Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution: Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts [1 ed.] 9783428495771, 9783428095773

Im Gefolge der Revolutions- und Befreiungskriege am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat sich ein grundle

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Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution: Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts [1 ed.]
 9783428495771, 9783428095773

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JOHANNES KUNISCH / HERFRIED MÜNKLER (Hrsg.)

Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 110

Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts

Herausgegeben von Johannes Kunisch und Herfried Münkler

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution : Studien zum bellizistischen Diskurs des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts / hrsg. von Johannes Kunisch und Herfried Münkler. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Beiträge zur politischen Wissenschaft; Bd. 110) ISBN 3-428-09577-4

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-09577-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §

Vorwort Es bedarf sicherlich keiner Erläuterungen, daß sich im Gefolge der Revolutionsund Befreiungskriege am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein grundlegender Wandel in der Handhabung und Einschätzung des Krieges vollzogen hat. Ältere Historiker wie Hans Rothfels, Eberhard Kessel und Werner Gembruch haben diese Neubewertung herausgearbeitet; neuerdings sind gewichtige Untersuchungen von Gunther E. Rothenberg, Peter Paret, Geoffrey Best oder Azar Gatt hinzugekommen, die in immer weiter differenzierender Weise den epochalen Wandel dieser Umbruchszeit unter militärischen, sozialen und politischen Aspekten unterstrichen haben. Auch die beiden Moderatoren dieses Kolloquiums haben sich an dieser Debatte beteiligt. Auf den ersten Blick mag es demnach erscheinen, als wenn die "Enthegung des Krieges" (Herfried Münkler) durch die Französische Revolution keine Fragen von grundsätzlicher Bedeutung mehr aufwirft. Bemerkenswert ist jedoch, daß sich der Wandel von der gezähmten zur entfesselten Bellona in einer Generation vollzogen hat, die noch ganz von den Humanitätsidealen der Aufklärung und dem mechanistischen Weltbild des Rationalismus geprägt war. Unter welchen politischen und geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, so ist zugespitzt zu fragen, war es möglich, daß man sich in wenigen Jahrzehnten von der Gewißheit, den ewigen Frieden stiften zu können, abwandte und den Krieg als moralische Anstalt wiederentdeckte und zu rechtfertigen versuchte. Dabei erweist sich bei genauem Hinsehen, daß es nicht die Französische Revolution und die in ihrem Gefolge geführten Kriege allein gewesen sind, die diese Enthegung des Krieges zustande brachten. Vielmehr kann es nach den weit ausholenden begriffsgeschichtlichen Untersuchungen von Wilhelm Janssen als erwiesen gelten, daß sich bereits vor der Revolution und besonders auch in Deutschland ein neuer Bellizismus herauszubilden begann, der zahlreiche Argumente lieferte, deren man sich dann in der patriotisch aufgeladenen Debatte der Befreiungskriege bedient hat. Die Wurzeln für den nachrevolutionären Bellizismus liegen also im ancien regime und sind offensichtlich jenem Phänomen zuzuordnen, das als "Dialektik der Aufklärung" bezeichnet worden ist. Diesem politiktheoretischen und geistesgeschichtlichen Problemfeld hat sich das hier zu dokumentierende Kolloquium zugewandt. Dabei wurde vor allem der Versuch unternommen, den Übergang vom bellizistischen Diskurs des vorrevolutionären 18. Jahrhunderts zur Apologie des Krieges zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu analysieren. Dieser Umwertungsprozeß weist zahlreiche Zwischenstufen und Übergänge auf, die trotz Janssens bahnbrechendem Grundbegriffs-Artikel noch weitgehend unerforscht sind. Insofern hat die Tagung Aspekte aufgegriffen und

Vorwort

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zur Sprache gebracht, die bisher zu wenig beachtet worden sind. Geplant war aber darüber hinaus, auch die grundsätzliche Frage zu diskutieren, unter welchen Voraussetzungen eine rational beherrschbare Konstellation unter rivalisierenden Mächten, wie sie sich im ancien regime etwa mit dem Gleichgewichtsprinzip abzuzeichnen schien, in Konfrontationen umschlagen konnten, die neue, besonders auch kriegerische Energien freisetzten und in ein Chaos führten, wie es einer der Aufklärung verpflichteten Mächtepolitik unvorstellbar war. Der Wandel von der Vorstellung des ewigen Friedens zur Apologie des Krieges vollzog sich bekanntermaßen in einer Epoche, die bereits durch einen breiten öffentlichen Diskurs und eine entsprechend weitgefächerte Publizistik gekennzeichnet ist. Insofern erschien es unerläßlich, neben den beiden unmittelbar zuständigen Disziplinen der Historie und der Politikwissenschaft auch die philosophischen, publizistischen und literarischen Aspekte des Themas angemessen zu berücksichtigen und darüber hinaus einen Rahmen zu schaffen, in dem ein wirklich interdisziplinäres Gespräch möglich erschien. So kamen auch Dichter wie Theodor Körner oder Heinrich von Kleist zur Sprache, die die neue Auffassung vom Krieg literarisch verarbeitet und zu einer ästhetischen Überhöhung kriegerischer Leidenschaften beigetragen haben. Darüber hinaus sollte wenigstens an einigen Beispielen die Frage aufgeworfen werden, ob auch in anderen Epochen der Krieg in einer moralischen Funktion gesehen und als Medium eines gesellschaftlichen Wandels betrachtet worden ist. Angesichts der Fülle der zu behandelnden Themen mußte indes darauf verzichtet werden, auch die Fortentwicklung des nachrevolutionären Bellizismus in angemessener Weise zu berücksichtigen. Im übrigen ist anzumerken, daß nicht alle in Berlin gehaltenen Referate in diesen Sammelband aufgenommen werden konnten. Zu danken haben wir der Fritz-Thyssen-Stiftung und der seitens der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Forschergruppe "Gesellschaftsvergleich" der Humboldt-Universität Berlin für jeweils namhafte Zuschüsse zu den Tagungskosten und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, die uns ihre Räume zur Verfügung gestellt hat. Der redaktionellen Einrichtung der Manuskripte und der Korrekturen haben sich Frau Stephanie Blankenhorn und Herr Dr. Michael Kaiser, beide Köln, angenommen. Das Register hat Frau Andrea Kostolnik, ebenfalls Köln, angefertigt. Allen haben wir für ihre umsichtige und kompetente Mitarbeit an der Fertigstellung dieser Tagungsdokumentation herzlich zu danken. Johannes Kunisch Köln

Herfried Münkler Berlin

Inhaltsverzeichnis Die Rechtfertigung des Krieges durch die Hofchronisten im spätmittelalterlichen Deutschland Von Rolf Sprandel, Würzburg Die Poetik der Schlacht und die Prosa des Krieges. Nationalverteidigung und BÜfgermiliz im moralphilosophischen Diskurs der schottischen Aufklärung Von Matthias Bohlender, Berlin .....................................................

17

Johann Valentin Embser und der vorrevolutionäre Bellizismus in Deutschland Von Wilhelm Janssen, Bonn .........................................................

43

Die Denunzierung des Ewigen Friedens. Der Krieg als moralische Anstalt in der Literatur und Publizistik der Spätaufklärung Von Johannes Kunisch, Köln ........................................................

57

,,Freiheit oder Tod". Zur Heroisierung und Ästhetisierung von Krieg und Gewalt in der Ikonographie der Französischen Revolution Von Hans-Ulrich Thamer, Münster ..................................................

75

Die Darstellung des Krieges in der Kunst Von Peter Paret, Princeton ..........................................................

93

Goethe in Valmy Von Wilfried von Bredow, Marburg .................................................. 113 ,,People's War or Standing Arrny?" Die Debatte über Militärwesen und Krieg in den Vereinigten Staaten von Amerika im Zeitalter der Französischen Revolution Von Jürgen Heideking, Köln ........................................................ 131 Scharnhorst und die militärische Revolution Von Michael Sikora, Münster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

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Inhaltsverzeichnis

Die Entgrenzung des Krieges bei Clausewitz Von Andreas Herberg-Rothe, Ebersburg ............................................. 185 Rühle von Lilienstern und seine Apologie des Krieges Von Jean-Jacques Langendoif, Droß ................................................ 211 Das Bild des Krieges bei den deutschen Philosophen Von Massimo Mori, Turin ........................................................... 225 "Wer sterben kann, wer will denn den zwingen" - Fichte als Philosoph des Krieges Von Her/ried Münkler, Berlin ..................... . .................................. 241 Jean Pauls Friedens-Predigt. Die Ästhetisierung des Krieges in den ,,Politischen Schriften" Von Peter J. Brenner, Köln .......................................................... 261 Der Krieg und die Poeten. Theodor Körners Kriegsdichtung und ihre Rezeption im Kontext des reformpolitischen Bellizismus der Befreiungskriegslyrik Von Ernst Weber, München .......................................................... 285 Funktionale Barbarei. Heinrich von Kleists "Kriegstheater" und die Politik des Zivilisationsabbaus Von Andreas Dörner, Magdeburg .................................................... 327 Register ............................................................................... 351

Die Rechtfertigung des Krieges durch die Hofchronisten im spätmittelalterlichen Deutschland Von Rolf Sprandel, Würzburg I. Gegenwärtig ist uns die Überlieferung der Hofgeschichtsschreibung von 45 reichsunmittelbaren Fürsten, einschließlich Bischöfen, Äbten und Grafen bekannt'. Hofbistoriographie ist eine der zahlreichen Gattungen der spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung. Am nächsten kommt dieser Gattung wohl die der Landesgeschichte, von der sie aber auch zu unterscheiden ist. Die Abgrenzung der Hofbistoriographie von Landesgeschichte ist besonders bei jenen Werken deutlich, die entweder von einer Weltgeschichte zur Landesgeschichte verengt oder von einer Landesgeschichte zu einer Weltgeschichte ausgeweitet werden, wie es etwa das Beispiel der Thüringischen Weltgeschichte des Johannes Rothe zeigt 2 . Ebenfalls deutlich abgrenzbar von Hofbistoriographie ist jene Landesgeschichte, die einen ethnographischen Ansatzpunkt und dabei eine in die Antike zurückgehende literarische Tradition vertritt. Ein Beispiel dafür bieten die Werke des Albert Krantz 3 . Wenn man die Rolle des Krieges in der spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung studiert, muß man auch die Frage stellen, ob dieser oder jener Krieg Objekt einer Monographie geworden ist, die mit den großen Kriegsmonographien der Antike vergleichbar wäre. Nach Vorläufern, die ungefähr in diese Kategorie einzuordnen wären; wie die Werke Nithards und Richers, ist vor allem an die Kreuzzugsgeschichtsschreibung zu erinnern. Im Spätmittelalter ist eine Erneuerung der Kriegsmonographie aus zwei verschiedenen Quellen zu beobachten: aus der Stadtgeschichtsschreibung und der Hofgeschichtsschreibung. Ein anonymer Kleriker am Hof des Hochmeisters des Deutschen Ordens in der Mitte des 15. Jahrhunderts und ein Kaplan eines habsburgischen Hofes, Albrecht von Bonstetten, 20 Jahre später, schrieben Kriegsmonographien, der zweite unter humanistischem Einfluß. 1 23 Bischöfe, fünf Äbte und Pröpste, 23 Laienfürsten (einseh!. Grafen). Eine Einzelaufzählung muß hier aus Raumgründen unterbleiben. 2 Hans Patze, Landesgeschichtsschreibung in Thüringen, in: JGMOD 16/17 (1968), 95168, hier 123. 3 Ulrich Andermann, Albert Krantz (im Druck).

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Aber wir beschränken uns nicht auf diese besonders entwickelte Kriegsgeschichtsschreibung, sondern beziehen die ganze Hothistoriographie in unsere Analyse ein4 . Was ist ein höfischer Historiograph? Eine Heroldsrolle im engeren Sinn wird nur von wenigen Hofchronisten ausgefüllt, etwa von Matthias von Kemnat und Martin Behaim am Pfälzer Hof in Heidelberg5 . Auch die anderen haben einen bestimmten Hof und dessen Fürsten als Hauptgegenstand, sind an ihn durch Auftrag, Widmung oder Honorar gebunden. Aber sie wahren trotzdem eine gewisse Distanz. Diese ergibt sich aus der Zugehörigkeit zu einer anderen Institution neben dem Hof. Für Ludwig von Eyb ist die andere Institution seine eigene Familie, der er seine Denkwürdigkeiten ebenso widmet wie Albrecht Achilles und dem Ansbacher HoF. Erdtrnann, der Chronist der Osnabrücker Bischöfe, nimmt eine führende Rolle in der Stadt Osnabrück ein7 • Meist ist es eine geistliche Institution, die vom Hofe distanziert. Sigismund Meisterlin gehört einem Augsburger Kloster an und schreibt eine Art Doppelgeschichte der Bischöfe von Augsburg und dieses Klosters 8 . Insbesondere sind Geistliche, die für einen weltlichen Hof schreiben, in einer Doppelrolle. Sie bringen manchmal kirchliche Ideale für Politik mit. Levold von Northof, der über die Grafen von der Mark schreibt, verbindet deren Geschichte mit einer Art Fürstenspiegel9 . Eine rudimentäre Kritik an fürstlicher Politik wird mehrfach in eine überwiegend affirmative Darstellung eingeschoben. Geistliche, die Bettelorden oder sonst reformerischen Richtungen angehören, setzen eigene Akzente. Manchmal wird ein partiell kritischer Standpunkt dadurch geschaffen, daß die Glieder der Fürstenfamilie, der der Historiograph verbunden ist, sich gegenseitig bekämpfen. Schließlich ist zu erwähnen, daß die Hofhistoriographen auf der Suche nach Stoff andere Chroniken ausschreiben: solche, in deren Mittelpunkt ein anderer Hof steht, eine Kaiser-, Stadt- oder Landesgeschichte, oder sie verfassen, selbst als gewissermaßen professionelle Chronisten solche anderen Chroniken. Andreas von Regensburg schrieb weitgehend seine eigene Weltgeschichte aus, um eine bayerische Herzogsgeschichte zu liefern lO • 4 Diese und andere Kriegsmonographien des 15. Jahrhunderts sind der Untersuchungsgegenstand eines Teilprojektes der Forschergruppe "Der Wandel des Bildes vom Krieg" in Würzburg. Entsprechende Veröffentlichungen sind zu erwarten. 5 Birgit Studt, Fürstenhof und Geschichte. Legitimation durch Überlieferung (Norm und Struktur, 2), Köln/Weimar /Wien 1992. 6 Constantin Höfler (Hrsg.), Ludwig Eyb, Denkwürdigkeiten brandenburgischer Fürsten (Quellensammlung für Fränkische Geschichte, 1), Bamberg 1849. 7 Heinrich Schmidt, Über das Verständnis von der Geschichte in Ertwin Ertmans Chronik der Bischöfe von Osnabrück, in: Osnabrücker Mitteilungen 69 (1960), 6 - 38. 8 Dieter Weber, Geschichtsschreibung in Augsburg (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg, 30), Augsburg 1984. 9 Fritz Zschaek (Hrsg.), Levold von Northof, Chronica corniturn de Marka, MGH SS rer. Germ. N.S. 6 (1929). 10 Georg Leidinger (Hrsg.), Andreas von Regensburg, Sämtliche Werke (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte, N.F. I), München 1903.

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Am äußersten Rande der Hothistoriographie steht Aeneas Silvius mit seiner Historia Austriaca, die er in letzter Redaktion 1458 schrieb, als er schon über zehn Jahre nicht mehr am Wiener Hof weilte 11. Aber er hat sie wohl während des Wiener Aufenthaltes begonnen. Sie war als Kritik und besserer Ersatz der herkömmlichen österreichischen Hauschronik von Stainreuter gedacht und ist deswegen zunächst als Hofhistoriographie zu betrachten. In ihrer letzten Fassung handelten sechs von sieben Büchern über Friedrich III., wobei sich im Laufe der Redaktionen eine immer größere Distanzierung vom Kaiser verfolgen läßt.

11. Es bietet sich an, zwischen geistlichen Höfen und Laienhöfen zu unterscheiden. Beginnen wir mit letzteren. Sie spiegeln eher ein afftrmatives Verhältnis zum Krieg wider. Da gibt es die persönliche Lust am Kriegshandwerk. Die holsteinische Grafenchronik berichtet voller Stolz von Heinrich dem Eisernen, der in englischem Sold an der Belagerung von Calais teilnahm. In dem Belagerungsheer ging es fröhlich zu, und Heinrich bewies seinen Mut und seine Kraft, indem er einen Löwen bändigte 12. Der Chronist von Kleve stellt zunächst dar, wie sich die Kölner durch ihr unmoralisches Verhalten in der Soester Fehde ins Unrecht setzten, und fährt dann fort: "Auf der Klevischen Seite ging alles mit Freuden zu. Denn sie hatten einen jungen, fröhlichen Herrn ... Es war eine fröhliche, junge Gesellschaft, die sie bei sich hatten,,13. Die Hand war immer rasch am Degen. Zu den vielen Feinden Kaiser Friedrichs III. gehörte der Graf von Cilly. Man hatte sich 1436 versöhnt, aber die Versöhnung hielt nicht lange. Der Chronist des Grafen schreibt - ohne eigentlich zu kritisieren: Man sagte, Friedrich habe den Grafen zu lange vor der Tür warten lassen, und fügt dann hinzu, daß der alte Funke wohl noch nicht erloschen war l4 • Es gab persönliche Beziehungen, die kriegerisch geprägt waren und sich nur schwer verändern ließen. Man muß auch die Beinamen beachten: Johann ohne Furcht, Karl der Kühne bis zu Friedrich dem Siegreichen. Diese Beinamen überwiegen weitaus gegenüber solchen wie Philipp der Gute oder gar Friedrich der Friedfertige. Der Kriegsrufspielt eine gewisse Rolle in den chronikalischen Berichten. Holstein zieht mit dem Ruf "Holstenland, Vrouwe van Hemmelrike" gegen Dänemark in den Kampfl5 . Diese eigentümliche Kombination eines Appells an die Jungfrau II Hans Kramer, Untersuchungen zur österreichischen Geschichte des Aeneas Silvius, in: MIÖG 45 (1941),23-69; Brigitte Haller, Kaiser Friedrich III. im Urteil der Zeitgenossen (Wiener Dissertationen aus dem Gebiet der Geschichte, 5), Wien 1968. 12 MGH SS 21, 279. 13 Robert Scholten (Hrsg.), Gert van der Schüren, Clevische Chronik, Cleve 1884, 120. 14 Simon Friedrich Hahn, Collectio monumentorum, Bd. 2, Braunschweig 1726, 665774: Cronica der Grafen von Cilli, hier 695 f. 15 MGH SS 21, 283.

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mit einem Regionalbewußtsein spiegelt die Entstehung einer sozialen Solidarität, die an territoriale Grenzen und den Fürsten gebunden ist. Der Fürst repräsentiert eine Gesellschaft, zusammen mit der Jungfrau, er ist mit ihr in seinen Siegen verbunden. Wie sehr die kriegerische Gesinnung mit Frömmigkeit übereinstimmen konnte, reflektiert indirekt auch der sehr selbständige Geistliche, der die Schaumburger Hauschronik geschrieben hat. Er vermerkt zu 1360, daß den Grafen Otto mit Gottes Erlaubnis das frühere Kriegsglück verlassen habe 16 . Am Ende des Mittelalters gab es einen Reichsnationalismus, der gelegentlich in deutschen Truppen aktualisiert wurde. Nationale Impulse wurden in den Kämpfen gegen Karl den Kühnen lebendig, und selbst der Heidelberger Hofhistoriograph, dessen Fürst nicht an der Koalition gegen Karl den Kühnen teilnahm, konnte sich ihnen nicht entziehen. Friedrich der Siegreiche hat sein ursprünglich enges Verhältnis zu Karl dem Kühnen abkühlen lassen und Matthias von Kemnat schreibt: "Deutsche Fürsten sind einig gegen Walen, Böhmen und Ungam,,17. Nationalkriege nach allen Seiten schienen denkbar. Als Rechtfertigung des Krieges waren sie ein böses Legat an die Zukunft.

III. Wir treffen also auf eine gewisse Bereitschaft zum Krieg in den Laienkreisen der Höfe, die von einem Geist der Männlichkeit, der Jugendlichkeit, von einer sozialen Solidarität und von einem Glauben an die Kräfte des Himmels, die der eigenen Sache günstig wären, genährt wurde. Diese Bereitschaft läßt alte anthropologische Schichten aufleben. Man erinnert sich an berühmte Sätze des Thukydides, die ein archaisches Griechenland beschreiben. "Damals, als ganz Hellas in Waffen ging" (1,6), gehörte der Krieg zum Leben der Gruppen und Völker wie die Siedlung, der Handel und die Fortpflanzung. "Die Athener waren die ersten, die das Eisen ablegten", fährt Thukydides dann fort. Danach unterschied sich die städtische Zivilisation Griechenlands ebenso von der eigenen Vorzeit wie von den Zuständen bei den benachbarten Barbaren. Die Stadtzivilisation Griechenlands machte ebenso wie die spätere christliche Zivilisation des Mittelalters eine gewisse Ächtung des Krieges notwendig. Die griechischen Kriege der Zeit des Thukydides mußten zur Verteidigung der Zivilisation nach innen und außen gerechtfertigt sein. Nun sieht auch Thukydides, daß es viele kleine Kriege zwischen Griechen gab, die diese Rechtfertigung nicht erlauben. Sie lassen sich aus natürlichen Ursachen erklären, haben aber von Seiten der Angreifer einen räuberischen, kriminellen Hintergrund. Man muß sich gegen sie wehren, indem man sich gegen sie mit den Schwurgöttern verbündet 18 . 16 Heinz Rausch, Hermann von Lerbecks Chronik der Grafen von Schaumburg, in: Die schaumburgisch-lippische Heimat 11 (1951), 5 - 89, hier 52 f. 17 Konrad K. Hofmann (Hrsg.), Matthias von Kemnat, Chronik Friedrichs I. des Siegreichen (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte, 2/3), München 1862/63, hier Bd. 2, 94.

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Der Krieg zur Verteidigung der Zivilisation hatte im Mittelalter vornehmlich die Form des Heidenkrieges und in der Neuzeit die Form des Krieges gegen revolutionäre Mächte wie Napoleon, später die des Krieges gegen Faschismus und Bolschewismus. Überwiegend herrschte aber in der Neuzeit eine andere Kriegstheorie. Der Krieg wird nicht geächtet wie in der hellenistischen Zivilisation, sondern formalisiert, kanalisiert, bezogen auf das neuzeitliche Staatensystem. Die Staaten führen untereinander nach Regeln Krieg im Sinne einer legitimen Gewaltanwendung nach außen.

IV. Diese Veränderung gegenüber der Antike ist das Werk des Mittelalters. Im Rahmen des Reiches und darüber hinaus der katholischen Christenheit gab es den quasi gerichtlichen und gleichzeitig kriegerischen Streit um Rechte. Er wurde von Formen geprägt, die in den genannten Rahmen entwickelt wurden 19 • Ich überspringe also Rom, von dessen Recht und Literatur sicherlich Elemente in die mittelalterliche Kriegsrhetorik eingeflossen sind. Im Unterschied zu späteren Zeiten wird das Kriegsrecht in Rom einseitig vom römischen Rechtsempfinden getragen und ist Teil des Römischen Rechts 2o • Aber den gerichtlichen Zweikampf konnte es wegen der Gerichtsverfassung und wegen der pax Romana im Römischen Reich nicht geben21 . Die Forschungen über den gerichtlichen Zweikampf und sein Verhältnis zur Fehde im Mittelalter sind unabgeschlossen. Aber man wird heute schon sagen können, daß die Rechtsfehde entweder aus dem Zweikampf hervorgegangen ist oder eine analoge Entwicklung darstellt 22 • Zu den rechtmäßigen Formen des Krieges im Mittelalter gehört die ständige Einschaltung friedlicher Streitschlich18 Aus der neueren Literatur über den Krieg in der griechischen Antike vgl. bes. l'Von Garlan, Guerre et economie en Grece ancienne, Paris 1989, und Dieter Timpe, Das Kriegsmonopol des römischen Staates, in: Staat und Staatlichkeit in der frühen römischen Republik, hrsg. v. Walter Eder, Stuttgart 1990, 368 - 387. 19 Aus der inzwischen anwachsenden Literatur über die mittelalterliche Fehde vgl. bes. Elsbeth Orth, Die Fehden der Reichsstadt Frankfurt am Main im Spätmittelalter (Frankfurter Historische Abhandlungen, 6), Frankfurt a.M. 1973, und Ulrich Andermann, Ritterliche Gewalt und bürgerliche Selbstbehauptung, Frankfurt a.M. 1991. 20 Vgl. Jörg Rüpke, Domi militiae. Die religiöse Konstruktion des Krieges in Rom, Stuttgart 1990; Mauro Mantovani, Bellum iustum. Die Idee des gerechten Krieges in der römischen Kaiserzeit, Bem u. a. 1990. 21 Max Kaser, Römisches Privatrecht, 12. Aufl., München 1981,317: "Wenn die Römer diese primitive Methode der Rechtsfindung (Zweikampf) wirklich gekannt haben - was weder sicher bewiesen noch sicher widerlegt werden kann - , so wurde sie jedenfalls schon früh durch die fortschrittliche nach juristisch-sachlichen Kriterien abgelöst". 22 Vgl. Heinz Holzbauer, Der gerichtliche Zweikampf, in: Sprache und Recht. Festschrift Ruth Schmidt-Wiegand, Berlin I New York 1986, 263 - 283, der eher den gerichtlichen Zweikampf als "Abrüstungsphänomen" (275) aus der Fehde ableiten möchte, aber damit vorfeudale Gewalttätigkeiten meint. Die Fehde als Rechtsstreit ist nach Julius Brock, Die Entstehung des Fehderechts im deutschen Reich des Mittelalters, Posen 1887, erst im 13. Jahrhundert entstanden.

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tungsmittel, die Versendung von Absagebriefen und die Berufung auf eine förmliche Rechtsverletzung als Kriegsgrund. In den Württembergischen Annalen heißt es mehrfach, der Gegner handle in preiudicium domino rum de Württemberg. Nicht immer sieht man, worin das preiudicium inhaltlich besteht. Einmal ist es eine Ade1svereinigung, die als solche schon die württembergischen Rechte verletzt. Ein anderes Mill haben die Reichsstädte angeblich einen neuen Zoll zum Schaden der württembergischen Untertanen errichtet23 . Zu den justiziablen Kriegsgründen kommen andere formale mit schwankender Anerkennung. Eine gewisse Distanz zur Kriegstätigkeit auf Grund des casus foederis verrät dc;:r holsteinische Chronist, der zu 1398 vermerkt, daß sein Graf in der Fehde, die der Herzog von Lauenburg gegen Dithmarschen ohne Kriegsgrund führte, als Bundesgenosse hineingezogen wurde. Aber dann waren es die Dithmarscher, die die Holsteiner gröblich beschimpften24 und dadurch gewissermaßen noch einen Kriegsgrund, den der Ehrverletzung, nachlieferten. Auch der Verlauf eines Krieges wurde von Formen geprägt. Der Erzbischof von Salzburg konnte nach Ansicht seines Chronisten Leonhard Drechsler rechtmäßig seinen Söldnern eine potestas rapiendi et spoliandi, vulgariter Sackmann, verleihen 25 . Der geistliche Chronist des Grafen von Oldenburg rechtfertigt sogar die gegen seinen Herrn erfolgten Eroberungen durch den Bischof von Münster mit dem ius belli 26 • Ein Gegner konnte der anderen Seite gewissermaßen einen gerechten Kriegsgrund zuspielen, indem er sich im Krieg an Gott und dessen Moralgeboten versündigte. Die Dänen nutzten im Kampf gegen Holstein eine Beerdigung für einen Überfall aus, der von dem holsteinischen Chronisten entsprechend interpretiert wurde 27 • Der Chronist von Kleve beschreibt die Schandtaten der Kölner Truppen in der Soester Fehde. Sie hätten lebendige Katzen mit Feuer am Schwanz nach Soest hineingeschickt, und die der Ketzerei verdächtigten böhmischen Söldner hätten Sakramentsfrevel begangen28 • Auch Regeln aus der Tradition der Ritterlichkeit heraus konnten zur Norm erhoben werden. Diese Ritterlichkeit spricht Matthias von Kernnat an, der von seinem Fürsten, Friedrich dem Siegreichen, behauptet, er habe alle "verredlicher handel", etwa den Einsatz von Spionen, vermieden und ,,ritterliche manheit" geübt29 . Das war sicherlich ein dehnbarer Begriff, und so konnte es 23 Christoph Friedrich von Stälin (Hrsg.), Annales Stuttgartianes, in: Württembergisches Jahrbuch für Statistik und Landeskunde (1849), 15 u. 25. 24 Johann Martin Lappenberg (Hrsg.), Chronik der Nordelbischen Sassen, in: Quellensammlung der Schleswig-Holstein-Lauenburgischen Gesellschaft für vaterländische Geschichte 3 (1865) 1 - 156, hier 102. 25 Hieronymus Pez (Hrsg.), Leonhard Drechsler, Chronicon Salisburgense, in: Scriptores rerum Austriacarum 2, Leipzig 1725, Sp. 427 - 446, hier Sp. 435. 26 Heinrich Meibom (Hrsg.), Johannes Schiphower, Chronica archicornitum Oldenburgensium, in: Rerum Gerrnanicarum Tomus 2, Helmstedt 1688, 121- 192, hier 186. 27 MGH SS 21, 282. 28 R. Scholten, Clevische Chronik (Anm. 13), 121/124. 29 K. Hofmann, Chronik Friedrichs I. (Anm. 17),65.

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unter Berufung auf die Ritterlichkeit verurteilt werden, wenn Bürger sich mit Pfeil und Bogen erfolgreich verteidigten 30 und wenn die Türken bei Belgrad 1456 große Bombarden anwandten, die den Krieg "unmenschlich" machten 31 • Wenn es richtig ist, daß die Fehde als Rechtsstreit aus dem gerichtlichen Zweikampf heraus entwickelt wurde, läßt sich die Mitwirkung von religiösen Mitteln, von Kräften des Jenseits an dieser Fehde als Übertragung des ordalen Charakters von dem Zweikampf auf die Rechtsfehde verstehen. Jede Seite warb darum, daß die eigene Sache im Jenseits als die gerechte angesehen und bis zum Siege unterstützt würde. Der Chronist des Bischofs von Minden berichtet, daß 1349 ein bonus villanus vorausgesehen habe, wie das vexillum magnum der Domkirche von einem ehrwürdigen Alten ins Gefecht getragen worden sei32 . Mit Fahnen vergleichbar ist das große Marienbild, das die Marienburg vor feindlichen Granaten schützen sollte, und ein Büchsenschütze wurde dann auch blind, als er das Bild beschießen wollte 33 • Aber man zweifelte, ob heilige Fahnen jeden Krieg rechtfertigen würden. Der Chronist des Bischofs von Magdeburg notiert ein vulgare proverbium, wonach die Mauritius-Fahne nicht bei Angriffs-, sondern nur bei Verteidigungskriegen nützen würde 34 • Der Bischof von Würzburg erfocht seinen großen Sieg von 1400 gegen seine Residenzstadt sine dubio meritis sanctorum Patronorum35 • Der Bischof von Hildesheim gelobte während der Schlacht einer seiner Kirchen im Falle des Sieges ein goldenes Dach36 . Die weltlichen Fürsten standen nicht nach. Der Graf von Schaumburg baute nach einem Sieg eine Kapelle 37 • Dasselbe galt für Holstein38 • Man hatte sicherlich keine Unter~tützung vom Jenseits zu erwarten, wenn man Gottes Gebote verletzte. Der oldenburgische Chronist schreibt, die bremischen Gegner gingen zugrunde, weil sie Kirchen plünderten39 . Dieses Thema abschließend läßt sich folgendes festhalten: Die Kriege innerhalb der katholischen, abendländischen Rechtsgemeinschaft als Rechtsstreit unterscheiden sich von den innerhellenischen Kriegen der Antike, weil sie nicht als AusnahH. Rausch, Chronik der Grafen von Schaumburg (Anm. 16),53 f. Alphons Lothsky (Hrsg.), Thomas Ebendorfer, Cronica Austriae, MGH SS rer. Germ. N.S. 13 (1967), 432 f. 32 Klemens Löffler (Hrsg.), Heinrich Trippe, Jüngere Bischofschronik, in: Mindener Geschichtsquellen 1 (1917),91- 261, hier 202. 33 Ernst Strehlke (Hrsg.), Johann von Posilge, Chronik des Landes Preußen, in: Scriptores rerum Prussicarum 3 (1866), 79 - 277, Fortsetzung 277 - 388, hier 321. 34 MGH SS 14,442. 35 Johannes Georg von Eckhart (Hrsg.), Anonymi Chronicon Wirceburgense, in: Commentarii de rebus Franciae orientalis I, Würzburg 1729, 816 - 825, hier 823. 36 Gottjried Wilhelm Leibnitz (Hrsg.) Chronica episcoporum Hildesheimensium, in: Scriptores Brunsviciensia illustrantes 2, Hannover 1710, 784 - 806, hier 800. 37 H. Rausch, Chronik der Grafen von Schaumburg (Anm. 16),53. 38 MGH SS 21, 301. 39 H. Meibom, Chronica archicomitum Oldenburgensium (Anm. 26), 184. 30 31

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men oder als Verstöße gegen eine allgemeine Ächtung des Krieges aufzufassen sind. Die Idee des Krieges als Rechtsgang führte zu einer neuen Rechtfertigung des Krieges. In der aggressiven Völkerwanderungszeit wurde allerdings eine Tradition archaischer kriegerischer Urzustände - im Sinne von Thukydides - begründet, die bis in das Mittelalter hineinreichte und bei der man sich fragt, inwieweit sie unter der Decke der Idee des Krieges als Rechtsstreit weiterlebte.

v. Der Krieg als Rechtsstreit war nicht die einzige Neuerung, die das Mittelalter in die Kriegsgeschichte einführte. Es gab eine christliche Idee des Friedens, die über die Rechtfertigung des Krieges als Rechtsstreit hinausging und den Krieg schlechthin abschaffen wollte4o . Die Verpflichtung zum Frieden wurde den Herrschern in den Fürstenspiegeln eingeschärft. Einen vollen Erfolg hatte die christliche Lehre allerdings nur bei der Idealisierung eines geistlichen Fürsten. Dieser sollte ein Friedensfürst sein. Wenn man bedenkt, daß etwa die Hälfte der überlieferten Hofchronistik von Bischöfen initiiert wurde, stellt sich die Frage, ob die Chronisten von ihren bischöflichen Fürsten ein besonderes Verhältnis zum Kriege abforderten. Es gab durchgehende Unterschiede zwischen geistlichen und weltlichen Fürsten in ihrem Verhältnis zum Krieg. Es war kaum ohne Kritik möglich, einen Bischof als kriegerisch zu bezeichnen. Es ist eine Ausnahme, wenn in einer Aufzählung Würzburger Bischöfe ein bellicosus und ein pacificus sich ablösen, ohne daß damit eine Kritik gegenüber dem ersteren gemeint ist41 . In der Magdeburger Bischofschronik heißt es von einem Theoderich, er lasse sich wieder wie in alten Zeiten ein Kreuz vorantragen, in modemis temporibus bei seinen Vorgängern war es statt dessen ein Schwert wie bei weltlichen Fürsten. Aber auch dieser Theoderich wies das Schwert locis et temporibus oportunis nicht zurück42 . Wie wenig selbstverständlich ein friedliebender Bischof war, zeigt auch die Chronik der Hildesheimer Bischöfe. Als man nach 1362 einen Dominikaner als Bischof bekam, fragte dieser: "Wo ist die Bibliothek? Die Höflinge führten ihn daraufhin in die Waffenkammer,,43. In Köln wurde 1364 ein Erzbischof durch einen Koadjutor abgelöst, weil er plus bellis quam consiliis aptus war44 • Aeneas Silvius kritisiert auf seine Weise kriegerische Bischöfe, indem er ihnen vorwirft, sie würden ohne Befehl des Kaisers Krieg 40 Helmut Beumann, Widukind von Korvei, Weimar 1950,87: "Der Begriff der pax, den Christen des Mittelalters als erhabenster aller sozialen Staatszwecke durch Augustin eingehämmert .. ". 41 J. G. v. Eckhart, Chronicon Wirceburgense (Anm. 35), 823 f. 42 MGH SS 14,439. 43 G. W. Leibnitz, Chronica episcoporum Hildesheimensium (Anm. 36), 799. 44 Johann Suibert Seibertz (Hrsg.), Jakob von Soest, Chronicon episcoporum Coloniensium, in: Quellen der westfälischen Geschichte, Bd. I, Amsberg 1857, 161 - 215, hier 205 f.

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treiben 45 . Deutlich ist die Kritik am kriegerischen Bischof bei Hofchronisten gegnerischer weltlicher Fürsten, so bei dem der Herzöge von Kleve am Erzbischof von Köln in der Soester Fehde. Der Erzbischof wollte sich mit dem Junker Johann allein schlagen, um Blutvergießen zu vermeiden. Diese Absicht war sicherlich löblich, wenn auch das Mittel ungewöhnlich für einen Priester war. Der Junker scheint darauf eingegangen zu sein, aber der Erzbischof kam dann doch nicht zum Zweikampt6 . Trotzdem gab es natürlich gerade im reformerischen 15. Jahrhundert viele unkriegerische, friedliebende und friedenspolitisch tätige Bischöfe. Topische Begriffe neben pacificus sind für sie etwa zelator pacis (Magdeburg)47, ecclesiam in pace regere, cum pace administrare (Köln)48. Ein Trierer Erzbischof des 15. Jahrhunderts wird als Freund des Friedens bezeichnet, der immer als Vermittler tätig war, dann aber auch Fehden gegen aufsässige Grafen führen konnte49 . Ähnlich heißt es von einem früheren Kölner Erzbischof: Er befriedigte die Nachbarfürsten durch Geschenke. Als sie mehr forderten, widerstand er ihnen 5o . Dem Fürstabt von Ellwangen schreibt seine Chronik zu, für die Stadt Ellwangen den Frieden im großen Städtekrieg 1449 gesichert zu haben5!. In geringerem Maße wurde auch bei weltlichen Fürsten die Friedenspolitik gepriesen. Gerstenberg schreibt über den Landgrafen Hermann von Hessen der 1370er Jahre, er sei ein sanftmütiger Herr, der großen Widerstand durch Fehden bekomme. "Er hat eine gemechliehe friedsame Lebensgewohnheit und macht seinen Hof geringer mit mäßigen Kosten". Daraufhin war er verhaßt bei der Ritterschaft. Den Landgrafen der 1450er Jahre nannte der Papst princeps pacis. "Der Name blieb ihm durch alle Lande"s2. Es waren neben bürgerlichen vor allem geistliche Hofchronisten, die sich auch ihren weltlichen Fürsten so wünschten. Der Augustinereremit Schiphower klagt über die Kriege, in die seine Oldenburger Grafen verwickelt waren: "Kriege, Kriege, wer soll das alles schreiben und lesen. Es erzeugt eine Übelkeit beim Zuhören"s3.

45 Theodor ligen, Aeneas Silvius, Historia rerum Friderici III. imperatoris 2 (Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit, 88/89), Leipzig 1890, 245. 46 R. Scholten, Clevische Chronik (Anm. 13), 122. 47 MGH SS 14,441. 48 J. S. Seibertz, Chronicon episcoporum Coloniensium (Anm. 44), 194 u. 206. 49 Emil Zenz, Die Taten der Trierer, Bd. 6, Trier 1962, 29. 50 J. S. Seibenz, Chronicon episcoporum Coloniensium (Anm. 44), 194. 51 MGH SS 10,47: ,,E. pacificabatur ... procurante abbate". 52 Hermann Diemar (Hrsg.), Die Chroniken des Wigand Gerstenberg (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck, 7,1), Marburg 1909,262/294. 53 H. Meibom, Chronica archicomitum Oldenburgensium (Anm. 26), 184.

2 Kunisch/Münkler

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VI.

Auch ein Bischof als Friedensfürst durfte unter bestimmten Bedingungen Kriege führen. Welche Bedingungen sind zu nennen? Der Krieg als Rechtsstreit mußte wohl nach Möglichkeit vermieden werden. Erwünscht war der Einsatz des Bischofs für den Landfrieden und damit für eine der schwachen Institutionen des Reiches, den Rest seiner Staatlichkeit. Dieser Einsatz ließ sich theoretisch ebenso als eine Art Strafverfolgung auffassen. Die aktive, über die eigenen Grenzen hinauswirkende Friedenspolitik, die wir schon bei einem Trierer Erzbischof antrafen, begegnet uns wieder bei einem Magdeburger und rechtfertigt hier als Landfriedenspolitik den Einsatz militärischer Mittel in Nachbargebieten, um Straßenräuber niederzuwerfen und Gefangene zu befreien54 • Ein Bischof von Minden derselben Zeit, dem es wichtig war, daß rustici in agro Frieden hätten, geriet in expeditione istius lantvrede in Gefangenschaft 55 . Der Münsteraner Bischof Florenz von Wevelinghoven läßt von sich in seiner Chronik schreiben, er habe pro generali et communi pace terrae gearbeitet56 . Hierzu waren nicht immer militärische Mittel notwendig, wie wir aus der Trierer Bischofschronik wiederum derselben Zeit wissen: Der Erzbischof habe sich um des Landfriedens willen durch Überlassung von Geld Freunde geschaffen57 . Communis pax hat der Bischof von Straßburg im nächsten Jahrhundert in seiner Diözese aufgerichtet58 . Der Begriff hat sich offenbar vom formellen Landfrieden gelöst und ist zu einer der Verpflichtungen des Kirchenmannes in seiner Oboedienz geworden. Der Bischof von Würzburg bemühte sich - auch militärisch - um die Anerkennung des Würzburger Landgerichts 59 , einer Institution, die sich in einer gewissen Verbindung mit dem Landfrieden ebenfalls vom Reiche herleitet. Eine pauschale Rechtfertigung für diesen und andere Kriege ist das bellum iustum, das der Chronist von Osnabrück seinem Bischof 1453 attestiert60 .

MGH SS 14,441. K. Löffler; Bischofschronik (Anm. 32),208/213. 56 Julius Ficker (Hrsg.), Florenz von Wevelinghofen, Chronik der Bischöfe von Münster, in: Die Geschichtsquellen des Bistums Münster, Bd. 1, Münster 1851, 1-156, hier 58. 57 E. Zenz, Taten der Trierer (Anm. 49), 13. 58 Jakob Wimpjeling, Argentinensium cathalogus episcoporum, Straßburg 1508, fol. 56V • 59 Alfred Wendehorst, Das Bistum Würzburg, Bd. 2 u. 3 (Germania Sacra, N.F. 4/13), Berlin 196911978, Bd. 2, 133 f.; Bd. 3, 13 f.; Friedrich Merzbacher; Iudicium provinciale ducatus Franciae, München 1956, 58 f.: Landgericht und Landfriedensgerichte konkurrierend. Urkundenabschriften des Landfriedensgericht in Landgerichtsbüchern. Vgl. auch J. G. v. Eckhart, Chronicon Wirceburgense (Anm. 35), 823: In der Mitte des 14. Jahrhunderts vollstreckte der Bischof proscriptiones et alias sui provincialis iudicii seculares sentention. 60 Hermann Forst (Hrsg.), Erwin Ertmann, Cronica sive Catalogus episcoporum Osnabrugensium, in: Chroniken des Mittelalters. Osnabrücker Geschichtsquellen 1 (1891), 21173, hier 173. 54

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VII.

Nun hat die Forschung längst herausgearbeitet, daß Landfrieden, Landgericht und ähnliches als ein Vorwand - auch von Bischöfen - genutzt wurden, um regionale Macht aufzubauen, insbesondere um Territorialstaaten räumlich auszuweiten und qualitativ Staatlichkeit hinzuzugewinnen. Wie verhielten sich die Hofchronisten dazu? Die Ideen von Frieden und Reich, Frieden im Reich waren anerkannter als die Idee der Errichtung von Staaten. Die Gewinnung von Staatlichkeit wurde als Machtpolitik abqualifiziert. Machtpolitik war gegen den Frieden, gegen das Reich und das Recht gerichtet. Den Verdacht der Machtpolitik des Gegners konnte man leicht hegen und weiterverbreiten. Unter diesem Gesichtspunkt wird ein großer Teil der die Kriege begleitenden Hofchronistik zu dem Bemühen, sich gegenseitig als Friedensbrecher zu entlarven und sich das Recht auf Fehde abzusprechen. Die Kölner Bischofschronik vermerkt für das frühe 14. Jahrhundert, daß König Albrecht in seinem Krieg gegen das Erzstift Köln eine causa offensionis nicht gehabt habe 61 . Ein Chronist aus Meißen klagt 1409 den Markgrafen von Brandenburg an, durch einen Einfall in Meißen die Schwester seines Fürsten zwingen zu wollen, ihn zu heiraten62 . Der Chronist von Schaumburg erzählt, daß die Herzöge von Braunschweig seinen Herrn angriffen, weil sie mit ihren natürlichen Grenzen nicht zufrieden seien63 . Ludwig van Eyb entlarvt den Gegner seines Fürsten, nämlich Friedrich den Siegreichen. Er wolle lediglich dessen Herrschaft zerstören64 . Das Ausblenden der rechtlichen Kriegsgründe der Gegenseite war das mindeste, was man von der eigenen Hofchronistik erwarten konnte. Die Annalen von Württemberg verschweigen die Vorgeschichte des Überfalls der Grafen von Eberstein auf die von Württemberg bei der Kur im Wildbad 1367 und nehmen diesen Überfall selbst als Kriegsgrund für den folgenden Feldzug der Württemberger gegen Eberstein65. Wenn man als Chronist erwiesen hatte, daß der Gegner einen ungerechtfertigten, gewalttätigen Angriffskrieg führte, war damit der gerechte Kriegsgrund der eigenen Seite zugleich dargelegt. Verteidigungskriege hatten eine natürliche Legitimität, vergleichbar den Kriegen zur Wahrung des Landfriedens.

J. S. Seibertz, Chronicon episcoporum Coloniensium (Anm. 44), 194. Johann Burkhard Mencken (Hrsg.), Erfurter Chronik von Meißen, in: Scriptores rerum Germanicarum 2, Leipzig 1728, Sp. 317 - 376, hier Sp. 336. 63 H. Rausch, Chronik der Grafen von Schaumburg (Anm. 16),56. 64 C. Höfler, Denkwürdigkeiten (Anm. 6), 138; dazu Joachim Schneider, Legitime Selbstbehauptung oder Verbrechen? Soziale und politische Konflikte in der spätmittelalterlichen Chronistik am Beispiel der Nürnberger Strafjustiz und des Süddeutschen Fürstenkrieges 1458 - 1463 (im Druck). 65 C. F. v. Stälin, Annales Stuttgartianes (Anm. 23), 10. 61

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VIII.

Wir kommen zu einem letzten legitimen Kriegsgrund. Der Krieg gegen die Feinde der Christenheit und gegen Häretiker war nicht nur selbstverständlich gerechtfertigt, sondern gerade auch für geistliche Fürsten eine Pflicht. Diese Rechtfertigung konnte auch auf innerchristliche Kriege zurückwirken. Ein Gegner konnte sich durch ein Bündnis mit Heiden und Ketzern ins Unrecht setzen und einen Krieg gegen ihn rechtfertigen. So argumentierte man bei einem Krieg des Deutschen Ordens gegen das katholische Polen66 • Für geistliche Fürsten gab es eine Art heiligen Krieg vergleichbar dem Kriege gegen die Feinde der Christenheit. Die Kirche Gottes wurde aber immer wieder auch aus dem Kreise der Christenheit bedroht, und zwar von laikaien Mächten, die die Kirchen bedrückten, ihre Freiheit und Rechte beschneiden wollten. Manchmal entledigt sich der Chronist eines geistlichen Fürsten der Aufgabe, dessen Krieg zu rechtfertigen, indem er dessen Feinde pauschal als Feinde der Kirche bezeichnet. Sicherlich hatte hierbei der geistliche Fürst am ehesten die Hilfe Gottes zu erwarten. So führte man es auf ein Wunder zurück, daß ein Anschlag des Herzogs von Bayern auf den Bischof von Freising verhindert wurde 67 • Der Erzbischof Hermann von Köln konnte 1475 mit der Hilfe des allmächtigen Gottes zurückgewinnen, was die Vorgänger verloren hatten 68 . Die Kölner Erzbischöfe sind wie keine anderen in die Parteibildungen im Reich für und gegen die Wittelsbacher hineingezogen worden. Die Kriegstätigkeit des Erzbischofs Heinrich von Virneburg (1304 - 1332) wurde gleich dreifach gerechtfertigt: Erstens: Er kämpfte pro iuribus ecclesie. Zweitens: Seine Gegner hatten eine intenticio malivola, d. h. der Krieg wurde entsprechend einem personalistischen Geschichtsbild mit dem Charakter des Gegners begründet, und drittens: Die Feinde nutzten die Macht Ludwigs des Bayern aus, der dem Erzbischof abgeneigt war69 . Ludwig der Bayer war zugleich ein bekannter Widersacher der Kirche. Ein Grenzfall ist der Einsatz für die Kirchenreform mit militärischen Mitteln. Im Weißenburger Krieg (1469 - 1471) ist es sogar ein weltlicher Fürst, der schon wiederholt genannte Pfalzgraf Friedrich von der Pfalz, der sich von seinen Chronisten den Krieg gegen die Stadt Weißenburg mit der Reform ihrer Benediktiner Abtei rechtfertigen läßt. Er wird wohl sogar ein wenig daran geglaubt haben, 66 E. Strehlke, Chronik des Landes Preußen (Anm. 33), 314/353. Über die politischen und kriegerischen Hintergründe Hartmut Boockmann, Der Deutsche Orden. Zwölf Kapitel aus seiner Geschichte, 4. Aufl., München 1994, bes. 170 - 180. 67 Georg Leidinger (Hrsg.), Veit Ampeck, Liber de gestis episcoporum Frisingensium, in: Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte N.E 3 (1915), 849914, hier 893. 68 Hs. Universitätsbibliothek Würzburg M. ch. f. 81, fol 99r ; dazu Hermann Keussen, Eine Handschrift der Chronica praesulum, in: Mitteilungen aus dem Staatsarchiv Köln 38 (1926), 226-230. 69 J. S. Seibertz, Chronicon episcoporum Coloniensium (Anm. 44), 195 f.

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obwohl die gegnerische Chronistik mit leichter Hand die eigentlichen machtpolitischen Motive enthüllen konnte7o . Kommen wir nun zu den Kriegen der Unterdrückung von Rebellionen. Insofern die Rechte geistlicher Fürsten tangiert werden, gehört eine solche Rebellion zu der gerade erwähnten Verfolgung der Kirche Gottes. Ein Erzbischof von Trier griff im 14. Jahrhundert Frankfurter Bürger an, die innerhalb des Trierer Gebietes freventlich Türme und Auslugstellen errichtet hatten. Ein Erzbischof des 15. Jahrhunderts gewann durch Belagerung eine Lehensburg zurück, die ihm durch Mannfall zustand, aber vorenthalten wurde71. Große Bedeutung hatte das Thema beim Kampf von Städten gegen bischöfliche Stadtherrn. Hier wird nun wiederum deutlich, wie sehr die Bilder, die beide Seiten vom Krieg besaßen, auseinanderklaffen konnten. Nehmen wir wieder ein Beispiel aus der Kölner Geschichte, die Darstellung der Schlacht von Worringen 1288, in der die Stadt praktisch ihre Unabhängigkeit gewann. Die Stadt war mit Fürsten verbündet, und der Chronist eines dieser Fürsten drückt ihren Standpunkt aus, wenn er sagt, der freie Handel der Stadt stand auf dem Spiel. Ein Chronist aus der Umgebung des Erzbischofs spricht dagegen von einer puren Rebellion gegen den Herrn und Hirten, die mit einer halsstarrigen Kühnheit ausgeführt wurde72 . Es ist ein nahtloser Übergang vom Verständnis einer Rebellion als Angriff auf die Kirche zu dem eines Angriffs auf die gute, herkömmliche Ordnung, die implizit immer als von Gott gewollt verstanden wurde. Der Aufstand der Stände gegen den Deutschen Orden in den 1450er Jahren wird von der Ordenschronistik schlicht als Verrat bezeichnet73, so wie auch die Aufstände gegen weltliche Fürsten und innerstädtische Unruhen von den Angegriffenen verstanden wurden 74 . IX.

Wir wenden uns nunmehr direkten und indirekten Zweifeln am Krieg zu und knüpfen dabei an das, was über das Ideal des Friedensfürsten gesagt wurde, an. Zu Zweifeln mußte es schon führen, wenn ein Chronist darstellte, wie sich beide Seiten auf gute Rechte beriefen, wenn man etwa Ottokar von Böhmen vor der 70 Constanze Proksch, Klosterrefonn und Geschichtsschreibung im Spätmittelalter (Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter, N.F. 2), Köln / Weimar / Wien 1994, bes. 98 - 102. 71 E. Zenz, Taten der Trierer (Anm. 49),18/21. 72 Rolf Sprandel, Chronisten als Zeitzeugen (Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel im Mittelalter, N.F. 3), Köln/Weimar/Wien 1994, 170 f. 73 Cord Ulrichs, Der 13jährige Krieg zwischen dem Deutschen Orden und dem preußischen Ständebund im Spiegel der Geschichte von wegen eines Bundes, in: Krieg und Verbrechen nach spätmittelalterlichen Chroniken, hrsg. v. Christoph Heiduk u. a. (Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel, N.F. 4), Köln / Weimar / Wien 1997, 231. 74 Reinhard Barth, Argumentation und Selbstverständnis der Bürgeropposition in städtischen Auseinandersetzungen des Spätmittelalters (Kollektive Einstellungen und sozialer Wandel, 3), Köln/Wien 1974.

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Schlacht auf dem Marchfeld 1276 seine Rechte an Österreich und Steiennark darlegen ließ und wenn ,man nicht nur von der guten Sache seines Gegners, Rudolfs von Habsburg, hörte 75. Der Chronist von Oldenburg erklärte einen Bruderkrieg um die Nachfolge in der Grafschaft damit, daß sich der eine Prätendent auf die Wahl, der andere auf den Altersvorrang berier?6. Überhaupt waren Erbkriege und Kriege wegen Doppelwahlen schwer zu ertragen. Ein Erbstreit zog in Holstein zahlreiche Mißstände nach sich, Räuber machten die Straßen unsicher77 . In Trier verursachte die Doppelwahl von 1430 große Schäden für die Kirche 78 . Und wie war es mit Kriegen von Bischöfen untereinander? Als 1367 der Bischof von Hildesheim den Bischof von Halberstadt, einen großen Logiker, gefangennahm, durchlief ganz Sachsen das Sprichwort, die Logik säße gefangen bei der Rhetorik, berichtet uns der Chronist des Hildesheimers 79. Das ist wohl eine Anspielung an die Bataille de sept arts von Henri d' Andeli (13. Jahrhundert), einen Schultext, in dem die Sieben freien Künste in der Allegorie einer Schlacht vorgestellt werden 8o . Der friedliebende Autor half sich, indem er die bedrückende Kriegswirklichkeit nicht ernst nahm, sondern als eine Fortsetzung literarischgelehrter Übungen mit anderen Mitteln betrachtete. Ein Chronist, der hundert Jahre später schrieb, berichtet davon, wie die Herzöge von Braunschweig gegen das Bistum Hildesheim Krieg führten. Der Bischof Ernst starb 1471 ex nimia tristida. Dann brach ein Kampf um die Nachfolge aus. Qualis velit esse finis. Deus novit. Der Fortsetzer fügt hinzu, daß der Abt des Michaelsklosters, aus Liebe zum einfachen Leben das Bistum ausgeschlagen habe, aber dann auch starb, aus Traurigkeit wegen der Kriege, die trotzdem entstanden waren 81 . Auch das päpstliche Schisma reichte mit seinen Auswirkungen in die Landschaften hinein. Sie riefen nach dem hessischen Chronisten viel Verfolgung und Blutvergießen in Hessen und in anderen Landschaften hervor82 . In den Regionen konnte man einzelnen Fürsten die Verantwortung für Kriege anlasten, aber im europäischen Rahmen bekamen diese etwas Schicksalhaftes, wie das Wetter und die Pestzüge. Invida fata et surgentibus guerris ist eine Fonnulierung in der Kölner Bischofschronik83 . Die Magdeburger berichtet von einer Synode von 1362, wo pro pace et contra pestilenciam gebetet worden sei 84 . Kriege rangieren unter den Mißgeschicken, die dem irdischen Leben anhaften. 75

R. Sprandel. Chronisten (Anm. 72), 138 in Verbindung mit MGH Dt. Chr. 6, 129.

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H. Meibom. Chronica archicomitum Oldenburgensium (Anm. 26), 179.

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MGH SS 21, 290. E. Zenz. Taten der Trierer (Anm. 49), 22 f. G. W. Leibnitz, Chronica episcoporum Hildesheimensium (Anm. 36), 800. Albert Gier, Henri d' Andeli, in: LexMa 4 (1989), Sp. 2135. G. W. Leibnitz. Chronica episcoporum Hildesheimensium (Anm. 36), 802. H. Diemar, Chroniken (Anm. 52), 280. J. S. Seibertz, Chronicon episcoporum Coloniensium (Anm. 44), 197. MGH SS 14.439.

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Bei einem Autor wie Aeneas Silvius verlieren selbst die Türkenkriege ihren heiligen Charakter. Wie soll man es sonst deuten, wenn er in seiner österreichischen Geschichte schreibt: ,,Der Türkenfeldzugspredigt folgen nur die Armen, nicht die Reicheren, die mit dem gegenwärtigen Zustand zufrieden sind,,85. Welche hintersinnige Bedeutung gibt er den Türkenkriegen? Sind es nur die Armen, die den Appell Gottes in der Türkengefahr erkennen? Die Reichtümer der westlichen Welt werden offenbar nicht mehr an der osmanischen Grenze verteidigt. Seinen Fürsten, Friedrich den Siegreichen, nennt Matthias von Kernnat einmal übermütig "dem Kaiser sein Türk,,86. Das ist doppeldeutig. Denn der Heidelberger Kurfürst ist eine stolze Herausforderung für den größten Fürsten des Abendlandes, aber sicherlich nicht der Feind Gottes wie der Türke. Auch der Türke ist hier offenbar nur noch die größte ritterliche Herausforderung, und insofern haben die Türkenkriege auch bei diesem Chronisten ihren heiligen Charakter verloren.

x. Neben einem Überblick über die Hofchronistik erläuterten wir zunächst das affIrmative Verhältnis zum Krieg, das sich in der Chronistik von Laienhöfen spiegelt, die wohl alte anthropologische Schichten aufleben läßt. Griechische Philosophen lehnten den Krieg ab, bezeichneten ihn als Räuberei. Nur Kriege zur Verteidigung der Zivilisation nach innen und außen waren zugelassen. Im Mittelalter kam ein weiterer gerechtfertigter Krieg, der Rechtsstreit, hinzu. Herkunft vom Prozeß und Analogie zu diesem ließen ein umfangreiches, aber elastisches Regelwerk, das Fehderecht, entstehen und sicherten auch der Einbeziehung religiöser Formen und Mittel die Anerkennung. Allerdings steht dieser Rechtfertigungsmöglichkeit eine neue schärfere Verurteilung des Krieges durch die christliche Idee des Friedens gegenüber, die vor allem an der Figur des Bischofs, des geistlichen Fürsten als Friedensfürsten, demonstriert wurde. Somit hatte der Krieg als Rechtsstreit nach zwei Seiten hin gewissermaßen eine unfeste Abgrenzung. Einerseits ließ ihn altgewohnte adelige Kriegsbereitschaft zu einem durchschaubaren Vorwand werden, andererseits tendierte eine christliche Erziehung dahin, auch den Krieg als Rechtsstreit abzuschaffen. Wurden von diesem christlichen Friedenspostulat alle Kriege erfaßt? Neben dem Krieg gegen innere und äußere Feinde der Kirche Gottes war der Einsatz für den Landfrieden und andere Friedensinstitutionen des Reiches erlaubt und erwünscht. Aber gerade unter der Decke der Landfriedenspolitik vollzog sich 85 Th. llgen, Historia (Anm. 45), 294. Über die im allgemeinen traditionelle Einstellung der Humanisten selbst gegenüber den Kreuzzügen vgl. Ludwig Schmugge, Die Kreuzzüge aus der Sicht humanistischer Geschichtsschreiber (Vorträge der Aeneas Silvius Stiftung an der Universität Basel, 21), Basel/Frankfurt a.M. 1987. Aeneas hat mit den zitierten Sätzen gewissennaßen seine späteren Mißerfolge als Papst vorausgeahnt. 86 K. Hofmann, Chronik Friedrichs I. (Anm. 17),67.

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viel territorialstaatliche Machtpolitik von weltlichen und geistlichen Fürsten, historisch gesehen höchst verständlich, aber im Denken der Zeit verwerflich, so daß eine Aufgabe der Hofchronistik darin bestand, den Gegner zu entlarven und damit den eigenen Krieg als den gerechten Verteidigungskrieg hinzustellen. Zweifel am Krieg tauchen bei vielen spätmittelalterlichen Chronisten auf. Sie erwuchsen einerseits aus den bereits vorhandenen Ansätzen zum pluralistischen Denken - mußte ein Chronist doch oft auch einen gegnerischen Standpunkt referieren und verstehen. Andererseits wurden sie auch von den zerstörerischen Wirkungen der Kriege geweckt, die gerade einem bürgerlich beeinflußten Chronisten auffallen mußten. Die Zweifel erstreckten sich sogar auf Religionskriege. Aber diese Skepsis war nicht das letzte Wort des Mittelalters an die Neuzeit. Die Kriege gingen weiter, die Religionskriege und die anderen, und diese anderen Kriege brauchten, wie es scheint, in geringerem Maße als im Mittelalter eine höhere, etwa eine friedenspolitische Rechtfertigung. Der Krieg als Rechtsstreit setzte sich entschiedener durch. Seine Formen gewannen an Eindeutigkeit. Der habsburgische Hofchronist Albrecht von Bonstetten sagt über Maximilian, er habe nationes besiegt, die außerordentlich kriegstüchtig waren. Aber seine Siege erfocht er nicht nur durch Waffen, sondern auch durch Klugheit, durch Strategie. "So errichtete er sowohl im Krieg als auch im Frieden hervorragende Denkmäler". Von solchen Zeugnissen ausgehend kann man vielleicht sagen, daß der Krieg aus einem ambivalenten Licht heraustrat und ein Bestandteil der Kultur der Neuzeit wurde.

Die Poetik der Schlacht und die Prosa des Krieges Nationalverteidigung und Bürgermiliz im moralphilosophischen Diskurs der schottischen Aufklärung*

Von Matthias Bohlender, Berlin I. Von der Bürgermilizfrage zur moralphilosophischen Gesellschaftsdiagnose

Um die Intensität und Wirkungsweise jener seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in Schottland geführten diskursiven Auseinandersetzung um die rechtmäßige Etablierung einer eigenständigen schottischen Bürgermiliz zu verstehen, muß auf ein Ereignis hingewiesen werden, daß nicht nur damals die Bürgermiliz-Debatte mitbestimmte, sondern bis heute mnemotechnisch mobilisiert wird, wenn es darum geht, Schottland gegenüber England als eigenständige "Nation", als "Volk", als "Staat" auszuweisen. Gemeint ist die bis heute wohl letzte militärische Auseinandersetzung auf dem Boden des Vereinigten Königreichs (England, Wales, Schottland), die man in Schottland nur unter dem Kürzel "The Forty-Five" kennt. Nach drei gescheiterten Versuchen (1708, 1715 und 1719), den Stuart-Prätendenten J ames III. gewaltsam auf den britischen Königsthron zu heben, war es im August des Jahres 1745 der Sohn James III. - Charles Edward Stuart, genannt "Bonnie Prince Charles" -, der mit der überwiegenden Mehrzahl der Clans aus den schottischen Highlands sich anschickte, sein und seines Vaters venneintliches Recht auf den Königstitel mit einer militärischen Operation vom Norden des Landes aus durchzusetzen. Nach furiosen anfanglichen Erfolgen gegen die englischen Truppen unter General Cope (Prestonpans), nach der Einnahme Edinburghs und dem weiteren Eindringen in englisches Gebiet (Carlisle, Lancaster, Preston, Manchester) kam der Vonnarsch der Rebellenarmee auf London am 4. Dezember 1745 bei Derby zum Stillstand. Die erhoffte Unterstützung englischer Jakobiten war weitgehend ausgeblieben; die Pläne für eine französische Invasion der Insel

* Die hier vorgestellten Überlegungen sind im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Teilprojektes der an der Humboldt Universität zu Berlin angesiedelten Forschergruppe Historisch-sozialwissenschaftlicher Gesellschaftsvergleich entstanden. Für kritische Lektüre, Hinweise und Kommentare danke ich Herfried Münkler und Martin Kaßler.

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von Süden her (Dünkirchen-London) schienen sich zerschlagen zu haben und die Massierung von englischen Truppen unter militärischer Leitung des Duke of Cumberland (3. Sohn Georges 11.) hinterließ erhebliche Zweifel an einem erfolgreichen Marsch auf London. Der lange Rückzug in die schottischen Highlands - begleitet von kleinen Scharmützeln (Falkirk) und Desertionen - endete in einem Fiasko. Die vernichtende Niederlage der Stuart-Annee in der Schlacht von Culloden (bei Inverness) am 16. April 1746 markiert das militärische Ende dieser politischen Rebellion 1• Doch nicht nur für die Engländer, sondern auch für jene zumeist presbyterianischen Lowland-Schotten, die während der gesamten Ereignisse loyal zum Hause Hannover standen, hatte jene immerhin fast zehn Monate andauernde Rebellion die massiven Verteidigungs schwächen des Landes offenbart. Insbesondere die kampflose Übergabe Edinburghs wurde für die späteren Wortführer einer schottischen Bürgermiliz zum zentralen Argument für die Agitation um die Etablierung eines dichten Netzes nationaler Verteidigung 2 - eines Netzes, das im wesentlichen auf der jeweils lokalen Mobilisierung politisch loyaler, moralisch integrer, ökonomisch unabhängiger und militärisch trainierter Bürger-Soldaten basieren sollte. Die Debatte der britischen Öffentlichkeit um die Etablierung eines effektiv organisierten Kontingents schlagkräftiger Bürgermilizen begann schon zu Anfang der 50er Jahre und erreichte ihren Höhepunkt mit der 1756 von Pitt ins Parlament eingebrachten Englischen Militia Bill. Mit dem English Militia Act von 1757 wurden dann jedoch ganz bewußt die Schotten (und die Iren) ausgeklammert. Eine umfassende Wiederbewaffnung jener ,,North-Britons", die vor noch nicht allzu langer Zeit mit ihrer Rebellion ganz England in Angst und Schrecken versetzt hatten, kam auch angesichts der massiven Drohung einer französischen Invasion nicht in Frage. Dieser bewußte Ausschluß eines schottischen Beitrages zur Landesverteidigung inmitten des Siebenjährigen Krieges war zugleich der Beginn einer eigenständigen schottischen Bürgermilizdebatte, die mit Unterbrechungen und konjunkturellen Schwankungen (1756 - 1762; 1775 - 1783; 1793 - 1797) bis zum Ende des Jahrhunderts andauern sollte. Erst 1797 wurde von seiten Londons eine zeitlich I Vgl. dazu leremy Black, Culloden and the '45, Stroud I New York 1990, sowie die Studie von Bruce Lenman, The Jacobite Risings in Britain 1689 - 1746, Aberdeen 1995. 2 Trotz der Empfehlung des Bürgermeisters von Edinburgh, Archibald Stewart, die Stadt den Rebellen kampflos zu übergeben, formierten sich verschiedene Freiwilligenverbände (companies of volunteers), darunter auch ein Verband älterer Collegestudenten (College Company of Edinburgh Volunteers) unter der Leitung von George Drummond. Mitglieder dieser Freiwilligentruppe waren unter anderem William Robertson, der Historiker und spätere Rektor der Universität, weiterhin John Horne, der in den 50er Jahren zu den bedeutendsten Dichtern Schottlands avancierte, und Alexander Carlyle, Geistlicher und später wichtige Integrationsfigur des moderaten Flügels der schottischen Presbyterianer. Neben ihrem Freund Adam Ferguson zählten sie zu den wichtigsten Wortführern einer Schottischen Bürgermiliz. Vgl. lohn Robertson, The Scottish Enlightenment and the Militia Issue, Edinburgh 1985, 76 ff.; Richard B. Sher, Church and University in the Scottish Enlightenment, Edinburgh 1985,40ff.

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begrenzte Fonnierung einer 6000 Mann umfassenden schottischen Bürgenniliz genehmigt 3 • Diese unter erheblichen Widerständen der Bevölkerung zwangsrekrutierte militärische Formation war jedoch alles andere als das, was sich ihre Verfechter vorgestellt und erhofft hatten. An dieser fast vierzig Jahre andauernden sozialen, politischen und kulturellen Auseinandersetzung interessiert hier jedoch nicht so sehr das Nachzeichnen der unmittelbar tagespolitischen Argumente als vielmehr die Tatsache ihrer Dauer, ihrer Langlebigkeit und Intensität. Sicherlich gab es in der Geschichte Englands und Schottlands eine lange Tradition in der Frage Bürgenniliz oder stehendes Heer, Rekrutierung professioneller Söldner oder Mobilisierung patriotischer Bürger-Soldaten. Schon in der Mitte des 17. Jahrhunderts, vor allem aber in den 1690er Jahren fonnierte sich um Autoren wie John Trenchard, John Toland und den Schotten Andrew Fletcher ein - wie Pocock es nannte - Neo-Harringtonianischer Diskurs, der sich vehement gegen "standing armies" und für eine britische Bürgenniliz als ausschließliche Option zur Verteidigung des Landes stark machte 4 . Doch im Mittelpunkt dieser frühen Debatte stand ein Argument, das im Kontext der schottischen Bürgennilizdebatte im 18. Jahrhundert dann nur noch am Rande auftauchte: die dauerhafte Sicherung der konstitutionellen Freiheit des britischen Bürgers, die Aufrechterhaltung der politischen Machtbalance zwischen Krone und Parlament. Statt dessen lassen sich neben diesem eher politisch-konstitutionellen Argument 5 bei den schottischen Autoren des 18. Jahrhunderts (Robert Wallace, Adam Ferguson, Alexander Carlyle, John Horne) zwei zusätzliche Argumente herauskristallisieren. 3 Zur Geschichte der Reform des englischen Bürgermilizwesens und die Einsetzung einer schottischen Bürgermiliz 1797 ist noch immer grundlegend l. R. Western, The English Militia in the Eighteenth Century. The Story of a Political Issue 1660 - 1802, London / Toronto 1965; ders., The Formation of the Scottish Militia in 1797, in: Scottish Historical Review, 34 (1955), 1- 18. 4 Vgl. lohn G. A. Pocock, The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton 1975; ders., Virtue, Commerce and History. Essays on Political Thought and History, Chiefly in the Eighteenth Century, Cambridge 1985, sowie Lais G. Schwoerer, ,No Standing Armies'. The Anti-Army Ideology in SeventeenthCentury England, Baltimore / London 1974. 5 Eine spezifische Variante dieses Arguments läßt sich bei den schottischen Autoren gleichwohl festhalten, insbesondere nach 1757. Ich nenne es das national-konstitutionelle Argument, insofern nämlich hier darauf abgezielt wird, die Einheit der britischen Nation einzuklagen. Eine militärische Ungleichbehandlung (englische Miliz ja, schottische Miliz nein) gefährde die nationale Einheit, ja die Einheit der britischen Verfassung. ,,[Ljet not one part of our race be doomed to baseness and servility, whilst the other is formed to elevation and honour. One rotten member is sometimes found to spread corruption over the whole, and lurking humour in one corner, to destroy the soundest constitution" (Anonymus, The History of the proceedings in the case of Margaret, Commonly called Peg only lawful sister to John BuH, esq., London 1761, reprint Cambridge 1982, 102). Höchstwahrscheinlich handelt es sich bei dem Autor dieses satirischen Pamphlets über die Geschichte der schottischen Bürgermilizdebatte um Adam Ferguson. So zumindest R. B. Sher, Church and University (Anm. 2), 230 f., während David R. Raynor in der Einleitung zur Neuausgabe dieses Textes in David Hume den Autor zu sehen glaubt.

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Das militärstrategisch-ökonomische Argument

Dieses Argument besagt, daß die ausschließlich auf heimischem Boden operierenden "well-regulated militias" gegenüber Söldnerheeren nicht nur als eine ökonomisch effizientere Ressource anzusehen sind. Sie stellen auch eine militärisch effektive Ergänzung der eigenen, stehenden Heere im Ausland bzw. in den Kolonien und der britischen Streitkräfte zur See dar. Das sozio-moralische Argument

Dieses Argument besagt, daß in den über ein spezifisches Rotationsverfahren dauerhaft etablierten Bürgermilizen der Cities, Counties und Borroughs ein allgemeines Heilmittel gegen die korrumpierende und degenerierende Wirkung einer fortschreitenden Marktgesellschaft zu finden ist - und zwar einer civilized und commercial society, die ihren immensen Reichtum und Luxus auf Kosten der Tugend- und Wehrhaftigkeit ihrer Bürger akkumuliert. Interessant scheint mir nun, daß sich im Laufe der Jahre 1756 bis 1762 - also bis zur Formierung einer eigenständigen Plattform, dem "Poker-Club,,6 - die diskursive Akzentuierung vom militärstrategisch-ökonomischen zum sozio-moralischen Argument verschiebt. Mit dieser Verschiebung und Neugewichtung der Frage, inwieweit Bürgermilizen eine echte politische wie militärische Alternative zu stehenden Heeren darstellen, erreicht die gesamte Debatte ein neues Niveau. Sowohl das politisch-konstitutionelle Argument des ausgehenden 17. Jahrhunderts wie auch das militärstrategisch-ökonomische Argument der 1750er Jahre waren in gewisser Hinsicht konkrete Antworten auf eine spezifische, aber konjunkturelle Bedrohung (Despotismus, Invasion) - sei es der konstitutionellen Machtba1ance von innen, sei es der nationalen Eigenständigkeit von außen. Jene symptomatische Bedrohung jedoch, die von einer scheinbar anonymen, kaum wahrnehmbaren gesellschaftlichen Veränderung ausging, war - in den Augen der Zeitgenossen 6 Von der Entstehung dieses Clubs und seines Namens berichtet eines seiner eifrigsten Mitglieder rückblickend: ,Jn the beginning of 1762 was instituted the famous club called "The Poker", which lasted in great vigour down to the year 1784. About the third or fourth meeting, we thought of giving it a name that would be of uncertain meaning, and not be so directly offensive as that of Militia Club to the enemies of that institution. Adam Smith fell luckily on the name of "Poker", which we perfectly understood, and was at that time considered an enigma to the public. [The poker would stir up the militia question] This club considered of all the literati of Edinburgh and its neighbourhood, most of whom had been members of the Select Society, except very few indeed who adhered to the enemies of militia, together with a great many country gentlemen, who, though not always resident in town, yet were zealous friends to a Scotch militia, and warm in their resentment in its being refused to us, and an invidious line drawn between Scotland and England. The establishment was frugal and moderate, as that of all clubs for a public purpose ought to be". Vgl. The Autobiography of Dr. Alexander Carlyle of Inveresk, 1722 - 1805, zit. nach David Daiches, A Hotbed of Genius, Edinburgh 1986,36.

