit zu befreien. Die Subjekte sollen lernen, die Einsicht in die Notwendigkeiten zu erlangen, die sie unter anderem darüber aufklären, welche Kräfte hinter bestimmten Affekten stehen. Dieser zweite Staatszweck markiert die Differenz zum liberalistischen Denken. Die Subjekte sind nicht

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durch entsprechende Rechte in einer Privatsphäre unabhängig gesetzt, so dass die staatliche Ordnung ihnen etwas Äußeres bleibt. Die staatliche Ordnung greift in die subjektive Autonomie ein, um Subjekte zu generieren, die die Richtigkeit oder sogar Notwendigkeit der Gesetze einsehen können. Schroff formuliert: Der Staat modelliert sich seine Bürgersubjekte so, wie er sie benötigt, um den ersten Staatszweck der Stabilität zu erfüllen. Für Spinoza war dies sicherlich gedacht als ein humanistischer Akt. Es ging schließlich darum, die Subjekte zur Freiheit zu befähigen. Das Problem ist, dass Spinoza mit einem Freiheitsbegriff operiert, der im Rahmen seines Determinismus lokalisiert ist. Die Subjekte haben keine Willensfreiheit, sie sind in die kausalen Naturverhältnisse eingebunden. Unter dieser Prämisse ist die Staatskonzeption, die Spinoza anbietet, sicherlich nicht die schlechteste. Er hätte schließlich auch vorschlagen können, die affektiven Subjekte durch staatliche Kontrolle soweit zu unterdrücken, dass von ihnen kein Schaden ausgeht. Das die Regierung den Freiheitsspielraum ausloten soll, der im Rahmen der spinozistischen Metaphysik überhaupt möglich ist, ist aus Sicht einer Kritischen Theorie begrüßenswert. Es ist aber nicht ausreichend. Die Prämissen in einem empirischen Subjekt zu suchen, hat nicht zwingend die Konsequenz, dass eine freiheitlich-liberale Ordnung verfehlt wird. Es ist indessen naheliegender. Werden idealisierte Subjekte unterstellt, fällt es wesentlich leichter, von diesen den argumentativen Übergang zu einer politischen Philosophie, die die Unabhängigkeit der Subjekte zentriert, zu bewerkstelligen. Subjekten, die affektgetrieben sind, kann nicht ohne weiteres eine Selbstregulierung anvertraut werden. Spinoza verfolgt zwar das Ziel einer Selbstregulierung, muss dafür aber den Umweg einer autoritären und erziehenden Demokratievorstellung in Kauf nehmen. Es ist dann eine empirische Frage, ob dieser Umweg funktioniert oder eher – da eine Absicherung durch Individualrechte fehlt – in totalitäre Regime abrutscht. Die Geschichte zeugt bislang eher von letzterem. Zu denken ist hier vor allem an die Sowjetunion, die auf ihre Art und Weise daran interessiert war, die Menschen durch Erziehungsprogramme mit einer Freiheit zu beglücken, die ganz auf die Erfordernisse des Staates zugeschnitten war. Spinoza hatte dies sicherlich nicht im Sinn. Seine politische Philosophie scheint aber trotzdem kein Garant gegen solche Entwicklungen zu sein, zumal er der Regierung zugesteht, gewalttätig zu regieren und die Bürger notfalls auch hinzurichten (Vgl. ebd.: 300). Mildernd wirkt da nur, dass es ihm allem Anschein nach nicht um eine Regulierung in diesem strengen Sinne geht, und dass er überhaupt nicht erwartet, dass die Anregungen durch die Regierung einen durchschlagenden Erfolg haben. Es kann nicht, so Spinoza, davon ausgegangen werden, dass die Subjekte „so denken, wie die höchsten Gewalten es

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wollen“ (Ebd.: 304). Die Regierungstätigkeit scheitert an der Eigensinnigkeit der Subjekte. Warum ihnen dann nicht liberale Freiheitsrechte zur Verfügung gestellt werden, ist damit aber umso unverständlicher. Nichtsdestotrotz steuert Spinoza einen nicht zu unterschätzenden Aspekt für die politische Einstellung bei. In seiner Demokratievorstellung sind die Subjekte, trotz aller politischen Macht, die ihnen zukommt, Untertanen, und sie tun gut daran, sich an die Gesetze zu halten, leiten diese sie doch im optimalen Fall zur Freiheit an. Dahinter steht die kaum zu leugnende Einsicht, dass die Subjekte in einer empirischen Hinsicht nicht allein als animal rationale konzipiert werden können. Sie haben Affekte, die eine ungetrübte Vernunfttätigkeit erheblich stören können. Solange dies im Privaten passiert, mag eine Gesellschaft problemlos damit leben können. Wenn sich dies aber auf den öffentlichen Raum erstreckt, und politische Aushandlungsprozesse nicht mehr rational geführt werden können, kann dies zum Schaden anderer gereichen. Diese (mitunter basale) Einsicht allein macht jedoch den Beitrag Spinozas noch nicht ganz aus. Es ist sein genereller Blick auf die Affekte, der ihn für die vorliegenden Überlegungen interessant macht: Die Affekte sind als Teil der menschlichen Natur legitim. Spinoza verzichtet, wie gesehen, auf eine moralische Qualifizierung der Affekte. Bezogen auf die politische Einstellung ließe sich daraus ableiten, die Subjekt sind aufgerufen, die Affekte bei anderen Subjekten zu registrieren, und sie zu akzeptieren. Eine alleinige Orientierung am rationalen Argumentationsprozedere reicht möglicherweise nicht aus. Andere Subjekte ernst zu nehmen bedeutet auch, sie in ihrer affektiven Bedürfnisstruktur ernst zu nehmen, weil diese Bedürfnisstruktur solange legitim ist, wie aus ihr nicht unakzeptable Forderungen an Dritte resultieren. Anders formuliert: Die Subjekte sind aufgerufen, sich auch als Subjekte mit Affekten und damit zusammenhängenden Bedürfnissen zu begegnen. Es ist der empirische Charakter der Subjekte, der Spinoza zwar einen „realistischen“ Blick auf die politischen Verhältnisse erlaubt, der aber zugleich dafür verantwortlich ist, dass Spinoza den Subjekten misstrauen muss, und er daher zu autoritären Vorstellungen greift. Paradoxerweise lässt sich dieser Zusammenhang zwischen Subjektbegriff und politischer Philosophie auch an Kant demonstrieren. Kant hatte in seiner theoretischen Philosophie ein Subjektverständnis vorangetrieben, dass weit über mögliche empirische Bestimmungen hinausweist. Das intelligible Subjekt weist dem Anspruch nach keine Spuren des Empirischen auf und das logische „Ich denke“ ist nicht mehr als eine formaltheoretische Abstraktion. Mit der „Kritik der praktischen Vernunft“ hatte er den liegengebliebenen Freiheitsbegriff hinzugefügt und summa summarum ein freies, explizit nicht empirisches Subjekt entwickelt. Zu vermuten wäre daher, dass er in seiner politischen Philosophie eindeutig auf den Pfaden der Demokratie und der

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Freiheit der Individuen wandelt. Diese Vermutung wird indessen einigermaßen enttäuscht. Er übernimmt zwar von Rousseau die Idee der Selbstgesetzgebung, rahmt diese aber auf eigentümliche Weise ein, sodass am Ende der normative Überhang, der ansonsten Kants Denken durchzieht, zu verblassen scheint. Moralphilosophisch lässt Kant keinen Zweifel daran, dass er mit einem freien Subjekt rechnet. Dies fällt ihm auch insofern nicht schwer, als er bei der Bestimmung der Moral explizit jenseits des Empirischen operiert. Die empirischen Verhältnisse sind wechselhaft und können deswegen kein Argument für normative Urteile bereitstellen. Sie fallen damit aber auch als Kriterium zur Überprüfung normativer Urteile aus. Eine Rolle, die ihnen in der theoretischen Philosophie bzw. der Erkenntnistheorie zukommt, die in der praktischen Philosophie aber suspendiert ist. Hier geht es um das Handeln, oder im Fall Kant genauer: Um die Handlungsmotive. Kants Ziel ist es, moralische Grundsätze formulieren zu können, die einerseits das Handeln motivational anleiten, und die andererseits ein festes, nicht den Zufälligkeiten ausgesetztes Regelwerk darstellen. Dieses Ansinnen hat Konsequenzen für den Subjektstatus. Als empirisches Subjekt ist es – etwa aus den Affekten oder Leidenschaften resultierend -empirischen Veränderungen unterworfen. Und nicht nur dies: Es ist in kausale Zusammenhänge verstrickt, die einerseits eine Affektgetriebenheit erklärbar machen, und die andererseits eine freie Entscheidung verhindern. Genau solche Entscheidungen muss das Subjekt aber treffen können, wenn es moralisch verurteilbar sein soll. Und das es moralisch verurteilbar sein soll, kann als eine deduzierbare Forderung aus der Moral sui generis gelten. Es macht keinen Sinn, Subjekte moralisch zu adressieren, wenn im Fall eines Fehlverhaltens keine Verurteilungen, die mit der Hoffnung auf eine Einsicht in die Richtigkeit der moralischen Normen verbunden sind, erfolgen können. Um freie Entscheidungen gewährleisten zu können, bringt Kant nun seine Idee des intelligiblen Subjekts ins Spiel. Dieses ist den kausalen Zusammenhängen enthoben, und es kann selbst zur Ursache für Handlungen werden. Der entscheidende Punkt ist: Das moralische Subjekt ist ein freies Subjekt, das über einen freien Willen verfügt. Dies bedeutet für Kant nicht, die Freiheit des Subjekts bewiesen zu haben. Dies wäre eine Aufgabe der theoretischen Vernunft, die jedoch auf eine empirische Anschauung angewiesen wäre, die in Sachen Freiheit nicht zu haben ist. Freiheit ist daher „nur eine Idee der Vernunft, deren objektive Idee zweifelhaft ist“ (Kant 1785/1993: BA114), die aber dem intelligiblen Subjekt „beizulegen“ (Kant 1788/1993: A171) möglich ist. Beigelegt wird dem Subjekt von Kant freilich keine Freiheit im Sinne von Beliebigkeit. Kant hatte sich mit seiner „Kritik der reinen Vernunft“ bereits als

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ein Denker präsentiert, dem es um Regelhaftigkeiten und Gesetzmäßigkeiten geht. Dieses Ansinnen wirkt sich auch in der praktischen Philosophie aus. Freiheit ist immer eine Freiheit nach spezifischen Regeln. In Bezug auf die Moral meint dies etwa, dass eine gemeinhin als „gute Tat“ bewertete Handlung nicht deswegen gut ist, weil sie eben als „gute Tat“ verhandelt wird. Gut wird eine Tat dann, und zwar erst dann, wenn sie einer entsprechenden Regel entspringt. Subjektive Neigungen oder Affekte mögen dazu anregen, anderen gegenüber hilfsbereit zu sein. Aus der Außenperspektive ist eine hilfsbereite Handlung auch nicht zu verurteilen. Für Kant kommt es aber darauf an, dass die Hilfsbereitschaft einem subjektiven Gesetz folgt. In der konkreten Handlungssituation ist deswegen nicht die spontane Neigung, anderen zu helfen, der springende Punkt, sondern die subjektiv gefühlte Verpflichtung aufgrund des moralischen Gesetzes, anderen in Not zu helfen. Kant ist Gesinnungsethiker und dies schließt bei ihm den Begriff der Pflicht mit ein. Die Subjekte sollen sich verpflichten, nach moralischen Gesetzen zu handeln. Freiheit meint also nicht Beliebigkeit des Handelns. Freiheit bezieht sich auf die Autorenschaft der moralischen Gesetze. Die Subjekte sollen diese nach der prominenten Maxime: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (Kant 1788/1993: § 7), selbstständig elaborieren. Wenn sie dann moralische Gesetze gemäß dem kategorischen Imperativ entfaltet haben, sind diese bindend. Kant bleibt seinem Formalismus auch in der Moralphilosophie treu. Der kategorische Imperativ enthält keine konkreten Moralnormen. Er ist ein Leitsatz, der konkrete Moralnormen bezüglich ihrer Gültigkeit oder Legitimität evaluieren können soll. Er markiert einen unparteiischen ‚moral point of view‘, der moralische Normen im Lichte einer Perspektivendezentrierung bewertet. Es gibt jedoch eine alternative oder ergänzende Formulierung des kategorischen Imperativs, die für die politische Philosophie nicht unbedeutend ist. „Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (Kant 1785/1993: BA67) Dieses Postulat sagt zwar ebenfalls wenig aus über konkrete Handlungen oder Einstellungen gegenüber anderen. Dennoch birgt es gerade aus der Sicht einer Kritischen Theorie Sprengstoff. Streng genommen wird damit jeglicher Herrschaftsanspruch als illegitim zurückgewiesen. Es bleibt auch hier offen, was als Herrschaftsanspruch gelten soll, und was möglicherweise ein legitimierbarer Anspruch wäre. Die Formulierung lässt es immerhin zu, andere auch als Mittel zu gebrauchen. Dennoch zielt die Idee, den Menschen als Zweck an sich zu

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inthronisieren, auf eine egalitäre und humanitäre Gesellschaft, und sie ist damit mehr als nur ein formales Prinzip zur kritischen Überprüfung normativer Urteile. Das moralische Subjekt ist ein freies, ein autonomes Subjekt. Das heißt dann aber, es kann sich auch entscheiden, nicht moralisch zu urteilen und zu handeln. Spinoza hatte darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht immer und möglicherweise eher als Ausnahme die Vernunft ist, die das Handeln der Subjekte anleitet. Allzu oft sind es die Affekte und Leidenschaften, die das Handeln motivieren. Nun trifft dies auf das Subjekt als Noumenon nicht zu, weil dieses jenseits der kausalen Verstrickungen in die Affekte und Leidenschaften lokalisiert ist. Es geht bei den Fragen der Moral oder der Politik aber eben auch um die empirischen Subjekte, und da zeigt die Geschichte, dass moralisch integeres Handeln möglich ist, aber nicht immer stattfindet. Die Moral braucht in der Empirie die Flankierung durch das Recht. Auch die politische Philosophie Kants geht neue Wege, transzendentale Wege. Der Formalismus der kantischen Philosophie lässt erwarten, dass es Kant auch im Kontext des Politischen um die Bedingungen der Möglichkeit zu tun ist, und diese Erwartung wird nicht enttäuscht. Seine generelle These, dass es bei der Frage nach dem Recht zu klären gilt, wie sich die Freiheiten der Subjekte im öffentlichen Raum so begegnen können, dass die Freiheit des Einen die Freiheit des Anderen nicht unverhältnismäßig beschränkt, knüpft an die Tradition an. Letztlich findet sie diese Frage bei allen bereits behandelten Autoren, die sich freilich in ihren Antworten unterscheiden. Kants transzendentale Philosophie bricht jedoch mit dem klassischen Naturrechtslehren. Die Idee, dass es natürliche Rechte geben könnte, wird zwar nicht in toto über Bord geworfen, sie bekommt aber eine prozedurale Wende. Interessant ist in diesem Zusammenhang David Humes Konfrontation der kontraktualistischen Ansätze mit empiristischen Mitteln. Seine Überlegungen kommen zu dem Schluss, dass es nicht ein Vertrag ist, der die Staats- oder Regierungsbildung begründet. Es lässt sich nämlich, so Hume (1742/1988), in der Geschichte überhaupt kein derartiger Vertragsabschluss finden. Finden lässt sich, dass die bislang bekannten Regierungen auf Gewalt und Macht basieren. Hume erwähnt es zwar nicht explizit, es muss aber wohl vermutet werden: Natürliche Rechte lassen sich ebenfalls nicht finden. Staaten werden eben gegründet oder sie werden nicht gegründet bzw. verfallen oder werden erobert. Eine empiristisch aufgestellte Geschichtsschreibung kann dies nachzeichnen. Natürliche Rechte lassen sich damit aber nicht verifizieren. Soweit geht Kant nicht. Immerhin deklariert er die Freiheit als ein ursprüngliches Recht, das „jedem Menschen, kraft seiner Menschheit“ (Kant 1797/1991: AB45) zusteht. Sie ist dennoch nicht ein materiales Naturrecht. Sie bedarf der Ausgestaltung durch eine bürgerliche Rechtssprechung, die nicht durch ein