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weder konkret noch konjunkturell, weder von innen heraus institutionell zu fixieren, noch unmittelbar an einen äußeren Feind zu adressieren. Die Bedrohung durch die sich ankündigende Marktgesellschaft (commercial, polite, refined society) war also keine der politischen Konstitution und keine der nationalen Eigenständigkeit. Vielmehr wurde sie als eine Bedrohung des Nationalcharakters, der moralisch-ethischen Integrität, der sozialen Distinktion des Bürgers überhaupt wahrgenommen. Der Wortführer dieser sozio-moralischen Wende in der schottischen Bürgermilizdebatte, Adam Ferguson, schreibt dazu schon 1756 in seiner Schrift Reflections Previous to the Establishment ofa Militia: "Wir sind schon viel zu weit gegangen in der Ansicht, daß Handel und Gewerbe unserem Land allein genüge. Im Streben nach dieser Vorstellung arbeiten wir nur noch, um reich zu werden, vernachlässigen aber die Mittel, diesen Reichtum zu verteidigen. Wir sind dabei, diese Nation in einen Manufakturbetrieb zu verwandeln, in dem jeder auf seinen eigenen Arbeitsbereich beschränkt bleibt und dabei in den Gewohnheiten und Eigenheiten desselben versinkt. Wir mögen so den Erfolg unserer Erzeugnisse bewundern, doch beleidigen wir damit nur den Glanz der menschlichen Natur"? Was sich in dieser kurzen Passage ankündigt, ist jene argumentativ-rhetorische Verschiebung, die das Problem der nationalen Verteidigung, der Bürgermiliz - ja das Problem des Krieges selbst - aus dem Kontext unmittelbarer Bedrohungen herauslöst und mit einer wesentlich umfassenderen gesellschaftspolitischen und moralphilosophischen Zeitdiagnose verknüpft. Die Bedrohung entspringt nun aus der möglichen Entwicklung der Gesellschaft. Dort, wo diese im Begriff ist, die alten sozialen Bande der Herkunft, der Tugend und der Distinktion durch Arbeitsteilung, Handel und Luxus zu zerreißen, droht sie zu kollabieren. Militärische Eroberung durch ein fremdes Land oder tyrannischer Despotismus sind keine singulären Ereignisse, sondern lediglich die letzten und offensichtlichsten Manifestationen eines solchen sozio-moralischen Kollapses. Möglicherweise wäre die Debatte um die Etablierung einer schottischen Bürgermiliz zu Beginn der 1760er Jahre längst beendet gewesen, hätte diese argumentativ-rhetorische Verknüpfung einer "tagespolitischen" Auseinandersetzung mit einem schon vorhandenen sozialpolitischen und moralphilosophischen Diskurs nicht stattgefunden. Ihre Zähigkeit und Dauerhaftigkeit verdankt die Bürgermilizdebatte der Tatsache, daß nationale Verteidigung, stehende Heere und Krieg plötzlich zu Elementen eines Diskurses über die ökonomische, politische und moralische Verfaßtheit einer modemen civilized und commercial society wurden. Umgekehrt aber schuldet dieser Diskurs jenen diskursiven Elementen eine neue Ausrichtung, eine neue Problematik: nämlich die der Gefährdungen, der Brüchigkeit und Instabilität der am Horizont imaginierten reichen, polizierten und friedlich-zivilisierten Gesellschaften. Wie im einzelnen diese Doppelbewegung zu denken ist, 7 Adam Ferguson, Reflections Previous to the Establishment of a Militia, London 1756, 12. Hier wie im folgenden gilt, daß alle Zitate aus Fergusons Texten - mit Ausnahme des Essay on the History of Civil Society - vom Autor aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt wurden.

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welche Kategorien und Diagnosen sich daraus ergeben und warum sie am Ende doch scheitert - so wie auch letztlich die Etablierung einer schottischen Bürgermiliz scheiterte - wird im folgenden an Adam Fergusons 1767 veröffentlichtem Hauptwerk An Essay on the History 0/ Civil Society mit einem Seitenblick auf Adam Smiths 1776 veröffentlichten Wealth 0/ Nations darzulegen versucht. 11. Die Geburt der Gesellschaft aus der Poetik des Krieges

Der herrschende moralphilosophische Diskurs, in den Adam Ferguson - der presbyterianische Militärkaplan und Professor für Moralphilosophie - mit seiner überaus erfolgreichen History 0/ Civil Society eintreten sollte, dieser Diskurs hatte sich in bezug auf das Verhältnis von Krieg und Gesellschaft seit Thomas Hobbes nur um Nuancen verändert 8 : Der Krieg ist kein Ereignis der Gesellschaft. Die Gesellschaft beginnt, wo der Krieg endet, und die Gesellschaft endet, wo der Krieg beginnt. Man muß den Krieg, wenn er schon aus anthropologischen Gründen nicht gänzlich zu vermeiden oder abzuschaffen ist, restringieren, zivilisieren, regulieren; man muß ihn aus der Mitte der Gesellschaft an die Ränder, an die Grenzen, an den Saum des Gemeinwesens verbannen. Stehende Heere, Söldnerarmeen, professionelle Kriegshandwerker, geschützte Garnisonen, bewachte Forts, militärische Disziplin, Uniformierung, Gesetze des Krieges und der Kriegführung - alles das sind Zeichen für die sorgfältige Distinktion von Krieg und Gesellschaft. Es gibt eine prosaische Ordnung des Krieges, eine prosaische Ordnung der Schlacht, die zu lesen und zu bilanzieren man in der Lage sein muß. Diese Ordnung hat nichts mit der Ordnung der Gesellschaft, des Handels, des Staates und der Familie zu tun außer daß auch sie eben eine Ordnung besitzt, die transparent, übersichtlich und lesbar ist. Der Skandal von Adam Fergusons Abhandlung bestand nun darin, diese fein säuberliche Trennung von Krieg und Gesellschaft, von Soldat und Bürger, von lärmendem Schlachtgetümrnel und lautloser Gesetzesexegese aufzuheben. Schon von seiner Biographie her schien er dafür geradezu prädestiniert. 1723 in den schottischen Highlands geboren, studiert er in Edinburgh Theologie und Philosophie. Erstmals tritt er öffentlich in Erscheinung mit einer Fastenpredigt, die er als Militärkaplan in London am 18. Dezember 1745 vor seiner Einheit - dem 42. Highlandregiment der "Black Watch" - vorträgt. Noch weiß man in London nichts 8 Erst mit Hobbes wird der "Krieg" zu einem juridisch-philosophischen Problem. In seiner berühmten Passage (Thomas Hobbes. Leviathan, ed. with an introduction by C.B Macpherson, Harmondsworth 1985, 186) bestimmt er das Wesen des Krieges (nature of Warre) nicht als eine zeitlich begrenzte Abfolge von Kampfhandlungen (act of fighting) und Schlachten (Baueli), sondern als eine dauerhafte Disposition der Menschen zu beständiger Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes. Hobbes' philosophische Verschiebung von einer Kriegszeit (time of Warre) zu einem Kriegszustand (condition of warre) ist die zentrale Voraussetzung dafür, den "Krieg" aus der Gesellschaft zu verbannen. Vgl. dazu Herfried Münkler, Gewalt und Ordnung. Das Bild des Krieges im politischen Denken, Frankfurt a.M 1992, 15.

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vom beginnenden Rückzug der Rebellenarmee des "Young Pretender", noch ist unklar, wie sich die Soldaten dieses Highlandregiments im Konflikt mit ihren Bekannten, Verwandten und Freunden verhalten werden. In dieser durchaus prekären Situation ruft Ferguson die Soldaten zur Loyalität mit König, Religion und Verfassung auf, und mit rhetorischem Elan heißt es am Ende: "Wenn ihr nun euren Bekannten entgegentretet, dann, um sie vor ihrem eigenen Ruin zu schützen. Wenn ihr euch nun euren Verwandten widersetzt, dann, um sie und ihre Nachfahren für immer vor der Sklaverei zu retten"9. 1756 dann tritt Ferguson in die Debatte um die Etablierung einer Bürgermiliz ein. Alle Einwände gegen eine Bewaffnung der Bürger - Rebellion, Aufruhr, Umsturzversuche - verkehrt er ins Gegenteil: Erst der Verlust von material spirit, warlike dispositions und habit to use armes hat es "ein paar Banditen von den Bergen" ermöglicht, fast das gesamte Land widerstandslos zu überrollen. "In der Tat," so schreibt Ferguson, "solange unser Volk entwaffnet ist und soweit pazifiziert, um eine Invasion geradezu herauszufordern, haben wir Grund, uns selbst vor einigen wenigen zu fürchten [ ... ]; aber ist unser Volk erst einmal bewaffnet und vorbereitet, sich selbst zu verteidigen, wären dann nicht die Beleidigungen, die wir erlitten, und die zukünftigen Bedrohungen eines Feindes der Lächerlichkeit preisgegeben"lO. Sein Ideal ist der freie, unabhängige Bürger in Waffen, gewöhnt an militärische Disziplin, Unterordnung und Gehorsam. Wie aber, so stellt er sich hier schon die Frage, ist Freiheit und Unterordnung, Unabhängigkeit und Gehorsam miteinander vereinbar? Wie motiviert man den Bürger, sich in einen Soldaten zu verwandeln, ohne daß dieser sich den bürgerlichen Freiheiten entschlägt? 1756 beantwort Ferguson diese Frage nur zögerlich, vor allem aber noch im Jargon der militärstrategisch und juridisch dominierten Debatte: Neben der kulturellen und gesellschaftlichen Aufwertung des Soldatenberufs sollte ein compulsatory Law verabschiedet werden, das notfalls, mit wenn auch abgestuften Strafmaßnahmen, den schlagkräftigen Bestand der Bürgermilizen garantiert. Nach der zweimaligen, parlamentarischen Niederlage der schottischen MilitiaBill (1760 und 1762) und dem absehbaren Ende des Krieges (1763) verschieben sich die Argumentationsfiguren. Ferguson ist mittlerweile Professor für Moralphilosophie in Edinburgh und hat sich im Kreis der schottischen Gelehrten und Intellektuellen (David Hume, Adam Smith, William Robertson, Hugh Blair, Lord Kames) etabliert. Die Abhandlung über die Geschichte der Civil Society von 1767 ist ein neuerlicher Anlauf, das Problem von Freiheit und Unterordnung, von Unabhängigkeit und Gehorsam zu lösen - nun aber nicht mehr unmittelbar im Kontext der politischen Durchsetzung einer Gesetzesvorlage, sondern im Kontext moralphilosophischer Fragen nach dem, was Menschen innerhalb einer Gesellschaft aneinanderbindet, was sie motiviert, zusammenzuleben und zusammen zu handeln: 9 Adam Ferguson, A Sermon preached in the Ersh Language to His Majesty's First Highland Regiment of Foot, London 1746, 23. 10 A. Ferguson, Establishment of a Militia (Anm. 7), 24 ff.

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Was macht eine Gesellschaft zur Gesellschaft, was hält sie zusammen, was gefahrdet, was belebt sie? Wie muß das ominöse "soziale Band", von dem auch schon Hobbes, Locke und Hutcheson sprachen, beschaffen sein, um auch unter sich grundlegend verändernden sittlichen, ökonomischen und sozialen Bedingungen bestehen zu können? Als Adam Ferguson begann, diese Fragen zu beantworten, betrat er allerdings ein diskursives Terrain, das vom neuen kommerzialen Diskurs seines Landsmannes und Freundes David Hume schon dominiert wurde. In den 1752 veröffentlichten Political Discourses hatte Hume die Frage nach der besten Regierungsart freier Bürger im gesellschaftlichen Raum dahingehend beantwortet, daß es der soziale Austausch von Interessen, Leidenschaften und Bedürfnissen sei, welche freie Bürger in einer freien Gesellschaft aneinanderbinde. Und weiterhin behauptete Hume, daß es allein dieser Handel (commerce, intercourse, communication) sei, der die Macht des Staates mehre und das Glück seiner Untertanen sicherelI. Hume verwarf damit sowohl die hobbesianische Vorstellung vom omnipotenten Souverän, der die Stabilität einer Gesellschaft garantiere, als auch die Ansicht der klassisch politischen Philosophie, wonach allein die gemeinwohlorientierte politische Tugend der Bürger die Erhaltung einer freien Republik gewährleiste. In ähnlicher Weise hatte dann auch Adam Smith in seiner 1759 erschienenen Theory of Moral Sentiments die Harmonie einer Gesellschaft danach bestimmt, inwieweit die durchaus irreduziblen Leidenschaften und Begehren der Menschen in Einklang miteinander zu bringen seien. Die einzige Möglichkeit, so Smith, halbwegs einen "Gleichlauf' (concurrence, concord, correspondence) der inkommensurablen Gefühlswelten der Menschen zu arrangieren, bestehe darin, die Heftigkeit der ursprünglichen Leidenschaften (violence of original passion) zu schwächen, d. h. sie zu reflektierten Leidenschaften (reflected passions) zu transformieren und zwar auf dem Wege dauernder Konversation, Kommunikation und gesellschaftlichen Verkehrs (conversation, communication, commerce). "Bringe jenen Menschen in Gesellschaft anderer, und er ist sogleich mit dem Spiegel ausgerüstet, dessen er vorher entbehrte. Dieser Spiegel liegt in den Mienen und in dem Betragen derjenigen, mit denen er zusammenlebt, die es ihm stets zu erkennen geben, wenn sie seine Empfindungen teilen und wenn sie sie mißbilligen; hier erst erblickt er zum erstenmal die Schicklichkeit und Unschicklichkeit seiner eigenen Affekte, die Schönheit und Häßlichkeit seines eigenen Herzens. [ ... ] Wenn wir keine Verbindung mit der Gesellschaft hätten, dann wäre uns beides gleichgültig,,12. 11 Einschlägig hierzu sind Humes Abhandlungen "Über Handel", "Über Verfeinerung in den Künsten", "Über die Handelsbilanz" und "Über den Argwohn im Handel". Alle enthalten in: David Hume, Politisch-ökonomische Essays, Teilbd. 2, Hamburg 1988. Zur spezifischen Rolle des kommerzialen Diskurses in der schottischen Aufklärung vgl. Matthias Bohlender, Government, Commerce und Civil Society. Zur Genealogie der politischen Ökonomie, in: Gesellschaften im Vergleich, hrsg. v. Hartmut Kaelble u. Jürgen Schriewer, Frankfurt a.M. 1998, 115 - 147. 12 Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle, hrsg. v. Walther Eckstein, Hamburg 1994, 168 ff.

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Bedenkt man die hegemoniale Rolle dieser Deutungsweise gesellschaftlichen Zusammenlebens wie auch ihre politische Perspektive auf eine sich historisch entwickelnde, friedliche, harmonische, zivilisierte commercial society, so läßt sich die Provokation von Fergusons Essay on the History of Civil Society auf der einen und seine ganz andersartige Herkunft - nämlich aus der republikanischen Bürgermilizdebatte - auf der anderen Seite besser verstehen. Fergusons Antwort auf die oben genannten Fragen läßt sich so zusammenfassen: Der Krieg ist das Ereignis der Gesellschaft. Die Ordnung des Krieges und die Ordnung der Gesellschaft sind nicht nur nicht getrennt, d. h. unabhängig voneinander oder gar antagonistisch; nein, der Krieg, die Feindschaft, der Widerstreit sind die zentralen genealogischen Bedingung für die soziale Bindungsfähigkeit der Menschen. "Ohne die Rivalität der Nationen und ohne die Praxis des Krieges könnte die civil society selbst kaum Inhalt und Form gefunden haben. Zwar könnten die Menschen ohne förmliche Übereinkunft Handel treiben, doch ohne Übereinstimmung innerhalb der Nation in Sicherheit zu leben, dies wäre ihnen nicht möglich. Die Notwendigkeit öffentlicher Verteidigung hat viele staatliche Abteilungen ins Leben gerufen; die geistigen Fähigkeiten der Menschen haben in der Handhabung der Streitkräfte der Nation ihr größtes Betätigungsfeld gefunden. In Furcht zu erhalten oder einzuschüchtern und, wenn wir nicht mit Vernunft überzeugen können, mutig zu widerstehen, das sind die Tätigkeiten, die einem energischen Geist die anregendste Übung und die größten Triumphe gewähren. Wer nie mit seinen Mitmenschen gekämpft hat, dem bleibt die Hälfte der menschlichen Gefühle fremd,,13. Civil society, Bürgergesellschaft wie Ferguson sie hier versteht, ist nicht das künstlich-kontraktualistische Agglomerat einzelner und vereinzelter Individuen, sondern immer schon das Ergebnis von Bündnissen und Vereinigungen auf der Grundlage kultureller, sozialer und eben gewaltförmiger Praktiken. Die Praktiken des Krieges (Militärdienst, nationale Verteidigung) haben einen wesentlichen Anteil an der Geburt der Gesellschaft und ihrer Stabilität, insofern sie den Menschen, die sich zu einer Vereinigung zusammenschließen, den Wert eines solchen Bündnisses vor Augen führen. Die Menschen realisieren hier - so Ferguson -, daß es auch die Anderen, die Fremden (aliens, foreigners), die nicht zur Gruppe, zum Volk und zur Nation Gehörigen gibt, die sie wiederum als Andere und Fremde bedrohen 14 • In diesem wechselseitig und gewaltförmig ausgetragenen Zuschreibungsprozeß bildet sich gesellschaft13 Adam F erguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, hrsg. u. eingel. v. Zwi Batscha u. Hans Medick, Frankfurt a.M. 1988, 127. 14 Wie unterschiedlich dagegen bewertet Fergusons schottischer Landsmann Adam Smith den Umgang mit Fremden: "Seid ihr im Unglück? Dann trauert nicht in der Finsternis der Einsamkeit, richtet euch in eurem Gram nicht nach der nachsichtigen Sympathie eurer vertrautesten Freunde! Kehret sobald als möglich in das helle Tageslicht der Welt und der Gesellschaft zurück! Suchet den Umgang mit Fremden, mit solchen, die von euerem Unglück nichts wissen, oder sich darum nicht bekümmern! Ja, meidet nicht einmal die Gesellschaft euerer Feinde, sondern machet euch vielmehr das Vergnügen, ihre Schadenfreude dadurch zu ärgern, daß ihr sie fühlen lasset, wie wenig euch euer Elend berührt, und wie hoch ihr über demselben steht!" A. Smith, Ethische Gefühle (Anm. 12),230.

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liche, nationale Identität, bildet sich das, was er national spirit oder national eharaeter eines Volkes nennt. Bei dieser Vorstellung vom Krieg als einer geradezu poetischen Praxis der Identitätsbildung einer Gesellschaft ist von entscheidender Bedeutung, daß möglichst viele (Frauen, Kinder ausgeschlossen) an dieser Erfahrung partizipieren. Der Bürger einer solchen eivil soeiety ist immer zugleich auch Krieger: eitizen and warrior. Mit einer überdeutlichen Polemik gegen Humes und Smiths kommerzialen Diskurs wie auch gegen jene Verfechter stehender Heere, die die Verbindung von Krieger und Bürger aufgelöst sehen möchten, schildert Ferguson folgenden Dialog: ",Der König von Spanien ist ein großer Fürst', bemerkte ein amerikanischer Häuptling zum Gouverneur von Jamaika, der ein Heer zusammenstellte, um sich einem Unternehmen gegen die Spanier anzuschließen. ,Habt ihr die Absicht, mit einer so kleinen Streitmacht gegen einen so großen König Krieg zu führen?' Als man ihm sagte, die Truppen, die er sähe, sollten noch durch andere aus Europa verstärkt werden, und der Gouverneur könne für dieses Mal nicht mehr aufbieten, fragte der eingeborene Amerikaner: ,Wer sind die Leute, die sich hier als bloße Zuschauer drängen? Sind es nicht Eure Leute? Warum geht Ihr nicht alle gemeinsam in einen so großen Krieg?' Man antwortete ihm, daß die Zuschauer Kaufleute und andere Einwohner seien, die keinen Kriegsdienst leisteten. ,Würden sie denn immer noch Kaufleute bleiben', fuhr dieser Staatsmann fort, ,wenn der König von Spanien Euch hier angreifen würde? Ich für meinen Teil bin nicht der Meinung, daß man Kaufleuten die Erlaubnis geben sollte, in jedem Land zu leben. Wenn ich in den Krieg ziehe, lasse ich niemanden zuhaus außer den Frauen ".15. Die poetischen Praktiken des Krieges jedoch enden nicht in der unmittelbaren Befriedung des bewaffneten Konfliktes. Die Poetik der Schlacht, aus der die Bürgergesellschaft geboren wurde, findet ihre Fortsetzung in den lokalen institutionellen Praktiken eines Militärdienstes (military service), den fortan alle Bürger (erwachsene, wehrfähige Männer) zu absolvieren verpflichtet sind. Die institutionelle Praxis der Bürgermilizen durchzieht gleich Knotenpunkten das Gewebe der Bürgergesellschaft und garantiert damit die Geschlossenheit und Kohäsionskraft des gesamten politischen Körpers. Die lokalen Bürgermilizen werden zu sozialen Orten, an denen die Einübung und Generierung von öffentlicher Bürgertugend und Nationalgeist stattfindet. Der vergesellschaftete Militärdienst hat demnach einerseits die Funktion, die Menschen als Krieger sozial und emotional aneinander zu binden und andererseits diese "Bindungsenergie" wieder in die Alltagspraxis der Menschen als Bürger zurückzugeben. Der freiwillige Militärdienst ist die Hefe einer Gesellschaft - wie Ferguson schreibt: "a kind of military ferment or Verve through the Whole,,16. Dort werden nicht allein Techniken und Regeln gelehrt, A. Ferguson, Bürgerliche Gesellschaft (Anm. 13),294. Adam Ferguson, Letters to Henry Dundas (January 18, January 28, and August 2, 1802). Melville Papers, William L. elements Library, University of Michigan, zit. nach Richard B. Sher; Adam Ferguson, Adam Smith, and the problem of National Defense, in: The Journal of Modern History 61 (1989),240 - 268, hier 263. 15

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sondern ein spezifisches Ethos, ein Habitus vermittelt. ,,Ein Mensch, der nicht gelernt hat blind zu gehorchen, wenn der Staat ihn einem militärischen Anführer unterstellt hat, und der nicht willens ist, seiner persönlichen Freiheit auf dem Schlachtfeld mit demselben Großmut zu entsagen, mit der er sie in den politischen Beratungen seines Landes behauptet, er hat die wichtigste Lektion der bürgerlichen Gesellschaft noch zu lernen. Denn er ist mit solchen Eigenschaften nur geeignet, einen Platz in einem rohen oder korrumpierten Staatswesen einzunehmen, wo die Prinzipien der Meuterei und der Unterwürfigkeit nebeneinander bestehen und das eine wie das andere Prinzip häufig am falschen Platz angewandt wird,,17. Komplementär zu diesen Überlegungen, das soziale Band - den national spirit - einer solchen armierten Bürgergesellschaft auch nach dem poetischen Ereignis der Schlacht (Konflikt, Widerstreit) zu temporalisieren, entwickelt Ferguson die Theorie einer mythopoetischen Sprache des Krieges 18 . Ihrer Kultivierung fallt es zu, auch über lange Zeiträume, über Generationen hinweg die einstmals expressiven Kräfte der Gemeinschaftsbildung nicht nur zu artikulieren und zu überliefern, sondern diese Kräfte auch erneut diskursiv zu mobilisieren. "Die Menschen werden gleicherweise durch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Anspruch genommen. Sie sind auf jede Beschäftigung vorbereitet, die ihren Kräften Spielraum gibt. Während langer Zeiten bleiben deshalb die Werke des Erzählens, der Erdichtung oder des vernünftigen Nachdenkens, wie sie die Einbildungskraft zu beschäftigen pflegen oder das Herz berühren, ein Gegenstand der Aufmerksamkeit A. Ferguson, Bürgerliche Gesellschaft (Anm. 13),292. Wie in Sachen der Bürgermilizfrage war Ferguson auch hier aktiv tätig. Zusammen mit dem Rhetoriker Hugh Blair und dem Dichter John Horne unterstützte er finanziell und ideologisch das Projekt des jungen James MacPherson, gälische Dichtungen der Highlands zu sammeln und ins Englische zu übertragen. Auf der Suche nach einem "Homer der Highlands" hatte Macpherson schon 1760 seine erste Sammlung unter dem Titel Fragments of Ancient Poetry, Colleeted in the Highlands of Seotland, and Translated fram the Galie or Erse Language veröffentlicht. 1762 und 1763 kam es zu weiteren Veröffentlichungen von Dichtungen und Epen, die nun aber alle einem Urschotten namens "Ossian, dem Sohn von Fingal" zugeschrieben wurden. Die "Lieder Ossians" wurden von Ferguson, Blair und Horne zweifellos als authentische Zeugnisse eines nationalen Urbarden der Schotten akzeptiert, während David Hume, der das Projekt zunächst unterstützt hatte, seine Zweifel offen äußerte und damit die sogenannte Kontroverse um Ossian in Gang setzte. Bis in die InDer Jahre hinein wurden immer wieder Stimmen laut, die sowohl die Authentizität der Epen wie auch die Integrität Macphersons erheblich bezweifelten, zumal dieser der Öffentlichkeit die gälischen Quellen vorenthielt. Trotz der starken Vermutung von Samuel Johnson und David Hume, daß "Ossian" nicht der Sohn Fingals, sondern der geistige Sohn MacPhersons sei, kam es vor allem in Frankreich (Turgot) und Deutschland (Klopstock, Herder, Goethe) zu einer breiten Rezeption. Goethe ließ seinen Werther nach den "Liedern Ossians" greifen; Napoleon ließ sich in seinem Ägyptenfeldzug die "Lieder" vorlesen; Schubert und Brahms komponierten die Musik zu einigen Gesängen, und Mendelssohn verfaßte eine schottische Symphonie sowie die Konzert-Overtüre "Die Hebriden" (Die Fingalshöhle). Vgl. R. B. Sher, Church and University (Anm. 2), 242 ff.; Gerhard Streminger, David Hume. Leben und Werk, Paderborn 1994, 496 ff.; Adolf M. Vogt, Die Schottische Aufklärung in der bildenden Kunst - oder: "Ossian" und Paestum, in: Die Schottische Aufklärung. A Hotbed of Genius, hrsg. v. DanieI Brühlmeier, Helmut Holzhey u. Vilem Murdoch, Berlin 1996,53 -74. 17

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und eine Quelle der Freude. Die Erinnerung menschlicher Handlungen, die mündlich oder schriftlich autbewahrt wird, ist die natürliche Befriedigung einer Leidenschaft, die aus Neugierde, Bewunderung und aus der Liebe zum Vergnügen besteht" 19. Schon die erste Sprache der Wilden, als sie irgendeine für ihre Gemeinschaft feierliche Handlung vollzogen, war voller Bilder und Metaphern. In Rhythmen, Reimen und Versen drückten sie ihre unmittelbaren Gefühle und Leidenschaften aus. Die metaphorische Sprache ist soziales Überlieferungsmedium und zugleich homologer Transporteur der expressiven und imaginativen Gefühlslage der Menschen 2o . Mehr noch als dies, ist sie mythopoetisch, d.h sie ist eine grammatikalisch einfache und inhaltlich begrenzte Sprache, dafür aber um so flexibler und vielfältiger. Vor allem jedoch ist es eine populäre Sprache, die von Menschen ganz unterschiedlichen Ranges gesprochen und verstanden werden kann. "In rohen Zeitaltern werden die Menschen nicht durch Unterschiede des Rangs oder Berufs voneinander abgesondert. Sie leben auf die gleiche Weise, und sie sprechen dieselbe Mundart. Der Barde braucht seine Worte nicht aus der eigentümlichen Mundart unterschiedlicher Lebenslagen auszuwählen. Er braucht seine Sprache auch nicht vor den charakteristischen Fehlern des Handwerkers, des Bauern, des Gelehrten oder des Höflings zu hüten, um jene elegante Angemessenheit und echte Erhabenheit zu erzielen, die von der Vulgarität der einen Klasse ebenso frei ist, wie von der Pedanterie der anderen oder der Leichtfertigkeit der dritten. Seine Benennung jedes Gegenstandes und jedes Gefühls ist eindeutig, und wenn seine Vorstellung die Erhabenheit der Natur besitzt, dann wird auch sein Ausdruck die Reinheit aufweisen, die nicht von seinem Belieben abhängt,m. Dementsprechend sind jene dieser Sprache eigentümlichen Werke - die Dichtungen, Mythen und Überlieferungen - anders zu beurteilen als wissenschaftliche Abhandlungen oder Historiographien. In ihnen geht es weniger um die Darstellung dessen, was wirklich gewesen ist, was sich wirklich ereignet hat, sondern vielmehr darum, in Gesängen, Sagen und Heldengedichten die "Seele wie die Wahrheit selbst zu beflügeln, da sie für die Wahrheit gehalten werden". Nicht Abbildung von Sachverhalten, sondern Performativität ist ihre Funktion. Der Barde oder A. Ferguson, Bürgerliche Gesellschaft (Anm.13), 323 ff. Vgl. hierzu auch die ästhetischen Überlegungen von Hugh Blair, der seit 1764 an der Universität von Edinburgh einen Lehrstuhl für Rhetorik innehatte und zusammen mit Williarn Robertson und Adam Ferguson zum moderaten Flügel der presbyterianischen High Church of Scotland gehörte. ,,A poet of original genius is always distinguished by his talent for description. A second rate writer discems nothing new or peculiar in the object he means to describe [ ... ] But a true Poet makes us imagine that we see it before our eyes: he catches the distinguishing features; he gives it the colours of life and reality; he places it in such a light that a painter could copy after hirn. This happy talent is chiefly owing to a lively imagination, which first receives a strong impression of the object; and then, by proper selection of capital picturesques circumstances employed in describing it, transmits that impression in its full force to the imaginations of others". Hugh Blair, A Critical Dissertation on the Poems of Ossian, London 1765, 84. 21 A. Ferguson, Bürgerliche Gesellschaft (Anm. 13),327. 19

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Dichter spricht nicht für sich oder für irgendein abstraktes Prinzip, sondern er ist das organische Sprachrohr seiner Gemeinschaft, die sich durch ihn ihrer Gefühle, Leidenschaften und Vorstellungen versichert. "Wenn überlieferte Märchen vom gemeinen Volk erzählt werden, tragen sie die Merkmale eines Nationalcharakters, und obgleich mit Widersinnigkeiten vermengt, erwecken sie doch oft die Phantasie und bewegen das Herz. Wurden sie zum Gegenstand der Dichtkunst und durch das Geschick und die Beredsamkeit eines glühenden und überlegenen Geistes ausgeschmückt, dann belehren sie den Verstand (instruct the understanding) in gleicher Weise, wie sie das Herz gefangen nehmen (engage the passions),,22. Es geht im Erzählen und Nacherzählen dieser Mythen und Dichtungen immer um beides: passive Belehrung (instruct) und aktive Anrufung (engage). Absurd wäre es, schreibt Ferguson, die Sage der Illias oder Odyssee, die Legenden von Herkules, Theseus oder Ödipus als Beschreibungen von tatsächlichen Ereignissen und Begebenheiten zu deuten; aber sie sind sicherlich Ausdruck der Gefühle (sentiments), des nationalen Charakters und der Vorstellungen (conceptions) der Menschen dieser Epoche. Für die soziale Kohäsion eines Volkes ist es von größter Bedeutung, nicht nur solche populär-nationalen Mythen und Sagen zu besitzen und zu tradieren, sondern diese permanent aus sich selbst heraus umzugestalten und zu entwickeln. Der Volkspoet oder Volksmythologe hat dann nämlich das Material und die Sprache an der Hand, mit denen er seine Leidenschaften und Vorstellungen den gewöhnlichen Menschen (the vulgar) übermitteln kann.

III. Die Verstaatlichung des Krieges und die Kommerzialisierung der Gesellschaft Adam Fergusons polemische und unzeitgemäße Betrachtungen über das Verhältnis von Krieg und Gesellschaft lassen sich so zusammenfassen: 1. Gegen die gehegte Ausgrenzung des gewaltförmigen Konflikts aus der Gesellschaft sieht er gerade in diesem Konflikt den Geburtshelfer der Bürgergesellschaft - sieht er darin ihre genealogische Herkunft wie auch ihre prospektive Zukunft. 2. Gegen die Verstaatlichung des Militärdienstes (stehende Heere, Söldnertruppen) sieht er in seiner Vergesellschaftung (Bürgermiliz) den Garanten eines auf Dauer gestellten sozialen und moralischen Subjektivierungsprozesses, der beides vereint: Freiheit und Unabhängigkeit des Bürgers auf der einen, Unterordnung und Gehorsamspflicht des Soldaten auf der anderen Seite. 3. Gegen die kommerzielle Prosa des Krieges, gegen die nüchterne Bilanzierung von Gewinn und Verlust setzt er auf die performative Tradierung des Nationalgeistes in Heldensagen, Mythen und Gedichten. 22

Ebd., 198.

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An dieser dreifachen Frontstellung, die Ferguson in seiner Abhandlung über die Geschichte der civil society entwickelt, wird deutlich, wie sehr sich die Bürgermilizdebatte ausgeweitet und in einen moral- und sozialphilosophischen Diskurs transformiert hat - oder um genau zu sein: sich versucht in diesen Diskurs einzuschreiben. Es geht hier längst nicht mehr um die Bedrohung der politisch-konstitutionellen Machtbalance von König und Parlament, nicht mehr um die militärische Überlegenheit der Bürgermiliz oder um die ökonomische Ineffizienz stehender Heere. Es geht vielmehr um die Entwicklungsbedingungen einer Gesellschaft, die sich in zunehmendem Maß an ihrer sichtbaren Oberfläche pazifiziert, kommerzialisiert und liberalisiert, im Kern aber ihre eigenen Bestandsvoraussetzungen unterhöhltund damit ihren eigenen Untergang - sei es in Form eines "orientalischen Despotismus" nach innen, sei es in Form einer "barabarischen Eroberung" von außen - in Kauf nimmt. "Wir haben die Gesetze des Krieges verbessert und Linderungsmittel gegen ihre Härten erdacht. Wir haben die Höflichkeit mit dem Gebrauch des Schwertes verbunden; wir haben gelernt, Krieg unter Aufrechterhaltung von Verträgen und Verabredungen zu führen und dem Wort eines Feindes zu vertrauen, dessen Untergang wir gleichzeitig in Erwägung ziehen. Ruhm ist jetzt eher durch Schonung und Schutz der Besiegten zu erlangen als durch ihre Vernichtung: so wird der scheinbar liebenswerteste aller Zwecke erreicht, d. h. eine Anwendung von Gewalt nur noch zu dem Zwecke, Gerechtigkeit walten zu lassen und nationale Rechte zu wahren. Dies ist vielleicht das hauptsächlichste Charakteristikum, welchem wir bei den modemen Nationen das Prädikat zivilisiert (civilized) oder verfeinert (polished) verleihen,m. Die Pazifizierung der Gesellschaft und ihrer Bürger auf der einen und die Verstaatlichung und Juridifizierung des Krieges auf der anderen Seite haben die modemen Nationen Europas nicht etwa freier, glücklicher und sicherer gemacht, sondern im Gegenteil: Erst die verstaatlichte Gewalt disziplinierter Armeen erhöht die Gefahr entfesselter Kriege nach außen. "Überall in Europa werden im Sold dienende, disziplinierte Armeen aufgestellt. Sie stehen bereit, den Erdball zu überqueren. Gleichsam wie eine von schwachen Dämmen gehaltene Flut werden sie hieran nur durch politische Formen oder durch ein zeitweiliges Machtgleichgewicht gehindert. Würden die Schleusen brechen, auf welche Überschwemmungen müßten wir uns dann gefaßt machen,,24? Aber auch nach innen sieht Ferguson die freiheitlichen und konstitutionellen Dämme gegen Despotismus und politische Sklaverei bröckeln: ,,[D]ie Trennung der Künste, welche den Bürger und den Staatsmann bilden, der Staats- und Kriegskunst, bedeutet einen Versuch, den menschlichen Charakter zu zerreißen und eben diejenigen Künste zu zerstören, die wir befördern wollen. Durch eine solche Trennung berauben wir in Wirklichkeit ein freies Volk gerade dessen, was es zu seiner eigenen Sicherheit nötig hat. Wir treffen so zwar Verteidigungsanstalten gegen Einfälle von auswärts. Sie eröffnen aber zugleich die Aussicht auf eine Usurpation der Staatsgewalt und bedrohen uns mit der Aufrichtung eines Militärregimes,,25. 23 24

Ebd., 362. Ebd., 299.

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Der eigentümliche gesellschaftliche Mechanismus, den Ferguson für diese pessimistische Zeitdiagnose verantwortlich macht, ist, wie er schreibt, die "Teilung der Künste und Berufe" (Separation of Arts and Professions). Ihren Entstehungsherd hat diese Teilung in den gewerblichen und kommerziellen Künsten. Mit der Separierung und Zuweisung unterschiedlicher Aufgaben an unterschiedliche Personen innerhalb der Manufaktur, hat sie das Warenangebot gesteigert, verbilligt und vervollkommnet - kurz: sie hat die Quellen des Reichtums der Gesellschaft offengelegt26 . Doch was vorher noch auf die mechanischen und kommerziellen Künste, auf Handel und Gewerbe beschränkt blieb, weitet sich nun auf alle Bereiche der Gesellschaft aus. "Die Vorteile, die man in den untergeordneten Gewerbezweigen durch die Trennung ihrer einzelnen Teile gewinnt, scheinen jenen zu gleichen, die sich auf ähnliche Weise in den höheren Bereichen der Staatskunst und des Kriegswesens ergeben. Der Soldat wird jeder Sorge außer der für seinen Dienst enthoben. Staatsmänner teilen die Regierungsgeschäfte auf, und öffentliche Bedienstete können in jedem Amt durchaus mit Erfolg arbeiten, ohne in den eigentlichen Staatsgeschäften erfahren zu sein [ ... ] Sie [alle] werden gleichsam wie Teile einer Maschine veraniaßt, ohne vorherige Verabredung untereinander zu einem einheitlichen Zweck zusammenzuwirken: wie der Gewerbetreibende sind sie blind für irgendeinen übergeordneten Zusammenhang, und doch vereinigen sie sich mit ihm dazu, dem Staat seine Ressourcen, seine Leitung und seine Gewalt zu liefem,m. Was im Krieg, im gewaltförmigen Widerstreit entstand, was in der institutionellen Praxis des waffentragenden Bürger-Soldaten aufgehoben und in Dichtung und Mythen tradiert schien - das soziale Band, der homogene Nationalgeist und Nationalcharakter eines Volkes -, zerfasert und beginnt durch ein anonymes, nicht-intentionales und mechanistisches Zusammenwirken von gesellschaftlichen Kräften ersetzt zu werden. Wenn statt des Krieges und des Militärdienstes die Manufaktur und der ,,Ladentisch" zu den zentralen Orten werden, in denen und durch die Menschen ihren Habitus, ihren Charakter, ihre Gesinnung und Leidenschaften bilden, dann hat dies für die gesamte Gesellschaft zweierlei zur Folge. Auf der einen Seite Ebd.,405. Zum Prioritätenstreit, wer zuerst das Prinzip der Arbeitsteilung entdeckt und systematisch behandelt habe - Adam Ferguson oder Adam Smith - verweise ich auf Ronald Hamowy, Adam Smith, Adam Ferguson, and the Division of Labour, in: Economica 35 (1968), 249259 und die dort angeführte Literatur. Salomonisch wird hier die These vertreten, daß Adam Smith wohl in Hinblick auf die ökonomisch-technische Seite der Arbeitsteilung (Arbeitszerlegung, Produktionsteilung, Berufs- und Rollendifferenzierung), Ferguson dagegen in Hinblick auf die soziomoralischen und soziologischen Implikationen derselben Priorität zukomme. Doch mit Ausnahme von Karl Marx, Das Elend der Philosophie, MEW, Bd. 4, Berlin 1977, 146 ff. und ders., Das Kapital, MEW, Bd. 23, Berlin 1977, 383 ff. wird in den großen soziologischen Studien zu diesem Thema lediglich Adam Smith erwähnt. So z. B. Emile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1992, 83 ff. 27 A. Ferguson, Bürgerliche Gesellschaft (Anm. 13), 338 ff. 25

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nämlich führt die gesellschaftliche Arbeitsteilung zu einer ungeheuren Vervielfältigung und Verfeinerung der Charaktere, Gesinnungen und Gewohnheiten; sie zerbricht die Bande der Gesellschaft (break the bands of society), die auf den gemeinsamen Gefühlen, einer gemeinsamen Sprache und dem gemeinsamen Eifer für das öffentliche Wohl beruht. Auf der anderen Seite jedoch führt die durch die manufakturelle Arbeitsteilung notwendige Verarmung und Depravierung der geistigen Fähigkeiten der Menschen wieder zu einer unterschwelligen Gleichartigkeit der ,,knechtischen" (servile), und ,,käuflichen" (mercenary) Gesinnung. Das Auseinanderbrechen der sozialen Homogenität findet sein Komplement in der ethisch-moralischen "Gleichgültigkeit". Unterschiedliche Moden, differenzierter Lebensstil, Empfindsamkeit (sensibility), Feingefühl (delicacy) und Höflichkeit (politeness) können nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Adel und die "niederen Klassen" im Grunde derselben Lebensführung folgen: der Sorge um das eigene Vermögen, dem Rückzug aus den öffentlichen Angelegenheiten und der Gleichgültigkeit gegenüber den Menschen. Wahrend jedoch diese Art der Lebensführung der Beschäftigung und der politischen Rationalität der niederen Stände (inferior ranks) durchaus entspricht, führt sie bei den höheren Ständen (higher ranks) zur politischen Selbstentmachtung. "Früher die achtbarsten und glücklichsten Glieder der Gesellschaft, sind sie jetit ihre elendsten und korruptesten geworden. Sie empfinden bei ihrer Annäherung an diesen Zustand und angesichts des Fehlens jeder manneswürdigen Beschäftigung eine Unzufriedenheit und eine Langeweile, die sie nicht erklären können: Sie grämen sich inmitten augenscheinlicher Genüsse. Sie offenbaren gerade aufgrund der Mannigfaltigkeit und Grillenhaftigkeit ihrer verschiedenen Bestrebungen und Vergnügen einen unruhigen Zustand, der, ähnlich der Unruhe des Kranken, kein Beweis für Freude oder Wohlbehagen, sondern für Schmerzen und Leiden ist"z8. Es ist aufschlußreich für die Bestimmung der Spezifität von Fergusons Diskurs, diesen Vorgang der Selbstdeklassierung der einstmals Herrschenden zum "Abfall der Gesellschaft" (refuse of society) aus der Perspektive eines schottischen Zeitgenossen zu lesen, der diesem Vorgang mit ironischer Sympathie gegenübersteht: "All das, was bei der totalitären Feudalherrschaft (violence of the feudal institutions) völlig undenkbar war, brachte nach und nach der stille und unmerkliche Einfluß des Außenhandels und des Gewerbes mit sich. Es gab zusehends neue und schließlich so viele Waren, daß die Grundbesitzer ihren gesamten Überschuß an landwirtschaftlichem Ertrag dagegen eintauschen konnten. Da sie nunmehr diese Güter selbst verbrauchen konnten, waren sie nicht mehr gezwungen, mit ihren Pächtern oder Hofleuten zu teilen. Alles für uns selbst und nichts für andere, scheint zu allen Zeiten die elende Devise der Herrschenden gewesen zu sein. Die Großgrundbesitzer sahen keine Veranlassung mehr, mit anderen zu teilen, sobald sie die Möglichkeit erkannten, den gesamten Ertrag selbst zu konsumieren. Für ein paar Diamantschnallen beispielsweise, aber auch für jeden anderen Tand, tauschten sie einen Wert, der dem Unterhalt oder, was das gleiche ist, dem Preis

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Ebd., 445 ff.

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des Unterhalts von 1000 Menschen im Jahr entsprach. Alle auf solchem Unterhalt beruhende Macht gaben sie damit aus der Hand. Die diamantenen Schnallen gehörtenjedoch ganz ihnen und keinem anderen,,29. Wenn auch die Diagnose beider Autoren weitgehend übereinstimmt, so könnte zwischen ihren Prognosen jedoch keine deutlichere Differenz auszumachen sein. Wo der eine nämlich Niedergang, Despotismus und Korruption vorherzusehen glaubt, sieht der andere einen historischen Prozeß im Gange, der in Unabhängigkeit, Zivilisation und Reichtum mündet. Die von Ferguson in den Mittelpunkt seiner Gesellschaftskonzeption gestellten vergesellschafteten Praktiken des Krieges (Bürgermiliz) und ihre Subjekte (Bürger-Soldaten) sind für Adam Smith im Grunde überholt und rückständig: "Die Kriegskunst, gewiß die edelste aller Künste, wird jedoch im Laufe der Zeit zunehmend komplizierter. Sie ist notwendigerweise mit der Mechanik und anderen Wissenschaften verbunden, so daß deren Fortschritte jeweils den Grad an Perfektion bestimmen, bis zu dem man die Kriegstechnik vorantreiben kann. Um aber diese Vervollkommnung zu erreichen, muß das Kriegshandwerk zur einzigen oder Hauptbeschäftigung einer bestimmten Klasse von Bürgern werden. Die Arbeitsteilung ist dann auch hier ebenso erforderlich wie in jeder anderen Tätigkeit, wenn man diese verbessern möchte,,3o. Daß Smith sich trotzdem auf die Frage der sozialen, politischen und ökonomischen Rolle von Bürgermilizen und/ oder stehenden Heeren einläßt, obgleich sie mit diesen prägnanten Sätzen eigentlich schon beantwortet scheint, deutet auf einen "verschwiegenen Dialog" mit dem von Ferguson aktualisierten republikanischen Diskurs hin 31 . Schließlich war Ferguson schon kurz nach Erscheinen seines Essay on the History 0/ Civil Society nicht nur in den literarischen Kreisen Europas eine meinungsbildende Figur geworden; auch in den politischen Zirkeln Schottlands und Englands feierte man ihn enthusiastisch32 . Aus einer - wie man heute sagen würde - "OneIssue-Bewegung" war ein Sozial- und Moralphilosoph ersten Ranges hervorge29 Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, hrsg. v. Horst C. Recktenwald, München 1993,338. 30 Ebd.,591. 31 Noch 1760 sprach sich Adam Smith für "unsere Bürgermiliz" aus und trat 1762 in den von Ferguson initiierten "Poker Club" ein. Vgl. Adam Smith, Correspondence, ed. by Ernest C. Mossner and lan S. Ross, Indianapolis 1987,68. Und auch in seinen Vorlesungen aus den Jahren 1763 - 1764 liest man: "Yet in some occasion a standing arrny has proved dangerous to the liberties of the people, when that question concerning the power of the sovereign came to be disputed, as has been the case in our own country, because the standing arrny generaly takes the side of the king. The principle of the soldier is to obey his leader, and as the king appointed hirn and pays hirn it is hirn that he thinks he owes his service. This would never be the case if a proper militia were established". Adam Smith, Lectures in Jurisprudence, ed. by R.L. Meek, D.D. Raphael and P.G. Stein, Indianapolis 1982,544. 32 Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Fergusons Essay vgl. Zwi Batschal Hans Medick, Einleitung, in: A. Ferguson, Bürgerliche Gesellschaft (Anm. 13), 18 ff.; David Kettler, The Social and Political Thought of Adam Ferguson, Ohio 1965, 57 ff.; lohn SmalI, Biographical Sketch of Adam Ferguson, LL.D., F.R.S.E., in: Transactions of the Royal Society of Edinburgh 23 (1864), 609 ff.

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gangen, dessen gesellschaftskritisches Pathos wesentlich auf der Grundlage der BÜTgermilizfrage der 1750er Jahre fußte. Daß Adam Smith also in seinem Wealth of Nations einen wenn auch verschwiegenen Dialog mit Ferguson führte, ist keineswegs überraschend - auch deshalb nicht, weil spätestens seit Beginn der 1770er Jahre das politische Klima zugunsten Fergusons und einer Schottischen Bürgermiliz umgeschlagen war33 .

IV. Der verschwiegene Dialog und das Ende zweier Illusionen Dem Staat, schreibt Smith, scheinen "zwei Methoden zur Wahl zu stehen, mit deren Hilfe er eine zumutbare Vorsorge zur Landesverteidigung treffen kann. Er kann erstens die Bevölkerung ohne Rücksicht auf deren Interesse, Anlage und Neigungen, erforderlichenfalls unter strenger Polizeiaufsicht (very rigorous police), zu Wehrübungen zwingen und entweder alle oder einen Teil der wehrfähigen Bürger dazu verpflichten, unabhängig und neben ihrem eigentlichen Beruf auch noch das Handwerk des Soldaten in bestimmtem Umfange auszuüben. Der Staat kann zweitens eine gewisse Zahl von Bürgern versorgen, um sie ständig in militärischer Bereitschaft zu halten. Damit macht er den Beruf des Soldaten zu einem eigenen Stand,,34. Schon die Art und Weise, wie Smith hier die beiden Verteidigungsformen (Miliz, stehendes Heer) gegenüberstellt, macht deutlich, was er von der Einführung einer Bürgermiliz hält. Nicht nur, daß sie eine militärisch unvollkommene Verteidigungspraxis darstellt (imperfect military force), die niemals mit der Präzision agieren kann, welche seit der Erfindung der Feuerwaffen militärtechnisch unabdingbar sei, sie verstößt mehr noch gegen einen der wichtigsten Grundsätze von Smiths "System der natürlichen Freiheit": Sie zwingt die Menschen, wenn es sein muß mit Gewalt, zu einem Dienst, der ihren Interessen, Neigungen und Anlagen widerspricht. In einer modernen Marktgesellschaft (commercial society), in der in gewissem Sinne jeder zu einem Kaufmann und Händler geworden ist35 , lassen sich dauerhaft militärische Übungen nur unter Ertragsverlusten in Landwirtschaft, Handwerk und Gewerbe instituieren. In diesem Sinne wird eine Bürgermiliz für die Bevölkerung zu einer doppelten Belastung und führt zu militärischer Ineffizienz. Rekrutierungszwang und Einkommensverlust nämlich mindern die Neigung zu Ordnung, Regelmäßigkeit und unbedingtem Gehorsam; diese Neigung (habit) aber ist es, die für Smith die Grundlage einer schlagkräftigen Armee und die Bedingung des Erfolges in der modernen Kriegführung ausmacht. "Der 33 Ende des Jahres 1775 - also mitten in der sogenannten "American Crisis" - brachte Lord Mountstuart, bei dem Ferguson während des Siebenjährigen Krieges Tutor war, einen neuen Gesetzesentwurf für eine schottische Bürgermiliz ins Parlament ein. Am 5. März 1776 passierte dieser Entwurf die zweite Lesung im House of Commons, bevor er dann Mitte März überraschenderweise abgelehnt wurde. 34 A. Smith, Wohlstand der Nationen (Anm. 29), 592. 35 Vgl. ebd., 23.

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Länn der Feuerwaffen, der Rauch und der unsichtbare Tod, dem sich jeder augenblicklich ausgesetzt fühlt, sobald er in Schußweite kommt, ja häufig schon vor Beginn der Schlacht, machen es außerordentlich schwierig, Zucht, Ordnung und prompten Gehorsam einigennaßen aufrechtzuerhalten, selbst am Anfang eines modemen Kampfes. [ ... ] Nur Soldaten, die in großen Truppeneinheiten exerzieren, kann man an Zucht, Ordnung und unbedingten Gehorsam gewöhnen". Es geht Smith hier um die professionelle Ausbildung eines habit 0/ regularity, order and obedience, um eine militärische Lebensführung, die man niemals allen Bürgern eines Landes zumuten kann und die nur in einer dauerhaften, kasernierten Militärpraxis zu erreichen ist. Daher ist es nur konsequent, wenn Smith den Schluß zieht: "Einem gut ausgebildeten Heer ist indes keine Miliz gewachsen. Allein ein solches Heer, das eigentlich nur eine reiche und zivilisierte Nation unterhalten kann, ist in der Lage, das Land gegen Angriffe armer und unterentwickelter Nachbarvölker (poor and barbarous neighbour) zu verteidigen. Auf Dauer wird also die Zivilisation eines Landes nur durch eine Berufsarmee geschützt und bewahrt,,36. Ja, ein Berufsheer, so führt er weiter aus, ist mit Sicherheit ein wesentliches Mittel für die weitere Ausbreitung der Zivilisation. Krieg und Gesellschaft sind bei Smith also auf ganz andere Art miteinander verknüpft, als dies bei Ferguson der Fall war. Es ist also kaum verwunderlich, daß Adam Ferguson schon kurz nach Erscheinen des Wealth 0/ Nations in einem Brief an Smith schreibt: "Sie haben sicherlich zurecht die Kirche, die Universitäten und die Kaufleute kritisiert, und in dieser Hinsicht stehe ich ganz auf Ihrer Seite. Doch sie haben sich auch gegen die Bürgenniliz entschieden, und hier muß ich mich gegen sie wenden. Die Bürger (gentlemen and peasants) dieses Landes benötigen keineswegs die Autorität eines Philosophen, der sie davon überzeugt, daß all die Kräfte (ressources), die sie besitzen mögen, gleichgültig und zu vernachlässigen seien; erst recht nicht zu einem Zeitpunkt, Gott weiß es, in dem möglicherweise äußerste Anstrengungen bevorstehen,m. Als Ferguson diesen Brief an Smith sendet, hält er Vorlesungen an der Universität von Edinburgh mit dem Titel Laws 0/ Morality under the titles 0/ Jurisprudence, Casuistry & Politics, or Political Oeconomy & Political Law. Am 8. April, etwa ein Monat nach Veröffentlichung von Smiths Wealth 0/ Nations, beginnt Ferguson mit dem Abschnitt über Political Oeconomy, und dort heißt es: "Die grundsätzlichen Aufgaben des Staates bestehen in der Sorge um den Lebensunterhalt und die Verteidigung des Volkes. Die erste Aufgabe ist es, die Akkumulation von Reichtum oder Wohlstand (Riches or wealth) auszudehnen. [ ... ] In dieser Hinsicht sind der Müßiggänger und alle Personen, die weder arbeiten noch einen Dienst zur Belehrung und zum Schutz der anderen verrichten, eigentlich nutzlos (improfitable). [ ... ] Die zweite Aufgabe erfordert ein mutiges und gehorsames Volk, gewöhnt an Disziplin und das Tragen Ebd., 598. Ferguson to Smith, Edinburgh, 18. April 1776, in: A. Smith, Correspondence (Anm. 31), 193 ff. 36

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von Waffen,,38. Wenn aber in einem bevölkerungsreichen und ausgedehnten Staat nicht jeder gleichzeitig an Waffen und militärische Disziplin gewöhnt werden kann, so gibt es, schreibt Ferguson weiter, nur drei Möglichkeiten: 1. ein sukzessives Rotationsverfahren unter allen Bürgern, 2. eine Begrenzung der Rekrutierung auf die höheren Ränge der Gesellschaft und 3. die Einrichtung eines stehenden Heeres. "Das erste ist das beste, das zweite das nächstbeste und das dritte das schlechteste Verfahren. Denn es ist offensichtlich, daß dort, wo es die Umstände erlauben, jeder Bürger den Vorteil und die Sicherheit haben sollte, die der Geist und das Vermögen der Selbstverteidigung hervorrufen. Dort, wo die Umstände dies nicht erlauben, sollte zumindest den gebildeten Ständen, denen an der öffentlichen Sicherheit am meisten Interessierten oder jenen, denen am ehesten vertraut werden kann, die Aufgabe [der Landesverteidigung] übertragen werden. Auf natürliche Weise folgt die Macht immer dem Schwert. Und daher sollte das Schwert denen übergeben werden, die es wert sind, die Macht auszuüben,,39. Erst jetzt geht Ferguson daran, die eigentlichen Gegenstände der Political Oeconomy abzuhandeln, und er folgt hierin jenen Lehren, die "in einer vorzüglich geschriebenen und gelehrten Ausführung über die Ursachen des nationalen Wohlstandes (Causes of National Wealth) erst kürzlich publiziert worden sind,,40. Der "verschwiegene Dialog" zwischen Ferguson und Smith hat bisher gezeigt, daß die beiden Positionen scheinbar kaum miteinander vereinbar sind; doch mit gutem Recht bezweifelt Smith in einem Brief an Andreas Holt vom 26. Oktober 178041 , ob die Befürworter der Bürgermiliz sein Buch zu Ende gelesen hätten. Nur 38 Adam Ferguson, Laws of Morality under the titles of Jurisprudence, Casuistry & Politics, or Political Oeconomy & Political Law, Lecture Notes 11, Edinburgh University Library, DC.1.85, fol. 439. 39 Ebd., fol. 440 - 441. 40 Ebd., fol. 446. In der handschriftlichen Randnotiz taucht explizit der Name "Dr Smith" auf. Im übrigen kommt Ferguson am 11. April noch einmal zusammenfassend auf die Frage der Nationalverteidigung zurück und vertritt dort nachdrücklich den notwendigen Zusammenhang von Bürger/Staatsmann und Soldat/Krieger. "When they are separated the statesman becomes a Clerk & a baubier and the soldier a mere Gladiator or executioner" (fol. 458). Hier geht er auch direkt auf die von Smith gestellte Problematik von Nationalverteidigung und Marktgesellschaft ein: "In advanced State of Arts Commerce and National Enlargement there arises a Species of Military Service for which the Labourer & the Trader wants leisure and in which Persons of Rank have not sufficient Inducements of honour. [ ... ] In these Instances a Military Profession or standing arrny must be forrned. [ ... ] Where this Military Profession is admitted and Necessary, It does not follow that the Remainder of the People ought to have no Military Character [ ... ] The Husbandman the Labourer and the Country Gentleman may in the use of arrns & discipline be inferior to the professional Soldier. But this is no reason why he should be inferior to what a Citizen may be made" (fol. 459). 41 Smith to Andreas Holt, Commissioner of the Danish Board of Trade and Economy, Edinburgh, 26. October 1780, in: A. Smith, Correspondence (Anm. 31), 249 ff. Smith bezieht sich hier auf ein anonymes Pamphlet mit dem Titel A Letter from a Gentleman in Edinburgh to his Grace the Duke of Buccleugh on National Defence with some Remarks on Dr Smith:SChapter on the Subject in his Book, entitled ,An Enquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations', London 1778.

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weil er darauf bestanden hätte, daß Bügermilizen einem stehe~den Heer unterlegen seien, hieße das noch lange nicht, daß er die Milizen insgesamt geringschätze. In der Tat schreibt Smith an späterer Stelle im Wealth 0/ Nation, nämlich im Kontext der soziopathologischen Folgen der Arbeitsteilung: "Die Sicherheit eines Landes muß aber stets mehr oder weniger von der Verteidigungsbereitschaft (martial spirit) der gesamten Bevölkerung abhängen. Tatsächlich würde in unseren Zeiten diese Abwehrbereitschaft (martial spirit) allein, also ohne Hilfe durch ein wohldiszipliniertes Stehendes Heer, wohl nicht ausreichen, um irgendein Land zu verteidigen und zu schützen, aber dort, wo der einzelne Bürger soldatische Haltung zeigt (where every citizen had the spirit of a soldier), würde sicherlich ein kleines Berufsheer genügen,,42. Smith bleibt zwar bei seiner Präferenz für stehende Heere, aber er sieht in den Bürgermilizen eine nützliche Institution gegen die körperliche und geistige Verkümmerung der arbeitenden Bevölkerung, die in Zukunft den größten Teil der Gesamtbevölkerung ausmachen werde. Zusammen mit Kirche, Schule und Schauspielhäusern erfüllen die Milizen in der arbeitsteilig organisierten Marktgesellschaft eine sozialdisziplinierende, ja geradezu eine sozialhygienische Funktion. "Selbst wenn die soldatische oder kämpferische Haltung (martial spirit) nutzlos wäre, würde sie dennoch die ganze Aufmerksamkeit der Regierung verdienen, damit sich jede Art seelischer Verstümmelung, Entstellung und Erbärmlichkeit, welche Feigheit notwendigerweise mit einschließt, nicht unter der Bevölkerung ausbreiten kann, genauso wie sie verhindern muß, daß Aussatz oder irgendeine andere Krankheit, die ekelerregend und widerwärtig, wenn auch weder tödlich noch gefährlich ist, umsichgreift,,43. Für Smith sind Milizen wie auch die anderen Einrichtungen "Als-ob"-Institutionen; ihr vornehmlichstes Ziel ist gerade nicht ihre offensichtliche Aufgabe: In Bürgermilizen geht es nicht um die Verteidigung des Landes, in der Kirche nicht um die Erlangung von Gottes Segen und in den Gemeindeschulen ebensowenig um die Vermittlung von Wissen; in all diesen Institutionen geht es um eine zivile Regierungsweise44 der Bürger in einer sich wandelnden Marktgesellschaft, die geprägt ist von Urbanität, Rollendifferenzierung 42 A. Smith, Wohlstand der Nationen (Anm. 29), 666 (Hervorhebung M.B.); im englischen Originalwortlaut, der hier in Klammern eingefügt ist, wird die Nähe zu Fergusons Konzept vom "citizen-warriour" überdeutlich. 43 Ebd., 667. 44 Zur Bezeichnung dieses neuen Typs politischer Rationalität, der sich gleichermaßen vom Hobbesschen Souveränitätsmodell (Herrschaftsvertrag) und vom Staatsräsonmodell distanziert, verwendet Smith häufig den Begriff "to manage" oder "system of management". "Furcht ist nahezu überall ein schlechter Ratgeber beim Regieren, und man sollte dieses Mittel vor allem niemals gegen eine Schicht der Bevölkerung einsetzen, die auch nur den geringsten Anspruch auf Unabhängigkeit besitzt. [ ... ] Unmerkliche Führung (management) und geschickte Überredung (persuasion) sind [ ... ] noch immer das leichteste und sicherste Mittel zum Regieren, so wie umgekehrt Zwang und Gewalt das schlechteste und gefährlichste sind" (A. Smith, Wohlstand der Nationen [Anm. 29], 678 ff.). Vgl. auch die Passagen über die Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien, wo Smith die neuartige Idee parlamentarischer Repräsentation als ein solches "System des Lenken und Leitens" (System of management) betrachtet (518 - 526).

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und anonymen sozialen Räumen45 • Ein weiteres Beispiel für die zivile Regierungsweise von "Als-ob"-Institutionen sind Religionsgemeinschaften: "Ein Mann von niederem Stand ist indes weit davon entfernt, in irgendeinem großen Gemeinwesen ein angesehenes Mitglied zu sein. Solange er in einem Dorf lebt, wird man auch seinen Lebenswandel (conduct) beobachten und ihn auf solche Weise zwingen, selbst darauf zu achten. In dieser Lage, und nur in dieser, kann er das, was man einen Charakter nennt, zu verlieren haben. Sobald er aber in eine große Stadt zieht, taucht er in Anonymität und Verborgenheit unter. Niemand achtet auf ihn und schaut auf seine Lebensführung (conduct), so daß er versucht sein wird, sich gehen zu lassen, ja sich an jeder Liederlichkeit und Laster zu verlieren. Aus dieser Anonymität tritt er niemals so stark hervor, nie erregt sein Verhalten (conduct) so sehr die Aufmerksamkeit eines ansehnlichen Gemeinwesens, wie wenn er Mitglied einer Religionsgemeinschaft (small religious sect) wird,,46. Wie in seiner Konzeption des "Systems der natürlichen Freiheit" darf der Staat nicht unmittelbar und direkt über Polizei (police) und Justiz (law) in die Belange der Bürger und ihrer sozialen Beziehungen eingreifen; aber er darf sich des Wissens und der Macht dieser intermediären Institutionen bedienen, wie auch umgekehrt, sich diese in die Medien des Staates einschreiben. So betrachtet bilden die Milizen für Smith einen Teil jener sub staatlichen Regierungspraktiken, die aus der modemen civil society entspringen und die die Lebensführung der Bürger dieser Gesellschaft regulieren. Sie fungieren einerseits als Pufferzone zwischen den staatlichen Zwangsorganen und der Freiheit der Bürger und andererseits als Transmissionsmedien, um die Meinungen der Bürger in den Staat und den Willen des Staates in die Gesellschaft zu übersetzen. Im Vergleich zu Fergusons Bürgerrnilizkonzeption lassen sich hier interessante Gemeinsamkeiten, aber ebenso auch deutliche Unterschiede feststellen. Beide eint die Vorstellung, daß Bürgerrnilizen keine staatlichen, sondern zutiefst soziale, aus den gesellschaftlichen Beziehungen entstandene und in sie eingelassene Institutionen darstellen; beide betrachten Milizen als regelerzeugende Praktiken einer konkreten Lebensführung der Bürger: In ihnen werden Haltungen, Charaktere, Einstellungen und Verhaltensweisen geprägt; und in beiden Fällen fungieren sie als Schutzmechanismen, sei es gegen die anonyme Zerstreuung durch die gesellschaftliche Arbeitsteilung (Stadt und Land; Bürger und Soldat), sei es gegen den freiheitsgefährdenden staatlichen Dirigismus (Polizei, Despotismus). Adam Fergusons Bild von sozialer und politischer Ordnung, wie sie im folgenden Zitat zum Ausdruck kommt, hätte auch Adam Smith zustimmen können: "Unser Begriff von Ordnung in der bürgerlichen Gesellschaft (order in civil society) ist häufig falsch: er wird nach der Ana45 Zur Entstehung einer solchen liberalen politischen Rationalität des Regierens aus Distanz (governing at distance) vgl. Michel Foucault, Governrnentality, in: The Foucault Effect. Studies in Governrnental Rationality, ed. by Graharn Burehell, Colin Gordon and Peter Miller, London 1991, 87 -104; Nikolas RoselPeter Miller, Political power beyond the State: problernatics of governrnent, in: The British Journal of Sociology 43 (1992), 173 - 206. 46 A. Smith, Wohlstand der Nationen (Anrn. 29), 675.

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logie unbeseelter und toter Dinge gebildet. Bewegung und Tatigkeit betrachten wir als ihrer Natur zuwider. Wir glauben, daß solche Ordnung nur mit Gehorsam, Geheimhaltung und dem stillen Gang der Geschäfte durch die Hände einiger weniger vereinbar sei. Die gute Ordnung der Steine in der Mauer besteht darin, daß sie gehörig an denjenigen Stellen befestigt werden, für die sie zugehauen sind. Würden sie sich bewegen, so müßte das ganze Gebäude zum Einsturz kommen. Aber die gute Ordnung der Menschen in der Gesellschaft besteht darin, daß sie an einen Platz gestellt werden, wo sie befahigt sind, ihren Gaben gemäß zu handeln. Das erste ist ein aus toten und unbelebten Teilen gefertigtes Gebäude, das zweite besteht aus lebendigen und tätigen Gliedern. Wenn wir in der Gesellschaft also nach einer Ordnung bloßer Untätigkeit und Ruhe suchen, vergessen wir die eigentliche Beschaffenheit unseres Gegenstandes. Wir finden dann die Ordnung von Sklaven vor, nicht aber die von freien Menschen,,47. Andererseits liegen aber auch die Differenzen von Smiths Gesamtkonzeption zivilen Führens und Regierens gegenüber Fergusons ständischer und armierter Bürgergesellschaft auf der Hand. Krieg und Bürgermiliz sind für den politischen Moralphilosophen aus den Highlands nicht vorgebliche und indirekte Ordnungsmechanismen; sie sind weder mit anderen Dispositiven der freien Gesellschaft vergleichbar noch erfüllen sie lediglich eine sozialdisziplinierende Führungsfunktion. Bis zum Schluß des "verschwiegenen Dialogs" zwischen Smith und Ferguson, indem durchaus Annäherungen und gegenseitige Beeinflussungen festzustellen waren, besteht letzterer auf der spezifisch singulären und originären Praxis des Bürger-Soldaten. In einem der letzten, unveröffentlichten Essays von Ferguson über The Separation of Departments, Professions and Tasks Resulting from the Progress of Arts in Society schreibt er: "Derjenige, der sich selbst nicht verteidigen kann, ist kein Mensch/Mann (man), und derjenige, der nicht teilnehmen kann an der Verteidigung seines Landes, ist kein Bürger (citizen), noch ist er es wert, von den Gesetzen des Landes geschützt zu werden. Andere Angelegenheiten mögen übertragen und für einen Teil der Bevölkerung zum Berufszweig (separate profession) gemacht werden; aber die Tapferkeit (valour) zu einem Merkmal einiger weniger werden zu lassen, hieße, die Tugend (virtue) und das Glück (happiness) selbst nur einem Teil der Gemeinschaft für Beruf und Studium vorzubehalten,,48. Als 1797 schließlich doch noch eine schottische Bürgermilizakte zur Aushebung von insgesamt 6000 Mann, unterteilt in zehn Regimenter, erlassen wurde, hätte A. Ferguson, Bürgerliche Gesellschaft (Anm. 13),457. Adam Ferguson, On the Separation of Departments, Professions and Tasks Resulting from the Progress of Arts in Society, in: Collection of Essays, ed. by Yasuo Amoh, Kyoto 1996, ISO. Amoh zufolge entstanden diese Essays (insgesamt 32) in den Jahren 1799 bis 1806. Dieser Essay wurde sehr wahrscheinlich 1806 verfaßt und nimmt einige Zeilen vor dem hier angeführten Zitat den Dialog mit Smith wieder auf: "On this account a late writer of eminence on the wealth and other concems of nations places education on the same foot with trade and other concems most safely entrusted to the person concemed and reprobates fixed institutions or invention of govemment" (150). 47

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dies eigentlich eine Bestätigung und Genugtuung für Fergusons langen Kampf bedeuten können49 . Doch ausgerechnet das erreichte Ziel wurde zur schlimmsten Niederlage für ihn und zur Bestätigung all dessen, was der sieben Jahre zuvor verstorbene Adam Smith angemahnt hatte. Schon unmittelbar nach Inkrafttreten der Akte, als die ersten Rekrutierungslisten in jeder einzelnen Gemeinde erstellt werden sollten, kam es flächendeckend zu Aufständen und Unruhen: Beschwerden, Deklarationen und Resolutionen wurden veröffentlicht, Rekrutierungslisten wurden verbrannt, Gemeindehäuser zerstört und Gemeindelehrer, denen die Aufgabe der Listenerstellung übertragen wurde, handgreiflich bedroht. In manchen Gebieten (Lanarkshire) mußte die Durchführung gänzlich gestoppt werden 5o . Die folgende Resolution von Einwohnern der Stadt Prestonpans in der Nähe von Edinburgh zeigt die Problematik einer BÜfgerrniliz, die auf Freiwilligkeit basieren sollte und letztlich in einer "Press Act" endete: Gentlemen, The following are the Dec1arations and Resolutions to which the undersigned do unanimously agree. 1st We dec1are that we unanimously dissapprove of the late act of Parliament for raising Six Thousand Militia-men in Scotland. 2ndly That we will assist each other in endeavouring to repeal the said Act. 3dly That we are peacably disposed, and should you in endeavouring to execute the said Act urge us to adopt coercive measures we must look upon you as the aggressors, and as responsible to the Nation for all the consequences that may follow. 4thly That although we may overpowered in effecting the said Resalutions [sic], and draggd from our Parents, friends and employments to be made soldiers of you may infer from this what trust can be reposed in us if ever we are called upon to disperse our fellow Country men, or to oppose a foreign foe 51 .

Die ungelöste Paradoxie von Freiwilligkeit und Zwang, von Bürger und Soldat, wie sie in dieser spezifisch historischen Situation in Erscheinung trat, besiegelte schließlich auch das Ende nicht nur von Fergusons Hoffnung auf die Institutierung einer wehrhaften Bürgerrniliz, sondern auch das Ende seines republikanischen Diskurses 52 . Die Verfechter einer schottischen Bürgerrniliz waren in dem Moment in 49 Zu den Einzelheiten der Bürgermilizakte: 6000 Männer sollten insgesamt herangezogen werden und zwar für die Dauer des Krieges mit Frankreich (plus ein Monat). Die ausgewählten Männer sollten zwischen 18 und 23 Jahre alt sein. Verheiratete Männer mit zwei Kindern sowie Seeleute, Handwerks- und Kontorlehrlinge waren von der Heranziehung ausgenommen, des weiteren: Universitätsprofessoren, Lehrer, Geistliche (insbes. Quäker) und Gemeindepolizisten. Es bestand weiterhin die Möglichkeit, sich vom Dienst entweder durch eine einmalige Zahlung von 10 Pfund freizukaufen oder aber einen unverheirateten Ersatzmann für sich einzusetzen. Vgl. J. Western, Scottish Militia (Anm. 3), 3 ff. 50 Zum Verlauf der ,,Militia-Riots" in Schottland und ihrer Niederschlagung durch reguläre Truppen und Freiwilligenverbände (Fencible Regiments) vgl. Kenneth J. Logue, Popular Disturbances in Scotland 1780-1815, Edinburgh 1979,75 ff. 51 Die Resolution wurde von 30 Einwohnern in Form eines Kreises unterschrieben, zit. nach K.J. Logue, Popular Disturbances (Anm. 50), 86.

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den Augen der breiten Bevölkerung - the people wie sie sie gerne bezeichneten diskreditiert, als sie zusammen mit schottischen Parlamentariern (Robert Dundas, Adam Gordon) die gewaltsame Niederschlagung der Aufstände billigten. Und obgleich Ferguson am Ideal eines "Volunteer COrpS,,53 festhielt und den Sinn einer Zwangsrekrutierung bezweifelte, war er doch bereit, seinen Sohn James, der sich wohl gerne freigekauft hätte, in die Rekrutierungsliste einzutragen 54 . Aber läßt sich die Niederlage Fergusons deshalb ideengeschichtlich in einen späten Sieg von Adam Smith ummünzen? Sicherlich, das Ende der Illusion von einer Bürgergesellschaft, in der die Arbeitsteilung und Departmentalisierung vor den Bereichen des Militärs und des Staates halt machen sollte, während sie alle anderen gesellschaftlichen Räume erfaßte, war von Smith klar und plausibel beschrieben worden. Aber fast zur selben Zeit, als diese Illusion zerbrach, wurde ebenfalls sichtbar, daß jene andere, von Srnith favorisierte Illusion einer freien, harmonischen und prosperierenden Marktgesellschaft gleichermaßen ihr Ende erreicht hatte. Während in Schottland die Bevölkerung noch gegen ihre milizionäre Zwangsrekrutierung Widerstand leistete, beunruhigte die englischen Intellektuellen schon ein anderes, zukunfts weisendes Problem: die Pauperisierung der Massen in den englischen Industriestädten. Die Illusion vom Wohlstand der Nation, der den britischen Arbeiter reicher machen sollte als je zuvor in der Geschichte, verlor desto mehr an Überzeugungskraft, je überfüllter die Armen- und Arbeitshäuser wurden und je mehr Kranke, Bettler, Bedürftige und Kinder die Straßen von London bis Manchester bevölkerten. Nachdem die aufgeklärte Marktgesellschaft sie aus den "dunklen Räumen" des Hauses, der Familie, der Asyle und der Leibeigenschaft befreit hatte, konnte ihnen nun die politische Ökonomie des Kapitalismus, in Gestalt des Geistlichen Thomas Robert Malthus 55 , nichts hoffnungsvolleres Versprechen als ein Zeitalter der periodischen Wiederkehr von Krieg, Hunger und Pestilenz.

52 Folgt man allerdings J.G.A. Pocock, Machiavellian Moment (Anm. 4), 506ff., so setzt sich der republikanische Diskurs in den Verfassungsdebatten der amerikanischen Gründerväter fort. Dazu auch Lawrence D. eress, Citizens in Arms. The Army and the Militia in American Society to the War of 1812, Chapel Hili 1982. 53 Vgl. dazu auch Adam Fergusons unveröffentlichten Essay Of Statesmen and Warriours (1799), in: Collection of Essays (Anm. 48), 26 - 38, in weIchem dieser "sein Projekt" eines Freiwilligenkorps von Magistratsmitgliedern und Parlamentariern vorschlägt. 54 Vgl. Ferguson to Carlyle, October 2,1797, Edinburgh University Library. La.l1.243, no. 57. Gegenüber seinem Freund Alexander Carlyle gesteht er aber auch ein, daß "if college call hirn (J ames) away I trust that money will procure a substitute". Im übrigen war die Frage, sich durch einen Ersatzmann freizukaufen, ein wichtiger Grund für die Popularität des Widerstandes. Selbst die "middling rank" war in Schottland zum Teil finanziell nicht in der Lage, sich diesen Luxus zu leisten. 55 Ich beziehe mich hier auf die erste, 1798 veröffentlichte Ausgabe von Thomas R. Malthus, An Essay on the Principle of Population, as it Affects the Future Improvement of Society, with Remarks on the Speculation of Mr. Godwin, M. Condorcet, and Other Writers.

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Johann Valentin Embser und der vorrevolutionäre Bellizismus in Deutschland Von Wilhelm Janssen, Bonn

"Das Projekt des ewigen Friedens kann nicht, und wenn es könnte, darf nicht ausgeführt werden. Ein schrecklicher Saz, ich gestehe es, aber ein wahrer Saz!" Diese programmatische Formel ist in einem Buch! zu lesen, das in der 1815 erschienenen, seinerzeit einflußreichen Abhandlung des Leipziger Theologen Heinrich Gottlieb Tzschimer "Über den Krieg,,2 auf S. 118 so vorgestellt wird: "Ich kenne nur zwey Schriften, in denen der Krieg aus dem physischen Gesichtspunkte betrachtet und als eine nothwendige Welterscheinung dargestellt worden ist. Die eine, als deren Verfasser sich Embser unterzeichnet hat, führt den Titel: Die Abgötterey unsers philosophischen Jahrhunderts. Erster Abgott. Ewiger Friede. Mannheim 1779. Die zweyte ist überschrieben: Apologie des Krieges. Besonders gegen Kant. Vom Obersten von Rühl ... Beide Verfasser haben den innigen Zusammenhang des Krieges mit den menschlichen Verhältnissen gut ins Licht gesetzt, wenngleich der erste sich oft in übertriebene Lobpreisungen des Krieges ergießt, zufällige Folgen für nothwendige Wirkungen erklärt, und mehr als erweislich ist, auf die Rechnung desselben bringt ...". Mehr als 100 Seiten später, in Kapitel VII, in dem Tzschimer den Krieg ,,in seinem Zusammenhang mit der Bildung des Menschengeschlechtes und dem Leben der Völker" betrachtet3 , kommt er noch einmal auf Embser zu sprechen: "Bey Embser werden viele treffende Bemerkungen gefunden, nur daß er oft Paradoxen aufstellt und im Tone des Panegyristen redet"; ein noch zeitgenössischer Kritiker erkennt ihm "eine blühende Schreibart" zu4 • 1 [Johann Valentinl Embser, Die Abgötterei unsers philosophischen Jahrhunderts. Erster Abgott: Ewiger Friede, Mannheim 1779. - Benutzt wurde das Exemplar der Hessischen Landesbibliothek Wiesbaden (8° Nh 6042). Das Zitat auf Seite 8. 2 Heinrich Gottlieb Tzschimer, Über den Krieg. Ein philosophischer Versuch, Leipzig 1815. 3 Tzschimer, Krieg (Anm. 2), 237 Fußnote. 4 [Karl Theodor Traiteurl (Hrsg.), Valentin Embsers Wiederlegung (!) des ewigen Friedens-Projects, Mannheim 1791, wo in der Vorrede des Herausgebers aus der Besprechung von Embsers Buch aus dem Jahre 1779 durch den "pfälzischen Hofkammerrath ·und homme des lettres Bingner" der Satz zitiert wird: "Es muß befremden, die Lobrede einer so verderblichen Sache als der Krieg ist, mit solcher Wärme in einer so blühenden Schreibart, welche kühne feurige Ausflüge des Genies und der Beredsamkeit enthält, führen zu sehen" (VII). Auch der Herausgeber selbst attestiert Embser eine "blühende Schreibart" (V).

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Heute würde man dort bei einer grundsätzlich noch aufklärerischen Haltung des Autors kräftige Elemente des Sturm-und-Drang konstatieren, die in einem betont emphatischen Stil und einer eher assoziativen als diskursiven Darstellungsweise ihren Niederschlag finden. Wer war Embser? Johann Valentin Embser ist 1749 im Elsaß als Sohn eines Müllers zur Welt gekommen - Schulbesuch in Bergzabem, Zweibrücken und Metz, Studium in Halle und Göttingen. Anschließend unterrichtete er an der Kadettenanstalt im baltischen Reval und war Hauslehrer in der Familie Wrangel. Eine große Reise führte ihn über St. Petersburg, Hamburg und Amsterdam nach Paris; es kam zu Begegnungen mit Klopstock, d' Alembert und Rousseau. Von 1775 an war er Professor am Gymnasium zu Zweibrücken, dessen Rektor sein Schwiegervater wurde. Mit diesem und einem weiteren Kollegen initiierte er 1777 die berühmten "Editiones Bipontinae", eine kritisch gereinigte und typographisch ansprechende Ausgabe der lateinischen und griechischen Klassiker. Zugunsten dieser gewaltigen philologischen Arbeit, in deren Verfolg er die Werke von Plautus, Sallust und Plato herausgab, ließ er sich 1781 vom Schuldienst befreien. Er starb bereits 2 Jahre später, 17835 , und zwar - nach einem Vermerk der Matrikel des Zweibrücker Gymnasiums6 - an Überarbeitung. Wir haben es mit einem typischen deutschen Intellektuellen der Zeit zu tun: einem biederen Schulmann in der Residenzstadt eines Duodezfürstenturns, das abseits der politischen Bewegungen und Ereignisse lag und deshalb einem bürgerlichen Bewohner mit literarischem Ehrgeiz das Gefühl vermitteln konnte, in "friedfertigen, weichlichen, schön und ungründlich schwätzenden Zeiten", in einer "ziemlich unkriegerischen" Gegenwart zu leben? 1778, mit 29 Jahren, hat Embser sich sein Lebensgefühl und seine WeItsicht mit einem Angriff auf das "ganze Heer der Modephilosophen"s, mit einer Attacke auf die "Ausgeburten einer durch Phantasie und Weichlichkeit verblendeten, delirirenden Vemunft,,9 von der Seele geschrieben. Er wählte dafür die kritische Destruktion des "Entwurfs des ewigen Friedens von Abbe St. Pierre, welchen Rousseau bekannt gemacht und verschönert hat" 10. Als Waffe der Kritik diente ihm die 5 Vgl. den Artikel von Wemer Westphal in: Nouveau dictionnaire de biographie alsacienne 9 (1986), 796; Ludwig Malitar, Geschichte der ehemals pfalz-bayerischen Residenzstadt Zweibrücken, Zweibrücken 1885, 444f.; Julius Dahl/Karl Lohmeyer, Das barocke Zweibrücken und seine Meister, Waldfischbach 1957,498. 6 Fritz Vagelsang (Hrsg.), Die Zweibrücker Matrikel des Herzog-Wolfgang-Gymnasiums 1631- 1811, Speyer 1967, 156: "Georgius Jacobus Embser, nepos rectoris ex filia Henrietta, natus Biponti a. d. KaI. Sep. III an. 1778 viro nobis desideratissimo Jo. Valentino Embsero, Woerda-Alsato, huius Gymn. professore et Collega auctore instituti Classicorum scriptorum et Latinorum et Graecorum Bipontini laboribus nirniis vitaque d. XXV Nov. ineunte an. 1783 defuncto in c1assem IV Gymnasii recipitur, utinam in solatium matris et avi victurus." 7 Embser, Abgötterei (Anm. I), 146, 141. 8 Ebd., 103. 9 Ebd., 199. 10 Ebd., 11.

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geschichtliche Erfahrung 11 , die mit nicht unbeträchtlichem gelehrten Aufwand gegen die "Träume" philosophierender "Menschenfreunde,,12 ins Feld geführt wird. Das Büchlein - 204 Seiten im Oktavformat - ist in zwei Abschnitte von jeweils etwa 100 Seiten eingeteilt, in deren erstem die Frage abgehandelt wird: "Kann der Entwurf des ewigen Friedens ausgeführt werden?" Das negative Ergebnis ist weder überraschend noch originell. Dagegen ist schon die Überschrift des zweiten Abschnitts "Dürfte der Entwurf des ewigen Friedens ausgeführt werden?" eine Provokation nicht nur für die vorherrschende Geisteshaltung des 18. Jahrhunderts, sondern auch für die unreflektierte Überzeugung aller Zeiten, die der schon zitierte Tzschirner auf die Formel gebracht hat, "daß der Krieg ein Übel und der Friede ein Gut sei. Daher stimmen die philosophierende Vernunft und der gemeine Menschenverstand ... in diesen Urteilen zusammen,,13. Es hat zwar seit der Renaissance nicht an Stimmen gefehlt, die dem Übel auch einige positive Seiten abzugewinnen oder es als vereinbar mit Gottes gütiger Vorsehung zu erklären suchten l4 ; doch hatte man im Horizont der unbestritten geltenden christlichen und naturrechtlichen Gesellschafts- und Staatslehren nie bezweifelt, daß der Krieg seinem Ursprung nach Teufelswerk bzw. Frucht eingeborener menschlicher Bosheit sei 15. Diese Denktradition wird nun im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts von einem Teil der europäischen Intellektuellen aufgegeben; und es hat den Anschein, als sei Embser - zumindest in Deutschland - der erste gewesen, der den Krieg nicht mehr als Vernunftwidrigkeit abgelehnt oder allenfalls als göttliches Zuchtmittel gerechtfertigt, sondern als den wahren Promotor der Humanität gefeiert hat. Es ist gewiß Ebd., 144, 35 f., 38, 111. Ebd., 197. 13 Tzschimer, Krieg (Anm. 2), 19. 14 Vgl. etwa Dietrich Kurze, Zeitgenossen über Krieg und Frieden anläßlich der Pax Paolina (röm. Frieden) von 1468, in: Franz Josef Worstbrock (Hrsg.), Krieg und Frieden im Horizont des Renaissancehumanismus, Weinheim 1986,69 -103, insbesondere 93 - 103; Wolfram Benziger, Zur Theorie von Krieg und Frieden in der italienischen Renaissance. Die Disputatio de pace et bello zwischen Bartolomeo Platina und Rodrigo Sanchez de Arevalo und andere anläßlich der Pax Paolina (Rom 1468) entstandene Schriften. Mit Edition und Übersetzung, Frankfurt a.M. 1996, bes. 58 -79; Johannes Kunisch, La guerre - c'est moi! Zum Problem der Staatenkonflikte im Zeitalter des Absolutismus, in: ders., Fürst - Gesellschaft - Krieg. Studien zur bellizistischen Disposition des absoluten Fürstenstaates, Köln / Weimar / Wien 1992,1-41. 15 Klaus Amold, De bono pacis - Friedensvorstellungen in Mittelalter und Renaissance, in: Jürgen Petersohn (Hrsg.), Überlieferung, Frömmigkeit, Bildung als Leitthemen der Geschichtsforschung, Wiesbaden 1987, 133 -154; Dietrich Kurze, Krieg und Frieden im mittelalterlichen Denken, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Köln/Wien 1991, 1-44; Wilhelm Janssen, Friede, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, 1975, bes. 556 - 573. - Auch das Kriegslob des Sanchez de Arevalo bleibt noch in eine Diskussion über die unvollkommene pax humana und die praktisch unerreichbare pax vera eingebunden, vgl. Kurze und Benziger (beide Anm. 14). 11

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nicht von ungefähr, daß es ein klassischer Philologe war, der diesen Schritt gewagt hat, hatte doch das Studium' der Antike bereits in den Jahrzehnten zuvor dahin geführt, den Tod fürs Vaterland zu entdecken und ihm Würde und moralischen Wert zu geben. Thomas Abbts, des Bückeburger Hofpredigers, kurze Abhandlung "Vom Tode fürs Vaterland" aus dem Jahre 1761 war erster Ausdruck dieser neuen Wertschätzung gewesen 16 ; zeitgleiche Klopstock-Oden hatten das Thema aufgegriffen 17 • Neben den antiken Vorbildern hat gleichermaßen auch der Eindruck des Siebenjährigen Krieges und der faszinierenden Persönlichkeit Friedrichs des Großen bewußtseinsändernd gewirkt. Keineswegs aber hatte das Loblied auf die sich im Kriegertod bezeugende Vaterlandsliebe dazu geführt, den Krieg als solchen apologetisch zu feiern. Das blieb Johann Valentin Embser vorbehalten. Die Umwertung des Krieges, die wir bei ihm in einer so exaltierten wie systematisierten Weise antreffen, ist dadurch ermöglicht, daß das bis dahin beherrschende naturrechtliche Erklärungsmodell der Gesellschaft durch ein natur- bzw. kulturgeschichtliches abgelöst wird. Embser argumentiert wie folgt: "Selbstliebe und Sympathie sind die zwo grosen Triebfedern der menschlichen Natur und Quellen ihrer Vollkommenheit,,18. Sie führen zur Ausbildung von Individualität und Gemeinschaft. Die Gemeinschaftsbildung erfolgt über die Familie, die Sippe, den Stamm zur Nation, die ihren besonderen, eigentümlichen Charakter bewahren muß, wenn in ihr die den Menschen konstituierenden sozialen Werte wie Zuwendung, Aufopferung u. dergl. wirksam werden sollen. "Gesellschaft setzt also Trennung voraus"19, "die Menschen sind durch ihre Natur blos zu kleinen Gesellschaften bestimmt, daß kleine Nationen der Kreis sind, in welchen sie ihre Kräfte üben,,20. Hätte Embser Gelegenheit gehabt, Ferdinand Tönnies zu lesen21 , hätte er in diesem Zusammenhang nicht von Gesellschaft, sondern von Gemeinschaft gesprochen; denn für ihn ist die Sympathie, die emotionale Bindung, und nicht das ,,kalte Interesse" die Kraft, die die Nationen formt und zusammenhält. Sie sind in Tönniessehen Begriffen Gemeinschaften, keine Gesellschaften. Die Ausbildung nationaler Identitäten erfolgt durch Abgrenzung. Diese Grenzen "machen sie immer zu Feinden oder erhalten sie doch in 16 Über ihn vgl. den Artikel von F. Pressel in: ADB, Bd. I, 1875,2 ff. und W. Michel, in: NDB, Bd. I, Berlin 1953, 4 f. Vgl. Dazu Johannes Kunisch, Das ,,Puppenwerk" der stehenden Heere. Ein Beitrag zur Neueinschätzung von Soldatenstand und Krieg in der Spätaufklärung, in: ders., Fürst - Gesellschaft - Krieg (Anm. 14), 187 f. 17 Martin Schmidt, Die Apotheose des Krieges im 18. und frühen 19. Jahrhundert im deutschen Dichten und Denken, in: Wolfgang Huber/Johannes Schwerdtfeger (Hrsg.), Kirche zwischen Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte des deutschen Protestantismus, Stuttgart 1976, 130 -166, zu K1opstock 132 -138. 18 Embser; Abgötterei (Anm. 1), 102. 19 Ebd., 47. 20 Ebd. 21 Ferdinand 1Onnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (zuerst 1887), Neuausgabe, 3. Aufl., Darmstadt 1991.

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ewigem wechselweisen Frost,m. Je größer ein Staat ist, desto eher gehen nationale Identität und damit die Voraussetzungen zur Bewährung der wahren humanen Kräfte verloren. Am schlimmsten ist demzufolge "die sogen. allgemeine Menschenliebe, Menschenfreundschaft, Kosmopolitismus und wie man die unsinnige, harmlose Schimäre weiter betitelt,,23. Seine Bevorzugung der ,,kleinen und unvermischten Nation,,24 bringt Embser im übrigen auch durch die Widmung seines Buches an König Gustav III. von Schweden zum Ausdruck, dem er vor anderen, von ihm hochgeschätzten aufgeklärten Monarchen größerer Staaten wie Katharina 11. von Rußland und Friedrich dem Großen den Vorzug gibt. Innerhalb des von der Natur als optimal gesetzten gesellschaftlichen Rahmens der Staatsnation kann der Mensch, der als ein handelndes Wesen definiert ist und den als konstitutives Merkmal die Tätigkeit - oder wie es auch heißt: die Kräfteübung 25 - auszeichnet, am ehesten seine Bestimmung, die allseitige Entwicklung einer kraftvollen Humanität, erreichen. Diese Aktivität darf sich aber nicht ziellos austoben, sondern muß auf das allgemeine Beste ausgerichtet sein. Betätigung zugunsten des "bonum commune" aber ist Tugend26 . Tugend ist deshalb nicht ohne Aufklärung denkbar27 , die über das gemeine Beste Auskunft gibt. Sie kann sich als solche nur im Kampf mit den "Widerwärtigkeiten" realisieren. Und insofern läßt sich feststellen, daß "Tugend, dieses Wort in seiner ängsten und weitesten Bedeutung genommen, Frucht des Unglücks [ist],,28. Für eine Nation, deren Aufgabe es ist, ihren "eigenthümlichen Sinn und Geist" (Schleiermacher)29 in Abgrenzung gegen andere Nationen zu bewahren und zu behaupten, bedarf es ebenso wie für einen Menschen, dem es bestimmt ist, sich im Kampf gegen seine eigennützigen Neigungen zur Tugendhaftigkeit zu erheben3o, Embser, Abgötterei (Anm. 1),54. Ebd.,44. 24 Ebd.,41. 25 Ebd., 105 f.: "Der Mensch ist ... durch alle seine Verhältnisse und Umstände bestimmt, ein handelndes Wesen zu sein ... Kräfteübung ist und bleibt die einzige Entwickelung menschlicher Größe". - Vgl. auch ebd. 47, 162, 172. 26 Ebd., 156: "Tugend ist Thätigkeit - die Grundbestimmung des Menschen; aber nicht blinde Thätigkeit, denn ihr Ziel ist allgemeines Wohl." 27 Ebd., 161 f.: "Keine Tugend ohne Vernunft ... Je heller ... die Vernunft, desto ... mehrere ... Tugend ... Ewiger Friede kann nicht Stifter der Tugend seyn, weil er nicht Schöpfer der Thätigkeit und Aufklärung ist ...... 28 Ebd., 188. 29 Christoph Burger, Der Wandel in der Beurteilung von Frieden und Krieg bei Friedrich Schleiermacher, in: Huber I Schwerdtfeger, Kirche zwischen Krieg und Frieden (Anm. 17), 225 - 242, das Zitat 234. 30 Embser, Abgötterei (Anm. 1), 172: "In Gefahren stählt sich der Muth. Im Unglücke stärkt sich die Freundschaft. In Jammerscenen ist Laufbahn für die Grosmuth. Im Kummer läutert sich das Herz, erhebt sich der Geist, schwingt sich die Seele. Im Kampfe mit Widerwärtigkeiten schwellt sich die Brust. Kurz, Kräfteübung ist das wahre, das beste, das schönste 22

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des Heroismus, des kriegerischen Geistes 31 . Und insofern ist der Krieg der Vater aller guten Dinge. Innerhalb des hier skizzierten, von Embser mehr schwungvoll angedeuteten als exakt konstruierten Systems sind eine Anzahl moralischer und sozialer Werte und Unwerte verortet, bei denen man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, als hätten sie in elementaren, allen vernünftigen Erwägungen vorausliegenden Überzeugungen des Verfassers ihren Ursprung, um die er dann später seine Argumentation herumgebaut hat. Da stehen auf der einen Seite: Tätigkeit32, Kräfteübung 33 , Gemeinwohl 34 , Tugend 35 , Aufklärung 36, Geisteskultur 37 , Heroismus 38 , Nationalgeist39 , Patriotismus40 . Dem stehen auf der anderen Seite gegenüber: Ruhe41 , Eigennutz 42 , Interesse 43 , Weichlichkeit 44 , LuxUS 45 , Müßiggang, Feigheit46 , Friedfertigkeit47 , Wollüstigkeit48 . Die Reihe der positiv besetzten Begriffe - sie signalisieren sämtlich eine aktive Lebenshaltung - gipfelt im Begriff des kriegerischen Geistes als ihrem Wurzelboden49 ; die negativ besetzten Begriffe - sie beinhalten Passivität im weitesten Sinn - werden als Frucht des "ewigen Friedens" ausgegeben. "Und wenn nothwendigerweise im ewigen Frieden Feigheit, Verachtung des Vaterlandes, Eigennutz, Bewunderung der Ausländer, Weichlichkeit an die Stelle der Tugenden treten ... , Triebhaus der edelsten, erhabensten und schönsten Tugenden. Ruhe, Weichlichkeit, Feigheit ist das Grab aller Größe des Herzens." 31 "Der kriegerische Geist ... muß nicht verlöschen, wenn die Nation ihre Stärke, ihre Tugend, ihre Glückseligkeit nicht verlieren soll" (Embser, Abgötterei [Anm. I], 164). 32 Embser, Abgötterei (Anm. I), 109, 156, 159, 162. 33 Ebd.,47, 106f., 165, 172. 34 Ebd., 156, 170. 35 Ebd., 126, 155, 157, 165, 167, 172, 188. 36 Ebd., 112, 145, 154, 162, 181, 184. 37 Ebd., 110, 150, 154. 38 Ebd.,47, 117, 141. 39 Ebd., 41,63, 114. 40 Ebd., 41, 114, 118, 163, 170, 186, 189. 41 Ebd., 122, 125, 135, 165, 192. 42 Ebd., 47, 48, 150, 163, 169, 188. 43 Ebd., 47, 103. 44 Ebd., 59,110,122,125 ff., 128, 139, 144, 147, 163, 167f., 172, 199. 45 Ebd., 128, 168. 46 Ebd., 163, 172. 47 Ebd., 147. 48 Ebd., 126, 147, 168. 49 Ebd., 164, 186, 189.

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so müste ewiger Friede nothwendig die Erde zur Mördergrube und Hölle umschaffen"so. "Die ersten Tugenden der Nationen" aber sind: ,,Liebe des Vaterlandes, Verachtung der Ausländer, Nationalstolz, Tapferkeit, Patriotismus"Sl; sie sind wie "Leibesstärke, Munterkeit, Aufklärung, Geistesgröße, Genie-Ruhm Kinder des Kriegs"S2. Es ist also der Kult der kraftvollen schöpferischen Individualität, des Einze1menschen wie der Staatsnation, dem der hier auftretende Bellizismus seine Entstehung verdankt; dieser Kult ist aber noch eingebunden in die Aufklärungsphilosophie und deren religiöse Implikationen. Dem Abgott des "ewigen Friedens" wird keineswegs der Gott des "ewigen Krieges" gegenübergestellt. Daß ewiger Krieg noch verheerendere Wirkungen hat als ewiger Friede, wird von dem Autor massiv betontS3 . Er postuliert einen gelegentlichen Krieg, der die "im ewigen Frieden in stinkender Ruhe entschlafen(e) ... faulende Masse wieder herumschüttelt"S4 und ihr aufs neue ,,kriegerischen Geist" einhaucht. Denn dieser ,,kriegerische Geist" ist Embsers Gegenbegriff zum "ewigen Frieden". Nicht Krieg und Frieden, sondern "ewiger Friede" und "kriegerischer Geist" sind die antithetisch gesetzten Sozialwerte, um die es geht. Als "Feuer, das in der Brust jedes oder doch des grösten Teils der Bürger glimmet"SS, unterscheidet sich der kriegerische Geist vom Kriegsgeist, "der blos kriegerischer Geist der Monarchen"s6 ist. Diesem Kriegsgeist, der stets in Gefahr ist, in eroberungssüchtige "Kriegswuth"S7 auszuarten, kommt die Aufgabe zu, als "das letzte und einzige Uebungsmittel des kriegerischen Geistes"s8 diesen wachzuhalten und auszubreiten. Denn kriegerischer Geist ist auch im Innem der Staaten vonnöten. "Ein ... Volk, das Muth genug hatte, dem Feinde zu widerstehen, wird niemals mit Gewalt dahin gebracht werden, seinen Nacken unter das Joch des Despotismus zu beugen. Und wieviel gewinnt sie blos durch diesen Heroismus! Aufrechterhaltung ihrer Freiheit und Gesetze - ungestörter, ungekränkter Genuß ihres Eigenthums - Da wo Obrigkeit und Unterthanen einander wechselsweise Rechenschaft Ebd., 163. Ebd. 52 Ebd., 154. 53 Ebd., 175 - 185. 54 Ebd., 192. - Hieran knüpft Embser Gedankengänge über den innerstaatlichen ,,Purgierungs"-Effekt äußerer Kriege an, die schon Richelieu nicht fremd und Jacob Burckhardt noch geläufig waren: " ... überall werden ihm Blöße, Hunger, Krankheiten, wandelnde Todesgestalten unter dem untersten Theil der Nation aufstoßen, und allezeit in einer desto grösern Anzahl, je länger die Nation schon im Frieden lebt. Ein Schwarm edler und liederlicher Müßiggänger ... ist eine Plage des Hofs und des Landes. Der König von Preussen machte Soldaten daraus. Kurz nach einem Krieg ist das ganze Volk verjüngt, die kraftlose siechende Materie ist abgezapft, der ganze Staatskörper ist frisch gereiniget (ebd., 129). 55 Ebd., 189. 56 Ebd. 57 Ebd., 120. 58 Ebd., 192. 50 51

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schuldig sind, wo jeder, vom Purpur bis zum Bettelrock, der heiligen und höchsten Gewalt der Gesetze und des Staats unterworfen sind; wie genau werden da die Rechte der Menschen und Bürger abgewogen! ... ,,59. "Kriegerischer Geist ist Stütze des Patriotismus und er ist selbst schon Patriotismus, kennt nicht Menschen, nur Gesetze über sich, weil er ein Gefühl seiner Würde ist ... noch mehr, er ist Gegengift gegen das schleichende Gift der Staatskrankheiten ... ,,60. Der Schritt vom Patriotismus zur Revolution wird hier expressis verbis noch nicht vollzogen. Dahin kommt Embser an anderer Stelle auf dem Umweg über die Tugend in einem merkwürdigen, fast an Georges Sorels "Betrachtungen über die Gewalt" erinnernden Gedankengang. ,,Ewiger Friede versetzte die Nationen in eine völlige Ruhe ... Das ganze schöne eingefädelte Staatenwerk läuft, wie die Sphären, ewig fort ... - alle Schritte durch den Zirkel der Gesetze und Polizei ausgemessen - alle Tugend bürgerliche, Gesez-Zwang-Tugend, und also keine Tugend. Keine großen Ergiessungen der Tugend, denn diese wären in einem solchen Staate schädlicher als grose Schandthaten; weil diese durch Ketten und durch das Schwerd der Gerechtigkeit zerstöret werden, jene hingegen allezeit in einem solchen mechanischen Staat eine Revolution bewirkten, die dem Ganzen gefährlich werden könnte,,61. Ob Embser die in der Konsequenz seines Denkansatzes liegende Revolutionsbejahung, in der sich die moralische Staatskritik der Aufklärung62 mit dem Aktionismus des Sturm-und-Drang63 verbindet, tatsächlich geteilt hat, ist die Frage. Sein Buch, das er dem Schwedenkönig Gustav III., "Schöpfer eines Nationalgeistes, Gesetzgeber und Vorbild seiner Unterthanen" als "allerunterthänigster Knecht" gewidmet hat64 , läßt eher vermuten, daß er in Übereinstimmung mit der Mehrzahl der deutschen Intellektuellen dieser Zeit die Staatsform eines aufgeklärten Absolutismus favorisierte 65 . Verläßliche Spuren eines Konstitutionalismus oder gar eines bürgerlich-egalitären Republikanismus sind bei ihm jedenfalls nicht auszumachen. Immerhin hat er resümierend nicht nur die Kriege, sondern auch die ,,Empörungen" als nötig deklariert, "weil durch sie allein das Menschengeschlecht ... zum Ebd., 117. Ebd., 186. 61 Ebd., 165 f. 62 Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 2. Aufl., Freiburg 1969, bes. 129-132, 151-157. 63 Hermann August Korff, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte, 1. Teil: Sturm und Drang, 2. Aufl., Leipzig 1955; Roy Pascal, Der Sturm-und-Drang, Stuttgart 1963; zur Diktion Embsers erhellend August Langen, Deutsche Sprachgeschichte vom Barock bis zur Gegenwart, in: Wolfgang Stammler (Hrsg.), Deutsche Philologie im Aufriß, Bd. I, Berlin 1952, bes. 1223 - 1284. 64 Embser, Abgötterei (Anm. I), Widmungsblatt. 65 Es finden sich zahlreiche positive bis bewundernde Äußerungen über König Friedrich II. von Preußen, "den Grosen", und die Zarin Katharina II. (etwa Embser, Abgötterei [Anm. 1],64,75,112, 119f., 122, 129). 59

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Ziel seiner Bestimmung erhoben, und weil es ohne sie zum Thier- und Pflanzenreich herabgewürdigt würde,,66. Dem Kult des ,,kriegerischen Geistes" werden die so sorgsam gezogenen Grenzen zwischen Staaten- und Bürgerkrieg geopfert; der "ewige Friede" gerät auch dort ins Zwielicht, wo er nicht wie im zwischenstaatlichen Bereich den Charakter einer bloßen politischen Zielprojektion bzw. "Chimäre" besitzt, sondern als "öffentliche Ruhe und Sicherheit" im Staate langdauernde Realität ist67 . Erst am Schluß läßt sich Embser über die Absicht seines Buches aus: "Diese Blätter sollen die göttliche Regierung der Welt rechtfertigen,,68. Wir haben es also mit einer Theodizee im strengen Sinne zu tun. Gott wird nicht nur entschuldigt, weil er die Kriege zuläßt, sondern er wird gepriesen, weil er sie als Mittel der persönlichen Vervollkommnung, sittlichen Bewährung und des Kulturfortschritts in den Weltlauf eingebaut hat. Nichts deutet aber darauf hin, daß wir es dabei mit dem christlichen Gott der Offenbarung zu tun haben. Im Grunde ist die Argumentation der Embserschen Polemik recht simpel; sie beruht auf einer schlichten Umwertung der bisher anerkannten Positionen, auf Paradoxa, wie schon Tzschirner richtig bemerkt hat. Die segensreichen Früchte der Kultur und Moral, die man bislang dem Frieden zuschrieb, werden jetzt dem Krieg zugerechnet. Es werden Urteile formuliert, die zum Teil schon eine lange Tradition aufweisen konnten und die allesamt als feste Topoi noch eine große Zukunft vor sich haben sollten: daß der Krieg der Ursprung des Staates sei69 ; daß er Schöpfer und Mörder der Staaten zugleich sei7o ; daß er das Volk verjüngt, indern er die im Frieden angesammelte ,,kraftlose, stechende Materie" abzapft und dadurch den "Staatskörper" reinigt71; 66 67

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Embser, Abgötterei (Anm. 1),201. Janssen, Friede (Anm. 15),561 f. Embser, Abgötterei (Anm. 1),201. - Er kommt dabei zu dem die ganze christliche Tra-

dition der Auseinandersetzung mit dem Kriegsproblem ad absurdum führenden Schluß: "Ewiger Friede, du blendender Abgott unsers Jahrhunderts! ... Der Weiseste und Gütigste, der Jahrtausende schon diese Erdkugel regieret, hat dich immer entfernt. Verbannen wird er dich in alle Zukunft" (154). 69 Ebd., 134: "Und ich kann, so sehr ich mein Gehirn auch martern wollte, mir die Möglichkeit der Entstehung eines Staates ohne Kriege von innen und von außen nicht gedenken." - Ebd., 133: "Haben nicht die meisten Nationen sich erst durch Kriege mit wilden Thieren, mit Einwohnern und Nachbarn zu einer Nation schaffen müssen." - Dazu Kant: "Durch Neigung bilden sich kleine Gesellschaften, durch Bedürfnis bürgerliche und durch Kriege Staaten (Handschriftlicher Nachlaß, Akademie-Ausgabe, Bd. 15, 1913, 607); auch für Tzschimer (Anm. 2) ist der Krieg "der Gründer der Staaten" (211). 70 Embser, Abgötterei (Anm. 1),4: "Hat der ewige Friede nicht nothwendige schreckliche Folgen? Und ist der Krieg nicht Triebfeder und in gewisser Absicht einzige Triebfeder menschlicher Größe? Ist er nicht Mörder und wiederum Schöpfer der Nationen zugleich?" 71 Wie Anm. 54. - Vgl. dazu etwa Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts (1802/3), in: Sämtliche Werke, Bd. 1, 1927, 487f.:

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Wilhelm Janssen daß er dem Staate "eine Masse von Mannheit, Stärke und Freiheit mittheilt" 72; daß er das erfolgreichste Vehikel des Kulturaustauschs zwischen den Völkern und zugleich der mächtigste Anreger der Künste und Wissenschaften ist, weil zwischen den Nationen "die Rivalität des Kriegs Rivalität in allen Stücken wird"73; daß "die kriegerischen Nationen die vollkommensten sind,,74; daß "die ersten Tugenden der Nationen Liebe des Vaterlandes, Verachtung der Ausländer, Nationalstolz, Tapferkeit und Patriotismus" seien75 .

Vor allem der in betonter Abwendung vom aufklärerischen Ideal des Weltbürgertums 76 zum zentralen sozialmoralischen Wert emporgesteigerte "Nationalgeist", der laut Embser "nicht irrdisches Feuer", sondern ,,Feuer vom Himmel" ist77, sollte seine eigentlichen Wirkungen erst noch entfalten, dann nämlich, als aus der Staatsnation, die Embser allein im Blick hat, der Nationalstaat des 19. Jahrhun"Es ist durch diese zweite Seite der Beziehung (d. h. die negative) für Gestalt und Individualität der sittlichen Totalität (d. i. des Staates) die Notwendigkeit des Kriegs gesetzt; der ... ebenso die sittliche Gesundheit der Völker in ihrer Indifferenz gegen die Bestimmtheiten und gegen das Angewöhnen und Festwerden derselben erhält, als die Bewegung der Winde die Seen vor der Fäulnis bewahrt, in welche sie eine dauernde Stille, wie die Völker ein dauernder, oder gar ,ein ewiger Friede' versetzen würde."; auch Jakob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (1850), in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Darmstadt 1962, 119: "Der lange Friede bringt nicht nur Entnervung hervor, sondern er läßt das Entstehen einer Menge jämmerlicher, angstvoller Notexistenzen zu, welche ohne ihn nicht entständen und sich dann noch mit lautem Geschrei um ,Recht' irgendwie an das Dasein klammern, den wahren Kräften den Platz vorwegnehmen und die Luft verdicken, im ganzen auch das Geblüt der Nation verunedeln. Der Krieg bringt wieder die wahren Kräfte zu Ehren." 72 Embser, Abgötterei (Anm. 1), 193. Zur Entwicklung der Vorstellung vom Krieg als einer "moralischen Anstalt" vgl. auch Johannes Kunisch, Von der gezähmten zur entfesselten Bellona. Die Umwertung des Krieges im Zeitalter der Revolutions- und Freiheitskriege, in: ders., Fürst - Gesellschaft - Krieg (Anm. 14),203 - 226. 73 Embser, Abgötterei (Anm. 1), 115, 131-139, das Zitat ebd., 115. - Ebd., 118 findet sich die Behauptung: "Die Folge des Krieges ist Erweiterung des moralischen Horizonts". - Dazu sind zu vergleichen Kants Bemerkung, daß der Krieg "ungeachtet der schrecklichsten Drangsale, womit er das menschliche Geschlecht belegt, ... dennoch eine Triebfeder mehr ist ... , alle Talente, die zur Cultur dienen, bis zum höchsten Grade zu entwickeln." (Kritik der Urteilskraft [1790] § 83, Akademie-Ausgabe, Bd. 5, 1908,433) sowie Fichtes Feststellung: "So ungerecht diese Zwecke (des Krieges) auch an sich erscheinen mögen, so wird dennoch dadurch der erste Grundzug des Weltplans, die allgemeine Verbreitung der Cultur, allmählig befördert; und nach derselben Regel wird es unablässig so fortgehen, bis das ganze Geschlecht, das unsere Kugel bewohnt, zu einer einzigen Völkerrepublik der Cultur zusammengeschmolzen sei." (Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters [1804 / 5], Sämtliche Werke, Bd. 7, 1846, 163). 74 Embser, Abgötterei (Anm. 1), 111. 75 Ebd., 163. 76 Vgl. Anm. 23. 77 Embser, Abgötterei (Anm. 1),63.

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derts geworden war. Die Qualität eines himmlischen Feuers, die Embser dem Nationalgeist zuerkennt, könnte bereits auf jene Verbindung von Religiosität und Nationalgedanken vorausweisen, die sich dann in der Ära der Befreiungskriege so unauflöslich befestigt hat78. Doch dürfte eine solche Interpretation wohl überzogen sein; auch dann, wenn sie durch einen enthusiastischen Preis des "Patriotismus, der Gottesflamme, die Sterbliche allein ihrem Urheber ähnlich macht,,79, gestützt erscheint. Denn obwohl unserem Autor der Gedanke nicht fremd ist, daß "die erkaltete Religion im Unglück feurige Gottesverehrung wird,,8o, so führt er dieses Thema doch nicht weiter aus. Die vom Krieg bewirkte patriotische und religiöse Erhebung werden zu seiner Zeit noch gesondert erwartet. So hatte schon 1768 der braunschweigische Hofprediger J. F. W. Jerusalem in seinen "Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion" im Hinblick auf die Effekte eines Krieges geurteilt: "Der herrschende Leichtsinn wird im Ganzen gebrochen; es entsteht, wenigstens auf eine Zeitlang, eine neue ernsthaftere Denkungsart; das Gefühl von Religion und Tugend wird wieder erweckt; man fangt den unbekannten Gott wieder an zu suchen,,81. Aus der späteren Verschmelzung von Religion und Nation, wie sie besonders kraß und platt bei E. M. Amdt zum Ausdruck kommt, sollte dann der Bellizismus des 19. Jahrhunderts seine eigentliche Kraft gewinnen. Das beiden Überzeugungsund Argumentationssträngen, dem Weg der Kirchenfrömmigkeit und dem des Patriotismus, Gemeinsame war die Idee der Hingabe des Einzelnen an ein Allgemeines, ein Größeres - um es in Embsers Vokabular auszudrücken: die Überwindung des ,,kalkulierenden, vernünftelnden Eigennuzes" durch den Opfersinn82 . Aber wie schon gesagt: Bei Embser ist die religiöse Komponente bestenfalls angedeutet, nicht entwickelt. Seine ,,Leistung" ist es vielmehr, die Idee eines kriegsbereiten Patriotismus, wie ihn die Zeit kannte, zu der eines sich geradezu als ,,kriegerischer Geist" definierenden "Nationalgeistes" hypostasiert zu haben. Das ist zweifellos das Ergebnis eines Kraft- und Geniekultes, der aus der politischen Aufklärungsphilosophie auszubrechen sucht, ohne ihr allerdings entrinnen zu können. Das läßt Embsers Ausführungen zum Thema Krieg als Revolution so konturenschwach und verschwommen erscheinen. Daß er wie die meisten Zeitgenossen gegen Despotismus und für eine Herrschaft der Gesetze war, dürfen wir als sicher annehmen. Ebenso sicher ist, daß er mit Klopstocks Zeilen einverstanden gewesen 78 Burger, Schleiennacher (Anm. 29), bes. 238 - 240; Otto Dann, Vernunftfrieden und nationaler Krieg. Der Umbruch im Friedensverhalten des deutschen Bürgertums zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Huber / Schwerdtfeger, Kirche zwischen Krieg und Frieden (Anm. 17), 169 - 224, bes. 203 - 215; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 - 1866, 5. Aufl., München 1991,303 ff., 438 f. 79 Embser; Abgötterei (Anm. 1), 170. 80 Ebd., 151. 81 Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, 2. Aufl., Braunschweig 1785 [mit einer auf 1768 datierten Vorrede], 143. 82 Embser; Abgötterei (Anm. 1), 47 f.

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ist: "Nicht allein für ein Vaterland/Wo das Gesetz und Hunderte herrschen I Auch für ein Vaterland I Wo das Gesetz und einer herrscht I ... Süß und ehrenvoll ist es, zu sterben fürs Vaterland ... ,,83. Seine Bemerkungen über Gesetz und Polizei - also die Garanten des "ewigen Friedens" im Staate -, die den kriegerischen Geist unterdrücken, klingen dagegen merkwürdig zweideutig 84 . Sie erklären jedenfalls, warum er diesen "gesetzlichen Zustand" zwischen den Staaten, Kants großes politisches Ziel, so vehement ablehnte. Was ihn von Kant und den Aufklärern grundsätzlich unterschied, war die Parallelisierung von Natur und Vernunft: "Die ewige Gottheit hat ihr Bild in der physischen Welt so hell abgedruckt, daß sie der moralischen allezeit Muster seyn kann: Sonnenschein, Regen, Hize, Kälte ... ,,85. Daß der Kosmos der Vernunft, jedenfalls der praktischen Vernunft, nicht das Abbild, sondern das Gegenbild der Natur sei, war aufklärerische Maxime: " ... das moralische Gesetz aber in mir selbst für betrüglich anzunehmen" - so Kant -, "würde den Abscheu erregenden Wunsch hervorbringen, lieber alle Vernunft zu entbehren und sich seinen Grundsätzen nach ... in einen gleichen Mechanismus der Natur geworfen zu sehen,,86. Eröffnete die Vernunft dem Denken und dem Handeln ein Reich der Freiheit jenseits des "Mechanismus der Natur" oder gewährte sie lediglich die Einsicht in die von ihr nicht zu transzendierende Naturnotwendigkeit - das war (und ist) die Frage. 1797 ist Embsers Schrift noch einmal gedruckt worden, und zwar von Karl Theodor Traiteur, der sich selbst als Verfasser ,,heteroklitischer Ideen zu einem ewigen Frieden" vorstellt und die Neuausgabe nach dem Grundsatz "Audiatur et altera pars" vorgenommen haben Will 87 . Er zitiert im Vorwort aus zwei Besprechungen der Erstauflage, einer begeisterten, die mit dem Ausruf ,,Leset Embser" schließt88 , und einer sehr kritischen, deren Quintessenz lautet: "Wie lange wollen wir Deutsche noch Wildheit Geist und Unsinn Größe nennen,,89? Schon vorher hatte der kritische Rezensent die Sonde an zwei Grundpfeiler gelegt, auf denen Embsers - des Verehrers der Antike und der Naturgesetze - Gedankengänge beruhen, indem er erstens konstatierte: "Die jetzigen Kriege sind nicht Kriege der Alten, sie sind Affaires de calcul, im Felde sowohl als nach den ungeheuren Geldsummen, die erfordert werden sie auszuhalten,,90, und indem er zweitens die Frage stellte: "Der Tyger hat Stärke, Thätigkeit und Schönheit, er kennt weder Ruhe noch Vgl. Schmidt, Apotheose (Anm. 17), 132. Vgl. Anm. 61. 85 Embser; Abgötterei (Anm. 1), 176. 86 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (1797), Beschluß, Akademie-Ausgabe, Bd. 6, 1914,355. 87 Vgl. Anm. 4. Der Name des Herausgebers ist auf dem Titelblatt des von mir benutzten Exemplars der Stadtbibliothek Trier handschriftlich nachgetragen. 88 Valentin Embsers Wiederlegung (Anm. 4), VI; als Verf. ist der "pfälzische Otto v. Gemmingen" genannt, als Erscheinungsort "Rhein. Beiträge zur Gelehrsamkeit, Mannheim d. J. 1779 p. 120 u. 202". 89 Valentin Embsers Wiederlegung (Anm. 4), XII. 90 Ebd., X. 83

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Weichlichkeit; soll er deswegen ein Muster des Menschen werden,,91? Der Herausgeber selbst schließt seine Vorrede mit der Bemerkung: ,,Lebte [Embser] noch, so würde er sicher mit demselben Scharfsinne manchen Gedanken nach neuern Denkformen geändert ... haben,,92. Das war gewiß ein Irrtum; denn nicht zum wenigsten Embsers Ideen und Vorstellungen waren es, die die "neuen", die bellizistisch getönten Reflexionen über Krieg und Frieden bestimmen sollten.

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Ebd., XIII. Ebd., XV.

Die Denunzierung des Ewigen Friedens Der Krieg als moralische Anstalt in der Literatur und Publizistik der Spätaufklärung*

Von Johannes Kunisch, Köln

"Genug, fast zu viel", schrieb ein fiktiver "Eutychius" in seiner Abhandlung "Über den Ursprung und die Einwürkung des Krieges auf die Kultur des menschlichen Geschlechts" von 1796, ,,hat man gegen den Krieg und das Heer der Klagen deklamirt, die er in seinem Gefolge nach sich ziehet. Redner, Dichter und Philosophen haben sich die Hände geboten, ihn verhaßt zu machen. Doch mitten in dieser friedlichen Stimmung stehen hier und da Philosophen auf, die den Krieg von andem Seiten betrachten. Sie wollen durch das blutige Gewand dringen, das er trägt. Sie wollen unter der gräslichen Maske einen Wohlthäter der Menschheit verstekt sehen. Sie wollen ihn als einen moralischen Uhrschlüssel darstellen, der das abgelaufene oder stockende Uhrwerk der Thätigkeit und Industrie wieder aufwinden mus". Es fehle diesen Räsoneuren nicht an Widersachern. So behaupte man, daß es bessere, gemächlichere und wohlfeilere Uhrschlüssel gäbe als den Krieg. Er wolle sich, fuhr "Eutychius" fort, zwischen diesen Parteien nicht entscheiden, sondern nur auf Beispiele aus der Geschichte des Menschengeschlechtes verweisen. "Ich werde freilich nach meiner Überzeugung gestehen müssen, daß der Krieg dort [in der Geschichte] viel Gutes hervorgebracht hat". Wer wolle oder könne, setzte er hinzu, möge diese Räsonnements auf die Gegenwart anwenden I.

* Eine kürzere Fassung dieses Beitrags erscheint in der Tagungsdokumentation: Gründe und Begründungen für den Krieg, hrsg. von Horst Brunner (Imagines Medii Aevi), Wiesbaden 1999. I Eutychius, Über den Ursprung und die Einwürkung des Krieges auf die Kultur des menschlichen Geschlechts, in: Annalen der leidenden Menschheit 2 (1796), 293 - 309, hier 293 f. In Wolfgang Martens umfassender und bis heute maßgeblich gebliebener Untersuchung zu den moralischen Wochenschriften der Aufklärungszeit werden die zitierten ,,Annalen" weder genannt noch vorgestellt; vgl. W. Martens, Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968. Vgl. ferner - ebenfalls ohne ausdrückliche Erwähnung der ,,Annalen" - Kari Hokkanen, Krieg und Frieden in der politischen Tagesliteratur Deutschlands zwischen Baseler und Luneviller Frieden (1795 -1801), Jyväskylä 1975, 25 ff., und Frank Nägler; Von der Idee des Friedens zur Apologie des Krieges. Eine Untersuchung geistiger Strömungen im Umkreis des Rotteck-Welckersehen Staatslexikons, Baden-Baden 1990, 47 ff. Der Herausgeber der "Annalen" war August (von) Hennings (1746-1826) - ein frühliberaler Publizist, der in seinen Traktaten und 5 Kunisch/Münkler

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Das Problem, zu dem ich mich hier äußern möchte, ist aufs engste verknüpft mit jenem umfassenden Komplex, den Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrem gemeinsam verfaßten Essay als "Dialektik der Aufklärung" bezeichnet haben 2 . Denn es geht hier um eine Publizistik, die - inspiriert durch das emphatische Aufbegehren des Sturm und Drang - gegen die Aufklärung im allgemeinen und ihr auf Vernunft und Humanität gegründetes Friedenspostulat im konkreten zu Felde zog und den Krieg als jenes Instrument zu erkennen vermeinte, das Staat und Gesellschaft ein neues Gesicht zu geben vermochte. Es gehörte seit Fenelon und dem Abbe de Saint-Pierre zu den großen Visionen der Aufklärung, daß man Wege glaubte aufweisen zu können, wie der Ewige Frieden unter den Mächten des europäischen Kontinents gestiftet und erhalten werden könne 3 • Auch nach neuen blutigen Kriegen hatte man die Hoffnung nicht aufgegeben, den Krieg als Mittel der großen Politik der Kabinette ächten zu können und Verfahren zu entwickeln, wie Staatenkonflikte auf dem Verhandlungswege und durch die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen beigelegt werden konnten4 • Die Ära des vom Optimismus der Aufklärung getragenen Pazifismus wurde trotz Kants erst 1795 veröffentlichten Friedenstraktats abrupt beendet durch die Französische Revolution und die in ihrem Gefolge den ganzen Kontinent erfassenden Krieges. Noch im Mai 1789 konnte Schiller in seiner Jenaer Antrittsvorlesung: Artikeln gelegentlich radikale Positionen vertrat; vgl. im einzelnen Ulrich Herrmann, Hennings, in: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon, hrsg. von Olaf Klose und Eva Rudolph, Bd. 4, Neumünster 1976, 88 - 92. 2 Max Horkheimer und Theodor W. Adomo, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, mit einem Nachwort von Jürgen Habermas, Frankfurt a.M. 1986. Ferner Jochen Schmidt (Hrsg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, Darmstadt 1989; vgl. hier neben einigen Paralleluntersuchungen vor allem die Einleitung von Jochen Schmidt, 1- 31. 3 Im einzelnen Kurt von Raumer; Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, Freiburg/München 1953; Ewiger Friede? Dokumente einer deutschen Diskussion um 1800, hrsg. von Anita und Walter Dietze, München 1989; Claudius R. Fischbach, Krieg und Frieden in der französischen Aufklärung, Münster I New York 1990; Marcel Pekarek, Absolutismus als Kriegsursache. Die französische Aufklärung zu Krieg und Frieden, Stuttgart u. a. 1997. Zu Voltaire im besonderen Henry Meyer; Voltaire on War and Peace (Studies on Voltaire and the 18th Century, CXLIV), Branbury 1976; ferner Otto Dann, Die Friedensdiskussion der deutschen Gebildeten im Jahrzehnt der Französischen Revolution, in: Historische Beiträge zur Friedensforschung (Studien zur Friedensforschung, 4), Stuttgartl München 1970,95 - 133. 4 Jörg Fisch, Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine universalhistorische Studie über Grundlagen und Formelemente des Friedensschlusses (Sprache und Geschichte, 3), Stuttgart 1979; Heinz Duchhardt, Friedenswahrung im 18. Jahrhundert, in: HZ 240 (1985), 265 - 282 (mit Literaturhinweisen). Vgl. ferner Johannes Kunisch, Friedensidee und Kriegshandwerk im Zeitalter der Aufklärung, in: ders., Fürst - Gesellschaft - Krieg. Studien zur bellizistischen Disposition des absoluten Fürstenstaates, Köln I Weimar I Wien 1992, 131 - 159. Zum Grundsätzlichen auch Johannes Burkhardt, Die Friedlosigkeit der Frühen Neuzeit. Grundlegung einer Theorie der Bellizität Europas, in: ZHF 24 (1997), 509 - 574. 5 Otto Dann, Vernunftfrieden und nationaler Krieg. Der Umbruch im Friedensverhalten des deutschen Bürgertums zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Kirche zwischen Krieg und

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"Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte" die hoffnungsfrohe Erwartung äußern: "Den Frieden hütet jetzt ein ewig geharnischter Krieg". Aber bereits vor 1789 waren Stimmen zu vernehmen, die im Sinne einer "Dialektik der Aufklärung" die Idee des Ewigen Friedens als chimärisch, ja als "Abgötterei" unseres philosophischen Jahrhunderts verwarfen und statt dessen dem moralisch so viel ehrenwerter erscheinenden Krieg das Wort redeten. Zu ihnen gehörten neben dem Zweibrückener Gymnasialprofessor Johann Valentin Embser, auf den Wilhelm Janssen bereits in seinem Artikel "Krieg" in den "Geschichtlichen Grundbegriffen" hingewiesen hat6 , vor allem Wilhelm Friedrich von Meyern. Wer war Meyern? Er dürfte einem größeren, literarisch interessierten Publikum erst durch die bissige Polemik bekannt geworden sein, die Amo Schmidt über das anonym erschienene und als Übersetzung aus dem Sanskrit getarnte Hauptwerk des Schriftstellers, den Roman Dya-Na-Sore, 1958 in seinen "Gesprächen in einer Bibliothek" veröffentlicht hat7 • Selbst Jean Paul, der von Meyerns Buch so außerordentlich inspiriert war, kannte den Autor nichtS. Dennoch hat Meyern mit seinem Roman, wie nicht zuletzt auch Jean Pauls Geständnisse belegen, durchaus eine Leserschaft gefunden, die sich von seiner Gesellschaftsutopie anregen ließ. Anonym oder in einem fiktionalen Gewande zu veröffentlichen, gehörte zu den literarischen Gepflogenheiten des ancien regime9 . Gerade bei Schriften gesellschaftskritischen Inhalts empfahl es sich, die obrigkeitliche Zensur dadurch zu umgehen, daß man sich als Autor der Anonymität oder einem fiktionalen Rahmen Frieden. Studien zur Geschichte des deutschen Protestantismus, hrsg. von Wolfgang Huber und Johannes Schwerdtfeger, Stuttgart 1976, 169 - 224; ders., Der deutsche Bürger wird Soldat. Zur Entstehung des Kriegsengagements in Deutschland, in: Lehren aus der Geschichte? Historische Friedensforschung. Redaktion Reiner Steinweg (Friedensanalysen, 23), Frankfurt a.M. 1990, 61- 84. Vgl. ferner Johannes Kunisch, Von der gezähmten zur entfesselten Bellona. Die Umwertung des Krieges im Zeitalter der Revolutions- und Freiheitskriege, in: ders., Fürst - Gesellschaft - Krieg (Anm. 4), 203 - 226 (mit weiteren Literaturhinweisen). 6 Wilhelm Janssen, "Krieg", in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Dtto Brunner /Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 3, Stuttgart 1982, 567 - 615, hier 593 f., und ders., Johann Valentin Embser und der vorrevolutionäre Bellizismus in Deutschland, in diesem Band 43 - 55. 7 Amo Schmidt, Dya Na Sore, Blondeste der Bestien, in: ders., Dya Na Sore. Gespräche in einer Bibliothek, Karlsruhe 1958, 14 - 53. 8 Günter de Bruyn, Taten und Tugenden. Meyern und sein deutsches Revolutionsmodell, in: Wilhelm Friedrich Meyern, Dya-Na-Sore oder die Wanderer. Eine Geschichte aus dem Sam-skritt übersetzt, ND der ersten Auf!. (3 Bde., Wien/Leipzig 1787 -1791), mit einem Nachwort von Günter de Bruyn, Frankfurt a.M. 1979, 935 - 995, hier 970 ff. 9 Im einzelnen Hans Rudolf Picard, Die Illusion der Wirklichkeit im Briefroman des achtzehnten Jahrhunderts, Heidelberg 1971; Wemer M. Bauer; Fiktion und Polemik. Studien zum Roman der österreichischen Aufklärung, Wien 1978, und vor allem Dietrich Naumann, Politik und Moral. Studien zur Utopie der deutschen Aufklärung, Heidelberg 1977, hier 189231. Naumanns Analysen fußen allerdings auf der nachrevolutionären Ausgabe des Dya-NaSore-Romans, sind also für die hier zu erörternden Probleme nur begrenzt von Relevanz. 5*

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anvertraute. Doch spätestens seit Montesquieus 1721 erschienenen "Lettres persanes" war es auch eine ausgesprochene literarische Mode, als Schriftsteller seine Identität zu verleugnen. Meyern ist dennoch ein Sonderfall. Denn er hat es offenbar bewußt darauf angelegt, als Persönlichkeit und als Autor im Verborgenen zu bleiben. Jedenfalls ist trotz intensiver Recherchen nur Bruchstückhaftes über seine Biographie und seine Lebensumstände bekannt geworden lO • Er dürfte 1759 in Ansbach geboren worden sein. Sein Familienname war, wie Günter de Bruyn im Nachwort zu einem 1979 erschienenen Wiederabdruck des Romans kurz und bündig feststellt, weder von Meyern noch Mayern oder Meyern, sondern schlicht Meyer, sein Vater war darüber hinaus kein Gutsbesitzer, wie vielfach behauptet wird, sondern ein Zollbeamter, der als Regierungsrat in Bayreuth gestorben istlI. Aber sind die Namensänderung und die offenkundig angemaßte Standeserhöhung nun gleich als Hochstapelei zu bezeichnen? Mir scheint, daß Manipulationen dieser Art bei Leuten des schreibenden Gewerbes in der Spätzeit der Aufklärung üblich waren und auch keineswegs zu unterbinden versucht worden sind. Der Kameralwissenschaftier Johann Heinrich Gottlob von Justi oder der Publizist und Geschichtsschreiber Johann Wilhelm von Archenholz sind jedenfalls weitere Beispiele für dergleichen Eigenmächtigkeiten. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, daß wir es hier mit einem Autor zu tun haben, der trotz der planmäßigen Verschleierung seiner Biographie die Züge einer gescheiterten Existenz trägt und das "Abhängige und Gedrückte seines Lebens" literarisch zu verarbeiten suchte l2 . Wichtig ist für unseren Zusammenhang sodann, daß Meyern nach einer Ausbildung im Hause seiner Eltern an der Universität Altdorf die Rechte, Geschichte, Mathematik und Sprachen studierte und lesend mit Autoren wie Montesquieu, Rousseau und Mirabeau in Berührung kam. Allem Anschein nach gehörte er hier auch dem "Bund der schwarzen Brüder" an, einer studentischen Geheimorganisation, die freiheitlichen Zielen verpflichtet war und offenbar den Erfahrungshintergrund für die Rahmenhandlung des Dya-Na-Sore-Romans lieferte 13 • Er fand Jungen, läßt er seinen Romanhelden mit offenbar autobiographischem Hintergrund berichten, "die die Stärke, die Neuheit und das Dichterische meiner Ideale hinriß. Wir schlossen unseren Bund. Am Abhang des Felsens im einsamen Walde war unsere Hütte [ ... ]. Heldengesänge und Szenen der Begeisterung wechselten mit stiller Beratung [ ... ]. Entfernt in stiller See ein ödes Land zu bauen und frei und edel einen Staat zu gründen, der jedem Menschen Raum für seine Kräfte gebe, war unser Plan,,14. 10 Vgl. im einzelnen Constant von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich, Bd. 17, Wien 1867, 179 - 185; Reinhold Larenz, Volks bewaffnung und Staatsidee in Österreich (1792 - 1797), Wien I Leipzig 1926, 33 f., und G. de Bruyn, Taten und Tugenden (Anm. 8), 935 - 949. lJ G. de Bruyn, Taten und Tugenden (Anm. 8),937. 12 D. Naumann, Politik und Moral (Anm. 9), 229 f. 13 G. de Bruyn, Taten und Tugenden (Anm. 8), 939 ff. 14 W. Fr. Meyem, Dya-Na-Sore (Anm. 8), 270.

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Wenn man sich der Romanhandlung anvertraut, wurde dieser Bund verraten, in einen Hinterhalt gelockt und aufgelöst. Der Held des Romans trat dann wie auch Meyern "in Dienste", um kriegerischer Ehre willen, wie es heißt. Von Meyern ist dann im konkreten überliefert, daß er am 23. Dezember 1783 im Alter von 24 Jahren als freiwilliger Unterkanonier in das zweite Feldartillerie-Regiment der österreichischen Armee eintrat. Im folgenden Jahr avancierte er zum Kanonier und stieg 1786 schließlich als Feuerwerker in den Rang eines Unteroffiziers auf. Noch im selben Jahr (31. Juli 1786) nahm er jedoch seinen Abschied. Denkbar ist, daß Meyern die Gründe für sein Scheitern als Soldat wiederum in seinem Roman offengelegt hat. So läßt er seinen Protagonisten ausführen, daß ihn Geschäfte unter Zwang starr gemacht und ihm die "Fliegsamkeit seines Geistes" geraubt hätten. Auf die Vorwürfe seines Befehlshabers, der ihn "wie einen verdienstlosen Schurken" behandelte, habe er "mit dem Stolz eines beleidigten Mannes" geantwortet. Und dann in direkter Rede und mit dem deklamatorischen Gestus eines Bekenntnisses: "Ich bin erzogen mit Aussichten auf Ehre und Achtung. Mein Stand berechtigt mich zu Vorzügen, und ich habe zu lange gelebt, um Demütigungen wie ein Kind zu ertragen, die nur ein sklavischer Bettler um seinen Unterhalt erduldet. Ich gebe meine Stelle zurück, um [mir] in der Einsamkeit die Vorwürfe zu ersparen, die mein Herz mir bei der Geduld gegen einsichtslose Verschmähung machen würde". Die Wahrheit seiner Rede, fährt Meyern fort, habe die Vorgesetzten beleidigt. So habe er mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Doch trotzte er seinem Schicksal "mit der Gelassenheit eines Mannes, dem das Leben kein Gut ist". ,,Langer Haß gegen die Tyrannei eines verabscheuten Oberherrn" habe ihn schließlich gerettet 15 . Meyern scheint danach nach Prag übergesiedelt zu sein, wo er über mehrere Jahre als Mitglied einer Freimaurerloge nachweisbar ist. Wahrscheinlich 1791 unternahm er Reisen nach England und Schottland, die er später auch literarisch ausgewertet hat. Nach der Jahrhundertwende folgten dann längere Aufenthalte in Italien, der Türkei und Ungarn, bevor er nach 1815 auf mehreren diplomatischen Missionen in Frankreich, Spanien und als Mitglied der österreichischen Militärkommission bei der Bundesversammlung in Frankfurt am Main unterwegs war. Aber wichtig ist, daß Meyern nach ersten Versuchen, sich an der Volksbewaffnung gegen die immer bedrohlicher vordringenden Revolutionsheere zu beteiligen, im Jahre 1809 als Unterleutnant und dann als Hauptmann erneut in kaiserliche Dienste trat und auf dem Höhepunkt der militärischen Auseinandersetzungen mit Napoleon bestrebt war, die Ideen und Reformvorstellungen, die er bereits vor der Französischen Revolution zu Papier gebracht und veröffentlicht hatte, in die Tat urnzu15 Ebd., 276 f. Diese persönlichen Erfahrungen könnten auch den Hintergrund seiner ungemein plastischen Schilderungen des Soldatenstandes gebildet haben, die er in den Neuen Perserbriefen des Abdul Erzerum gegeben hat; vgl. im einzelnen Johannes Kunisch, Das "Puppenwerk" der stehenden Heere. Ein Beitrag zur Neueinschätzung von Soldatenstand und Krieg in der Spätaufklärung, in: ders., Fürst - Gesellschaft - Krieg (Anm. 4), 161- 201, hier 177-189.

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setzen 16. Eine gewisse Veränderung in seiner Grundeinstellung kommt jedoch darin zum Ausdruck, daß er in seinen frühen Werken eindeutig Partei ergriff gegen das herrschende System des absolutistischen Fürstenstaates, während er sich unter dem Eindruck der Revolutions- und Befreiungskriege mit Vorschlägen für die Aufstellung eines Landsturms in den Dienst der Monarchie in ihrer überlieferten Form gestellt hat. Zwar schwebte ihm unverändert vor, daß Soldatenstand und Heeresverfassung nicht zuletzt auch durch eine Neubewertung des Krieges verändert werden müßten. Aber der Zweck, zu dem dies geschehen müsse, wechselte von einer grundsätzlichen Systemkritik zu den schließlich auch praktischen Versuchen, die bestehenden Verhältnisse in Österreich gegen die Angriffe des revolutionären Frankreichs zu verteidigen. In vielem hat diese Entwicklung Ähnlichkeiten mit dem Lebensweg Heinrich von Kleists 17 • Meine Absicht ist es jedoch nicht, Meyems Abkehr von einer staats- und systemkritischen Betrachtung zu einem patriotischen Engagement nachzugehen. Vielmehr soll hier zur Sprache kommen, wie sich bei Autoren wie Meyem bereits in vorrevolutionärer Zeit offenbar aus persönlicher Erfahrung das Bewußtsein herausbildete, daß ein grundsätzlicher Wandel in Staat und Gesellschaft eintreten müsse. Wichtig ist deshalb für unsere Untersuchung neben der fiktiven, 1787 erschienenen Briefsammlung des Abdul Erzerum, deren umstürzende Thesen zu Krieg und Frieden und zum Soldatenstand schon an anderer Stelle zu würdigen waren l8 , die Erstausgabe des Dya-Na-Sore-Romans, die in drei Bänden in den Jahren 1787, 1789 und 1791 in Wien erschien l9 • Die zweite, auf insgesamt fünf 16 R. Lorenz, Volksbewaffnung und Staatsidee in Österreich (Anm. 10), 33 - 38, 72 - 76 und 166-169. Vgl. ferner Kurt Peball, Zum Kriegsbild der österreichischen Armee und seiner geschichtlichen Bedeutung in den Kriegen gegen die Französische Revolution und Napoleon 1. in den Jahren von 1792 bis 1815, in: Napoleon 1. und das Militärwesen seiner Zeit, hrsg. von Wolfgang v. Groote und Klaus-Jürgen Müller, Freiburg i.Br. 1968, 129 - 175. 17 J. Kunisch, Von der gezähmten zur entfesselten Bellona (Anm. 5), 203 - 226. 18 J. Kunisch, Das "Puppenwerk" der stehenden Heere (Anm. 15), 167 ff. Die in diesem Aufsatz auf inhaltliche Kriterien und die philologische Einschätzung von Wolfgang Griep gestützte Annahme, daß die Autoren des Romans Dya-Na-Sore und der Briefsammlung des Abdul Erzerum identisch sind, muß einstweilen als nicht endgültig geklärt gelten. Denn Günter de Bruyn hat in unveröffentlichten Korrespondenzen Zweifel angemeldet, ob aus stilistischen und syntaktischen Gründen eine solche Hypothese aufrechterhalten werden kann. Da jedoch das gleiche geistige Umfeld, die beinahe wörtlich übereinstimmende Gesinnung und nicht zuletzt auch derselbe Verleger der beiden Werke die Vermutung nahelegen, daß Meyern der Autor bei der Werke ist, mag es in dem hier zu erörternden Zusammenhang gerechtfertigt erscheinen, von der Identität der beiden Utopisten auszugehen. 19 Zur literarhistorischen Einordnung des Romans vgl. Jose! Pauscher, Dya-Na-Sore: Ein Staatsroman von Friedrich Wilhelm von Meyern (34. Jahresbericht der K.K. Staats-Realschule Jägerndorf), Jägerndorf 1911; Edith Narath, Friedrich Wilhelm von Meyerns dichterisches Lebenswerk. Unter besonderer Berücksichtigung des Romans "Dya-Na-Sore", Phil. Diss. Wien 1934; Peter Horwarth, The Altar of the Fatherland. Wilhelm Friedrich von Meyern's Utopian Novel "Dya-Na-Sore", in: The Austrian Enlightenment and its Aftermath, ed. by Ritchie Robertson and Edward Timms (Austrian Studies, 2), Edinburgh 1991,43-58, und besonders D. Naumann, Politik und Moral (Anm. 9), 189 - 231.

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Bände erweiterte Auflage kann hier außer Betracht bleiben, weil sie unter dem Eindruck der Revolutionsereignisse in Frankreich umgearbeitet wurde und der Absicht des Verfassers Rechnung trug, nicht mehr unverblümt einem Umsturz das Wort zu reden, sondern sich praktisch und konkret für die Sache des bedrängten Vaterlandes einzusetzen. Der Roman spielt in einem Tibet oder Indien genannten Irgendwo meistens in freier Natur und hat wegen des fiktionalen, im übrigen völlig schemenhaften Hintergrundes offenbar auch die Zensur unbeanstandet passieren können. Wahrend der erste Band noch stark von den Abenteuer- und Gespensterromanen der Aufklärungsliteratur inspiriert erscheint und für keinen der zeitgenössischen Rezensenten (zu denen übrigens auch Schiller zählte 20) ein politisches oder gar revolutionäres Anliegen zu erkennen gab, gewinnen die beiden folgenden Bände nicht nur an politischer Brisanz, sondern auch an darstellerischer Überzeugungskraft und Dichte. Überhaupt drängt sich der Eindruck auf, daß erst mit dem zweiten Band des Romans die verfassungs- und gesellschaftspolitischen Visionen, denen Meyern Geltung zu verschaffen hoffte, das Romangeschehen durchgehend strukturieren. Die Neubearbeitung des Romans, die im Jahre 1800 erschien, hat diese Unstimmigkeiten dann auszugleichen versucht. Im übrigen hat besonders de Bruyn darauf hingewiesen, daß Meyern die fiktive Romanhandlung gegen Ende des zweiten Bandes immer enger mit den revolutionären Ereignissen in Frankreich verwoben hat, so daß der utopische Ansatz, mit dem er den absolutistischen Fürstenstaat in die Schranken zu fordern geplant hatte, nun an das reale Geschehen, die Fiktion an die Wirklichkeit, angenähert werden konnte21 . Dennoch sollte gerade auch in dem hier zu erörternden Zusammenhang nicht aus dem Auge verloren werden, daß der Kern der Meyernschen Utopie, die Wiedereinsetzung des Bürgers und damit auch des Soldaten in seine Würde und Selbstachtung, vorrevolutionären Ursprungs ist und eine Mischung aus aufgeklärter Staats- und Herrschaftskritik und dem emphatischen Gefühlsüberschwang des Sturm und Drang darstellt. Mir scheint, daß dieser Staatsroman und die Reformkonzepte, die darin propagiert werden, vor allem wegen ihres antizipatorischen, visionären Charakters Beachtung verdienen. Eine zentrale Erfahrung Meyerns war, wenn von autobiographischen Voraussetzungen seines Romans ausgegangen werden kann, offenbar das Gefühl des Überall-Reglementiert-Werdens. Er habe, läßt er seinen Helden sagen, Beschäftigung gesucht, aber nur Regeln gefunden. Nichts habe dem Bild entsprochen, das er sich seit Jahren in seinem Inneren gemacht habe. Zu lebhaft seien seine Vorstellungen gewesen, um dem Reiz seiner Selbstgeschöpfe zu entsagen. So sei er untätig in der wirklichen Welt gewesen und habe in seiner erträumten gehandelt22 . Aus dieser Grunderfahrung folgte dann eine bemerkenswert hellsich20 Seine Rezension ist abgedruckt im Anhang zu G. de Bruyn, Taten und Tugenden (Anm. 8), 976f. 21 Ebd., 955 f. 22 W. Fr. Meyem, Dya-Na-Sore (Anm. 8), 269f.

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tige Kritik an den bestehenden Verhältnissen absolutistischer Fürstenherrschaft, die er in den hohenzollerischen Markgrafentümern Ansbach und Bayreuth erlebt hat. Mehr als leben zu wollen, legt er wiederum einem der Protagonisten seines Romans in den Mund, und Freiheit und Größe zu suchen, seien Ideale, die nur in besseren Seelen erwachen könnten23 . Doch in der Gewöhnung an den ruhigen häuslichen Sinn, in der Strenge der Gesetze, in der Todesstille des Despotismus und dem Verstummen des Volkes sei die Unruhe der Freiheit und der brausende Geist ihrer Freunde erloschen. Jeder glaubt gewonnen zu haben, "er glaubt geltender als Soldat, wirksamer als Obrigkeit, angebeteter als Priester zu sein, weil er weniger Gegengewicht in andern und nur den Druck des Thrones, an dem er seine Vorzüge befestigt sieht, empfindet. Sein Herz hat sich verdorben. Es hängt an der elenden Eitelkeit, nicht [nur] durch seinen Mitbürger, sondern auch durch den angebeteten Erben einer Krone beherrscht zu werden". Er habe es leichter gefunden, "durch Schmeicheln und Dienen als durch Aufopferung für Tausende" aufzusteigen. Kein Gefühl habe ihn mehr an verlorene Größe erinnert. "Sein Wachstum an schlauer Behutsamkeit scheint ihm Wachstum an Kräften. Er hebt Höflichkeit über edles Denken und kalten Wohlstand über Wahrheit". Nie habe es dem Menschen an S0phismen zum Lobe des Übels und an Verrätern gefehlt, die eine schlimme Sache durch Verachtung des Guten empfahlen "und die Sicherheit des Thrones auf jene Menge käuflicher Seelen gründeten, die in seinem Staube ihre Nahrung suchen und kleine Vorzüge durch seinen Einfluß vergrößern wollen. So wurden Ämter reich an Gewinn, so ward Gerechtigkeit ein nahrhaft Gewerbe, so verstummte die Stimme des Tadels. Behauptung der Rechte ward Aufruhr, Nähe des Thrones ward Adel, Liebe des einzigen Liebe des Landes, und seine Torheiten Bedürfnisse des Staates. Tausende nähren sich von seinem Raube. Die Sklaverei befestigte sich durch Eigennutz und der Stolz, ihre Ketten zu tragen, ward der letzte Schritt zum ewigen Grabe der Freiheit,,24. Das ist eine Charakterisierung des Absolutismus und der um den Thron versammelten Gesellschaft, die in ihrer polemischen Verkürzung und rhetorischen Prägnanz für einen vor 1789 konzipierten Text immerhin erstaunlich ist25 . Zusammengenommen mit dem hochgestimmten Selbstgefühl und dem daraus resultierenden Widerspruchsgeist - Eigenschaften, die bereits bei der oben angeführten Schilderung der Demissionierung des Romanhelden zur Sprache kamen - ist schnell er23 Vgl. hier im folgenden Jürgen Schlumbohm, Freiheit - Die Anfänge der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Deutschland im Spiegel ihres Leitwortes (ca. 1760 - ca. 1800), Düsseldorf 1975. 24 W. Fr. Meyem, Dya-Na-Sore (Anm. 8), 312f.; vgl. auch 568ff., 542-548 und 734. Hier überall finden sich Sentenzen, die immer wieder auf die entsprechenden Gedanken in den Neuen Perserbriefen des Abdul Erzerum verweisen; vgl. im einzelnen J. Kunisch, Das "Puppenwerk" der stehenden Heere (Anm. 15), 177 ff. 25 Zum Vergleich: Klaus Gerteis, Bürgerliche Absolutismuskritik im Südwesten des Alten Reiches vor der Französischen Revolution, Trier 1983. Vgl. ferner Helmuth Kiesel, "Bei Hof, bei Höll". Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller, Tübingen 1979.