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liberales Menschenrecht à la Locke in Grenzen gesetzt wird. Menschenrechte, wie sie seit der Französischen Revolution bekannt sind, kommen bei Kant schlichtweg nicht vor. Die Last einer freiheitlichen Gesellschaft, die die Autonomie der Individuen absichert, verschiebt sich damit auf das demokratische Prozedere. Eigentümlicherweise bringt Kant sein autonomes Moralsubjekt allerdings gar nicht in Stellung, wenn es um die Frage der politisch-rechtlichen Verfahrensbildung geht. Die Moral bürdet dem Subjekt eine intrinsische Motivation auf. Es reicht nicht aus, pflichtgemäß nach dem moralischen Gesetz zu handeln und zu urteilen. Das Subjekt muss das moralische Gesetz als richtiges Gesetz einsehen und entsprechend handeln wollen. Es muss sich selbst verpflichten. Im Verhältnis zum Recht entlastet Kant die Subjekte von einer derartigen inneren Verpflichtung. Er visiert zwar das Ziel an, dass die Subjekte die rechtlichen Normen aufgrund einer intrinsischen Motivation befolgen. Ihm reicht aber eine äußere Regelkonformität aus. Die Subjekte können die rechtlichen Normen für falsch halten, solange sie sie nur befolgen. Was nach einem Rechtspositivismus klingt, ist indessen keiner. Es wäre auch geradezu untypisch für Kant, würde er sich bei normativen Angelegenheiten auf das Empirische reduzieren. Er macht unmissverständlich deutlich, was er von einer empirischen Rechtstheorie hält. Sie ist für ihn „ein Kopf, der schön sein mag, nur schade! dass er kein Gehirn hat“ (Kant 1797/1991: A32). Theoriearchitektonisch bereitet ihm diese schroffe Zurückweisung des Rechtspositivismus die Möglichkeit, sich in die Tradition einreihen, die als Ausgangspunkt der politischen Philosophie einen Naturzustand wählt. Während Hobbes und Locke das Verlassen des Naturzustandes als einen Akt der interessegeleiteten Klugheit begreifen, ist es für Kant hingegen eine Vernunftidee a priori. „Bei Kant rückt nicht das Selbsterhaltungsrisiko des Naturzustandes in den Vordergrund; im status naturalis zu verharren, ist sicherlich unklug, es ist vor allen Dingen aber pflichtwidrig, denn die Menschen stehen als vernünftige Wesen a priori unter der Verpflichtung, ihr Verhältnis zueinander nach den Regeln des Rechts zu gestalten.“ (Kersting 2016: 329) Die anarchistisch anmutende Denaturalisierung des Staates durch Hobbes und Locke teilt Kant nicht. Der Staat ist ihm zwar auch keine natürliche Angelegenheit, aber eine Sache der Vernunft, die – zumal in der kantischen Lesart – ebenso, wenn nicht sogar mehr, einen nötigenden Charakter hat. Zur Staatenbildung gibt es keine vernünftige Alternative. Die bereits angesprochene Überwindung der Anthropologieabhängigkeit der politischen Philosophie findet bei Kant einen Abschluss. Es ist für die Begründung der politischen Theorie unerheblich, ob die Subjekte moralisch integer sind oder nicht. Es bleibt ein zu berücksichtigender Faktor bei der

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empirischen Analyse politischer Verhältnisse. Weder der einen noch der anderen Subjektvorstellung kommt jedoch eine argumentative Begründungslast zu. Selbst für ein „Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)“ hält Kant (1795/1991: 224) „das Problem der Staatserrichtung“ für lösbar. Der politische Effekt dieser Deanthropologisierung ist insbesondere für eine Kritische Theorie von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Argumente gegen ideale gesellschaftlich-politische Verhältnisse, die mit dem Verweis auf die „Schlechtigkeit des Menschen“ operieren, laufen ins Leere. Gesellschaftliche oder politische Ideale müssen allein an ihrer Sollgeltung bzw. ihrer Wünschbarkeit gemessen werden. Erst dann geraten die empirischen Subjekte in den Fokus der Betrachtung, weil dann selbstverständlich die Probleme auftreten, wie Subjekte von idealen gesellschaftlichen Zuständen argumentativ überzeugt werden können, und wie auch unter idealen Bedingungen mit (immer möglichen) Subjekten umgegangen wird, die anderen Subjekten willentlich Schaden zufügen. Genau dies ist das Anliegen der Staatsphilosophie Kants: Eine Vereinigung der je subjektiven Willkür unter allgemeinen und freiheitlichen Gesetzen. Nun sind es, wie gesagt, keine natürlichen oder Menschenrechte, die die Freiheit des Subjekts absichern. Genau dies ist aber der Grund dafür, dass die Subjekte den Naturzustand verlassen müssen. Insbesondere das fehlende Recht auf Eigentum ist es, was den Übergang in einen staatlichen Rechtszustand zwingend macht. Die Subjekte dürfen bereits im Naturzustand Eigentum erwerben. Der rechtliche Eigentumstitel muss dabei aber ein provisorischer bleiben, „denn durch einseitigen Willen kann anderen eine Verbindlichkeit, die sie für sich sonst nicht haben würden, nicht auferlegt werden“ (Kant 1797/1991: 375). Da es für Kant eine ausgemachte Sache ist, dass es privaten Eigentums bedarf, drängt für ihn der provisorische Charakter des Eigentumsrechts darauf hin, dieses Recht in ein bürgerliches Recht zu transformieren. „Also nur in Konformität mit der Idee eines bürgerlichen Zustandes, d.i. in Hinsicht auf ihn und seine Bewirkung, aber vor der Wirklichkeit desselben (denn sonst wäre die Erwerbung abgeleitet), mithin nur provisorisch kann etwas Äußeres ursprünglich erworben werden.“ (Ebd.) Eigentum bedarf als Rechtstitel einer reziproken Anerkennung, die nur in einem rechtlichen Zustand möglich ist. Solange dies nicht der Fall ist, bleibt das Eigentum unsicher. Mit anderen Worten: Auch Kant kann trotz seiner Vernunftidee des Staates eine ökonomistische Staatsbegründung attestiert werden. Es geht schlichtweg um die Absicherung von Eigentum. Das bedeutet nicht, dass der Staat einfach eine Absicherungsinstanz des Eigentums sein soll. Es geht um die Freiheit, die für Kant ihrerseits nur in einem rechtlichen Zustand verwirklicht werden kann. Schließlich kann die Freiheit des Einen nur dann Bestand haben, wenn sie auf einer intersubjektiven Anerkennung

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fußt, und Freiheit ist für Kant ohnehin grundsätzlich eine regelgeleitete Freiheit. Die Frage nach der Sicherung des Eigentums im Verbund mit der Freiheit verschiebt sich ohne die Fundierung in entsprechenden Menschenrechten auf die Prozeduralität der Gesetzgebung. Bereits Rousseau hatte seine Idee der Freiheits­ gewährung auf das radikaldemokratische Prozedere gestützt, und Kant bleibt kaum etwas übrig, als Rousseau hierin zu folgen. Es versteht sich von selbst, dass eine der Grundbedingungen für eine solche bürgerliche Republik die Rechtsgleichheit ist. Es kann und darf in der Republik keine Prärogative geben, die das Prinzip der Selbstgesetzgebung durch ein vereintes Bürgertum unterlaufen. Und um die geht es Kant genauso wie Rousseau. Sein Ziel ist es, dass das Gesetz niemandem Urecht zufügt, und die Garantie dafür ist, dass das gesamte Volk an der Gesetzgebung beteiligt ist, „denn nur sich selbst kann niemand unrecht tun“ (Kant 1793/1991: A245). Er geht allerdings nicht so weit, eine radikaldemokratische Partizipation zu fordern. Er setzt, entgegen Rousseau, auf Gewaltenteilung und das Prinzip der Repräsentation. Unklar bleibt bei ihm, wie genau er sich die Repräsentation vorstellt. Ingeborg Maus hat vorgeschlagen, Kant einen „nicht-monologischen Entscheidungsprozeß“ (Maus 1994: 331), also die faktische Partizipation des Staatsvolkes, zu unterstellen. Ho-Won Young (2006) argumentiert dagegen, dass es Kant um ein monologisches Verfahren geht, in dem der Monarch den Gesamtwillen des Bürgertums repräsentiert und entsprechende Gesetze erlässt, die zum Wohl aller sind. Wie auch immer Kant zu lesen ist, seiner Republik inhäriert der Gedanke, dass es entscheidend darauf ankommt, dass die allgemeinen, öffentlichen Gesetze nur dann einen legitimen Status haben können, wenn sie – in welcher institutionellen Form auch immer – den Willen aller Betroffenen Subjekte integrieren. Aus heutiger Sicht dürfte dabei deutlich geworden sein, dass eine faktische Partizipation des Bürgertums diesem Ansinnen am ehesten gerecht wird, weil nur mittels einer faktischen Partizipation der empirische Wille der Subjekte manifestiert wird. Wie faktisch die Partizipation bei Kant auch institutionalisiert werden soll, einem gewichtigen Moment demokratischer Kontrolle durch das Staatsbürgerpublikum erteilt er eine deutliche Absage: Dem Recht auf Widerstand. Dieses würde sich durch den Verweis auf einen übergesetzlichen Notstand derart, dass das Regierungs- oder Staatshandeln die Subjekte in einen unauflöslichen Gewissenskonflikt stürzt, begründen. Wenn die Regierung sich zu einer Despotie entwickelt, die die grundlegenden Freiheiten nicht mehr gewährt, kann es eine Alternative sein, die Staatlichkeit wieder zu verlassen und einen Naturzustand vorzuziehen. So hatte es jedenfalls John Locke gesehen. Sein Naturrechtsparadigma erlaubte ihm problemlos ein Widerstandsrecht zu deklarieren, wenn der Staat seiner Friedensaufgabe nicht mehr nachkommt. Kant sieht es

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eher wie Hobbes. Der Rückfall in einen vorrechtlichen Zustand ist auf jeden Fall zu vermeiden, so dass der „Missbrauch der obersten Gewalt dennoch zu ertragen“ (Kant 1797/1991: A177, B206) ist. Wenn es ein Vernunftprinzip a priori sein soll, einen Rechtsstaat zu gründen, muss jegliche Form der Staatlichkeit den Vorrang vor einem Verfall derselben genießen. Das dies ein höchst problematisches Ansinnen ist, dürfte nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts kaum umstritten sein. Selbstverständlich war der Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur und gegen die Diktaturen des ehemaligen Ostblocks legitim. Dennoch ist Kants Ablehnung eines Widerstandsrechts nicht vollkommen begründungslos. Wird seine Intention der Selbstgesetzgebung ernst genommen, würde Widerstand letztlich Widerstand gegen die eigenen Gesetze bedeuten. Fallen Autor und Adressat des Rechts zusammen, und haben alle Subjekte die gleichen Möglichkeiten, auf den Gesetzgebungsprozess einzuwirken, würden die Subjekte gegen die Gesetze Widerstand leisten, die sie sich selbst gegeben haben – ein offensichtlich sinnloses Unterfangen. Diese Begründung steht und fällt jedoch mit Frage der Institutionalisierung der Selbstgesetzgebung. Es bedarf einer faktischen Partizipation am Gesetzgebungsprozess. Eine monarchische Repräsentation des Willens der vereinigten Subjekte reicht nicht aus, um die Personalunion von Autor und Adressat des Rechts zu gewährleisten. Wenn Kant mit der Hoffnung Recht hat, dass die Subjekte sich selbst keine Gesetze vorschreiben, die ihnen Unrecht tun, gibt es nur dann eine Garantie dafür, dass nur entsprechende Gesetze erlassen werden, wenn die Subjekte am Verfahren der Rechtssetzung beteiligt sind. Das Einzige, was Kant jedoch explizit als Beteilung benennt, ist der öffentliche Vernunftgebrauch seitens der Philosophen, sofern dieser die staatliche Ordnung nicht in toto infrage stellt. Ansonsten hofft er auf den Reformwillen seitens der Regierenden, die die bürgerliche Ordnung schrittweise in eine Republik transformieren, die dann indirekt einen moralisierenden Charakter auf die Subjekte ausübt. Diese Hoffnung mag zu Kants Zeiten auch ihre Berechtigung gehabt haben. Aus heutiger Sicht mutet sie naiv an, weil inzwischen deutlich geworden ist, dass Machtbefugnisse dazu tendieren, eine Verselbstständigung der Macht anzunehmen, gegen die ein öffentlicher Vernunftgebrauch seitens aller betroffenen Subjekte immerhin ein Korrektiv darstellen kann. Die Formel ‚Alle betroffenen Subjekte‘ meint dann natürlich alle Subjekte unabhängig ihrer sozioökonomischen Ressourcenausstattung. Bislang wurde dieses für eine Kritische Theorie zentrale Thema ausgeklammert. Die optimistischen und begrüßenswerten Ansätze in Richtung einer demokratischen und freiheitlichen Gesellschaft, die in der klassischen Aufklärungsepoche zu finden sind, können nicht darüber hinweg täuschen, dass diese Ansätze zunächst nur einer kleinen

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Minderheit ökonomisch selbstständiger und gebildeter Männer vorbehalten waren. Kant macht unmissverständlich klar: „Der Geselle bei einem Kaufmann, oder bei einem Handwerker; der Dienstbote (nicht der im Dienste des Staates steht); der Unmündige […]; alles Frauenzimmer, und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betrieb, sondern nach der Verfügung anderer (außer der des Staates), genötigt ist, seine Existenz zu erhalten (Nahrung und Schutz), entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit, und seine Existenz ist gleichsam nur Inhärenz.“ (Ebd.: A168, B197) Eine sozialpolitische Nivellierung sozialer Ungleichheiten, oder eine staatliche Hilfe, die alle Mitglieder der Gesellschaft den Zugang zum Bürgerstatus ermöglichen würde, sieht Kant nicht vor. „Die Abwehr von Armut und Not ist für Kant keine genuin (rechts-) staatliche Aufgabe. Sie ist möglicherweise dann eine kluge politische Maßnahme, wenn die Existenz des Staates durch Armutsrevolten bedroht ist.“ (Brocker 2006: 33) Diese Einstellung gegenüber den depravierten Bevölkerungsgruppen ist für den Frühliberalismus durchaus typisch. Rousseau hatte abweichend davon, sozialpolitische Korrekturen der Besitzverhältnisse als Bedingung für das Funktionieren der Republik vorgesehen. Der Liberalismus zentriert seine Staatsphilosophie um die Frage der Eigentums- und Freiheitssicherung, und hat dann Schwierigkeiten, in die bestehenden Besitzverhältnisse einzugreifen. Für den vorliegenden Kontext interessant daran ist, dass hinter der elitären Gewährung des Bürgerstatus die Annahme steht, dass hinreichender Besitz und ökonomische Selbstständigkeit mit einer hohen Bildung einhergehen, die wiederum ein Garant dafür ist, dass die Subjekte sich mündig am politischen Prozedere beteiligen können. Im Umkehrschluss muss bei den Subjekten, die weder ökonomisch selbstständig sind und über keine oder nur eine geringe Bildung verfügen, vermutet werden, dass sie nicht in der Lage sind, sich von ihrer je individuellen Betroffenenperspektive zu distanzieren, und eine politisches Urteilsvermögen ausbilden, dass es ihnen erlaubt, politische Urteile auch in Hinsicht auf verallgemeinerbare Prinzipien abzugeben. Es ist das bereits bei Platon (1989) oder Aristoteles (1991b) zu findende Misstrauen gegenüber den Ungebildeten, dass sich hier fortschreibt. Ohne hinreichende Bildung, so die zugrunde liegende Vermutung, fehlen den Subjekten die Eigenschaften, die zu einer Regentschaft zum Wohle Aller vonnöten sind. Es ist aber sicherlich auch die Angst davor, die Benachteiligten könnten ihr Stimmrecht dazu benutzen, für eine Politik zu votieren, die ihre Situation zuungunsten der Vermögenden verbessert. Diese Thematik wird noch aufzuarbeiten sein. Was Kant betrifft, so äußert sich der Liberalismus bei ihm insbesondere darin, dass er den staatlichen Einfluss reduziert sehen möchte. „Ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Weg suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem

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möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, […] nicht Abbruch tut.“ (Kant 1793/1991: A236) Es ist ein ethisch neutraler Staat, den er im Sinn hat. Im Zusammenspiel mit seiner Desavouierung sozialstaatlicher Korrektive ist es der Nachtwächterstaat, der die Rechtssicherheit garantiert, sich aber ansonsten nicht in die Belange der Subjekte einmischt. Es ist damit auch kein Staat, der wie bei Spinoza die pädagogische Aufgabe übernimmt, die Subjekte zu Vernunftsubjekten zu machen. Alle moralischen Aspekte, einschließlich dem, seine eigene Affekte mittels der Vernunft zu kontrollieren, sind Angelegenheiten der Subjekte – und nicht des Staates. Trotz der damit implizierten Freiheitsidee ist die politische Philosophie Kants aus kritischer Sicht enttäuschend. Christoph Horn hat in einer detailreichen Analyse die These aufgestellt, dass Kant in Bezug auf die Rechts- und Staatsphilosophie eine nichtideale Normativität vertritt. Nichtideal meint dabei, „eine schwächere, von Menschen erfüllbare, situationsgerechte und auf langfristige Wirkung hin berechnete Variante von Normativität“ (Horn 2014: 301). Zugrunde liegt seiner Einschätzung die Diagnose, dass Kant zwischen seiner Moral- und seiner Rechtsphilosophie trennt. Während er in seiner Moralphilosophie das nomenale Subjekt in Stellung bringt, ist es in der Rechtsphilosophie tendenziell eher das phänomenale Subjekt. Kant verschreibt seiner politischen Philosophie eine pragmatische Wende, die mehr auf politische Möglichkeiten fokussiert als darauf, seine hohen normativen Ansprüche bezüglich der Moral auf die staatliche Ordnung bzw. die bürgerliche Republik zu transferieren. Festmachen lässt sich dies an den fehlenden Menschenrechten, der unklaren Positionierung bezüglich der Frage der Institutionalisierung der Selbstgesetzgebung, der Exklusion von Bevölkerungsgruppen und dem fehlenden Recht auf Widerstand, das damit einhergeht, dass die Subjekte auch eine schlechte Regentschaft zu ertragen haben. Kant politische Philosophie hat einen ambivalenten Charakter. Er zentriert die Idee der Freiheit, scheint sie aber an entscheidenden Stellen aus dem Blick zu verlieren. Er trägt allerdings einen interessanten Gedanken bei: den der Prozeduralität. Wenn die Subjekte nicht mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, müssen sie sich, sofern die Institutionen entsprechend aufgestellt sind, öffentlich immer wieder für ihre Freiheiten einsetzen. Die Verbindung zwischen politisch freiheitlichen Gesellschaften und der Notwendigkeit einer politisch aktiven Bürgerschaft ist nicht neu. Dies konnte bereits bei Locke und Rousseau – wenn auch mit unterschiedlichem Gehalt – abgeleitet werden. Die republikanische Demokratievariante von Rousseau und Kant setzt wesentlich auf das Moment der Volkssouveränität und bürdet dieser auf, für die freiheitlichen Rechte zu sorgen. Was dabei immer wieder betont wird, ist die Orientierung am