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kennbar, mit welchen Postulaten Meyern eine grundlegende Reform in Staat und Gesellschaft zu erreichen hoffte26 . Dabei ist bemerkenswert, daß er in unverkennbarer Anlehnung an die Konzeption der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung bei Montesquieu und anderen Staatslehrem seiner Zeit ein rechtsstaatliches und ein ungeachtet seiner elitären und menschenverachtenden Attitüden demokratisches Staatsmodell vor Augen hatte. Ein König, führte er aus, sei durchaus entbehrlich, wenn die noch unreife Masse nicht "ein sichtbares Anzeichen für die Maiestät der Geseze" benötigte 27 . "Er sey ein konstituirender Theil der Nazion, aber kein selbständiges Wesen. Er sey ein Werk ihrer Wahl. Sie ein Werk der Natur,,28. Die Staatsgewalt gehe vom Volke aus: "Der König gibt keine Geseze. Das Volk bewilligt sie"; der König dagegen vollstrecke sie nur. Denn "die gesezgebende Gewalt ist Eigentum der Nacion,,29. "Die Macht eines Königes [ ... ] hört auf, wo seine Rechte aufhören,,30. Wenn der König seinen Pflichten zuwiderhandele, könne das souveräne Volk seinen Auftrag an ihn zurücknehmen, ihn absetzen und vor Gericht stellen3!. Reiße aber ein Diktator die Macht an sich, sei sogar Tyrannenmord erlaubt. "Soll dieser eine leben", fragte Meyern, "weil Mord verboten ist, und tausende sterben, weil das Gesez, das ihn schüzt, für sie keine Kräfte hat?,,32 Dieses auf Wahlen aufbauende Konzept demokratischer Partizipation wird bei Meyern dann auf den Soldatenstand übertragen. Es ist ohne Zweifel der Soldat, der aus dem gesellschaftlichen Credo der Französischen Revolution hervorgeht und dann auch die Bemühungen anderer Länder um eine Reform der Heeresverfassung prägen wird. Hier wird vorweggenommen, was die später so wirkungsmächtig gewordenen Entwürfe Lazare Nicolas Carnots gefordert haben 33 . Es ist der Soldat, 26 Ich folge bei dieser Skizze der Meyernschen Staatsutopie im wesentlichen der "aus dem Wust der hochgestochenen, weitschweifigen Dialoge und Reden" herausdestillierten Zusammenfassung bei G. de Bruyn, Taten und Tugenden (Anm. 8), 956ff. Vgl. ferner D. Naumann, Politik und Moral (Anm. 9), 195 f. und 223, 27 W Fr. Meyem, Dya-Na-Sore (Anm. 8), 610. 28 Ebd., 615. 29 Ebd., 580. 30 Ebd., 614. 31 Ebd.,647f. 32 Ebd., 628. Vorstellungen dieser Art waren im 18. Jahrhundert selbstverständlich keineswegs originell, sondern Bestandteil eines Diskurses, der bis weit ins 16. Jahrhundert (Monarchomachen) zulÜckreicht. Immerhin dokumentieren sie eine gewisse Vertrautheit mit Grundanschauungen der frühneuzeitlichen Staatslehre. Vgl. zu Einzelheiten Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre, Wien / Köln / Graz 1979. 33 Vgl. im einzelnen Wemer Gembruch, Zum Verhältnis von Staat und Heer im Zeitalter der Großen Französischen Revolution, in: ders., Staat und Heer. Ausgewählte historische Studien zum ancien regime, zur Französischen Revolution und zu den Befreiungskriegen, hrsg. von Johannes Kunisch (Historische Forschungen, 40), Berlin 1990, 257 - 274, und ders., Zur Diskussion um Heeresverfassung und Kriegführung in der Zeit vor der Französischen Revolution, ebd., 239 - 256. Vgl. ferner: Napoleon I. und das Militärwesen seiner Zeit (Anm. 16), und Gunther E. Rothenberg, The Art of Warfare in the Age of Napoleon,

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der aus eigenem Impuls, eigener Würde und dem Enthusiasmus seiner Vaterlandsliebe heraus handelt. Dieses Geschöpf der Revolution wird in Meyerns Roman antizipiert. Betrachtet den Menschen, schreibt er. "Können wir ihn brauchen, wie er ist?" ,,Müssen wir ihm nicht zeigen, was er sein könnte und was er ist?" Das Gefühl der Unterdrückung, der Stolz des erwachenden Selbstbewußtseins "müsse in ihm erregt" und "der Hohn des Tyrannen, die Schmach eines leidenden Gehorsams sichtbar werden". Er müsse empfinden, "was Menschen sind und Menschen werden unter der Hand eines eisernen Jochs [ ... ]. Frei und gut, groß und tätig, wer kann es sein? - Der, der sich selbst zu gebieten versteht, der in der Strenge, mit der er sich selbst richtet, Unabhängigkeit von fremder Nachsicht und Kühnheit gegen jedes Urteil findet,,34. Deshalb schätzte er auch "die Wissenschaft des Soldaten" als den Teil der Erziehung ein, ,,in dessen Bestimmung alle übrigen zusammen treffen müssen. Das Bild des Krieges", das sich in den Übungen der zukünftigen Helden zeige, erscheine nicht bloß als Schule des Körpers, sondern ebenso der Gesinnung. Denn es seien "denkende Jünglinge", die sich "mit aller Theilnehmung des Geistes" auf den Kampf vorbereiteten. "Kriegskunst geht hier Hand in Hand mit der Liebe des Vaterlandes". Man übe sich jetzt "mit der aufgeklärten Sinneskraft eines beurtheilenden Menschen", der sich selbst sagen könne, warum etwas geschieht, und der sich selbst Sinn und Wirkung der Bewegungen erkläre. "Im Einklang des Tritts die Stärke eines vereinigten Haufens, im Aufmarsch den Entschluss der Schlacht, und in iedem Grif die Größe einer nach einem Ziel zusammenwirkenden Masse zu fülen, das erhebt den Mechanismus der Uibung zu einem begeisternden Gemälde und legt den Keim des Heldenmuths in ein Schauspiel, das, ohne dieses, Bürde für den gezwungenen Söldner seyn mus,,35. Aber dann noch konkreter und drastischer: Vertraut mit einer neuen Wertschätzung des Bürgers würde der Soldat "nicht mehr ein unwissend dreister Sklave in den Händen des Hofes" sein. "Die Bande der Verwandtschaft würden ihn halten, die Achtung der Gesetze würde ihn lenken, die aufkeimende Liebe seines Vaterlandes würde ihn lehren, daß die Ehre des Soldaten vor der Ehre des Menschen verschwinde. Er würde fühlen, daß die lächerlichen Anspruche seines Standes nur der Schein sind, mit dem Monarchen das Schimpfliche seiner Bestimmung bedecken, sich wie ein schleichendes Gift zur inneren Bedrückung derer brauchen zu lassen, die ihn für ihre Vertheidigung gegen äußere Feinde bezahlen,,36. London 1977, 31 ff. Zur ideologischen Funktionalisierung des Krieges durch die Französische Revolution auch Hans Ulrich Thamer; "Freiheit oder Tod". Zur Heroisierung und Ästhetisierung von Krieg und Gewalt in der Ikonographie der Französischen Revolution, in diesem Band 75 - 91. 34 W. Fr. Meyem, Dya-Na-Sore (Anm. 8), 382 f. 35 Ebd., 605 f. 36 Ebd., 576. Vgl. auch J. Kunisch, Das "Puppenwerk" der stehenden Heere (Anm. 15), 184f.

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Aber auch für den Bürger sei der Umgang mit dem Soldaten nützlich. Denn er mache ihn mit den Schrecknissen des Krieges und den Prinzipien der Kriegskunst vertraut. Er halte die Ideen des Nationalheroismus und eines unerschütterlichen Mutes wach, um der Weichlichkeit, der Bequemlichkeit und der Üppigkeit durch seine einfacheren Bedürfnisse, durch seine Härte und seine Beschwerden zum beschämenden Gegenbild, dem Jüngling zur Nacheiferung, dem Manne zur Aufmunterung zu dienen, um den Geist der Furchtlosigkeit aufrechtzuerhalten und der weibischen Empfindsamkeit Grenzen zu setzen. Kurz: Um den Manne nie von der Natur des Mannes abweichen zu lassen, welche in der kühnen Freude bestehe, seine Vorzüge der Gefahr abzutrotzen, "sei nichts diensamer, als ein Geist, der durch seine Pflichten gewöhnt wird, das Schauspiel des Krieges nie aus den Augen zu verlieren. Darum müsse [ ... ] allen nichts angelegener sein, als zugleich mit der Verbesserung des Heeres auch die Bürger in eine geübte schlachtfertige Schar zu verwandeln, die nicht zum leeren Schauspiele, sondern mit dem Gefühle ihrer Wichtigkeit zu jener entscheidenden Phalange sich bildet, hinter deren Stärke die Freiheit in Sicherheit wohnt. Der entwaffnete Bürger sei der erste Schritt des Despotismus. Die Verachtung des Soldaten gegen den wehrlosen Bürger der zweite [ ... ]37.

"Der kriegerische Ruhm einer Nation [ ... ] verdient nur insofern Achtung, als Vaterlandsliebe sein Triebgrund ist. Der eigennützige Tod eines Mannes, der für den Beifall seines Königs fällt, ist ein Schicksal, das Tränen über die Verschwendung so edler Kräfte verdient, aber nicht Bewunderung. Liebe des Vaterlandes allein kann auf Unsterblichkeit rechnen [ ... ]. Die Nachwelt lacht des geschäftigen Toren, der um Geld mit seinem Blute wuchert und den verstandlosen Ruf eines Tyrannen für die Pflicht seiner Ehre hält. Aber Vaterlandesliebe, Vaterlandstod, kann nur da sein, wo das Gefühl angeborener Rechte uns mit der Überzeugung sterben läßt, daß von allen zurückgelassenen Bürgern an unserer Stelle jeder mit gleichem Mute für uns gestorben wäre. Die Aussicht auf solch einen Tod ist die Krone des Lebens. Durch sie wird jedes Gefühl höher, freier und inniger. Durch sie entwickelt sich jene verborgene Größe der Seele, die von allen Freuden des Daseins nur die Hoffnung des kommenden Nachruhms wählt. Durch sie entspringt jene hohe geläuterte Tugend, die über die 37 W. Fr. Meyem, Dya-Na-Sore (Anm. 8), 576 f.; vgl. auch 605 Cf. Im übrigen J. Kunisch, Das "Puppenwerk" der stehenden Heere (Anm. 15), 187 Cf. Auch in bezug auf die starke Betonung patriotisch-wehrhafter Mannhaftigkeit scheint mir Meyern ein Vorläufer für später dominierende Leitbilder zu sein. Vgl. im einzelnen Ute Frevert, Das Militär als "Schule der Männlichkeit". Erwartungen, Angebote, Erfahrungen im 19. Jahrhundert, in: dies. (Hrsg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997, 145-173; dies., Soldaten, Staatsbürger. Überlegungen zur historischen Konstruktion von Männlichkeit, in: Thomas Kühne (Hrsg.), Männergeschichte - Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt a.M. 1996,69-87; Karen Hagemann, "Heran, heran, zu Sieg und Tod!" Entwürfe patriotisch-wehrhafter Männlichkeit in der Zeit der Befreiungskriege, ebd., 51-68; dies., Nation, Krieg und Geschlechterordnung. Zum kulturellen und politischen· Diskurs in der Zeit der antinapoleonischen Erhebung Preußens 1806-1815, in: GG 22 (1996), 562 - 591.

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Gebrechen der Erde mit edler Einfalt emporstrebt und in der Glückseligkeit ihrer Mitbürger das Unterpfand zukünftiger Beruhigung sucht. Aber diese Aussicht kann auch nirgends stattfinden, wo der Bürger nicht mit seinen Rechten auch die Pflichten ihrer Verteidigung übernimmt,,38. "Der Mann", heißt es an anderer Stelle, "ist nur gros durch das Verhältnis seines Herzens zum Heil des Vaterlandes,,39. Meyerns Erziehungskonzept galt demzufolge nicht einem gewöhnlichen Menschen, der sich zwischen den Sitten der Welt mit leiser Nachgiebigkeit hindurchschleicht. Vielmehr wolle er, läßt er einen seiner Wortführer proklamieren, "scharfgezeichnete, eigengebildete Karaktere, die durch Wurf und Schwung, durch die fremdartige Wendung ihrer Schritte den alltäglichen Haufen sanft oder unsanft aus seinem Schlafe erwecken". Dabei müsse man bestrebt sein, sich die "natürliche Neigung der menschlichen Seele für das Romantische" zunutze zu machen. So könne der Enthusiasmus für große Gegenstände und edle Ziele angefacht und befördert werden40 • Es liegt auf der Hand, daß bei Vorstellungen dieser Art auch dem Krieg eine neue Bedeutung beigemessen werden mußte. Als Aufeinanderfolge der Meyernschen Postulate ist bisher bereits deutlich geworden: "Der Bürger, von dem alles abhängt, [ist] ausgeschlossen von dem Rechte, sich selbst zu richten, sich selbst seinen Beitrag zu den Bedürfnissen des Staates aufzu[er]legen. Eine verwerfliche Münze in den Händen derer, die sein Leben und sein Vermögen als das Eigentum ihrer Launen betrachten. Der Soldat kein Bürger. Der Bürger ein häuslicher Schwächling, der die Wunder des Krieges mit Entsetzen hört, und den gewaffneten Räuber [= den Herrscher], den er anstaunt [und] als ein Wesen betrachtet, gegen dessen Kraft er keine Rettung erwartet"41. Die Wunder des Krieges also! Sie gehören als Schlußstein in Meyerns Argumentationszusammenhang. Er betrachtete den Krieg in seinem Roman wie auch in den Neuen Perserbriefen des Abdul Erzerum als eine Art Katalysator, als ein Medium, das den Prozeß einer revolutionären Veränderung von Staat und Gesellschaft in Gang setzt und zum Abschluß bringt. Er wußte, schreibt er über seinen Protagonisten, daß keine Freiheit ohne Zerrüttung erobert werden könne. Er wußte, daß ein allgemeiner Sturm und die Schrecknisse eines Bürgerkriegs Menschenleben kosten würden. "Aber er wußte auch, daß nur in solchen allgemeinen Zerrüttungen der Geist des Menschen zu jener ersten Energie, zu jener kraftvollen Anstrengung einer tätigen Bildung sich erhebt, aus der ungewöhnliche Menschen hervortreten, deren Größe Jahrhunderte staunen macht. Er wußte, daß die Spreu von den Körnern gesondert werden mußte und daß ein solcher Krieg das beste Mittel sei, den unnützen Teil des Volkes zu mindern,,42. 38

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W. Fr. Meyem, Dya-Na-Sore (Anm. 8),577 f. Ebd., 536. Ebd.,597. Ebd.,547.

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Das Schlachtfeld, heißt es an anderer Stelle, ,,ist ein Land, das tausendfältige Früchte trägt. Kein guter Mann ging noch ins Treffen, der nicht besser herauskam". Er lerne sich zu überwinden, wenn er andere überwinde, und nähere sich durch die Entwicklung seines Mutes immer mehr jenem Ursprung aller Tugenden: der Ruhe, "mitten unter den Schrecknissen der Natur ein unerschütterliches Herz und das reine Gefühl menschlicher Würde zu behaupten. Gott", heißt es dann programmatisch, "setzte den Krieg ein", um der menschlichen Seele willen. "Sie sollte erschüttert werden und Stürme ihr Innerstes durchwühlen". Unter Schmerzen solle sie sich entwickeln. Ihr Adel solle nicht feiler Erwerb, sondern verdienter Preis, Ringen des Siegers und Bewährung in Anfechtung sein43 . Er wünsche den Krieg, den Widerstand. "Gefahr muß dem Volke seine Gesinnungen predigen [ ... ]; seine Einbildungskraft muß durch kommende Ereignisse, sein Herz durch die Teilnehmung steigender Charaktere sich erweitern und jedes kleine Interesse unter dem Zusammenstoß unentwickelter Kräfte sich abreiben,,44. - "So wie am Altar der Gedanke eines Vaters im Himmel jeden unter so viel Tausenden beseelt, so werden alle Blicke in einem auf das Bild des Vaterlandes gerichtet, unter Millionen den nämlichen Trieb, den Wunsch, für seine Größe zu leben und zu sterben, hervorbringen. Darum müssen wir nicht durch Güte, nicht durch Milde unsern Krieg führen, sondern hart. Unsere Schlachten müssen blutig sein45 • Die Verzweiflung muß den Widerstand schärfen. Eine leicht erworbene Freiheit ist keine dauerhafte Freiheit. Die alten Säfte müssen untergehen. Das verdorbene Blut muß fließen und die Vernichtung eines entarteten Geschlechts muß Raum für die streitgeborenen Heroen des spät entscheidenden Kampfes geben,,46. Es dürfte sich nach diesen Sentenzen erübrigen, hier noch weitere Belege anzuführen. Ähnlich wie in den Neuen Perserbriefen des Abdul Erzerum, die sich insgesamt jedoch durch eine weniger rabiate Rhetorik auszeichnen, erscheint hier der Krieg ebenfalls als eine moralische Anstalt. Er ist es, der der neuen, das ganze Volk beseelenden Vaterlandsliebe zu ihrer Wiedergeburt und Dignität verhilft. Deshalb dürfe er nicht halbherzig und rücksichtsvoll, sondern mit solcher Härte und blu42 Ebd., 590. Gerade in der Einschätzung des Krieges sind die Parallelen zu den Neuen Perserbriefen mit Händen zu greifen; vgl. im einzelnen J. Kunisch, Das "Puppenwerk" der stehenden Heere (Anm. 15), 189 ff. Vgl. auf der Grundlage der erweiterten und umgearbeiteten Fassung des Dya-Na-Sore-Romans auch D. Naumann, Politik und Moral (Anm. 9), 213 f. Gerade an Passagen wie den hier zitierten wird aber auch die gedankliche Nähe zur Vorstellungswelt Embsers deutlich. "Es ist also", führt Wilhelm Janssen aus, "der Kult der kraftvollen, schöpferischen Individualität, des Einzelmenschen wie der Staatsnation, dem der hier auftretende Bellizismus seine Entstehung verdankt; dieser Kult ist aber noch eingebunden in die Aufklärungsphilosophie und deren religiöse Implikationen"; vgl. im einzelnen W. Janssen, Johann Valentin Embser (Anm. 6), hier 49. 43 W. Fr. Meyem, Dya-Na-Sore (Anm. 8), 660f. 44 Ebd., 752 f. 45 Vgl. zum Gesamtzusammenhang solcher Vorstellungen Barbara Ehrenreich, ,,Blutrituale". Ursprung und Geschichte der Lust am Krieg, München 1997. 46 W. Fr. Meyem., Dya-Na-Sore (Anm. 8),752.

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tigen Konsequenz geführt werden, daß die Sitten gereinigt und das Verdorbene ausgeschieden werde. Der Krieg also als Purgatorium eines mut- und kraftlos gewordenen Volkes. Mit ihm werden offenkundig keine konkreten politischen Ziele durchzusetzen versucht. Aber er wird auch nicht - wie Günter de Bruyn vermutet47 m seiner selbst willen geführt. Vielmehr tritt er als bewegende Kraft einer moralischen Erneuerung in Erscheinung, als "Quelle edelster Handlungen,,47 und "Ursprung aller Tugenden,,48. Insofern wird er als das beschleunigende Element eines gesellschaftlichen Wandels aufgefaßt, dem Meyern mit seinem Roman zum Durchbruch zu verhelfen versucht. Er war der Auffassung, daß im Kontinuum eines unendlichen Geschichtsverlaufs die reine Tathandlung abstrakter Individuen schon zu einer Läuterung der Gesellschaft hinführen werde. Der Abstraktion von den politischen Implikationen der Handlung folgt diejenige von ihrer rationalen Zweckorientierung, wobei der eigene, "edle" Tod durchaus ins Kalkül gezogen wird49 . "Auch die zur Unzeit getane edle Tat bleibt edel. Die utopische Intention auf politische Veränderung ist in all diesen Variationen letzter Bestimmungsgrund des Agierens"so. Wie originell sind Überlegungen und Postulate dieser ArtSI? Mir scheint, daß sich das Argument von der reinigenden Funktion des Krieges als dialektischer Kontrapunkt zur Idee eines ewig währenden Friedens in der gesamten Geistesgeschichte seit der Antike nachweisen läßt. Dietrich Kurze hat entsprechende Belege auch für das Spätmittelalter beizubringen vermochtS2 . Aber es hat doch den Anschein, als wenn sich am Ende des ancien regime die Stimmen häuften, die die "affaires de calcul" absolutistischer Kabinettspolitik ablehnten, zugleich aber für Kriege plädierten, die eine sittliche Läuterung der Gesellschaft zu befördern versprachen. Dabei ging es jeweils um den Krieg als solchen, nicht um Kriege, die um der Durchsetzung konkreter politischer Ziele willen geführt wurden. Es ging um ein Phänomen, das ganz herausgelöst erschien aus dem Konkurrenzgefüge und G. de Bruyn, Taten und Tugenden (Anm. 8),959. W. Fr. Meyem, Dya-Na-Sore (Anm. 8), 111. 49 Ebd., 660. 50 D. Naumann, Politik und Moral (Anm. 9), 226 f. 51 Ebd., 222. 52 Vgl. zur Frage der Einordnung Meyems neben den Beiträgen dieses Bandes auch Martin Schmidt, Die Apotheose des Krieges im 18. und frühen 19. Jahrhundert im deutschen Dichten und Denken, in: Kirche zwischen Krieg und Frieden (Anm. 5),130-166. 53 Dietrich Kurze, Zeitgenossen über Krieg und Frieden anläßlich der Pax Paolina (röm. Frieden), von 1468, in: Franz Josef Worstbrock (Hrsg.), Krieg und Frieden im Horizont des Renaissancehumanismus, Weinheim 1986, 69 - 103; ders., Krieg und Frieden im mittelalterlichen Denken, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Köln/Wien 1991, 1-44. Vgl. darüber hinaus Wolfram Benziger, Zur Theorie von Krieg und Frieden in der italienischen Renaissance. Die Disputatio de pace et bello zwischen Bartholomäo Platina und Rodrigo Sanchez de Arevalo und andere anläßlich der Pax Paolina (Rom 1468) entstandene Schriften. Mit Edition und Übersetzung, Frankfurt a.M. 1969, hier im besonderen 58 -79. 47

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der Rivalität der Mächte im Rahmen des Staatensystems. Es ging um ein Szenarium, das jeglicher politischer Dimension entkleidet war und nur insofern einen Sinn erfüllte, als es dem einzelnen und der Gesellschaft in einer vernunftgesteuert erscheinenden Welt eine neue, spontane Sinnerfüllung eröffnete. Es ist die Utopie des Krieges, die hier in schemenhaften Umrissen entworfen wird. Er erscheint als ein Medium, das die bestehenden, als Entfremdung empfundenen Verhältnisse zugunsten individueller und kollektiver Entfaltungsmöglichkeiten aufzusprengen und zu verändern versprach. Forderte Thomas Abbt mit seinem Traktat "Vorn Tode für das Vaterland", der unter dem Eindruck der elementaren Erschütterungen des Siebenjährigen Krieges niedergeschrieben worden war, noch in eindeutig appellativer Absicht, sich in der Not des Augenblicks für König und Vaterland zu opfern53 , so erscheint der Krieg bei anthropologisch argumentierenden Autoren wie Embser und Meyern in einern utopisch politikfreien Raum. Nicht einmal zwischen einern auch im 18. Jahrhundert durchaus unterschiedlich bewerteten Angriffs- und Verteidigungskrieg wird unterschieden 54 . Es ist der Krieg als moralische Anstalt, der hier beschworen wird. Georg Forster etwa äußerte sicherlich beiläufig, aber zugleich auch unmißverständlich die Meinung, daß die leidenschaftlichen Ausbruche des Krieges ,,ihren Nutzen wie die physischen Ungewitter" haben: "Sie reinigen und kühlen die politische Luft und erquicken das Erdreich", wo doch "die Selbstentzündungen der Vernunft in einern ganzen Volke nichts als erstickenden Dampf zurucklassen,,55. Entsprechende, gewiß nicht programmatische Äußerungen sind auch von dem Theologen Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, von Wilhelm von Humboldt, von Christian Garve und Kant überliefert 56 • Auch dem bereits oben erwähnten ,,Eutychius" 54 Thomas Abbt, Vom Tode für das Vaterland (1761), abgedr. in: Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum Siebenjährigen Krieg, hrsg. von Johannes Kunisch (Bibliothek der Geschichte und Politik, 9), Frankfurt a.M. 1996, 589 - 650 bzw. Einführung und Stellenkommentar (mit weiterführenden Literaturhinweisen), 971- 1008. 55 Der als Heeresreformer und Kriegstheoretiker hochgeschätzte Wilhelm Graf zu Schaumburg-Lippe etwa hatte in seinen 1775 erschienenen "Memoires pour servir a l'art militaire defensif' programmatisch erklärt, daß ein offensiv geführter Krieg nur den bösen Leidenschaften diene, während ein defensives Verhalten bedeute, "sich dem Wohle der Menschheit zu weihen"; Wilhelm Graf zu ScluJumburg-Lippe, Schriften und Briefe, Bd. 2: Militärische Schriften, hrsg. von eurd Ochwadt (Veröffentlichungen des Leibniz-Archivs, 7), Frankfurt a.M. 1977, 167 - 242, das Zitat 182. 56 Georg Forster; Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Junius 1790, in: ders., Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, Bd. 9, bearbeitet von Gerhard Steiner, Berlin 1958, 129 f.; vgl. darüber hinaus Ludwig Uhlig, Georg Forster. Einheit und Mannigfaltigkeit in seiner geistigen Welt, Tübingen 1965, 182f. Eine Reihe weiterer früher Belege für das Purgatorium, als das der Krieg gerade auch aus therapeutischer Perspektive erscheinen mochte, bringt Ute Frevert und ordnet sie dem medizinisch-pädagogischen Diskurs des späten 18. Jahrhunderts zu; vgl. Ute Frevert, Das Militär als "Schule der Männlichkeit" (Anm. 37), 148 ff. 57 W. Janssen, "Krieg" (Anm. 6), 594 f., und J. Kunisch, Das ,,Puppenwerk" der stehenden Heere (Anm. 15), 199ff. Zu Garve im besonderen MicluJel Stolleis, Staatsraison, Recht und Moral in philosophischen Texten des späten 18. Jahrhunderts, Meisenheim 1972,57 -65.

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dünkte, daß wenn unsere Urväter in ewigem Frieden gelebt hätten, "wäre unsere geistige Natur noch das, was sie beim Samoieden und Kamtschadalen ist - unentwickelter Chaos. Kriegen, Fehden allein verdanken wir unser Hinaufsteigen zu Wesen höherer Art, verdanken wir das Entzünden und Anfachen der Lichtmaterie, Vernunft und Geist genannt, die uns vor der übrigen sublunarischen Schöpfung adelt. Nur das Anprallen des Kiesels kann den Lichtfunken herausschlagen, der in dem im innern Sandhügel verscharrten Cristall ewig verborgen bleibt',57. "Kriege - fast Kriege allein - verwandeln die irrenden griechischen Horden in ein fixiertes, unter Gesetzen und Häuptern lebendes Volk. [ ... ]. Der Krieg hatte die Kräfte des Volks aufgereizt, sie in Thätigkeit und Übung gesezt, und der Friede lenkte blos ihren Gebrauch um, legte der zügellosen Geistes- und Körperkraft, die im Kriege regellos und wild dahin braußte, Zaum und Gebiß an, führte sie unter Zucht und Disciplin in vorgezeichnete Bahnen. - Und hier erkenne ich den wahren Charakter des Friedens". Aber: "Er muß durch Krieg erzeugt, er muß eine Folge des Krieges seyn,,58. Eine Ausnahme unter diesen Stimmen stellt ohne Zweifel Johann Valentin Embser dar. Er hat sich im Gegensatz zu den bereits angeführten Autoren nicht nur in Randnotizen mit einer Neubewertung des Krieges beschäftigt, sondern seine gesamte publizistische Tatigkeit allein dem Gedanken gewidmet, daß der ewige Frieden verwerflich und der Krieg zur Bildung des Menschengeschlechtes unerläßlich sei 59 . Dabei ist festzuhalten, daß diese Traktate nicht wie Meyerns Roman eine phantastische, fiktionale Welt entwerfen, sondern konkrete Forderungen im Rahmen eines politischen Diskurses erheben und insofern einer anderen Gattung öffentlichen Räsonierens zuzuordnen sind. Lassen Sie mich zum Schluß eine Bilanz zu ziehen versuchen und die Frage aufwerfen, welche Bedeutung diesem bizarren und vor Geschwätzigkeit und moralischer Besessenheit nur so triefenden Roman im Zusammenhang mit dem Gesamtthema des Bandes zuzumessen ist. Meyern muß ohne Zweifel als ein vielfach hellsichtiger und durchaus ernstzunehmender Kritiker des absolutistischen Fürstenstaates betrachtet werden. Er forderte anstelle der gemächlichen Verfügbarkeit des Untertanen Selbstbewußtsein und Engagement der Bürger - Tugenden, die er mit seiner suggestiven Schmäh- und Beschwörungsrhetorik zu Vaterlandsliebe und Opferbereitschaft zu steigern hoffte. Und am Ende steht mit unverkennbaren Affekten gegen die aufklärerische Idee des ewigen Friedens "die Emanzipation der Staatsnation und ihre Wehrhaftmachung,,60 und dann in logischer Konsequenz der Krieg, der vor dem Hintergrund einer kühlen, vernunftgesteuerten Welt als utopisches Element eines moralischen Wandels gepriesen wird. Meyern steht damit am Beginn eines Denkens, das seine Wurzeln in der "Dialektik der Aufklärung" hat Eutychius, Über den Ursprung und die Einwürkung des Krieges (Anm. 1),298. Ebd., 298 f. 60 Vgl. im einzelnen W. Janssen, Johann Valentin Embser und der vorrevolutionäre Bellizismus in Deutschland (Anm. 6). 61 R. Lorenz, Volksbewaffnung und Staatsidee in Österreich (Anm. 10), 34. 58

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und im Zeichen der nationalen Erhebung gegen die Expansionspolitik Napoleons eine Eigendynamik entfaltet, die über den Bellizismus des frühen 19. Jahrhunderts bis zu Nietzsehe und Ernst Jünger reicht61 . In der visionären Antizipation eines neuen Gesellschaftsmodells liegt also die Bedeutung Meyerns.

62 Vgl. etwa Heinz-Peter Preußer, Troia als Emblem. Mythisierung des Krieges bei Heiner Müller, Christa Wolf, Stefan Schütz und Volker Braun, in: Literaten und Krieg. Text und Kritik 124 (1994), 61 -73. Aufschlußreich auch Hans loas, Kriegsideologien. Der Erste Weltkrieg im Spiegel der zeitgenössischen Sozialwissenschaften, in: Leviathan 23 (1995), 336350, und ders., Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M. 1997, bes. 117 -121.

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"Freiheit oder Tod" Zur Heroisierung und Ästhetisierung von Krieg und Gewalt in der Ikonographie der Französischen Revolution

Von Hans-Ulrich Thamer, Münster

Im Jahre III (1795) der Französischen Revolution wurde im Pariser Salon ein Gemälde von Jean Baptiste Regnault mit dem Titel "Freiheit oder Tod" ausgestellt!. Das Bild zeigt eine Gruppe von drei Figuren: in der Mitte ein nackter Jüngling, der durch seine weißen Flügel und die züngelnde Flamme aus seinem Haupt als ein Genius zu entschlüsseln ist, der Genius Frankreichs. Ihm zur Rechten eine junge, antikisch gekleidete Frau auf einem Thron; sie hält in der rechten Hand die rote phrygische Mütze, das jakobinische Symbol der Freiheit; in der linken Hand ein Winkelmaß, Symbol der Gleichheit. Vor dem Thron entdeckt man ein drittes Attribut: ein Rutenbündel, das für die Kraft des vereinten französischen Volkes steht. Es handelt sich auf den ersten Blick um die Personifikation der Freiheit, und die Darstellung ist auf die Botschaft der Französischen Revolution bezogen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die dritte Figur, ein auf einer dunkelbraunen Wolke hockendes Skelett, stützt sich, in eine schwarze Kutte gehüllt, auf eine Sense und hält in der rechten Hand einen Eichenkranz, Attribute für den christlichen Tod. Aber das Skelett ist eigentümlicherweise geflügelt, was eine Anlehnung an die Darstellung des antiken Gottes Chronos bedeutet. Der geflügelte Tod als Symbol für die Ewigkeit. Alle drei Figuren wenden sich dem Betrachter zu; der Genius scheint zur Entscheidung zwischen Freiheit und Tod aufzufordern. Das läßt sich als ein Appell an die Bürgertugenden, an den Patriotismus und die Einsatzbereitschaft jedes einzelnen Franzosen lesen. Ein Rezensent des Salons hat das Bild auch so verstanden: die Frauengestalt als Freiheit. Doch läßt sich das Bild auch anders deuten und wurde auch so gelesen: nämlich als allegorische Beschwörung der Jakobinerdevise "Freiheit oder Tod", wenn die Frauengestalt als Personifikation der Republik interpretiert wird. Zur Bekräftigung dieser Lesart gehört ferner die Tatsache, daß die Allegorie der Republik im gleißenden Licht besonders hervorgehoben ist; als Sieg des Lichts über die Finsternis, als Triumph der Republik über ihre Feinde. Damit würde die Alternative ,,Republik oder Tod" lauten, und damit 1 Andreas Stolzenburg. Freiheit oder Tod - Ein mißverstandenes Werk Jean Baptiste Regnaults?, in: Wallraf-Richartz Jahrbuch 68/69 (1987/88), 463-472, auf den sich die folgenden Ausführungen beziehen.

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hätte Regnault auch den ursprünglichen Ausschreibungstext erfüllt, nämlich eine Glorifizierung der Republik zu schaffen. Der Titel des Bildes ist irreführend, und das hat seinen Grund. Einen Tag vor der Jury-Sitzung, die über den Künstlerwettbewerb zu entscheiden hatte, wurde Robespierre gestürzt (9. Thermidor 11, 27. 7. 1794). Die dramatischen Ereignisse der Revolution waren mitunter schneller, als die Künstler ihre Leinwände in ästhetisch anspruchsvoller Form ausfüllen konnten. Es sollte die Bildproduktion der Modeme kennzeichnen, daß Bilder von den Ereignissen überholt, daß eine bestimmte Deutung für deren Autor bereits nach kurzer Zeit gefährlich werden konnte. Regnaults Bild wurde erst ein Jahr später, im August 1795, ausgestellt. Dennoch hielt er am Sujet fest. Aber mit dem widersprüchlichen Titel ließ es sich doppelt lesen. Als Aufruf zur Unterstützung der radikalen Jakobinerparole "Freiheit oder Tod" oder in der harmloseren Variante, als Aufruf an die Bürger zur Unterstützung der Freiheit. Das war nach dem Sturz des Tyrannen sicherlich ein Ausweg für Regnault, nachdem er sich in Erfüllung des Aufrufes der Jakobiner, entgegen seiner bisherigen Praxis, politisch sehr weit vorgewagt hatte. Der Fall Regnault berührt gleich mehrere Probleme und Zusammenhänge, die mit unserem Thema verbunden sind. Erstens bietet die Geschichte des Bildes ein Beispiel für eine politisch engagierte Kunst in der Französischen Revolution, wie sie von J. L. David, dem Hofkünstler und Zeremonienmeister der Revolution, auf klassische Weise als Anspruch formuliert wurde. "Wir haben", erklärte er am 17. Januar 1794 (28 Nivöse 11) im Konvent, "unsere Feinde mit den Waffen besiegt und werden es auch mit den Künsten tun - das ist unsere Bestimmung,,2. Der Aufruf der Revolutionsregierung von 1793 "Aux armes" hatte sich mit der Aufforderung "Aux arts" verbunden. Bildende Kunst und Literatur sollten hinfort Opferbereitschaft und Heroismus der Revolutionsarmeen und ihrer Soldaten verherrlichen. Die schönen Künste trugen mit ihrer massenhaften Produktion ganz wesentlich zur Heroisierung und Ästhetisierung des Krieges bei und damit auch zur Schaffung des neuen Soldatentypus, nämlich des leidenschaftlichen Kämpfers 3 . Zweitens verweist die Jakobinerparole "Freiheit oder Tod" in ihrer terroristischen Konnotation, wie sie auch in Regnaults Bild erkennbar wurde, auf den engen Zusammenhang von Revolution und Gewalt, der seit der Französischen Revolution unsere Wahrnehmung von Revolutionen prägt und in der Revolutionsforschung seit Jahren in dem Problemzusammenhang von Revolution, Krieg und politischer Gewalt kontrovers diskutiert wird. Auch in den geschichtspolitischen Debatten im Zusammenhang des Bicentenaire der "Großen Revolution" spielte dieser umstrit2 Zit. nach: Von Brutus zu Marat. Kunst im Nationalkonvent 1789 - 1795. Reden und Dekrete, hrsg. v. Katharina Scheinfuß, Dresden 1973,76. 3 Vgl. Elmar Stolpe, Wildes Feuer, schöner Schrecken. Die Ästhetisierung des Krieges, in: Die Zeit, Nr. 24,9. Juni 1989,49; ders., Der Krieg als Drama der Leidenschaften. Paradigmenwechsel in der militärischen Malerei des napoleonischen Zeitalters, in: Historienmalerei in Europa. Paradigmen in Form, Funktion und Ideologie, hrsg. v. Ekkehard Mai unter Mitarbeit von Anke Repp-Eckert, Mainz 1990, 173 -192.

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tene Zusammenhang eine beträchtliche Rolle, ging es dabei doch um eine historische Bewertung der Revolution insgesamt4 . War der Krieg notwendig, lautet die Frage, um die Revolution vor der Gegenrevolution zu retten? War die Terreur wiederum eine Konsequenz des Krieges? Oder waren Krieg und Terreur nicht bereits in der revolutionären Politik und Mentalität angelegt und wurden von der krisenhaften Entwicklung der Jahre 1792/93 nur noch freigesetzt und radikalisiert? Führte die revolutionäre Entwicklung darum zwangsläufig zu Krieg und Terreur? Waren Krieg und Bürgerkrieg willkommene Instrumente bei der Zerstörung der politischen und sozialen Strukturen des Ancien Regime? Unbestritten ist, daß die Mobilisierung durch den äußeren Krieg zur Radikalisierung der Revolution führte, daß damit die Ideologisierung und Demokratisierung des Krieges, sein Wandel vom Staatenkrieg zum Volkskrieg einhergingens. Mit der Rechtfertigung des revolutionären Soldaten im Dienste der Revolutionsregierung durch Saint-Just betrat 1793 der leidenschaftliche Soldat die Bühne der neueren Geschichte. Der Zusammenhang von Krieg und Terreur soll und kann hier nicht umfassend, sondern nur ausschnitthaft behandelt werden; auch nicht die lange Forschungsdebatte zwischen den Verfechtern einer "Theorie der Umstände", die die Terreur als ein von den krisenhaften Umständen diktiertes Zugeständnis an den plebejischen Hang zur Gewalt und damit als ein notwendiges Element der Konsolidierung und Mobilisierung der Revolution verstehen, und den liberalen Anhängern einer Kontingenzthese, die die Rettung der Revolution nicht durch, sondern trotz der Terreur vor allem im Regierungs- und Verwaltungshandeln begründet sehen und unabhängig davon in der revolutionären Ideologie (und eben nicht in den Umständen) den Antrieb zur Gewaltexplosion im Inneren sehen6 • Die revolutionäre Ideologie, d. h. die Besessenheit vom Gedanken an Verrat und Verschwörung, die Ablehnung parlamentarischer Vertretungen und der Wille zum revolutionären Strafgericht - diese Elemente sind für Furet, der die lange Zeit gültige neojakobinische These von den Umständen vehement in Frage gestellt hat, die Triebkräfte der Terreur7 • Aus dem großen Problemzusammenhang der Wirkung des Krieges auf die Revolution und der Wirkung der Revolution auf den Krieg sollen uns hier vielmehr nur zwei Aspekte interessieren: einmal die Entfaltung eines neuen Bildes 4 Hans-Ulrich Thamer, Die gespaltene Erinnerung. Vergangenheit und Gegenwart in den Revolutionsjubiläumsfeiern 1889, 1939, 1989 in Frankreich und Deutschland, in: Geschichte und Gegenwartsbewußtsein. Festschrift Karl-Ernst Jeismann zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Paul Leidinger und Dieter Metzle!; Münster 1990, 535 - 558, bes. 552 ff.; Steven L. Kaplan, Adieu 89, Paris 1993. 5 Vgl. Elisabeth Fehrenbach, Die Ideologisierung des Krieges und die Radikalisierung der Französischen Revolution, in: Revolution und Krieg. Zur Dynamik historischen Wandels seit dem 18. Jahrhundert, hrsg. v. Dieter Langewiesche, Paderborn 1989, 57 - 66. 6 V gl. Mona Ozouf, Guerre et Terreur dans le discours revolutionnaire 1792 - 1794, in: La Bataille, I' Armee et la Gloire 1745 - 1871, Bd. I, Paris 1985,283 - 297. 7 Franr;ois Furet, Terreur, in: Dictionnaire critique de la Revolution fran~aise, hrsg. v. Fran~ois Furet und Mona Ozouf, Paris 1988, 156 - 169.

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vom Krieg und vom Soldaten, zum anderen die Zusammenhänge von Kriegsgeschehen bzw. Kriegsrhetorik mit der Praxis der politischen Gewalt im Inneren. Regnaults Bild steht dabei der jakobinischen Interpretation nahe, daß es nur um die Alternative Republik oder Tod gehen konnte. Aber diese Alternative war nicht in allen Phasen und politischen Lagern der Revolution gültig. Ihrer Entfaltung soll am Beispiel von schriftlichen Quellen, aber auch vor allem auf der Grundlage von Bildern nachgegangen werden. Schließlich stellt das Bild von Regnault, das wir als historische Quelle neben anderen lesen wollen, ein interessantes ikonographisches Phänomen dar, nämlich die Vermischung von klassischen barocken Bildformen der allegorischen Darstellung mit aktuellen Symbolen aus der Revolution. Diese synthetische Darstellung ist für die Revolutionskunst insgesamt charakteristisch und begegnet uns noch häufiger in der populären Druckgraphik der Revolutionszeit, die für den Alltag geschaffen und schneller auf den Markt kam (und den Geschmack des Publikums besser kannte und auch traf) als die Malerei 8 . Beide, Malerei und Druckgraphik, sind wichtige Quellen für die Macht der Bilder und Symbole. Sie als historische Quellen zu nutzen und zu entschlüsseln, bereitet Historikern noch immer Schwierigkeiten, ist aber unverzichtbar, wollen wir die Kommunikations- und Wahmehmungsweisen früherer (und gegenwärtiger) Welten entschlüsseln. Dies gilt vor allem für den Bereich einer semi-oralen Kultur, wie wir sie beispielsweise in der Volksbewegung der Französischen Revolution antreffen. Durch die bildliche Vermittlung sollten nicht die Schlüsselereignisse der Revolution als Nachricht tradiert werden, es ging vielmehr auch um eine "Versinnlichung abstrakter politisch-sozialer Grundbegriffe in massendidaktischer Absicht,,9. Dabei konnte die Revolutionsgraphik oft auch bündeln und auf den Begriff bringen bzw. politisch steuern, was sich an Stimmungen ankündigte; sie konnte aber auch Verhaltensformen antizipieren, die dann tatsächlich zur politischen Praxis wurden. So hat die Graphik den rapiden Legitimationsverlust der Monarchie dokumentiert und gleichzeitig verstärkt. Wo sich auf den ersten Blick nur eine scheinbare Fortsetzung traditioneller künstlerischer Betätigung und Themenwahl herausstellen wollte, verbarg sich bei genauerem Zusehen ein Wandel in der Darstellung: Nun wurde die Monarchie mit ihren Attributen dargestellt, um sie verächtlich zu machen und ihren Umsturz zu antizipieren. I. Krieg und Revolution in der politischen Publizistik

Noch bevor der Krieg selbst zur Radikalisierung der Revolution und zur Verschärfung der inneren Machtfrage beitrug, formte sich bereits eine militante und kriegerische Mentalität heraus, die von radikalen politischen Publizisten 8 Vgl. Klaus Herding/Rolj Reichardt, Die Bildpublizistik der Französischen Revolution, Frankfurt a.M. 1989. 9 Ebd., 139.

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bestärkt und verbreitet wurde. Es galt als ausgemacht, daß die Gewalt einzig ein Instrument der Freiheit sei, und Gorsas berichtete im Sommer 1789 von den Fahnenweihen mehrerer revolutionärer Pariser Distrikte, die er als "spectac1e d'une fete guerriere"l0 bezeichnete. Es entfaltete sich ein Kreuzzugsgeist, der auch schon davon sprach, daß man die Freiheit den anderen Völkern bringen müsse. Damit waren, zunächst noch als eine Tendenz unter anderen Stimmen, ein Potential bereitgestellt und die Möglichkeiten eines ,,revolutionären Imperialismus" (Ritat) angedeutet. Es waren die labilen politischen Verhältnisse in Frankreich, die inneren Spannungen zwischen Revolution und Gegenrevolution, die die ständige Furcht vor Verrat und Verschwörung nährten und in den Krieg als eine Art Flucht nach vom trieben. Nachrichten von der Emigration und deren Agitation, von gegenrevolutionären Bewegungen sollten seitdem diese Furcht, ein Grundmuster revolutionärer Sensibilität überhaupt, verstärkenlI. Als sich dann im Jahre 1791 die inneren und äußeren Gegensätze zuspitzten, wurde aus der Bereitschaft zur Gewalt und zur Verteidigung der Freiheit die Forderung nach einem Krieg für die Freiheit. Die besonders lautstarken publizistischen Wortführer des Krieges, Brissot und seine Anhänger, sahen im Krieg eine "nationale Wohltat", eine Chance zur Durchsetzung der Revolution. "Ein Volk, das nach Jahrhunderten der Sklaverei seine Freiheit errungen hat, braucht den Krieg; der Krieg ist notwendig, um die Freiheit zu festigen,,12. Seither war in der politischen Publizistik der Krieg zur Verteidigung von Freiheit gegen Despotismus ein gerechter Krieg, so wie sich schon im Diskurs der Aufklärung die Wende von der Verurteilung des Krieges zu seiner Rechtfertigung als Verteidigungs- und Befreiungskrieg angekündigt hatte l3 . Die revolutionäre Gewißheit und Sendungsideologie ließen Zweifel am Erfolg nicht aufkommen. "Ein Volk im Zustand der Revolution ist unbesiegbar", verkündete Isnard. Der enge Zusammenhang von Krieg und nationaler Selbstbestätigung deutete sich an, wenn Isnard weiter ausführte: "Der Franzose wird sich zum erhabensten Volk auf der Welt entwickeln,,14. Ganz ähnlich verklärte Madame Roland den Krieg zur "Schule der Tugend". Revolutionärer Sendungsglaube und patriotische Begeisterung bereiteten einem politischen Radikalismus des Alles oder Nichts den Weg, der im Tugendterror Robespierres endete, aber nicht enden mußte. 10 Courrier de Versailles a Paris, n. XXXV, 11. aout, t. 11, 222; zit. nach Pierre Ritat, Aux annes, citoyens! 1789 ou l'apprentissage de la guerre, in: Commentaire 11 (1988),527. 11 Vgl. Michel Vovelle, Die Französische Revolution. Soziale Bewegung und Umbruch der Mentalitäten, Frankfurt a.M. 1985, 88 ff. 12 Jacques-Pierre Brissot, Das Volk muß Krieg führen. Geraffte Wiedergabe einer Rede Brissots vom 16. Dezember 1791, in: Revolution im Zeugenstand. Frankreich 1789 - 1799, hrsg. v. Walter Markov, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1987, 198. 13 Vgl. Claudius R. Fischbach, Krieg und Frieden in der französischen Aufklärung, Münster/New York 1990. 14 Rede des Abgeordneten Isnard in der Gesetzgebenden Versammlung für den Krieg, 29. Nov. 1791, in: Moniteur X (1791), 503; dt. Übers. zit. nach: Die Französische Revolution. Eine Dokumentation, hrsg. v. Walter Grab, München 1973, 94f.

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Kriegsdrohung und Kriegsverlauf entfachten und verstärkten aber auch eine Gewaltmentalität, die als Unterströmung in den städtischen Volksschichten schon seit 1789 vorhanden war und die ihre Wurzeln in den kollektiven Angstpsychosen, Aufständen und Hungerrevolten, aber auch in den Erfahrungen von sozialer Ungleichheit und Repression im Ancien Regime hatte. Diese plebejische Gewalt hatte in Akten spontaner Gewalt einer noch unorganisierten Volks bewegung Raum gefunden, z. B. im Bastillesturm und in der Grande Peur auf dem Lande. Vorgänge, deren Tragweite von der zeitgenössischen Publizistik unterschätzt und die in der Bildwelt der Revolution, sowohl in der Druckgraphik wie ganz besonders in der Malerei, bezeichnenderweise kaum bzw. gar keine Beachtung gefunden hatten l5 . In dieser Zeit stand Marat noch isoliert da, als er die Pflicht der kleinen Leute zum Widerstand gegen die Unterdrücker verteidigte bzw. forderte; als er die in den Volksaufständen von 1789 zum Vorschein gekomrnene Gewalt zu einem "etat de terreur salutaire et si indispensable pour consommer le grand oeuvre de la constitution,,16 stilisierte. Er sah in der Terreur - völlig unabhängig vom Krieg - ein Prinzip der Revolution, die nur auf diese Weise der Gefahr der permanenten Verschwörung ihrer Gegner begegnen könnte. Dabei charakterisierte er das Verhältnis des petit peuple zu den privilegierten Feinden der Revolution als einen "Kriegszustand", der eine Art Gegenterror der Unterdrückten rechtfertigte. Was diese frühe Konzeption einer terroristischen Ideologie zur Rechtfertigung von revolutionärer Gewaltanwendung auch schon vor 1792 anführte, war deren Zweck: Sie sollte den übergeordneten Werten von Moral, Humanität und Patriotismus zur Verwirklichung verhelfen. Denn die Feinde des Volkes hätten jahrhundertelang gegen Humanität und Gerechtigkeit verstoßen, und die Opfer, die die Gewalt der Privilegierten gefordert hätten wären allemal größer als die der "gerechten und rächenden" Gegengewalt. In der Terreur-Ideologie wurden mithin von Anfang an gesellschaftliche Interessen und politische Praxis auf einfache Gegensätze reduziert. Die Revolution hatte in dieser Konzeption, wie es Furet formulierte, keine objektiven Grenzen, sondern nur Gegner 17 • Der Krieg wurde zum Katalysator dieser Ängste und Rachegefühle und führte mit dazu, daß aus der unorganisierten sozialen Bewegung des Volkes eine radikale politische Bewegung wurde. Die vom Volk ausgeübte Terreur wurde seit dem Sturz der Monarchie am 10. August 1792 und den September-Massakern zu einem politischen Machtpotential, auf das sich Konvent und politische Klubs einzustellen hatten. 15 Philippe Bordes, Le Serment du Jeu de Paume de Jacques-Louis David. Le peintre, son milieu et son temps de 1789 a 1792, Paris 1983; Michel Vovelle, L'iconographie: une approche de la mentalite revolutionnaire, in: ders., Recherches sur la Revolution, Paris 1991, 149 - 163; 152f. 16 Ami du Peuple, n. 35, 11. 11. 1789, 52, zit. bei Gerd van der Heuvel, Terreur, Terroriste, Terrorisme, in: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820, hrsg. v. Rolf Reichardt und Eberhard Schmitt, H. 3, München 1985,99. 17 Franrois Furet, 1789 - Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M./ Berlin / Wien 1980, 68.

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Die September-Massaker sind ein Ereignis, das der Hypothese von einem kausalen Zusammenhang von militärischer Niederlage und Terreur Beweiskraft verleihen könnte. Im politischen Diskurs der damaligen Meinungsführer findet sich ein solcher Zusammenhang zwischen dem militärischen Desaster des Falles von Verdun und der städtischen Grande Peur jedoch nicht. Es überwiegt die Scham angesichts der massenhaften Grausamkeiten. Der Septemberterror war ein dunkles Terrain voller übler Szenen und Bilder, über das man lieber den Mantel des Schweigens breiten wollte. Darum hielten offenbar auch Graphik und Malerei diesen Vorgang für nicht bildwürdig bzw. stellten ihn allenfalls sachlich-distanziert als bloße Nachricht dar. In den ersten politischen Erklärungen findet sich kaum ein Hinweis auf einen möglichen Zusammenhang mit der militärischen Situation. Nur im Jakobinerklub tauchte am Ende des Monats September das defensive Argument auf, die Massaker gingen auf die äußere Bedrohungen und das "systeme de terreur,,18 der feindlichen Armeen zurück. Auf eine psychologische Kettenreaktion, die durch eine Politik der Terreur ausgelöst würde, setzte in der Folge vor allem Marat, als er etwa von der Hinrichtung des Königs die Freisetzung neuer Energien im Volk und damit einen Sieg über die äußeren Feinde der Revolution erwartete. Denn nach dem Königsrnord gäbe es keinen Rückzug mehr, sondern nur noch die Alternative: Sieg oder Untergang 19. Erfolgte die Rationalisierung der Terreur als innere Reaktion auf die äußere militärische Bedrohung in der Regel erst nachträglich, so gab es auch krisenhafte militärische Ereignisse, wie etwa die Belagerung von Lille und den Widerstand der eingeschlossenen Stadt vom 29. September bis 8.0ktober 1792, die eine patriotische Stimmung sowie die Forderung nach Terreur hervorriefen. Es handelte sich bei einer Belagerung um eine militärische Auseinandersetzung, in die in ungleich stärkerer und direkterer Weise als im Falle einer Feldschlacht auch die Zivilbevölkerung einbezogen wurde. Dies fand seinen Niederschlag in einer Heroisierung des Widerstandes der Stadt gegen die ausländischen Invasoren wie in einer hysterischen Suche nach Verrätern vor allem unter den Offizieren durch die revolutionäre Presse 20 . Pariser Journalisten rechtfertigten mit der Bedrohung von Frauen und Kindern den Gebrauch von terroristischer Gewalt und forderten die Bürger zu "Wachsamkeit" auf. Sie priesen ungeachtet der desillusionierenden Realität den Heldenmut der Männer, Frauen und Kinder von LilIe, dem sie den Verrat der Generäle und die Grausamkeit des Gegners gegenüberstellten. Das schien ihnen als ein hinreichendes Argument, um in Zeitungen, Liedern und im Straßentheater zur Verteidigung der Nation gegen ihre äußeren und inneren Feinde auch unter Einsatz der Terreur aufzurufen und diese zu rechtfertigen. 18

104.

Moniteur XIII, n. 264, 20. 9. 1792, 739f., zit. bei G. v d. Heuvel, Terreur (Anm. 16),

19

Journal de la Republique Francaise, n. 105,23. 1. 1793.

20

[an Germani, Representations of the Republic at War: Lille and Toulon, 1792 - 1793, in:

Canadian Journal of History 29 (1994), 51 - 94. (Ich verdanke den Hinweis auf diese Studie Rolf Reichardt, Mainz).

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Knapp ein Jahr später, in einer äußerst dramatischen Situation, als die Feinde der Revolution im Inneren wie im Äußeren auf dem Vormarsch waren, hatten sich die Bilder von Patriotismus und Heroismus einerseits, von Verrat und Strafe andererseits verfestigt. Die Levee en masse wurde im August proklamiert, und mit der Belagerung und Befreiung der Stadt Toulon erfuhr der Mythos von der Nation in Waffen eine erste Bekräftigung. Der republikanische Heroismus und die Geschlossenheit der Nation wurden propagandistisch mit der Feigheit und Uneinigkeit der Gegner beschwörend kontrastiert. Der Konvent feierte die Befreiung von Toulon als Ausdruck republikanischer Solidarität und plante ein nationales Sieges- und Erinnerungsfest, dessen Gestaltung wiederum J. L. David übernehmen sollte. Durch die Verlängerung der zentralen Pariser Feier in vielen Folgeveranstaltungen in der Provinz wurde die Feier der Helden des Vaterlandes zu einem einheitsstiftenden Ereignis und durch die inszenatorische Verbindung mit der symbolischen Verächtlichmachung bzw. Vernichtung der Revolutionsfeinde zugleich radikalisiert. In Gueret wurde eine Puppe, die die verräterischen Bürger von Toulon darstellen sollte, öffentlich verbrannt und der Sinn dieses symbolischen Aktes durch eine Inschrift jedermann verdeutlicht: "Honorer nos heros et punir nos rebelles I Est le premier devoir de ceux qui sont fideles .. 21 •

Gleichzeitig wurde die Terreur zum Regierungssystem, von den Umständen nur scheinbar gerechtfertigt. Denn die radikale Volksbewegung und ihre Propagandisten hatten schon längst die Anwendung politischer Gewalt gegen die inneren Feinde gefordert. Die Kriegsereignisse, vor allem die Belagerungen, haben diesen Legitimationsmechanismus nur noch verstärkt, indem solche Ereignisse, wie die beiden in ihrem Ausgangspunkt und ihrer Entwicklung gegensätzlichen.Belagerungen von LilIe und Toulon zeigen, zur Rechtfertigung der Terreur im Inneren beitrugen. Denn seit der Verschärfung der militärischen Krise im Frühjahr 1793 war der Konvent mehrheitlich zur Überzeugung gekommen, daß nun die Kräfte des Staates zu stärken seien. Benötigt und errichtet wurde eine leistungsfähige Exekutive, eine geschlossene Kommandostruktur und eine Zentralgewalt, deren starker Arm bis in die entfernteste Provinz reichte. Der Konventserlaß vom 23. August entwickelte die Konzeption eines Militärstaates, der einem Räderwerk gleichen sollte. Von der Notwendigkeit der Terreur zur Effektivierung dieser Maßnahmen war dabei freilich nicht die Rede. Nur in der radikalen Rhetorik der Pariser Commune wurden Krieg und Schreckensherrschaft miteinander verbunden. Ihr Sprecher Chaumette forderte die Einsetzung einer Revolutionsarmee im Inneren, um den Hunger zu bekämpfen und die Verräter zu liquidieren. Begründet wurde diese Forderung mit der kriegerischen Metapher ,,Nous sommes dans une salle d'armes, il faut agir,,22. Danton versuchte das Verlangen nach Terreur zu kanalisie21

Archives Parlementaires, LXXXIII, 431; zit. nach I. Germani, Representations (Anm.

22

Moniteur XVII, 583, zit. nach M. Ozouf, Guerre et Terreur (Anm. 6), 590.

20),92.

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ren und den "Elan des Volkes" zu nutzen. Ein Hinweis auf den Krieg fehlte in seiner Rede freilich völlig. Auch die Proklamation des revolutionären Terrors als Antwort auf die Terreur der Royalisten kam beinahe ganz ohne den Bezug zum Krieg aus, sondern stützte sich vornehmlich auf das politisch-ideologische Argument des Verrates, dem man, gleich wo er verübt wurde, entschieden begegnen und darum die Terreur "auf die Tagesordnung" setzen müsse. So standen auch im revolutionären Diskurs des Septembers 1793 die Notwendigkeiten des Krieges und die Forderungen nach Terreur mehr nebeneinander, als daß sie argumentativ miteinander verbunden waren. ,,Nicht in dem Maße wie die objektive Bedrohung der Revolution, sondern in dem Umfang wie das Bewußtsein von einer allgemeinen Gefährdung zunahm, kompensierte die Terreur Zukunftsangst,,23. Die Terreur wurde lediglich als Instrument gegen den Verrat und dies mit zunehmender Tendenz verstanden. Damit war zugleich die raison d'etre der jakobinischen Diktatur angesprochen. Die militärischen Erfolge, die der Konvent nun im Jahre 11 feiern konnte, ließen eine Begründung der Terreur mit der militärischen Situation auch gar nicht zu. So wurde die Argumentation, wie schon früher, ganz auf die vermeintliche Gefahr einer Verschwörung im Inneren verlegt und damit den sozialen Ängsten der Sansculotten ein Ventil geschaffen. Die revolutionäre Dichotomie von der Einheit der Revolution und der Verschwörung ihrer Feinde, von Tugend und Verrat, die sich schon 1789 angedeutet hatte, begründete nun die Mobilisierungs- und Repressionsstrategie der Jakobiner. Nicht im Krieg, sondern in der revolutionären Ideologie selbst lag die Wurzel der Terreur. Der Krieg hat die inneren Probleme und Gegensätze der Revolution verschärft, die sich nicht beenden ließ. Der Krieg gab dem Gedanken des Verrates als Kontrastfigur zu Patriotismus und Heroismus zusätzliche Nahrung und brachte eine weitere Rechtfertigung für die Diktatur der Revolution, die für einen dramatischen und folgenreichen Augenblick revolutionäre Ideologie und Macht zugleich behauptete. Der enge Zusammenhang von Krieg und Terreur ist eine nachträgliche Rationalisierung, die sich von einem revolutionären Mythos leiten ließ, der nichts anderes bedeutete als eine Romantisierung und Heroisierung der Energien, die revolutionäre Rhetorik über den Krieg, weniger über die Terreur entwickelt hat24 . Dazu hat neben der Publizistik auch die Bildersprache der Revolution beigetragen. 11. Krieg und Gewalt in der politischen Ikonographie der Revolution Revolutionsgraphik und -malerei machten sinnfällig, was revolutionäre Rhetorik und Publizistik in abstrakten politischen Begriffen und ideologischen Schlagworten vortrugen: die Ideale der Revolution ebenso wie ihre Dialektik und Dissonanzen. Mit ihren verschlüsselten und unmittelbaren Botschaften bzw. Zeugnissen war die Revolutionsikonographie Quelle der Information wie der Mobilisierung, 23 24

G. v. d. Heuvel, Terreur (Anm. 16), 108 f. M. Ozouf, Guerre et Terreur (Anm. 6), 296.

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der Manipulation wie der Denunziation. Mit ihrem Bemühen, die politischen Gefühle und Leidenschaften der Bürger anzusprechen, um die neuen politischsozialen Werte der Revolution im Bewußtsein zu verankern, wurde sie zum Exponenten einer politischen Pädagogik, die für ihre Zwecke sich auch der Auswahl und Filterung bei der Evokation der erlebten Wirklichkeit bediente. Das macht sie für den Historiker zu einer massenhaften Quelle für die Analyse kollektiver Einstellungen und Wahrnehmungen. Das Thema der revolutionären Gewalt und des "Krieges der Freiheit" findet sich in signifikanten, konjunkturellen Schwankungen in der Bildsprache der Revolution, ohne daß wir das gesamte einschlägige Bildmaterial im Augenblick überschauen können. Der ideologische Charakter der Deutung der revolutionären Gewalt bringt es mit sich, daß wir dem Thema in der Bildwelt meist in einer charakteristischen Auswahl und Akzentuierung begegnen. Seit dem Sturm auf die Bastille finden wir immer wieder die fordernde und rächende Gewalt, die die Freiheitsbotschaft einklagt und umsetzt; die Objekte des Volkszornes werden dargestellt: der Adel und schließlich auch der Klerus. Deren Vertreter werden auf den Bildern vetjagt, in Effigie gemartert und vertrieben oder verbrannt. Was wir nicht oder nur ganz selten treffen, sind Bilder von der Grande Peur, der kollektiven Angst und ihren rituellen Exzessen, sind Bilder von gewaltsamen Auseinandersetzungen auf dem Lande. Selten sind auch Darstellungen der Guillotine als "Symbol revolutionärer Selbstrechtfertigung,,25, auch wenn ihr Messer als Ausschnitt bereits ausreichte und häufiger dargestellt wurde, um sie als Instrument revolutionärer Gerechtigkeit zu zitieren. Die Notwendigkeit von Gewalt beim Sieg über das Ancien Regime zieht sich wie ein roter Faden durch alle Bildzeugnisse. Der Bruch mit der Vergangenheit, der sich in Deklarationen, Gesetzen, Verfassungen und Institutionen niederschlug, wurde meist in allegorischer Form visualisiert: als erfolgreicher Kampf gegen den Drachen oder als feierlich-ironischer Leichenzug der Aristokratie und des Klerus, bis 1792 auch die Monarchie zu Grabe getragen wurde. So etwa in einer Radierung von J. S. Duplessis, der in einer ungewöhnlich reichen Revolutionsallegorie gleich alle Symbole des Despotismus beerdigen läßt26 . Dazu gehören Wappen, Kronen und andere heraldische Zeichen des Adels. Daneben finden sich allegorische Formen wie die vielköpfige Hydra oder die Schlangengrube bzw. der gefährliche Drachen - alles verweist auf die Aristokratie, die mit Gewalt aus ihrer privilegierten Stellung verdrängt werden muß. Als Bünde1ung aller Formen des Despotismus erscheint immer wieder die Bastille; ihr Zitat ist zugleich Rechtfertigung für die rächende Gewalt und Ausweis der revolutionären Kraft des Volkes. Von Anfang an gehörten zur Freiheitsbotschaft der revolutionären Bildpublizistik die rechtfertigenden Hinweise auf die Notwendigkeit von Gewalt, deren K. Herding / R. Reichardt, Bildpublizistik (Anm. 8), 134. Alle bildlichen Quellenbelege dafür bei K. Herding / R. Reichardt, Bildpublizistik (Anm. 8), 84 - 102. 25

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Darstellung ihrerseits weitere Gewaltakte antizipierte und legitimierte. Dies wird noch deutlicher in jenen Drucken, die Symbole und Instrumente des revolutionären Mordes zitieren: als Ausweis eines zeitgenössischen Zäsurbewußtseins, aber auch als Rechtfertigung einer ungehemmten Lynchjustiz, als Akt der blutigen Emanzipation und sozialen Gerechtigkeit. So exemplifizierte der Stecher Villeneuve in zwei Aquatinta-Drucken aus dem Jahre 1789 den Zusammenhang von Freiheit und Gewalt, indem er einerseits die Unfreiheit im Ancien Regime, andererseits die Stationen der Befreiung im Jahre 1789 darstellte, nicht ohne dabei die Pike als Symbol der bewaffneten Volksrnacht und nicht ohne einen Haufen abgeschlagener Köpfe im Hintergrund abzubilden. Ein warnender Hinweis darauf, daß zur Emanzipation auch Gewalt gehören kann und daß dies - so in einer Bildinschrift - zur "Lehre dienen" möge. Auf dem Beil des Nationalgardisten ist schließlich die Parole "frei zu leben oder zu sterben" zu lesen. Auch wenn viele andere Blätter, vor allem im "glücklichen Jahr" (Furet) der Revolution 1790, den neuen Weg als einen großen Schritt zum Gesetz und zu einer glücklichen Zukunft darstellten, so blieb die Drohung der revolutionären Gewalt gegen die Repräsentanten des Ancien Regime als Unterton stets präsent. So präsentierte der "Patriotische Rechenmeister" in einer offensichtlich weit verbreiteten Radierung des Jahres 1789 als Zwischenbilanz auf einem Tisch abgeschlagene Köpfe, die allesamt laut Bildunterschrift von Verrätern, Wucherern und Spekulanten stammten. Was von einem Gegner der Revolution noch Jahre später als einer der "schändlichsten Stiche" bezeichnet wurde, deutete jene Dialektik der revolutionären Ideologie an, wie sie schon sehr früh von radikalen Revolutionären vertreten wurde und in den Jahren 1792 - 1794 das politische Handeln mehr und mehr bestimmte. Die Furcht vor Verrat und Verschwörung, die andere Seite der Vision von der sozialen Harmonie und Geschlossenheit der Nation, konnte die Terreur rechtfertigen; das enttäuschte Bedürfnis nach Einheit konnte in Haß und in die Perhorreszierung sozialer Feindbilder umschlagen. Die verschiedenen Darstellungsformen der revolutionären Gewalt waren in der Bildpublizistik der Revolution vor 1792 nicht nur längst vorhanden, ihre Darstellung wies mit einem drohenden Unterton bereits auf das Kommende hin, das der Revolution im Zeichen von Krieg und Bürgerkrieg eine neue Qualität geben sollte. Das war mit dem Sturz der Monarchie und vor allem den Septembermassakern erreicht. Um so erstaunlicher ist die bildliehe Darstellung dieser Zäsur. Sie zeigt teilweise eine deutliche Diskrepanz zwischen dem, was visualisiert wurde, und dem, was keinen bildlichen Niederschlag gefunden hat. Gerade die grundstürzenden Ereignisse wie der 10. August, die Massaker in den Gefängnissen oder die militärischen Niederlagen an den Grenzen finden nur mit einer eigentümlichen Distanz Erwähnung. Das gilt noch weniger für die aktuelle Druckgraphik, die den 10. Au~ust 1792 aufgriff. Die zahlenmäßig nicht unbeträchtliche Bildproduktion vom Sturm auf die Tuilerien zeigt die Veränderungen in der politischen Kultur: Die Hoffnungen auf Einheit sind verflogen, die Bilder spiegeln "une mentalite de lutte,,27: auf 27

Michel Vovelle, La Revolution Francaise. Images et recits, Bd. 3, Paris 1986, 135.

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der einen Seite Verachtung und Ablehnung für den Monarchen, auf der anderen die emphatische Darstellung der militanten Massen in Aktion, die Föderierten und die organisierte Volksbewegung. Immer wurden in den Radierungen einzelne Momente des Sturms der geordneten und vereinigten Truppen der Föderierten, der Nationalgarden und der Sansculotten auf das als übermächtig präsentierte Schloß oder einzelne Szenen eines blutigen und leidenschaftlichen Kampfes dargestellt. Auf dem Salon von 1793 stellte P. Berthaud28 ein Gemälde aus, das, wie vorher eine Gravur von Prieur, ebenfalls den entscheidenden Moment des letzten und erfolgreichen Ansturms der mit Piken und Säbeln bewaffneten Revolutionäre unter dem Feuer der sich zurückziehenden Schweizer Garden am Eingang des Palastes darstellt. Im Unterschied zu anderen Darstellungen derselben Szene auf Radierungen und Zeichnungen zeigt der Maler eine deutliche Distanz; sein Interesse gilt vorrangig der Schilderung einer kriegerischen Massenszene. Trotz desselben patriotischen Sujets werden nicht der Elan der siegreichen Sansculotten dargestellt, sondern die beklagenswerten Umstände und Folgen eines Bürgerkrieges: Pulverdampf und der Rauch von Bränden, auf dem Boden des Hofes Leichname, vermutlich von Royalisten; eine auffallende Leere zwischen den Kämpfenden auf dem Hof ist als Metapher für einen Graben zu lesen, der die Fronten trennt. Eine Gruppe im Vordergrund verdeutlicht den Doppelsinn des Bildes: Zwei Angreifer stürzen sich mit ihren Waffen in der Hand vehement auf einen Soldaten, der bereits auf dem Boden liegt. Vergeblich suchten zeitgenössische Kritiker des Jahres 1793 das, was sie sich offenkundig von der bildenden Kunst in der Revolution erhofften: Zeichen des Heroismus und der Glorifizierung der Sieger. Man störte sich an der "froideur" des Gemäldes und an dem Mangel an Enthusiasmus. Demgegenüber wurde ein heute verschollenes Bild von Desfonts lobend herausgestellt, dessen Titel bereits Programm war: "Le siege des Tuileries par les braves sansculottes, qui, conduits par la Liberte, renversent la tyrannie, malgre les efforts du fanatisme,,29. Den Forderungen nach Parteilichkeit dürfte auch die Gravur ,,La conquete de l'Egalite,,30 näher gekommen sein, die die Darstellung einer historischen Szene mit allegorischen und symbolischen Zitaten verbindet, um das Eindringen der siegreichen Volksmassen in einen mit Sinnbildern des Verfalls und der Finsternis ausgestatteten Schlupfwinkel der ängstlichen Repräsentanten des Ancien Regime zu verherrlichen. Weniger heroisch, aber dafür um so widersprüchlicher ist die ikonographische Überlieferung zu den Septembermorden, was der Polarisierung der zeitgenössischen öffentlichen Meinung entspricht31 . Auf der einen Seite die ,,Revolutions de 28 Abb. bei Regis Michel, L'art des Salons, in: Aux armes et aux Arts. Les arts de la Revolution 1789-1799, Paris 1988,41. Unklarheit herrscht über den Maler. In den Aufzeichnungen -des Salons ist von einem P. Berthaud die Rede; neuerdings gehen die Vermutungen auf Jacques Bertaux, der vor 1789 Jagd- und Reiterszenen gemalt hat und sich 1793 noch mit anderen Schlachtgemälden auf den Kunstmarkt begab. 29 Ebd. 30 Abb. bei M. Vovelle, Images et recits (Anm. 27), Bd. 3, 149. 31 Alle Abbildungen bei M. Vovelle, Images et recits (Anm. 27), Bd. 3, 156ff.

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Paris", die mit einiger zeitlicher Verzögerung eine detaillierte bildliche Darstellung der verschiedenen Schauplätze des blutigen Geschehens brachten und durch ihre Darstellungsweise wie durch ihre Bildunterschriften ihre Distanz deutlich zu erkennen gaben, dabei aber auf ähnliche Weise verhalten blieben wie das Gemälde des Tuilerienstunns von Berthaud; eine dezidiertere und emotionalere Darstellungsweise war für diejenigen, die kritisch und ablehnend zu den terroristischen Exzessen standen, offenbar nicht möglich. Andererseits stellte eine sehr naive, populäre Darstellung des blutrünstigen Mordes an der Prinzessin de Lamballe eine deutliche Parteinahme dar. Der Hinweis der Bildunterschrift, daß es sich bei der Prinzessin um eine Royalistin handelte, war offenbar Rechtfertigung genug für die Verherrlichung der rächenden Gewalt des Volkes, dessen Kraft mit einer Keule symbolisiert wird. Den Schrecken und die Grausamkeiten der Gefängnismassaker sollte dann die nachthermidorianische Ikonographie voller Abscheu und Anklage darstellen. Dies gilt auch für die übrigen bildlichen Darstellungen der Terreur nach dem Sturz Robespierres, in denen nun die Guillotine zum Schreckenssysmbol der Jakobinerherrschaft, die Jakobiner zu blutrünstigen Bestien stilisiert wurden32 • Ganz anders war das während der Konventsherrschaft der Jakobiner selbst. Nur das Messer und das Fallbeil hatten als Drohgebärde genügt, während sich die revolutionären Rechtfertigungen der Politik der Terreur hinter allegorischen Bildern versteckten. So wurde das grausame Strafgericht der radikalen Konventskommissare Fouche und Collot d'Herbois über die abgefallene Stadt Lyon in die Pose eines Sieges der beiden Kommissare über einen Drachen gekleidet. Die Sieger treten mit den Füßen die geschlagenen satanischen Kreaturen der Gegenrevolution, während die Landschaft im Hintergrund den Sieg des Lichtes über die Finsternis andeutet und mit der umgestürzten Säule bzw. Statue des Königs die Endgültigkeit des Sturzes der Monarchie propagiert. Dieselbe Verbindung von Allegorie und aktuellen politischen Symbolen und Andeutungen findet sich in dem eingangs erwähnten Gemälde von Regnault "Freiheit oder Tod", dessen Programm sich in diesem Kontext als durchaus üblich erweist. Auch die Militanz der organisierten Volks bewegung wurde in eine allegorische Darstellung verkleidet. Die Figur des Herkules, einst für Monarchen vorbehalten, diente nun der Versinnbildlichung der Stärke des Volkes. Schon bevor David in der Festdekoration zum ersten Jahrestag des Sturzes der Monarchie die Herkulesgestalt an herausragender Stelle als Symbol für die Kraft des Volkes plaziert hatte, war Herkules bereits als Metapher in der radikalen Bildpublizistik aufgetaucht. Auch in der politischen Rhetorik begegnet Herkules uns als Volksheld. Fouche verglich im Juni 1793 den Sieg der V01ksbewegung über die Girondisten mit der Macht des Herkules. "Unverzüglich bewaffneten sich achtundvierzig Sektionen und wurden zu einer Armee. Dieser herrliche Koloß steht auf, er marschiert, er rückt vor, er 32 Vgl. [an Gemumi. Les Betes feroces: Thermidorian Images of Jacobinism, in: Proceedings of the Annua1 Meeting of the Western Society for French History 17 (1990), 205 - 219.

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bewegt sich wie Herkules und zieht durch die Republik, um jenem grausamen Kreuzzug ein Ende zu setzen, der dem Volk den Tod geschworen hatte,,33. Mit der staatlichen Anerkennung als einer Kolossalstatue zur Darstellung des Volkes im Frühjahr 1794 wurde der schreckenerregende Koloß offiziell zur zentralen Legitimationsfigur der Jakobinerherrschaft. Damit setzten die Jakobiner eine ikonographische Tradition fort, die schon früher Herkules mit "Courage" und "Force" gleichsetzte. Die Verwandlung der vieldeutigen Herkulesfigur in eine volkstümliche Repräsentation der Volksbewegung und seiner Gewalt spiegelt sich in der Radierung ,,Le Peuple Mangeur des Rois" vom November 1793. Stand in der Darstellung Dupres von 1793 der klassische Herkules noch nackt da und stützte sich in Anlehnung an die ikonographische Tradition lediglich auf seine Keule, so wurde diese nun zum schreckenerregenden Instrument des Volkswillens. Der als Sansculotte gekleidete Herkules schwingt diese gegen die ins Kleine und damit ins Lächerliche gezogene Figur eines Monarchen. Keule, wilde Haartracht und ein in seiner rohen Körperlichkeit realistischer Sansculotten-Herkules mit phrygischer Mütze verdeutlichen ungeschminkt das terroristische Potential der radikalen Revolution. Zugleich bewacht der Koloß die Grenzen des Landes, verdeutlicht durch Befestigungsanlagen und ein Feldlager34 . Ein seltener Beleg zugleich für den Zusammenhang von militanter Volksbewegung und ihrem Gewaltpotential mit den äußeren militärischen Ereignissen. Ganz ähnlich stellte eine Radierung aus derselben Zeitschrift vom Dezember 1793 einen Volks-Herkules als Symbol für den Sieg des revolutionären Volkes dar, das sich als "Heiliges Bataillon von 500000 Republikanern" zur Verteidigung der Republik (in Form einer belagerten Bergfestung) gegen die "Tyrannenknechte" mit großer Energie einsetzte. Der entsprechende Leitartikel verdeutlicht den revolutionären Messianismus der neuen ,,hommes d'elite", die ihre Keule erst dann weglegen, wenn alle Feinde des Vaterlandes geschlagen und "das große Werk der Wiedergeburt der Menschheit vollendet" ises . Auch dies ist ein weiterer Beleg für den schon vor 1793 existenten Zusammenhang der revolutionären Vision der Reorganisation der Menschheit und Nation mit der Bereitschaft zur Gewalt. Mehr oder weniger unabhängig davon wurde vor allem in der ersten Etappe der Revolution (1789 - 92) der Krieg in Druckgraphik und Malerei thematisiert. In der Bildwelt findet sich bis 1792 kaum etwas, was (im Unterschied zur politischen Publizistik) auf die Evokation militärischer Tugenden deutet. Die Friedensbotschaft der Revolution beherrschte - bei gleichzeitiger scharfer Kritik an den euro33 Deklaration FoucMs an die Bürger des Departements Aube vom 29. Juni 1793, zit. in: Sitzungsbericht des Nationalkonvents, 2. Juli 1793, in: Archives Parlementaires LXVIII, 73; zit. in dt. Übers. nach Lynn Hunt, Politics, Culture and Class in the French Revolution, Berkeley ILos Angeles 1984 (dt. Übers.: Symbole der Macht. Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur, Frankfurt a.M. 1989, 126.) 34 Abbildung und Interpretation bei K. Herding / R. Reichardt, Bildpublizistik (Anm. 8), 31. 35 Revolutions de Paris, n. 218, 8.-16. 12. 1793,332; Abb. bei M. Vovelle, Images et recits (Anm. 27), Bd. 4,113.