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Allgemeinwohl. Die Subjekte können und dürfen sich nicht auf dem Boden der deklarierten Menschenrechte wesentlich um ihre privaten Interessen kümmern. Sie müssen bei ihren politischen Urteilen einen ‚moral point of view‘ einnehmen, und stets berücksichtigen, dass die Gesetzte, die sie sich geben, die Kompatibilität der je individuellen Freiheiten im Blick behalten. Das oben angesprochene Misstrauen gegenüber den ungebildeten Bevölkerungsgruppen zeugt davon, dass dieser Zusammenhang den Autoren mindestens intuitiv bewusst gewesen sein muss. Es kann schließlich als plausibel gelten, dass Bildung eine wesentliche Ressource dafür ist, politische Urteile zu fällen, die über die je eigenen Interessen und Betroffenheiten hinausweisen, und die Interessen und Betroffenheiten anderer in der eigenen Urteilsbildung zu antizipieren und ihnen einen legitimen Status einzuräumen. Um nicht missverstanden zu werden: Die Exklusion von Bevölkerungsgruppen aus den politischen Zusammenhängen ist auch durch diesen Zusammenhang zwischen politischem Urteilsvermögen und Bildung nicht zu begründen. Dies zumal dann, wenn es generell um eine an einer allgemeinen Emanzipation orientierten Kritischen Theorie geht. Wie gesehen, macht Kant eigensinnige Abstriche bei seiner Konzeption einer freiheitlichen Republik. Er hatte die starke These vertreten, dass „das moralische Gesetz in mir“ (Kant 1788/1993: A289) ist, und damit der Notwendigkeit einer äußeren Führung im Grunde eine deutliche Absage erteilt. Die Subjekte sind vernunftbegabt und dies auch in praktischer Hinsicht. Wenn Christoph Horn mit seiner Analyse Recht hat, dass Kant diesen Gedanken in seiner Rechtsphilosophie nicht zur Anwendung bringt, lässt sich einmal mehr demonstrieren, dass sich auf dem Fundament empirischer Subjektivität nicht ohne weiteres eine ideale, freiheitliche Republik aufbauen lässt. Hätte Kant sein moralisches Vernunftsubjekt auch in seiner politischen Philosophie voll zur Geltung kommen lassen, wären ihre autoritären Züge nicht nachvollziehbar gewesen. Wenn es um einen normativen Begründungszusammenhang geht, kann ein abstrahierendes, nichtempirisch gedachtes Subjekt leichter zu idealen Formen der Gesellschaftlichkeit kommen. Da Kant mit seiner Prämisse, es sei eine Vernunftidee a priori, einen Rechtszustand zu generieren, eigentlich die Anthropologieunabhängigkeit der politischen Philosophie manifestiert hatte, wäre es im Anschluss an Kant auch legitim, von rein theoretisch entwickelten Subjekten auszugehen. Sie müssen nur die Minimalanforderung erfüllen, vernunftbegabt zu sein. Das radikalkonstruktivistische Subjekt erfüllt diese Bedingung, und es braucht für einen normativen Begründungszusammenhang nicht weiter auf die empirische Seite der Subjekte geschaut zu werden. Dennoch weisen – wie schon angedeutet – Spinoza und Kant natürlich auf einen wichtigen Punkt hin: Die empirischen Subjekte

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müssen in den Fokus geraten, wenn es erstens darum geht, zu eruieren, wie überhaupt eine ideale, freiheitliche Gesellschaft zu erreichen wäre, und zweitens müssen die Subjekt ihre empirische Seite (ihre Interessen, Leidenschaften, …) in das politische Prozedere einfließen lassen dürfen – ansonsten kann sinnvollerweise nicht von einer idealen, freiheitlichen Gesellschaft gesprochen werden. Mit Kant endet die klassische Aufklärungsepoche. Das Bild, das sich bezüglich der politischen Einstellung ergibt, ist durchaus ambivalent. Auf der einen Seite stehen idealisierte Entwürfe, die auf politisch-rechtliche Freiheiten drängen. Auf der anderen Seite finden sich bereits ernüchternde Ansätze, die die großen Ideale der Freiheit und der Demokratie desillusionieren. Sie machen dies nicht, wie es dann ab dem 19. Jahrhundert der Fall sein wird, indem sie auf gesellschaftliche Strukturen verweisen, die systematisch die Chancen auf Freiheit und Demokratie unterlaufen. Sie machen dies, indem sie das Subjekt von seiner empirischen Seite in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen setzen. Im Anschluss an die klassische Aufklärungsepoche kann damit festgehalten werden, dass es ein Spannungsverhältnis gibt zwischen einem theoretisch abgeleitetem Subjekt und einem empirisch bestimmten Subjekt. Je nachdem, welcher Fokus zentriert wird, verschieben sich die Koordinaten der Idealität und einer daraus entfalteten politischen Einstellung. Im vorliegenden Fall soll explizit mit einem theoretischen Subjekt operiert werden. Und nicht nur dies: Das theoretische Subjekt soll die Möglichkeiten einer Kritischen Theorie ausloten. Beides steht in einem Wechselverhältnis. Das logisch nicht hintergehbare Subjekt verweist auf die Bedingung der Möglichkeit einer emanzipatorischen Praxis, und die Kritische Theorie ist der argumentative Grund dafür, überhaupt nach einem solchen Subjekt zu suchen. Wenn es nun um eine umfassende Emanzipation geht, bieten die idealisierten Entwürfe der politischen Philosophie zweifelsohne einen wichtigen Beitrag. Sie formulieren die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit den Subjekten möglichst wenige oder sogar keine Hindernisse in den Weg gelegt werden, ihre emanzipatorischen Möglichkeiten zu verwirklichen. Wenn Locke mit seiner Philosophie die Idee der Menschenrechte anschiebt, schiebt er damit ein Projekt an, das die Subjekte mit Rechten ausstattet, die es ihnen ermöglichen sollen, ihre je eigene Art und Weise der Selbstbestimmung auszuprobieren. Wenn Rousseau die Idee einer radikalen Demokratie anschiebt, schiebt er damit ein Projekt an, das den Subjekten ermöglicht, ihre je eigene Art und Weise der Selbstverwirklichung auszuprobieren. In Bezug auf das Politische sind damit zwei wesentliche Pfeiler benannt, die darauf abzielen, den Bereich des Politischen von Emanzipationshindernissen zu befreien. Daraus folgen allerdings Anforderungen an die Subjekte, die die

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politische Einstellung, wie sie sich im Anschluss an die klassische Aufklärungsperiode darstellt, umreißen. Die Subjekte können sich, grob zusammengefasst, keineswegs auf dem Ruhepolster einer Rechtsausstattung aus dem öffentlichen Diskurs zurückzuziehen. Sollen die menschenrechtlich fundierten Freiheiten, die eine dem Subjekt überantwortete Privatsphäre ausdifferenzieren, und die politischen Partizipationsrechte, die einen öffentlichen Bereich diskursiver Mitsprache etablieren, erhalten bleiben, müssen die Subjekte diese Recht auch zur Anwendung bringen – und dies im öffentlichen Raum. Sie müssen sowohl ihre Privatsphäre gegen Übergriffe zu schützen wissen, als auch dafür Sorge tragen, dass ihre Interessen und Überzeugungen in den Rechtssetzungsprozess einfließen. Um dies leisten zu können, so kann vermutet werden, ist es nicht zwingend notwendig, dass die Subjekte den intrinsischen Gehalt der liberalen und republikanischen Rechte nachvollziehen können. Es kann sich aber als hilfreich erweisen. In (wirtschaftlichen) Krisenzeiten kann es opportun erscheinen, fundamentale Rechte zu schleifen. Gerade aber auch dann an den fundamentalen Rechten festzuhalten, ist aus Sicht einer Kritischen Theorie von entscheidender Bedeutung. Die fundamentalen Rechte ermöglichen es schließlich, dass Krisen mit demokratischen und friedlichen Mitteln überwunden werden, und eben nicht, wie es in Geschichte leider immer wieder zu beobachten war, auf Kosten von Bevölkerungsgruppen. In diesem Sinne müssen die Subjekte die Möglichkeiten einer hinreichenden Bildung zur Verfügung stellen, und diese Angebote auch nutzen. Kurzum: Der ideale Gehalt der politischen Philosophie der Aufklärungsepoche ist normativ betrachtet eine Möglichkeit, Emanzipationsbestrebungen im Privaten und im Öffentlichen frei zu setzen. Analytisch betrachtet, folgen aus ihm jedoch Anforderungen an die Subjekte, die darauf abzielen, den idealen Gehalt politischer Prozedere zu perpetuieren. Es bleibt jedoch auch der empirische Blick auf das Politische, den die Aufklärung hinterlassen hat. Hobbes, Pufendorf, Spinoza und Kant zeichnen auf unterschiedliche Art und Weise und mit differierender Intensität das Bild eines Subjekts, das zwar vernunftbegabt ist, und aus diesem Grund auch imstande wäre, den idealen Gehalt von Freiheit und Demokratie in die Praxis umzusetzen, das aber aufgrund seiner Verstrickung in Affekte und Leidenschaften seine Vernunftbegabung nicht vollständig in Anschlag bringt. Es muss damit gerechnet werden, dass es Subjekte gibt, die anderen Subjekten vorsätzlich Schaden zufügen. Zunächst kann konstatiert werden, dass dieser Blick auf die Subjekte dazu anregt, den idealen Gehalt von Freiheit und Demokratie auch institutionell abzusichern. Dass es einer politischen Ordnung der Gesellschaft bedarf, gerade auch um Freiheiten zu schützen, ist auch für eine Kritische Theorie eine plausible Annahme. Es geht nicht darum, die Subjekte grundsätzlich als bösartig zu deklarieren. Es geht

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darum, die Subjekte vor möglichen Übergriffen zu schützen. Die politische Einstellung der Subjekte wird dadurch erweitert. Sie müssen nicht nur den idealen Gehalt von Freiheit und Demokratie prozessieren, sondern diesen Gehalt ständig in eine Balance mit sicherheitspolitischen Arrangements bringen. Das meint, sie müssen die politischen Institutionen so gestalten, dass sie Sicherheit bieten, ohne die Freiheit und die Demokratie unnötig einzuschränken. Da dies ein grundsätzlich infiniter Prozess ist, sind die Subjekte damit umso mehr aufgerufen, sich an der politischen Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligen, um ein Abgleiten in eine Richtung zu verhindern. Für eine kritische Perspektive ist dabei klar: Der Maßstab für das Arrangement zwischen Sicherheit und Freiheit ist die Freiheit. Sicherheitsbestrebungen sind dazu da, die Freiheit zu sichern. Es muss verhindert werden, dass sich die Sicherheitspolitik verselbstständigt und Freiheiten aushebelt. Der Blick auf das empirische Subjekt darf in der politisch-normativen Philosophie nicht dazu verleiten, auf politische Ideale zu verzichten, wie es (tendenziell) bei Hobbes, Spinoza oder Kant der Fall ist. Die Theorieentwicklung in der Aufklärungsepoche bietet dafür ein nicht zu unterschätzendes Motiv: Die Deanthropologisierung in der Begründung politischer Philosophien. Insbesondere im Anschluss an Kant lässt sich ein Schnitt zwischen normativen und analytischen Argumenten postulieren, der die Sphäre der Normativität von möglichen analytischen Desillusionierungen entlastet. Mögen die Subjekte empirisch sein, wie sie sind. Für normative Zwecke ist es ausreichend, dass sie vernunftbegabt sind. Auf diesem Fundament lässt sich der ideale Gehalt von Freiheit und Demokratie ausbuchstabieren – sowohl normativ als auch analytisch in Bezug auf mögliche Anforderungen an die politische Einstellung der Subjekte. Im Zusammenspiel mit dem idealen Gehalt der politischen Philosophie die empirische Seite des Subjekts zu berücksichtigen, bedeutet auch, den Wert der Toleranz als Anforderung an die Subjekte zu integrieren. Er ergibt sich bereits aus den Idealen der Demokratie. Andere Meinungen und Überzeugungen müssen toleriert werden, wenn das demokratische Prozedere seinen Sinn entfalten und nicht verlieren soll. Es ist wohl kein Zufall, dass die klassische Aufklärungsperiode mehrere Schriften zur Toleranz hervorgebracht hat (etwa Locke 1685/1957; Voltaire 1763/2015), die sich zur damaligen Zeit noch zentral mit der Religion beschäftigten, die aber über ihre Zeit hinausweisend darauf drängen, Freiheiten und demokratische Rechte reziprok anzuerkennen, weil nur so ein humanes und friedliches Miteinander zu gewährleisten ist. Der Hinweis auf die empirische Seite der Subjekte erweitert das Feld. Nicht nur religiöse Anschauungen sind zu tolerieren, sondern die Subjekte mit ihren je persönlichen Interessen, Affekten und Leidenschaften. Das dies dann seinerseits reziprok zu sein hat, macht die Sache zu einem ständigen Aushandlungsprozess.

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Werden freilich, wie historisch wiederholt geschehen, die Ideale von Freiheit und Demokratie außer Kraft gesetzt, verschieben sich auch die Anforderungen an die politische Einstellung der Subjekte. Es ist eine empirische Frage, inwieweit eine Suspendierung der Demokratie und der Freiheit mit diskriminierenden (rassistischen, sexistischen, antisemitischen, …) Aspekten einhergeht. Was sich jedoch in jedem Fall im Anschluss an die Aufklärung bereits sagen lässt, ist, dass die Subjekte dann aufgerufen sind, die politische Ordnung als Selbstzweck zu begreifen und das Regierungshandeln ohne Widerspruch zu akzeptieren. Hobbes, Pufendorf, Spinoza und Kant, gelesen als Autoren, die den normativen Gehalt, wie er hier expliziert wurde, unterlaufen, empfehlen den Subjekten eine Gehorsamstugend, die damit begründet wird, dass ein Erodieren der politischen Ordnung letztlich nur die empirische Seite des Subjekts freisetzt, die sich im Zweifel kriegerisch verhält. Um dies zu vermeiden und wenigstens einen Schutz gegen andere Subjekte zu haben, müssen daher die Maßnahmen der (unabhängigen) Souveränität geduldet werden. Dies kann flankiert werden durch erzieherische Maßnahmen der Souveränität, wie es etwa Spinoza angedacht hatte. Die Subjekte dürfen dann ihre Bildungsgenese nicht auf die Entwicklung eines emphatischen Persönlichkeitsideals ausrichten, sondern auf das Erlernen der Einsicht in die Notwendigkeiten der politischen Ordnung. Kurzum: Die politische Einstellung ist, so kann als wichtiges Ergebnis der bisherigen Ausführungen festgehalten werden, keineswegs eindeutig zu bestimmen. Sie steht in Korrelation mit politischen Idealen, die unterschiedliche Anforderungen an die Subjekte stellen. Und es lässt sich noch komplizierter gestalten. Mit Kant endet die Epoche der klassischen Aufklärung. Realhistorisch wird dieses Ende markiert durch die Französische Revolution. Diese schickte sich an, die vormals formulierten Ideale in die Praxis zu übersetzen. Dass der Jakobinerterror nur wenig mit diesen Idealen zu tun hatte, dürfte unmittelbar einsichtig sein, braucht hier aber nicht weiter zu interessieren. Wesentlich interessanter ist, dass mit dem Code Napoleon tatsächlich bürgerliche Freiheiten in mehr oder weniger ganz Europa ihre Verbreitung fanden (Vgl. dazu Müchler 2019). Der weitere Verlauf der Geschichte stellt sich freilich ambivalent dar. Das 19. Jahrhundert steht nicht für einen progressiv-linearen Geschichtsverlauf. Die demokratischen und freiheitlichen Bestrebungen drängen zwar immer wieder auf ihre Umsetzung, müssen aber auch immer wieder Rückschritte in Kauf nehmen. In diesem Sinne wäre das 19. Jahrhundert ein Jahrhundert des Übergangs hin zu demokratischen und freiheitlichen Entwicklungen, die sich dann erst im 20. Jahrhundert durchsetzen können. Was dabei den optimistischen Blick auf die Geschichte trübt, ist der Umstand, dass trotz der erreichten Errungenschaften moderne Gesellschaften begleitet sind

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von den Problemen der Armut und der sozialen Ungleichheit. Diese Problemlagen schienen zwar in der Phase der Prosperität nach dem 2. Weltkrieg überwunden zu sein. Sie drängen sich seit den 1980′er Jahren aber wieder verstärkt auf. Es ist (unter anderem) dieses Thema, dass Karl Marx und Friedrich Engels zu ihren Überlegungen motiviert, und das sie zu radikalen Kritikern der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft werden lässt. Neu an ihnen ist dabei, dass sie ihre Kritik nicht nur mit ihren theoretischen Schriften dokumentieren, sondern dass sie aktiv in die politischen Entwicklungen eingreifen (Vgl. dazu Jones 2017). Ihr politisches Engagement gilt dabei sowohl den (bürgerlich) demokratischen Bestrebungen als auch der Organisierung der Arbeiterklasse zu dem Zweck einer Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft, und dies obwohl Marx nie ein Politiker sein wollte und theoretisch ohnehin mit der Überwindung des Kapitalismus auch die Beendigung des Politischen anvisiert hatte (Vgl. dazu Schieder 2018). Darauf wird zurückzukommen sein. Was die Probleme mit der Bestimmung der politischen Einstellung komplizierter macht, ist, dass Marx und Engels zunächst einmal dafür stehen, die Erkenntnistheorie der klassischen Aufklärung als Leitdisziplin ad acta zu legen und auf die Gesellschaftstheorie umzustellen. Die bislang referierte politische Philosophie zielte zwar auf gesellschaftliche Einrichtungen und Prozesse, hatte diese aber nicht zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen gemacht. Der Naturzustand etwa soll explizit eine Form des vorgesellschaftlichen Zusammenlebens markieren. Marx und Engels interessieren sich für solche Überlegungen nicht. Ihnen wird sicherlich zu Recht attestiert, Mitbegründer der Soziologie zu sein, deren Aufgabe es nicht ist, ideale gesellschaftliche Zustände zu debattieren, sondern die Gesellschaft, so wie sie ist, zu analysieren. Genau dies haben Marx und Engels gemacht: Sie haben die Gesellschaften ihrer Zeit beschrieben und in diesem Zusammenhang spielt die Diskrepanz zwischen formal-rechtlicher Gleichheit und sozioökonomischer Ungleichheit eine gewichtige Rolle. Die Frage nach der politischen Einstellung lässt sich damit nicht mehr allein mit der Differenz von Subjektivität und Normativität eruieren. Mit der Gesellschaft kommt eine weitere Variable dazu, die dazu führt, das Spannungsverhältnis zwischen idealer Normativität und empirischer Aktualität in die Überlegungen mit einzubeziehen. Die Umstellung auf die Gesellschaftstheorie bedeutet im Fall Marx, diese mit dem Mitteln einer materialistischen Philosophie zu betreiben. Die Stellung des Subjekts wird damit (nachhaltig) neu justiert. Das logisch nicht hintergehbare Subjekt wird in seine soziale Umwelt gesetzt, die nunmehr einen prägenden Einfluss erhält. „Nicht das Bewusstsein“, so Marx und Engels (1845–46/1990: 27), „bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.“ An anderer Stelle heißt es: „Was die Individuen also sind, hängt ab von den materiellen

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Bedingungen ihrer Produktion.“ (Ebd.: 21) Diese Zitate verweisen auf einen abstrakten Prägungszusammenhang. Es sind nicht konkrete Institutionen der Gesellschaft wie etwa die Familie, die Peer-Group, die Schule oder die Medien, die sich im Sozialisationsdiskurs als wesentliche Umweltvariabeln der Ontogenese herauskristallisiert haben (Beer 2007a), sondern es sind allgemein die Produktionsbedingungen, die das Subjekt (und letztlich auch die Sozialisationsumstände) rahmen. Dieses soll freilich in der Lesart von Marx keineswegs auf eine passive Rolle im gesellschaftlichen Prozedere beschränkt sein. Er kritisiert den Materialismus vor ihm, indem er diesem vorwirft, letztlich ein statisches Bild gezeichnet zu haben, das die Wirklichkeit nur als sinnliche Anschauung kennt. Dagegen müsse die „sinnlich menschliche Tätigkeit“ (Marx 1845/1990: 5) berücksichtigt werden. Das Subjekt ist also nicht, wie tendenziell im Empirismus, auf eine sinnlich-passive Art und Weise auf seine Umwelt bezogen, sondern durch seine aktive Tätigkeit und das meint: Durch seine Art und Weise der Produktion, oder in anderen Worten: Durch seine Art und Weise der Umformung der Natur zu seinen Zwecken. Der übergeordnete Rahmen ist die Geschichte. Diese durchläuft mehrere Stadien, bis sie schließlich in der klassenlosen Gesellschaft mündet. Differenziert voneinander sind diese Stadien durch ihre Produktivkräfte und ihre Produktionsverhältnisse. Beide sind indessen nicht voneinander zu trennen. Spezifische Produktivkräfte bedingen spezifische Produktionsverhältnisse. „Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten.“ (Marx 1847/1959: 130) Die – mithin revolutionäre – Dynamik der Geschichte entfaltet sich dadurch, dass die Produktivkräfte sich entwickeln, bis sie mit dem Stand der Produktionsverhältnisse nicht mehr kompatibel sind. Die Leibeigenschaft der Bauern etwa war ein Hindernis für die Entwicklung industrieller Produktion, die auf freie Arbeiter angewiesen ist. Die feudalen Verhältnisse wurden also mitnichten überwunden, weil die Subjekte Ideale ausgebildet hatten, die auf Demokratie und Freiheit drängten. Die Produktivkräfte waren soweit fortgeschritten, dass die Ideale der Demokratie und der Freiheit notwendig wurden, um die Weiterentwicklung der Produktivkräfte zu ermöglichen. In Marx’ Worten: „Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt haben.“ (Marx 1859/1961: 9). Diese Geschichtsphilosophie ist zu Recht wegen ihrer normativen Probleme kritisiert worden (Popper 1945/2003a/b, 1960/2003; Castoriadis 1984). Sie schränkt – erstens und trotz diverser Relativierungen durch Marx und Engels – zweifellos die subjektive Aktivität ein, die streng genommen darauf reduziert

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wird, den richtigen Moment für eine gesellschaftsverändernde Praxis abzuwarten bzw. einzuschätzen. Sie operiert – zweitens – mit einem geschichtlichen Telos, das kaum mehr sein kann als eine metaphysische Spekulation. Sie bot – drittens – den Parteidiktaturen, die sich auf Marx berufen haben, eine offene Flanke für die Legitimation ihrer Diktatur, weil die Parteien behaupten konnten, den Gang der Geschichte zu kennen und aufgrund dieses Wissens die Avantgarde zu sein, die im Zweifel auch Menschen opfern darf oder sogar muss, um den geschichtlichen Prozess vorwärts zu treiben. Dies alles darf allerdings nicht dazu führen, Marx tatsächlich als Vordenker der stalinistischen Diktaturen und Greueltaten zu sehen. Marx hatte anderes im Sinn: Er wollte eine demokratische Gesellschaft, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (Marx/Engels 1848/1959: 482). Es galt, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx 1844/1956a: 385). In diesem Sinne soll Marx hier in erster Linie als Herrschaftskritiker und Radikaldemokrat (Neffe 2017; Fisahn 2018) gelesen werden – wohl wissend, dass sich nicht alle Zitate von Marx und Engels in diesem Rahmen umstandslos einfügen lassen. Es geht hier aber weder um eine breite Marxexegese noch darum, Marx gegen seine Kritiker zu verteidigen, und immer wieder darauf zu verweisen, dass Zitate in ihrem Kontext gelesen werden müssen, um diese gegebenenfalls zu relativieren. An Marx scheiden sich nach wie vor die Geister und sowohl „innermarxistische“ Grabenkämpfe als auch ideologisch-antimarxistische Anfeindungen, die beide wenig produktiv sind, sollen hier unberücksichtigt bleiben. Bekannt geworden ist Marx posthum als Wirtschaftstheoretiker. Dies ist insofern konsequent, als die Wirtschaft im Rahmen seiner Gesellschaftstheorie die prägende Basis bildet, auf der sich ein Überbau aus Religion, Wissenschaft und eben Politik aufbaut. Politik ist auch für Marx eine ausdifferenzierte Sphäre der Gesellschaft, die nicht deckungsgleich mit der Wirtschaft ist. Sie ist aber auch nicht losgelöst von der Wirtschaft. Dies meint nicht in erster Linie, dass politisches Handeln finanziert werden muss – das dürfte eine unumstrittene Aussage sein. Dies meint, dass bestimmte Formen des Wirtschaftens bestimmte Formen des Politischen bedingen. Die kapitalistische Wirtschaft etwa braucht, wie schon erwähnt, die freien Arbeitersubjekte, sie braucht Vertragsfreiheit und sie braucht einen minimalen Bestand an Rechtsstaatlichkeit, der unter anderem das Recht auf privates Eigentum garantiert. Dass es diese politischen Fortschritte gegeben hat, ist letztlich darauf zurückzuführen, dass es gravierende Veränderungen in der Art und Weise des Wirtschaftens gegeben hat, die bestimmte politische Institutionen nach sich ziehen, um die neue Art und Weise des Wirtschaftens politisch und rechtlich abzusichern bzw. zu ermöglichen.

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Zu ergänzen ist dabei, dass zu den Formen des Wirtschaftens auch der Stand der Klassengegensätze gehört. Marx selbst etwa hatte im Rahmen der `48er Revolution davor gewarnt, den proletarischen Umsturz zu versuchen, weil das Proletariat zu jener Zeit noch nicht hinreichend als politische bzw. gesellschaftliche Gruppe entwickelt war. Dieses Bedingungsverhältnis ist nun allerdings nicht einseitig gedacht, denn „auch die politischen usw., ja selbst die in den Köpfen der Menschen spukende Tradition, spielen eine Rolle, wenn auch nicht die entscheidende“ (Engels 1890/1967: 463). Es sind solche Formulierungen, die es schwer machen, eine eindeutige marxistische Theorie des Politischen zu extrahieren. Es bleibt unterbestimmt, welche Rolle die Politik nun spielt. Der Hinweis auf Dialektik hilft da auch nicht weiter, weil die Dialektik selbst den Unklarheiten nicht entkommt. Irgendwie muss immer die eine Seite berücksichtigt werden, die dann aber doch nicht entscheidend ist. Auf diese Weise lassen sich distinkte Aussagen grundsätzlich umgehen. Etwas deutlicher werden Marx und Engels, wenn sie explizit auf den Staat zu sprechen kommen. Zwar wird dieser dahin gehend adressiert, dass er bestimmte Freiheiten (insbesondere die Pressefreiheit war ein Anliegen für Marx) garantieren soll, womit er dann ein fortschrittliches Moment enthält. Wesentlicher dürfte jedoch ihre Einschätzung sein, dass der Staat ein Instrument zur Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft ist (Marx (1871/1968: 336 ff.; Engels 1877/1971:  260 ff.). Mittels der Polizei, der Armee und den Gefängnissen unterdrückt er die politisch aktive Arbeiterbewegung, um das System des Kapitalismus zu stabilisieren. Er ist aber nicht nur politisch aktiv. Er fungiert auch in einem ökonomischen Sinne als der „ideelle Gesamtkapitalist“ (Engels 1877/1971: 260). Ideell ist er deswegen, weil er nicht bestimmte Kapitalinteressen vertritt, sondern die Aufrechterhaltung des Gesamtsystems. Die unterschiedlichen Kapitalien stehen zuweilen selbst in einem Interessensgegensatz. Was der Solarindustrie von Nutzen ist, kann in der Kohleindustrie von Schaden sein. Werden die Probleme, die der Kapitalismus in Form von Krisen erzeugt, zu gravierend, kann der Staat, um den kapitalistischen Prozess zu perpetuieren, selbst zum Eigentümer, zum „wirklichen Gesamtkapitalist“ (Ebd.) werden. Das ist für Marx und Engels keineswegs gleichbedeutend mit dem Übergang zum Sozialismus, der von ihnen erhofft wurde. Der Staat als wirklicher Gesamtkapitalist konstituiert genauso ein Ausbeutungsverhältnis wie privates Kapital. Staatliches Eigentum bildet deswegen bestenfalls eine leichtere Handhabe beim Übergang zum Sozialismus. Die Pointe des marxistischen Denkens über den Staat ist, dass der Staat nach einer gewissen Zeit abstirbt. Es geht nicht darum, die Produktionsmittel zu verstaatlichen. Es geht darum, eine klassenlose Gesellschaft zu etablieren, die auf den Repressionsapparat des Staates verzichten kann, weil es keine Klassen

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mehr gibt, die andere Klassen unterdrücken müssen. Die politische Philosophie der Aufklärung hatte sich bemüht, die Staatlichkeit zu begründen. Marx und Engels machen mit der Einsicht ernst, dass der Staat ein artifizielles Produkt ist, und also auch abgeschafft werden kann. Sie scheinen ihre Hoffnungen in jene Teilskizzierungen des Naturzustandes zu setzen, die davon ausgehen, dass die Subjekte potenziell friedensfähig sind und entsprechend keiner staatlichen Gewalt benötigen. Die Staatslegitimationen der Aufklärungsepoche basierten letztlich immer darauf, dass die Subjekte trotz ihrer potenziellen Friedensfähigkeit dazu neigen, ihre Potenzialität nicht auszuschöpfen. Es droht grundsätzlich eine Übergriffigkeit, gegen die allein eine staatliche Ordnung Abhilfe schaffen kann. Mit der Überwindung der Klassengegensätze entfallen, so sind Marx und Engels wohl zu lesen, die Motive für eine Übergriffigkeit. Die gesellschaftliche Ordnung kann sich darauf beschränken, „eine Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen“ (Ebd.: 262) zu sein, das Politische wird beendet. Im Hintergrund dieser Annahmen steht sicherlich die Entdeckung der (für Zwecke der Forschung weiter auszudifferenzierenden) Gesellschaft als sozialisierende Instanz. Bei Rousseau war dieser Gedanke bereits zu finden gewesen. Er hatte die negativen Charaktereigenschaften, die er den Subjekten seiner Zeit zugeschrieben hatte, auf die gesellschaftlichen Umstände zurückgeführt, weswegen letztere zu ändern seien. Marx und Engels reihen sich in dieses Denken ein. Letzterer etwa hatte die von ihm diagnostizierten unmoralischen Eigenschaften der Arbeiterklasse auf die sozialen Verhältnisse zurückgeführt (Engels 1845/1957: 342 ff.). Würden, so die Anschlussüberlegung, die Verhältnisse dahin gehend geändert, dass sie moralisches Verhalten nahe legen und prämieren, würden sich die Eigenschaften der Subjekte entsprechend anpassen und modifizieren. Kurzum: Wenn spezifische gesellschaftliche Verhältnisse für ein spezifisches Handeln der Subjekte verantwortlich gemacht werden können, müsste dieses Handeln sich ändern, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse verändert werden. Es braucht nicht lange diskutiert zu werden: Die sozialisationstheoretischen Annahmen sind aus Sicht eines radikalen Subjektverständnisses problematisch. Dass die Subjekte auf Fremdreferenzen reagieren, ist unbestritten. Wie sie aber reagieren, lässt sich nur schwer prognostizieren, weil den Fremdreferenzen kein objektiver Status zuerkannt wird, diese vielmehr als subjektinternes Prozessieren gelten. Ob also ein solcher Optimismus, wie ihn Marx und Engels anbieten, gerechtfertigt ist, ist keine Frage der Theorie, es ist eine empirisch offene Frage. Für eine Kritische Theorie gilt dabei: Es wäre zu hoffen, dass sich der Optimismus bewahrheiten ließe, und grundsätzlich der gesellschaftliche Regelungsbedarf zugunsten einem Mehr an individuellen Freiheiten weniger wird.