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päischen "Despoten" - die bildlichen Darstellungen. Nur die Nationalgarde wurde in Bildzeugnissen als Stolz der Revolution präsentiert. Der Kriegsbeginn brachte eine deutliche Veränderung der Darstellung: Groß angelegte Schlachtenschilderungen und populäre Szenen des Auszugs der Freiwilligen zur Verteidigung des Vaterlandes bekamen einen breiten Raum in der Druckproduktion wie in der Malerei, die solche Bilder auch in dem Salon des Jahres 1793 präsentierte. Mit der Proklamation der "Patrie en danger" am 11. Juli 1792 nahm die Verteidigung der Grenzen, die bald zu der Formel von den "natürlichen Grenzen" ausgeweitet wurde, eine zentrale Rolle im Denken der Franzosen ein. Damit drängte ein neuer "esprit militaire" auch in die Ikonographie der Revolution ein. Die Maler und Stecher fühlten sich verpflichtet, mit ihren Werkzeugen die Anstrengungen des Krieges zu unterstützen, zumal sie dafür mit öffentlichen Aufträgen rechnen konnten. Doch abgesehen von der Unsicherheit bei der Finanzierung und Bezahlung trug vor allem die Abhängigkeit von den raschen Kurswechseln der Politik zur Verunsicherung der Historienmaler bei, die es darum bald vorzogen, sich anderen Schaffensbereichen (wie etwa dem Porträt) oder dem Rückgriff auf antike Bildthemen zuzuwenden. Die bildlichen Darstellungen der Jahre 1793 und 1794 konzentrierten sich ganz auf Themen wie den Abschied der Soldaten oder den Ruhm durch den Kampf und auch den Tod für das Vaterland. Die Bilder des Salons von 1793 rückten das Thema Abschied und Opferbereitschaft der Soldaten bzw. ihrer Frauen ganz in den familiären und nicht in den öffentlichen Raum. Das hatte sicherlich mit der geistesgeschichtlichen Tendenz am Jahrhundertende zu Individualismus und Romantik zu tun, aber auch mit der tagespolitischen Sorge, mit einer weitergehenden Bilddeutung von dem Gang der politischen Ereignisse überholt zu werden. Dieses Dilemma unterschied die Möglichkeiten der tagesbezogenen Druckgraphik, die meist für Zeitungen produziert wurde, von der Malerei. Um so verständlicher, daß auf dem Höhepunkt der Jakobinerherrschaft keine Arbeiten entstanden, die sich mit aktuellen Themen wie der Terreur beschäftigten. Man konzentrierte sich mehr auf Darstellungen des Krieges, aber dann meist in der eben angesprochenen Form der Individualisierung bzw. des Ausschnitthaften. Auch die Bildwelt trennte strikt zwischen der militärischen Mobilisierung aller Kräfte und der inneren Verfassung der Jakobinerdiktatur mitsamt der Terreur, die nach Meinung der "neojakobinischen Geschichtsschreibung" (Furet) erst die ungeheure Energie1eistung an der Front möglich machte. Dabei gibt es verschiedene Darstellungsverfahren: die Reportage, die den Anspruch historischer Wahrheitstreue erhebt; ferner die Heroisierung des Soldaten, aber nicht nur der jugendlichen Offiziere, die bald eine glänzende Karriere machen sollten, sondern auch des unbekannten Sansculotten-Soldaten; schließlich die Betonung des menschlichen Verhaltens des siegreichen Helden 36 , aber auch des 36 Susan Siegfried, L'iconographie militaire sous la Revolution et l'Empire, in: Les images de la Revolution Fran~aise. Actes du Colloque des 25-26-27 Avril tenu en Sorbonne, hrsg. v. Michel Vovelle, Paris 1988,93.

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Zwiespaltes der Frauen und Mütter zwischen ihren privaten, intimen Gefühlen und ihren Pflichten als Bürgerinnen. Der Krieg wird als ein großes Drama dargestellt, mit vielen Ursachen und Konsequenzen für die physische wie für die seelische Existenz des Menschen. Dieser Paradigmawechsel vollzog sich an der Wende des Jahrhunderts. Gab es in den frühen 1790er Jahren bei dem Thema "Auszug der Freiwilligen" noch Karikaturen des Alltäglichen, die eher an das heiter-frivole Ancien Regime erinnerten, wie etwa den Liebhaber, der hinter dem Paravent auf den Abmarsch des gehörnten Ehemanns und Soldaten wartet37 , so dominierten spätestens in der Zeit des Direktoriums und vollends im Empire die romantischheroischen Darstellungen, die die Soldaten der Revolution zur Legende machten 38 • Die Modi der Kriegsdarstellung hatten jedoch von Anfang an einen überwiegend propagandistischen Zweck, nämlich ein positives Bild vom Krieg zu vermitteln und ihm alles Bedrohliche zu nehmen. Damit zugleich verbunden war ein Appell an das patriotische Gefühl. Wichtiges Element der Idealisierung und Heroisierung war der Rückgriff auf antike Themen und BildweIten. Das erlaubte den Künstlern sowohl eine Identifikation mit den Themen und Ereignissen der Revolution, aber auch eine versteckte Distanz dazu. Eine heroisch-idealisierende Verarbeitung des Themas der Levee en masse stellt das große Ölgemälde aus dem Revolutionsmuseum in Vizille dar, das Gerard zugeschrieben wird39 . In antiker, mediterraner Landschaft werden die Helden, die die Uniformen der Revolutionsarmee tragen und ihre Säbel gezückt haben, zu Füßen einer Göttinnenstatue mit Liktorenbündel von ihren Frauen und Schwestern verabschiedet, um dann eingeschifft zu werden. Einer der Soldaten mit Schärpe und Kokarde trägt ein Feldzeichen mit der Aufschrift ,La Patrie en danger", um den Zeitbezug und die Identifikation der Menge mit dieser Parole zu verdeutlichen. Zwei Gemälde, die im Salon von 1793 ausgestellt wurden, heute aber verschollen sind, boten ebenfalls eine antike Version des aktuellen Themas "La Patrie en danger". Eines von Jean-Charles Perrin hatte zum Thema "Une Assemblee spartiate deliberant si l' on ferait sortir de la ville de Sparte les Femmes et les enfants, a l' attaque de la ville par Pyrrhus. Une femme entre au milieu de l' Assemblee et parlant au nom de ses Compagnes, offre leurs services dans le combat pour la Republique". Das andere Bild von Alexandre Naigeon thematisierte "Une Lacedemonienne voyant, au siege d'une ville, son Fils aine, qu'on avait place dans un poste, tomber mort ses pieds, qu'on appelle son Frere pour le remplacer, s'ecrie-t-elle. Le sujet est I'instant Oll le Frere arrive,,40. Ganz offensichtlich diente das antike Sujet auch dazu, sich von der Ambiguität der aktuellen Kriegs-

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37 Gravur "Premiere requisition des deux genres". Abb. in: M. Vovelle, Images et recits (Anm. 27), Bd. 4, 112. 38 Philippe Bordes, ,,La Patrie en danger" par Lethiere et l' esprit militaire, in: La Revue du Louvre 36 (1986), 301-306. 39 Abb. bei M. Vovelle, Images et recits (Anm. 27), Bd. 4, 110 f. 40 Zitate nach dem Livret de Salon von 1793, zit. bei P. Bordes, La patrie en danger (Anm. 38),303 f.

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situation zu befreien und sich in die gesicherte Bildwelt der Antike zu flüchten. Ein Gemälde von Nicola-Antoine Taunay ,,La Prise d'une ville", das 1793 im Salon ausgestellt wurde, verlagerte die Kriegsszene ebenfalls in eine Landschaft, die ganz im Sinne holländischer Landschaftsmalerei des 17 . Jahrhunderts dargestellt wurde. Das Bild hatte ganz offensichtlich auch eine versteckte politische Botschaft, die von Besuchern des Salons durchaus erkannt und angesprochen wurde: die Schrecken des Krieges, die die Idylle der Landschaft zerstörten41 . Daneben versuchte die offizielle Bildpropaganda der Jakobinerdiktatur die politische Botschaft des Revolutionskrieges des republikanischen Frankreichs gegen die Mächte der europäischen Koalition zu vermitteln: Dutzende von Auftragsarbeiten stellten in Karikaturen und Allegorien den Sturz der europäischen Throne dar, bis hin zu jenem Bild, das die unwiderstehliche Macht der Revolution mit der Kraft des gerade eben entdeckten elektrischen Stromes gleichsetzte. In der Bildunterschrift des jakobinischen Blattes heißt es: "So wird der elektrische Funke der Freiheit die Throne der gekrönten Häupter umstürzen,,42. Der Stolz auf die Unaufhaltsamkeit der Revolution und ihrer militärischen Erfolge - einem Naturphänomen gleich - hat die Vorstellung von einer gewaltigen Energieentfaltung geweckt und sie im Bild vom revolutionären Krieg an die Nachwelt weitergereicht. Sie hat dort ebenso eine Romantisierung erfahren wie das Bild vom leidenschaftlichen Soldaten, das die Französische Revolution ebenfalls in das Repertoire widersprüchlicher Bilder der Moderne eingefügt hat. Die Verbindung von Krieg und Terreur jedoch hat im zeitgenössischen politischen Diskurs wie in der Bildwelt der Revolution noch keine zentrale Rolle gespielt. Sie findet sich nur in besonderen Fällen, wie die Beispiele der Belagerungen zeigten, und wurde nur in der politischen Rhetorik einiger Repräsentanten des radikalen Flügels der Jakobiner eingesetzt. Von dort hat sie sich an die jakobinische Tradition der Revolutionsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert vererbt. Für diese Deutungskultur waren die inneren und äußeren Feinde der Revolution identisch, und daraus ergab sich die Gleichsetzung und Generalisierung von Krieg und Terreur. Für sie war die Terreur ein substantieller Grundzug der Revolution, die dann eingesetzt werden mußte, wenn die Einheit und Tugend der Revolution nicht anders zu gewährleisten war. Das war der Sinn von Robespierres rhetorischer Frage: "Wollt ihr eine Revolution ohne Revolution?"

41 Abb. und Interpretation bei R. Michel, L'art des salons (Anm. 28),48. Beispiele für die Darstellung der Schrecken des Krieges von Goya bis Delacroix, dargestellt vor allem am Schicksal von Kindern und Frauen, bringt Peter Paret, Witnesses to Life. Women and Infants in some Images of War, 1789 - 1830, Princeton 1996. 42 Abb. und Zitat bei K. Herding/R. Reichardt, Bildpublizistik (Anm. 8), 17. Die Gleichsetzung von Naturgewalten wie Donner und Blitz, Wasserfalle und aufgepeitschte Meere mit der Kraft der Revolution findet sich häufig in der Malerei des Revolutionszeitalters.

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Die Darstellung des Krieges in der Kunst Von Peter Paret, Princeton

Im Rahmen des allgemeinen Themas des Kolloquiums befassen sich die folgenden Bemerkungen mit dem Wesen der Wiedergeburt des Krieges in der bildenden Kunst, man könnte auch sagen, mit der Reaktion der Kunst auf diese Wiedergeburt. Die Fragen nach dem Krieg und nach der Kunst sind eng verwandt. Wir fragen - jedenfalls implizit -, was ist der Krieg an sich oder - etwas einschränkend - was ist der Krieg im Zeitalter des Absolutismus und um was handelt es sich bei den Veränderungen des Krieges am Ende des 18. Jahrhunderts. Ebenso fragen wir nach den generellen Bedingungen der Darstellung des Krieges in der bildenden Kunst; und zweitens: Wie und in welchem Maße reagieren diese Bedingungen auf die Veränderungen des Krieges im Gefolge der Französischen Revolution? Die Frage nach der Behandlung des Krieges in der Kunst überhaupt ist nicht so leicht zu beantworten wie die begrenztere Frage nach dem Neuen in der Kunst, das aus der unerhört erweiterten Funktion des Krieges hervorgeht. Auf die erste Frage können wir hier kaum eingehen. Ich möchte nur einige ganz allgemeine Voraussetzungen in Erinnerung rufen, um dann die Entwicklung im 18. Jahrhundert, während der Revolution und im Kaiserreich etwas näher zu betrachten. Es ist selbstverständlich, wird aber doch häufig unter dem Eindruck der historischen "Dokumentation" übersehen, daß die Motive, die den Künstler bewegen, den Krieg darzustellen, den Charakter und die Aussage der Darstellung weitgehend bestimmen - nämlich in dem Maße, wie der Künstler die Fähigkeit besitzt, sein Vorhaben auch durchzuführen. Die Motive des Künstlers stehen in einem dialektischen Verhältnis zu anderen Voraussetzungen - Möglichkeiten der Rezeption, Erwartungen eines Auftraggebers usw. -, von denen sie jedoch nicht beherrscht sein müssen. Die Kunstgeschichte oder - um näher bei unserem Thema zu bleiben - die europäische Kunst seit dem Mittelalter weist keine durchgehende Entwicklungslinie der Darstellung und Deutung des Krieges auf. Themen und Motive erscheinen, werden weiterentwickelt, verschwinden und können unter veränderten Umständen wieder zum Vorschein kommen. Ein Thema allerdings - die Apotheose des Feldherrn - bleibt bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts konstant und zeitweise beherrschend. Die ununterbrochene Entwicklungslinie eines zweiten Themas, auf

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das ich später zurückkomme, können wir seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts verfolgen I . Der Krieg ist nicht nur Kampf, und Künstler haben auch immer das Umfeld des Kampfes, die Vorbereitung und die Folgen der Schlacht in ihre Darstellungen einbezogen. Dennoch ist der Kampf oder die Idee des Kampfes der bewegende und emotionale Mittelpunkt des Krieges wie auch der Kunst, die sich mit dem Krieg befaßt. Es ist aber sehr schwer, eine in der Zeit andauernde Handlung bildlich darzustellen, und die Probleme der Komposition und Interpretation wachsen, sobald es sich um Massen von Soldaten handelt, die auf großen Flächen gegeneinander agieren. Der Kampf kann auch im Ausschnitt oder indirekt dargestellt werden. Die häufige Praxis, durch einen Teil der Schlacht die Schlacht als Ganzes zu schildern, wird uns weiter unten beschäftigen. Ein Beispiel der indirekten Art ist das bekannte Bild von Emanuel Leutze "Washington crossing the Delaware". Leutze zeigt den General und einige Soldaten und Schiffer in einem Kahn auf dem Weg, die Garnison in Trenton zu überfallen. Das Überqueren des Flusses - behindert durch Treibeis, das schon den kommenden Frühling und den Anbruch einer neuen Zeit, die Geburt einer neuen Nation verkündet - steht an Stelle des Überfalls. Der ausgedehnte Kampf in den Straßen der Stadt wird durch die kleine Gruppe im Kahn symbolisch konzentriert dargestellt. Es wäre viel mehr über die allgemeinen Voraussetzungen der Darstellung des Krieges in der Kunst zu sagen, aber die wenigen Beispiele mögen genügen, um auf das Gemeinsame, das Generelle zu verweisen, mit dem das Besondere und Individuelle der Kunst des 18. Jahrhunderts verglichen werden soll. Wenn wir uns der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zuwenden, ist unschwer zu erkennen, daß sie kaum als eine Glanzperiode im Bereich der Kriegsdarstellungen angesehen werden kann. Ein Niedergang seit dem frühen 17. Jahrhundert - dem Zeitalter Rubens und Callots - ist unverkennbar, Die Gründe für dieses Absinken sind sowohl in der Kunst wie in den gesellschaftlichen, politischen und militärischen Zuständen der Zeit zu suchen.

In der Kunst hatte die weltliche Apotheose des Herrschers vorläufig alle ihre Entwicklungsmöglichkeiten ausgeschöpft. Immer wieder in gleicher Positur und mit denselben Gesten erscheinen die Prinzen und Feldherren auf dem Schlachtfeld, das nichts weiter darstellt und bedeutet als die dramatische Überhöhung ihrer Person. Auch die großen Schlachtenbilder - gewöhnlich für einen bestimmten Auftraggeber angefertigt - waren meist auf den Ruhm des Herrschers oder einer seiner Heerführer angelegt. Die verlangte und eifrig praktizierte Genremalerei des Krieges - Truppen im Lager, im Wirtshaus, auf dem Marsch, oft auch im theatralischen I Eine eingehendere Behandlung des Problems der Hauptthemen in der Darstellung des Krieges findet sich in Peter Paret, Imagined Battles: Reflections of War in European Art, Chapei Hill 1997.

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Kampfgewühl - war im Kreislauf sich ständig wiederholender Motive steckengeblieben. In diesen Werken, schrieb Jacob Burckhardt, "ist viel Hast und Plagiat, aber sie sind wenigstens lebendig,,2. Über das Tatsächliche des Krieges und über die Emotionen, die Kampf und Opfer hervorrufen, hatte diese massenhaft produzierte Kunst jedoch wenig zu sagen. Selbstverständlich gab es Ausnahmen: Schlüters sterbende Krieger wären hier zu nennen, Watteaus kleine Bilder von Soldaten, abgesondert von der Welt in magisch-schönen Waldlandschaften, und besonders Hogarths "March to Finchley" mit der krassen Gegenüberstellung von militärischer Disziplin und kreatürlichen Trieben. Aber das waren Ansätze oder Vorstöße ins Neuland, die nicht weiterverfolgt wurden. Das harmlos Gemütliche oder Gruselige der Genremalerei, das Zeremoniellhafte oder didaktisch Tragische der repräsentativen Kunst kamen dem Zeitgeschmack mehr entgegen als eine eingehende Erkundung der Realität des Krieges. Diese Tendenz stimmte mit dem Platz überein, den Heer und Krieg im Staat und in der Kultur einnahmen. Im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung waren die Mannschaften der neuen stehenden Heere sowohl soziale wie kulturelle Randerscheinungen. Auch von den Kriegen wäre ähnliches zu behaupten, wenn man die Bemühungen der Staaten ernst nimmt, Kriege als Sache der Regierungen, nicht der Bevölkerung anzusehen. Das friderizianische Ideal, nach dem Bürger und Bauern den Krieg gar nicht bemerken sollten, wurde zwar nie erreicht, ist aber doch bezeichnend für eine gewisse Verdrängung des Krieges wie auch für die kritische Bewertung des Krieges durch die der Aufklärung verpflichtete Bourgeoisie. Was Adam Ferguson und etwa zur gleichen Zeit Rousseau über den Bürger als Soldaten schrieben, wies zwar in die Zukunft, war aber sehr weit von der damaligen Wirklichkeit entfernt. Ich möchte das Element der Absonderung und kritischen Distanz nicht überbetonen. Europa und Nord-Amerika erlebten im 18. Jahrhundert einen Krieg nach dem anderen, die Heere waren bedeutende soziale und wirtschaftliche Institutionen und boten, trotz der Bemühungen des Adels, die Offizier-Stellen zu monopolisieren, der Bourgeoisie wichtige Möglichkeiten des gesellschaftlichen Aufstiegs. Aber eine gewisse Isolierung des Krieges im öffentlichen Leben ist doch nicht zu bestreiten ein Beiseiteschieben, das im Zeitalter der Revolution und Napoleons in das Gegenteil umschlagen sollte. Diese Isolierung spiegelt sich auch in der Kunst. Um die Mitte des Jahrhunderts machen sich neue Tendenzen bemerkbar, die die Sensibilität der Kunst für die kommenden Veränderungen des Krieges erhöhen. Das sind erstens die Anfänge einer neuen Historienmalerei, die die geschichtliche Wahrheit und die Unterschiede der Epochen ernster nimmt als ihre Vorgänger. Wenn sich dieses Interesse zuerst auch hauptsächlich auf die Entwicklung der historischen Kostüm- und Waffenkunde beschränkt, so verstärkt es doch eine allgemeine Erhöhung mimetischer Genauigkeit, die sich bald auch auf die Wiedergabe 2

Jacob Burckhardt, Erinnerungen aus Rubens, Wien 1938, 183.

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zeitgenössischer Ereignisse auswirkt. Man fangt an, Begebenheiten der eigenen Zeit, die sonst Objekte antikisierender Allegorie gewesen waren, in mehr realistischer Umgebung und die Menschen in modemen Kleidern und Uniformen zu malen. Benjamin Wests "Death of General Wolfe" von 1770 ist ein Beispiel dieses Übergangs zu einer neuen Ansicht des Krieges in der Kunst. Zur gleichen Zeit bewirkt das Humanitätsgefühl der späten Aufklärung ein stärkeres Interesse an der armen und unterdrückten Mehrheit der Menschen. Das kann bedeuten - es ist nur eine Möglichkeit unter mehreren -, daß in der Kunst die Truppe nicht mehr nur als Chor von Statisten auftritt, sondern allmählich auch selbst ein wichtiges Objekt, ja sogar zum Mittelpunkt des Bildes werden kann. Sobald aber der Künstler das Erlebnis und die Gefühle des einfachen Soldaten ernst nimmt, kann er auch die Tatsachen des Krieges - das Marschieren, Lagern, Kämpfen, eben Dinge, die hauptsächlich von der Mannschaft und den niederen Offizieren ausgeführt werden besser verstehen und anschaulicher interpretieren. Die Amerikanische und Französische Revolution bestätigen diese Entwicklung mit dem Stempel des militärischen Erfolges und der neuen politischen und sozialen Ordnung, die damit verbunden ist. Wie in jeder Epoche gab es auch in den Jahren zwischen Lexington und WaterZeitgenossen, die von den großen Ereignissen ihrer Generation unberührt blieben - Ereignissen, die alle mittel- oder unmittelbar von bewaffneter Macht und militärischer Auseinandersetzung beeinflußt waren. Aber ohne Zweifel spielten in diesen Jahrzehnten Kampf und Krieg im Leben und Bewußtsein vieler Menschen eine wesentlich bedeutendere Rolle. Nicht nur, daß die Kriege jetzt größere Folgen hatten als zuvor; sehr viel mehr Menschen wurden in sie einbezogen und dienten als Soldaten, unter ihnen immer mehr Bürgerliche. In einigen Heeren wurden die Soldaten bis zu einem gewissen Grad politisiert, eine Veränderung, die auch in der Kunst durch die neue Bedeutung der Mannschaft als Motiv registriert wird. Das Interesse am Krieg als Gegenstand der Kunst wuchs an, sowohl in der Gesellschaft, die in mancher Weise vom Krieg berührt und beeinflußt wurde, wie auch im Staat, für den der Krieg an Wichtigkeit gewann, nicht nur als politisches Instrument, sondern oft auch als Bürge des Fortbestehens.

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Ich habe bisher allgemein von einer neuen Qualität des Krieges, die auch die höhere Zahl und erweiterte soziale Basis der Kämpfer mit einbezieht, und von der verstärkten Wirkung kriegerischer Konfrontationen gesprochen. Aber viele konkrete Veränderungen - von der Neuordnung der Heeresorganisation bis zu der Erweiterung der strategischen Möglichkeiten - sind von der bildenden Kunst schwer zu fassen. Und wie steht es mit der Schlacht? Die sogenannte Revolution des Krieges in dieser Zeit hatte auch eine taktische Seite: die Formationen wurden tiefer gestaffelt, gewannen an Beweglichkeit, lösten sich hier und da zu Schützenschwärmen auf, und Reserven wurden verstärkt zurückgehalten. Aber wie alle Revolutionen war auch diese kein abrupter Bruch mit der Vergangenheit. Vielmehr blieb viel Altbekanntes bestehen; eine der erfolgreichsten Armeen der Zeit - die britische - kann, was Taktik und Disziplin betrifft, als typisch spätabsolutistisch angesehen werden.

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Wie sieht ein erfahrener und theoretisch geschulter Beobachter die napoleonische Schlacht, und was ergibt sich aus seiner Beschreibung für die Kunst. Im vierten Buch seines Werkes "Vom Kriege" sagt Clausewitz über den Charakter der modernen, "heutigen" Schlacht: "Was tut man jetzt gewöhnlich in einer großen Schlacht? Man stellt sich in großen Massen neben- und hintereinander geordnet ruhig hin, entwickelt verhältnismäßig nur einen geringen Teil des Ganzen und läßt sich diesen ausringen in einem stundenlangen Feuergefecht, welches durch einzelne kleine Stöße von Sturmschritt, Bajonette und Kavallerieanfall hin und wieder unterbrochen und etwas hin und her geschoben wird. Hat dieser eine Teil sein kriegerisches Feuer auf diese Weise nach und nach ausgeströmt, und es bleiben nichts als Schlacken übrig, so wird er zurückgezogen und von einem anderen ersetzt. Auf diese Weise brennt die Schlacht mit gemäßigtem Element wie nasses Pulver langsam ab, und wenn der Schleier der Nacht Ruhe gebietet, weil niemand mehr sehen kann, und sich niemand dem blinden Zufall preisgeben will, so wird geschätzt, was dem einen und dem anderen übrig bleiben mag an Massen, die noch brauchbar genannt werden können, d. h. die noch nicht ganz wie ausgebrannte Vulkane in sich zusammengefallen sind; es wird geschätzt, was man an Raum gewonnen oder verloren hat, und wie es mit der Sicherheit des Rückens steht; es ziehen sich diese Resultate mit den einzelnen Eindrücken von Mut und Feigheit, Klugheit und Dummheit, die man bei sich und seinem Gegner wahrgenommen zu haben glaubt, in einen einzigen Haupteindruck zusammen, aus welchem dann der Entschluß entspringt: das Schlachtfeld zu räumen oder das Gefecht am anderen Morgen zu erneuern,,3. Diese für Clausewitz charakteristische Beschreibung, die die Bedeutung der moralischen Elemente, Mut und Feigheit, und des Unerwarteten im Kampf betont, sie aber im Kalkül von Mittel, Ziel und Zweck der Vernunft unterordnet, würde mit ihrem Prinzip der Abnutzung und Zerrnürbung auch auf manche Schlacht Friedrichs des Großen passen, von Schlachten des Ersten Weltkrieges ganz zu schweigen. Aber die Kunst kann nicht viel damit anfangen. Das entscheidende Moment - das langsame Abbrennen der Schlacht, das Aushalten und kurze Avancieren im Feuer - ist nur schwer auf Leinwand oder Papier zu bringen, und es überrascht nicht, daß solche Motive auch vereinzelt vorkommen. Im übrigen aber suchte man nach den kritischen und dramatischen Episoden - nach Clausewitz' "kleinen Stößen", die dann anstelle der ganzen ausgedehnten Schlacht darzustellen versucht werden. Es gab natürlich auch andere Möglichkeiten. Die Bilder des Krieges dieser Zeit lassen sich ohne große Schwierigkeit in allgemeine Kategorien einordnen, zu denen es zwar immer Ausnahmen gibt, die aber doch die gesamte Produktion ziemlich genau bezeichnen. Jedes der folgenden Bilder kann als Beispiel einer bestimmten Weise gelten, die Kriege darzustellen.

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Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Bonn 1980, Viertes Buch, 2. Kap., 420f.

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Wir beginnen mit dem Typus, der wohl der bekannteste ist, wenn er auch oft wenig oder nichts mit der Schlacht an sich zu tun hat: die Verherrlichung des Herrschers oder Generalissimus auf dem Schlachtfeld. Nachdem die Apotheose jahrzehntelang ziemlich klischeehaft aufgefaßt wurde, tritt sie jetzt in eine neue schöpferische Phase ein. Sie wird besonders in Frankreich systematisch gefördert, zur Befestigung der politischen Ordnung, als Ausdruck des Machtwillens der Nation und zum Andenken an die Siege des französischen Volkes. In diesen Bildern dient die Schlacht, die der Kaiser und seine Soldaten gerade gewonnen haben oder bald gewinnen werden, als wirksamer Rahmen für das Idealbildnis Napoleons in seinem ureigensten Milieu. Schon damals wurde beanstandet, daß diese Werke nicht eigentlich die Schlacht darstellten. Ein Beispiel ist eine Studie in Öl von Charles Meynier "Napoleon auf dem Schlachtfeld von Eylau", mit der er sich an einem Wettbewerb beteiligte [Abb. 1]. Der Kaiser, triumphierend am Abend der Schlacht, bildet den Mittelpunkt. Seine rechte Hand, halb segnend, halb kommandierend, weist auf die Opfer seiner eigenen Hybris. Alles andere ist Kulisse und Dekoration, sogar die Leichen, die im Vordergrund in einer Mischung von Realismus und Klassizismus, die oft in diesem Genre zu sehen ist, aufgeschichtet liegen. Andere Teilnehmer an dem Wettbewerb scheinen zu ähnlichen Motiven gegriffen zu haben, denn ein Polizeiagent berichtete: "Die Künstler [hätten] eine Masse Verstümmelungen, die verschiedensten Sorten einer großen Schlächterei, zusammengestellt, als ob man sie speziell veranlaßt [hätte], Bilder des Schreckens und der Metzelei zu malen und den Krieg abscheulich zu machen,,4. Das war wohl kaum der Fall, aber der Agent hatte ganz richtig eine neue Tendenz in der Kunst erkannt, die Opfer des Krieges mit größerer Deutlichkeit zu zeigen. Das mag mit der größeren Bedeutung zusammenhängen, die man dem gemeinen Soldaten beizumessen begann - wenn auch, wie hier, die Darstellung der Gefallenen hauptsächlich dazu dient, die Person des Kaisers noch mehr ins Übermenschliche hochzustilisieren. So scheint es auch die Jury gesehen zu haben, denn Meyniers Bild wurde mit einer Medaille ausgezeichnet. Politisch vielleicht weniger interessant sind Versuche, der Wirklichkeit des Kampfes näherzukommen. Diese Bestrebungen stehen sicher im Zusammenhang mit dem erwachenden Interesse an einer Sicht der Vergangenheit, die sich nicht auf Haupt- und Staatsaktionen beschränkt, sondern auch die Ereignisse des täglichen militärischen Lebens ernst nimmt - in unserem Themenbereich könnte man von einem Interesse an der Kulturgeschichte des Krieges sprechen, oft gepaart mit dem Interesse an einer glaubwürdigen Reportage eines bestimmten Geschehens. Ein Beispiel dafür ist der Zyklus von Zeichnungen Carle Vernets "Die Feldzüge General Bonapartes in Italien", von Duplessi-Bertaux in Kupfer gestochen und bald nach den Kämpfen veröffentlicht. Vernets Ziel war eine genaue und überzeugende Wiedergabe der Ereignisse. Er studierte Karten und die Berichte der Teilnehmer und versuchte das Geschehen mit einem hohen Grad von Unparteilichkeit dar4

Katalog French Painting 1774- 1830: The Age of Revolution, Detroit 1975, 546.

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Abb. 1: Charles Meynier, Napoleon auf dem Schlachtfeld von Eylau [Öl, 93 x 147 cm, 1807, Musee Nationale du Chateau, Yersailles] [Photographie vom Yerf. beigefügt]

zustellen. Der Stich des Gefechts von Montebello und Casteggio zeigt eine der einleitenden Phasen der Schlacht von Marengo [Abb. 2]. Französische Einheiten greifen eine österreichische Stellung an, werden abgewiesen, erhalten Unterstützung von einer zweiten Abteilung, die die Österreicher in der Flanke angreift und zum Rückzug zwingt. Vernet konzentrierte dieses ausgedehnte Geschehen in einer Darstellung der entscheidenden Minuten. Im Gegensatz zu dem Bild von Meynier sind die Soldaten, nicht der Feldherr, die agierenden Kräfte. Wir können den kommandierenden französischen General kaum entdecken; es ist die kleine Figur im mittleren Hintergrund am linken Rand. Links vorne haben französische Husaren österreichische Infanterie überrascht. Ein Pandur schießt mit der Pistole auf die Reiter, während die Infanterie sich eilig zurückzieht. Ein Mann ist gefallen, andere stolpern, wenden sich um und feuern. Offiziere suchen die Ordnung wiederherzustellen. Die Masse der fliehenden, zurückblickenden und schießenden Soldaten ist gut beobachtet und gezeichnet, aber im ganzen entwickelt das Bild doch nur schwache ästhetische Impulse. Es gleicht einem Bericht visueller Stenographie und ist vor allem an das Interesse des Beschauers gerichtet, etwas über die Ereignisse des 9. Juni 1800 zu erfahren. Und doch, in ihren Höhepunkten erreichte diese Art von Rekonstruktion mit einem Anflug wissenschaftlicher Akkuratesse die beste bildliche Wiedergabe der napoleonischen Schlacht, die wir besitzen. Hier wäre besonders das Oeuvre von Giuseppe Pietro Bageui und Simeon Fort zu nennen. Bagetti, Aquarellist und

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Abb. 2: Carle Vemet, gestochen von Jean Duplessi-Bertaux, Die Schlacht von Montebello und Casteggio [kolorierter Stich, 28 x 41,7 cm, um 1804] [Abb. in: Peter Parer, Imagined Battles: Reflections ofWar in European Art, Chapel Hill 1997, 61]

topographischer Ingenieur, trat um 1800 in das Service geographique der französischen Armee ein, erst um etwaige zukünftige Schlachtfelder aufzunehmen, dann aber um eine zuverlässige, geschichtliche Darstellung der napoleonischen Feldzüge zu Protokoll zu geben. Fort, eine Generation jünger, auch er Beamter des Service geographique, registrierte die Schlachten des Kaiserreiches in großen Aquarellen für Louis Philippe. Diese Veduten, die nur selten ausgestellt werden, zeigen die Struktur der Schlacht, gewöhnlich in einer entscheidenden Phase, mit außerordentlicher Klarheit, man könnte sagen, aus der Generalstabs-Perspektive [Abb. 3]. Aber ihre Anziehungskraft scheint sich auf den Spezialisten zu beschränken. Es fehlte nicht an Versuchen, das wissenschaftlich fundierte Schlachtbild mit kleinen Episoden und anekdotischen Gruppierungen aufzufrischen. Ein Beispiel ist das Bild der Kannonade von Valmy, das Horace Vernet, ein Sohn von Carle, 1826 für den Herzog von Orleans malte. Zugrunde lagen wieder topographische und historische Untersuchungen und die genaue Kenntnis der Formationen und Uniformen. Das Bild sollte nicht nur ein wichtiges Ereignis der Revolutionskriege darstellen, es hatte auch die Aufgabe, die Verbindung der königlichen Armee mit der revolutionären Nationalgarde, der Dynastie mit der konstitutionellen Monarchie

Abb. 3: Simeon Fort, Die Schlacht von Eylau [Aquarell, Größe?, Datierung?, Compagnie d' Arts Photomechaniques, Paris] [Kopie vom Verf. beigefügt]

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vor der terreur, in Erinnerung zu rufen, da der Herzog von Orleans 1792 eine Division bei Valmy kommandierte. Nachdem der Herzog 1830 als Louis Philippe den Thron bestiegen hatte, kopierte Jean-Baptiste Mauzaisse das Bild für das Musee Historique, das Louis Philippe als nationale Gedenkstätte in Versailles errichtete. Wie bei dem Gemälde von Meynier handelt es sich wieder um ein Werk mit ausgesprochen politisch-pädagogischer Intention [Abb. 4]. Wir sehen die Höhe von Valmy, der Rand mit französischer Linieninfanterie besetzt, in der Ebene im Hintergrund die wartenden preußischen Kolonnen. Das Pferd des kommandierenden Generals Kellermann ist gerade getroffen worden. Rechts wenden sich Offiziere, unter ihnen der zukünftige König, und versichern sich, daß Kellermann nicht verwundet ist und sogleich wieder aufstehen wird. In die Infanterieformationen hinter diesem symbolischen Ereignis hat eine Kanonenkugel eingeschlagen. Menschen fallen, und ein Helm fliegt durch die Luft. Die linke Hälfte des Bildes zeigt Einzelheiten einer Truppe, die dem feindlichen Feuer ausgesetzt ist: Ein Bataillon von Freiwilligen marschiert an einer Windmühle vorbei auf die Linieninfanterie zu, die am Rand des Plateaus hält. Ein verwundeter General, sinnbildlich gestützt von einem Infanteristen und einem Freiwilligen, so wie die Macht Frankreichs auf monarchischer Tradition und revolutionärer Erneuerung ruht, erteilt einem Offizier Befehle. Im Vordergrund hat man einen Verbandsplatz im Hof eines Bauernhauses eingerichtet. Am Abhang rechts von der Gruppe um General Kellermann brennt ein Feuer, vielleicht explodierende Munition, und ein Bataillon Linieninfanterie marschiert aus dem Bild, gefolgt von einem königlichen Offizier und einem Unteroffizier der Nationalgarde, die noch einmal das Zusammengehen des alten und des neuen Systems symbolisch bekunden. Einem gefallenen Kürassier rechts unten im Bild hat man schon die Stiefel ausgezogen - auch dies ein realistischer Hinweis auf die Schwierigkeiten, die die Armee zu dieser Zeit des Umbruchs bewältigen mußte. Historische Persönlichkeiten nehmen den Mittelpunkt der Darstellung ein, aber das Bild ist doch auf das Heer als ganzes angelegt. Der gemeine Soldat erscheint als ein wichtiger Teil der militärischen Maschine, die vor uns ausgebreitet in Erscheinung tritt eine Sicht des Künstlers, die in Bildern des frühen 18. Jahrhunderts kaum zu finden ist. "Die Kannonade von Valmy" ist ein frühes, aber aussagefähiges Beispiel für die Vorzüge und Schwächen des akademischen Historienbildes. Vernet lebte bis 1863, und in seinen Werken läßt sich der langsame Übergang von einem selbstsicheren Neoklassizismus zu der mehr nervös-realistischen Manier des zweiten Kaiserreiches gut verfolgen. Seine Intelligenz und Energie stehen außer Zweifel; aber Baudelaire hatte wohl recht, ihn in seinen Berichten über den jährlichen Salon wiederholt anzugreifen. Er fand Vernets Patriotismus primitiv und mechanisch, seinen Realismus pedantisch, und warf ihm vor, nicht im Stande zu sein, das geschichtliche Geschehen zu durchdenken und ästhetisch umzusetzen. Über ein nordafrikanisches Schlachtbild von Vernet schrieb er 1845, dem Werke fehle der innere Zusammenhang, das Ganze sei nichts als eine Ansammlung interes-

Abb. 4: Jean-Baptiste Mauzaisse nach Horace Vernet, Die Schlacht von Valmy [Öl, 296 x 678 cm, 1826/34, Musee Nationale du Chateau, Versailles] [Abb. in: Peter Paret, Imagined Battles: Reflections ofWar in European Art, Chapel Hili 1997, gegenüber 78]

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santer Histörchen - ein Panorama, ganz dazu geeignet, die Wand einer Kneipe zu dekorieren 5 . Aber Baudelaire ließ die Frage offen, ob eine modeme Schlacht überhaupt ein künstlerisch ergiebiges Thema darstellt. Nach den Gemälden des napoleonischen Zeitalters und der Restauration zu urteilen, war es zumindest ein schwieriges Thema für den Historienmaler. Andere Künstler zeigten im allgemeinen kein starkes Interesse an diesem Stoff oder behandelten ihn mit einer romantischen Verachtung der Tatsachen. Die Alternative war, wie schon bemerkt, eine bezeichnende Episode zu wählen - eine von Clausewitz' ,,kleinen Stößen" -, und es ist nicht uninteressant, daß Horace Vernet für einige seiner besten Bilder - aber gerade nicht für diejenigen, die ihn berühmt gemacht haben - solche begrenzten Themen wählte. Als Beispiel dieses Typs wähle ich nicht ein Produkt hoher Salonkunst, sondern einen Stich, der, in hunderten von Exemplaren verbreitet, auch auf das allgemeine Interesse der Zeit an Darstellungen des Krieges verweist: Christian Gottfried Geisslers "Szene in Lübeck" von 1806 oder 1807 [Abb. 5]. Geissler war einer der Künstler, die die steife Pose des herkömmlichen Uniformbildes auflockerten und - ohne die Genauigkeit im Detail zu opfern - die Soldaten in realistischen Szenen vorführten. Der Vorfall dieses Stiches ist sehr wahrscheinlich erfunden, aber Geissler zeigt ihn im Rahmen eines wirklichen Ereignisses - den Straßenkampf in Lübeck am 5. November 1806 - den er sich so genau wie möglich wiederzugeben bemühte. Die Fassaden sind charakteristisch für Lübeck, der Schiffsmast im linken Hintergrund deutet auf die Nähe des Hafens oder der Trave, und die Uniformen lassen fast alle die entsprechenden Einheiten der Soldaten erkennen. In seiner etwas anspruchslosen Art bietet der Stich den gelungenen Ausschnitt eines größeren Gefechts, der sich besser darstellen ließ als der Kampf als ganzer. Den Rahmen liefert die Stadt, und diese wiederum bietet das Szenarium für eine edelmütige Tat. Ein hochgewachsener französischer Husar hält einen nackten Säugling, dessen Eltern rechts an der Häuserwand vom Kampf überrascht wurden. Drei weitere Soldaten - zwei Franzosen und ein Offizier eines polnischen Regiments in französischen Diensten - scheinen sich ebenfalls um die Rettung des Kindes zu bemühen. Der Stich zeigt nicht nur ein Handgemenge, er sagt auch etwas über den Sinn und Wert des Kampfes: die hohen Kosten des Krieges, das Leiden unschuldiger Menschen, aber auch die menschlichen Gefühle, die vier Soldaten veranlassen, den Kampf zu unterbrechen, um einem Säugling das Leben zu retten. Der sächsische Künstler betont das Allgemein-Menschliche, indem er die Retter des deutschen Kindes als Angehörige der französischen Armee darstellt. Daß Geissler den Krieg kritisiert, wäre zuviel gesagt; aber er zeichnet den Straßenkampf nicht als etwas Abgetrenntes vom gesellschaftlichen Leben, sondern ver5 Charles Baudelaire, "Salon de 1845", in: ders., Oeuvres completes, Paris 1983, Bd. 2, 357. Siehe auch die Kritik an Vernets Kriegsbildern im "Salon de 1846" und im "Salon de 1859", ebd., 469 - 472,642 U.Ö.

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Abb. 5: Christian Gottfried Geissler; Szene in Lübeck [kolorierter Stich, 19,3 x 16,8 cm, um 1806/07] [Abb. in: Peter Paret, Imagined Battles: Reflections of War in European Art, Chapel Hi1l1997, gegenüber 63]

weist auf größere Zusammenhänge und Konsequenzen. Mitten im Kampf werden die Folgen des Krieges sichtbar gemacht6 . 6 Das Motiv in Geiss1ers Stich gehört einer Kategorie an, die im Zeitalter der Revolution und Napoleons öfter vorkommt: Die Anwesenheit von Frauen und Kindern in Darstellungen von Gefechten. Vgl. Peter Paret, Witnesses to Life: Women and Infants in some Images of War, 1789 - 1830, Institute for Advanced Study, Princeton 1996.

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Ein Künstler von größerer Bedeutung als diejenigen, deren Werke wir bis jetzt vorgestellt haben, Gericault, verwendete ähnliche Ausschnitte eines größeren kriegerischen Geschehens in einigen seiner Graphiken und Gemälde, die zwischen 1812 und 1818 entstanden. Gericaults Beweggründe waren nicht eigentlich politisch, obwohl er die politische Seite seiner Themen sehr gut verstand. Am wenigsten war ihm darum getan, die napoleonische Legende zu schüren. Der Kaiser erscheint - nicht sehr heroisch - nur auf einem Gemälde; alle anderen zeigen den französischen Soldaten - Offiziere, Unteroffiziere, Trompeter und Gemeine. Anders als die akademischen Maler, aus deren Reihen er stammt, erforscht Gericault die Lage des Menschen im Kampf - die Reaktion des Individuums auf die physische und psychische Anstrengung, auf die Gefahr und auf die Notwendigkeit des Tötens. In einigen der Bilder hat er auch die psychologische Situation von Soldaten zu ergründen versucht, die in einem verlorenen Krieg gekämpft haben und sich jetzt in einem neuen, fremd gewordenen System zurechtfinden müssen. Abgesehen von anderen Erwägungen eignet sich das begrenzte Motiv, die kleine Gruppe oder der einzelne, besser für die psychologische Analyse als ein Bild mit hunderten von Personen. Drei Kanoniere der Feldartillerie, die mit ihrem Geschütz über das Schlachtfeld jagen, Gegenstand einer Lithographie von 1819 [Abb. 6], oder das kleine Ölbild von 1818 "Karren mit Verwundeten" [Abb. 7] sagen mehr über den Krieg und die Lage des Menschen im Krieg aus als die Prunk- und Propagandagemälde des Empire oder Horace Vernets gigantische Rekonstruktionen. In einigen anderen Werken, besonders in dem "Attackierenden Jäger zu Pferd" und dem "Verwundeten Kürassier", gelingt es Gericault, durch ein einziges Individuum Triumph und Niedergang der napoleonischen Annee zu schildern. Man kann einwenden, daß die Qualität des Resultats weniger vom Typ des Bildes abhängt als von der Begabung des Künstlers, was natürlich richtig ist; aber es ist auch wahr, daß bedeutende Talente nur selten zu dem Motiv des großen Schlachtbildes gegriffen haben 7 . Zusammenfassend möchte ich zunächst auf die große Anzahl von Darstellungen des Krieges in dieser Epoche verweisen - sicher ein Zeichen für die Wichtigkeit des Themas und für den Wunsch, mehr über bestimmte Ereignisse in den Feldzügen und über den Krieg an sich zu erfahren: die Kunst sowohl als Reportage wie als Deutung. Die ganze Masse von Zeugnissen und Stellungnahmen - von Werken subtilster Qualität bis zu kolorierten Holzschnitten von Epinal und Ruppin - ist bis heute noch nicht genügend untersucht worden. Die Forschung hat sich meist auf zwei Bereiche konzentriert: auf die Werke bedeutender Künstler und auf Bilddokumente als politische Propaganda, die in dem einen oder anderen Fall auch als Kunstwerke beachtlich sind. Die Bilder, in denen versucht wird, die Schlacht im Großen darzustellen, befriedigen künstlerisch am wenigsten. Nicht eines läßt sich mit einem politischen 7 Lorenz Eitner, Gericault: His Life and Work, London 1983,40 -77, 147 - 158; das Buch enthält eine ausgezeichnete Untersuchung über Gericaults Kriegsbilder.

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Massenbild wie Davids "Ballhaus-Schwur" vergleichen. Dagegen gelingt es manchen Gemälden und Graphiken, die sich mit dem Ausschnitt einer größeren Aktion begnügen und nur einen oder wenige Soldaten darstellen, das Phänomen des Krieges künstlerisch zu verarbeiten - nicht als Attrappe, sondern als eine Manifestation, die auf den Menschen zukommt. In diesen Bildern gelingt es, etwas über den Krieg zu sagen und zu zeigen, wie der Krieg die Beteiligten in Mitleidenschaft zieht und die Menschheit im ganzen berührt und verändert.

Abb. 6: Thiodort; Gericault, Artillerie die Stellung wechselnd [Lithographie, 28,4 x 36 cm, 1819, Ecole Nationale superieure des Beaux-Arts, Paris] [Abb. in: Kat. Theodore Gericault, Paris 1991/92, Abb. 298]

Mehr als bisher zeigt die Kunst im Zeitalter der Revolution und Napoleons, wie die Truppe auf dem Marsch, im Lager und oft auch im Gefecht aussieht und handelt. Die genaue Wiedergabe der Uniformen, Waffen, der Haartracht des einzelnen und der Formationen der Masse liefert das Vokabular sowohl für die psychologische Interpretation Gericaults wie für die Verherrlichung Napoleons von Gros oder Meynier und der erzählenden Betrachtung eines weniger bedeutenden Künstlers wie Geissler, der ganz gegenständlich berichtet, aber auch in der Lage ist, ethische und politische Botschaften zu übermitteln. 8*

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Abb. 7: Theodore Gericault, Karren mit Verwundeten [Öl, 33,4 x 31,2 cm, 1818, Fitzwilliam Museum, Cambridge, England] [Abb. in: I. ThullierlPh. Grunchec, L'opera completa di Theodore Gericault, Mailand 1978, Tafel 23]

Das Interesse an einer realistischen Darstellung des Krieges und ein stärkeres Gefühl für die Person nicht nur des Feldherrn, sondern auch des gemeinen Mannes, hängen zusammen mit der langsam erwachenden Bedeutung der kämpfenden Truppe im Bild des Krieges. Diese Bedeutung ist nicht absolut neu - wir begegnen ihr zum Beispiel in Werken schweizerischer und süddeutscher Künstler um 1500 und in anderer Form in den Stichen von Jacques Callot. Nach ziemlich langer Abwesenheit erscheint das Motiv jetzt wieder. Um 1800 ist es nur ein Aspekt unter mehreren, und in den bekanntesten Kriegsbildern der Zeit - den Apotheosen Napo-

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leons - bleiben Soldaten weiterhin Statisten. Aber von nun an wächst die Bedeutung des Motivs, und im Ersten Weltkrieg hat sie die Tradition der Feldherrnapotheose weitgehend verdrängt. In diesem allmählichen Wechsel, den wir in der Kunst aller Länder, VOn Rußland bis England, beobachten können, spiegeln sich die großen sozialen und politischen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts. Die neue Aufmerksamkeit, die jetzt auf die Truppe gerichtet ist, bringt eine tiefere Erkundung der Mühen und Gefahren des Krieges mit sich. Sie läßt den Mut und die Entschlossenheit der Mannschaft in Erscheinung treten, kann aber auch die Frage aufwerfen, ob es berechtigt ist, Menschen solchen Zuständen auszusetzen. Die Kritik am Krieg in der Kunst, zu Beginn des Jahrhunderts meist verdeckt und gewöhnlich auf die Opfer verweisend, ohne offen anzuklagen, ist ein Motiv, das sich langsam entfaltet, bis es am Ende des Jahrhunderts und dann gegenständlicher und mit großer Wucht nach 1914 offen zum Ausdruck kommt. Aber auch hier sehen wir wieder das eigentümlich Fragmentarische, die nicht durchgehende Linie, die die Darstellung des Krieges in der Kunst im allgemeinen kennzeichnet. Von 1809 an arbeitete Goya an seiner großen Folge VOn Radierungen, die die Auswirkungen des Krieges in ihrer ganzen Schrecklichkeit anschaulich machen, aber in einer Anzahl von Szenen auch den Kampf selbst thematisieren - und zwar als Episoden zwischen Soldaten und zwischen Soldaten und der Bevölkerung. Da Goya die Radierungen jedoch nicht drucken ließ, blieben sie bis 1863 fast unbekannt. Anlaß und Thema war der Krieg in Spanien nach 1808, aber die Größe des Werkes besteht vor allem darin, daß Goya das spezifisch Historische mit dem allgemein Psychologischen und Kreatürlichen zu verbinden wußte. Zwei Radierungen, Nr. 2 und Nr. 3 der Folge, sind ein Beispiel dafür, wie Goya sich weder durch menschliche Sympathien noch patriotische Empfindungen ablenken ließ, zum Kern seines Themas vorzudringen [Abb. 8 und 9]. Die eng aufeinander abgestimmten Titel der beiden Blätter - "Mit oder ohne Recht" und "Dasselbe" oder "Wie vorher" - machen die Entfernung zwischen den politischen Ursachen des Krieges und dem tatsächlichen Geschehen auf einem Feld oder einer Straße, wo Menschen aneinandergeraten, noch deutlicher. Auf dem ersten Blatt werden Zivilisten, die sich bis zum letzten wehren, von Soldaten niedergeschossen. Durch die gespreizten Beine der mittleren Figur im Vordergrund sieht man einen Mann, der, schon auf der Erde, mit einem kleinen Messer noch einen Soldaten bedroht. In der folgenden Radierung sind die Rollen vertauscht. Opfer sind jetzt die Soldaten, obwohl das Gesicht des Bauern oder Arbeiters, der im Vordergrund sein großes Beil schwingt, von einem Ausdruck tiefsten Entsetzens über sein eigenes Tun geprägt ist. Die Menschen sind in Vorgänge verstrickt, die sie nicht nur durch die äußeren Umstände, sondern auch innerlich zum Töten zwingen und die nicht gelenkt oder beendet werden können. Eine ähnliche Erweiterung des Themas, wie sie Goya erreichte, kommt auch in einigen anderen Werken der Zeit zum Ausdruck, aber nicht so ausführlich

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Peter Paret

Abb. 8: Francisco de Goya, Mit oder ohne Recht [Nr. 2 der "Desastres de 1a guerra", Radierung, 15 x 20,6 cm, 1809 - 12) [Abb. in: Kat. Francisco de Goya, Originalradierungen, Madrid 1988, 85, Abb. 2)

Abb. 9: Francisco de Goya, Dasselbe [Nr. 3 der "Desastres de 1a guerra", Radierung, 16,2 x 22,3 cm, 1809 - 12) [Abb. in: Kat. Francisco de Goya, Originalradierungen, Madrid 1988,86, Abb. 3)

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und überwältigend wie in den mehr als achtzig Radierungen der "Desastres de la guerra". Sie sind die gewaltigste Darstellung des Krieges der Epoche und in ihrer Zeitlosigkeit auch die bedeutendste Brücke zwischen der Kunst des beginnenden 19. Jahrhunderts und der modemen Kunst, die sich mit dem Thema des Krieges befaßt.

Goethe in Valmy Von Wilfried von Bredow, Marburg Prolog

Im Sommer des Jahres 2008 darf der Journalist Charles Henry Winer die "Gelehrtenrepublik" besuchen. Sie wurde auf einer künstlichen Insel im Saragossameer eingerichtet, streng in zwei Hälften eingeteilt, eine "westliche" (amerikanische) und eine "östliche" (russische). Auch nach dem Atomkrieg, der Europa und große Teile anderer Kontinente verwüstet hat, setzt sich der ,,ideologische" Kampf um die Macht zwischen den Protagonisten des Ost-West-Konflikts fort, unangesehen des Sachverhalts, daß dieser Konflikt inzwischen das 20. Jahrhundert und möglicherweise auch die Zukunft der Menschen auf der Erde ruiniert hat. Auf der Insel, einem Mittelding zwischen Künstlerkolonie und Wissenschaftskolleg, darf Winer sich nur kurze Zeit aufhalten. Am ersten Abend wird, auf der amerikanischen Seite dieses Helikons, ihm zu Ehren ein Theaterstück aufgeführt: "Massenbach kämpft um Europa". Autor dieses Stücks ist nämlich sein Urgroßonkel!. Dieses Theaterstück nun existiert nicht nur in dem Romantext der "Gelehrtenrepublik". Amo Schmidt hat es in den späten vierziger Jahren niedergeschrieben. Publiziert wurde es erst 1961 2 • Eine der ersten Nummern in dieser "Historischen Revue" mit anti-nationaler und pro-europäischer Tendenz ist die "Kanonade von Valmy". Schmidt beschreibt die Szene: "Vorn eine leichte Bodenschwellung: eine tiefe Fernsicht in den Hintergrund. Immer murrt die Kanonade von Valmy: zuweilen ein Mordsbumms, damit die Brüder unten nicht einschlafen. Massenbach, heraufgestürmt, nimmt das Fernrohr nicht von den Augen ... ". Es treten dann ein preußischer Husarengeneral auf, ! Amo Schmidt, Die Gelehrtenrepublik. Kurzroman aus den Roßbreiten (Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe I, 2/2), Zürich 1986, 282 u. 299. Dieser Roman wurde 1957 geschrieben und im selben Jahr veröffentlicht - seinerzeit auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges waren düstere Prognosen über sein "böses Ende" durchaus verbreitet. Es gab ja auch genügend Anhaltspunkte dafür. 2 Amo Schmidt, Massenbach. Historische Revue, in: ders., Belphegor. Nachrichten von Büchern und Menschen, Karlsruhe 1961,310-453. Das selbstbewußte Motto des Autors für diesen (nicht unbedingt bühnenwirksamen) Text lautet: "Sie ersparen sich 2 Parkettplätze, I Band Weltgeschichte und viele politische Enttäuschungen".

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Friedrich Wilhelm 11. und sein Oberbefehlshaber, der Herzog von Braunschweig. Indirekt kommen die eklatanten Führungsmängel der Alliierten zur Sprache, auch die nicht sehr erfreulichen politischen Auspicien des nach-friederizianischen Preußen. Massenbach weiß, daß dieser Feldzug jedenfalls verloren ist. Am Schluß dieser Szene dann Massenbachs Bericht aus dem Off: "Ja: Und dann gingen wir denselben Weg wieder zurück: Verdun - Longwy - Rhein. Ich hab die Lagerkrankheit ja nicht bekommen; aber die Andem! Ist ja auch kein Wunder: Regen, Lehm, Nässe: Rückzug in aufgelöster Ordnung. (Er lacht bitter auf) ,Da konnte man uns sehn / wie die Zigeuner gehn: / halb barfuß und zerrissen,! den Kuhfuß weggeschmissen, / die Wagen meist verbrannt: / So zogen wir durchs Land.' /: Oh, Lauckhardt, Lauckhardt! Und in der Kutsche fuhren natürlich nur der Herr von Goethe und ähnliche Überflüssige ... ,,3. Auf die Namen Lauckhardt und Massenbach stößt man auch, wenn man die Sekundärliteratur zu Goethes "Kampagne in Frankreich" studiert - denn Goethe hatte sich, weil er die "Kampagne" fast dreißig Jahre nach den Ereignissen schrieb, auf eine Reihe von Texten anderer Kriegsteilnehmer gestützt, darunter auch von diesen beiden. Fast alle, die Goethes Texte über seine Kriegserlebnisse ausdeuten, weisen auf diese zeitliche Differenz zwischen den Vorgängen selbst, an denen Goethe beteiligt war, und seiner Niederschrift hin und unterstreichen ihre Bedeutung. Zuweilen will es aber so scheinen, als bliebe dieser Hinweis doch ganz abstrakt und jedenfalls für die dann folgende Deutung unberücksichtigt. Das aber ist fatal, denn in Goethes Niederschrift gehen eine Reihe höchst dramatischer weltgeschichtlicher Erfahrungen nach 1792 ein. Man kann den politischen Einfluß dieser Erfahrungen auf die Komposition des Textes kaum überschätzen. Massenbach nun, die reale Person jetzt, hatte im ersten Teil seiner "Memoiren zur Geschichte des preußischen Staats unter den Regierungen Friedrich Wilhelm 11. und Friedrich Wilhelm 111.", deren erster Band 1809 erschien, über die erfolglose Kanonade geschrieben: "Wir hatten mehr verloren, als eine Schlacht. .. Der 20ste September hat der Welt eine andere Gestalt gegeben. Er ist der wichtigste Tag des Jahrhunderts!" Die Gelehrten liebten es, darüber zu streiten, ob es vielleicht dieser Satz von Massenbach ist, der die berühmte Weissagung Goethes aus der "Kampagne in Frankreich" gezeugt hat4 .

Schmidt, Massenbach (Anm. 2), 327 f. Vgl. Gustav Roethe, Goethes Campagne in Frankreich 1792. Eine philologische Untersuchung aus dem Weltkriege, Berlin 1919, 164-168; Hans-Wemer Engels, Nachwort zu: Christian von Massenbach, Historische Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Verfalls des preußischen Staats seit dem Jahre 1794 nebst seinem Tagebuche über den Feldzug von 1806, Frankfurt a.M. 1979,777. 3 4

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I. Sarkastische Prophezeiung

"So war der Tag hingegangen; unbeweglich standen die Franzosen, Kellermann hatte auch einen bequemem Platz genommen; unsere Leute zog man aus dem Feuer zurück, und es war eben, als wenn nichts geschehen wäre. Die größte Bestürzung verbreitete sich über die Armee ... Wir hatten, eben als es Nacht werden wollte, zufallig einen Kreis geschlossen, in dessen Mitte nicht einmal wie gewöhnlich ein Feuer konnte angezündet werden, die meisten schwiegen, einige sprachen, und es fehlte doch eigentlich einem jeden an Besinnung und Urteil. Endlich rief man mich auf, was ich dazu denke, denn ich hatte die Schar gewöhnlich mit kurzen Sprüchen erheitert und erquickt; diesmal sagte ich: ,Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen"'s. Am Anfang von "Belagerung von Mainz", die im Frühjahr und Sommer 1793 vonstatten ging, kommt Goethe auf seine "vormalige Weissagung" zurück. Man sitzt in einem improvisierten Casino zusammen, es ist schönstes Wetter, man spricht dem "dortigen schäumenden Wein" kräftig zu und redet über den verkorksten Feldzug des letzten Jahres. Goethe wird für seine Weitsicht bewundert: "Wunderbar genug sah man diese Prophezeiung nicht etwa nur dem allgemeinen Sinn, sondern dem besonderen Buchstaben nach genau erfüllt, indem die Franzosen ihren Kalender von diesen Tagen an datieren,,6. Nicht nur darüber, ob Goethe seinerzeit am Abend des 20. September 1792 diese tröstliche Prophezeiung wirklich zum besten gegeben hat, streiten sich die GoetheExperten, sondern auch darüber, was damit denn nun eigentlich gemeint gewesen sei oder sein könnte. Und je nach Auslegung geben sie Goethe ganz recht und feiern seine politisch-historische Weisheit oder versuchen (und da haben sie die besseren Argumente), seine Selbststilisierung als Seher zu durchschauen - oder sie enthalten sich eindeutiger Aussagen. Nun ist Goethe-Philologie hier nicht das Geschäft, und insbesondere ist niemand auf ein neues "Hier irrte Goethe!" aus. Es ist in unserem Zusammenhang auch zweitrangig, welche autobiographischen Modellierungen Goethe mit seinen 5 Johann Wolfgang Goethe, Kampagne in Frankreich 1792, in: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. v. Ernst Beutler, Bd. 12,2. Aufl., Zürich/Stuttgart 1962, 288f. Es gibt eine große Zahl Separatausgaben von diesem Text Goethes, oft in billigen und verständnisvoll kommentierten Ausgaben. Besonders erwähnenswert sind eine hübsche kleine Edition aus den 20er Jahren mit einer Einleitung von Oskar Loecke, Berlin o.J., und die jüngste Insel-Taschenbuchausgabe mit einem Nachwort von Jörg Drews, Frankfurt a.M. 1994, 317 - 336. Um sich in .Goethes seinerzeitigen Beschäftigungshorizont hineinzuversetzen, vertiefe man sich in: Robert Steiger; Goethes Leben von Tag zu Tag. Eine dokumentarische Chronik, Bd. ßI: 1789 - 1798, Zürich / München 19~4. 6 Johann Wolfgang Goethe, Belagerung von Mainz, in: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. v. Ernst Beutler, Bd. 12, 2. Aufl., Zürich/ Stuttgart 1962, 428. Die Revolutionäre in Frankreich ließen am 22. September 1792 in der Tat ihre neue Zeitrechnung beginnen, jedoch hatte das nichts mit den Kriegsereignissen an ihrer Ostfront zu tun.

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Kriegstexten bezweckte und ob er, wie Arno Borst in einem brillanten, aber auch ein wenig säuerlichen Aufsatz festgestellt hat, die Kanonade von Valmy durch seine spätere Prophezeiung überhaupt erst zu einem "historischen Ereignis" gemacht hat? Es lohnt sich aber, Goethes Schilderung von seinem Auftreten während der Kampagne 1792 näher zu beobachten. Man kann sich Aufschluß darüber versprechen, wie ein höfisch-diplomatisch erfahrener, weltkundiger Geist am Ende des 18. und am Beginn des 19. Jahrhunderts auf die Veränderung des Kriegsbildes und auf die sich anbahnende Nationalisierung des Krieges reagiert. Von allen Beurteilungen des berühmten Ausspruchs erscheint mir immer noch die von Reinhard Buchwald am trefflichsten. Er nennt ihn einen "Sarkasmus" s. Es würden darin vor allem auch Enttäuschung und Bitterkeit über die Diskrepanz zwischen den wortstarken Ankündigungen und den kläglichen Taten der alliierten Streitkräfte ausgedrückt - und ansatzweise ein grundsätzliches Mißtrauen gegen den Krieg als Instrument der Politik. Mag diese Charakterisierung auch vielleicht ein wenig zu deutlich von den Zeitumständen ihrer Formulierung geprägt worden sein, sie läßt sich dennoch, was hier versucht wird, zu einer grundlegenden soziopolitischen These ausbauen. Diese lautet: Bei aller Höflichkeit und Höfischkeit in seinen Anschauungen und in seinem Benehmen bietet Goethe ein gutes Beispiel für das frühbürgerliche Desinteresse am Krieg. Was bei anderen Denkern dieser Epoche ein paar Jahre später mit viel geschichtsphilosophischem Aufwand zu einer Inkompatibilitätstheorie von Krieg und bürgerlicher Welt hochstilisiert wurde 9 , drückt sich bei Goethe allein schon durch die Verteilung seiner Anteilnahmen während der Kampagne aus. Allerdings ist Goethe alles andere als ein frühbürgerlicher Optimist in bezug auf den Krieg. 7 Amo Borst, Valmy 1792 - ein historisches Ereignis?, in: Der Deutschunterricht 26 (1974),88-104, hier 101: "Wenn heute irgendwo die Kanonade von Valmy als historisches Ereignis bezeichnet wird, geschieht es einzig und allein, weil Goethe diesen Satz 1820/21 niederschrieb. Dies ist das reinste Beispiel einer Wirkungsgeschichte von Kunstwerken, das sich denken läßt". - Um Mißverständnissen zu entgehen, sei darauf hingewiesen, daß Borst unter dem Begriff ,,historisches Ereignis" nicht einfach ein in der Vergangenheit stattgefundenes Ereignis versteht, vielmehr ein Ereignis, das den meisten Betroffenen und den klügeren unter seinen zeitgenössischen Beobachtern erkennbare, unwiderrufliche und weiterwirkende objektive Folgen hatte. Man darf also Borst nicht so verstehen, als wollte er leugnen, daß die Kanonade von Valmy überhaupt stattgefunden hat. Vgl. auch noch Amo Borst, Und ihr könnt sagen, ihr seid dabeigewesen. Gedanken zum sogenannten historischen Ereignis, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 23.11.1974. Wie sich dieses "historische Ereignis" aus französischer Sicht ausnimmt, beschreibt Roger Dufraisse, Valmy, une bataille, une legende, une enigme, in: Francia 17/2 (1990), 95 - 118. 8 Reinhard Buchwald, Goethe und das deutsche Schicksal. Grundlinien einer Lebensgeschichte, München 1948, 150. 9 Als einer der einflußreichsten Verfechter der Vorstellung von der Inkompatibilität von Militär und Krieg einerseits und bürgerlicher, industrieller Gesellschaft andererseits gilt bis heute Auguste Comte. VgJ:Auguste Comte, Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug, hrsg. v. Friedrich Blaschke (Kröners Taschenausgabe, 107),2. Aufl., Stuttgart 1974; die französische Erstausgabe des Cours de philosophie positive erschien in 6 Bänden von 1830 bis 1842.

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Seine Einstellung ihm gegenüber bleibt ambivalent, was jene unter seinen Bewunderern, die ihn gerne entweder als Pazifisten und Kriegsgegner oder als Militärfreund für ihre eigenen Positionen reklamieren mochten, immer wieder irritiert hat. 11. VorOrt

Die folgenden Betrachtungen sind in zwei Teile gegliedert, "Vor Ort" und "Aus der Distanz". Zunächst sollen, ausgehend von Goethes Text, einzelne Ereignissequenzen der Kampagne betrachtet, und vor allem soll Goethe selbst dabei in den Blick genommen werden. Was hat er notiert, wie hat er sich verhalten, was ist ihm besonders aufgefallen, aus welchem Anlaß äußert er sich eher persönlich? Im zweiten Teil wird dann das Ergebnis solcher Textbefragung zu erklären versucht. Nur in Parenthese sei angemerkt, daß die Knappheit beider Teile ein Stilprinzip dieser Untersuchung ist. Nichts stimmt verdrießlicher, als wenn Auslegungen von Texten geschwätzig werden. 1. Das militärische Setting

Unter rein militärischen Gesichtspunkten kann man weder die Kampagne vom Herbst 1792 insgesamt noch speziell die Kanonade von Valmy im Vergleich zu anderen Kriegsereignissen als ein sonderlich aufregendes Geschehen begreifen. Erst wenn man die politischen Kontexte mit in die Betrachtung einbezieht, wird deutlich, daß hier mehr auf dem Spiele gestanden hat als nur der Lorbeer einer siegreichen Schlacht und eines erfolgreichen Feldzugs. Im April 1792 hatte König Ludwig XVI. von Frankreich - auf Druck der durch die Revolution eingesetzten Nationalversammlung - Österreich (aber nicht dem Reich) den Krieg erklärt. Dafür gab es verschiedene Gründe, von denen kaum einer etwas mit ,,Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" zu tun hatte. Der König von Preußen stellte sich an die Seite der Österreicher. Die erste militärische Begegnung, der französische Angriff von LilIe auf Tournai, brachte den Franzosen nichts ein. Die Alliierten ließen aber den ganzen Sommer verstreichen, bis sie sich zu einer Invasion gegen das revolutionäre Regime entschlossen. Da es zum kleinen Einmaleins militärischer Führung gehörte, einen Feldzug in diesen Breiten möglichst nicht unter den Bedingungen des unbeständigen und unfreundlichen Wetters im Herbst zu führen, muß man diesen Zeitverlust wohl als fahrlässig bezeichnen. Erst gegen Ende August überschreiten die Koalitionstruppen die französische Grenze. Ihre Anführer und die Soldaten erwarten, von der Bevölkerung jubelnd begrüßt zu werden. Das ganze, wird sich mancher gedacht haben (ein Topos des Kriegsbeginns), ist nicht viel schwieriger als ein Spaziergang ... Das stellt sich jedoch bald als verhängnisvoller Irrtum heraus. Nach ersten Anfangserfolgen dauert es schon einige Zeit, bis die Festung Verdun von den Preußen stunnreif geschossen ist. Deren weiterer Vormarsch wird auch dadurch nachhaltigst beschwert, daß es

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fast unaufhörlich regnet. Alle Wege sind aufgeweicht; die Zugpferde müssen Schwerstarbeit leisten. Die Lagerplätze der Truppe zeigen sich in einem erbarmungswürdigen Zustand. Die Verpflegung bleibt oft aus. In der französischen Geschichtsschreibung wird hervorgehoben, daß die preußischen Soldaten, Jaute de mieux und aus unkontrolliertem Hunger, sich geradezu systematisch das Verdauungssystem kaputt gemacht haben, weil sie erstens Unmengen von unreifen Weintrauben aßen und dadurch massenweise Durchfall bekamen, wodurch hygienische Verhältnisse geschaffen wurden, die sie zweitens zu Opfern der Ruhr machten lO • Ohne diese spezielle Ursache zu erwähnen, schreibt auch Laukhard von der "fürchterlichen Ruhr ... die Abtritte, wenn sie gleich täglich frisch gemacht wurden, sahen jeden Morgen so mörderisch aus, daß es jedem übel und elend werden mußte, der nur hinblickte: alles war voll Blut und Eiter, und einigemal sah man sogar Unglückliche darin umgekommen. Ebenso lagen viele blutige Exkremente im Lager herum von denen, welche aus nahem Drange nicht an den entfernten Abtritt hatten kommen können"ll. Die Konsequenzen dieser kollektiven Angegriffenheit waren beträchtlich. "Die preußische Invasionsarmee, die beim Aufmarsch aus 47 Bataillonen Infanterie, 70 Eskadronen Kavallerie und 14 Batterien, zusammen 34.419 Mann Infanterie, 10.896 Mann Kavallerie und 199 Geschützen, bestanden hatte, war bis zu diesem Zeitpunkt (·20. September) vor allem durch Krankheit auf rund 36.000 Mann zusammengeschmolzen,,12. Trotzdem und trotz des für einen raschen Vormarsch ungünstigen Geländes - dem Argonner Wald - gelingt es den Truppen unter dem Oberbefehl des Herzogs von Braunschweigs 13, dieses Hindernis zu überwinden. Sie könnten jetzt weiter auf Paris marschieren. Die französischen Generale Kellermann und Dumouriez weichen jedoch nicht aus und zwingen oder verlocken die preußischen Truppen zu einer Schlachtaufstellung. "Bei St. Menehould, wo die Hauptstraße Verdun-Paris \0 F. Destaing, Valmy ou les raisins de la defaite. Mais qui furent les sans-culottes?, in: Nouvelle Presse Medicale 28 (1972), 1912-1914, hier 1913. Der Untertitel dieses kleinen Aufsatzes ist natürlich ein naheliegendes Wortspiel. 11 Friedrich Christian Laukhard, Leben und Schicksale von ihm selbst beschrieben, hrsg. v. Karl Wolfgang Becker, Leipzig 1989, 181. Vgl. hierzu Peter Lahnstein, Die Kampagne in Frankreich. Eine Studie über die Aufzeichnungen Goethes und Laukhards, in: Neue Rundschau 74 (1963), 417 -430. 12 Ulrich Lehnart, Die Kanonade von Valmy am 20. September 1792, in: Goethe in Trier und Luxemburg. 200 Jahre Kampagne in Frankreich 1792, hrsg. v. Ulrich Lehnart u. Gunther Franz (Ausstellungskatalog der Trierer Bibliotheken, 24), Trier/Luxemburg 1992,306-319, hier 308. 13 So ganz einfach war die Sache mit dem Oberbefehl allerdings nicht, wie auch Goethe bemerkt hat. Die Anwesenheit des preußischen Königs schmälerte in gewissem Sinne die Handlungsfreiheit seines Oberbefehlshabers. Als Goethe erst den König und nach einer kurzen Zeitspanne den Herzog, jeweils mit ihrem "schweifartigen Gefolge" vorüberreiten sieht, notiert er: "Wir nun, obgleich mehr zum Beobachten als zum Beurteilen geneigt, konnten doch der Betrachtung nicht ausweichen, welche von beiden Gewalten denn eigentlich die obere sei? Welche wohl im zweifelhaften Falle zu entscheiden habe? Unbeantwortete Fragen die uns nur Zweifel und Bedenklichkeiten zurückließen." Goethe, Kampagne (Anm. 5), 251.

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aus dem Gebirge heraustritt, beherrscht ein Plateau die Straße. In dieser günstigen Stellung vereinigen sich die Korps von Kellermann und Dumouriez. Die beiden Generale finden hier, was ihre zuchtlosen Truppen im Falle eines preußischen Angriffs brauchen: eine Stellung, aus der die Soldaten nicht fliehen können. Sie stehen mit dem Rücken am Waldgebirge, und hinter ihnen liegt nicht das Innere Frankreichs, sondern feindbesetztes Gebiet und dann Deutschland. In solcher Lage kann niemand fliehen. Allerdings: wer eine solche ,Schlacht mit verkehrter Front' verliert, wird sein Heer kaum der Vernichtung entziehen können,,14. Zwar muß man sich die französischen Truppen, bei Valmy standen den Preußen circa 36.000 Mann gegenüber, als "zusammengewürfelt" vorstellen, jedoch bestanden quantitativ und qualitativ entscheidende Elemente dieser Truppe aus Einheiten der alten königlichen Armee, aus Linien-Infanterie und Linien-Kavallerie. Ihnen hat es an Patriotismus und an Kampfmotivation jedenfalls weniger gemangelt als den preußischen Truppen. Am 20. September beginnen die Einleitungssequenzen der Schlacht: der gegenseitige Artilleriebeschuß. Am späten Nachmittag haben die Preußen, schreibt Goethe und übertreibt dabei beträchtlich, ungefähr 10.000 Kanonenkugeln verschossen. Beide Kriegsgegner zusammen dürften ungefähr 10 bis 12.000 Schuß abgegeben haben 15 . Aber zu einem Angriff kommt es nicht. Goethe schreibt: "So war der Tag hingegangen; unbeweglich standen die Franzosen, Kellermann hatte auch einen bequemem Platz genommen; unsere Leute zog man aus dem Feuer zurück, und es war eben, als wenn nichts gewesen wäre. Die größte Bestürzung verbreitete sich über die Armee,,16. Der Herzog von Braunschweig hat sich im preußischen Kriegsrat mit seiner Meinung durchgesetzt, bei Valmy den Franzosen keine Schlacht zu liefern. Stattdessen wird mit Dumouriez über die Modalitäten des Rückzugs verhandelt. Die Preußen verbleiben noch weitere zehn Tage untätig in ihrem Lager, unter katastrophalen meteorologischen und Verpflegungsbedingungen, bevor der Rückzug beginnt. In diesen Wochen löst sich die Moral der Truppen noch weiter auf. Der Rückzug wirkt demoralisierend: So bleiben Verwundete und Kranke zurück. Die Franzosen hingegen sind durch die ergebnislose Kanonade in ihrem militärischen Selbstbewußtsein erheblich gestärkt. In der Folgezeit erobern sie Speyer, Worms und Mainz. In Belgien kommt es am 6. November 1792 bei Jemappes zum Kampf gegen die Österreicher in Belgien, wo die revolutionären Truppen zum ersten Mal ein Heer absolutistischer Prägung in offener Feldschlacht besiegen 17 . 14

63.