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Was Marx und Engels freilich zu übersehen scheinen, ist der Umstand, dass moderne Staaten sich zwar tatsächlich immer wieder als Repressionsapparate dargestellt haben, sie sich aber zugleich als Gewährleistungsinstanz für die Menschenrechte entwickelt haben. Moderne, demokratische Staaten bieten den Subjekten eine Institution, die für die Durchsetzung und Gewährung ihrer fundamentalen Freiheiten steht. Nach dem 2. Weltkrieg sind sie zudem – unbeachtet der Rückschritte im 21. Jahrhundert – als Sozialstaat ausgebaut worden, der die Subjekte vor sozialen Risiken schützen soll. Sollen in einer freiheitlichen Gesellschaft weiterhin Freiheits- und soziale Rechte gelten, müssen entweder neue Institutionsformen gefunden werden, die diese Rechte zur Verfügung stellen und absichern, oder die Staatlichkeit muss so modifiziert werden, dass der Repressionscharakter entfällt. Denn damit haben Marx und Engels sicherlich Recht: Moderne Staaten sind nicht nur, wie in der politischen Philosophie der Aufklärung euphemistisch angedacht, mehr oder weniger neutrale Institutionen, die die Subjekte schützen. Sie können selbst zum Aggressor werden. Die obige Diskussion zwischen Hobbes und Locke hatte dies bereits angemahnt. Marx und Engels erweitern dies und ziehen den radikalen Schluss: Wenn der Staat selbst zum Aggressor werden kann, wird er dies im Sinne der herrschenden Klasse werden, weil diese Klasse einen wesentlich größeren Einfluss auf das staatliche Handeln hat. Um eine umfassende Emanzipation der Subjekte zu ermöglichen, ist es für diese daher sicherer, die Staatlichkeit zu überwinden. Wenn Marx hier als Herrschaftskritiker angeeignet werden soll, darf nicht übersehen werden, dass er zwar immer wieder auf eine (personalisierbare) Klassenherrschaft zu sprechen kommt, weitaus bedeutsamer aber wohl die anonyme Herrschaft der Warenproduktion sein dürfte. Mit dem Kapitalismus bzw. mit der Marktwirtschaft ist für Marx (1867/1988) eine Wirtschaftsordnung entstanden, die sich der Kontrolle auch der Kapitalisten entzieht. Es sind anonyme Prozesse, die hinter dem Rücken der Subjekte operieren, und die die Subjekte nötigen sich an diese Prozesse zu adaptieren. Kapital, so Marx, zielt auf seine Verwertung. Es geht darum, Profite zu machen und die Kapitalakkumulation zu steigern. Das Konkurrenzverhältnis führt dabei dazu, dass die individuellen Kapitalisten gezwungen sind, ihr Kapital zu verwerten oder im Konkurrenzkampf zu unterliegen. „Die immanenten Gesetze des Kapitals, wie die Tendenz zur Verlängerung des Arbeitstages und zur Produktivkraftentwicklung, sind unabhängig vom Wollen der einzelnen Kapitalisten. Sie setzen sich ihnen gegenüber als Zwangsgesetze der Konkurrenz durch.“ (Heinrich 2005: 106) Kurz zusammengefasst, sieht Marx in der kapitalistischen Wirtschaft ein verselbstständigtes System, dass sich der Kontrolle durch einzelne Kapitalisten

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genauso entzieht wie der Kontrolle durch politisch-staatliches Handeln. Dies schließt nicht aus, dass großes Kapital oder der Staat einen Einfluss auf das wirtschaftliche Prozedere haben. Es ist aber keine direkte Steuerung nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip möglich. Interessanterweise ist es der konservativ geltende Niklas Luhmann (1998), auf den noch zurück zu kommen sein wird, der mit seinen Begrifflichkeiten der Autopoiesis und der operativen Geschlossenheit diese These von Marx bemerkenswert präzise zusammenfasst. Mit seinem Begriff der „Irritation“ bietet er zudem eine Handhabe, die verbliebenen Einflussmöglichkeiten etwa der Politik auszuloten und zugleich in ihrer begrenzten Reichweite zu beschreiben. Wirtschaftspolitische Zielsetzungen können so als Fremdreferenz für die Wirtschaft verstanden werden, die jedoch im Wirtschaftssystem nicht nach Maßgabe der Politik prozessiert werden, sondern nach Maßgabe wirtschaftlicher Kriterien, so dass grundsätzlich nicht prognostizierbar ist, welchen Effekt wirtschaftspolitische Entscheidungen haben werden. Marx hatte dies mit anderen Termini beschrieben, kommt aber zu dem gleichen Ergebnis. Die kapitalistische Wirtschaft entzieht sich der Kontrolle. Im Terminus der „freien Marktwirtschaft“ wird dies sowohl analytisch als auch normativ formuliert: Das Marktgeschehen ist unabhängig von äußeren Eingriffen und es soll auch unabhängig von äußeren Eingriffen sein. Für Marx ist dies gleichbedeutend mit Herrschaft, weil dies damit einhergeht, dass demokratische Entscheidungsprozesse in der (kapitalistischen) Wirtschaft nicht stattfinden. Weil aber die Wirtschaft keine aus der Gesellschaft ausgegliederte Sphäre ist, wird dies zum Problem, wenn letztendlich anonyme Prozesse über die sozioökonomischen Verhältnisse der Menschen bestimmen. Andersherum freilich dominiert im marxistischen Verständnis, wie oben bereits angedeutet, die Wirtschaft das politische Geschehen. Dies nicht im Sinne einer direkten Befehlsgewalt, sondern in dem Sinne, dass politische Entscheidungen auf wirtschaftliche Entwicklungen Rücksicht nehmen müssen. Die Idee eines herrschaftskritischen Marx wäre hier, politische Entscheidungen von derart externen Nötigungen zu befreien. Die politische Einstellung der Subjekte im Anschluss an Marx zu bestimmen ist kein einfaches Unterfangen. Die Arbeiterklasse soll politisch werden, indem sie ein Klassenbewusstsein entwickelt, dass dann mit der Überwindung der Klassengesellschaft zugleich auch die Politik beendet. Es geht darum, politisch zu werden, um nicht mehr politisch sein zu müssen. Es scheint eine begriffliche Frage zu sein, ob dieses Ansinnen nachvollziehbar ist. Wenn Marx und Engels das Politische als Handlungsraum der Klassenherrschaft begreifen, ist es konsequent, mit dem Ende der Klassenherrschaft auch das Ende des Politischen zu verbinden. Wird das Politische indessen, wie noch auszuführen sein wird, abstrakter oder generalisierter verstanden als Handlungsraum, in dem es um die

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Gestaltung der Gesellschaft geht, ist nicht nachvollziehbar, wieso ein solcher Raum überflüssig werden sollte, solange es Gesellschaften gibt. Es ist jedoch nicht diese begriffliche Frage, die die Bestimmung der politischen Einstellung erschwert. Hier ließe sich durch eine präzise Klärung von Begriffen Abhilfe schaffen. Problematisch ist, dass Marx und Engels ein ambivalentes Subjektverständnis anbieten. Einerseits ist es ein fremdsozialisiertes, ein empirisches Subjekt, dessen Ontogenese durch die gesellschaftlichen Bedingungen gerahmt wird. Andererseits wird es immer wieder auch als unabhängiges, aktives Subjekt adressiert, das die gesellschaftlichen Bedingungen selbst gestaltet bzw. gestalten soll. Sie halten, mit anderen Worten, den Kontakt zum aufklärerischen Subjekt, das logisch nicht hintergehbar ist, relativieren dies aber durch eine gesellschaftliche Hintergehbarkeit. Wenn das Subjekt als entfremdet und mit verzerrtem Bewusstsein beschrieben wird, sind es die gesellschaftlichen Bedingungen, die das Subjekt hintergehen und dessen Selbstaktivität einschränken. Dieser Ambivalenz des Subjektstatus korrespondiert das Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlicher Aktualität und normativer Potenzialität. Das Subjekt soll sich frei und unabhängig entwickeln können, so wie es als Ideal in der Renaissance und der Aufklärung bereits formuliert worden war. Es kann dies aber nicht, weil insbesondere die anonyme Herrschaft der Konkurrenzlogik die Subjekte immer wieder nötig, sich einer Umwelt anzupassen, die nicht von ihnen gemacht und auch nicht von ihnen kontrollierbar ist. Was Marx und Engels mit dem gesellschaftlich hintergehbarem Subjekt auf den Punkt bringen, soll analytisch gar nicht in Zweifel gezogen werden. Es stünde dem Projekt einer Kritischen Theorie eigentümlich zu Gesicht, wenn es reale Emanzipationshindernisse invisibilisieren würde. Marx und Engels thematisieren mit ihrem hintergehbarem Subjekt solche Hindernisse – unabhängig davon, ob die von Marx und Engels beschriebenen Hindernisse noch Bestand haben, oder nicht. Ihr hintergehbares Subjekt verweist allgemein-theoretisch darauf, dass die unabhängige Aktivität des Subjekts möglicherweise durch gesellschaftliche Institutionen unnötigerweise beschränkt wird. Es bleibt indessen unklar, wie das hintergangene Subjekt zum unabhängigen und freien Subjekt werden kann. Marx hofft auf gleichsam „naturwüchsige“ Prozesse, die das Subjekt dazu treiben, die aktive Gestaltung der Gesellschaft zu übernehmen. Zum einen ist dies seine Vermutung, dass die Arbeiterklasse ein Klassenbewusstsein entwickeln wird, das dann dazu führt, dass die Verhältnisse zugunsten einer freien Subjektivität eingerichtet werden. Zum anderen ist dies die (umstrittene) These von der kapitalismusimmanenten Selbstzerstörung, die der organisierten Arbeiterklasse bei der Überwindung des Kapitalismus entgegen kommt. Das Problem wird damit nur verschoben. Wenn es „naturwüchsige“ Prozesse sind, die das Subjekt veranlassen, eine gestalterische

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Rolle einzunehmen, müsste ein Punkt benannt werden, an dem die Subjekte die Naturwüchsigkeit abschütteln. Andernfalls bleibt das Ideal der aktiven Gestaltung ein passives Moment, das kaum als Ideal zu bezeichnen wäre. Trotz der Kritik an Marx steuert er gegenüber der klassischen Aufklärungsperiode ein nicht zu unterschätzendes Motiv für die politische Einstellung bei. Das bei ihm zu findende Ideal der aktiven Gestaltung der Gesellschaft durch unabhängige und freie Subjekt ist nicht neu. Dieses Ideal ist der Kern des politischen Liberalismus. Was Marx hinzufügt ist, dass die Subjekt dabei nicht allein auf die politischen Verhältnisse schauen dürfen. Es geht um die Gesamtgesellschaft. Und es geht um Herrschaftsverhältnisse jenseits der Sphäre der Politik. Wenn soziale Ungleichheit und mit ihr verbundene Herrschaft dazu führen, dass demokratische Prozedere unterlaufen werden, müssen die Subjekte nicht nur darauf achten, dass grundsätzliche Freiheitsrechte gewährt bleiben und sich die Regierungen nicht verselbstständigen. Sie müssen für gesamtgesellschaftliche Verhältnisse sorgen, die allen eine gleichberechtigte Partizipation am Politischen ermöglichen. Wenn die depravierten Subjekte, die Marx in Gestalt der Arbeiterklasse vor Augen hatte, keine Chance auf Bildung haben und den größten Teil ihres Leben damit verbringen müssen, ihre Armut zu verwalten, mögen sie zwar formal-rechtlich die gleichen Partizipationsmöglichkeiten haben. Sie haben aber wenig Gelegenheit, die Möglichkeiten auch wahrzunehmen. Dies ist ein inzwischen allgemein anerkannter Umstand, der auch immer wieder Anlass für sozialpolitische Diskussionen ist, in denen es darum geht, dass die Demokratie in eine Schieflage oder sogar in Gefahr gerät, wenn große Teile der Bevölkerung in depravierten Verhältnissen leben. Dazu gehört dann eine Thematisierung der Wirtschaftsverhältnisse zumal dann, wenn begründet davon ausgegangen werden kann, dass es die wirtschaftlichen Verhältnisse sind, die für die soziale Ungleichheit und eventuell damit zusammenhängende Armutsverhältnisse verantwortlich sind. Kurzum: Marx erweitert das Spektrum der Politik, weil er die Subjekte aufruft, nicht allein den Staat oder die Regierungen zu fokussieren, sondern vor allem auch die Wirtschaft, deren Einrichtung einen Einfluss auf das Politische haben kann. Er erweitert das Spektrum der Politik aber auch dadurch, dass er ein Spannungsverhältnis zwischen der gesellschaftlichen Faktizität und einer normativen Erwartung anmahnt. Marx und Engels würden sich gegen eine solche Lesart sicherlich abgrenzen. Sie haben den zu erreichenden Sozialismus nicht als normatives Ideal verstanden, sondern als wissenschaftlich zu diagnostizierendes Ergebnis der kapitalistischen Entwicklung (Engels 1882/1987). Da die dahinterliegende Annahme einer mehr oder weniger notwendig ablaufenden Entwicklung mit dem hier zugrunde gelegten Subjektverständnis nicht kompatibel ist, und diese (geschichtsphilosophische)

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Annahme auch unabhängig vom Subjektverständnis problematisch ist, soll darauf keine Rücksicht genommen werden. Werden Marx und Engels gegen ihr eigenes Selbstverständnis gelesen, fließen in die politischen Einstellung zwei Momente ein: Ein analytisches auf die Gegenwart bezogenes Urteilen und Handeln und ein normatives, auf die Zukunft gerichtetes Urteilen und Handeln. Beide können in ein Spannungsverhältnis geraten, wenn die utopischen Hoffnungen sich in der Gegenwart als Handeln nicht umsetzen lassen. Bertolt Brecht hat dies mit seinem Stück „Der gute Mensch von Sezuan“ (Brecht 1967) zu illustrieren versucht. Die moralisch integere Shen Te kann ihre Integrität nur aufrechterhalten, weil sie in einer Doppelrolle zugleich den skrupellosen und profitorientierten Shui Ta spielt. Damit verbunden ist eine dritte Erweiterung der politischen Einstellung. Gerade auch wenn es darum gehen soll, Subjekten ein autonomes moralisches Urteilen und Handeln zu ermöglichen, müssen mögliche Emanzipationshindernisse thematisiert werden. Das ambivalente Subjektverständnis bei Marx und Engels kann auf diese Weise produktiv gewendet werden. Es reicht nicht aus, in der Theorie ein freies Subjekt zu postulieren. Es kommt auch darauf an, den Blick auf mögliche, nicht zu begründende Einschränkungen der Freiheit zu lenken, und diese Einschränkungen auch im öffentlichen Diskurs zu problematisieren. Dies schließt, da ist Marx im Sinne eines umfassenden Emanzipationsideales zuzustimmen, die Art und Weise des Wirtschaftens ein, die grundsätzlich diskutierbar sein muss. Die normative Herausforderung durch Marx ist nicht, allgemein auf emanzipatorische Verhältnisse zu drängen. Es ist die Abschaffung des Staates, die normativ nicht einfach zu klären ist. Als eine politische Konkurrenz zu Marx hatte sich der Anarchismus entwickelt, der in dieser Frage noch einen Schritt weiter geht. Nicht das „Absterben des Staates“ nach einer Phase, in der die moralischen und gesellschaftlichen Grundlagen dafür vorbereitet wurden, sondern die direkte Abschaffung des Staates war bzw. ist seine Forderung. Das Argument ist ähnlich zu Marx: Der Staat ist ein Repressionsapparat, der der Emanzipation des Subjekts im Wege steht. Nun ist dazu bereits angeführt worden, dass diese Diagnose empirisch seine Richtigkeit hat, aber nur die halbe Wahrheit ist. Es wird übersehen, dass moderne, demokratische Staaten Institutionen zur Verfügung stellen, die historisch betrachtet einen emanzipativen Fortschritt darstellen. Zu denken ist hier in erster Linie an die Gewährung der Menschenrechte und an die Rechtsstaatlichkeit. Zu denken ist aber auch an positive Freiheitsrechte, die zumindest formal-rechtlich eine allgemeine Partizipation ermöglichen sollen. Dagegen würden vermutlich sowohl marxistische als auch anarchistische Argumente lauten, dass dies zwar der Fall sein mag, aber erstens der Repressionscharakter überwiegt und zweitens dieser Charakter des Staates auch notwendig