Franz Uhle-Wettler, Höhe- und Wendepunkte deutscher Militärgeschichte, Mainz 1984,

15 Lehnart, Kanonade (Anm. 12), 313. Vgl. auch Klaus-Detle! Müller, Goethes ,Campagne in Frankreich' - Innenansicht eines Krieges, in: Goethe Jahrbuch 107 (1990), 115 - 143. 16 Goethe, Kampagne (Anm. 5) 288 f. 17 Vgl. Rainer Wohlfeil, Vorn Stehenden Heer des Absolutismus zur Allgemeinen Wehrpflicht (1789-1814), in: Handbuch zur deutschen Militärgeschichte 1648-1939, Bd. 1, Abschnitt II, hrsg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München 1979, 10-14.

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2. Die äußeren Umstände der Niederlage

Als Feldherr mag der Herzog von Braunschweig ein wenig zu zögerlich gewesen sein - wo es um seinen Nachruhm geht, ließ er keine Gelegenheit zu dessen Modellierung aus. Zu Goethe, den er kennt und von dessen Anwesenheit bei der Kanonade er sich einen Bericht für die Nachwelt verspricht, sagt er auf dem Rückzug: "Es tut mir zwar leid, daß ich Sie in dieser unangenehmen Lage sehe, jedoch darf es mir in dem Sinne erwünscht sein, daß ich einen einsichtigen glaubwürdigen Mann mehr weiß, der bezeugen kann, daß wir nicht vom Feind, sondern von den Elementen überwunden worden" 18. Das ist nicht ohne Eleganz ausgedrückt (Goethe wiederholt seine Worte als wörtliches Zitat, vielleicht unter dosierter Hinzufügung eigener Sprachfertigkeit); aber falsch oder, vorsichtiger, nicht ganz korrekt ist es auch. Zwar hat der quasi-permanente Regen den Koalitionstruppen übel mitgespielt und ihre Bewegungen sowie die Moral der Soldaten verlangsamt bzw. niedergedrückt. Aber der einzige oder wichtigste Faktor der Niederlage war das schlechte Wetter nicht, jedenfalls noch nicht bis zum 20. September, dem Tag der Kanonade. Erst auf dem Rückzug brach sich an ihm der militärische Mut der Alliierten endgültig. Stattdessen wird man auf eine Reihe von Führungsfehlern, falschen Lagebeurteilungen und konsequenzenreichen Fehlentschlüssen der alliierten Truppenführung hinweisen müssen. Erst der späte Aufmarschterrnin brachte überhaupt das schlechte Wetter ins Spiel. Die Rolle der Emigranten als Berater und ihre Anwesenheit während des Feldzugs wirkten sich als große Belastung aus. Überhaupt bereitete man sich auf alliierter Seite nicht mit gebührender Professionalität auf die Kampagne vor. "Das Mißverhältnis zwischen kämpfender Truppe und Troß, in allen Feldzügen ein Geheimnis der Generalstäbe und ihrer Geschichtsschreiber, muß in dieser Campagne besonders kraß gewesen sein", schreibt Friedenthal 19 . Die Charaktere des preußischen Königs und des Herzogs von Braunschweig ergänzten einander nicht, sondern standen sich sozusagen gegenseitig im Wege. Die Ablehnung der Schlacht durch den Herzog von Braunschweig steht noch ganz im Zeichen der traditionellen Kriegführung durch Schiachtvermeidung 20 - gerade hier hätte auch einiges für einen kühnen Vormarsch gesprochen (obwohl man das nicht mit Sicherheit behaupten kann). 3. Goethe als Schlachtenbummler

Das "Deutsche Wörterbuch" von Jacob und Wilhelm Grimm kennzeichnet den Ausdruck "Schlachtenbummler" so: "in den neueren kriegen aufgekommen, Goethe, Kampagne (Anm. 5), 320. Richard Friedenthai, Goethe. Sein Leben und seine Zeit, München 1963,395. 20 Vgl. Horst Ajheldt, Verteidigung und Frieden. Politik mit militärischen Mitteln, München/Wien 1976,31 ff. 18

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besonders seit 1870 für diejenigen gebraucht, die unter dem vorwande der krankenpflege sich nach dem kriegsschauplatze begaben, ihre neugierde zu büszen oder sich der lustigeren seite des quartier- und lagerlebens zu widmen". Stimmt diese Kennzeichnung, dann haben wir es mit einem (inzwischen übrigens ja längst "zivil" gewordenen) Ausdruck zu tun, der erst aufkommt, als die Zeit für das von ihm Bezeichnete schon vorbei ist. Goethe ist demnach eine Art Schlachtenbummler avant La Lettre gewesen, "der Herr von Goethe und ähnlich Überflüssige", wie Arno Schmidt seinen Massenbach kritisieren läßt. Allerdings war Goethe ein Schlachtenbummler auf Anweisung seines Landesherrn und nicht etwa aus freien Stücken. Karl August war als General in preußische Dienste getreten, und er wünschte sich Goethe als Chronisten der militärischen Erfolge. Die wurden als leicht zu erringen antizipiert. Und wenn auch niemand von Goethe eine ,,heiße" Kriegsberichterstatter-Propaganda erwartete, so eröffnete seine Anwesenheit doch die Aussichten auf eine schriftstellerisch gediegene Darstellung der ruhmvollen Taten, die man mit strahlendem Ende zu vollbringen sich vorgenommen hatte. Im Text lassen sich nicht wenige Splitter von dieser durch den Gang der Ereignisse allerdings rasch zu Bruch gegangenen Auffassung finden. So gibt es zahlreiche Stellen, in denen Goethe sich als aufheiternden und anregenden Plauderer im Kreise der Offiziere darstellt. Das wird von ihm erwartet, und angesichts einer solchen Erwartung mag er vielleicht auch seinen berühmten, zwar nicht gerade aufheiternden, aber doch immerhin aufmunternden Ausspruch getan haben. Nur unter dem Datum des 4. Oktober heißt es bei Goethe: ,,Mehrere befreundete Kriegsgenossen trafen zusammen und traten im Kreise, hinter sich die Pferde am Zügel haltend, um ein Feuer. Sie sagten, dies sei das einzige Mal gewesen, wo ich ein verdrießliches Gesicht gemacht und sie weder durch Ernst gestärkt, noch durch Scherz erheitert habe,m. Das steht in scharfem Kontrast zu den vielen Gelegenheiten für neckisches Wortgeplänkel, von denen Goethe vor allem zu Beginn der Kampagne wenige ausläßt: "Die Freiheit eines wohlwollenden Scherzes auf dem Boden der Wissenschaft und Einsicht verlieh die heiterste Stimmung. Von politischen Dingen war die Rede nicht ... ,,22.

Ein zweites Merkmal dieser auf rokokohafte Weise distanzierten Kriegsbeobachtung bilden die zahlreichen malerischen "Szenen", in denen Goethe die Atmosphäre des Feldzugs eingefangen hat. Ob es die "Szene" mit der schönen und naiven Frau eines französischen Edelmannes in ihrem viel zu hoch gepackten Wagen ist, die "tragische Szene" mit den Hirten, denen die Soldaten ihre Schafe wegnehmen, immer handelt es sich um ein die Komplexität der Konstellation schlüssig vereinfachendes Bild. Dessen Komposition zeugt aber von einem durch und durch vorrevolutionären Kriegsverständnis Goethes: "Diese Reiterrnassen machten zu der angenehmen Landschaft eine reiche Staffage, man hätte einen van 21 22

Goethe, Kampagne (Anm. 5), 311. Goethe, Kampagne (Anm. 5), 240.

9 Kunisch/Münkler

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der Meulen gewünscht, um solchen Zug zu verewigen; alles war heiter, munter, voller Zuversicht und heldenhaft. Einige Dörfer brannten zwar vor uns auf, allein der Rauch tut in einem Kriegsbilde auch nicht übel'm. 4. Den Krieg beobachten

Als kurz vor dem Beginn der Kanonade der Befehl kommt, die Truppe solle vorrücken und der Troß zurückbleiben, ist es keine Frage für Goethe, wohin er seine Schritte lenken wird. Bei der Truppe zu bleiben, ist, was immer dann auf einen zukommt, ehrenvoll, "dahingegen bei der Bagage, beim Troß oder sonst zu verweilen, zugleich gefährlich und schmählich,,24. Um solcher Gefahr und solchem Schmäh zu entgehen, reitet Goethe neben der Kolonne der Soldaten mit nach vorne. Die Beobachtung des Krieges wird während der entscheidenden Stunden der Kanonade zu Selbstbeobachtung des ziemlich unmilitärischen Autors. "Ich hatte so viel vom Kanonenfieber gehört und wünschte zu wissen wie es eigentlich damit beschaffen sei. Langeweile und ein Geist den jede Gefahr zur Kühnheit, ja zur Verwegenheit aufruft, verleitete mich ganz gelassen nach dem Vorwerk la Lune hinaufzureiten. Dieses war wieder von den Unsrigen besetzt, gewährte jedoch einen gar wilden Anblick. Die zerschossenen Dächer, die herumgestreuten Weizenbündel, die darauf hie und da ausgestreckten tödlich Verwundeten und dazwischen noch manchmal eine Kanonenkugel, die sich herüberverirrend in den Überresten der Ziegeldächer klapperte". Er reitet weiter an die Stelle, wo die Kanonenkugeln über ihn hinwegfliegen. Was dann passiert und wie es sich auf ihn selbst auswirkt, beschreibt er so: "Es schien als wäre man an einem sehr heißen Orte, und zugleich von derselben Hitze völlig durchdrungen, so daß man sich mit demselben Element, in welchem man sich befindet, vollkommen gleich fühlt. Die Augen verlieren nichts an ihrer Stärke, noch Deutlichkeit: aber es ist doch als wenn die Welt einen gewissen braunrötlichen Ton hätte, der den Zustand sowie die Gegenstände noch apprehensiver macht. Von Bewegung des Blutes habe ich nichts bemerken können, sondern mir schien vielmehr alles in jener Glut verschlungen zu sein ... Bemerkenswert bleibt indessen, daß jenes gräßlich Bängliche nur durch die Ohren zu uns gebracht wird; denn der Kanonendonner, das Heulen, Pfeifen, Schmettern der Kugeln durch die Luft ist doch eigentlich Ursache an diesen Empfindungen,,25. Die Beobachtung des Krieges als Selbstbeobachtung - hier haben wir den "modemen" Goethe vor uns, für den der Krieg mehr und anderes ist als ein Schauspiel mit Szenen, aus denen man sich selbst weitgehend heraushalten kann.

23 24 25

Goethe. Kampagne (Anm. 5), 276. Goethe. Kampagne (Anm. 5), 279. Goethe. Kampagne (Anm. 5), 287 f.

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5. Die eigentlichen Interessen

So aufschlußreich und spannend Goethes Kriegsbeobachtungen im einzelnen und insgesamt auch sind, es braucht keine interpretatorischen Mühen, um aus seinem Text herauszulesen, daß ihn eigentlich etwas ganz anderes viel mehr interessiert. "Auf dem großen grünen ausgebreiteten Teppich (einer Wiese) zog ein wunderliches Schauspiel meine Aufmerksamkeit an sich: eine Anzahl Soldaten hatten sich in einen Kreis gesetzt und hantierten etwas innerhalb desselben. Bei näherer Untersuchung fand ich sie um einen trichterförmigen Erdfall gelagert, der von dem reinsten Quellwasser gefüllt oben etwa dreißig Fuß im Durchmesser haben konnte. Nun waren es unzählige kleine Fischchen nach denen die Kriegsleute angelten, wozu sie das Gerät neben ihrem übrigen Gepäcke mitgebracht hatten. Das Wasser war das klarste von der Welt und die Jagd lustig anzusehen. Ich hatte jedoch noch nicht lange diesem Spiele zugeschaut, als ich bemerkte, daß die Fischlein indem sie sich bewegten verschiedene Farben spielten,,26. Diesem Phänomen sinnt er nach. "Leidenschaftlich ohnehin mit diesen Gegenständen beschäftigt, machte mir's die größte Freude dasjenige hier unter freiem Himmel so frisch und natürlich zu sehen, weshalb sich die Lehrer der Physik schon fast hundert Jahre mit ihren Schülern in eine dunkle Kammer einzusperren pflegten". Der Blick auf das Kriegsgewimmel ist distanziert, der auf die Farben und ihre Veränderungen leidenschaftlich. Solche Differenz des inneren Engagements wird in der ,Kampagne' immer wieder deutlich: etwa im Gespräch mit dem Fürsten Reuß, das die ganze Nacht über fortgesetzt wird und dessen Gegenstand die Farben in der Natur sind ( ... ,,ich setzte, aufgeregt durch Fragen und Einreden, meine Lehre fort ..."). Für die Soldaten wird er während des Feldzugs zum Experten für seltsame Naturphänomene 27 . Und mitten im elenden Rückzug, auf dem "großen Küchwagen", der von sechs tüchtigen Zugpferden mühsam durch den Dreck gezogen wird, vertieft er sich in physikalische Studien. " ... in solchen Fällen ist ein Wörterbuch die willkommenste Begleitung, wo jeden Augenblick eine Unterbrechung vorfällt, und dann gewährt es wieder die beste Zerstreuung, indem es uns von einem zum anderen führt,,28. Das einzige Mal, wo er seinen Verdruß anderen gegenüber nicht verbergen kann, hat er sich von solcher Reiselektüre trennen müssen. Sofort, als er sie wieder zurückbekommt und ein wenig Zeit dafür ist, macht er sich erneut an seine Farbtafeln und an die "chromatischen Akten,,29. "Das Studium der Farben auch und gerade während dieses Feldzuges", schreibt Ekkehart Krippendorff in seinem kuriosen Goethe-Buch, "wurde von Goethe nicht als ,Flucht' verstanden, sondern als vorbildhafte Bewahrung der Vernunft in einer 26 27 28

29

9*

Goethe, Goethe, Goethe, Goethe,

Kampagne (Anm. Kampagne (Anm. Kampagne (Anm. Kampagne (Anm.

5), 5), 5), 5),

256 f. 258 ff. 310. 343.

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unvernünftigen We1t,,30. Diese Aussage verwechselt Prioritäten bei der Verteilung von Aufmerksamkeit mit einer moralischen Stellungnahme. Jedoch ist es schon bemerkenswert, daß während der Kampagne der Schlüssel für die Verteilung von Aufmerksamkeit von Goethe offenbar nicht verändert wird. Es kann in der Tat kein Zweifel darüber bestehen, daß er, wann immer es möglich war, seine Zeit und Energie zuvörderst Naturphänomenen und den Naturwissenschaften widmete3l .

III. Aus der Distanz Die "Kampagne in Frankreich" ist zwischen 1820 und 1822 niedergeschrieben und gleich darauf auch veröffentlicht worden. Zur Freude der Philologen hat Goethe sich bei der Arbeit am Text auf eine ganze Reihe von Fremdquellen gestützt, deren genauen Anteil am Text auszumachen wertvolle und erbauliche Germanistenarbeit ist32 • Außerdem hat sich zwischen 1792 und 1820 nun wirklich das europäische internationale System nachhaltig verändert, so daß es leichter war, auf bestimmte prophetische Aussprüche von damals zurückzukommen oder sie überhaupt erst jetzt zu formulieren. Das geistige Klima nach dem Wiener Kongreß war aber so, daß eine unbefangen offene Sprache über die Kampagne und manche ihrer Unerfreulichkeiten nicht opportun erschien. Goethe hat dies mit einiger List sogar in seinen Text eingebaut, wenn er dort einen "alten Degen" (Klischee für unpolierte Aufrichtigkeit) sagen läßt: " ... was er (Goethe) schreiben dürfte mag er nicht schreiben, und was er schreiben möchte wird er nicht schreiben,m. Im Grunde 30 Ekkehart Krippendorff, ,Wie die Großen mit den Menschen spielen'. Versuch über Goethes Politik, Frankfurt a.M. 1988, 104. Das Adjektiv kurios als Kennzeichnung dieser hübschen kleinen Studie ist hier als Sammelbegriff für eine Reihe widersprüchlicher Züge des Textes anzusehen: panegyrisch und anarchistisch, bildungsbürgerlich und utopisch. ,Um einen Goethe von ganz weit links bittend', könnte ein Alternativ-Titel des Textes sein. 31 Vgl. Hans Reiss, Goethe über den Krieg. Zur Campagne in Frankreich, in: ders., Formgestaltung und Politik. Goethe-Studien, Würzburg 1993, 226 - 249, hier 242. 32 Gustav Roethes Untersuchung von 1919 (Anm. 4) hat hier Pionierarbeit präsentiert. Zugleich zeichnet sie sich allerdings auch durch einen peinlichen Patriotismus aus, dessen studienrätliches Tremolo inzwischen ganz unerträglich geworden ist. So widmet er sein Buch zwei seiner Neffen und einigen Studenten "denen das hohe Glück beschieden war, in ungetrübtem Glauben an ihr Volk vor Verdun, in den Argonnen, der Champagne und in Flandern den schönen Tod für König und Vaterland zu sterben." Die philologische Goethe-Forschung ist freilich heute von derlei Positionen weit entfernt. Hilfreiche Arbeiten zu unserem Bezugstext sind u. a. KarlOtto Conrady, Goethe und die Französische Revolution, Frankfurt a. M. 1989; Richard Fisher, ,Dichter' und ,Geschichte': Goethe's Campagne in Frankreich, in: Goethe Yearbook 4 (1988), 235 - 274; Thomas P. Saine, Revolution und Reform in Goethes politisch-geschichtlichem Denken und in seiner amtlichen Tätigkeit zwischen 1790 und 1800, in: Goethe Jahrbuch 110 (1993), 147 - 162, und Reiner Wild, Krieg und Frieden, Gewalt und Recht. Zu Goethes Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution in Campagne in Frankreich 1792 und Belagerung von Maynz, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 92/ 93 (1988/89), 67 -79. 33 Goethe, Kampagne (Anm. 5), 346.

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stammt alles, was wir von Goethe über Valmy und die Kampagne wissen, aus einer Distanz-Betrachtung jener Ereignisse, was ihrer Schilderung viel an Unmittelbarkeit (im Positiven wie im Negativen) nimmt. In den folgenden Kapiteln soll diese von Goethe bereits in Gang gesetzte Bewegung, das Zurückdrehen des zooms gewissermaßen, fortgesetzt werden. Einige seiner Beobachtungen und Urteile von 1792 und/oder 1822 sollen aus noch weiterer historischer Distanz überprüft werden. 1. Revolution, politisch-militärisch

Am Ende des 18. Jahrhunderts findet in Europa, ausgehend von Frankreich, eine Umgestaltung des Krieges als eines Mittels der Politik statt. Diese Umgestaltung geht von der Politik aus und drückt sich in einer umfassenden Politisierungswelle aus. Die Revolution schafft sich die ihr gemäßen Streitkräfte. "Popular politicization in the early phase of the Revolution made the Coalition Wars more than abstract, dynastic WarS whose outcomes mattered little to the public. The days of kings contracting with mercenaries or leading standing armies of only a few hunderd thousand were numbered. War could no longer leave the majority of the population unaffected. The approaching armies of the European autocracies led to the involvement of the French people in the war, not only in the service of armies, but also in the production of war material; the coalescence of a national will; and commitment to the preservation of the goals and achievements of the Revolution,,34. Diese Sätze drücken die herrschende Meinung über den politisch-militärischen Wandel am Ende des 18. Jahrhunderts aus. Der Einfluß von politischem Enthusiasmus, einem neuen und militanten Nationalismus und einer Bedrohungsperzeption mit gesellschaftspolitischer Unterfütterung (die mit großem Haß vertriebenen Adligen hatten sich mit dem Feind verbündet), dieser Einfluß auf die Wehr- und die Kampfmotivation der französischen Soldaten war so groß, daß sie ungleich effizientere Soldaten waren als die abgestumpften und weitgehend entmotivierten Soldaten der Feudalarmeen. Es habe sich, schreibt etwa Otto Dann, schon bei Valmy gezeigt, daß die von republikanischem Geist erfüllten Franzosen "mit ihrem patriotisch-republikanischen Elan zu größeren militärischen Leistungen fahig waren als die altgedienten Söldnerheere der deutschen Fürsten. Die neuen, mit Grund- und Menschenrechten ausgestatteten Staatsbürger waren Soldaten geworden,,35. 34 Brian M. Downing, The Military Revolution and Political Change. Origins of Democracy and Autocracy in Early Modem Europe, Princeton, NJ. 1993, 137. 35 Otto Dann, Mitteleuropa im Zeichen der napoleonischen Herausforderung, in: Kriegsbereitschaft und Friedensordnung in Deutschland 1800-1814, hrsg. v. Jost Dülffer (Jahrbuch für Historische Friedensforschung 3 [1994]), Münster/Harnburg 1995, 7 -16, hier 9. Aufschlußreich ist Thomas P. Saine, Black Bread - White Bread. Gerrnan Intellectuals and the French Revolution, Columbia, South Carolina 1988; vgl. ferner Bärbel Raschke, Der

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Manche Autoren haben diese Umgestaltung von Politik und politisch-militärischem Verhältnis rückhaltlos idealisiert: "Eine ganz neue Art von Krieg wurde ... geboren: Krieg nicht im Dienste der Machtpolitik, sondern der politischen Ideen, von der einen Seite für die Solidarität der Throne, von der anderen für die Freiheit und die Menschenrechte,,36. So war es nun aber wirklich nicht; weder wurde Machtpolitik (= Politik, die zur Durchsetzung ihrer Ziele zum Einsatz von gröberen Mitteln der Drohung und des Zwangs neigt) abgelöst, noch spielten die allgemeinen "politischen Ideen" auf Seiten der Alliierten eine besonders wichtige Rolle. Man darf nicht aus dem Auge verlieren, daß der innere Zusarnrnenhalt, die Disziplin, die Kampfmotivation und das militärhandwerkliche Können einer Truppe von recht verschiedenen Wirkfaktoren abhängen. Nicht die unwichtigsten darunter sind binnenorganisatorische Faktoren wie der Führungsstil der Vorgesetzten. Und unter den oben geschilderten äußeren Umständen mangelhafter Verpflegung und katastrophaler hygienischer Verhältnisse brechen in der Regel auch die das meiste Vertrauen erweckenden politischen Ideen weg. Aber selbst, wenn man den französischen Truppen das im 19. Jahrhundert sich ausbreitende nationalistisch-patriotische Kampfverständnis bereits unterstellt, dann muß man sich immer noch fragen, ob die ergebnislos abgebrochene Kanonade von Valmy für die Franzosen aus diesen Gründen zu einem Triumph wurde oder ob nicht eine Menge historisch-politisch nicht sehr sachverständige Retrospektion in die Kennzeichnung dieses Tages als "Wendepunkt in der Geschichte Europas, wenn nicht der Welt,,37 eingegangen ist. Jedenfalls ist es - im doppelten Wortsinne - leicht komisch, in der Sekundärliteratur zu Goethes Beteiligung an der Kampagne diametral entgegengesetzten Urteilen über das, was sich dort abgespielt hat und über seine Rolle dabei, zu begegnen38 . 2. Valmy und die historische Kontingenz

Wenn eine historische Zäsur identifiziert, d. h. ja auch: zu einem guten Teil konstruiert wird, dann versteht es sich von selbst, daß man im Rückblick mit Überzeugungskraft auch all jene "Elemente des Neuen" ausfindig machen kann, die den Beginn dieser neu beginnenden historischen Sequenz markieren. Die Schlacht von Valmy, die ja eigentlich gar nicht stattfand39 , hat, betrachtet man sie unter Revolutionskrieg im Urteil historisch-politischer und literarischer Zeitschriften der Jahre 1792/93, in: Weimarer Beiträge 30 (1984), 305 - 318. 36 Buchwald, Goethe und das deutsche Schicksal (Anm. 8), 144. 37 Reiss, Goethe über den Krieg (Anm. 31), 226. 38 Man vergleiche etwa die Beschreibung von Goethes Verhältnis zum Krieg und zu den Offizieren bei Erich Weniger, Goethe und die Generale, Leipzig 1943, und Krippendorjf (Anm. 30). Unterschiedlicher könnte ein und dieselbe Person kaum beschrieben werden! 39 Nämlich in dem Sinne nicht stattfand, daß die Kanonade ergebnislos abgebrochen wurde und die feindlichen Heere eben nicht aufeinander losgingen.

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Absehung vom Goethe'schen (nicht so ganz echten) Prophententum, nicht gerade viel an solchen ,,Elementen des Neuen" aufzuweisen:

Erstens: Valmy hat das Überleben der Revolution nicht entschieden. Für den Entschluß des Herzogs von Braunschweig gab es neben den Motiven, die in seinem Charakter begründet waren, auch nachvollziehbare militärische Gründe. Der Vormarsch in Richtung auf Reims und Paris mit den vorhandenen Kräften wäre überaus risikoreich gewesen. Zweitens: Der Abbruch der Kanonade und der anschließende Rückzug nach über einwöchiger Untätigkeit der Koalitionstruppen unter schwierigen Wetterbedingungen können auch nicht einfach als militärischer Erfolg der Revolutionstruppen verbucht werden. Diese stellen, wie Uhle-Wettler schreibt, "ein interessantes Gemisch dar. Den Kern bilden alte Regimenter. Meist sind sie verwahrlost ... Neben den alten Regimentern stehen Freiwilligenbataillone ... ein buntes Gemisch von Idealisten, Abenteurern, Arbeitslosen, Galgenvögeln und Verbrechern. Paris schickt die ersten acht Infanteriebataillone zu Dumouriez. Der alte Haudegen ... läßt die Bataillone unter einem Vorwand antreten, fährt überraschend Artillerie vor sie auf, postiert Kavallerie hinter sie und tritt erst dann im Schutze einer weiteren starken Kavalleriebedeckung seinen Truppen gegenüber. Er muß die Auslieferung wenigstens der schlimmsten Verbrecher erzwingen, wenn er nicht vornherein auf Zucht, Ordnung und damit Gehorsam verzichten Will,,40. Das hört sich nicht nach enormer militärischer Effizienz an, selbst wenn man der Eloquenz des Militärhistorikers nicht ganz traut und den stabilisierenden Einfluß der Linientruppen auf die französischen Heere von Qumouriez und Kellermann höher ansetzt. Drittens: Man kann Valmy nicht als Station auf dem Entwicklungsweg der Infanterietaktik ansehen, also etwa als frühes Beispiel für die Überlegenheit der aufgelockerten Schützenordnung gegenüber der Lineartaktik, denn es ist zu solchen Infanterieeinsätzen gar nicht gekommen. Kurz, es bleibt wohl nichts anderes übrig, als sich zuletzt doch dem Urteil UhleWettlers anzuschließen: "Die epochemachende Bedeutung der Kanonade kann ... nicht in ihren militärischen Folgen gesucht werden,,41. In ihren Begleitumständen auch nicht. Freilich: Ein Jahr später sah alles anders aus. Mit der levee en masse wird es der französischen Revolutionsregierung möglich, ein Massenheer von fast 800.000 Mann aufzustellen, und solche Größenordnung allein sprengt schon das bis dahin herkömmliche Maß. Daß hiermit der politischen Revolution auch eine militärische folgte, daß nun das "dämonische Zeitalter der Volkskriege" (Uhle-Wettler), der Massenarmeen, der Nationalisierung und Industrialisierung des Krieges beginnt, läßt sich nicht leugnen. Aber Valmy? Die aus Unentschlossenheit und innerer Distanzierung von den Umständen der Kampagne seitens ihres Oberbefehlshabers 40 41

Uhle-Wettler, Höhe- und Wendepunkte (Anm. 14),62. Uhle-Wettler, Höhe- und Wendepunkte (Anm. 14),67.

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entstandene Niederlage der Koalitionstruppen hat den Anführern der Revolution die Möglichkeit gegeben, Atem zu schöpfen. Valmy bedeutet Zeitgewinn für Frankreich. Als militärisches Ereignis hat die Kanonade also eher die Bedeutung einer historischen Arabeske. Jedenfalls war sie nicht der Beginn einer neuen Epoche der Weltgeschichte, nicht ein ,,historisches Ereignis" im Sinne von Amo Borst. 3. Bürgerliche Kriegsfeme und ein memento belli

"Auf dem Weg von Trier nach Luxemburg erfreute mich bald das Monument in der Nähe von Igel ... Es ist freilich schon aus einer spätem Zeit, aber man sieht immer noch die Lust und Liebe, seine persönliche Gegenwart mit aller Umgebung und den Zeugnissen von Tätigkeit sinnlich auf die Nachwelt zu bringen. Hier stehen Eltern und Kinder gegeneinander, man schmaust im Familienkreise; aber damit der Beschauer auch wisse woher die Wohlhäbigkeit komme, ziehen beladene Saumrosse einher, Gewerb und Handel wird auf mancherlei Weise vorgestellt,,42. Bei der Betrachtung von diesem Obelisk gibt sich Goethe, wie er schreibt, angenehmen und fruchtbaren Gedanken hin, aus denen er herausgerissen wird, weil der Feldzug, hier noch in seinem Anfangsstadium, weitergeht. Fast zwei Monate später kommt Goethe ein weiteres Mal an dem Obelisken vorbei, jetzt im Rückzug von Valmy. Er betrachtet ihn auf's Neue, jetzt eingehender. "Alle Flächen sodann deuten auf die glücklichsten Familienverhältnisse, übereindenkende und wirkende Verwandte, redliches genußreiches Zusammenleben darstellend. Aber eigentlich waltet überall die Tätigkeit vor ... In einem Felde scheinen sich Geschäft-überlegende Handelsleute versammelt zu haben ... beladene Schiffe, Delphine als Verzierung, Transport auf Saumrossen, Ankunft von Waren und deren Beschauen, und was sonst noch Menschliches und Natürliches mehr vorkommen dürfte,,43. Dieses spätrömische Monument evoziert im Betrachter und im Leser der Betrachtung das Gegenbild einer Reichtum auf friedliche Weise aufhäufenden und auf humane Art genießenden Gesellschaft. Das "Menschliche" und das "Natürliche" scheinen weit weg vom Krieg angesiedelt zu sein. Der Attraktion einer bürgerlichen, Handel treibenden und kriegs freien Gesellschaft entzieht sich Goethe nicht; die Komposition der "Kampagne" gibt dem Monument von Igel eine besondere Bedeutung, rahmen die Betrachtungen darüber doch die Kriegshandlung ein. Allerdings unterschlägt der utopieresistente Autor auch nicht, wer damals in der Regel solche Monumente errichtet hat - die "Kriegskommissarien" nämlich, also Personen, die ihren Wohlstand den weniger friedlichen Zügen der Geschehnisse damals verdankten. 42 43

Goethe, Kampagne (Anm. 5), 243. Goethe, Kampagne (Anm. 5), 343.

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So bleibt alles in der Schwebe. Der Krieg verliert seinen Rokoko-Charakter, ja dieser war, das sah Goethe trotz all seiner Privilegien als Beobachter klar, ohnehin nur Schein und verlor sich im Ernstfall. Daß die sozialen, politischen und nicht zuletzt auch die waffentechnischen Veränderungen den Krieg des 19. Jahrhunderts aber eher gewalttätiger machen werden, was Goethe und seine Zeitgenossen vielleicht 1792 noch nicht, aber 1822 ganz gewiß wissen konnten, das ist ein Gedanke, der sich in der "Kampagne in Frankreich" nicht findet. Goethe hält seine Distanz zum nationalistischen, militärische Befreiung verherrlichenden Bürgertum, das späterhin die militärischen Verhaltensweisen und Wertekataloge der Aristokratie übernehmen und populistisch weiterentwickeln wird. Stattdessen drückt sich bei ihm eine "aufgeklärte" bürgerliche Hoffnung darauf aus, daß der Krieg durch friedlichen Handel und Wandel ersetzt werden möge. Allerdings bietet er zu ihrer Stützung nur historische Bilder an, zarte Reminiszenzen ohne irgendwe1che geschichtsphilosophischen Ansprüche. Und all das wird, beim Nachdenken über die Betrachtung des Obelisken wieder halb bis dreiviertel zurückgenommen. Schluß: Dabeisein und ein wenig nachträgliche Stilisierung An Karl von Knebel schreibt Goethe am 27. September 1792: "In diesen vier Wochen habe ich manches erfahren und dieses Musterstück von Feldzug gibt mir auf viele Zeit zu denken. Es ist mir lieb daß ich das alles mit Augen gesehen habe und daß ich, wenn von dieser wichtigen Epoche die Rede ist sagen kann: et quorum pars minima fui ... in Opticis habe ich einige schöne Vorschritte getan. Ich lese französische Schriftsteller die ich sonst nie würde gesehen haben und so nütze ich die Zeit so gut ich kann ... Die Gegend ist abscheulich ... ,,44. Hier haben wir wohl die erste und unmittelbare Fassung der berühmten Weissagung von 1822, und ihre ironische Grundierung ist unübersehbar. Für Goethe war, bei allen grundsätzlichen Vorbehalten dem Krieg gegenüber, der eigene Augenschein wichtig. Anschauung, Miterleben oder, wenn denn ein kühler handwerklicher Soziologiebegriff erlaubt ist, teilnehmende Beobachtung, den Vorgängen sich aussetzen und ausprobieren, wie dabei empfunden wird, das suchte Goethe bei der Kampagne in Frankreich. Wenn man seinen Text wiederholt ijest, schleicht sich beim Lesen die Empfindung ein, daß Goethe bei dieser teilnehmenden Beobachtung nicht immer, aber doch recht oft ein wenig geistesabwesend war, weil ihn andere Dinge ("Vorschritte in opticis") eigentlich im Moment mehr interessierten. Die große Politik interessierte ihn allerdings kaum. Seine Schilderungen bleiben weitgehend frei von politischen Deliberationen, was sicher teilweise an den Zeitumständen während der Niederschrift liegt. So etwas war jedoch ohnehin nicht seine Art. 44 Johann Wolfgang Goethe, Briefe der Jahre 1786-1814, in: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. v. Ernst Beutler, Bd. 19,2. Aufl., Zürich! Stuttgart 1962, 199f.

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Die Goethe-Fans aller politischer Lager haben sich nicht genug damit tun können, seinen berühmte Ausspruch am Abend der Kanonade wegen seiner historischen Weitsicht zu preisen 45 . Da sollte man doch zurückhaltender sein. Die Weitsicht ergibt sich aus dem Zeitsprung von 1792 bis 1820/22. Und sie wird auch sozusagen am falschen historischen Objekt demonstriert. Denn Valmy entschied noch nichts.

45 Kurt Hildebrandt, um ein etwas entlegenes Beispiel zu zitieren, spricht in diesem Zusammenhang von "Goethe als Seher und mehr", vgl. Kurt Hildebrandt, Die Idee des Krieges bei Goethe Hölderlin Nietzsche, in: Das Bild des Krieges im deutschen Denken, Bd. 1, hrsg. v. August Faust, Stuttgart/Berlin 1941,373 -409. hier 383.

"People's War or Standing Army?" Die Debatte über Militärwesen und Krieg in den Vereinigten Staaten von Amerika im Zeitalter der Französischen Revolution

Von ]ürgen Heideking, Köln

Übten die Amerikanische Revolution und der Unabhängigkeitskrieg einen nachhaltigen Einfluß auf die politisch-militärische Entwicklung in Europa aus, leisteten die amerikanischen ,,Patrioten" gar einen Beitrag zur Entfesselung der Kriegsgöttin Bellona an der Schwelle zum 19. Jahrhundert? War das Echo der Schüsse von Lexington und Concord, abgefeuert am 19. April 1775 von amerikanischen Milizionären auf reguläre englische "Rotröcke", wirklich ,,rund um den Erdball" zu hören, wie die patriotische Presse umgehend behauptete? Die ältere Forschung hat diese Fragen durchaus bejaht, indem sie das Geschehen in den 13 englischen Festlandskolonien als Auftakt zu einem ,,zeitalter der demokratischen Revolutionen" interpretierte und den "Volkskriegs"-Charakter des Kampfes gegen das Mutterland hervorhob. Die "fonnalisierte Linientaktik der europäischen Söldnerheere" wurde mit der "individualistischen Kampfweise amerikanischer Bürger-Soldaten" kontrastiert, die Ähnlichkeiten zwischen dem Unabhängigkeitskrieg und den französischen Revolutionskriegen wurden betont, und Refonnern wie Gneisenau wurde nachgesagt, sie hätten taktische und ideologische Inspirationen von Amerika empfangen. Als erster Historiker meldete Peter Paret schon 1964 Bedenken gegen diese Sichtweise an, weil er die Wurzeln der Veränderungen im militärischen Denken und in der militärischen Praxis tiefer im 18. Jahrhundert verankert sah. Die Erfahrungen der amerikanischen Revolutionäre schienen bereits existierende Trends - zu einer offeneren Kampftaktik der Infanterie; zur allmählichen Amalgamierung von ,,irregulären" Einheiten wie Jägern, Chasseurs und Tirailleurs mit den regulären Linientruppen; zu einer größeren logistischen Flexibilität und Improvisationsbereitschaft - eher zu verstärken als zu initiieren 1• 1992 nahm Paret diese Gedanken wieder auf, maß aber den spezifisch amerikanischen Umständen, v.a. der politischen Motivation der Siedler, dem Fehlen eines zentralistischen Staatsverständnisses und den "fundamental elements of space and force" noch höhere Bedeutung zu. Auf diese grundSätzlichen Unterschiede führte er den Mangel an detaillierten Auseinandersetzungen mit dem Unabhängigkeitskrieg und dessen 1 Peter Paret, Colonial Experience and European Military Reform at the End of the Eighteenth Century, in: Bulletin ofthe Institute ofHistorical Research 37 (1964), 47 -59.

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Lehren in der zeitgenössischen europäischen Militärliteratur zurück. Die Auseinandersetzung zwischen Siedlern und Kolonialmacht wurde also nicht zum Vorbild für Kriegsplanung und Kriegführung in Europa; allenfalls bekräftigte die siegreiche Revolution das Verlangen der europäischen Reformer nach Erweckung des "natürlichen" Patriotismus und nach einer generellen Abkehr von den Denkweisen und Praktiken des Ancien Regime 2 . Das letzte Wort zu den wechselseitigen sicherheitspolitischen und militärischen Einflüssen zwischen Nordamerika und Europa im Zeitalter der demokratischen Revolutionen ist damit wohl noch nicht gesprochen. Dazu bedürfte es einer gründlicheren Erforschung und Analyse der Quellen, die auch an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Es hat jedenfalls den Anschein, als sei das Erlebnis des Unabhängigkeitskrieges zu Beginn der Französischen Revolution noch recht lebhaft im kollektiven Bewußtsein der Europäer präsent gewesen, dann jedoch immer mehr vom dramatischen Geschehen in Europa überlagert worden, bis es lediglich als ferner Mythos eines ursprünglichen, tugendhaften und freiheitsliebenden, die "Ketten der Tyrannei" sprengenden Volkes erhalten blieb 3 . Das kann kaum verwundern, lagen doch - von Europa aus gesehen - die 13 Kolonien, die sich gerade zu den Vereinigten Staaten von Amerika zusammengeschlossen hatten, am Rande der zivilisierten Welt, an der Peripherie des Mächtesystems. Selbst dem karibischen Raum, den sog. "West Indies", maßen die Europäer um diese Zeit größere strategische und wirtschaftliche Bedeutung zu als den ehemaligen englischen Besitzungen auf dem Festland. Dennoch vollzogen sich gerade dort Entwicklungen, die - selbst wenn sie keine tiefen Spuren im europäischen Denken hinterließen von erheblichem Belang für den späteren Aufstieg der USA zur Weltmacht sind und deshalb wissenschaftliche Beachtung verdienen. Der vorliegende Beitrag versucht deshalb, nicht nur den Unabhängigkeitskrieg, sondern das gesamte militärisch relevante Revolutionsgeschehen von 1775/76 bis 1812/14 in den historischen Kontext zu stellen und als Teil des Übergangsprozesses von der ständisch2 Ders., The Relationship Between the American Revolutionary War and European Military Thought and Practice, in: ders. (Hrsg.), Understanding War. Essays on Clausewitz and the History of Military Power, Princeton 1992, 26 - 38. 3 Zur zeitgenössischen Wahrnehmung des amerikanischen Geschehens in Europa vgl. Horst Dippel, Deutschland und die amerikanische Revolution. Sozialgeschichtliche Untersuchung zum politischen Bewußtsein im ausgehenden 18. Jahrhundert, Köln 1972; Durand Echeverria, Mirage in the West: A History ofthe French Image of American Society to 1815, New York 1966; Peter P. Hili, French Perceptions of the Early American Republic, 17831793, Philadelphia 1988; Patrice Higonnet, Sister Republics: The Origins of French and American Republicanism, Cambridge, Mass. / London 1988; Roger G. Kennedy, Orders From France: The Americans and the French in a Revolutionary World, 1780-1820, New York 1989. Im Mittelpunkt des französischen Interesses standen die Verfassungen und Grundrechteerklärungen der amerikanischen Staaten. Der anflingliche Einfluß der USA auf die französischen Revolutionäre wird aber z. B. auch darin deutlich, daß der Marquis de Lafayette, der im Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatte, als Befehlshaber der 1789 gebildeten französischen Bürgerwehr (Garde nationale) fungierte und daß die ersten Revolutionsfeste als "Fetes de la Federation" bezeichnet wurden.

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traditionellen Gesellschaft des Ancien Regime zum demokratisch-kapitalistischen Nationalstaat zu bewerten. Dabei wird zunächst gefragt werden, inwiefern man den Unabhängigkeitskrieg als einen ,,revolutionary war" bezeichnen kann und was seinen ,,revolutionären Charakter" ausmachte. Der zweite Teil beschäftigt sich dann mit der Debatte, die in den USA über die politischen und militärischen "Lehren aus dem Unabhängigkeitskrieg" entbrannte und die mit der Annahme der neuen Bundesverfassung und der Bill 0/ Rights 1788/91 ihren Höhepunkt erreichte, aber noch keineswegs beendet war. Abschließend soll geklärt werden, ob sich das amerikanische Militärkonzept, das im Zuge dieser leidenschaftlichen Debatte Gestalt annahm, im Krieg von 1812/14 gegen Großbritannien bewährte. Die Beantwortung dieser Fragen kann zumindest ansatzweise Aufschluß darüber geben, wie die Amerikaner "Sicherheit" für ihr neues republikanisches Gemeinwesen definierten, auf welche Weise sie die äußere und innere Sicherheit gewährleisten wollten und mit welchen Mitteln sie das zentrale Problem zu lösen gedachten, "to protect liberty without, in the process, destroying it,,4. I. Der revolutionäre Charakter des Unabhängigkeitskrieges Die neuere amerikanische Forschung hat nachgewiesen, daß der Unabhängigkeitskrieg nicht auf ein simples Gegeneinander von europäischer Kolonialmacht und freiheitsliebenden amerikanischen Siedlern reduziert werden darf. Vielmehr spricht man heute von einem "triangulären" Konflikt, bei dem amerikanische Patrioten und Briten nicht nur gegeneinander kämpften, sondern gleichzeitig auch um die Sympathie und Loyalität der Bevölkerung in den 13 Festlandskolonien rangen. Es wird geschätzt, daß in den Anfangsjahren des Krieges allenfalls ein Drittel der 2,8 Millionen weißen Amerikaner eindeutig auf Seiten der Patrioten stand, während ein anderes Drittel (die sog. loyalists oder tories) der Krone die Treue hielt, und das letzte Drittel aus religiösen oder anderen Gründen neutral zu bleiben versuchte. Nicht wenige Amerikaner machten offenbar ihre politische Haltung von den Wandlungen des Kriegsglücks und den Erfolgsaussichten der Rebellion abhängig. Zusätzlich kompliziert wird das Bild durch die Mitwirkung von Afro-Amerikanern (Sklaven wie freien Schwarzen), die als Soldaten auf beiden Seiten dienten, sowie von Indianern (Native Americans), die hauptsächlich mit den Briten verbündet waren 5 . 4 Richard H. Kohn, The Constitution and National Security: The Intent of the Framers, in: The United States Military Under the Constitution of the United States, 1789-1987, hrsg. v. dems., New York/London 1991,61-94, v.a. 63. 5 Die Vorgeschichte behandelt lohn Shy, Toward Lexington: The Role of the British Army in the Corning of the American Revolution, Princeton, NJ. 1965. Wichtige neuere Gesamtdarstellungen des Unabhängigkeitskrieges sind Robert Middlekauff, The Glorious Cause: The American Revolution, 1763 - 1789 (The Oxford History of the United States, 11), New York/Oxford 1982; Don Higginbotham, The War of American Independence: Military Attitudes, Policies, and Practice, 1763 - 1789, New York 1971; Charles Royster, A Revolutionary

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Unter diesen Voraussetzungen trug der Krieg von Anfang an ein Doppelgesicht. Auf der einen Seite war es eine Auseinandersetzung im herkömmlichen militärischen Sinne, bei der sich Armeen und Flotten mit den strategischen und taktischen Konzepten des 18. Jahrhunderts bekämpften: Die amerikanische Continental Anny unter George Washington, seit 1778 unterstützt durch eine französische Armee unter General Rochambeau, gegen reguläre britische Truppen (einschließlich deutscher Söldner), sowie englische Flotteneinheiten gegen amerikanische Kaperschiffe (Privateers) und eine von Admiral de Grasse befehligte französische Flotte. In diesem Krieg beachteten beide Seiten weitgehend die damals üblichen "zivilisierten" Verhaltensregeln. Die Royal Navy richtete zwar einige Verwüstungen in den neuenglischen Küstenstädten an, doch insgesamt verfolgten die Briten in den von ihnen besetzten Gebieten keine "Strategie der verbrannten Erde". Das hätte auch ihrer erklärten Absicht widersprochen, die Mehrheit der Kolonisten für ein Verbleiben unter der Krone zu gewinnen. Es gab Klagen über die Behandlung von Kriegsgefangenen, aber die meisten von ihnen, insbesondere die Offiziere, wurden nach kurzer Zeit ausgetauscht. Schwerwiegende Übergriffe von britischen Soldaten gegen Zivilisten scheinen kaum vorgekommen zu sein. Als die Engländer unter Lord Cornwallis im Oktober 1781 bei Yorktown kapitulierten, wurde ihnen eine korrekte und ehrenhafte Behandlung zuteil. Daneben und darüber hinaus entwickelte sich aber, insbesondere in den Südstaaten und an der westlichen Frontier, ein unkonventioneller, ,,irregulärer" Krieg, ein Guerrilla- und Bürgerkrieg, der ohne feste Regeln und teilweise mit brutaler Härte geführt wurde. Die Erklärung für den letztendlichen Sieg der Patrioten (oder dafür, daß die Aufständischen den Krieg nicht verloren) ist darin zu suchen, daß sie es besser verstanden als die Briten und deren Verbündete, diese beiden Formen des Kampfes, die konventionelle und die irreguläre, miteinander zu verbinden. Ein solches Vorgehen entsprach allerdings keineswegs planvoller Absicht, sondern war aus der Not und den Niederlagen der ersten Kriegsphase geboren. Der vom amerikanischen Konföderationskongreß eingesetzte Oberbefehlshaber George Washington beabsichtigte nicht, einen "Volkskrieg" zu führen, sondern war in erster Linie darauf aus, seine Continental Anny als Symbol der Geschlossenheit und der Legitimität der Vereinigten Staaten zu erhalten und zu stärken. Der Kongreß hatte eine Armee von 75.000 Soldaten vorgesehen, die mit dem Versprechen von Soldzahlung und Landzuweisung im Westen teils für ein Jahr, teils für drei Jahre angePeople at War: The Continental Army and the American Character, 1775 - 1783, Chapel Hill, N.C. 1979; Jeremy Black, War for America: The Fight for Independence, 1775 - 1783, Phoenix Mill 1991. Zur Interpretation vgl. auch Ronald Hoffmanl Peter J. Albert (Hrsg.), Arms and Independence: The Military Character of the American Revolution, Charlottesville, Va. 1984; Thomas C. Barrow, The American Revolution as a Colonial War for Independence, in: William and Mary Quarterly 25 (1968), 452 - 464; Jürgen Heideking, Die demokratische Herausforderung: Revolution, Unabhängigkeitskrieg und Bundesstaatsgründung in Nordamerika, 1763 -1815, in: Revolution und Krieg. Zur Dynamik historischen Wandels seit dem 18. Jahrhundert, hrsg. v. Dieter Langewiesche, Paderbom I München I Wien I Zürich 1989,33-55.

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worben werden sollten; tatsächlich stieg die Stärke der Kontinentalarmee selten über 15.000 Mann an, und in den Winterlagern von Valley Forge (1777178) und Morristown (1779/80) sank sie sogar auf weit unter 10.000 ab. Die Soldaten stammten zum größten Teil aus der Unterschicht der kolonialen Gesellschaft oder waren Neueinwanderer, für die materielle Anreize nicht selten die Hauptrolle spielten; den Angehörigen des Offizierkorps, die sich aus der Mittelschicht und der kolonialen Elite rekrutierten (und durch etliche, zumeist adlige Revolutionssympathisanten und Abenteurer aus Europa verstärkt wurden), war überdies ,,half pay for life" zugesagt worden, was bei Kriegsende auf eigenen Wunsch hin in eine Einmalzahlung (..five years full pay") umgewandelt wurde. Unter Washingtons Führung erbrachten Offiziere und Mannschaften, die vom Baron von Steuben mit dem preußischen Drill vertraut gemacht wurden, erstaunliche militärische Leistungen; allein und aus eigener Kraft hätten sie jedoch der britischen Übermacht nicht standhalten können. Neben der Kontinentalarmee existierte als alte Einrichtung der Kolonien die Miliz (militia), die nach dem Prinzip der ..universal military obligation" alle weißen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren erlaßte. (In der Praxis hatten sich allerdings zahlreiche Ausnahmen und ein System der substitutions eingebürgert, das wohlhabenden Bürgern erlaubte, Ersatzleute zu stellen.) Diese Milizen, die seit der Unabhängigkeit den neuen Staatenregierungen und -parlamenten unterstanden, erfüllten im Verlauf des Krieges eine zweifache Aufgabe: Zum einen bildeten sie die Rekrutierungsreserve und dienten, in Staatenkontingente zusarnmengefaßt, zur Verstärkung der Kontinentalarmee; zum anderen übernahmen sie lokale Verteidigungsaufgaben und wurden zum Träger des irregulären, unkonventionellen Freiheitskampfes. Während sie in der ersten Funktion, wie viele Klagen Washingtons und seiner Offiziere verraten, selten effektiv und manchmal sogar hinderlich waren6 , trugen sie in ihrer zweiten, der eigentlich ,,revolutionären" Funktion maßgeblich zur Niederlage der Engländer und deren Verbündeten bei. Die patriotischen Milizen erwiesen sich nämlich überall dort, wohin der Arm der regulären britischen Truppen nicht reichte, wo aber auch die Kontinentalarmee nicht präsent sein 6 Milizeinheiten standen meist nur für einen kurzen Zeitraum sowie für Aufgaben innerhalb der Grenzen ihres eigenen Staates zur Verfügung. George Washington beklagte sich Ende 1776 beim Kongreß bitter über die Milizen: ..... they come in you cannot tell how, go, you cannot tell when; and act, you cannot tell where; consume your provisions, exhaust your stores, and leave you at last in a critical moment ... To place any dependence upon the militia is assuredly resting upon a broken starr'. Zitiert nach R. H. Kohn, Constitution and National Security (Anm. 4), 75; Allan R. Millett, The Constitution and the Citizen-Soldier, in: R. H. Kohn, The United States Military Under the Constitution (Anm. 4), 100. Eine Zentralisierung des Milizwesens, wie sie in England im 18. Jahrhundert betrieben wurde, hatte in den Kolonien nicht stattgefunden. V gl. dazu Lawrence D. Cress. Citizens in Anns: The Anny and Militia in American Society until the War of 1812, Chapel HilI, N.C. 1982; lohn Shy. A New Look at the Colonial Militia, in: ders. (Hrsg.), A People Numerous and Anned. Ref1ections on the Military Struggle for American Independence, New York 1976, 21- 34; zur Bürgermiliz in Schottland vgl. den Beitrag von Matthias Bohlender in diesem Band.

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konnte, als das entscheidende Ordnungselement. Sie sorgten ~ür die politische Aufklärung (oder ideologische Indoktrinierung) der Bevölkerung, sie nahmen Eide auf die neuen Verfassungen ab und bestraften "Verräter", und sie bekämpften die von den Briten ausgerüsteten und unterstützten loyalistischen Milizen. Auf diese Weise durchkreuzten sie die britische Strategie, die nach dem Scheitern der "Polizeiaktionen" von 1776/77 darauf abzielte, von festen Plätzen aus die aufständischen Gebiete zu isolieren und zu "pazifizieren". Vielmehr gelang es ihnen, den Einfluß der Briten allmählich zurückzudrängen, die Moral der Loyalisten zu schwächen und immer größere Landesteile unter die eigene Kontrolle zu bringen. Vor allem im Süden entwickelte sich dabei auf beiden Seiten eine Form der Kriegführung, die in der europäischen Militärliteratur als "la petite guerre" oder "war of posts" bezeichnet wurde. Dazu passen auch die Aufrufe der Engländer an die Sklaven, sich gegen ihre Herren zu erheben oder zu den königstreuen Truppen überzugehen. Auf diese fundamentale Bedrohung ihrer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung reagierten die Südstaatler äußerst erbittert; in Virginia und Maryland gingen sie nun sogar dazu über, freie Schwarze und Sklaven für den Kampf gegen die Briten zu mobilisieren. Partisanen- und Guerrillatrupps, die weitgehend autonom operierten, machten häufig keine Gefangenen und drangsalierten die Zivilbevölkerung. Gleichzeitig führten patriotische Staatenmilizen an der offenen Siedlungsgrenze im Westen Präventiv- und Vergeltungsschläge gegen Indianerstämme, die zuweilen in regelrechte Vernichtungsfeldzüge ausarteten, bei denen weder Frauen noch Kinder geschont wurden7 • Aus der Sicht Washingtons, Steubens und anderer Offiziere handelte es sich hierbei um bedauerliche Begleiterscheinungen eines langen Krieges, der den Amerikanern aufgezwungen worden war. Unter den Führern der Revolution gab es nur einen General, Charles Lee, der für einen "echten", auf die patriotischen Milizen gestützten Volkskrieg eintrat8 . Interessanterweise hatte Lee, der ideologisch den radikalen Whigs zuneigte, die meiste Zeit seines Lebens in Europa verbracht und war mit Theorie und Praxis des europäischen Militärwesens bestens vertraut. Als sich die Kontinentalarmee nach den anfänglichen Niederlagen aufzulösen drohte, wollte Lee die Milizen in eigenständig operierende Guerrillaverbände umformen und den Widerstand gegen die Briten notfalls westlich der Alleghenies fortsetzen. 7 Vg!. lohn Shy, The American Revolution: The Military Conflict Considered as a Revolutionary War, in: Essays on the American Revolution, hrsg. v. Stephen J. Kurtz und James H. Hutson, Chapel Hili, N.C. 1973, 121- 56; Ronald Hoffman u.a. (Hrsg.), An Uncivil War: The Southern Backcountry During the American Revolution, Charlottesville, Va. 1985; Mark V. Kwasny, Washington's Partisan War, 1775 -1783, Kent, Ohio 1996. Aus britischer bzw.loyalistischer Sicht vg!. Marian BalderstonlDavid Syrett (Hrsg.), The Lost War: Letters from British Officers During the American Revolution, New York 1995; Douglass Adair I lohn A. Schutz (Hrsg.), Peter OIiver's Origin & Progress of the American Rebellion. A Tory View, Stanford, Ca!. 1961; Bruce E. Burgoyne (Hrsg.), A Hessian Diary of the American Revolution. By Johann Conrad Döhla, Norman, Okla. 1990. 8 Zum folgenden vg!. lohn Shy, American Strategy: Charles Lee and the Radical Alternative, in: ders., A People Numerous and Armed (Anm. 6), 133 - 162.

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Sein Vorbild war die Schweiz, deren Bürger von einem republikanischen Geist beseelt seien, den keine Macht der Welt brechen könne. Im Kongreß blieben die Anhänger Lees aber in der Minderheit, zumal sich der General von Ende 1776 bis April 1778 in britischer Gefangenschaft befand und nach seinem Austausch einen offenen Streit mit dem Oberfehlshaber Washington vom Zaun brach. Während Washington weiterhin auf die Kontinentalarmee setzte und eine eher konventionelle Strategie der Verzögerung und Abnutzung betrieb, verlangte Lee die Abkehr vom "europäischen Muster" der Kriegführung, einen auf allgemeine Dienstpflicht gegründeten "popular war of mass resistance,,9 und die Anwendung einer beweglichen Infanterietaktik, wie sie später von den französischen Revolutionsheeren praktiziert wurde. Nach einem Kriegsgerichtsverfahren geriet er aber politisch vollends ins Abseits und starb bereits 1782. Lees Scheitern darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Unabhängigkeitskrieg zumindest teilweise ein revolutionärer Krieg war, der das Denken der Menschen veränderte und neue Dimensionen der Kriegführung offenbar werden ließ. Dieses revolutionäre Moment läßt sich in drei Punkte zusammenfassen: Erstens spielten Politik und Ideologie eine viel wichtigere Rolle als in den europäischen Kabinetts- und Kolonialkriegen des 18. Jahrhunderts; in der Bedeutung, die beide Seiten der Beeinflussung der öffentlichen Meinung (public opinion) zumaßen, spiegelten sich das Wachstum der Mittelschicht und der Übergang zur Volkssouveränität wider, auf der die neuen amerikanischen Staatenverfassungen beruhten. Ähnlich wie spätere antikoloniale Befreiungskriege trug der Unabhängigkeitskrieg auf diese Weise zur Nationsbildung und zur Vermittlung nationaler Identität bei lO • Zweitens wurde die Bevölkerung nicht nur politisch-ideologisch beeinflußt, sondern über das Milizsystem auch mobilisiert und in die militärische Auseinandersetzung hineingezogen. In der Kontinentalarmee dienten über die sechs Kriegsjahre hinweg insgesamt ca. 230.000 Soldaten und Offiziere, an Aktionen der Miliz waren aber zweifellos weit über eine Million Amerikaner beteiligt 11. Drittens schließlich brach im Unabhängigkeitskrieg zumindest temporär und in einzelnen Regionen die Unterscheidung zwischen militärischer und ziviler Sphäre zusammen, oder - wie John Shy es ausdrückt - die in Europa angestrebte Trennung der "hard military shell" vom "soft center of society" wurde aufgehoben 12. Die Verbindung von konventionellem Krieg und Guerrilla- bzw. Bürgerkrieg kommt nicht Ebd., 161. Zum Zusammenhang zwischen Kriegführung und Nationsbildung vgl. Jürgen Heideking, Einheit aus Vielfalt: Die Entstehung eines amerikanischen Nationalbewußtseins in der Revolutionsepoche, in: Volk - Nation - Vaterland (Studien zum 18. Jahrhundert, 18), hrsg. v. Ulrich Herrmann, Hamburg 1996, 101-17; ders., Das Englandbild in der nordamerikanischen Publizistik zur Zeit der Revolution, in: Feindbilder: Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit, hrsg. v. Franz Bosbach, Köln! Weimar!Wien 1992, 179-199. 11 J. Shy, A People Numerous and Armed (Anm. 6), 197. 12 Ebd., 236. 9

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zuletzt darin zum Ausdruck, daß der Exodus der unterlegenen Loyalisten nach Kanada und Europa (nicht mitgerechnet die über 20.000 geflohenen Sklaven) gemessen an der Gesamtbevölkerung der USA schwerer ins Gewicht fallt als die Flucht bzw. Vertreibung der Revolutionsgegner aus Frankreich ab 1789. Das mag man entweder als zukunftsweisend oder als eine Regression in die chaotischen Zeiten der Religionskriege bzw. des englischen Bürgerkriegs betrachten; auf jeden Fall stellt es eine markante Abweichung von den "aufgeklärten" Praktiken und Denkweisen dar, die sich im Europa des 18., Jahrhunderts verbreitet hatten - deren Wirkung aber auch dort um diese Zeit bereits zu verblassen begann. 11. Die umstrittenen Lehren aus dem Unabhängigkeitskrieg

Schon bei einem kursorischen Blick auf die öffentlichen und privaten 'Äußerungen der Nachkriegszeit rallt auf, wie unterschiedlich der Krieg wahrgenommen und wie gegensätzlich die Gründe für seinen günstigen Ausgang beurteilt wurden. Wahrend die meisten Amerikaner rasch zur Verklärung und Mythisierung des Geschehens neigten, artikulierte ein kleiner Teil der Elite, insbesondere ehemalige Offiziere um Washington und Hamilton, die Probleme und Schwierigkeiten, die im Krieg zutagegetreten waren, und drang im Interesse des dauerhaften Überlebens der Union auf Abhilfe und Reform. Etwas verkürzt und zugespitzt lassen sich die beiden Positionen folgendermaßen charakterisieren: Die Mehrheit betrachtete den Erfolg als glänzende Bestätigung der Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung und der ideologischen Maximen des Republikanismus, die der Revolution Richtung und Dynamik gegeben hatten. Aus ihrer Sicht war die Unabhängigkeit dem Sieg des "tugendhaften", weitgehend einigen amerikanischen Volkes über eine korrupte, tyrannische Monarchie und deren Lakaien zu verdanken. Die rasch aufgestellte Kontinentalarmee und die Milizen hatten sich den regulären britischen Truppen und den deutschen Söldnern als ebenbürtig und schließlich sogar überlegen erwiesen; damit war zugleich die generelle Höherwertigkeit der republikanischen Staatsform und ihrer leitenden Prinzipien - Freiheit, Selbstregierung und Volkssouveränität - unter Beweis gestellt. So gesehen, brauchten die Amerikaner auch in Zukunft keinen äußeren Feind zu fürchten, zumal die Union durch den schnellen Bevölkerungszuwachs immer stärker werden würde und ihre vorteilhafte geographische Lage auf Dauer erhalten blieb. Die räumliche Distanz zu Europa und die Expansionsmöglichkeiten nach Westen boten die Voraussetzung für einen endgültigen Bruch mit den monarchischen Traditionen, Sitten und Gebräuchen der "Alten Welt", speziell für die Vermeidung eines zentralisierten Machtstaates und eines stehenden Heeres in Friedenszeiten. Die Gefahr einer übermächtigen Zentralregierung schien durch die Articles 01 Confederation von 1777 gebannt, einem Verfassungsdokument, das die ehemaligen Kolonien - ganz im Einklang mit der republikanischen Theorie - als einen lockeren Bund souveräner Staaten organisiert hatte. Die Parole "No standing army!" gehörte zum Kernbestand der Country-Ideologie, die über die englische Oppositionsliteratur des frühen 18. Jahrhunderts nach Ame-

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rika gelangt war 13 . Das stehende Heer symbolisierte in diesem Diskurs geradezu den tyrannischen, absolutistischen Staat; es galt als die "engine of oppression", die Steuergelder verschlang, die Staatsschulden in die Höhe trieb und von den Herrschenden häufiger gegen das eigene Volk als gegen äußere Feinde eingesetzt wurde. Eine standing anny mochte vielleicht die äußere Sicherheit garantieren, doch indem sie die Freiheit der Bürger bedrohte, gefährdete sie zwangsläufig die innere Sicherheit und damit die Existenzgrundlage einer republikanischen Gesellschaft. George Washington wurde deshalb nicht nur für seine Leistungen als Oberbefehlshaber gerühmt, sondern fast mehr noch für die Selbstverständlichkeit, mit der er 1783 das Kommando an den Kongreß zurückgab und die Auflösung der Kontinentalarmee akzeptierte. Dieses optimistische Bild einer gegen europäische Korruption und Dekadenz gefeiten "neuen Welt" kontrastierte stark mit den Auffassungen, die einige führende Revolutionäre, darunter Washington selbst, sein ehemaliger Adjutant Alexander Hamilton und sein virginischer Landsmann James Madison, zunächst nur vorsichtig zu äußern wagten 14• Sie gingen davon aus, daß der Sieg im Unabhängigkeitskrieg nicht wegen, sondern trotz der radikalen Grundsätze der Country-Ideologie errungen worden war. Auf Grund der Führungsschwäche des Kongresses und der mangelnden Unterstützung aus den Einzelstaaten war die Kontinentalarmee wiederholt in nahezu aussichtslose Situationen geraten, und auf die Staatenrnilizen war im Ernstfall häufig kein Verlaß gewesen. Der Wankelmut der Bevölkerung hatte gezeigt, daß die Amerikaner nicht tugendhafter waren als andere Völker und daß Republiken, die ihre Politik allein an den Wünschen der Mehrheit ausrichteten, fragile Gebilde darstellten. Ohne das Eingreifen der Franzosen und die finanzielle Hilfe der Niederländer, so räumte man zumindest im vertraulichen Kreis ein, hätte der Krieg wahrscheinlich einen anderen Ausgang genommen. Die äußere Sicherheit blieb aus dieser Perspektive auch nach dem Friedensschluß bedroht, da sich die Union nicht von Europa abkapseln konnte und mit weiteren Einmischungsversuchen und sogar Kriegen rechnen mußte. Schließlich standen die Briten in Kanada, die Spanier kontrollierten die Schiffahrt auf dem Mississippi, und die Flotten der europäischen Mächte beherrschten Karibik und Atlantik. Außerdem ließ das Verhalten der beiden Kolonialmächte nach 1783 darauf schließen, daß sie mit Hilfe von verbündeten Indianerstämmen die weitere territoriale Expansion des "American Empire" blockieren wollten. Eine wirksame Verteidigung der amerikanischen Interessen bedurfte deshalb der systematischen militärischen Vorbereitung in Friedenszeiten, und eine effektive Kriegführung war nur unter einheitlicher und energischer politischer Führung möglich. Angesichts 13 Grundlegend sind Lais G. Schwaerer; ,,No Standing Annies!" The Antiarmy Ideology in Seventeenth-Century England, Baltimore, Md. 1974, und Bernard Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution, Cambridge, Mass. 1967. 14 Zum folgenden vgl. v.a. Richard H. Kahn, Eagle and Sword: The Beginnings of the Military Establishment in America, New York/London 1975.

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der Rivalitäten der amerikanischen Staaten untereinander und mit Blick auf die egalitären, zum Teil anarchischen Tendenzen in der Bevölkerung stand es aber auch um die innere Sicherheit keineswegs zum besten l5 . Die Nationalists, wie Hamilton und seine Freunde bald abschätzig genannt wurden, erachteten deshalb eine stärkere Zentralregierung für unabdingbar, die über hinreichende finanzielle Reserven und militärische Machtmittel gebot, um ihre Autorität nach innen wie nach außen festigen und aufrechterhalten zu können. Threr Meinung nach war die Furcht vor einer standing army anachronistisch, weil der neue Staat auf der Zustimmung der Bevölkerung gründete, und weil in der Armee keine Untertanen, sondern freie Bürger dienen würden. Völlig illusorisch erschien ihnen die von radikal-republikanischer Seite oft geäußerte Hoffnung auf dauerhaften Frieden und Harmonie: Vielmehr betrachteten sie Kriege als unvermeidlichen Ausfluß der menschlichen Natur und waren überzeugt, daß der wachsende Wohlstand einer amerikanischen Republik, die in Europa als Bedrohung der etablierten Ordnung wahrgenommen werden mußte, in Zukunft eher mehr als weniger Kriegsursachen schaffen würde l6 . Angesichts der rasch voranschreitenden Technisierung und Professionalisierung des Kriegswesens war es deshalb in hohem Maße fahrlässig, wenn sich die Amerikaner darauf verließen, im Ernstfall die Milizen mobilisieren und Armeen aus dem Boden stampfen zu können 17. 15 Die unter dem Namen "Shays's Rebellion" bekannt gewordenen agrarischen Unruhen im westlichen Massachusetts schienen 1786/87 diese Befürchtungen zu bestätigen und trugen deshalb maßgeblich zur Einberufung der Verfassungskonferenz von Philadelphia bei. Vgl. Jürgen Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl: Vorgeschichte und Ratifizierung der amerikanischen Verfassung, 1787 -1791, Berlin/New York 1988, 30ff. 16 Solche Gedanken formulierte v.a. Alexander Hamilton in den Federalist-Essays von 1787/88. Im Federalist Nr. 6 wandte er sich gegen die Hoffnung auf einen "perpetual peace between the States" und versuchte nachzuweisen, daß Handel treibende Republiken ebenso oft oder sogar öfter als Monarchien in Kriege verwickelt worden seien. In Nr. 7 und Nr. 8 beschäftigte er sich mit den vielfältigen Kriegsursachen und warnte davor, daß militärische Auseinandersetzungen zwischen den amerikanischen Staaten destruktiver verlaufen würden als Kriege in Europa: "The history of war, in that quarter of the globe, is no longer a history of nations subdued and empires overturned, but of towns taken and retaken, of battles that decide nothing, of retreats more beneficial than victories, of much effort and litde acquisition. In this country the scene would be altogether reversed ... The populous States would with little difficulty overrun their less populous neighbors ... War therefore would be desultory and predatory". In Nr. 34 heißt es: "To judge from the history of mankind, the fiery and destructive passions of war reign in the human breast with much more powerful sway than the mild and beneficent sentiments of peace; and ... to model our political system upon speculations of lasting tranquillity is to calculate on the weaker springs of the human character". The Federalist, hrsg. v. Jacob E. Cooke, Middletown, Conn. 1961,28-50,209-15; vgl. R. H. Kohn, Constitution and National Security (Anm. 4), 63 f. 17 "War, like most other things is a science to be acquired and perfected by diligence, by perseverance, by time, and practice". Hamilton in Federalist Nr. 25, J. E. Cooke, The Federalist (Anm. 16), 162. In diesem Zusammenhang erneuerte Harnilton die Kritik an der Miliz: Die Doktrin, daß sie das "natural bulwark" der Union bilde, habe den Amerikanern beinahe die Unabhängigkeit gekostet: "The steady operations of war against a regular and disciplined army, can only be successfully conducted by a force of the same kind. Considerations of

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Zwischen dem Frieden von Paris 1783 und dem erneuten Kriegsausbruch 1812 stand die Geschichte der USA ganz im Zeichen des Gegeneinanders dieser beiden Grundannahmen und Zukunftsvisionen, die ihren Ausgang vom Unabhängigkeitskrieg genommen hatten. Bis 1800 gewann die teils konservative, teils fortschrittlich-modernisierende Auffassung der "Hamiltonians" an Boden und wurde sogar dominierend; ab 1801, nach der Wahl Thomas Jeffersons zum dritten Präsidenten der USA, nahm der Einfluß der radikal-republikanischen Weltanschauung wieder zu. Aufs ganze gesehen erweist sich hieran einmal mehr, daß komplexe historische Vorgänge, in diesem Fall der Unabhängigkeitskrieg, von den Mitlebenden häufig ganz unterschiedlich wahrgenommen werden und dementsprechend in deutlich voneinander abweichende ,,Lehren aus der Geschichte" und Handlungsanweisungen umgemünzt werden können. Das Bemühen, der Vergangenheit durch ideologische Deutungen und intellektuelle Konstruktionen einen Sinn zu verleihen, ist also keineswegs neueren Datums. Im Jahrzehnt nach dem Friedensschluß mit England gelang es den Nationalists oder Federalists, wie sie sich selbst nannten, ihr Konzept gegen erhebliche Widerstände in der Bevölkerung wenigstens teilweise zu verwirklichen. Den Ausgangspunkt bildete Washingtons Denkschrift "Sentiments on a Peace Establishment" vom Frühjahr 1783, die eine reguläre Armee von 2.600 Mann sowie die Reorganisierung und Vereinheitlichung der Milizen vorsah. Im Kongreß fand sich aber zunächst keine Mehrheit für solche Maßnahmen, so daß sich Kriegsminister Henry Knox mit ganzen 700 Offizieren und Mannschaften begnügen mußte, die ab 1785 auf drei Jahre verpflichtet wurden l8 . Das öffentliche Mißtrauen gegen weitergehende Pläne konnte nur deshalb überwunden werden, weil eine schwere Wirtschaftskrise, fortdauernde britische Handelsrestriktionen und die drohende Zahlungsunfahigkeit der Konföderation immer mehr Menschen von der Notwendigkeit grundlegender Reformen überzeugten. Mit der Ablösung der Articles 0/ Confederation durch die Constitution 0/ the United States 1787/88 wurde eine Zentralisierung des Regierungssystems erreicht, wenn auch nicht in dem Maße, wie viele Federalists das gewünscht hatten. Die neue Verfassung bot nun zumindest die Voraussetzung dafür, daß der Präsident als Oberbefehlshaber der Streitkräfte in Absprache mit dem Kongreß die militärischen Planungen koordinierte und, falls es die Lage erforderte, rasch handeln konnte. Der Kongreß war nicht nur befugt, Armeen aufzustellen und eine Flotte auszurüsten, sondern er durfte auch die Staatenmilizen in inneren und äußeren Krisensituationen mobilisieren. Wenn dies geschah, dann unterstanden sie - wie Armee und Flotte - dem Oberbefehl des oeconomy, not less than of stability and vigor, confirm this position. The American Militia, in the course of the late war, have by their valour on numerous occasions, erected eternal monuments to their farne; but the bravest of them feel and know, that the liberty of their country could not have been established by their efforts alone, however great and valuable they were". 18 Ausführlich zu den Vorschlägen und Debatten ab 1783 R. H. Kohn, Eagle and Sword (Anm. 14),40-70.

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Präsidenten. Dafür mußten die Federalists den Kritikern und Skeptikern mit dem zweiten Zusatzartikel zur Verfassung eine Existenzgarantie für die Milizen geben und das Prinzip der Volksbewaffnung anerkennen 19. Einen weiteren wesentlichen Fortschritt bedeutete die Annahme von Hamiltons Wirtschaftsprogramm durch den neu gewählten Kongreß, womit die Finanzen der Union endlich auf eine solide, ausbaufähige Basis gestellt wurden. Den inneren Zusammenhang zwischen Finanzverfassung, Besteuerungsrecht und Kriegführung hatten die Federalists bereits auf dem Verfassungskonvent in Philadelphia - gerade auch mit Blick auf Europa - klar erkannt und zur Sprache gebracht20• In der politischen Praxis der 1790er Jahre geriet die Neuordnung des Militärwesens aber sofort in den Parteienstreit, der durch die leidenschaftlichen Reaktionen auf die Französische Revolution angeheizt wurde. Die Federalists, die im Kongreß und in der Regierung den Ton angaben, legten die militärischen Befugnisse der Verfassung möglichst weit aus; dagegen verfolgte die Opposition, die sich nun unter Führung von Jefferson und Madison als Republican Party formierte, alle Initiativen der Washington-Administration mit Argusaugen und malte bei jeder Gelegenheit das Gespenst der standing army und des Abgleitens in Monarchie und Absolutismus an die Wand21 • Einig waren sich die Führer beider Seiten nur darin, 19 Der Text des zweiten Amendments lautet: ,.A weIl regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms, shall not be infringed". Zum Hintergrund vgl. A. R. Millett, The Constitution and the Citizen-Soldier (Anm. 6), 101 f. Hier heißt es etwas überspitzt, die Leistungen der Miliz im Unabhängigkeitskrieg hätten ein Militärsystem legitimiert, ..that had already collapsed before the Revolution began". Angesichts der Stimmung in der Bevölkerung konnten die Federalists das Milizwesen nicht wirklich reformieren, sondern mußten sich mit einer leicht gestärkten bundesstaatlichen Kontrolle über die Staatenmilizen begnügen. 20 So erklärte der Delegierte Oliver Ellsworth aus Connecticut in der Philadelphia Convention: ..The government should be able to command all the resources of the country. Wars have now become rather wars of the purse, than of the sword. Governments must therefore command the whole power of the purse; otherwise a hostile nation may look into our Constitution, see what resources are in the power of the government, and calculate to go a little beyond us ... A governrnent which can command but half its resources is like a man with but one arm to defend hirnself'. Zitiert nach R. H. Kohn, Constitution and National Security (Anm. 4), 73. 21 Die Furcht der Bevölkerung vor einern stehenden Heer hatten die Antifederalists in der Ratifizierungsdebatte von 1787/88 erneut propagandistisch ausgenutzt: ..In despotic governments, as weIl as in the monarchies of Europe, standing armies are kept to execute the commands of the prince or the magistrate, and are employed for this purpose when occasion requires: But they have always proved the destruction of liberty, and is (sic!) abhorrent to the spirit of a free republic ... A free republic will never keep a standing army to execute its laws. It must depend upon the support of its citizens". Brutus I, New York Journal, 18. 10. 1787, Documentary History of the Ratification of the Constitution, hrsg. v. lohn P. Kaminski, Richard Leffler und Gaspare l. Saladino, Madison, Wisc. 1975 ff., Bd. 13, 411 ff., v.a. 419f. Vgl. auch das Pamphlet A Federal Republican: A Review 0/ the Constitution, 28. 11. 1787, ebd., Bd. 14, 255ff., v.a. S. 265f.: ,,Hut a standing army in time of peace is strongly to be objected to: It always hath been and always will be the grand machine made use of to subvert the liberties of free states ... If therefore the government of the United States be just and equal, and the states retain their separate powers, a standing army is useless

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daß die USA im europäischen Krieg neutral bleiben sollten, wobei die Republicans noch ausgeprägter isolationistisch argumentierten als Washington in seiner Neutralitätserklärung von 1793 und der Farewell Address von 1796. Politisch und ideologisch sympathisierten die Republicans jedoch eindeutig mit den französischen Revolutionären, während die Federalists im Jay Treaty von 1795 einen Ausgleich mit der Hauptrnacht der Gegenrevolution, Großbritannien, suchten 22 . Wenn unter diesen ungünstigen Umständen überhaupt ein zusammenhängendes amerikanisches Militärkonzept Gestalt annahm, dann war das vor allem der fortbestehenden Indianergefahr an der Siedlungsgrenze zu verdanken. Washington und Kriegsminister Knox hatten versucht, friedliche Beziehungen mit den Indianerstämmen zu pflegen und Gebietserweiterungen nur durch vertraglich vereinbarten Landkauf vorzunehmen. Diese Absichten scheiterten aber einerseits am unkontrollierten Vordringen weißer Siedler und andererseits an der Politik der Briten, die von Kanada aus den Widerstand der Indianerstämme des Nordwestens gegen die USA ermunterten. Es bedurfte erst zweier demütigender Niederlagen, die bunt zusammengewürfelte amerikanische Expeditionstruppen 1790 und 1791 im Ohiogebiet gegen die Indianer erlitten, bevor sich der Kongreß dazu durchrang, eine reguläre Armee aufzustellen. Ein Gesetz vom Februar 1792 autorisierte die Rekrutierung von 5000 Freiwilligen auf drei Jahre, die unter dem Befehl von General Anthony Wayne zur Legion 0/ the Vnited States zusarnrnengefaßt wurden. Die Bezugnahme auf das republikanische Rom sollte offensichtlich verhindern, daß in der Bevölkerung Assoziationen mit den stehenden Heeren der europäischen Staaten geweckt wurden 23 . Tatsächlich gelang es Waynes ,,Legion" 1794 in der Schlacht von Fallen Timbers, den Widerstand der Indianerstämme im Nordwesten zu brechen und das riesige Ohiogebiet für die Siedlung zu öffnen. Erst dieser Erfolg rechtfertigte in den Augen der Öffentlichkeit die Existenz eines permanenten military establishment unter Aufsicht der Bundesregierung. Allerdings reichte die bewilligte Zahl an Offizieren und Soldaten gerade aus, um eine lockere Kette von Forts im Westen zu unterhalten und durch Kavallerie-Patrouillen zusätzlich abzusichern. 1794 genehmigte der Kongreß auch den Bau von sechs Fregatten für die bis dahin so gut wie nicht vorhandene V.S. Navy; um einen Parteienkonsens herzustellen, beschränkte sich die Regierung darauf, zunächst einmal drei dieser Schiffe bauen zu lassen. and dangerous. It will inevitably sow the seeds of corruption and depravity of manners ... Where a standing army is kept up, virtue never thrives". Die Grundsatzdebatte zwischen Federalists und Antifederalists behandelt J. Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl (Anm. 15),257 - 354. 22 Zum historischen Hintergrund vgl. Jürgen Heideking, Amerikanische Einflüsse und Reaktionen auf die Französische Revolution, in: Die Französische Revolution und Europa, 1789 - 1799, hrsg. v. Heiner Timmermann, Saarbrücken 1989, 117 - 27. 23 Vgl. Francis Paul Prucha, The Sword of the Republic: The United States Army on the Frontier, 1783-1846, London 1969; Wiley Sword. President Washington's Indian War: The Struggle for the Old Northwest, 1790-1795, Norman, Okla. 1985; R. H. Kahn, Eagle and Sword (Anm. 14),89 - 127.

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Weniger Erfolg war den Federalists bei ihren Bemühungen um eine Reform des Milizwesens beschieden. Angeregt von Ideen des Barons von Steuben, hatte Washington 1790 vorgeschlagen, die gesamte Miliz in drei Altersklassen einzuteilen und die Klasse der 18 bis 20jährigen als advanced corps unter der Regie der Bundesregierung einheitlich auszubilden und zu bewaffnen. Auf diese Weise wäre eine sofort verfügbare Eingreifreserve von ca. 30.000 Mann entstanden; Kriegsminister Knox pries das advanced corps sogar als Schule für republikanische Staatsbürger, wo den jungen Amerikanern "a love of their country, reverence and obedience to its laws (and) a glorious national spirit" eingeflößt werden sollten 24 . Diese Form von zentralisierendem Nationalismus wirkte aber wie ein rotes Tuch auf die Republicans und ging auch vielen Federalists zu weit. Der 1792 verabschiedete Uniform Militia Act sah deshalb keine Klasseneinteilung vor, sondern erfaßte alle weißen Männer von 18 bis 45 Jahren; außerdem blieben die Zuständigkeiten der Einzelstaaten für die Ernennung von Offizieren sowie für Training und Ausrüstung der Miliz weitgehend gewahrt. Auf diese Weise wurde zwar eine Reserve von 500.000 Mann geschaffen, aber die militärische Ausbildung war rudimentär, und allenfalls ein Viertel der Milizionäre besaß Waffen 25 . Immer stärker trat in der Folgezeit der Unterschied zwischen der "normalen" Miliz und den "volunteer militia companies" hervor, deren Angehörige zumeist aus der Mittelschicht stammten und für ihre eigene Ausrüstung sorgen konnten. Nur diese Freiwilligenverbände übten regelmäßig und waren jederzeit einsatzbereit26 . Erstmals getestet wurde das neue System, als Präsident Washington 1794 eine Miliztruppe von 15.000 Mann in den Westen von Pennsylvania beorderte, um eine Rebellion gegen die vom Kongreß eingeführte Whiskey-Steuer niederzuschlagen. Es kam aber gar nicht zum Ernstfall, weil die Aufständischen angesichts der großen (aber nur bedingt kampffähigen) Streitmacht umgehend kapitulierten oder das Weite suchten27 . Am Ende von Washingtons Amtszeit verfügten die USA also über eine, wie der Historiker Richard H. Kohn schreibt, "small, almost skeletal army grouped in small units"28, über eine Milizreserve von militärisch fragwürdigem Wert und über drei im Bau befindliche Kriegsschiffe. Immerhin war das Militärbudget auf fast 3 Millionen Dollar gestiegen und machte ca. 40 Prozent der Gesamtausgaben des Bundeshaushalts aus 29 . Nach dem Amtswechsel von Washington zu John Adams im März 1797 brach das Pariser Direktorium unter Berufung auf die englandfreundliche Haltung der Administration die diplomatischen Beziehungen zu den USA ab und ließ ameri24

R. H. Kohn, Eagle and Sword (Anm. 14), 128 ff.

25

Ebd., 135 f.

26

A. R. Millett, The Constitution and tbe Citizen-Soldier (Anm. 6), 102.

27 Thomas P. Slaughter; The Whiskey Rebellion: Frontier Epilogue to tbe American Revolution, New York 1986. 28 R. H. Kohn, Eagle and Sword (Anm. 14), 186. 29 Ebd., 175.

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kanische Handelsschiffe aufbringen. In der schweren Krise, die dadurch heraufbeschworen wurde, unternahmen die Federalists einen letzten Vorstoß, um ihre Vision eines adäquaten Militärwesens für die Nation zu verwirklichen. Die treibende Kraft war erneut Hamilton, der nun aus dem Hintergrund die Fäden zog und der sich immer mehr an europäischen Modellen orientierte. Angesichts einer möglichen französischen Invasion stockte der von den Federalists beherrschte Kongreß die reguläre Armee um 12.000 Mann auf und erlaubte die sofortige Rekrutierung eines Volunteer Corps, das für die Dauer der Krise ebenfalls der Bundesregierung unterstellt wurde; außerdem beschloß er eine 50.000 Mann starke Provisional Army, deren Offiziere der Präsident bereits ernennen durfte, deren Mannschaften aber erst bei konkreter Kriegsgefahr rekrutiert werden sollten. An die Staaten erging die Aufforderung, 80.000 Milizionäre in Bereitschaft zu halten. George Washington war noch einmal als Oberbefehlshaber vorgesehen, aber Hamilton selbst beanspruchte das Amt des Inspector General 0/ the Army und damit die eigentliche Führung. Ferner wurde nun ein separates Marineministerium eingerichtet und der Präsident autorisiert, 24 Kriegsschiffe bauen zu lassen oder zu kaufen. Hamilton wollte mit dieser Streitmacht nicht nur die unmittelbare Gefahr abwenden und den europäischen Mächten Respekt für die amerikanische Neutralität einflößen; er verstand sie auch als innenpolitisches Abschreckungsinstrument, da er fürchtete, die Republicans im Süden der USA könnten mit den Franzosen gemeinsame Sache machen. Deshalb sicherten die Federalists die militärische Aufrüstung mit den Alien and Sedition Acts ab, die öffentliche Kritik an der Regierung unter Strafe stellten. Es war kein Geheimnis, daß Hamilton Armee und Flotte, wenn sie erst einmal aufgebaut waren, zu Dauereinrichtungen machen wollte und daran dachte, sie offensiv gegen die Spanier in Florida und Louisiana einzusetzen30. Alle diese grandiosen Pläne platzten aber wie eine Seifenblase, als sich Präsident Adams dazu entschloß, den "Quasi-Krieg" mit Frankreich, der im Atlantik entbrannt war, doch noch auf dem Verhandlungsweg zu beenden. Ein wichtiges Motiv war dabei sein tiefes Mißtrauen gegenüber Hamilton, in dem er selbst und seine Ehefrau Abigail einen ehrgeizigen Möchtegern-Napoleon sahen. Das Zerwürfnis zwischen Hamilton und Adams und die daraus folgende Spaltung der Federalists kostete Adams die Wiederwahl und bescherte der Opposition bei den Wahlen von 1800 das Präsidentenamt und die Mehrheit im Kongreß 31 • Der neue Präsident Thomas Jefferson behielt zwar - zum Leidwesen mancher seiner Anhänger - die von den Federalists geschaffene Militärstruktur im Prinzip bei, "dünnte" die bestehenden Einrichtungen aber erheblich aus. Die revolutionäre Ideologie und nicht zuletzt der Schlachtruf ,,No standing army!" kamen zu neuen Ehren, und höchste Priorität erhielten Haushaltseinsparungen, die Senkung der 30 Kohn urteilt, daß Hamilton die neu aufgestellten Streitkräfte dazu befähigen wollte, "of waging the new warfare then sweeping Europe". Ebd., 244f. Die sog. "High Federalists" unter Führung Hamiltons orientierten sich also weniger am Unabhängigkeitskrieg als an den Leistungen der napoleonischen Heere. 31 Ebd.,256ff.

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Steuern und der Abbau der Staatsverschuldung. Jeffersons Finanzminister Albert Gallatin hatte schon in den 1790er Jahren behauptet, mit der Verminderung der Public Debt könnten sich die USA in Europa mehr Respekt verschaffen als mit dem Aufbau einer großen Armee und einer Flotte 32 . Jefferson selbst sah die Zukunft des amerikanischen Empire 0/ Liberty im Westen, weshalb er 1803 ohne Zögern auf Napoleons Angebot einging, das von Spanien an Frankreich abgetretene riesige Louisiana-Territorium zu kaufen. Mit Europa hätte er nach eigenem Bekunden am liebsten so wenig zu tun gehabt wie mit China; als Alternative zur Flottenrüstung, die, wie er meinte, einen Krieg nicht verhindern, sondern eher provozieren würde, schwebte ihm eine Politik der wirtschaftlichen Restriktionen vor, die bis zum völligen Abbruch des Handels mit den europäischen Mächten getrieben werden konnte. Hinter dieser Strategie stand die Grundannahme, daß die Europäer letztlich weit mehr auf amerikanische Rohstoffe und Nahrungsmittel angewiesen seien als die Amerikaner auf europäische Fertigprodukte und ,,Luxusartikel,,33. Armee und Flotte bekamen den ideologisch motivierten Sparkurs der Republicans deutlich zu spüren: Bis 1807 sank die Stärke der regulären Armee auf ganze 175 Offiziere und 2.389 Mannschaftsgrade ab; das Schiffsbauprogramm wurde reduziert und der Schwerpunkt von Fregatten auf Kanonenboote verlegt, die allenfalls zum Küstenschutz und auf den Großen Seen eingesetzt werden konnten 34 . Im Rahmen dieses defensiven Konzepts fiel die Hauptlast wieder den Milizen zu, die nach Auffassung Jeffersons in der Lage waren, einem Angreifer so lange standzuhalten, bis sie durch neu angeworbene regulars und volunteers Unterstützung erhielten. Hier kam wieder die Idee des Volkskrieges, des people 's war zum Vorschein, dem man nach Meinung vieler Amerikaner den Sieg im Unabhängigkeitskrieg verdankte 35 . Mit Rücksicht auf die Rechte der Einzelstaaten, als deren Garanten sich die Republicans verstanden, unterblieben jedoch praktische Schritte zur Vereinheitlichung des Milizwesens. Außer in den Neuenglandstaaten sank die lohn C. Miller, The Federalist Era, 1789 -1801, New York I London 1960,208. Marshall Smelser, The Democratic Republic, 1801- 1815, New York/London 1968, 151 ff., 163 ff. 34 Vgl. l. Mackey Hitsman, The Incredible War of 1812. A Military History, Toronto 1989, 17; lohn C. A. Stagg. Mr. Madison's War: Politics, Diplomacy, and Warfare in the Early American Republic, 1783 - 1830, Princeton, N.J. 1983, 3 f. 35 Während Jeffersons Präsidentschaft erreichte die reguläre Armee nie ihre vorgesehene Stärke. Seiner Meinung nach lag das v.a. daran, daß reguläre Soldaten "are not to be had among a people so easy and happy at horne as ours. We might as weil rely on calling down an army of angels from heaven". Eigentlich könne man froh darüber sein, daß es in Amerika "so few of the desperate characters" gebe, "which compose modern regular armies". Als Ideal schwebte Jeffferson eine "people's army" bzw. ein Volk in Waffen vor; 1813 schrieb er an Madison: "We must train and c1assify the whole of our male citizens, and make military instruction a regular part of collegiate education. We can never be safe till this is done". Zitiert nach Dumas Malone. Jefferson. The President: Second Term, 1805 - 1809, Boston 1974,512,518f. 32

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Qualität der Milizen nach 1800 weiter ab. Im Süden bestand ihre Hauptaufgabe darin, die Sklaven zu kontrollieren und Aufstände zu verhindern. Andererseits behielt Jefferson mit dem Anny und dem Navy Department den administrativen Kern eines nationalen military establishment bei; 1802 beförderte er sogar die Artillerieschule West Point am Hudson River zur U.S.-Militärakademie. Dahinter steckte vermutlich die Absicht, den Einfluß der Federalists auf die Armee zu reduzieren und ein "verläßliches" republikanisches Offizierskorps heranzubilden 36 . Die militärischen Errungenschaften der Federalists wurden also nicht völlig zunichtegemacht; eine systematische Vorbereitung auf den Ernstfall, wie sie Washington und Hamilton gefordert hatten, hielten ihre Nachfolger im Gefühl der Unüberwindlichkeit einer republikanischen Nation jedoch für unnötig.

III. Die Bewährungsprobe des amerikanischen Militärkonzepts im Krieg gegen England von 1812/14 Bis zur Amtszeit von Präsident James Madison, die 1809 begann, hatte sich trotz aller ideologischen Differenzen und Parteigegensätze ein militärpolitischer Minimalkonsens herausgebildet, der fünf Elemente beinhaltete: erstens eine kleine reguläre Armee, die vornehmlich die Siedlungsgrenze gegen Indianerstämme zu sichern hatte; zweitens die Möglichkeit zur Verstärkung dieser Truppe im Ernstfall durch zusätzlich aufgestellte reguläre Einheiten sowie durch volunteer companies, d. h. Verbände von kürzer dienenden Freiwilligen; drittens der Unterhalt einer kleinen Flotte, die den Küstenschutz übernehmen und auf hoher See Kaperkrieg führen konnte; viertens separate Ministerien für Armee und Flotte in Washington, d. h. die Anfänge einer Militärbürokratie, sowie eine nationale Akademie zur Offiziersausbildung in West Point; fünftens schließlich das (allerdings stark verwässerte) Prinzip der "universal military obligation" in Form der Staatenmilizen, die der Präsident bei Kriegsgefahr und zur Gewährleistung der inneren Ordnung mobilisieren und in den Dienst der Union stellen konnte. Zusammengenommen bildete dieses aus einer Reihe von politischen Kompromissen hervorgegangene System die amerikanische Alternative zu den herkömmlichen stehenden Heeren und Kriegsflotten europäischer Prägung, die sich die Bürger der USA nicht leisten konnten und die sie auch, was wohl noch wichtiger war, aus ideologischen Gründen bewußt nicht 36 R. H. Kohn, Eagle and Sword (Anm. 14), 188, 303; vgl. William B. Skelton, An American Profession of Arms: The Army Officer Corps, 1784 - 1861, Kansas City 1994. Interessanterweise stand der Unterricht in West Point bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ganz im Zeichen französischer Militärdoktrin: ,,Napoleonic warfare was the model for all cadets to follow, and French was required as a second language". Lance Janda, Shutting the Gates of Mercy: The American Origins of Total War, 1860 - 1880, in: Journal of Military History 59 (1995), 7 - 26, v.a. 11, Anm. 11. Trotz seiner ideologischen Abneigung gegen Napoleon hatte Jefferson 1808 auch die Aufstellung einer mobilen Artillerie-Einheit nach französischem Vorbild angeregt, die wenig später aber aus Ersparnisgründen wieder aufgelöst wurde. D. Malone, Jefferson (Anm. 35), 519.

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anstrebten. Kaum weniger weit entfernt war dieses Modell jedoch vom französischen Konzept der levee en masse und von den Massenheeren Napoleons, die von Paris aus durch ganz Europa, nach Nordafrika und bis Moskau dirigiert wurden. Vorgeschichte und Ursachen des Krieges von 1812/14 können hier nicht im einzelnen erörtert werden 37 . Drei wesentliche Faktoren im Entscheidungsprozeß, der auf amerikanischer Seite zum Krieg führte, verdienen aber hervorgehoben zu werden: Zum einen breitete sich angesichts der englischen Blockadepraktiken in Regierung, Kongreß und Bevölkerung das Gefühl aus, daß die ursprüngliche Vorstellung der Republicans, die Interessen der neutralen Staaten und die amerikanische Ehre könnten allein durch die Anwendung ökonomischer Zwangsmittel verteidigt werden, auf einem Irrtum beruhte. Vielmehr hatte es den Anschein, als ließen sich weder die Franzosen noch die Briten von den zwischen 1807 und 1811 verhängten diversen Boykotten und Embargos ernsthaft beeindrucken und zur Respektierung der amerikanischen Neutralität veranlassen. Die Briten schienen sogar immer unempfindlicher für solchen Druck zu werden, weil sie in ihren kanadischen Kolonien Ersatz für die zuvor aus den USA bezogenen Güter fanden. Madisons Plan, den Krieg nach Kanada hineinzutragen, entsprang nicht zuletzt der Sorge vor dieser Entwicklung. Zum zweiten drängten viele Abgeordnete aus dem Westen und dem Süden darauf, die Briten für ihre Zusammenarbeit mit den Indianern zu bestrafen; diese Unterstützung hatte es dem Häuptling Tecumseh erlaubt, zahlreiche Stämme im Mississippigebiet für ein Bündnis gegen die weißen Siedler zu gewinnen. Deren Repräsentanten in Washington wollten nun wiederum den Krieg gegen England nutzen, um die "Indianergefahr" östlich des Mississippi ein für allemal zu beseitigen. Drittens schließlich hatte der Entschluß zum Krieg auch einen innenpolitischen Hintergrund: Die Republicans hofften, ihren internen Parteienstreit zu begraben und eine Vertrauenskrise in der Bevölkerung abzuwenden, indem sie den Kampf gegen England zu einer großen nationalen Kraftanstrengung erklärten. Es war viel von einem "Second War for American Independence" die Rede, und Revolutionsveteranen wie der Senator Elbridge Gerry aus Massachusetts erhofften sich eine moralische Erneuerung des vom wirtschaftlichen Wohlstand verweichlichten Volkes: "By war we should be purified, as by fire,,38. Im November 1811 beschloß der Kongreß ein Kriegsprogramm, das die reguläre Armee auf 35.000 Mann erhöhte, die Verpflichtung von 50.000 Freiwilligen für ein Jahr vorsah und den Präsidenten ermächtigte, 100.000 Milizionäre für sechs Monate in Dienst zu stellen. Außerdem wurden Gelder für den Flottenbau bewilligt, so daß die USA 1812 über sieben technisch hochwertige Fregatten und zehn kleinere Kriegsschiffe verfügten. Obwohl die Vorbereitungen noch keineswegs 37 Zur Entstehungsgeschichte und zum Verlauf des englisch-amerikanischen Krieges vgl. außer den beiden in Anm. 34 genannten Büchern Reginald Horsman, The War of 1812, London 1969; Donald R. Hickey, The War of 1812: A Forgotten Conflict, Urbana/Chicago, Ill. 1989. 38 D. R. Hickey, War of 1812 (Anm. 37), 28.

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abgeschlossen waren, erklärte der Kongreß am 17. Juni 1812 auf Antrag Präsident Madisons Großbritannien den Krieg, wobei die Abstimmung im Senat mit 19:13 sehr knapp ausfie1 39 . Viele der offiziellen Kriegsgründe waren um diese Zeit eigentlich bereits entfallen, weil das Kabinett in London die gegen die USA verhängten Handelsrestriktionen weitgehend aufgehoben hatte. Diese Nachricht traf jedoch zu spät in Washington ein, um den Gang der Dinge noch zu beeinflussen. Wie sind nun Verlauf und Ergebnis des Krieges aus historischer Perspektive zu beurteilen? Gewiß nicht als glänzender amerikanischer Sieg, sondern allenfalls als ein militärisches Patt, das durch die günstige internationale Konstellation und das geschickte Taktieren der U.S.-Unterhändler in Gent zu einem unerwartet vorteilhaften Friedensschluß führte. Die Schwierigkeiten und Probleme, mit denen die Amerikaner von 1812 bis 1814 zu kämpfen hatten, erinnern in vieler Hinsicht an den Unabhängigkeitskrieg. Der Versuch, mit einem durch Milizen verstärkten Expeditionskorps Kanada zu erobern, scheiterte im Herbst 1812 ebenso kläglich, wie ähnliche Bemühungen 1775/76 im Sande verlaufen waren40 • Erfolge gab es zunächst nur im - wiederum unbarmherzig geführten - Kampf gegen die Indianer, deren Bündnis nach dem Tod Tecumsehs im Herbst 1813 zerfiel. Politische Führungsschwäche, administrative Mängel und Spannungen zwischen den Regionen hatten zur Folge, daß die festgesetzten Rekrutierungszahlen nie erreicht wurden. Die Regierung erwog in ihrer Not bereits eine Wehrpflicht, aber die Federalists wehrten sich erbittert gegen "French-style conscriptions". Erst im letzten Kriegsjahr 1814, als 45.000 reguläre und freiwillige Soldaten unter Waffen standen, entwickelte sich die amerikanische Armee zu einer "effective fighting force,,41. Wie man die Kriegsanstrengungen weiter finanzieren wollte, stand allerdings in den Sternen, da die Regierung angesichts einer Wirtschaftskrise und verbreiteter Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit Steuererhöhungen zögerte. Die Miliz, auf die Madison gebaut hatte, bereitete ihm viele Enttäuschungen; das lag nicht nur an ungenügender Ausbildung und Bewaffnung, sondern auch am fehlenden Kampfeswillen der Neuengländer, die dem Krieg von vornherein skeptisch gegenübergestanden hatten. Vielfach lehnten es die von Federalists kontrollierten Staatenparlamente ab, ihre Milizen jenseits der eigenen Grenzen einzusetze~, oder die Milizionäre machten sich nach einiger Zeit aus eigenem Antrieb auf den Heimweg. Gleichzeitig trieben viele neuenglische Kaufleute einen schwungvollen SchmugEbd., 46. Als überzeugter Republikaner quittierte Madison diesen Rückschlag einigermaßen gelassen: "The spirit and strength of the nation are nevertheless equal to the support of a11 its rights". Zitat vom November 1812, ebd., 109. 41 Ebd., 77, 241 f. Die Relationen zwischen den einzelnen Verbänden ist aufschlußreich: Insgesamt dienten während des Krieges ca. 56.000 Offiziere und Mannschaften in der V.S. Army, dazu 13.000 in "special federal volunteer units" sowie knapp 460.000 in Staatenmilizen (wobei dieselbe Person hier mehrfach einberufen und gezählt werden konnte). Die V.S. Navy umfaßte 1814 etwa 12.000 Personen, die von den gut doppelt so zahlreichen Besatzungen der mehr als 500 Kaperschiffe (privateers) verstärkt wurden: A. R. Millett, The Constitution and the Citizen-Soldier (Anm. 6), 104. 39

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gelhandel mit den Briten in Kanada. Die amerikanischen "Superfregatten" überraschten die Engländer durch ihre technische Überlegenheit und den Wagemut der Besatzungen. Einzelne Erfolge auf hoher See änderten aber nichts daran, daß die Royal Navy einen immer wirksameren Blockadering um die amerikanischen Häfen zog. Armee, Milizen und Flotte konnten nicht einmal verhindern, daß die Briten im August 1814 durch die Chesapeake Bay bis zur Hauptstadt Washington vorstießen, Präsidenten und Kongreß in die Flucht trieben und die Regierungsgebäude anzündeten. Gegen den Vorwurf der barbarischen Brandschatzung wehrten sich die Engländer mit dem Hinweis, sie übten lediglich Vergeltung für ähnliche Taten der Amerikaner in Kanada. Das Londoner Annual Register charakterisierte das Geschehen im Gebiet der Großen Seen vorwurfsvoll als "this species of militonautico-guerrilla-plundering-warfare,,42. Aus amerikanischer Sicht markierte die kurzfristige Räumung Washingtons den Tiefpunkt des Krieges. Dieses traumatische Erlebnis leitete aber auch die Wende ein, denn von nun an führten die Amerikaner einen Kampf ums nationale Überleben, der den Parteienstreit dämpfte und neue Kräfte freisetzte. Daraus erklärt sich wohl in erster Linie, daß alle weiteren britischen Offensiven - an der kanadischen Grenze, gegen Baltimore und im Süden bei New Orleans - erfolglos blieben. Erst jetzt kamen wieder die Vorzüge der amerikanischen Militärkonzeption zum Tragen, die bereits im Unabhängigkeitskrieg letztlich den Ausschlag gegeben hatten. Zwar besaßen die USA diesmal keinen mächtigen Verbündeten, aber dafür hatte ihre Bevölkerung inzwischen von knapp drei auf 7,7 Millionen Menschen zugenommen, die sich auf einen für europäische Verhältnisse unermeßlichen Raum verteilten. Damit stand die englische Regierung vor demselben Dilemma wie in den Jahren nach 1775: Ein mit solchen Ressourcen ausgestatteter und zum zeitlich unbefristeten Abwehrkampf entschlossener Gegner konnte von einer Kolonialmacht - die noch dazu anderweitig militärisch engagiert war - nicht entscheidend besiegt werden. Niemand erkannte das besser als der Herzog von Wellington, der im November 1814 das Angebot des Londoner Kabinetts ablehnte, den Oberbefehl in Kanada zu übernehmen. Nach einem sorgfältigen Studium der militärischen Lage war er zu der Auffassung gelangt, daß weitere Feldzüge keine grundsätzliche Änderung bewirken würden und die Regierung deshalb einen Frieden auf der Basis des Status quo ante suchen sollte43 . Diese klare Antwort gab letztlich den Ausschlag für den Abschluß des Friedensvertrags am 24. Dezember 1814 in Gent. Für die mangelhafte militärische Vorbereitung und die zahlreichen Organisationsmängel hatten die Amerikaner allerdings teuer zahlen müssen: Der Krieg forderte ca. 20.000 Tote und verschlang 158 Millionen Dollar, eine enorme Summe, die alle Sparerfolge der Republicans seit 1801 zunichtemachte 44 . D. R. Hickey, War of 1812 (Anm. 37), 297. R. Horsman, War of 1812 (Anm. 37),258. 44 Die Staatsschulden, die zwischen 1801 und 1812 von 83 auf 45 Millionen Dollar gesunken waren, standen 1815 bei 127 Millionen Dollar: D. R. Hickey, War of 1812 (Anm. 37), 303. 42

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Die meisten Europäer hatten den Krieg nur am Rande wahrgenommen, und auch der Friede von Gent blieb gegenüber dem Wiener Kongreß kaum mehr als eine Fußnote der Geschichte. In der amerikanischen Öffentlichkeit trat der gleiche Effekt ein wie nach dem Unabhängigkeitskrieg: Auch die neue Kraftprobe mit Großbritannien wurde umgehend zu einem Triumph der einigen, republikanischen Nation über einen despotischen, auf "Rekolonisierung" erpichten Gegner verklärt. Das Lied vom Star-Spangled Banner, zu dem sich der Rechtsanwalt Francis Scott Key von der Verteidigung Baltimores hatte inspirieren lassen, bildete fortan die (noch inoffizielle) amerikanische Nationalhymne; und General Andrew Jackson legte mit seinem Sieg über britische Landungstruppen bei New Orleans im Januar 1815, also bereits nach Unterzeichnung des Friedensvertrags, den Grundstein für eine Karriere, die ihn 1829 ins Präsidentenamt brachte. Wichtiger war vielleicht noch, daß der Krieg im kollektiven Bewußtsein der Amerikaner das Gefühl der Unbesiegbarkeit stärkte und die innere Distanz zu Europa vergrößerte. Sein Verlauf schien einem seit dem French and Indian War der 1750er Jahre vertrauten Muster zu folgen, das über anfängliche Niederlagen und Beinahe-Katastrophen zur Mobilisierung aller Kraftreserven und schließlich zum Sieg führte. Von da an verbanden sich in der Bevölkerung recht widersprüchliche Einstellungen - die Bewunderung kriegerischer Taten und die Geringschätzung des militärischen Professionalismus; das Verlangen nach absoluter Sicherheit und grenzenloser Optimismus - zu einer ambivalenten Gefühlslage. Im Rückblick erschienen die beiden Revolutionskriege als "paradigmatic of how America saved itself from being like, and part of Europe and Europe's problems,,45. Echte Gefahr konnte dem ,,republikanischen Experiment", wie Abraham Lincoln in seiner ersten aufgezeichneten Rede vorhersagte, nur aus innerer Uneinigkeit der Nation und mangelnder Prinzipientreue ihrer Bürger erwachsen: "At what point shall we expect the approach of danger? By what means shall we fortify against it? Shall we expect some transatlantic military giant, to step the Ocean, and crush us at a blow? Never! All the armies of Europe, Asia and Africa combined, with all the treasure of the earth (our own excepted) in their military ehest; with a Buonaparte for a commander, could not by force, take a drink from the Ohio, or make a track on the Blue Ridge, in a trial of a thousand years. At what point then is the approach of danger to be expected? I answer, if ever it reaches us, it must spring up amongst uso It cannot come from abroad. If destruction be our lot, we must ourselves be the authors and finishers. As anation of freemen, we must live through all time, or die by suicide ,,46

Die Amerikaner verfügten im 19. Jahrhundert nicht über eine zusammenhängende Strategie des "Volkskrieges" oder der "levee en masse" nach französischem 45 lohn Shy, The American Military Experience: History and Learning, in: ders., A People Numerous and Anned (Anm. 6), 239. 46 Abraham Lincoln, Address Before the Young Men's Lyceum of Springfield, Illinois, Jan. 27, 1838, zitiert nach: Lincoln on Democracy. His Own Words, With Essays by America's Foremost Historians, hrsg. v. Mario M. Cuomo und Harold Holzer, New York 1990, 15 - 23.

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Vorbild. Vielmehr entwickelten sie auf pragmatische, experimentelle Weise ein militärisches Alternativkonzept zur Praxis der europäischen Staaten, das auf der Solidarität, Leistungsfähigkeit und Leidensbereitschaft des ganzen Volkes in Zeiten der Gefahr beruhte. Dieses Konzept erwuchs aus den ideologischen Prämissen des Republikanismus, aus den Erfahrungen des Unabhängigkeitskrieges sowie aus den öffentlichen Debatten und dem Parteienstreit der Revolutionsepoche. Inhaltlich stellte es eine Mischung aus traditionellen und modemen Elementen dar, und im Bereich der kollektiven Mentalitäten entsprach dem ein Mit- und Nebeneinander von Antimilitarismus und Gewaltbereitschaft. Obwohl der zweite Krieg gegen England große Mängel aufdeckte, wichen die Amerikaner von dieser Linie nicht ab. Sie gewährleistete ihrer Überzeugung nach die äußere Sicherheit und die territoriale Expansion der USA, ohne daß der Primat der Politik und die demokratische Entwicklung der Gesellschaft in Gefahr gerieten. Die Expansion nach Westen, verbunden mit der Ausdehnung der Sklaverei, steigerte dann allerdings die inneren, sektionalen Spannungen, bis Nord- und Südstaatler im Bürgerkrieg die Waffen aufeinander richteten. Erst jetzt wurde Bellona voll entfesselt: Hatten die Articles ofWar von 1806 Angriffe auf Zivilisten und Plünderungen noch bei strenger Strafe verboten, so lief die Strategie des Nordens seit 1863 darauf hinaus, die Moral der Bevölkerung im Süden (General Sherman nannte sie "a ho stile people") durch systematische Zerstörungen zu brechen. Mit Shermans berüchtigtem ,,Marsch ans Meer" kündigte sich, früher als in Europa, ein neues Zeitalter des "totalen Krieges" an47 .

47 L. Janda, Shutting the Gates of Mercy (Anm. 36), 10, 15 f. Im Anschluß an den Bürgerkrieg führten die Generäle Sherman und Sheridan laut Janda eine meIujährige "campaign of annihilation, obliteration and complete destruction" gegen die Indianer westlich des Mississippi: ebd., 17 ff.

Scharnhorst und die militärische Revolution Von Michael Sikora, Münster

Der Titel dieses Aufsatzes mag überraschend erscheinen. Denn er verwirrt Begriffe. Als Militärische Revolution werden gemeinhin die taktischen und technischen Veränderungen der Kriegführung im 16. und 17. Jahrhundert verstanden!. Dennoch soll diese Bezeichnung für die folgenden Seiten auf die Ereignisse am Ende des 18. Jahrhunderts Anwendung finden. Denn sie verbindet in besonders prägnanter Weise die hier zur Debatte stehenden Probleme. Zum einen zeigt sie an, daß die militärischen Verhältnisse zweifellos bedeutenden Umwälzungen unterlagen. Sie können sich vielleicht nicht mit den technischen Neuerungen des 15. und 19. Jahrhunderts messen, sicher aber mit den taktischen Reformen Gustav Adolfs2 . Ein wichtiges Indiz für diesen Wandel ist die Tatsache, daß die Zeitgenossen selbst solche Veränderungen wahrnahmen und als außerordentlich empfanden. Mehr noch, gerade diese Wahrnehmungen, geprägt vom Pathos der Revolution und der Befreiung, verliehen den Veränderungen eine Bedeutung, die ihren rein militärischen Gehalt zweifellos überstieg. Daher steht im folgenden auch nicht der Wandel an sich im Mittelpunkt. sondern vielmehr dess!'!n Wahrnehmung aus der Sicht eines Zeitgenossen, der erst Zeuge und dann Protagonist dieser Militärischen Revolution geworden ist. Zum zweiten bringt die sozusagen leihweise Übernahme dieses Stichworts zum Ausdruck, daß die Ereignisse der politischen Revolution in Frankreich selbst spätestens ab 1792 in hohem Maße von militärischen Maßnahmen geprägt waren. Die Propaganda für den Krieg und die Kontrolle über die militärische Macht wurden zu wesentlichen Instrumenten der politischen Auseinandersetzung. Umgekehrt übten die Kriegsereignisse ihrerseits einen schwer kontrollierbaren Einfluß auf die politische Stimmungslage aus. Das heißt aber auch, daß die Veränderungen der militä1 Diese These geht zurück auf Michael Roberts, The Military Revolution 1560-1660, Belfast 1956, auch in: ders., Essays in Swedish History, London 1967, 195 - 225, dt. in: Ernst Hinrichs (Hrsg.), Absolutismus, Frankfurt a.M. 1986, 273 - 309. Zur Diskussion vgl. zuletzt Geoffrey Parker, Die militärische Revolution. Die Kriegskunst und der Aufstieg des Westens 1500-1800, Frankfurt a.M.lNew York 1990 (eng!. Originalausgabe Cambridge 1988); Jeremy Black, A Military Revolution? Military Change and European Society 1550-1800 (Studies in European History ), Basingstoke I London 1991. 2 Schon Geoffrey Parker, Revolution (Anm. 1), 183, spielte mit dem Gedanken, die levee en masse als zweite militärische Revolution aufzufassen.

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rischen Organisation und der Kriegführung in hohem Maße von politischen Interessen diktiert und durch politische Kategorien und Mythen legitimiert worden sind. Revolution, Krieg und Militär gerieten in ein eng verwobenes Wechselverhältnis. Darin bestand zugleich die Herausforderung für diejenigen, die in Deutschland die Konsequenzen der militärischen Innovation für den Kampf gegen Frankreich zu ziehen versuchten. Daher führt jenes Wechselverhältnis zur Königsfrage jeder Auseinandersetzung gerade mit den preußischen Heeresreformen, inwieweit sich nämlich grundsätzliche Umgestaltungen ohne politische Revolution verwirklichen ließen. Wie bei keinem zweiten lassen sich auf deutscher Seite diese beiden Perspektiven auf den militärischen Wandel in der Person Gerhard v. Scharnhorsts verbinden. Als Kriegsteilnehmer wurde er schon 1793 unmittelbarer Zeuge des revolutionären Kriegsgeschehens, als einziger übrigens aus dem harten Kern der späteren preußischen Reformer 3 , im Gegensatz auch zu Autoren wie Berenhorst oder Bülow, die in den folgenden Jahren versuchten, dem Geschehen theoretisch gerecht zu werden4 . Elf Jahre nach seiner Rückkehr von der flandrischen Front wurde Scharnhorst in die preußische Militärreorganisationskomrnission berufen, die die Armee nach dem Desaster von 1806/07 grundlegend reformieren sollte. Damit rückte er in eine Position, in der er sein Urteil über die militärischen Veränderungen in praktische Politik umsetzen konnte und sollte. Jede Auseinandersetzung mit Scharnhorst sieht sich allerdings mit dem Problem konfrontiert, daß er sich nur zurückhaltend geäußert hat. Scharnhorst hat keinen groß angelegten Entwurf über das Wesen des revolutionären Krieges oder die Prinzipien der Strategie vorgelegt, das widersprach seiner Denkweise. Aussagen von prinzipiellem Gehalt sind noch nicht einmal sehr zahlreich und müssen aus Denkschriften, Aufsätzen, Briefen und Notizen zusammengetragen werden. Vor allem aber äußerte er sich in der Öffentlichkeit nur vorsichtig und politisch rücksichtsvoll, ohne seine Überzeugungen vollständig zu enthüllen. Seinen Freunden und Mitarbeitern galt Scharnhorst eher als ein großer Schweiger. Diese Selbstbescheidung hat Vereinfachungen und Idealisierungen erleichtert und herausgefordert, die ihn bis heute zum Symbol unterschiedlicher, ja widersprüchlicher militärisch-politischer Programme verklären konnten. Scharnhorsts Vertrautheit mit anderen Staatsreformern und seine Unterschrift unter vielen gemeinschaftlichen Eingaben und Denkschriften hat gelegentlich dazu beigetragen, seine Merkmale im allgemeinen Geist der Reformen aufgehen zu lassen. Die folgenden Beobachtungen konzentrieren sich auf Scharnhorsts eigene Aussagen 3 Allerdings zog auch Carl von Clausewitz 1793 als Fähnrich in den Krieg gegen Frankreich und machte am Rhein seine ersten Erfahrungen im Gefecht. Er war jedoch erst 14 Jahre alt und erlebte den Krieg, "ohne ihn zu verstehen", wie er selbst später schrieb, nach Wemer Hahlweg, Clausewitz (Persönlichkeit und Geschichte, 3), Göttingen 1969, 14. 4 Über den Stand der Militärtheorie orientieren Azar Gat, The Origins of Military Thought from the Enlightenment to Clausewitz, Oxford 1989, sowie die entsprechenden Beiträge in Makers of Modem Strategy from Machiavelli to the Nuclear Age, hrsg. v. Peter Paret, Oxford 1986.

Scharnhorst und die militärische Revolution

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und versuchen, bewußte Akzente mit jener Ungewißheit zu verbinden, die eine quellennahe Interpretation unter diesen Bedingungen nicht auflösen kann5 . Scharnhorst zog 1793 mit ungewöhnlichen Voraussetzungen in den Krieg. Das Geschehen, das auf ihn zukam, hatte er schon jahrelang theoretisch durchexerziert, nicht allein auf dem Übungsplatz, wie die anderen Offiziere, sondern auch im Kopf. Auf der Militärschule des Grafen Wilhelm von Schaumburg-Lippe hatte er eine technische und militärwissenschaftliche Ausbildung genossen, wie sie für seine Zeit noch alles andere als selbstverständlich war. Schon in den achtziger Jahren veröffentlichte er erste Aufsätze und Bücher, gab seine erste Fachzeitschrift heraus und gehörte damals trotz mancher Vorläufer noch zu den Pionieren der Militärpublizistik in Deutschland. Zehn Jahre lang unterrichtete er an hannoverischen Militärschulen Kadetten und Offiziere, auch dies noch ein seltenes Tätigkeitsfeld6 . Dort mußte er sich mit dem Problem auseinandersetzen, wie die künftigen Offiziere auf adäquates Handeln und Entscheiden im Krieg vorbereitet werden konnten. Die zeitgenössischen Versuche, militärische Praxis durch systematische Theorien zu rationalisieren, halfen ihm dabei offenbar nicht weiter. Dem üblichen Respekt vor der Routine des Dienstalters mißtraute er. Seine bäuerliche Herkunft erleichterte ihm die Entwicklung eigener Perspektiven jenseits der Traditionen des Offiziersadels. Früh hatte er demgegenüber die Überzeugung gewonnen, daß allein die kritische reflektierte Aneignung praktischer Erfahrungen den Offizier in die Lage versetze, dem Kriegsgeschehen gerecht werden zu können. Diese Erfahrung 5 Als biographisches Standardwerk darf immer noch Max Lehmann, Scharnhorst, 2 Theile, Leipzig 1886/ 87, gelten. Bemerkenswerte und pointierte, allerdings nicht unproblematische Interpretationsansätze stammen von Reinhard Höhn, Scharnhorsts Vermächtnis, Bonn 1952, und Rudolf Stadelmann, Scharnhorst. Schicksal und Geistige Welt, Wiesbaden 1952; einen Überblick der (westdeutschen) Nachkriegsforschung, die durch ein nachlassendes Interesse an Scharnhorst gekennzeichnet ist, vermittelt Heinz Stübig, Die preußische Heeresreform. Kontinuität und Wandel im Geschichtsbild der Bundesrepublik Deutschland, in: Gemeingeist und Bürgersinn. Die preußischen Reformen, hrsg. v. Bernd Sösemann (Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Beiheft 2), Berlin 1993, 171-190. Neue Perspektiven eröffnet der Sammelband von Eckhard Opitz (Hrsg.), Gerhard von Scharnhorst. Vom Wesen und Wirken der preußischen Heeresreform, Bremen 1998. Neben Aufsätzen zur geistes- und militärgeschichtlichen Einordnung Scharnhorsts vermitteln mehrere Beiträge erstmals einen Überblick über die Scharnhorstrezeption von 1813 bis zur Gegenwart. Zu den methodischen Problemen vgl. Günter Wollstein, Scharnhorst und die Französische Revolution, in: HZ 227 (1978), 325 - 352, hier 327 ff. 6 Über die militärische Publizistik informiert immer noch am umfassendsten Max Jähns, Geschichte der Kriegswissenschaften vornehmlich in Deutschland, 3 Teile (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland, 21), München / Leipzig 1889 - 1891, außerdem Otto Basler. Wehrwissenschaftliches Schrifttum im 18. Jahrhundert, Berlin 1933; einführend in die Anfange der Offiziersausbildung Daniel Hohrath, Die ,.Bildung des Officiers" im 18. Jahrhundert, in: Die Bildung des Offiziers in der Aufklärung. Ferdinand Friedrich von Nicolai und seine enzyklopädischen Sammlungen, Ausstellungskatalog der Württembergischen Landesbibliothek, Stuttgart 1990,28 - 63; Bemhard R. Kroener. Der Offizier im Erziehungsprogramm der Aufklärung, in: Von der Friedenssicherung zur Friedensgestaltung. Deutsche Streitkräfte im Wandel, hrsg. v. Heinrich Walle, Herford 1991,23 - 34.

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mußte er selbst zunächst aus der Kriegsgeschichte schöpfen, namentlich aus den Büchern über den Siebenjährigen Krieg7 • Noch auf dem Weg nach Flandern ließ er sich, in die Arbeit an der Herausgabe einer Schrift Friedrichs des Großen vertieft, einen Band von Tempelhoffs Geschichte des Siebenjährigen Kriegs ins Feld nachschicken 8 . Seine methodisch entwickelte und geübte, dabei von Traditionen und Theorien relativ unabhängige Denkweise erleichterte es ihm aber zweifellos zu erkennen, daß sich auf den Schlachtfeldern des Jahres 1793 manches anders zutrug als auf denen des Jahres 1757. Schamhorsts Wahrnehmungen folgten also dem Interesse, empirischen Stoff für die Einübung und Optimierung situativer Entscheidungsfindung zu sammeln. Dieses Interesse verband sich mit seinem persönlichen Ehrgeiz. Als Titularkapitän der reitenden Artillerie spielte er bei Kriegsausbruch keine bedeutende Rolle. Seine Herkunft, seine Tätigkeit, seine Interessen und seine Zugehörigkeit zur technischen Waffengattung stempelten ihn innerhalb des Offizierkorps' zum Außenseiter. 1'ypischerweise bedeutete der Krieg für ihn eine große Chance, jenseits der starr strukturierten Friedensroutine auf sich und seine Fähigkeiten aufmerksam zu machen. Dies gelang ihm auch. Schon während der Belagerung von Valenciennes im April 1793 führte er im Auftrag des Generalstabs Geländeerkundungen aus. In den Gefechten südlich des belagerten Dünkirchen machte er sich als beherzter Truppenführer einen Namen. Vor allem aber zeichnete er sich beim Ausbruch aus dem belagerten Menin im April 1794 aus, nachdem er bereits die Ausbesserung der Festungswerke geleitet hatte, und wurde vom Kommandeur des hannoverischen Corps' General Graf von Wallmoden-Gimborn in den Stab übernommen, wo er sich als Planer und Inspizient der Vorpostenketten rasch unentbehrlich machte. Diese Position erlaubte ihm Einblicke in die strategischen Planungen und Operationen des hannoverischen Corps' und der gesamten alliierten Armee auf dem nördlichen Kriegstheater. 7 Heinz Stübig hat treffend von ,,kritisch angewandter Kriegsgeschichte" gesprochen, Heinz Stübig, Schamhorst. Die Reform des preußischen Heeres (Persönlickeit und Geschichte, 131), Göttingen 1988,56. Dieser Zusammenhang kommt am deutlichsten zum Ausdruck bei Gerhard von Schamhorst, Nutzen der militärischen Geschichte, Ursach ihres Mangels, Faksimile der Handschrift mit Übertragung und Einführung von Ursula von Gersdorff (Bibliotheca Rerum Militarium, XLIV), Osnabrück 1973, vor allem 5. Das dem zugrunde liegende Konzept militärischer Bildung hatte Schamhorst aber schon sehr früh entwickelt, wie zum Beispiel in einer um 1786 entstandenen Denkschrift zum Ausdruck kommt: "Ohne Beurthei1ung ist dem Officier alles Wissen von keinen Nutzen, indem er nie nach einer gewissen Regel, sondern nach den besondern Umständen seine Maaßregeln nehmen muß. Ohne Bildung der Beurtheilungskraft und Uebung in der Entwerfung und Ausführung militärischer Vorfälle auf dem Felde bekäme der Officier woll Begriffe, aber er wüßte sie nicht anzuwenden", Nachlaß Schamhorst, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. Hauptabteilung, Rep. 92 Scharnhorst Nr. 58 fol. 35v. 8 Brief an Klara Scharnhorst, 30. 3. 1793, vgl. Karl Linnebach (Hrsg.), Schamhorsts Briefe, Erster Bd.: Privatbriefe (mehr nicht erschienen), München/Leipzig 1914, Reprint (mit Kommentar und Anhang von Heinz Stübig) München 1980,22.

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Gemäß seinen Prinzipien beschränkten sich Scharnhorsts Aktivitäten keineswegs auf seine Dienstpflichten als aktiver Truppenführer und Stabsoffizier. Er verfolgte vielmehr das Geschehen zugleich als kritischer Beobachter, der die Ereignisse immer wieder notierte, kommentierte, reflektierte. Aus den Akten sammelte er bereits Material für die spätere publizistische Auseinandersetzung mit seinen Erfahrungen. Seine vergleichsweise nüchternen Einschätzungen haben ihn zu einem Kronzeugen der militärischen Revolution gemacht. Diese Beobachtungen über den Krieg flossen vor allem in zwei bekannte und bedeutende Arbeiten. In der unvollendeten Aufsatzreihe über den ,,Feldzug der verbundenen Armeen in Flandern, im Jahre 1794"9, rekonstruierte Scharnhorst den Verlauf der Ereignisse. Solche kommentierten Chroniken, wie sie in der Kriegsgeschichtsschreibung der Zeit vorherrschten, bedienten das Interesse nach gesicherten Fakten, ohne daraus prinzipielle Einsichten zu kondensieren. Scharnhorst aber bemühte sich immer wieder, allgemeine Klugheitsregeln aus dem Geschehen abzuleiten. Dadurch mußte er sich jedoch auch zu Kommentaren und Urteilen über die Entscheidungen der Verantwortlichen veranlaßt sehen, deren Veröffentlichung untunlich erscheinen mochte. Vielleicht hat er das Projekt deshalb nicht zu Ende geführt. In seinem berühmten Aufsatz ,,Entwicklung der allgemeinen Ursachen des Glücks der Franzosen in dem Revolutionskriege und insbesondere in dem Feldzuge von 1794,,10 dagegen ging er den strukturellen Ursachen für den Mißerfolg der Koalition auf die Spur, ausgehend von der These, daß deren Niederlagen eben nicht in zufalligen Umständen begründet waren. Die Einleitung kündigt zwar eine zusammenhängende Analyse aller Feldzüge bis 1796 an, die Beispiele beschränken sich jedoch auf den Scharnhorst zugänglichen Erfahrungsbereich, die Feldzüge von 1793 und 1794 in den Niederlanden und eben noch den Siebenjährigen Krieg. Dieser viel zitierte Aufsatz stellt zweifellos die zentrale Quelle für Scharnhorsts Wahrnehmung der französischen Kriegführung dar und lohnt daher immer noch eine eingehende Neubetrachtung. Scharnhorst überraschte allerdings mit der Feststellung, Frankreich habe "nicht etwas ganz Außerordentliches, in der Geschichte gar nicht bekanntes getan, wie so 9 Neues Militärisches Journal, 9. Bd. (Militairische Denkwürdigkeiten unserer Zeiten, insbesondere des französischen Revolutionskrieges [ ... ],2. Bd.), Hannover 1798, 164-369; 10. Bd. (3. Bd.), Hannover 1801, 134 - 343. 10 Neues Militärisches Journal, 8. Bd. (Denkwürdigkeiten (Anm. 9), 1. Bd.), Hannover 1797, 1-154. Der Aufsatz gehört zu einem kleinen Kanon an immer wieder neu gedruckten Scharnhorst-Schriften, am leichtesten zu greifen in den beiden jüngsten, als West- und Ostvariante vorliegenden Auswahlausgaben: Gerhard von Scharnhorst, Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Ursula von Gersd01ff (Bibliotheca Rerum Militarium, XLIX), Osnabrück 1983, 49110, und Gerhard von Scharnhorst. Ausgewählte militärische Schriften, hrsg. v. Hansjürgen Usczeck, Christa Gudzent (Schriften des militärgeschichtlichen Instituts der DDR), Berlin 1986,97 - 150. Da der Aufsatz in überschaubare Abschnitte eingeteilt ist, werden die Zitate im folgenden nur durch Ergänzung der Abschnittsnummer belegt, um den Apparat nicht zu überfrachten. Zur Interpretation vgl. zuletzt G. Wollstein, Scharnhorst (Anm. 5), 328 ff.

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viele Schriftsteller und andere, die allerwärts in der Französischen Revolution etwas Außerordentliches und Großes sehen wollen, behaupten" (VI). Er verglich die Erfolge der Revolutionstruppen sogar ausgerechnet mit den Kriegen Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. Bei einer solchen Relativierung ist zunächst zu beachten, daß es sich hier um eine öffentliche Äußerung handelte, bei der es politische Rücksichten zu nehmen galt. Angesichts dessen ist es schon bemerkenswert, daß die Sympathisanten der Revolution als Idealisten eher positiv bewertet werden, wogegen die Gegner der Revolution eher als Provokateure erscheinen, die - nicht zuletzt durch das Manifest des Herzogs von Braunschweig - den Gegner zum äußersten trieben. Die stillen Sympathisanten hingegen erkannten, so Scharnhorst, im Verlauf der Revolution die Unmöglichkeit einer idealischen Neuschöpfung und wurden "um desto bessere Staatsbürger" (11.2) - eine Haltung, in der man auch Scharnhorst wiedererkennen möchte 11. Wenn er die militärischen Leistungen der Revolution relativierte, so konnte er dafür aber auch eine Reihe sachlicher Grunde anführen, Gründe, die es den Revolutionären ganz ohne ihr Zutun leicht gemacht hätten. In diesem Sinne begriff Scharnhorst das Kriegsgeschehen als ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren. Er erörterte sie in einer gereihten, nur lose strukturierten Ordnung, in der er zunächst Fragen der Motivation und Wahrnehmung, sodann geographische Aspekte und schließlich die Gesichtspunkte militärischer Taktik und Führung behandelte. Diese Reihenfolge ist bemerkenswert: An erster Stelle stehen demnach keineswegs harte militärische Fakten, weder Truppenstärken noch Schlachtdispositionen, sondern psychologische Beobachtungen, Einstellungen zur Revolution, zum Gegner, zum Krieg, Beobachtungen zudem, die nicht allein das Militär, die Generäle, betreffen, sondern eingebettet sind in die politischen Verhältnisse der beteiligten Mächte. Gleich der erste Satz bringt diesen Ansatz programmatisch auf den Punkt: "Die Quelle des Unglücks, welches die verbundenen Mächte in dem französischen Revolutionskriege betroffen hat, muß tief mit ihren innern Verhältnissen und denen der französischen Nation verwebt sein". Scharnhorst sagte es nicht ausdrücklich, aber diese analytische Perspektive ist neu in der Auseinandersetzung mit der Kriegskunst, und dieses Paradigma an sich stellt, unabhängig von der konkreten Ausgestaltung, bereits eine wesentliche Neuerung dar. Krieg läßt sich demnach nicht mehr auf das Genie der Generäle und die Hände und Beine der Soldaten reduzieren, Krieg ist ein Geschehen, daß von den sozialen Strukturen und kollektiven Empfindungen maßgeblich beherrscht wird. Unter dem Gesichtspunkt der hier zur Debatte stehenden Fragen können einige der von Scharnhorst aufgeführten Faktoren indes getrost übergangen werden. Dazu zählen zunächst die geographischen Gegebenheiten, die die Verteidigung Frankreichs erleichtern: der Schutz der Grenze durch natürliche Hindernisse, verstärkt durch die Anlage von Festungen (VI-VIII). Unabhängig von der konkreten Situation unterlag die Kriegführung der Koalition überdies den unausweichlichen Frik11

In diesem Sinne auch G. Wollstein, Scharnhorst (Anm. 5), 334.

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tionen jeder Koalition: Unterschiede der technischen Ausstattung erschwerten die gegenseitige Unterstützung, Eifersüchteleien behinderten die Zusammenarbeit, die technischen Probleme der Verständigung mehrerer Regierungen blockierten die nötigen Entscheidungen ebenso wie widersprüchliche politische Interessen (XII, XIII). Solche Reibungsverluste behinderten jede verbundene Kriegführung und konnten nur durch glückliche Umstände vermieden werden, während gerade die Koalition gegen das revolutionäre Frankreich durch offensichtliche Gegensätze spürbar gehemmt wurde. Von Bedeutung sind dagegen Scharnhorsts vergleichende Beobachtungen zum taktischen Verhalten. Beflissen stellte er die Vorzüge der alliierten Truppen heraus; es waren dies die traditionellen Kennzeichen gedrillter Linientruppen: Sie konnten sich selbst gegen Kavallerieangriffe behaupten und ließen sich auch nach einem unglücklichen Gefecht noch während des Kampfes wieder rangieren und gegen den Feind führen. Zudem zeigte sich nach seinem Urteil die alliierte Kavallerie in Qualität und Quantität der französischen Reiterei überlegen (X.3). Die französische Infanterie konnte dem keine vergleichbare Standfestigkeit entgegenstellen. Stattdessen erwiesen sich die französischen Soldaten nach Scharnhorsts Urteil in der Ausnutzung des Geländes und im aufgelösten Gefecht als überlegen. Sie verstanden es, sich der Feuerkraft des Gegners durch Deckung im freien Gelände zu entziehen und dem Gegner im Gegenzug durch gezieltes Einzelfeuer spürbaren Schaden zuzufügen (ebd.). Eine Notiz Scharnhorsts aus dem Jahre 1794, also unmittelbar aus den Kriegsereignissen heraus, vermittelt ganz konkrete Anschauung von dieser Art des Gefechts und zugleich von der Hilflosigkeit, mit der die alliierten Verbände dagegen agierten. Über die Tragweite dieser Entwicklung war sich Scharnhorst zu diesem Zeitpunkt bereits im Klaren: "Der jetzige französische Krieg wird das jetzt eingenomene tactische System in einigen Puncten gewaltig erschütern, die Attaquen mit den Bajonet haben zwar in den Augenblick die Blänkere entfernt, sonst aber nicht entschieden; die rege[l]mäßigen Feure in Bataillon sind auch nicht von Nutzen gewesen. Die feindlichen Trupp[e]n, die zerstreut fechten, laufen in ersten Augenblick beym Anlauf mit den Bajonet davon, aber man kann sie und noch weniger das feindl. Bataillon einhohlen u. verliehrt viel Leute; die rege[l]mäßigen Feure oder auch die Bataillon Feure thun seIlten große Wirkung, die feindl. Blänkere liegen meistens in den Furchen verdekt wie hint[e]r einer Brustwehr. Wenn man den Feind in gewöhnlicher Ordnung irgend wo in die Flucht bringt oder wenn man irgend wo durchdringt, so läuft das andere davon; so ist es aber gar nicht bey dieser Art Krieg mit den Franzosen; sie liegen zerstreuet in den Gräben und Furchen, suchen in dieser Dekung und ihren Feur ihre Erhaltung; [ ... ]"12. 12 "Annotationen", aus dem Nachlaß Scharnhorst (Anm. 7) Nr. 74, fol. 31r-v. Aus diesem Text zitieren auch Rudolf Stadelmann, Scharnhorst und die Revolution seiner Zeit, in: ders., Vorn Erbe der Neuzeit I, Leipzig 1942, 144 - 182, hier 154; Reinhard Höhn, Revolution, Heer, Kriegsbild, Darmstadt 1944, 233, übernommen in: ders., Scharnhorsts Vermächtnis (Anm. 5), 56.

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Das Erstaunliche an dieser Form des Gefechts bestand nicht zuletzt darin, daß sich die Franzosen damit sogar erfolgreich gegen Artillerie und Befestigungen wenden konnten; es heißt in derselben Notiz weiter: "Durch das Gefecht en Debandade, wobey sie sich auf die beschriebene Weise wen[i]g den Feur aussetzen, attaquiren sie die Canonen und zwi[n]gen sie oft zu[m] Rükzuge, tödten die Canoniere etc. Beym Schuß mit Cartätschen bücken sie sich wieder in die Furche, liegen zu Zeiten drin als wenn sie gar nicht mehr da wären; so haben sie unser Hauptman [ ... ] von der Art[illerie] getödtet und in Menin viele Leute, nachdem sie sich auf 200 Schritt genähert hatten". 1797 führten diese Beobachtungen zu der durchaus gewagten Verallgemeinerung, es sei eine "eine ausgemachte Wahrheit, daß die französischen Tirailleurs den größten Teil der Affären in diesem Kriege entschieden haben, daß sie denen der verbundenen Armeen überlegen waren" (X.3). Tirailleure gab es, das deutet Scharnhorst hier an, auch bei den Koalitionstruppen. Dabei handelte es sich um Scharfschützenabteilungen, in deutschen Heeren meist Jäger genannt und auch aus solchen rekrutiert, die mit besonders leistungsfähigen Gewehren in aufgelöster Fechtweise die Linientruppen unterstützen sollten. In der Diskussion über die Tirailleurtaktik ist denn auch auf die Existenz der Jäger hingewiesen und die Bedeutung der französischen Tirailleure damit relativiert worden 13 . Der Krieg der Jäger spielte in den Heeren des 18. Jahrhunderts jedoch immer nur eine subsidiäre Randrolle im Rahmen des sogenannten Kleinen Krieges. Scharnhorst behauptete dagegen, daß der Einsatz der französischen Tirailleure in eine neue Form der Kriegführung eingebettet gewesen sei. Sie kam auf taktischer Ebene darin zum Ausdruck, daß Tirailleure in großer Zahl und mit entscheidenden Aufgaben eingesetzt und auch entsprechend geführt wurden. Auf strategischer Ebene wurde die Kriegführung aus Scharnhorsts Sicht von den Franzosen gezielt in sogenanntes durchschnittenes Gelände geführt, wo natürliche Hindernisse wie Bewuchs und Bodenunebenheiten den Einsatz der überlegenen alliierten Linieninfanterie und Kavallerie behinderten, wenn nicht verhinderten, und umgekehrt die Fechtweise der Tirailleure zur vollen Entfaltung gelangen konnte (XI). Wenn Scharnhorst auch die militärischen Erfolge der Revolutionäre nicht über die der Könige stellen mochte, so unterstrich er andererseits aufgrund dieser Beobachtungen das innovative Potential dieser Kriegführung: "Man hat daher sehr falsch von den französischen militärischen Ausschüssen geurteilt, wenn man behauptete, daß sie ihre Operationen bloß nach den Regeln ihrer ältern Heerführer ohne Rücksicht der be sondern Umstände, in denen sie sich befanden, leiteten; man muß im Gegenteil gestehen, daß sie eine neue, ganz ihrer besondern Lage ange13 In Scharnhorsts Entgegnung floßen seine eigenen Erfahrungen von 1794 unmittelbar ein: "Man will diesen Vorzug nicht eingestehen; man behauptet, man habe leichte Infanterie und Jäger, welche immer den französischen Tirailleurs es gleich getan hätten. Aber wo haben sie wie die französischen die Kanonen einer Festung fast zum Schweigen gebracht und sich vor dem Glacis, in den Furchen und Vertiefungen, im Kartätschfeuer der Kanonen ganze Tage gehalten?" (Anmerkung Scharnhorsts in Abschnitt XI).

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messene Art, Krieg zu führen, angefangen haben und daß sie überall in den Plänen ihrer Operationen mehr Erfinder als Nachahmer sind" (ebd.). Im Gegenzug - das sei am Rande erwähnt - kritisierte Scharnhorst die Taktik der Koalitionskommandeure, die sich gegen die flexiblen Angriffe der Franzosen durch die Einrichtung von Postenketten zu wehren hofften. Diese Vorgehensweise führte zu einer Zersplitterung der Kräfte, die offensive Operationen kaum noch zuließ. Verteilung und Sicherung der Posten und am Ende, wenn ein Einbruch massierter französischer Truppen drohte, doch wieder Rückverlegung der Posten, von Flandern nach und nach bis an die Ems, das war eben Schamhorsts Tagesgeschäft 1794 und 1795. Nicht zuletzt Bequemlichkeit der Feldherm machte er dafür verantwortlich (ebd.). Die aufgelöste Kampfweise der Franzosen stellte freilich besondere Anforderungen an den Soldaten und verlangte insbesondere ein neuartiges Maß an Verläßlichkeit und Selbständigkeit. In den oben zitierten "Annotationen" heißt es in diesem Zusammenhang über die Franzosen: "ihre persöhnliche Bravour u. ihr Enthusiasmus setzt sie in den Stand, einzeln auf diese Art fechten zu können, da bey andern Truppen, wo die Dis[zi]pline alles in Bewegung setzt, nur so lange, als Reih' und Glieder gehalten werden, Bravour statt findet und einzeln wenig erwartet werden kann,,14. Hier, wahrscheinlich schon 1794, brachte er zunächst auf den Punkt, daß zwei Typen von Soldaten aufeinandertrafen, deren Verhalten unterschiedlichen Gesetzen folgte. In seinem Aufsatz von 1797 suchte er nach Gründen und fand sie scheinbar in unterschiedlichen Mentalitäten. Dabei sah Schamhorst die französischen Soldaten sogar noch von "Ehre" und "Wetteifer" angetrieben, Tugenden, die sich im einzelnen Gefecht, nicht aber in regelmäßigen Schlachten entfalten könnten. Das waren aber durchaus traditionelle Motivationen der professionellen Söldnerheere, getragen eher noch vom adligen Offizierskorps als von der Masse der Soldaten. Im Besonderen schienen die Franzosen in Scharnhorsts Augen "durch die Gewandtheit des Körpers und durch die Kultur des Verstandes bei dem gemeinen Mann" zu dieser Taktik befähigt. Es ist also an dieser Stelle keineswegs von einer besonderen politischen oder nationalen Begeisterung die Rede. Ohne jeden Bezug auf die revolutionären Verhältnisse führte er das außergewöhnliche Gefechtsverhalten der Franzosen auf den ,,Nationalcharakter,,15 (XI) zurück. Wie Anm. 12. Das gilt auch umgekehrt, da "die phlegmatischen Deutschen, Böhmen und Niederländer sich frei hinstellen und nichts tun, als was ihnen der Offizier befiehlt". Die Kategorie des "Nationalcharakters" gehörte zu den üblichen Wahrnehmungsformen der Aufklärung, die auch in militärischen Theorien immer wieder Niederschlag fanden. Vgl. allgemein u. a. Gonthier-Louis Fink, Das Bild des Nachbarvolkes im Spiegel der deutschen und der französischen Hochaufklärung (1750-1789), in: Bemhard Giesen (Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität, Frankfurt a.M. 1991,453 -492; Michael Maurer; ,,Nationalcharakter" in der frühen Neuzeit. Ein mentalitätsgeschichtlicher Versuch, in: Reinhard Blomert (Hrsg.), Transformationen des Wir-Gefühls. Studien zum nationalen Habitus, Frankfurt a.M. 1993, 45 - 81. 14

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Damit schien sich die Frage zu erübrigen, ob sich eine solche Fechtweise auch auf die alliierten Truppen übertragen ließ. Daß er 1797 überdies - wie schon angesprochen - die besonderen Vorzüge disziplinierter Formationen extra herausstellte, wird man auch nicht als Zugeständnis an den herrschenden militärischen Traditionalismus abtun dürfen. Dennoch blieb letztlich die beunruhigende Einsicht übrig, daß die alliierten Truppen offenbar unter einem Defizit litten, oder umgekehrt, daß sie mit einem Kampfverhalten konfrontiert wurden, dem sie noch nichts entgegenstellen konnten. Das galt nicht nur für das Verhalten des einzelnen Soldaten. Weit umfangreichere Überlegungen widmete Scharnhorst 1797 dem Verhalten der beteiligten Staatsgebilde im Ganzen. So sah er die Kampfkraft der alliierten Truppen nicht allein durch die unvermeidlichen Reibungsverluste einer Koalition gebremst. Allenthalben, so sah es Scharnhorst, versagte man den Armeen die notwendige Unterstützung. Die ständische Gesellschaft verlangte dem Adel, der Geistlichkeit, dem wohlhabenden Bürgertum keinen besonderen Einsatz ab. Die Verfassung des Reichs und der Vereinigten Niederlande schützte partikulare Interessen und Besitzstände und behinderte die Mobilisierung von Hilfsgütern. Ohnehin empfanden die Führungseliten der beteiligten Mächte wenig Neigung zu diesem Krieg, Schamhorst sprach von "Laulichkeit". Und die kam nicht zuletzt darin zum Ausdruck, daß die Koalition nur einen Teil ihrer militärischen Kräfte gegen Frankreich mobilisierte (IV, V.2, V.3). Ganz anders dagegen in Frankreich. Lebensmittel, Vieh, Pferde und beträchtliche freiwillige Geldbeiträge habe man dem Staate überlassen, kriegsnotwendige Rohstoffe gegen Assignaten verkauft und damit letztlich auch geopfert, "denn die Assignaten waren im Grunde nicht viel mehr als ein falscher Wechsel" (III). Schließlich schickte man allenthalben, "wenn es erfordert wurde, die zum Dienst tüchtige Mannschaft ohne Unterschied zu den Waffenplätzen" (V.l). Ob dies im einzelnen tatsächlich so behauptet werden kann, muß hier nicht erörtert werden. Scharnhorst jedenfalls gelangte zu der Einschätzung, "daß die Franzosen mit den Hilfsquellen der ganzen Nation Krieg führten" (III): "In allen auf den Krieg sich beziehenden Ausrichtungen nahm man diese nie gesehene Tätigkeit wahr" (V. 1). Scharnhorst beurteilte diese Anstrengungen also durchaus als ungewöhnlich und neuartig. Umgekehrt wurde der Krieg von den Koalitionsrnächten zweifellos nicht mit letztem Einsatz geführt. Die damit verbundenen Einschränkungen und Behinderungen wird man dennoch nicht als ungewöhnlich für die Kriegführung des 18. Jahrhunderts einschätzen müssen. Wenn Scharnhorst sie nicht nur analysiert, sondern zugleich als mangelhaft bewertet, so schleicht sich darin die normative Kraft der eigentlich neuartigen französischen Mobilisierung in seine Sicht ein: Unzulänglich war die alliierte Kriegführung vor allem im Vergleich zu den an sich außergewöhnlichen Anstrengungen der Franzosen. In diesen Wahrnehmungen unterschiedlichen Verhaltens konstituierte sich eine neue Vorstellung von Krieg, gekennzeichnet durch die bedingungslose Konzentra-

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tion aller Kräfte. Wollte man einen Krieg gewinnen, so war es nun eben nicht mehr mit den normalen Bemühungen getan, in denen Scharnhorst schon nur noch Defizite zu erkennen vermochte. Krieg verlangte, wollte man ihn erfolgreich bestehen, fortan die oberste Priorität aller politischen Maßnahmen. Allein Frankreich ist demnach, so scheint es, den Erfordernissen des Krieges gerecht geworden 16 . Die Ursachen für die plötzlich so gegensätzlichen Einstellungen zum Krieg sah Schamhorst in den Köpfen verwurzelt, in Wahrnehmungen und Ängsten. Demnach herrschte bei den Alliierten ein aus Ängstlichkeit und Übermut der Privilegierten gespeistes rigides antirevolutionäres Meinungsklima. Geringschätzung und Verachtung der Revolutionäre galten als Zeichen von Loyalität, wodurch eine realistische Einschätzung der französischen Machtmittel blockiert wurde. Die verzerrenden Berichte der Emigranten über mangelnde Unterstützung der Revolutionäre in der Bevölkerung und über Schwächen der französischen Truppen gaben dieser Verdrängungsspirale zusätzlich Nahrung. Folgt man den Worten Scharnhorsts, so wurden die französischen Gemüter im Grunde von einer ähnlichen Mischung aus Angst und Hochmut erhitzt. Beide Stimmungen schienen ihm dort aber ins Existenzielle gesteigert. Aus einem ausgeprägten nationalen Stolz auf Kultur und Wissenschaft - Scharnhorst erwähnte auch hier nur sozusagen vorrevolutionäre Werte, von Freiheit und Republik ist keine Rede - folgte in seinen Augen ein ausgeprägtes Sendungsbewußtsein. Umgekehrt empfand man die militärische Bedrohung der Alliierten nicht nur aufgrund ihrer numerischen Stärke als gefährlich. Vielmehr sah man, geschürt durch die Propaganda der Regierung, die staatliche Existenz und die individuelle Freiheit und Unversehrtheit infrage gestellt. Das berühmte Manifest des Herzogs von Braunschweig tat ein Übriges, diese Wahrnehmungen zu bestätigen. In ganz knappen und wenig systematischen Worten analysierte Scharnhorst damit scheinbar selbstverständlich Strukturen und Dynamik einer eminent politisierten Öffentlichkeit. Sie wurde auf beiden Seiten durch widersprüchlich erschei16 Was Scharnhorst hier anhand praktischer Konsequenzen aus subjektiver Perspektive skizziert, scheint bereits auf eine Vorstellung zu verweisen, die Clausewitz später zum theoretischen Modell des "absoluten Krieges" verdichtet hat. Clausewitz selbst hat die Revolutionskriege freilich nur als ,.Einleitung" zur eigentlichen Einlösung des "absoluten Krieges" in der napoleonischen Strategie begriffen, vgl. die berühmte Erörterung in "Vom Kriege", VIII. Buch, 2. Kap. Insofern Clausewitz sich aber ganz auf die Strategie und das Ziel der Niederwerfung konzentrierte und den Kontext einer gesellschaftlichen Mobilisierung weitgehend ausblendete, vermochte seine theoretische Perspektive die Breite der Wahrnehmungen Scharnhorsts gar nicht mehr zu erfassen. Zur Diskussion über die Kategorie des "absoluten Krieges", die sich eher nach vorne, auf den "totalen Krieg" hin konzentriert, vgl. u. a. Hans-Ulrich Wehler, ,Absoluter' und ,totaler' Krieg. Von Clausewitz zu Ludendorff, in: Politische Vierteljahresschrift 10 (1969), 220 - 248; Herfried Münkler, Instrumentelle und existentielle Auffassung des Krieges bei Carl von Clausewitz, zuerst 1988, jetzt in: ders., Gewalt und Ordnung, Frankfurt a.M. 1992,92-110,219-222; Jan Philipp Reemtsma, Die Idee des Vernichtungskrieges: Clausewitz - Ludendorff - Hitler, in: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, hrsg. v. Hannes Heer u. Klaus Naumann, Hamburg 1995,377 -401.