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ist, weil durch ihn die Klassenherrschaft politisch abgesichert werden muss. Ohne den Staat als Sicherungsinstitution, so wohl die anarchistische Hoffnung, würde die Klassenherrschaft ebenfalls überwunden. Es ist kaum zweifelhaft, dass eine Kritische Theorie, die sich an einer umfassenden Emanzipation orientiert, diese Sicht auf den Staat nicht einfach übergehen kann. Wenn sich zeigen lassen sollte, dass Staatlichkeit eo ipso Repression bedeutet, unabhängig davon, wie viel Freiräume Staaten auch gewähren mögen, dann wären Staaten schlichtweg ein Emanzipationshindernis. Es bleibt freilich das Gegenargument, dass Staaten Schutzinstitutionen sind, die die Subjekte vor Übergriffen sichern und damit deren Emanzipationschancen erhöhen. Der kommunistisch-anarchistische Autor Peter Kropotkin hat sich dieses Arguments angenommen. Er steht für eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft ohne Lohnsystem und: ohne Staat (Kropotkin 1919/2014). Er weiß freilich um die Gegenargumente, und er versucht diese dadurch zu entkräften, dass er die potenzielle Friedens- und Kooperationsfähigkeit der Subjekte demonstriert. In einer breit angelegten Studie spannt er einen Bogen von der Tierwelt über die Anfänge der Menschheitsgeschichte bis in seine Gegenwart, der immer wieder zeigen soll, dass sowohl in der Tierwelt als auch in der Menschenwelt die Kooperation das entscheidende Fortschrittsmoment ist (Kropotkin 1902/2018). Der Verweis auf die Tierwelt dürfte dabei im Sinne eines Biologismus zu verstehen sein. Wenn selbst in der Natur die Kooperation und Friedensfähigkeit das vorherrschende Motiv ist, kann dies genauso für die Menschenwelt gelten, die schließlich im Biologischen wurzelt. Kropotkin übersieht und negiert nicht, dass sich auch der egoistische Kampf nachweisen lässt, sieht darin aber nicht den entscheidenden Motor der Entwicklung. „Für den industriellen Fortschritt wie für jeden anderen Sieg über die Natur ist die gegenseitige Hilfe und enge Verbindung gewiss, wie sie es immer gewesen ist, von viel größerem Wert als der gegenseitige Kampf.“ (Ebd.: 272) Angewendet auf die Frage nach der Staatlichkeit bedeutet dies: Die Menschen brauchen keine Schutzinstitution. Würden sie freiheitlich über ihre Angelegenheiten entscheiden können, würden sie zum eigenen und zum gegenseitigen Vorteil auf friedliche und kooperative Verhältnisse setzen. Es lässt sich ohne Zweifel zeigen, dass es in der Geschichte immer wieder kooperative und friedliche Verhältnisse gegeben hat. Es lassen sich ohne Zweifel hinreichend Beispiele für eine gegenseitige Hilfe finden – zuweilen sogar verbunden mit Selbstopfern. Es lassen sich aber genauso viele Beispiele für das Gegenteil finden. Die empirische Geschichte ist damit ein schlechter Ratgeber für die eine oder die anderen Seite. Weder lässt sich eine durchgehende moralische Integrität, noch das Gegenteil aus ihr ableiten. Der Hinweis, dass

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die Gegenteile durch Herrschaftsverhältnisse begründet sind, hilft in diesem Fall auch nicht weiter. Erstens ist dies eine theoretische und keine empirische Frage. Zweitens würde dann, wenn diese These akzeptiert würde, unklar sein, wieso sich überhaupt kooperative Verhältnisse nachweisen lassen, wenn doch die Geschichte ein kontinuierlicher Herrschaftszusammenhang ist. Wenn dann auf eine Widerständigkeit der Subjekte verwiesen wird, schwankt drittens der Subjektstatus. Einerseits werden sie (passiv) durch die Herrschaftsverhältnisse zu kriegerischen Mitteln getrieben, andererseits erheben sie sich (aktiv) über die gesellschaftlichen Verhältnisse und zeigen sich durch kooperative Verhaltensmuster widerständig. Damit soll in keiner Weise die normative Plausibilität der Kooperation negiert werden. Worum es hier geht ist: Die normative Plausibilität der Kooperation lässt sich empirisch nicht begründen – weder durch die Geschichte noch durch einen Biologismus. Hierin folgt eine subjekttheoretisch orientierte Kritische Theorie Hume und Kant (wie noch ausführlicher zu diskutieren sein wird). Normativ betrachtet bleibt es also zunächst dabei: Solange nicht mit Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass die Subjekte sich grundsätzlich moralisch integer verhalten und urteilen, muss eine freie Gesellschaft Schutzinstitutionen gegen mögliche Übergriffe zur Verfügung stellen. Es ist eine begrüßenswerte Hoffnung, dass diese Institutionen nicht oder irgendwann nicht mehr gebraucht werden. Es ist aber keine wissenschaftliche bzw. beweisbare Aussage. Was die Idee der Abschaffung des Staates beitragen kann, ist, mögliche (freiheitliche) Alternativen für die Institutionalisierung des gesellschaftlichen Regelungsbedarfes in die politischen Diskussionen einzubringen, und als regulative Idee immer wieder daran zu erinnern, dass Staaten daran gehindert werden sollten, Freiheits- und Emanzipationsräume unnötigerweise einzuschränken. Die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit sollte grundsätzlich vom Pol der Freiheit aus konkretisiert werden. Der aufklärerische Diskurs der politischen Philosophie, wie er hier skizziert wurde, hat eine deutliche Tendenz zu einer staatskritischen Attitüde. Autoren wie Hobbes, Locke, Pufendorf oder Kant betonen zwar auf unterschiedliche Art und Weise die Notwendigkeit des Staates, legen aber erstens in ihren Theorieprämissen Akzente, die den Staat als artifizielles Produkt erscheinen lassen, und folgern daraus konsequenterweise zweitens, dessen Aktivität funktional einzugrenzen, sodass eine überbordende Staatstätigkeit blockiert wird. Die Frage nach dem Staat soll hier gelesen werden als die Frage nach dem gesellschaftlichen Regelungsbedarf. Ist dieser niedrig, braucht es aus einer funktionalen Perspektive keine Institutionen mit umfassenden Befugnissen. Dies ändert sich, wenn Gesellschaften wachsen und die Verhältnisse der Subjekte zunehmend

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interdependent werden. Der bisherige Diskurs kann so angeeignet werden, dass dann eine kritische Öffentlichkeit die Institutionen derart umlagern können muss, dass diese gehindert werden, ihre Machtbefugnisse auszuweiten. Andersherum formuliert: Demokratische Gesellschaften setzen notwendig eine freie Öffentlichkeit voraus. So leicht sich dies auch formulieren lässt, so wenig ist damit ausgesagt. Eine Konkretisierung dieses Themas findet sich bei John Dewey, der sich dieses Themas angenommen hatte. Für ihn bedeutet Öffentlichkeit, dass es einen intersubjektiven Regelungsbedarf gibt, der sich daraus speist, dass (inter-)subjektive Handlungen Dritte betreffen. Um dies kooperativ zu gestalten, bedarf es Regularien, die die intendierten oder nicht-intendierten Handlungen so rahmen, dass Dritte keinen Schaden nehmen. Es geht, mit anderen Worten, darum, Gesetze zu erlassen, die die je eigenen Entscheidungen kontrollieren sollen, um Handlungsfolgen sozial verträglich gestalten zu können. Betreffen die Handlungsfolgen ausschließlich die an der Handlung beteiligten Subjekte, ist diese Angelegenheit Privatsache. Er erinnert an Marx, wenn Dewey die Entwicklung zu einer demokratischen Gesellschaft nicht als Entfaltung demokratischer Ideale begreift, sondern als Reaktion auf technische und gesellschaftliche Entwicklungen, die einen größeren Regelungsbedarf provozieren und – in Form der Kommunikationsmedien – ermöglichen. Ganz im Sinne der hier vorgeschlagenen Lesart einer staatskritischen Attitüde der politischen Philosophie der Aufklärung sieht Dewey aber vor allem in der Regierungsskepsis ein wichtiges Motiv für die Demokratieentwicklung. „Indem sie im Aufruhr gegen etablierte Regierungsformen und den Staat geboren wurden, waren die Ereignisse, die schließlich in demokratischen politischen Formen kulminierten, zutiefst von der Angst vor der Regierung geprägt und vom dem Verlangen getrieben, sie auf ein Minimum zu reduzieren, um den Schaden, den sie anrichten konnte, zu begrenzen.“ (Dewey 1927/2001: 82) Das Problematische an der Sache ist, dass mit der gesellschaftlichen Entwicklung sich zwar formal demokratische Staatswesen durchgesetzt haben, gleichzeitig aber die Bedingungen für eine funktionierende Öffentlichkeit erodiert sind. Es sind zwei zentrale Bedingungen, die Dewey im Sinn hat, und die für den vorliegenden Kontext von Interesse sind. Es bedarf, so Dewey, einer intakten Gemeinschaftlichkeit („Große Gemeinschaft“, Ebd.) und zu diesem Zweck einer angemessenen Bildung der Subjekte, die „zu einer skeptischen, vorurteilsfreien Einstellung und zur Gewohnheit des Diskurses und der Suche nach beobachtbaren Beweisen“ (Schreier 2016: 49) anregt. Genau diese beiden Bedingungen sind nach Dewey nicht mehr hinreichend vorhanden. Ursprüngliche individuumsbasierte Assoziationen sind durch unpersönliche Organisationen substituiert worden und die Bildungsinstitutionen werden der Aufgabe einer

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Wissens- und Wissenschaftsvermittlung nicht gerecht. Was Dewey vorschwebt, ist eine Öffentlichkeit, die auf direkten intersubjektiven Kommunikationen aufbaut, und Subjekte, die ihre Kommunikationen nicht in Leidenschaften und Gewohnheiten fundieren, sondern in wissenschaftlich fundiertem Wissen. Es braucht an dieser Stelle nicht zu interessieren, was Dewey genau unter Wissenschaften versteht. Interessant ist, dass er grundsätzlich die Subjekte befähigt sieht, sich wissenschaftliches Wissen anzueignen. Es geht ihm explizit nicht um eine Expertendemokratie oder eine Technokratie. Wissen soll gesellschaftsweit zirkulieren und die Kunst soll eine Vermittlerin zwischen Wissenschaft und Gesellschaft werden. Dewey fasst sein Anliegen mit den Worten zusammen: „Das wesentliche Erfordernis besteht, mit anderen Worten, in der Verbesserung der Methoden und Bedingungen des Debattierens, Diskutierens und Überzeugens.“ (Dewey 1927/2001: 173). Dem kann aus normativer Sicht eine Kritische Theorie nur zustimmen. Die subjektphilosophischen Prämissen verweisen zudem darauf, dass die Subjekte auch grundsätzlich befähigt sind, wissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse zu prozessieren. Mit den subjektphilosophischen Prämissen kollidiert indessen die erste Bedingung, die Dewey für eine intakte Öffentlichkeit angibt: Die Gemeinschaftsbildung. Sie kollidiert dabei nicht zwingend in der Forderung nach direkten Interaktionen in Familien, Nachbarschaften oder Vereinen. Sie kollidiert mit den Prämissen, die Dewey ansetzt. Er operiert mit einem Subjekt, das immer schon in Assoziationen verstrickt ist, also einem sozial-empirischen Subjekt. Es ist schon hinreichend erwähnt worden, dass hier andere Prämissen gesetzt werden. Soziale Assoziationen sind dadurch nicht ausgeschlossen. Sie werden aber zu einem erst zu arrangierenden Interaktionszusammenhang, der dann nicht dazuführt, dass die Subjekte in ihrer Subjektivität logisch hintergangen werden. Assoziationen bleiben das Andere des Subjekts. In einer freien Gesellschaft sollte es den Subjekten selbstverständlich frei stehen, Assoziationen zu gründen oder sich bestehenden Assoziationen anzuschließen. Für die Subjekte sind sie in dem Sinne sogar vorteilhaft, als solche Assoziationen Fremdreferenzen zur Verfügung stellen, die die Subjekte prozessieren müssen, wenn sie sich entwickeln möchten. Es braucht auch nicht in Zweifel gezogen zu werden, dass solche Assoziationen einen wichtigen Impuls für öffentliche Debatten oder die Wissensvermittlung übernehmen können. Deweys axiomatisches Gleichschalten von Subjekt und Assoziation lässt die Gemeinschaft allerdings konsequenterweise zur Bedingung für die Öffentlichkeit werden. Soweit kann eine subjekttheoretische Fundierung nicht gehen. Wenn Dewey schreibt: „Die Demokratie muss zu Hause beginnen, und ihr Zuhause ist nachbarschaftliche Gemeinschaft“ (Ebd.: 177), wird die Demokratie zu einem verlängertem Arm unmittelbarer intersubjektiver

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Kommunikationen. Dies korrespondiert mit Deweys Absage an die Vorstellung, die Demokratie sei als Ideal formuliert und dann in die Realität transformiert worden. Die subjektphilosophische Fundierung schließt hingegen an genau diese idealistische Geschichtstheorie an, die in formulierten Idealen einen Motor der gesellschaftlichen Entwicklung sieht. Die Differenzen zu Dewey mögen minimal sein. Aus ihnen folgt aber, dass es letztlich die Subjekte bleiben, die eine intakte Öffentlichkeit ermöglichen. Dass diese möglicherweise Interaktionen auf allen gesellschaftlichen Ebenen voraussetzt, mag Dewey zugestanden werden. Der Argumentationsgang ist aber genau andersherum: Die Öffentlichkeit impliziert als Ideal Kommunikationen, die durch vorurteilsfreies und methodisch gesichertes Wissen strukturiert sind. Um dies zu ermöglichen, sind die Subjekte aufgerufen, entsprechende Assoziationen gerade auch in ihrem Nahbereich zu gründen. Es bleibt aber eine empirisch offene Frage, ob die Subjekte diesem Aufruf folgen oder nicht. Deweys Argumentationsgang ist demgegenüber sicherlich optimistischer. Wenn die Subjekte ohnehin nur Subjekte sind, wenn sie in Assoziationen verstrickt sind, lässt sich dieses Subjektfundament zu einer demokratischen Gesellschaft mit einer intakten Öffentlichkeit weiterentwickeln. Wird dieses Fundament abgeschmolzen, kommt es auf die logisch nicht hintergehbaren Subjekte an, ob sie Fremdreferenzen prozessieren, die sich als nachbarschaftliche Assoziationen beschreiben lassen. Allein: Wenn sie dies nicht prozessieren, muss dies noch kein notwendiges Erodieren einer kritischen Öffentlichkeit bedeuten, die in der Lage ist, den öffentlichen Regelungsbedarf kooperativ zu gestalten. Das eine demokratisch gesinnte politische Einstellung eine Offenheit für wissenschaftliche Methoden und Erkenntnisse impliziert, ist nicht neu. Dies hatte sich bereits allgemein als Bildungsvoraussetzung für eine demokratische Partizipation aus den Diskussionen ergeben. Dewey fasst diesen Zusammenhang mit dem Hinweis auf die Wissenschaften fokussierter. Sein Anliegen ist dabei nicht, Meinungsverschiedenheiten wissenschaftlich zu entscheiden. Er weiß, dass auch unter der Ägide wissenschaftlicher Diskussionen unterschiedliche politisch-normative Positionen ihre Legitimität besitzen können. Es geht ihm darum, dass in öffentlichen Diskussionen beweisbare Argumente benutzt werden, und nicht Glaubenssätze, die schlichtweg nicht belegbar sind. Für die politische Einstellung des Subjekts heißt dies, dass es die Mühen auf sich nehmen muss, sich in welcher Form auch immer mit wissenschaftlichen Methoden und Erkenntnissen auseinanderzusetzen. Öffentliche Diskussionen, die auf Leidenschaften und Gewohnheiten basieren, formulieren keine Regeln, die intersubjektiv anschlussfähig gemacht werden können, wenn auf Zwang und Herrschaft verzichtet werden soll. Öffentliches Argumentieren entpuppt sich damit als hohe Anforderung an die Subjekte.

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Wie angedeutet lässt sich Deweys Gemeinschaftsorientierung nicht problemlos in den Kontext einer subjektphilosophischen Fundierung transferieren. Gemeinschaften sind nicht immer schon Teil des Subjekts, sie müssen durch Subjekte erzeugt werden, und sie bleiben diesen äußerlich. Aus einer rein politischen Perspektive stellt sich der Gemeinschaftsbezug freilich anders dar. Dewey hat sicherlich nicht Unrecht mit seinem Verweis darauf, dass demokratische Öffentlichkeiten auch in sozialen Nahräumen eine wichtige Rolle spielen oder spielen sollten. Solche Öffentlichkeiten zu ermöglichen und zu generieren, kann als Beitrag zu einer demokratischen Gesamtgesellschaft interpretiert werden. Für die politische Einstellung könnte daraus abgeleitet werden, dass die Subjekte zum Erhalt der Demokratie nicht allein auf die große Bühne überregionaler Politikzusammenhänge achten sollen, sondern sich auch in ihren direkten Interaktionen an demokratischen, mithin: wissensbasierten, Kommunikationsformen orientieren sollten. Ein Tyrann in Familienzusammenhängen, so ließe sich dies salopp illustrieren, ergibt einen schlechten Demokraten in gesellschaftlichen Zusammenhängen. Schärfer formuliert: Aus Deweys Überlegungen lässt sich für die politische Einstellung festhalten: Eine demokratische Orientierung gibt es nicht halbiert. Sie muss in allen öffentlichen Interaktionen als Leitfaden aktualisiert werden. Reagiert hatte Dewey auf ernüchternde Analysen bezüglich der Öffentlichkeit, wie sie etwa von Walter Lippmann vorgetragen wurden. Die Diskussion verläuft dabei nicht entlang der Linie, ob es in einer Demokratie eine Öffentlichkeit gibt oder geben sollte. Die Diskussion dreht sich darum, dass die optimistische Tendenz, grundsätzlich eine gestaltungsrelevante öffentliche Meinungsbildung generieren zu können, empirisch-analytischen Argumenten nicht standhält. Lippmann kommt dabei insofern einer konstruktivistischen Theoriebildung nahe, als er konstatiert, dass die Subjekte das für wahr halten, was sie glauben, was wahr ist. Sie handeln nach ihren Bildern der Wirklichkeit und nicht nach der Wirklichkeit selbst. Was sich als subjektiver Möglichkeitsraum einer kreativen Gestaltung der Wirklichkeit anhören mag, wird jedoch im politischen und zumal demokratischen Kontext problematisch. Die Subjekte werden anfällig für Symbole, die im Zweifel auch für manipulative Zwecke instrumentalisiert werden können. Hinzu kommt, dass mittels gezielter Zensur und Selektion von Nachrichten Propaganda betrieben werden kann, die eine unabhängige Meinungsbildung nicht mehr zulässt. Wenngleich diese Einsichten in die Steuerungsmöglichkeit der öffentlichen Meinungsbildung nicht neu sind, bleiben sie zweifelsohne brisant. Interessant an Lippmanns Argumentation ist aber vor allem, dass er dem demokratischen Gedanken die Notwendigkeit unterstellt, anzunehmen, dass es einen gemeinsamen Willen gibt, der eine öffentliche Meinungsbildung anschieben kann.

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Es gibt aber, und in diesem Punkt ist Lippmann zweifelsohne zuzustimmen, keine „Überseele“ oder ein „Kollektivbewusstsein“, das einen solchen gemeinsamen Willen begründen könnte. Es gibt keine kollektive Homogenisierung, sondern differente Überzeugungen und Interessen. Wenngleich Lippmann die Möglichkeit einer (oberflächlichen) Integration widerstreitender Ansichten über (oberflächliche) Symbole einräumt, zieht er generell den Schluss, dass die breite Bevölkerung einzig mit Ja oder Nein Stellung nehmen kann zu Vorschlägen, die von einer Minderheit erarbeitet wurden. „Es bleibt die wesentliche Tatsache, dass eine kleine Zahl von Köpfen einer großen Gruppe eine Auswahl vorlegt.“ (Lippmann 1922/1964: 163) Das sich bei ihm durchgängig zu findende Argument ist, dass die Subjekte problemlos in der Lage sind, Informationen, die eine begründete, auf Tatsachen beruhende Urteilsbildung ermöglichen, nur bezüglich ihres sozialen Nahbereiches generieren, sie aber scheitern, wenn es um Informationen über nationale oder globale Angelegenheiten geht. Die Presse, die hier Abhilfe schaffen könnte oder sogar müsste, kann nach Lippmann dieses Problem nicht ausgleichen. Aus strukturellen Gründen muss die Presse Nachrichten selektieren, sie kann immer erst berichten, wenn Ereignisse dokumentiert stattgefunden haben und sie muss, um ihre Leserschaft zu halten, einen Großteil ihrer Beiträge mit Berichten über politisch irrelevante Ereignisse wie „dem Sport, dem Film, den Schauspielerinnen, den Ratschlägen für Liebeskranke, Hochschulnotizen, Frauenseiten, Käuferseiten, Kochrezepten, dem Schach, Whist, Gartenbau, den Comic strips, der entsetzlichen Parteienwirtschaft“ (Ebd.: 227) ausfüllen. Anders formuliert: Sie muss ihre Leserschaft mit Informationen versorgen, die nicht dazu geeignet sind, eine politische Meinungsbildung aufgrund von Tatsachen und Informationen anzuregen und zu ermöglichen. Lippmann resigniert dann auch recht pessimistisch, wenn er empfiehlt, relevante Informationen für die politische Gestaltung den regierenden Institutionen und Akteuren vorzubehalten. „Der Außenstehende jedoch – und jeder von uns ist Außenstehender angesichts aller Aspekte des modernen Lebens, ausgenommen einiger – hat weder Zeit noch Aufmerksamkeit, noch Interesse, noch die Ausbildung für ein Fachurteil. Die täglichen Verwaltungsmaßnahmen der Gesellschaft müssen sich auf die im Inneren unter ordentlichen Bedingungen arbeitenden Menschen stützen.“ (Ebd.: 269). Es dürfte wenig umstritten sein, dass eine breite Beteiligung an der öffentlichen Meinungsbildung bestenfalls in politischen Ausnahmesituationen zu konstatieren ist. Lippmann legt den Finder in die Wunde moderner Demokratien. Ohne eine Öffentlichkeit, die durch eine unabhängige und argumentative Praxis konstituiert wird, verfehlen moderne Demokratie ihren eigentlichen Gehalt einer umfassenden Partizipation der betroffenen Subjekte. Sie mutieren dann zu jenem Zustand, den Lippmann empfiehlt: Eine auf eine kleine Gruppe

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von Subjekten beschränkte Entscheidungsfindung, der die breite Bevölkerung nur noch mit Ja oder Nein zustimmen kann. Die Partizipation an der politischen Gestaltung erschöpft sich auf das regelmäßige Austauschen des Führungspersonals. Lippmanns Hinweis darauf, dass die öffentlichen Medien diesen Umstand nicht zu korrigieren in der Lage sind, ist ebenfalls nicht ohne weiteres zu umgehen. Es lässt sich durchaus zeigen, dass nicht-politische oder nichtinformative Medieninhalte zu einem „Eskapismus“ (Vgl. dazu Kuhn 2000) führen können, der eine Beteiligung an öffentlichen Diskursen sinnlos erscheinen lässt. Und wenn ein großer Teil der Bevölkerung sich tatsächlich eher an Eskapismus fördernden Inhalten orientiert, fehlen ihnen relevante Informationen, die eine diskursive Urteilsbildung begründen könnten. Kurzum: Lippmanns Analysen deuten auf Probleme hin, die nicht wegzudiskutieren sind. Und sie lassen sich sogar noch dramatisieren. Bekanntermaßen hatten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ die Medien als ein Herrschaftsinstrument beschrieben, das selbst dann, wenn es im Gewande der Aufklärung auftritt, letztendlich zum „Massenbetrug“ wird, wie die beiden Autoren im Untertitel ihres Kapitels zur Kulturindustrie anmerken. Allein der Begriff der Kulturindustrie macht bereits deutlich, wo sie die Medien lokalisieren: im Gefüge einer kapitalistischen Verwertungslogik. Es geht nicht um die Qualität der Beiträge, es geht um Einschaltquoten und um damit verbundene Werbeeinnahmen. Doch dies allein macht den Kern ihrer Diagnose nicht aus. Sie sehen in den Medien ein Mittel zur Aufrechterhaltung der autoritären, kapitalistischen Gesellschaft. Dies werden sie dadurch, dass sie zum Einen konformistische und eskapismusfördernde Inhalte anbieten. „Vergnügtsein heißt Einverstandensein“, so Adorno und Horkheimer (1944/1987: 170) und die Medien bieten genau dieses Vergnügtsein an, das zur Flucht wird, „aber nicht, wie es behauptet, Flucht vor der schlechten Realität, sondern vor dem letzten Gedanken an Widerstand, den jene Realität noch übriggelassen hat.“ (Ebd.) Zum Anderen operiert die Kulturindustrie auf der formalen Ebene mit stetigen Wiederholungen, die die gesellschaftliche Realität als unveränderliche Realität erscheinen lassen. Die Konsequenz ist: „Bekämpft wird der Feind, der bereits geschlagen ist, das denkende Subjekt.“ (Ebd.: 175) Adorno merkt allerdings vor dem Hintergrund einer Untersuchung des Instituts für Sozialforschung an, die „Integration von Bewusstsein und Freizeit ist offenbar doch noch nicht ganz gelungen“ (Adorno 1969/1998: 655), und sieht darin eine „Chance von Mündigkeit“ (Ebd.). Dennoch bleibt sein Vermächtnis eine eher pessimistische Diagnose zumal dann, wenn seine Äußerungen zur Kulturindustrie in einem Zusammenhang mit seiner „Theorie der Halbbildung“ (Adorno 1959/1998) gebracht werden. Die Hoffnung darauf, dass über die Bildungsinstitutionen die Subjekte mit einer Bildung ausgestattet werden, die es

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ihnen ermöglicht, den Verblendungszusammenhang der autoritären Gesellschaft zu durchschauen, ist laut Adorno nämlich ebenfalls trügerisch. Es sind Subjekte mit Halbbildung, die zwar Namen oder einzelne Themen benennen können, aber nicht länger imstande sind, Zusammenhänge zu erkennen oder zu generieren. Und wenn Paul Konrad Liessmann (2006) Recht hat, verfügen die Subjekte nicht einmal mehr über Halbbildung, sondern verlieren ihre Chance auf Mündigkeit durch Bildung komplett, weil Halbbildung sich zur „Unbildung“ weiterentwickelt hat, die schließlich auch noch verächtlich mit Bildungsinhalten umgeht, die nicht verwertbar sind. Kurzum: Die Chance auf Mündigkeit und damit einer Öffentlichkeit, die in welcher Form auch immer gestaltend in das politische Prozedere eingreift, und die fundamentalen Freiheitsrechte verteidigt, ist angesichts einer anti-aufklärerischen Kulturindustrie und bildungshindernden Bildungsinstitutionen eine sehr geringe Chance. Es muss hier nicht darum gehen, breit zu diskutieren, ob diese Analysen empirisch zutreffend sind oder nicht. Anders formuliert: Es muss hier nicht darum gehen, zu zeigen, dass es Sendeformate gibt, die diesen totalen Verblendungszusammenhang durchbrechen, und Bildungsinstitutionen, die nach wie vor Bildung im Sinne von Aufklärung und Mündigkeit vermitteln. Es muss auf der anderen Seite auch nicht darum gehen, zu zeigen, dass sich die Verblendungsprozesse in der Kulturindustrie noch verschlimmert haben durch Sendeformate, die nicht einmal mehr davor zurückschrecken, Kandidaten und Kandidatinnen vor laufender Kamera zu denunzieren und zu diskriminieren, und auf diese Weise eine menschenverachtende Logik präsentieren. Unbezweifelbar lassen sich Tendenzen in den Medien und den Bildungsinstitutionen beobachten, die sich als Anregung zur Entmündigung beschreiben lassen. Mit der Prämisse eines logisch nicht hintergehbaren Subjekts soll aber vor allem ein Umstand betont werden: Grundsätzlich hat das Subjekt die Fähigkeit sich zu bilden und eine Mündigkeit zu erreichen, die auch vor der Präformierung durch die Kulturindustrie zu schützen vermag. Nichtsdestotrotz müssen die Hinweise auf den Versuch einer Steuerung der Öffentlichkeit durch die Medien oder ein Unterlaufen der Mündigkeitsentwicklung durch die Bildungsinstitutionen ernst genommen werden. Eine demokratische Öffentlichkeit darf sich nicht darauf beschränken, dass politische Prozedere zu fokussieren. Sie muss gegenüber allen möglichen Einflussnahmen hinreichend sensibel sein, um zu verhindern, dass die Öffentlichkeit von Subjekten gestaltet wird, die sich empirisch tatsächlich nur noch als „Anhängsel der Maschinerie“ (Adorno 1963/1997: 337) beschreiben lassen. Ein möglicher Ausweg aus den Problemen einer Massengesellschaft, die sich unter Umständen massenmedial steuern lässt, ist die Idee der Dezentralisierung. Sie steht im Zentrum der Sozialphilosophie von Friedrich A. Hayek. Dabei

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ist es nicht so sehr eine genuin politische Stoßrichtung, die seinem Ansinnen zugrunde liegt. Hayeks Prämisse ist vielmehr die grundsätzliche Beschränktheit des subjektiven Verstandes bezüglich der Erkenntnis einer komplexen Gesellschaft. Die präsumierte Grundannahme, die subjektive Vernunft könne die Gesellschaft zum Wohl Aller einrichten, ordnet er dem französischen Rationalismus zu. Dieser habe einen Konstruktionsplan für die Gesellschaft im Sinn gehabt und die Folgen waren fatal. Ob es der Terror der Jakobiner war oder die Verbrechen der Stalinisten, ihnen liegt die Überzeugung zugrunde, es gäbe ein Wissen über die Gesamtgesellschaft, das es ermöglicht diese nach Vernunftprinzipien einzurichten, und ein solches Wissen legitimiere die Herrschenden auch dazu, im Namen dieser Vernunftprinzipien Gewalt und Unterdrückung anzuwenden. Hayek (etwa 1945/2002, 1966/2002) hält dem nicht entgegen, dass sie die falschen Vernunftprinzipien entwickelt hatten. Er hält ihnen entgegen, dass der Glaube, es könne ein Wissen über die Gesellschaft geben, ein Irrglaube ist. Bestätigt sieht er sich dabei vom angelsächsischen Empirismus. Dieser gehe zwar davon aus, dass die Subjekte eine Menge Wissen können, jedes Subjekt aber etwas anderes weiß, und kein individuelles Wissen hinreicht, um die Gesellschaft in ihrer Komplexität zu erfassen. Der Unterschied ist dann, dass die französisch-rationalistischen Subjekte am Reißbrett ihre Pläne entwerfen, während die angelsächsisch-empiristischen Subjekte kulturevolutionär auf den Pfaden eines „trial and error“-Prinzips lernen, ohne jemals ein absolutes Wissen zu erlangen. Die politische Pointe hinter dieser Lesart des französischen und des angelsächsischen Denkens ist, dass es keine Institution oder Organisation geben darf, die die freien Individuen unterdrückt. In seinem Buch „Der Weg zur Knechtschaft“ (Hayek 1944/2004) hatte er das Schreckensgespenst einer total kontrollierten Gesellschaft entworfen, das er einerseits (und sicherlich zu Recht) auf die Sowjetunion projiziert, das ihm aber andererseits bei jeglicher Einmischung in die Prozesse des freien Marktes droht. Denn darum geht es ihm: die freie Marktwirtschaft. Sie fußt auf dem angelsächsischen Denken und setzt die individuierten Subjekte frei von gesellschaftlicher Bevormundung. Sie arrangiert auf diese Art und Weise Synergieeffekte, aus denen Institutionen und Regeln hervorgehen, die niemand bezweckt oder geplant hatte, die aber den freiheitlichen Bestrebungen der Subjekte angepasst sind. Hayek favorisiert die Idee einer spontanen Ordnung, die sich aus dem nicht-intendierten Zusammenspiel der jeweiligen Einzelhandlungen zwanglos ergibt (Horn 2013). Er räumt zwar ein, „dass die Menschen diese Regeln entwickelt haben, ohne ihre Funktion zu verstehen“ (Hayek 1970/2004: 24), wägt diesen Nachteil aber gegen den großen Vorteil des Freiheitsgewinns ab. Das bedeutet nicht, dass Hayek die staatliche Verfasstheit der Gesellschaft negieren würde. Anders als sein prominenter Vordenker Adam Smith, rekurriert Hayek nicht mehr auf das

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Naturparadigma, so dass die Marktwirtschaft als Ergebnis einer natürlichen Entwicklung gelten könnte. Sie muss durch staatliche Arrangements entfaltet und gerahmt werden, sodass es nicht um ein radikales Laissez-faire geht, sondern um die evolutionäre Entwicklung von Regeln, die die Freiheit und insbesondere die wirtschaftliche Freiheit nicht einschränken, die aber im Sinne des Rechtsstaatsprinzips dafür sorgen, dass ein marktwirtschaftliches Handeln möglich wird (zur Entwicklung des liberalistischen Denkens vgl. Foucault 1978–79/2017). Unmittelbar einsichtig ist, dass Hayek als Wirtschaftsdenker ein Antipode zu Marx ist. Während dieser in der Marktwirtschaft Krisen, Pauperismus und selbstzerstörerische Tendenzen am Werk sieht, sieht Hayek in der Marktwirtschaft die Chance auf Freiheit, allgemeinen Wohlstand und die Entstehung einer spontanen Ordnung, die niemand gewollt hat, mit der aber alle zufrieden sein können. Dahinter steht das im Wirtschaftsliberalismus fundierende Prinzip, dass aus isolierten Einzelhandlungen, wenn diese nur frei sind, im Ergebnis eine Ordnung entsteht, in der sich alle wieder finden können. Eine Ordnung zum Wohle Aller ist mitnichten das Ergebnis einer gesellschaftssteuernden Institution oder einer moralischen Kooperation der Subjekte. Freie Subjekte mögen moralisch sein bzw. sein wollen. Sie mögen sogar im hohen Maße altruistische Motive verfolgen. Eine gute Ordnung entspringt dem nicht. Bernard Mandeville (1705/1980) hatte dies mit seiner „Bienenfabel“ anschaulich illustriert. Solange die Subjekte ihre egoistischen Interessen verfolgen, kommt es im Endergebnis zu einer gerechten Ressourcenverteilung und vor allem: zur Freiheit. Fangen die Subjekte an, ihrem Handeln moralische oder altruistische Motive zugrunde zu legen, verfällt die Gesellschaft. Die Marktwirtschaft nun leistet genau dies: Sie erlaubt die je individuelle Interessensverfolgung und sie führt damit zu einer freiheitlichen Ordnung. Das Prinzip, dass es zum Wohl Aller gereicht, wenn alle ihre Interessen verfolgen, kann freilich nicht mehr sein als ein Dogma. Hansjörg Klausinger (2013: 50) merkt zu Recht an: „Die Möglichkeit, dass Marktkräfte in bestimmten Situationen nicht spontane Ordnung, sondern Chaos, gescheiterte statt erfolgreiche Koordination herbeiführen können, ist nicht von vornherein auszuschließen.“ Es darf hinzugefügt werden: Es ist nicht nur nicht auszuschließen, es lässt sich empirisch demonstrieren, dass es in der Geschichte der Marktwirtschaft tatsächlich immer wieder zu krisenhaften Zuständen gekommen ist. Marx (und Keynes (1936/2009) würde dem zustimmen) hat mit seiner These eines krisenhaften Verlaufes der marktwirtschaftlichen Entwicklung also sicher nicht vollkommen Unrecht (Vgl. auch Ötsch 2009, Brodbeck 2011). Es ist hier nicht der Ort, die genuin wirtschaftstheoretischen Fragen nach der Stabilität des Marktes zu diskutieren. Das Insistieren auf der freien Marktwirtschaft durch Hayek fokussiert die Idee der Freiheit, die durch Abstinenz einer

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gesellschaftlichen Kommandoinstitution gesichert werden soll. „Wenn unter Kapitalismus“, so Hayek (1938/2004: 151), „eine Gesellschaftsordnung verstanden wird, in der Privateigentum an den Produktionsmitteln und einigermaßen freie Konkurrenz besteht, so ist zu sagen, dass nur unter einem kapitalistischen System in diesem Sinne Demokratie bestehen kann, weil nur so sich ausgedehnte Planung durch den Staat vermeiden lässt.“ Der liberale Staat wird nicht nur verpflichtet, sich bezüglich der ethisch-moralischen Orientierung der Subjekte und der Ausdifferenzierung einer geschützten Privatsphäre zu enthalten, er darf vor allen Dingen nicht in die Angelegenheiten der Wirtschaftssubjekte eingreifen, indem er etwa bestimmte Produktionen, Preise oder Subventionen festsetzt. Eine Ausnahme stellt die Produktion von Gütern dar, die sich sinnvollerweise nicht über den Markt erzeugen lassen, die aber von allgemeinem Interesse sind. Zu denken wäre hier etwa an die Bereitstellung einer Infrastruktur oder die innere und äußere Sicherheit. Auch in diesem Fall muss allerdings gewährleistet bleiben, dass die Bereitstellung dieser Güter durch den Markt eine Option bleibt, und dass die staatliche Finanzierung solcher Güter über eine einheitliche Besteuerung erfolgt, die nicht in den Modus einer Umverteilung von Ressourcen verfällt. Die wichtigste Aufgabe des liberalen Staates ist und bleibt aber für Hayek die Organisation der Rechtssicherheit und der Marktfreiheit. „Als Schiedsrichter, der dafür sorgt, dass die Regeln des Spiels des Marktes eingehalten werden, ist der Staat gewiss unentbehrlich.“ (Hayek 1978/2002: 220). Dass der Staat, um diese Aufgaben in einem freiheitlichen Sinne ausüben zu können, geeigneterweise eine demokratische Form annehmen sollte, ist für Hayek eine ausgemachte Sache. Die Besonderheit seines Demokratieverständnisses liegt nun darin, dass er nicht so sehr den republikanischen Gedanken der Volkssouveränität stark macht, sondern die Idee des Rechtsstaates – mithin der Menschenrechte. Vor jegliches politische Prozedere stellt Hayek die Absicherung der Subjekte mit unveräußerlichen Rechten, die auch durch volkssouveräne Entscheidungen nicht ausgehebelt werden können. Bei der Besprechung Rousseaus war oben angemahnt worden, dass Rousseau für eine Kritische Theorie den Gedanken einer radikalen Demokratie beisteuern kann. Hayek warnt davor, den Gedanken der Volkssouveränität maßlos zu überspannen. Es ist hier aber nicht die Angst vor einer Bevölkerungsmehrheit, die im Zweifel für wirtschaftspolitische Interventionen des Staates oder gleich ganz für die Überwindung der Marktwirtschaft votieren könnte. Es ist der nicht unbegründete Hinweis darauf, dass einer menschenrechtlich losgelösten Volkssouveränität die Gefahr inhäriert, durch Mehrheitsentscheide fundamentale Rechte der Subjekte zu schleifen. Ein Referendum über den Bau einer Moschee würde bei einem Negativvotum dazu führen, dass das Recht auf Religionsfreiheit aufgehoben wird. Ein Referendum

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über die Straffreiheit homosexueller Orientierungen würde bei einer Ablehnung der Straffreiheit grundlegende Freiheiten der Subjekte auf ihre Selbstbestimmung und -verwirklichung unterlaufen. Und schließlich: Ein mehrheitlicher Beschluss zur Einführung der Todesstrafe würde das Recht auf Leben suspendieren. Hayek fordert also nicht zu Unrecht ein, dass die Subjekte über unveräußerliche Rechte verfügen müssen, gerade auch darum, damit sie an den öffentlichen Diskursen und Abstimmungen in freier Weise teilnehmen können. Für konkrete Gesetzesvorhaben bedeutet dies, dass Gesetze grundsätzlich allgemein sein müssen und keine Partikularinteressen sanktionieren dürfen, und dass Gesetze negativ als Verbote formuliert werden müssen, und nicht als positive Handlungsgebote. Was Hayek damit auf den Punkt bringt, ist letztlich die klassisch liberalistische Idee einer reziproken Freiheitsgewährung durch die Subjekte, die einen möglichst großen Freiheitsraum zur Verfügung stellt, die Freiheitsgrenze der einzelnen Subjekte aber im Zweifelsfall auch mit Zwangsandrohungen oder –maßnahmen sichert. Hayek steht auf der Seite eines negativ gedachten Freiheitsbegriffes. Sein politisches Anliegen gilt der Abwehr von Bevormundungs- oder Herrschaftsansprüchen gegenüber den individuierten Subjekten. Dass eine Demokratie gut daran tut, ihre Subjekte mit entsprechenden Rechten auszustatten, ist bereits als wichtiger Beitrag für eine Kritische Theorie gewürdigt worden. Dass Hayek freilich die Demokratie als volkssouveränes Prozessieren in die zweite Reihe rückt, hat einen Beigeschmack. Sie fällt bei ihm merkwürdig unter die Räder einer rein negativ verstandenen Freiheit. Demokratie im Liberalismus ist denn auch meistens nur gedacht als periodisches Austauschen des Führungspersonals (etwa Schumpeter 1942/2005; Popper 1945/2003a,b). Das ist im Hinblick auf eine umfassende Emanzipation sicherlich zu wenig. Demokratie muss eben auch bedeuten, dass die Subjekte zu jeder Zeit diskutieren und beschließen können, wie sie (zusammen) leben möchten. Dass dabei mit den fundamentalen (Menschen-)Rechten eine Grenze des kollektiv Machbaren gezogen wird, fügt dem keinen Abbruch zu, zumal dann, wenn im Sinne der Selbstreflexion auch die fundamentalen (Menschen-)Rechte grundsätzlich in den Sog einer diskursiven Problematisierung gezogen werden können. Politisch brisanter dürfte Hayeks Zurückweisung des Gerechtigkeitsgedanken wiegen. Es braucht nicht lange diskutiert zu werden. Vorstellungen einer egalitären oder distributiven Gerechtigkeit im Rahmen einer freien Marktwirtschaft sind nur über staatliche Eingriffe in die freie Wirtschaftsentfaltung der Subjekte möglich. Hayek sieht daher in dem Ruf nach Gerechtigkeit den Ruf nach einer Staatsaktivität, die letztlich die Freiheit des Subjekts untergräbt bzw. notwendig untergraben muss. Gerechtigkeit kann es für Hayek nur in der

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rechtlich-politischen Sphäre geben als egalitäre Verteilung von Rechten. Wie gesehen, hatte Marx darauf aufmerksam gemacht, dass Armutsverhältnisse die Inanspruchnahme von gleichen politischen Rechten gefährden kann, und sich aus sozialer Ungleichheit Herrschaftsverhältnisse entwickeln können. Für Hayek stellt dies kein sinnvolles Argument dar. Das höchste Gut ist die Freiheit, und Freiheit kann Armut nicht verhindern. Armut könnte nur mit paternalistischen Zwangsmaßnahmen seitens des Staats korrigiert werden, und wer diesen Weg beschreitet, findet sich an dessen Ende in einem totalen Staat, in der Knechtschaft wieder. Nun mag das eindringliche Insistieren auf die Freiheit gerade auch im Angesicht der Zeitumstände Hayeks seine Berechtigung haben. Genauso berechtigt sind aber Anliegen, die Armut und durch soziale Ungleichheit bedingte Herrschaftsverhältnisse überwinden wollen. Dazu ist es im Gegenzug aber im Hinblick auf eine umfassende Emanzipation wenig hilfreich, wenn im Namen von Gerechtigkeit salopp mit dem Freiheitsideal umgegangen wird, oder wenn schlichtweg der Freiheitsbegriff so modelliert wird, dass Eingriffe in eine negativ verstandene Freiheit legitim werden. Der Disput, den Hayek zwischen (negativer) Freiheit und Gerechtigkeit eröffnet, sollte vielmehr als das gesehen werden, was er ist: Ein Disput innerhalb des von Hayek gesetzten Rahmens der Marktwirtschaft. Wird dieser Rahmen verlassen oder substituiert, stellen sich die Fragen anders dar. Nun ist es nicht so, dass Hayek jegliche Zwangsmaßnahme ablehnt. Jede Freiheit findet ihre Grenze an der Freiheit Anderer. Was Hayek vor allem im Sinn hat, ist die Freiheit der marktwirtschaftlichen Unternehmeraktivität, die nicht im Name von sozialen Gerechtigkeitsvorstellungen beschnitten werden darf. Es kann Hayek analytisch zugestanden werden, dass im Rahmen einer freien Marktwirtschaft das Durchsetzten von sozialen Gerechtigkeitsvorstellungen ohne Freiheitsbeschränkungen – allem voran der Freiheit auf Eigentum – nicht zu haben ist. Dass sich dann notwendig eine Diktatur entwickelt, ist empirisch wohl als Fehleinschätzung zu bewerten, wie die Nachkriegsjahre in Europa gezeigt haben.2 Dennoch bleibt die analytische Spannung zwischen Freiheit und Gerechtigkeit. Wenn der Freiheit dabei ein so großer Wert eingeräumt wird, und dieser Wert von dem Rahmen der freien Marktwirtschaft abhängt, verschiebt sich die Frage dahin gehend: Ist die von jeglicher Staatsaktivität freie Marktwirtschaft überhaupt eine

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Gegenteil drohen autoritäre Tendenzen wieder verstärkt seit sich die Staaten in den 90er Jahren zunehmend aus der Regulierung der Wirtschaft zurückgezogen haben.

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Ordnung, die eine umfassende Freiheit ermöglicht, sodass sie auch um den Preis von Armut und sozialer Ungleichheit in jedem Fall zu präferieren ist. Hayek selbst räumt eigentümlicherweise ein: „In jeder komplexen Gesellschaft, in der die Auswirkungen der Handlung eines jeden viel weiter reichen als der mögliche Bereich seiner Einsicht, ist es notwendig, dass sich der Einzelne den anonymen und anscheinend irrationalen Kräften der Gesellschaft unterordnet – eine Unterordnung, die nicht nur die Anerkennung von Verhaltensregeln in sich schließt, ohne zu prüfen, was im Einzelfall von ihrer Befolgung abhängt, sondern auch die Bereitschaft, sich an Änderungen anzupassen, die sich möglicherweise sehr weitgehend auf Erfolge und Aussichten auswirken und deren Ursache ihm vielleicht völlig unverständlich sind.“ (Hayek 1945/2002: 25) Übersetzt in eine marxistische Ausdruckweise würde dies bedeuten: Die Subjekte müssen sich in einer Marktwirtschaft anonymen Marktprozessen unterordnen. Ob dies mit einem emphatischen Freiheitsbegriff kompatibel ist, kann und soll an dieser Stelle nicht entschieden werden. Soviel kann aber gesagt werden: Die Subjekte in einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung müssen das Recht haben, darüber zu diskutieren, ob sie einem marktwirtschaftlichen Arrangement den Vorzug geben wollen. Entscheiden sie sich dafür, können sie bei Hayek fündig werden, welche Konsequenzen das für die politische Einstellung bedeuten kann. Sie müssen dafür Sorge tragen, die staatliche Aktivität zu begrenzen, und dies impliziert auch jene Staatsaktivität die zugunsten einem Mehr an sozialer Gerechtigkeit ausgeübt wird, wenn dadurch die grundlegenden Freiheiten beschnitten werden. Wie bei Marx müssen sie also als politisches Subjekt auch die wirtschaftlichen Verhältnisse im Auge behalten. Der Kampf um die Freiheit findet dann nicht nur im Spannungsverhältnis zur Sicherheitspolitik statt, sondern auch im Spannungsverhältnis zur Sozial- und Wirtschaftspolitik. Politik, so ließe sich überspitzt formulieren, ist immer auf einen gesamtgesellschaftlichen Regelungsbedarf bezogen. Sie kann sich nicht auf eine reine Ordnungspolitik, die der Sicherheitsfunktion genügt, zurückziehen. Der Kampf um die Freiheit sollte aber nicht nur gegen Bedrohungen aus politischen oder gesellschaftlichen Strukturen ausgefochten werden, sondern fundamentaler. Dies jedenfalls, wenn es nach Richard Rorty geht. Er argumentiert immer wieder gegen jegliche Form der Fundamentalphilosophie, Ontologie oder der Annahme von Essenzen bzw. Wesenheiten (exemplarisch Rorty 2000: 241– 355). Er steht damit in der Traditionslinie, die oben bereits angesprochen worden war: Es gibt keine erkennbare Natur des Menschen, die eine politische Philosophie fundieren könnte. Rorty schreibt die Deanthropologisierung der politischen Philosophie fort. Und nicht nur dies. Er gibt auch den klassischen Wahrheitsbegriff auf. Es wäre sicherlich unredlich, Rorty dem radikalkonstruktivistischen Paradigma zuzuordnen, das der hier verfolgten Subjektphilosophie zugrunde liegt. Rorty

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selbst stellt sich vornehmlich in die Tradition des Pragmatismus – insbesondere des Pragmatismus von Dewey. Dennoch kommt er zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Anstelle von objektiver Wahrheit im Sinne einer Korrespondenz oder Adäquatio zu sprechen, möchte Rorty die Analyse des Wahrheitsbegriffes lieber aufgeben, und auf die Begrifflichkeit der Kontingenz umstellen. Wahrheit, so Rorty, ist in der Sprache lokalisiert, und weil diese von Subjekten gemacht ist, ist auch die Wahrheit immer eine gemachte Wahrheit, wobei das Machen unterschiedlichen Kontingenzen unterliegt. Was als Wahrheit gilt und was nicht, ist keine Frage der Übereinstimmung des Gesprochenen mit einer objektiven Welt. Es ist für Rorty eine Frage der Rechtfertigung. Damit kommt Rorty nicht nur dem radikalkonstruktivistischen Paradigma entgegen. Er liefert auch Schützenhilfe für das Projekt einer Kritischen Theorie. Bereits Adorno (1956/1998, 1966/1998) war gegen jegliche Form der Ontologisierung ins Feld gezogen, und dies, wie vermutet werden darf, aus gutem Grund. Kritische Theorie, die auf einer Veränderung der Gesellschaft hinaus möchte, muss die Möglichkeit von Veränderung zumindest theoretisch denken können. Ontologien, die mit einer geschichtsphilosophischen Wahrheit, dem Wissen über die Natur des Menschen oder der objektiv erkennbaren Unveränderbarkeit gesellschaftlicher Institutionen operieren, erreichen vor allem eins: Sie unterwerfen das Subjekt einer subjektlosen Essenz und machen jegliche Hoffnung auf eine allgemeine Emanzipation zunichte. Wenn Rorty also seine Überlegungen zur politischen Philosophie auf den Boden des Kontingenzdenkens stellt, leistet er einen gewichtigen Beitrag dazu, die Möglichkeiten einer freiheitlichen Gesellschaft auszuloten. Der Liberalismus, den er dabei im Sinne hat, ist keiner, der wie in der klassischen Aufklärungsperiode durch naturrechtliche Gedankenspiele zu fundieren wäre. Rorty teilt das grundsätzliche liberalistische Plädoyer, „allen eine Chance zur Selbsterschaffung – je nach ihren Möglichkeiten – zu geben“ (Rorty 1992: 145), und er geht davon aus, dass dies durch die Gewährung „der üblichen bürgerlichen Freiheiten“ (Ebd.) erreicht wird. Er trennt aber seinen politischen Liberalismus von jeder philosophischen Begründung ab, so dass der Liberalismus nicht damit aufwarten kann, näher an den Ideen des Wahren oder Guten zu sein. Es ist schlichtweg ein Kampf um die liberale Grundordnung, und Rorty beansprucht auch nicht, politisch oder philosophisch neutral zu sein. Er ist ein liberaler Denker, der weiß, dass er für eine liberale Gesellschaft streiten muss. Wenn nämlich der Grundgedanke der ist, dass eine liberale Gesellschaft „sich damit zufrieden gibt, das >  > wahr