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nende, aber letztlich komplementäre Emotionen beherrscht: Angst wurde durch Überlegenheitsgefühle kompensiert. In diesen Stimmungen fanden demnach gerade jene Nachrichten Glaubwürdigkeit, die unabhängig von ihrem Realitätsgehalt diese Stimmungen bestärkten. Auf beiden Seiten machten sich zudem die Herrschenden diese Wahrnehmungen zunutze. "Die Unterstützung von oben hat immer einen großen Einfluß auf die Verbreitung der Meinungen, welche in Umlauf kommen" (11.2). Der Effekt war jedoch gegensätzlich. Mit Scharnhorsts Worten: "Der eine hatte alles und der andere wenig zu verlieren. Das Verhältnis der Motive bestimmt das Verhältnis der Mittel" (11.3). Ohne daß Scharnhorst dies ausdrücklich erörtert hätte, brachte er zudem in der Wortwahl einen weiteren wesentlichen Unterschied zum Ausdruck. Auf Seiten der Alliierten nahm er ganz verschiedene Gruppen mit zum Teil gegensätzlichen Auffassungen wahr: "junge Idealisten", das "Lesepublikum", "diejenige Klasse, welche kein Gefühl für die Glückseligkeit anderer Menschen hatte", Schriftsteller, Geistliche, Privilegierte, also die Protagonisten einer im Umbruch befindlichen Ständegesellschaft. Schrieb er von Frankreich, so ist in der Regel nur von der Nation die Rede, gelegentlich auch von der Regierung. Die Kritik an widerstrebenden Kräften in den alliierten Staaten korrespondierte also mit einer gegensätzlichen Bezeichnung der politisch-sozialen Strukturen. Dem können ganz undramatische Umstände zugrunde liegen: Natürlich war Scharnhorst mit den Verhältnissen der Gesellschaft, in der er selbst lebte, sehr viel vertrauter als mit der in vielerlei Hinsicht fremden sozialen Formation des revolutionären Frankreich. Ob aus Mangel an Information oder aus bewußter Wahrnehmung, er beschrieb Frankreich jedenfalls überwiegend als eine geschlossen handelnde soziale Einheit, und diese Einheit spielte schließlich in Form der allgemeinen militärischen Mobilisierung eine entscheidende Rolle in seiner Analyse. Aber auch in diesem Zusammenhang kamen weder die politische Verfassung noch die ideellen und institutionellen Ausdrucksformen der französischen Revolution zur Sprache. Sicherlich hat Scharnhorst politische Rücksichten genommen. Andererseits entsteht in seiner Analyse jedoch auch keine logische Lücke. Man wird zwar sagen dürfen, daß sich französischer Nationalstolz nicht allein aus Wissenschaft und Aufklärung speiste, die wesentlichen Kategorien der Analyse bleiben aber davon unberührt. Im Gegenteil, im Sinne seiner Ursachenbeschreibung stellte er die Verhältnisse sogar pointiert auf den Kopf. Dort, wo er die Lähmungen durch die Reichsverfassung und die niederländische Provinzverfassung beklagte, brachte er sein Urteil auf den vielzitierten Punkt: ,,Man hat deswegen nicht ohne Grund gesagt, daß die Franzosen bei einer republikanischen Verfassung monarchisch und die verbundenen Mächte bei einer monarchischen Verfassung republikanisch regiert würden" (V.3). Mehr noch, im Blick auf die Herrschaft des Wohlfahrtsausschusses unter Robespierre beurteilte Scharnhorst Frankreich eher als Zwangssystem, übrigens nicht ohne Respekt vor den Ergebnissen: "Die Grausamkeit, mit der die französische Nation behandelt wurde, gewöhnte sie an den Tod und an alle Aufopferungen,

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welche der Krieg erfordert; sie gab den Ausrichtungen aller Art eine größere Tatigkeit, und durch sie konnte man Dinge ausführen, die außerdem unmöglich gewesen wären" (V.4). So fügt sich auch diese Beobachtung in die zentrale Aussage, daß das (Kriegs-)Glück der Franzosen in erster Linie aus einer - durchaus zentralistischen und diktatorischen - Mobilisierung aller Kräfte folgte. Daß dem grundlegende politische Veränderungen vorangegangen waren, bleibt dagegen in Scharnhorsts Darstellung vollkommen diffus. Das politische System nahm er letztlich nur anhand seines Outputs wahr - so weit er sich öffentlich äußerte. Vor diesem Hintergrund verdient eine Notiz aus dem Nachlaß Aufmerksamkeit, die 1799 entstanden ist, also zwei Jahre nach Veröffentlichung des hier besprochenen Aufsatzes 17 . Hier heißt es gleich zu Beginn: ,,Es scheint, daß der rohe Republikanismus, der zur Zeit des Robespierre herrschte, wieder in den Franzosen erwacht. Durch diesen Geist ist die französische Nation im Stande, große Dinge zu thun". Hier immerhin brachte Scharnhorst also die militärische Mobilisierung einmal ausdrücklich mit der politischen Verfassung in Zusammenhang. Im weiteren kommt denn auch die Motivation der Franzosen durch politische Ideale zur Sprache: "Die Erfahrung hat im Jahr 1794 gelehrt, [ ... ] daß eine Nation sich zum Kriege ganz hergiebt, so bald sie für ihr privat Interesse, für ihre vermeinte Freyheit ficht". Ob es nur politische Scheu gewesen ist oder doch veritable Ideologiekritik, die Scharnhorst von ,vermeinter Freiheit' sprechen ließ, sei dahingestellt. Ohnehin nahm er an, daß sich die Motivationen mit der Zeit verschoben hatten: ,,Freilich ist es bey den jetzigen Franzosen nicht ein in die Augen fallendes Bedürfniß, den Krieg mit aller Aufopferung für ihre Freyheit zu führen - dagegen hat der erworbene Ruhm und der angeborene Nationalstolz bey ihnen aber auch die Ruhmbegierde erweckt, und was den Enthusiasmus für Freyheit abgehet, ersetzt jene reichlich". Scharnhorsts Notiz geht jedoch analytisch zwei Schritte weiter. Die Verknüpfungen zwischen militärischer und politischer Revolution sind eingebunden in einen Vergleich mit der römischen Republik, vielleicht als Ergebnis unmittelbarer Lesefrüchtels. Demnach folge Frankreich "in Rücksicht der Moral als der Politik und der Krieges-Kunst" denselben Prinzipien. Sansculotismus und die römische Tugend der Entsagung erschienen ebenso vergleichbar wie die Errichtung von abhängigen Republiken und die römische Eroberungspolitik. Diese Vergleichbarkeit erlaubt dann die Übertragung allgemeinerer Grundsätze: "Schon Plutarch macht über diese Politick der Römer, über dieses Betragen eines jeden großen republikanischen Staats Bemerkungen, welche auf unsere Zeiten nur allzu anwendbar sind". Die Lehre lautet: "Hat die französische Nation eben den 17 Nachlaß Scharnhorst (Anm. 7) Nr. 131 fol. 3r-lOv; vgl. M. Lehmann. Scharnhorst (Anm. 5) I. 331 f. 18 Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß es sich am Ende nur um ein Exzerpt handelt. Dagegen spricht, daß Scharnhorst keine Quelle notiert hat und daß im folgenden seine ureigensten Interessen ausführlich zur Sprache kommen.

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Grund, den die Römer hatten, immer Krieg zu führen, so steht der Menschheit eine traurige Zukunft bevor, wenn nicht irgendein Zufall, irgend eine Veränderung im Innern, diesem nicht zu besiegenden Volke eine andere Richtung giebt". Der französische Republikanismus begründet demzufolge nicht allein neue Dimensionen militärischer Mobilisierung und Motivation. Ihm schrieb Schamhorst zudem eine strukturelle Aggressivität zu. Freilich entstand diese Konstellation nicht aus einer Nachahmung der Römer. Wie 1797 führte Schamhorst den Gang der Ereignisse auf "die Natur der Dinge, die Stimmung der Nation, die inneren Verhältniße der Staaten und der Menschheit" zurück. Republikanismus und Aggressivität entsprangen also, so wird man dies übersetzen dürfen, einer spezifischen Kombination von politischen, sozialen und sozialpsychologischen Voraussetzungen. Sie machten Frankreich zu einer akuten Bedrohung. Man darf annehmen, daß hier die Wurzeln liegen für Schamhorsts antifranzösische Position, die er in Preußen jahrelang konsequent verfochten hat. Diese Sichtweise bedeutete überdies, daß auch die französische Militärpolitik spezifischen Umständen folgte. Selbst wenn man sie nachahmen wollte, um sich ihrer zu erwehren, ließen sich diese Umstände doch nicht übertragen. Die Frage nach einer Revolution in deutschen Landen erübrigte sich für Schamhorst. Damit ist allerdings ein nicht zu unterschätzendes persönliches Dilemma Schamhorsts verknüpft. Dies kommt in der Notiz in aller Deutlichkeit zum Ausdruck. Er listete im Anschluß an die knappen prinzipiellen Vorgaben Gründe für die Unbesiegbarkeit Frankreichs auf: Einsatz aller streitbaren Mannschaft und aller materiellen Ressourcen, "Cultur des Geistes", diese Aspekte nannte er schon 1797, dazu kamen der Vorsprung an Erfahrung nach sieben Jahren Krieg l9 . Über die Hälfte des ganzen Textes widmete Schamhorst allerdings der Auswahl und der Verantwortlichkeit des Offizierkorps' . In dieser sachlich doch wohl unproportionalen Berücksichtigung spiegelt sich natürlich Schamhorsts eigener Erfahrungsraum. Bestrafung der unfahigen, Belohnung und Beförderung der bewährten Offiziere sah Schamhorst demnach als einen wesentlichen Schlüssel zur effektiveren Truppenführung an. Nicht nur seine konkreten Erfahrungen im Krieg werden ihm dabei die Feder geführt haben, sondern seine persönliche Frustration. ,,Einen großen Vortheil haben die Franzosen darin, daß sie an der Spitze ihrer Armeen, Divisionen und Brigaden junge thätige Männer haben, die begierig sind, sich auszuzeichnen". Als solcher empfand sich Schamhorst selbst, er hat in seinen Briefen damit nicht zurückgehalten 2o . 19 "Die französische Nation führt nun 7 Jahr den Krieg": Auf diesen Satz stützt sich die Datierung dieser ansonsten nicht gekennzeichneten Aufzeichnung. 20 Die bekannteste Stelle, schon kurz nach Kriegsausbruch geschrieben: "Ich kann nicht dafür: das Gefühl meiner Kräfte, etwas außerordentliches tun zu können, wird mir nicht aufhören zu quälen, bis sich irgend eine vorteilhafte Veränderung eröffnet oder eine Rückkehr in mich selbst alle Ambition erstickt", Brief vom 28.3.1793, K. Linnebach. Scharnhorsts Briefe (Anm. 8), 19 (ausweislich der Handschrift lautet das Datum richtig 25.3.); andere Beispiele: "Ich kann mich wohl rühmen, daß niemand den Zusammenhang so weiß als ich. Es giebt ent-

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Um so bedrückender mußte er es empfinden, im hannoverischen Dienst seine Hoffnungen auf ein Kommando enttäuscht zu sehen. Mehr noch, aufgrund seiner Stabstätigkeit fiel er aus der Anciennität seiner Truppengattung heraus. Um eine Neueinstufung, an der sein weiteres Avancement hing, mußte er lange ringen. Dagegen sah er, daß auf französischer Seite "Thätigkeit" rasch Anerkennung fand. "Man erinnere sich nur Dumouriez, Pichegru, Moreau, Buonoparte, Hoche, u. a. m.". Freilich zollte Scharnhorst artig der Klugheit und den Erfahrungen des Alters Respekt, aber er nahm ihn gleich zurück. Tatsächlich träfen sie selten zusammen, "da aber die Erfahrung nicht von der Menge der Feldzüge, sondern von dem Geiste, mit dem sie beobachtet sind, abhängt, da die Beurtheilung der Klugheit eines ältern Generals sehr mißlich ist, da Conexion, Nepotismen, Stand und andere Leidenschaften hier mit ins Spiel kommen". Wieder sind es Schamhorsts eigene Maßstäbe, die hier ganz unverhohlen zugrunde gelegt wurden. Scharnhorst war sich zweifellos bewußt, daß seine Außenseiterrolle in der Sozialverfassung der altständischen Gesellschaft zementiert war. Ein vielzitierter Satz aus einem seiner Briefe lautet: "Wir werden von Aristokraten zurückgesetzt und streiten für die Aristokraten, das ist nun ein mal SO,,21. Die Beförderungspraxis der Revolutionsheere erschien ihm andererseits unerreichbar: "Beyandem Armeen ist dies nicht möglich, ohne alle innern Verhältniße ganz zu zerreißen. Nur der republickanische Enthusiasmus und der Geist der Revolution erlaubt diese Anordnung der Dinge". Die Enttäuschungen haben ihn bekanntlich bis an sein Lebensende begleitet. Trotzdem ist er aber immer der "gute Staatsbürger" geblieben. Als solcher suchte er, sich durch rastlose Tätigkeit im Dienste Hannovers, dann Preußens zu empfehlen. Gegenstand seines Wirkens wurden die Konsequenzen aus den Kriegserfahrungen, die Lehren aus der militärischen Revolution. Sie kamen indes einer Quadratur des Kreises gleich. Gefordert war eine breit angelegte Änderung des Bewußtseins, eine Änderung im Verhältnis der Bevölkerung zu Staat und Krieg, ja eigentlich selbst eine Veränderung im Verhältnis der Regierung zu Staat und Krieg. Es galt, sich gegen eine militärische Revolution zu behaupten unter Umständen, die selbst eigentlich keine militärische Revolution hervorbringen konnten. Wie kein zweiter gelangte Schamhorst tatsächlich in diejenigen Positionen, in denen er unter den gegebenen Voraussetzungen am intensivsten in diesem Sinne wirken konnte. Das verdankte er seiner Ausbildung und seinen Leistungen, aber nicht minder der angesichts seiner bäuerlichen Herkunft unentbehrlichen Unterstützung mächtiger Förderer, von Graf Wilhelm zu Schaumburg-Lippe über General setzlich dumme und feige Leute"; Brief vom 1. 6. 1793, ebd., 39; ,,[ ... ] und meine Ehrbegierde wird noch weniger befriedigt wie in Friedenszeiten. Der Dumme körnt hier eben so gut weg als der Klügere", Brief vom 28. 8. 1793, ebd., 66. 21 Zit. nach K. Linnebach, Scharnhorsts Briefe (Anm. 8), 40; vgl. R. Stadelmann, Scharnhorst (Anm. 5), 42 ff.; zu den Enttäuschungen, unter denen Scharnhorst in Preußen gelitten hat, vgl. ebd., 16 ff.; auf diese Zurücksetzungen stützt sich Stadelmanns tragisch strukturierte Scharnhorst-Interpretation.

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Graf von Wallmoden-Gimborn bis König Friedrich Wilhelm III. Schamhorst wurde zum maßgeblichen Gestalter des preußischen Militärbildungswesens, in dessen Rahmen er sowohl seine Vorstellungen von der Ausbildung der Offiziere umsetzen als auch seine konkreten militärischen Erfahrung und Urteile vermitteln konnte. Die Berufung in die preußische Militärreorganisationskommission 1807 verlieh ihm schließlich die Schlüsselrolle bei der Umgestaltung des preußischen Heeres. In einer einmaligen Konstellation empfahlen ihnen gerade seine unorthodoxen Kenntnisse und Ansichten für eine Aufgabe, die in einem Moment elementarer Erschütterung allen Herkommens einzigartige Gestaltungsmöglichkeiten eröffnete. Freilich erwuchs daraus nicht das militärische Kommando, das er sich bis zuletzt ersehnt hat. Er blieb festgelegt auf seine Außenseiterrolle als Theoretiker und Organisator, und dies in bemerkenswerter Kontinuität. Schließlich hatte er bereits in der kurhannoverischen Armee an der Grundlegung des dortigen Militärbildungswesen mitgewirkt. Auch in Hannover war er nach 1795 an Militärreformen beteiligt, die allerdings längst nicht die Reichweite der späteren preußischen Maßnahmen erreichten22 . Zwischen seiner Analyse der Kriegserfahrungen und seiner Berufung in die Reorganisationskommission vergingen indes noch einmal zehn Jahre. In dieser Zeit betätigte er sich neben seinen dienstlichen Aufgaben weiter als Autor und Herausgeber. Seine pädagogischen Vorstellungen konnte er im Rahmen seiner Lehrtätigkeit und besonders durch die Umgestaltung der Berliner militärischen Lehranstalt zur Offiziersakademie verwirklichen. In Berlin schuf er sich überdies durch die Gründung der Militärischen Gesellschaft ein neuartiges Forum. Ganz im Geiste seiner Bildungsvorstellung versammelten sich in diesem Rahmen Offiziere aller Ränge, um in aufklärerischem Stile militärische Probleme zu erörtern und so die Urteilskraft zu schärfen. Die Beiträge wurden zudem in den "Denkwürdigkeiten der Militärischen Gesellschaft" veröffentlicht23 . Dabei darf man sich nicht die Vorstellung machen, als habe sich nun die Aufmerksamkeit auf die militärische Revolution fixiert. Die Ausbildung künftiger Truppenoffiziere umfaßte die ganze Problemfülle der militärischen Praxis. Auch in den Debatten der Militärischen Gesellschaft stellten Aspekte der Revolutionskriege zwar zentrale, aber keineswegs die einzigen Themen dar. Schamhorst selbst publizierte in den "Denkwürdigkeiten" neben seinen Programmen für die Gesellschaft vor allem eine Aufsatzreihe über die Schlachten des Jahres 1757, ein poli22 Vgl. zu den begrenzten Refonnen in Hannover vor 1803 Richard W Fox, Conservative Accomodation to Revolution: Friedrich von der Decken and the Hanoverian Military Refonn, 1789 - 1820, Diss. Yale University 1972, 85 - 94. 23 Die Struktur, die pädagogische Zielsetzung und die Debatten der Militärischen Gesellschaft hat ehades Edward White, The Enlightened Soldier. Scharnhorst and the Militärische Gesellschaft in Berlin, 1801- 1805, New York 1989, eingehend analysiert. Die Studie, die auch ungedruckte Aufzeichnungen Scharnhorsts auswertet und seine Tätigkeit an der Offiziersakademie mit einbezieht, erhellt damit einen wichtigen, aber meist vernachlässigten Lebensabschnitt Schamhorsts.

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tisch unverfängliches Thema, militärisch nach wie vor relevant und zugleich eine Verbeugung vor dem neuen Dienstherrn. Gerade in der Polarität zwischen Siebenjährigem Krieg und Revolutionskrieg lag offenbar die Spannung der Debatten in der Militärischen Gesellschaft24 • Als Scharnhorst in den 1780er Jahren mit seinen ersten Zeitschriften an die Öffentlichkeit trat, befand sich die militärische Publizistik noch im Aufbruch. Nun aber betteten sich seine Aktivitäten in eine in wenigen Jahren entfaltete öffentliche Diskussion militärischer Fragen ein, eine Debatte, die nicht zuletzt durch die Umwälzungen der Koalitionskriege ausgelöst worden war. In den Erörterungen wurden die Neuerungen der Kriegführung mit der Zeit im wesentlichen auf zwei Stichworte reduziert und kanalisiert 25 . Das Schlagwort "Tirailleurtaktik" bezeichnete die aufgelöste Fechtweise, die schon vor der Französischen Revolution während des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges Aufmerksamkeit geweckt hatte. Die während der Koalitionskriege spürbar gewordene neuartige emotionale Anteilnahme der Soldaten war als "Enthusiasmus" in aller Munde. Beide Aspekte wurden indes aus dem Zusammenhang der politischen und militärischen Umstände zunehmend herausgelöst, so daß pragmatisch darüber theoretisiert werden konnte, wie sich beide Elemente im Rahmen der herkömmlichen Heeresstrukturen funktionalisieren lassen könnten. Nach den wenigen vorliegenden Hinweisen hat auch Scharnhorst in seinen Vorlesungen den Einsatz von Tirailleuren im Rahmen der Angriffsführung als "einen neuen Grundsatz" herausgestellt, den die Franzosen "im letzten Kriege" eingeführt hätten. Ganz gemäß seiner Analyse von 1797 verstand er darunter keinen Umsturz der Kriegskunst, sondern ein zusätzliches taktisches Prinzip, das zwar "von der größten Wichtigkeit ist", aber, "wie alle übrigen, freilich nur unter gewissen Umständen angewendet werden kann". Diese Einschränkung machte er bezeichnenderweise an Beispielen aus dem Siebenjährigen Krieg deutlich: Der Zeitverlust durch stunden- oder tagelange Schützengefechte hätte für Friedrich den Großen bei mehreren Gelegenheiten mehr Nachteile als Vorteile erbracht26 . Vgl. dazu auch R. Staaelmann, Scharnhorst (Anm. 5), 62 f. Vgl. R. Höhn, Revolution (Anm. 12), vor allem 321- 392. Über die Veränderungen der Kriegführung aus Sicht der Forschung vgl. Gunther Rothenberg, The Art of War in the Age of Napoleon, Bloomington 1970; an die Realität des Schlachtfeldes führt lohn A. Lynn, The Bayonets of the Republic: Motivation and Tactics in the Army of Revolutionary France, 1791-1794, Urbana/Chicago 1984; als Beispiel, wie Scharnhorsts Beobachtungen selbst auf die Forschung Einfluß nahmen, Eberhard Kessel, Die Wandlung der Kriegskunst im Zeitalter der Französischen Revolution, in: ders., Militärgeschichte und Kriegstheorie in neuerer Zeit, hrsg. v. Johannes Kunisch (Historische Forschungen, 33), Berlin 1987, 19 - 45 (zuerst 1933). 26 Aus einem Manuskript, das wahrscheinlich eine von Clausewitz ausgearbeitete Vorlesungsmitschrift darstellt, nach der Edition bei v. d. Goltz, Militärische Schriften von Scharnhorst (Militärische Klassiker des In- und Auslandes), Berlin 1881,323 f.; vgl. die Vorbehalte bei R. Staaelmann, Scharnhorst (Anm. 5), 68 f., 180. Einen mittelbaren Eindruck von dem Erfahrungsschatz, den Scharnhorst seinen Vorlesungen zugrunde gelegt haben dürfte, vermittelt das Material, das Clausewitz für seine Vorlesungen über den Kleinen Krieg zusammen24

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Die politische Konsequenz aus seiner Beurteilung Napoleons und Frankreichs war wie erwähnt, daß Scharnhorst sich konsequent auf die Seite der sogenannten "Kriegspartei" stellte. Er lehnte das politische Taktieren mit Frankreich um die Erhaltung des Friedens ab und plädierte für die militärische Konfrontation, die er ohnehin für unausweichlich hielt. Und als schließlich auch König und Regierung sich angesichts immer enger werdender politischer Spielräume für die Konfrontation mit Frankreich entschieden, da vermochte Scharnhorst noch vor Beginn des verhängnisvollen Feldzugs in Gestalt der April-Denkschrift von 1806 ein grundlegendes Reformkonzept auf den Tisch zu legen. Um den Bogen von der Analyse der militärischen Revolution zur Gestaltung der militärischen Reform zu schlagen, ist es keineswegs nötig, das ganze komplexe System an Reformen und Reformplänen von 1806 bis 1813 zu analysieren. Nicht alle Reformen sind, auch so weit sie von Scharnhorst angeregt wurden, ausschließlich als Reaktion auf die militärische Revolution zu begreifen. Scharnhorsts Grundsätze der Offiziersausbildung und der Generalstabsarbeit zum Beispiel hatten sich schon vor 1793 ausgebildet, wenn ihn auch der Krieg in seinen Überzeugungen nachhaltig bestärkt hatte. Unmittelbarer antworteten die taktischen Neuerungen, in Kampfweise wie in der Neuforrnierung der Truppenverbände, auf die Herausforderungen der französischen Kriegführung. Aber gerade sie ließen sich tatsächlich vergleichsweise nahtlos in die hergebrachten Heeresstrukturen integrieren. So ist gerade der Ausbau des Tirailleurwesens in die Strukturen der Linienverbände eingefügt worden, indem für das dritte Glied der Aufstellung sozusagen eine Zusatzausbildung für die aufgelöste Fechtweise eingeführt wurde. Die meisten Bestandteile der Reformvorstellungen lassen sich vom Kernstück der Erneuerung her begreifen. Die Substanz von Scharnhorsts Urteilen über die militärische Revolution, die materielle und ideelle Mobilisierung der ganzen Bevölkerung, mündete in die Fragen der Allgemeinen Wehrpflicht27 . Um Reichgestellt hat. Es enthält vor allem Beispiele aus dem Postenkrieg 1794 und sogar ein theoretisches Beispiel aus der Umgebung von Bordenau, Scharnhorsts Geburtsort, vgl. Carl von Clausewitz, Schriften - Aufsätze - Studien - Briefe, hrsg. v. Wemer Hahlweg (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, 45), Göttingen 1966, 214f., 529ff. Aufzeichnungen Scharnhorsts zur aufgelösten Fechtweise finden sich zudem bei Wemer Hahlweg, Preußische Reformzeit und revolutionärer Krieg (Wehrwissenschaftliche Rundschau, Beiheft 18), Berlin / Frankfurt a.M. 1962, hier vor allem 17 und 58 - 62. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, daß die Subsumierung des Schützengefechts unter die Kategorie des "Kleinen Krieges" oder gar des Guerillakrieges verdeckt, daß Scharnhorsts Beobachtungen die Wirksamkeit des Tiraillierens gerade im Rahmen der Belagerung und der Schlacht, Operationen also des "großen Krieges", hervorheben. Insofern zog die revolutionäre Kriegführung eine Annäherung dieser beiden im 18. Jahrhundert streng geschiedenen Gefechtsformen nach sich. 27 Vgl. Peter Paret, Conscription and the End of the Old Regime in France and Prussia, in: Geschichte als Aufgabe, Festschrift für Otto Büsch, hrsg. v. Wilhelm Treue, Berlin 1988, 159 - 182; H eribert Händel, Der Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht in der Wehrverfassung

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weite und Grenzen der damit verbundenen Pläne und Maßnahmen auszuloten, ist es indes nicht mit dem Verweis auf das französische Vorbild getan. Es ist vielmehr notwendig, in zwei Richtungen weiter auszuholen, zum einen, um die Entwicklung in Schamhorsts eigenen Vorstellungen deutlich zu machen, zum anderen, um Nähe und Abstand zu den Vorstellungen des 18. Jahrhunderts zu ermitteln. Schamhorsts Plädoyer für eine allgemeine Verpflichtung zum Militärdienst gilt als deutlichster Ausdruck auch für den Wandel, den seine Vorstellungen unter dem Eindruck der französischen Erfahrungen vollzogen haben. Immerhin ist er noch 1792, am Vorabend des Krieges, als Verteidiger der stehenden Heere und damit der traditionellen Heeresverfassung an ~ie Öffentlichkeit getreten. Sein Aufsatz richtete sich gegen eine in den Schlözerschen Staatsanzeigen erschienene kritische Auseinandersetzung mit den stehenden Heeren 28 • Typisch für die in Deutschland vorherrschende Denkweise der Heereskritik, stützte sich dieser Beitrag vor allem auf ökonomische und sittliche Bedenken. Der Autor zählte alle gängigen Klagen über die Kosten des Heeres, den Verlust an Arbeitskräften und über die Sittenlosigkeit auf, um sich dann besonders den miserablen Lebensbedingungen der Berufssoldaten und ihrer sozialen Folgen zu widmen. Scharnhorsts Entgegnung 29 bewegte sich auf zwei Ebenen. Sie nahm einerseits vor allem die sozialen Vorwürfe auf, um sie zu widerlegen, und stellte der Kritik zudem eine genuin militärische Argumentation entgegen. Die ständige Einsatzbereitschaft eines stehenden Heeres war in den Augen Scharnhorsts die unverziehtbare Voraussetzung zur politischen Selbstbehauptung in einer Welt, in der Krieg zur Normalität gehört; "der ewige Friede ist ein Chimäre". Indem militärische Präsenz der "Begierde, Eroberungen zu machen", Widerstand entgegensetzte, sollten Kriege eher verhindert werden, so lautete Schamhorsts Quintessenz: "Das einzige, was den Krieg vermindern wird, mag die Aussicht eines schlechten Erfolgs und also eine stehende formidable Armee sein, die [dem] den Krieg anfangenden Fürsten entgegenkommt,,30. Diese Argumentation war nicht besonders originell. Bemerkenswert immerhin ist, daß Schamhorst einige Mühe aufwandte, um die Geltung dieser These auch für Mittel- und Kleinstaaten behaupten zu können. Hierin mag man den Einfluß des Grafen Wilhelm von Schaumburg-Lippe vermuten. Graf Wilhelm hatte ein defendes Königreiches Preußen bis 1819 (Wehrwissenschaftliche Rundschau, Beiheft 19), Berlin I Frankfurt a.M. 1962, 43 - 62; Eberhard Kessel, Die allgemeine Wehrpflicht in der Gedankenwelt Scharnhorsts, Gneisenaus und Boyens, in: ders., Militärgeschichte (Anm. 25) (zuerst 1937),175 -188. 28 "Versuch über die nachteiligen Folgen der jetzigen Verfassung des Kriegs Standes überhaupt, und der, der InfanterieCorps insbesondere", in: [Schlözers] Stats Anzeigen, XVII. Bd. (1791),56 - 67. 29 "Über die Vor- und Nachteile der stehenden Armeen", in: Neues rnilitairisches Journal, 6. Bd., Hannover 1792, 234 - 254, hier zitiert nach der Edition von Usczeck/ Gudzent (Anm. 10),63 -73. 30 Ebd., 67 f. 12*

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sives Militärkonzept entwickelt mit dem Ziel, daß sich auch ein so kleines Territorium wie Schaumburg-Lippe gegen einen Angreifer zumindest so lange behaupten konnte, bis die mächtigeren Gegner des Angreifers Interesse an der Unterstützung des Kleinstaates fassen mochten 31 • Für die hier zu erörternden Zusammenhänge ist es von Bedeutung, sich die Alternative zu vergegenwärtigen, die Schamhorst ablehnt. Sie besteht in der Auflösung des stehenden Heeres zugunsten eines Milizsystems, so, wie es nur im "neuen nordamerikanischen Staat" und in der Schweiz praktiziert wurde. Die Schweiz konnte Schamhorst getrost mit Hinweis auf die Schweizer Soldverbände in fremden Diensten abtun. Provozierender dagegen erschien die amerikanische Miliz und ihre militärischen Erfolge. Schamhorst verwies hier nur auf die noch junge Existenz des Staates, "ob die vereinigten nordamerikanischen Staaten ohne stehende Armeen werden bestehen können, ist noch nicht ausgemacht". Schon hier berief er sich überdies auf den "Geist des Volks", um zugleich die Übertragbarkeit eines solchen Modells zu bestreiten. Sah er in den Amerikanern "ein Volk, das nur den gemeinschaftlichen Zweck immer vor sich hatte und sich selbst beherrschen konnte", so hielt er dem ausgerechnet die französische Revolution, das französische Volk entgegen, dessen schwärmerische Leidenschaften "ohne Staatsgewalt, d. i., ohne disziplinierte Armeen" nicht gezügelt werden könne. Die Möglichkeit, "Leidenschaften" nach außen zu lenken, zog er hier noch nicht ins Kalkül. Bemerkenswert bleibt, daß auch hier schon der moralische Aspekt in die Argumentation einbezogen worden ise 2 . Um die ökonomischen Einwände zu widerlegen, stellte Schamhorst das stehende Heer geradezu als ein Instrument der Umverteilung dar. Die Armee war demnach eine von den Vermögenden finanzierte Einkommensquelle für "die ärmere Klasse des Volks", die zugleich die Zirkulation des Geldes anheizte. Die Details, mit denen er zugleich den ökonomischen Schaden zu bagatellisieren suchte, müssen an dieser Stelle nicht ausgebreitet werden. Entscheidend ist, daß das Militär in diesem Aufsatz durchgehend als eine in sich geschlossene soziale Formation, als "Soldatenstand" begriffen wird. Zwar ist von zahlreicher Fluktuation zwischen Armee und Bevölkerung durch Rekrutierung, Beurlaubung und Entlassung die Rede. Dennoch wird deutlich, daß der Militärdienst an eine Berufsorganisation delegiert werden sollte, die sich zudem nur aus einem Teil der Bevölkerung ergänzte. Insofern war die militärische Realität in Kurhannover 1792, so, wie sie Schamhorst wahrnahm und befürwortete, meilenweit entfernt von der scheinbar mobilisierten Nation, mit der sich Schamhorst 1794 konfrontiert sah. 31 Vgl. Hans H. Klein, Wilhelm zu Schaumburg-Lippe. Klassiker der Abschreckungstheorie und Lehrer Scharnhorsts, Osnabrück 1982, 238 ff.; auch Erich Hübinger, Graf Wilhelm zu Schaumburg-Lippe und seine Wehr, Leipzig 1937, 140f., und die Edition Wilhelm Graf zu Schaumburg-Lippe, Schriften und Briefe, Bd. 11: Militärische Schriften, hrsg. v. Curd Ochwadt (Veröffentlichungen des Leibniz-Archivs, 7), Frankfurt a.M. 1977, hier besonders die "Memoires pour servir a I' art rnilitaire defensiv", 167 ff. 32 Alle Zitate nach Usczeck/Gudzent (Anm. 10),64.

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Indes erhob schon der vorrevolutionäre Fürstenstaat den Anspruch, daß jeder Untertan zum Militärdienst verpflichtet sei, zumindest im Falle der Landesverteidigung. Dies korrespondierte durchaus mit der nivellierenden Machtlogik des Absolutismus, die nur noch Fürst und Untertanen kennen wollte. Was die Monarchen behaupteten, galt auch den Publizisten und Naturrechtlern durchaus als selbstverständlich33 . Gerade die preußische Rekrutierung im eigenen Land nahm diese Forderung beim Wort. Nicht ganz zu Unrecht konnte Schamhorst also 1808 voraussetzen, daß der legendäre Grundsatz der Heeresreform im Grunde schon seit Friedrich Wilhelm I. gegolten hatte: "Ohne das einfache Gesetz der preußischen Militärverfassung, daß ein jeder Bewohner des Staats ein geborner Verteidiger desselben sei, hätte der Staat nicht zu der Größe in so kurzer Zeit heranwachsen können,,34. Auf diese Weise versuchte er freilich auch, den zögerlichen Friedrich Wilhelm III. zu beschwichtigen und die Tragweite der Reform zu verschleiern. Allerdings war der Anspruch auf den Militärdienst aller Untertanen nirgendwo, auch in Preußen nicht, konsequent im Sinne einer allgemeinen Dienstpflicht umgesetzt worden. Dem standen soziale und militärische Selbstverständlichkeiten im Wege, die zwar zunehmend in die aufgeklärte Diskussion gerieten, ohne aber von den traditionellen Führungseliten ernsthaft in Frage gestellt zu werden. Aus militärischer Sicht galt es angesichts der immer wieder enttäuschenden Erfahrungen mit Landmilizen als ausgemacht, daß nur eine gedrillte Berufsarmee in der Lage war, sich militärisch zu behaupten. Deren Schlagkraft beruhte auf dem Kampf in geschlossenen Formationen, die nur von intensiv ausgebildeten und regelmäßig geübten Soldaten zuverlässig eingenommen werden konnten. Heere mit mehrjährigen, wenn nicht lebenslangen Dienstzeiten fesselten jedoch Arbeitskräfte und verursachten beträchtliche Kosten, so daß ihrer Ausdehnung unüberwindliche ökonomische Grenzen gesetzt waren. So waren es vor allem ökonomische Gründe, aufgrund derer in der deutschen militärischen Publizistik des 18. Jahrhunderts hin und wieder über Alternativen nachgedacht wurde. Durch Verkürzung der Dienstzeiten und Ausdehnung der Dienstpflicht, durch Milizverbände oder Reservestrukturen sollten Militär und Volkswirtschaft zugleich gestärkt werden. Scharnhorst war sicherlich mit dieser Diskussion vertraut. Sein Aufsatz von 1792 wandte sich ja just gegen einen Autor, der die Lebensbedingungen gerade der Berufssoldaten kritisierte. Schließlich hatte sich auch Scharnhorsts Gönner Graf Wilhelm darüber Gedanken gemacht, wie die Bevölkerung stärker zum Militärdienst herangezogen werden könnte. Gerade für einen Kleinstaat wie Schaumburg-Lippe, der die Kosten für eine wirklich respek33 Ein Aufsatz, der diese Zusammenhänge näher beleuchten wird, ist in Vorbereitung. V gl. im Überblick Michael Sikora, Disziplin und Desertion. Strukturprobleme militärischer Organisation im 18. Jahrhundert (Historische Forschungen, 57), Berlin 1996, 236ff. 34 "Vorläufiger Entwurf zur Verfassung der Provinzialtruppen", 15. 3. 1808; Gersdorff (Anm. 10), 245; Usczeck/Gudzent (Anm. 10), 243, vgl. hier den ,,Bericht über Verhandlungen zur Veränderung der Kantonverfassung" , 1810, 309 f.

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table Söldnerarmee nicht aufzubringen vermochte, schien darin eine Möglichkeit zur Selbstbehauptung zu bestehen. Auch er mochte freilich nicht auf ein noch so bescheidenes stehendes Kontingent verzichten. Für den Fall der Landesverteidigung konzipierte er vielmehr eine Kombination aus Söldnertruppe und Landmiliz, wie sie auch andernorts verschiedentlich versucht worden ist35 . Die militärische Überlegenheit geschlossener Söldnerformationen im freien Feld stand weiterhin nicht in Frage. Auch der Revolutionskrieg, auch die Tirailleure konnten daran keinen Zweifel wecken. Scharnhorst hatte ja selbst in seinem Aufsatz von 1797 die Vorzüge disziplinierter, geschlossen kämpfender Soldaten ausdrücklich betont. Mehr noch, an anderer Stelle deutete er das ganze Konzept seiner Analyse auch als eine Art Ehrenrettung des stehenden Heeres. Denn die Kenntnisse darüber, "daß die Quelle der Unfalle aus politischen und moralischen Verhältnißen entsprünge, und die militärischen nur einen untergeordneten Antheil daran hätten", "würden das nothwendige Zutrauen zu den stehenden Armeen vielleicht in Etwas wider herstellen,,36. Zwar hatten die Tirailleure vorgeführt, daß sich Schützen in größerer Zahl durchaus behaupten konnten und den taktischen Spielraum erheblich erweiterten. Zwar erschien das Schützengefecht als die ideale Kampfweise ungeübter, aber begeistert improvisierender Bürgersoldaten. Das französische Heer war jedoch keine amerikanische Miliz. Bezeichnenderweise beschrieb Scharnhorst 1808 die französische Armee als ein stehendes Heer im Sinne der preußischen Armee des Siebenjährigen Krieges 37 . Der permanente Kriegszustand hatte die revolutionären Krieger rasch zu erfahrenen und disziplinierten Soldaten umgeformt. Die eigentliche Herausforderung war demnach weniger die taktische Innovation als vielmehr die quantitativ neue Dimension. Von der französischen Massenmobilisierung ging die vordringliche Bedrohung aus, und darauf suchten Scharnhorsts Reformpläne eine Antwort. Angesichts der französischen Armee sah er selbst Preußen in der prekären Lage einer mindermächtigen Mittelmacht. In der AprilDenkschrift 1806 bestand Scharnhorsts Antwort noch zu einem Teil in der einfachen Vermehrung des stehenden Heeres. Es stand aber außer Frage, daß damit allein die Unterlegenheit nicht wettgemacht werden konnte. Das konnte nur gelin35 Vgl. H. Klein, Wilhelm zu Schaumburg-Lippe (Anm. 31), 32 ff.; außerdem die Übersicht bei Gerhard Papke, Von der Miliz zum Stehenden Heer. Wehrwesen im Absolutismus (Deutsche Militärgeschichte 1648-1939, Bd. I, Abschnit I), München 1979, looff., dort 111 ff. auch zu Graf Wilhelm. Scharnhorst ist auch im Rahmen der hannoverischen Militärreformen mit dem Milizproblem in Berührung gekommen, ohne daß grundSätzliche Stellungnahmen von ihm erhalten sind; vgl. immerhin M. Lehmann, Scharnhorst I (Anm. 5), 267 ff.; G. Wollstein, Scharnhorst (Anm. 5), 346. 36 G. Schamhorst, Nutzen der militärischen Geschichte (Anm. 7), 10. Dieses Fragment war allem Anschein nach als eine Art Programm für die Erweiterung des ,,Neuen Militärischen Journals" zu den ,,Militairischen Denkwürdigkeiten unserer Zeiten" gedacht, ist also mutmaßlich in engem Zusammenhang mit dem Aufsatz über "Entwicklung der allgemeinen Ursachen ... " 1797 entstanden. Vgl. auch G. Wollstein, Scharnhorst (Anm. 5), 345. 37 "Vorläufiger Entwl,ITf zur Verfassung der Provinzialtruppen", 15. 3. 1808; Gersdorjf (Anm. 10),245; Usczeck/Gudzent(Anm. 10),243.

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gen, wenn ohne Rücksichten das demographische Potential des Landes ausgeschöpft würde, wenn alle Kriegstauglichen zum Militärdienst herangezogen werden könnten. Darauf konzentrierten sich Scharnhorsts Pläne, und das war eben nicht nur eine Frage hochfliegender Ideale, sondern auch ein Ergebnis kühler Berechnung. Aus rein militärischer Sicht galt es also, eine möglichst breite Rekrutierung und Mobilisierung im Rahmen der ökonomischen Möglichkeiten mit der bewährten Disziplin und Schlagkraft von Linientruppen zu verbinden. Um diesem doppelten Ziel gerecht werden zu können, ging auch Scharnhorst in den meisten seiner Entwürfe ganz selbstverständlich von einer doppelten Struktur aus. Neben die im Rahmen ihrer Integrationskraft zu vermehrenden stehenden Truppen sollten milizähnliche Verbände die Verstärkung durch eine allgemeine Dienstverpflichtung auffangen. Ein solches gemischtes Konzept stellte, wie gezeigt, militärisch keine besondere Neuerung dar. In herkömmlicher Weise waren die mal ,,Nationalmiliz", mal "Provinzialtruppen" genannten Verbände auch nur zu militärischen Hilfsdiensten vorgesehen, als Festungsbesatzung, zur Landesverteidigung, zum Flankenschutz in unwegsamem Gelände. Ihnen mußte in der kurzen Vorbereitungszeit die konsequente Ausbildung fehlen, mit der die stehenden Verbände gedrillt worden waren. Indes blieben diese Pläne über Jahre auf dem Papier. Das lag nicht allein an den diplomatischen Rücksichten der Regierung, an den Beschränkungen des "Pariser Vertrags" von 1808 oder am Mißtrauen gegenüber der militärischen Einsatzfähigkeit einer Miliz. Dabei spielte auch eine Rolle, daß eine Volksbewaffnung in den Augen des Königs und der traditionell denkenden Offiziere gar nicht selbstverständlich als Verstärkung empfunden wurde. Sie wurden auch von traditionellen Ängsten bewegt, und dazu gehörte die Vorstellung, daß Waffen in den Händen ,des Volkes' - und das war mit einer Miliz zwangsläufig verbunden - die Gefahr des Aufruhrs heraufbeschwor. Es war auf der anderen Seite gar nicht ausgemacht, ob ,das Volk' überhaupt zu den Waffen greifen wollte. Für das Ancien Regime war es selbstverständlich, daß das Kriegshandwerk nicht nur an eine Institution, sondern auch an die unterste soziale Schicht delegiert wurde. Denn an den Kriegen der Fürsten nahm die Bevölkerung in der Regel nur geringen Anteil. In die Armee trat freiwillig nur ein, wer sonst keine bessere Stellung fand. In diesem Sinne hatte ja Scharnhorst selbst 1792 die Armee als eine Art Arbeitsbeschaffung für die ärmeren Bevölkerungsschichten angesehen. Ein Fürst, der seine Untertanen dennoch unterschiedslos in die Armee zwingen wollte, riskierte, daß sie lieber das Land verließen, und mit ihnen verlor der Fürst ihre Arbeitskraft und ihre Steuern. Lieber erließen die Herrscher Ausnahmen von der Dienstpflicht, für Bürger und Händler, Handwerker und Studenten. Und so, wie sich im Anspruch auf die allgemeine Dienstpflicht die nivellierende Logik der absolutistischen Herrschaft spiegelt, so fügten sich die Exemtionen ganz selbstverständlich in die Lebenspraxis der durch Privilegien differenzierten ständischen Gesellschaft.

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Wollte man aber die militärischen Ressourcen des Landes mobilisieren, so wie es Schamhorst für nötig hielt, so konnte man darauf keine Rücksichten nehmen. Die Berechnungen für eine Nationalmiliz beruhen auf der Einbeziehung der gesamten wehrfähigen männlichen Bevölkerung. Daß damit de facto die Aufhebung aller Exemtionen verbunden wäre, wurde in der April-Denkschrift 1806 ganz beiläufig und bagatellisierend erwähnt, "bedarf keiner Anführung". Tatsächlich aber hätte diese Maßnahme die grundsätzlichste Neuerung dargestellt. Das gilt auch für die Feststellung, daß in der Miliz "der erste Adel und die ersten Zivilbediensteten die Befehlshaberstellen erhielten,,38. Was wie selbstverständlich daherkommt, heißt erstens, daß auch der Adel für die Miliz heranzuziehen war und damit ebenfalls in die Wehrpflicht einbezogen werden sollte, und zweitens, daß bei der Besetzung der Offiziers stellen das gehobene Bürgertum dem Adel gleichgestellt werden sollte. Beides bedeutete einen Bruch mit der Praxis des Ancien Regime, in dem der Offiziersdienst gerade in Preußen weitgehend dem Adel vorbehalten gewesen war. Zwar hatte Friedrich Wilhelm I. noch relativ rigoros den Landadel in die Annee gezwungen, doch Ende des 18. Jahrhunderts war der Militärdienst des Adels keine Pflicht, sondern standesgemäße Lebensführung. Die Abschaffung des Adelsprivilegs war überdies nicht nur für die Milizen vorgesehen, sondern wurde für die ganze Annee praktisch durchgesetzt. Damit gelang es, einen wesentlichen Bestandteil des Herkommens herauszubrechen, der gerade Scharnhorst persönlich so viel zu schaffen gemacht hat. Entgegen seinen 1799 geäußerten Befürchtungen war dies auch ohne ,republikanischen Enthusiasmus' und den ,Geist der Revolution' möglich, aber eben doch nur, weil die andere seiner Bedingungen erfüllt war: Denn in der Tat waren für den Moment in der preußischen Annee ,alle inneren Verhältnisse gar zerrissen'. Ein Notizzettel aus dem Nachlaß gewährt einen außerordentlichen und ganz seltenen Einblick in die weitreichenden politischen, ja beinahe revolutionären Vorstellungen, die Scharnhorst im stillen mit diesem Problem verband; "Wenn die Gesellschaft ihrem politischen System entwächst, entstehen Erschütterungen", heißt es da, und: "Die Ungleichheit des Anspruchs ist eine Kran[k]heit, in der der Körper nach Gesundheit strebt,,39. Scharnhorst war sich also anscheinend der politischen Tragweite einer solchen Reform nicht nur bewußt, er dachte durchaus in den Dimensionen eines grundlegenden gesellschaftlichen Umbruchs. Die Notiz Gersdorff(Anm. 10), 191; Usczeck/Gudzent (Anm. 10),221. Schon W. Hahlweg, Preußische Reformzeit (Anm. 26), 55, hat aus diesem Zettel zitiert, der wahrscheinlich nach 1807 beschrieben worden ist und sich heute im Nachlaß Scharnhorst (Anm. 7) Nr. 271, fol. 19r, befindet. Die Stichworte stehen unter der Überschrift "Untersuchung über den Geburtsadel". Der einzige längere, ebenfalls höchst bemerkenswerte Gedankengang lautet: "Die Nachtheile der Erblichkeit des Adels - Feudalaristoc[r]atie - wurde durch das Zölibat der Geistlichkeit u. Aufnahme des niedem Standes in die Geistlichkeit gemindert - das Feudalsystem machte den Boden zum Fundament des politishen Ansehens - wenn aber das Haben dem Seyn vorgezogen wird, so entstehet nur [?] Unordnung - die Natur hat das Seyn zur Quelle des Habens [ ... ]idirt". 38

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erinnert besonders nachdrücklich daran, wie wenig allem Anschein nach Scharnhorsts öffentliches und selbst noch privates Wort von seinen politischen Überzeugungen offenbarte - und wie wenig davon heute noch nachgewiesen werden kann. Neben der Autbebung des Adelsprivilegs gehört die grundlegende Umgestaltung der Militärjustiz mit der Abschaffung der willkürlichen Prügelstrafen zu den bedeutendsten Maßnahmen. Die Forderung nach solchen Reformen gehörte ebenso wie die Kritik am Adelsprivileg durchaus schon zu den Elementen aufgeklärter Militärkritik im 18. Jahrhundert. Im Kontext der tatsächlichen Erneuerung nach 1806 bedeuteten sie allerdings mehr als nur Realisierung sozialer und philanthropischer Forderungen. Sie sollten eine durch die politische Situation noch dringender gewordene politische Funktion als Teil einer nationalen Mobilmachung ausüben. Die bisher exemten und auf Abstand zum Militär bedachten Bevölkerungsgruppen sollten auf diese Weise mit dem Militär versöhnt werden. ,,Man muß der Nation den Soldatenstand angenehm machen und das Verhaßte aus ihm entfernen,,4o. Um dieses Ziel zu erreichen, nahmen Scharnhorsts Wehrpflichtkonzepte weitgehende Rücksichten auf die gesellschaftliche Hierarchie. Als Befehlshaber sah die Denkschrift von 1806 neben dem Adel selbstverständlich nur die bürgerlichen Eliten vor. Noch schwerer wog, daß auch das Modell einer zweigliedrigen Heeresorganisation sozial sortiert werden sollte. Während die ärmeren Bevölkerungsgruppen für das stehende Heer eingeplant wurden, waren diejenigen, die sich aus eigenen Mitteln ausrüsten konnten, für die Miliz vorgesehen. Das klingt zunächst recht pragmatisch und ähnelte eher einem Zensus im bürgerlichen Sinn als daß darin ständische Strukturen fortbestanden. In der frühen französischen Nationalgarde fanden ja ähnliche Prinzipien Geltung. Es hieß aber doch, daß die militärische Hauptlast immer noch jenen Menschen übertragen wurde, die Scharnhorst schon 1792 als Träger der stehenden Heere angesehen hatte. Den bürgerlichen Bevölkerungsgruppen, so hat es den Anschein, wurde andererseits der Militärdienst leichter gemacht, indem man sie gar nicht erst mit dem einfachen Volk in Berührung kommen ließ. Die zweigliedrige Heeresstruktur schuf überdies die Möglichkeit, den neuen Bürgersoldaten noch weitere Sonderkonditionen einzuräumen, vor allem das Recht, die Offiziere zu wählen. Autonomie sollte Identifikation ermöglichen. Die Struktur des stehenden Heeres erschien in diesem Zusammenhang sogar als schädlich. ,,Eine Nationalmiliz kann, wenn sie sich selbst erhält, bewaffnet, kleidet und übt, in jenem Geist auftreten; sie wird ihn aber nie bekommen, wenn sie vorher durch die stehende Armee gehen muß, wenn ihre Selbständigkeit durch einen eingebildeten Druck gelähmt wird,,41. Bürgersoldaten sollten statt dessen mit beson40 Brief an den Freiherrn vom Stein, 3. 7. 1808, Gersdorff(Anm. 10),261; Usczeck/Gudzent (Anm. 10), 254. 41 "Vorläufiger Entwurf zur Verfassung der Provinzialtruppen", 15. 3. 1808; Gersdorff (Anm. 10), 247; Usczeck/Gudzent (Anm. 10), 245; dem entsprach umgekehrt, daß Scharnhorst für die übliche Heeresklientel auch die übliche Disziplinierung für angebracht hielt, vgl. Gersdorff, 307; Usczeck/Gudzent, 274, 303.

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derer Sorgfalt behandelt werden. In den Instruktionen für die Jägerdetachements 1813 hieß es zugunsten der ,jungen Männer" ausdrücklich, es solle darauf gesehen werden, "daß ihnen der Dienst auf keine Art verleidet werde,,42. Die doppelte Heeresstruktur erlaubte in diesem Sinne tatsächlich so etwas wie die Quadratur des preußischen Kreises. Wichtige Reformen erfaßten zwar das ganze Heer, wie umgekehrt Scharnhorst an der militärischen Struktur der Linientruppen festhalten wollte. Aber die Zweiteilung hätte es erlaubt, in einem separierten Segment die Reform zu grundsätzlich neuen Strukturen fortzuführen. Das Unvereinbare, reformierte Tradition und radikale Reform, sollte einfach nebeneinander existieren. Es war natürlich auch Scharnhorst klar, daß Kriegsbegeisterung dennoch nicht einfach verordnet werden konnte. Es war auch nicht damit getan, den Weg in das Heer möglichst leicht zu machen. Die bürgerlichen Schichten mußten erst für die Armee und für den Krieg gewonnen werden43 . In einem berühmten Satz brachte Scharnhorst das Ziel auf eine außerordentlich anschauliche und zugleich ungewöhnlich abstrakte Formel, die gerade im Vergleich zu seinem sonst spröden Stil auffallt: "Man muß der Nation das Gefühl der Selbständigkeit einflößen, man muß ihr Gelegenheit geben, daß sie mit sich selbst bekannt wird, daß sie sich ihrer selbst annimmt; [ ... ]"44. Es lohnt sich, diese meist beiläufig zitierte Formulierung zu bedenken und zu begreifen. Hier wird kein konkretes historisches Nationsvolk beschworen. Scharnhorst will der Bevölkerung ein neues Bild ihrer selbst vermitteln, eine neue identitäre Repräsentation, einen Paradigmen wechsel. Konstitutiv für eine solche neue Dimension von Identität war eine neue Definition von sozialer Gemeinsamkeit und Abgrenzung. Es galt, über die alten sozialen Differenzierungen hinweg eine neue Gemeinsamkeit zu behaupten, die sich ihrerseits von neuem abgrenzt. Bürger und Tagelöhner, die sich gegenseitig abgrenzen, sollten zu Deutschen werden, die sich gegen Franzosen abgrenzen - immer um des Zieles willen, als Einheit militärische Kraft entfalten zu können. In dieser Andeutung kommt ein sehr abstrakter, zweckorientierter und zugleich idealistischer Nationsbegriff zum Ausdruck: Die Nation existiert als soziale Kategorie, als Vorstellung, und sie realisiert sich, in dem die Franzosen oder die Deutschen sie sich aneignen, in dem die so Bezeichneten sich selbst als solche wahrnehmen. Wie aber ein solcher Bewußtseinswandel herbeigeführt werden konnte, blieb an dieser Stelle offen. Auch sonst deuten nur wenige allgemeine und unsystematische Bemerkungen an, worauf Scharnhorst seine Hoffnungen auf praktische Umsetzung UsczecklGudzent (Anm. 10),337, vgl. 340. Vgl. zum Folgenden auch Heinz Stübig, Armee und Nation. Die pädagogisch-politischen Motive der preußischen Heeresreform 1807 -1814, Frankfurt a.M. 1971, der die Reformen und insbesondere die Integration des Bürgertums in das Heerwesen als Projekt einer Nationalerziehung interpretiert. 44 Brief an Clausewitz vom 27. 11. 1807, Gersdorjf (Anm. 10), 255; UsczecklGudzent (Anm. 10), 240. 42 43

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stützte. 1806 äußerte er die Erwartung, daß die Existenz einer Nationalmiliz selbst die dazu nötigen Empfindungen und Einstellungen erzeugen würde. "Sowohl in Frankreich als in England hat erst die Formierung der Nationalmiliz den militärischen Geist der Nation geweckt und einen Enthusiasmus für die Unabhängigkeit des Vaterlandes erzeugt, der nicht so lebhaft in andern Ländern sich zeigt,,45. In einem Brief unterstellte er 1808, daß sich die Bereitschaft zum Krieg gegen Frankreich tatsächlich bereits quasi von selbst eingestellt habe. Das konnte natürlich noch nicht durch eine militärische Formierung geschehen sein, vielmehr schien die französische Besetzung selbst, ein für die Zeit an sich schon ungeheurer Vorgang und unausweichlich mit zahlreichen Konflikten verknüpft, die Voraussetzungen für ihre Überwindung zu schaffen: "Ich darf von der Einführung einer allgemeinen Konskription nicht sprechen, sie ist ein Nationalwunsch, alle Schriften sprechen davon, allen bisherigen Konskribierten muß sie angenehm sein, allen bei den[en] Vaterlandsliebe, Haß gegen die Unterdrücker gefühlt wird, wird sie willkommen sein,,46. Es ist einmal mehr charakteristisch für die Situation der Reformer in Preußen im allgemeinen, für Scharnhorsts Vorsicht im besonderen, daß diese Bemerkungen quasi unpolitisch formuliert wurden. Die Demütigungen durch Frankreich erlaubten es, in diesem Sinne das Pathos der Freiheit ganz ohne Revolution auch in Preußen als kriegstreibendes Motiv zur Wirkung zu bringen. An die Stelle der bürgerlichen Freiheiten der Revolution trat die nationale Freiheit, die abstrakte Selbstbehauptung des Nationsvolkes gegen die Fremdbestimmung47 . Für Scharnhorsts Argumentationen spielte es daher eine große Rolle, daß der Bevölkerung ein glaubhafter ,Kriegsgrund, eine nachvollziehbare Sinnstiftung angeboten werde, und vor diesem Hintergrund betritt er schließlich auch politisches Terrain. Für die glaubwürdige Vermittlung dieses Motivs wollte Scharnhorst die 45 Sog. April-Denkschrift von 1806, Gersdorff(Anm. 10), 191 f.; Usczeck/Gudzent (Anm. 10),222. 46 Brief an den Freiherrn vom Stein, 3. 7. 1808, Gersdorff(Anm. 10),261 (hier fälschlich "Suscription", so nach der alten Ausgabe Freiherr vom Stein, Briefwechsel, Denkschriften und Aufzeichnungen, bearb. v. Erich Botzenhart, Bd. 2, Berlin 1937, 457, statt richtig "Konskription", so schon in der neuen Ausgabe Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften, bearb. v. Erich Botzenhart, neu hrsg. v. Walther Hubatseh, Bd. 11/2, Stuttgart u. a. 1960, 776f.); Usczeck/Gudzent(Anm. 1O),254f. 47 Zu diesem Prozeß vgl. u. a. Rudolf Ibbeken, Preußen 1807 - 1813. Staat und Volk als Idee und in Wirklichkeit (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 5), KölnlBeriin 1970; Bernd von Münchow-Pohl, Zwischen Reform und Krieg. Untersuchungen zur Bewußtseinslage in Preußen 1809-1812 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 87), Göttingen 1987; Johannes Kunisch, Von der gezähmten zur entfesselten Bellona. Die Umwertung des Krieges im Zeitalter der Revolutions- und Freiheitskriege, in: ders., Fürst - Gesellschaft - Krieg. Studien zur bellizistischen Disposition des absoluten Fürstenstaates, Köln I Weimar I Wien 1992, 203 - 226 (zuerst 1989); Quo Dann, Der deutsche Bürger wird Soldat. Zur Entstehung des bürgerlichen Kriegsengagements in Deutschland, in: Lehren aus der Geschichte? Historische Friedensforschung, Redaktion Reiner Steinweg (Friedensanalysen, 23), Frankfurt a.M. 1990, 61- 84; Karen Hagemann, Nation, Krieg und Geschlechterordnung, in: GG 22 (1996), 562 - 591.

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Regierung und insbesondere den König in die Pflicht nehmen. "Preußen würde [ ~ .. ] sich große und eigentümliche Vorteile in einem Kriege mit Frankreich verschaffen, wenn es den Ausbruch desselben so leitete, daß die Armee, die Nation und ganz Europa offenbar sähe, daß der König sich nur für die Unabhängigkeit der Monarchie schlüge, sich bloß einer schändlichen Unterjochung widersetzte,,48. Deutlich wird in dieser Formulierung, daß sich Scharnhorst und mit ihm die ganze Bevölkerung darüber im klaren war, daß Könige noch aus ganz anderen Gründen Kriege führen konnten. Auch hier also galt es wieder, den Kreis zu quadrieren. Nichts lag dem loyalen Scharnhorst ferner, als den König beschränken zu wollen. Aber aus praktischer Vernunft wollte er ihn dafür gewinnen, sich wie ein republikanisches Staatsoberhaupt zu verhalten. In diesem funktionalen Rahmen bekamen die Bemühungen um eine weitgehende Autonomie der Milizen ein besonderes Gewicht: "Es scheint bei der jetzigen Lage der Dinge darauf anzukommen, daß die Nation mit der Regierung aufs innigste vereinigt werde, daß die Regierung gleichsam mit der Nation ein Bündnis schließt, welches Zutrauen und Liebe zur Verfassung erzeugt und ihr eine unabhängige Lage wert macht. Dieser Geist kann nicht ohne einige Freiheit in der Herbeischaffung und Zubereitung der Mittel zu Erhaltung der Selbständigkeit stattfinden,,49. Hier immerhin klingt der politische Zusammenhang an zwischen der Möglichkeit, "daß jeder im Volke seine Kräfte frei in moralischer Richtung entwickeln könne", und dem Ziel, "auf solche Weise das Volk zu nötigen, König und Vaterland dergestalt zu lieben, daß es Gut und Leben ihnen gern zum Opfer bringe". So hat es im selben Jahr der Freiherr vom Stein in berühmten Worten formuliert 5o . In eben diesem Jahr 1808 führte Scharnhorst überdies vor, welche Konsequenzen seine militärischen Vorstellungen annehmen konnten, obwohl sie bewährten militärischen Traditionen verpflichtet waren. Als sich Österreich im Sommer 1808 anschickt, angesichts der spanischen Krise zum Krieg gegen Frankreich zu rüsten, drängen er und seine Mitstreiter den König, sich diesem Unternehmen anzuschließen. Scharnhorst entwirft zu diesem Zweck einen Plan, wie sozusagen aus dem Stand gegen Frankreich und insbesondere gegen die französischen Truppen im eigenen Land vorgegangen werden könnte. Diese Vorstellungen brachen mit allen Traditionen. Die stehenden Verbände zählten zu diesem Zeitpunkt schon nur noch etwa ein Viertel dessen, was Schamhorst 1806 seinen Kalkulationen zugrunde ge48 Sog. April-Denkschrift von 1806, Gersdorfj (Anm. 10), 189; Usczeck/Gudzent (Anm. 10), 220; vgl.: "Alle Akquisitionen, Abrundungen, alle Vergrößerungsprojekte müssen schweigen. Es kommt jetzt bloß auf die Erhaltung der beiderseitigen Staaten und der regierenden Dynastie an. [ ... ] Der Krieg muß geführt werden zur Befreiung von Deutschland durch Deutsche", Gersdorfj. 260; Usczeck/Gudzent, 260, hier auch 303, 337, 343. 49 "Vorläufiger Entwurf zur Verfassung der Provinzialtruppen", 15. 3. 1808; Gersdorfj (Anm. 10),247; Usczeck/Gudzent (Anm. 10),245. 50 In seinem sogenannten "Politischen Testament" vom 24. 11. 1808, nach Freiherr vom Stein, Briefe und amtliche Schriften, neu hrsg. v. Walther Hubatseh, Bd. 11/2, neu bearb. v. Peter G. Thielen, Stuttgart u. a. 1960,989.

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legt hatte. An ihrer Stelle sollte ein planmäßig und konspirativ vorbereiteter Volksaufstand, eine Insurrektion, die Franzosen aus dem Land treiben. Scharnhorsts militärische Phantasie skizzierte ein Szenario, demzufolge gleichzeitig in allen Provinzen "ein allgemeiner Aufstand" losbrechen sollte. "An einem Tage sucht man sich aller festen Plätze durch Verrat oder Überfall zu bemeistern". An die Stelle der Arrneekriegführung sollte also ein flächendeckender Volkskrieg treten, der den Kampf sucht, wo er den Gegner findet. An die Stelle der Truppenformationen sollten Landsturmfahnen treten, deren Mitglieder sich im Zeichen einer schwarzweiß-gelben Kokarde vereinigten. Dieser Plan trug natürlich der konkreten Situation Rechnung, die durch die Anwesenheit französischer und die Unterlegenheit der preußischen Truppen gekennzeichnet war. Sicherlich zeigt sich in diesen Vorstellungen auch der Einfluß neuerer militärischer Vorbilder. Vielleicht stand Scharnhorsts Euphorie schon unter dem Eindruck der ersten Nachrichten vom spanischen Aufstand. Sicher war den Reformern das Beispiel der Vendee gegenwärtigSI. In beiden Fällen hatte sich das Kriegsgeschehen von den politischen Implikationen der Revolution gelöst. Die Volkskriege wandten sich vielmehr gegen die neue französische Macht, der revolutionäre Krieg wurde antirevolutionär und löste sich von dem, was Scharnhorst als französischen ,,Nationalcharakter" begriffen hatte. Das wird diese Vorgänge auch für ihn interessant gemacht haben, der 1792 das Vorbild der amerikanischen Miliz noch so gering geschätzt hatte. Die Vorstellungen eines solchen Volkskrieges gingen auch über die vorangegangenen Pläne einer Kombination von stehenden Truppen und Milizen hinaus. Gneisenau verband mit diesen Plänen sogar auf längere Sicht ausdrücklich das Ziel, "daß die mit so hartem Druck auf den Nationen lastenden stehenden Heere bedeutend vermindert werden können"s2. Scharnhorsts Haltung blieb dagegen offen. Er hat seine Wertschätzung der stehenden Verbände nicht zurückgenommen, und man wird die Konzepte der subsidiären Nationalmiliz und des Volkskriegs auch nicht gegeneinander ausspielen dürfen. Unter den Umständen des Sommers 1808 war an die reguläre Aufstellung von Provinzialtruppen genauso wenig zu denken wie mit dem Landsturm der Insurrektionen eine dauerhafte, planmäßige Kriegführung unternommen werden konnte. Schließlich mochte Scharnhorst den Volkskrieg auch keineswegs der spontanen Volksseele überlassen. Die konspirative Vorbereitung schloß ein, daß die Aktionen unter der Kontrolle staatlicher Strukturen bleiben solltens3 . 51 Über die Anregungen der Reformer vgl. W. Hahlweg, Preußische Reformzeit (Anm. 26), passim. Speziell zur Rezeption des spanischen Aufstandes Rainer Wohlfeil, Spanien und die deutsche Erhebung 1808 - 1814, Wiesbaden 1965,203 ff. 52 Denkschrift über einen Volksaufstand, 1808, hier zit. nach Neidhardt von Gneisenau, Ausgewählte militärische Schriften, hrsg. v. Gerhard Förster und Christa Gudzent (Schriften des militärgeschichtlichen Instituts der DDR), Berlin 1984, 120. 53 Schon 1806 betonte er: "Wurde die Masse leidenschaftlicher Menschen nicht geschickt

geleitet, so verlor sich der Enthusiasmus, und Mißmut und Unzufriedenheit trat an die Stelle", Gersdorff(Anm. 10), 189; Usczeck/Gudzent (Anm. 10),219.

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Immerhin entsprachen die Pläne für eine Insurrektion einigermaßen konsequent Scharnhorsts Analyse der militärischen Revolution, wonach der bewaffneten Nation nur die bewaffnete Nation gewachsen sein könne. In diesem Sinne wird man den Volkskrieg als weitgehend ideale Verwirklichung einer militärisch kompromißlos und geschlossen agierenden Nation begreifen können. "Ohne eine [ ... ] Entwicklung aller uns zu Gebot stehenden Verteidigungsanstalten, die nicht allein das stehende Heer, sondern auch die physischen und moralischen Kräfte der gesamten Nation in Anspruch nimmt, können wir nicht für den Erfolg stehen,,54. Diese Form der Volksbewaffnung machte in der Tat keinen sozialen Unterschied mehr. Scharnhorsts militärisch definiertes Konzept der Nation verlangte und bezweckte, das wird hier ganz deutlich, daß aus den Ständen und Schichten des Ancien Regime ein Singular würde 55. Es griff damit selbst über die Vorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft hinaus und ließ noch die militärische Realität in Frankreich hinter sich, wo das Prinzip der Stellvertretung nach wie vor eine soziale Distinktion erlaubte. Als eine der Antworten auf die Militärische Revolution verlangte das Konzept des Volkskrieges zwar keine politische, aber so etwas wie eine ideelle Revolution. Nicht Macht- oder Besitzverhältnisse sollten sich ändern, wohl aber die symbolische Repräsentanz der Bevölkerung. Das wäre das theoretische Maximum an Revolution in Preußen gewesen. Das Ende dieser Geschichte muß hier nicht mehr detailliert entfaltet werden. Als unter dem Druck der Ereignisse 1813 die Reformer den Durchbruch erzielten, griffen die Maßnahmen Bestandteile verschiedener Pläne auf. In der Kombination von stehendem Heer einerseits, freiwilligen Jägern und Landwehr andererseits wurde das Konzept der sozial differenzierten Formationen verwirklicht. Mit dem Landsturm sollte sogar ein bißchen Volkskrieg stattfinden, der jedoch kaum zustande kam. Am Ende mündeten Scharnhorsts pragmatische Konzepte schließlich, sicher unbeabsichtigt, im Einjährig-Freiwilligen, dem Symbol der neuen bürgerlichen Hierarchisierung und Abgrenzung. Die soziale Restauration verband sich freilich mit einer diplomatischen Restauration, die ihrerseits geeignet war, den wiedergeborenen Krieg vorübergehend noch zu bändigen. Scharnhorsts Wirken wurde damit zugleich auf das erreichte Ziel reduziert, das allein ihm die Möglichkeit zur Wirksamkeit eingeräumt hatte: die Selbstbehauptung Preußens in der Phase der äußersten Konfrontation. Für seine Aufgabe war Scharnhorst prädestiniert gewesen wie kein anderer. Als sozialer Außenseiter, der sich allein auf fachliche Kompetenz stützen konnte, war er keinen kollektiven Traditionen verpflichtet. Sein persönlicher Ehrgeiz konnte sich daher in Gestalt eines professionellen Pragmatismus entfalten. Dies erlaubte ihm, die Elemente der 54 Denkschrift über den Landsturm, April 1813 (zusammen mit Gneisenau), Usczeck/ Gudzent (Anm. 10),343. 55 In ganz anderem Zusammenhang setzte Scharnhorst in einem Brief an Stützer 1809 beiläufig "die Uneinigkeit und den Streit der Stände" mit einem ,,Mangel an Patriotismus" gleich, Gersdorff(Anm. 10),319; Usczeck/Gudzent (Anm. 10),279.

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Militärischen Revolution vorurteilsfrei wahrzunehmen und nach seinen autonom entwickelten Kriterien zu analysieren. Kompetenz, Pragmatismus und politische Zurückhaltung qualifizierten ihn schließlich zum Protagonisten einer militärischen Reform, die ein traditionelles System auf einen revolutionären Krieg vorbereiten sollte. Der Transfer der Militärischen Revolution konzentrierte sich demnach auf die Verbindung bewährter militärischer Tradition mit allen nötigen Voraussetzungen zu einer allgemeinen Mobilisierung. Das ließ sich in der Tat ohne politische Revolution bewerkstelligen.

Die Entgrenzung des Krieges bei Clausewitz Von Andreas Herberg-Rothe, Ebersburg*

I. Clausewitz - ein "Apostel des revolutionären Krieges"?

"Wir mögen nichts hören von Feldherren, die ohne Menschenblut siegen. Wenn das blutige Schlachten ein schreckliches Schauspiel ist, so soll das nur eine Veranlassung sein, die Kriege mehr zu würdigen, aber nicht die Schwerter, die man führt, nach und nach aus Menschlichkeit stumpfer zu machen"'. Und an anderer Stelle seines Hauptwerkes erklärt der preußische General Carl von Clausewitz weiterhin, es sei die Pflicht der Theorie, "die absolute Gestalt des Krieges obenan zu stellen und sie als einen allgemeinen Richtpunkt zu brauchen". Derjenige, der aus der Theorie etwas lernen wolle, müsse die absolute Gestalt des Krieges als "ursprüngliches Maß aller seiner Hoffnungen und Befürchtungen" betrachten, um sich ihr zu nähern, "wo er es kann oder wo er es muß,,2. Trotz seiner so eindeutig scheinenden Aussagen zur Entgrenzung des Krieges, werden wenige Autoren so gegensätzlich interpretiert wie Clausewitz und sein Werk "Vom Kriege". In verschiedenen Interpretationen wird Clausewitz als einer der prominentesten und bedeutendsten Vertreter der Entgrenzung des Krieges seit der Französischen Revolution begriffen. In der angelsächsischen Tradition der Clausewitz-Interpretation stehend, hat ihn in diesem Sinne jüngst John Keegan als "Apostel des revolutionären Krieges" bezeichnee. Diese Form des Krieges werde durch den Kampf auf Leben und Tod, die Einbeziehung der Massen und die Nutzung der technologischen Entwicklung zum absoluten Krieg. Clausewitz wird so als der ,,ideologische Vater des ersten Weltkrieges,,4 sowie der "Mahdi der Massen und der gegenseitigen Massaker" gedeutet5 . Es gebe heute Gebiete auf der Welt, so Keegan, in denen Stammeskonflikte tobten und in die genügend billige Waffen hingelangten, um den Krieg aller gegen alle tagtäglich stattfinden zu lassen. Wir könnten aus solchen

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Für Hinweise und Anregungen danke ich Herfried Münkler, Berlin. Carl von Clausewitz, Vom Kriege. Ungekürzter Text nach der Erstauflage 1832-1834, Frankfurt a.M. 1980,243. 2 Ebd.,645. 3 lohn Keegan, Die Kultur des Krieges, Berlin 1995, 43. 4 Ebd.,50. 5 LiddelI Hart, zit. Raymond Aron, Erkenntnis und Verantwortung, München 1985, 416. 1

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Kriegen aller gegen alle lernen, was der Krieg für uns bedeuten würde, wenn wir den Clausewitzschen Gedanken, der Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, nicht zurückweisen würden6 . Nach Keegan führt der Einsatz des Volkes zu strategischen Zwecken dazu, daß sich der wirkliche Krieg dem "wahren" Krieg als Ideal angleiche, und darauf habe Clausewitz seine Ansicht gegründet, daß Kriegführung letzten Endes ein Akt der Politik sei. Keegan geht so weit zu behaupten, Clausewitz' Position beinhalte dem Sinn nach die Auslöschung des Gegners als Endzweck des Krieges 7 • Eine ganz andere Interpretation des Clausewitzschen Ansatzes hat Raymond Aron vorgelegt. Er argumentiert, daß es in der Zeit der Revolutionskriege bzw. der Napoleonischen Kriege keine besondere Leistung Clausewitz' gewesen sei, die Tendenz in der Kriegführung zu einem absoluten Krieg zu erkennen. Umgekehrt wäre es im negativen Sinn eine Leistung gewesen, diese Tendenz nicht zu erkennen 8 . Dennoch gäbe es, wie Aron betont, bei Clausewitz eine strikte Unterordnung des Gewaltinstrumentes unter die Politik. Der politische Zweck des Krieges liege nicht in der Vernichtung des Gegners als Feind, sondern der Zweck der Politik müsse mit dem Frieden als erreicht und das Geschäft des Krieges als beendigt angesehen werden. Diese Position könne aber nur für die sich als Vcilkerrechtssubjekte anerkennenden Staaten gelten9 . In seinem Vorwort stellt Aron unmißverständlich fest, was er in der Clausewitz-Interpretation für zentral hält: "die Möglichkeit einer modifizierenden Kraft, die der Steigerung bis zum Äußersten entgegengesetzt ist - einer Kraft, die dem Krieg als autonomes Ding in seiner engen Bedeutung als Kraftprobe fremd ist, ihm aber immanent ist entsprechend seiner Gesamtdefinition als Teil des politischen Ganzen"lO. Zu Beginn seines Werkes "Vom Kriege" stellt Clausewitz eine unmittelbare Verbindung zwischen den inneren Gesetzen des Krieges und dessen Steigerung bis zum Äußersten her: "So findet in dem abstrakten Gebiet des bloßen Begriffs der überlegende Verstand nirgends Ruhe, bis er an dem Äußersten angelangt ist, weil er es mit einem Äußersten zu tun hat, mit einem Konflikt von Kräften, die sich selbst überlassen sind, und die keinen anderen Gesetzen folgen als ihren inneren"ll. Eine solche Position legt nahe, im "engen Begriff' des Krieges als "Kraftprobe" immanent eine Steigerung zum Äußersten angelegt zu sehen, während der Krieg in seiner äußeren Bestimmung durch die Politik ermäßigt wird. Panajotis Kondylis argumentiert, die liberale ,,herrschende" Clausewitz-Interpretation bestimme den auf eine Keegan, Kultur des Krieges (Anm. 3), 543. Ebd., 500 u. 514. 8 Raymond Aron, Clausewitz. Den Krieg denken, Frankfurt a.M. 1980, 91. 9 Aron, Den Krieg denken (Anm. 8); Dan Diner; Anerkennung und Nicht-Anerkennung. Über den Begriff des Politischen in der gehegten und antagonistischen Gewaltanwendung bei Clausewitz und Carl Schmitt, in: Günther Dill, Clausewitz in Perspektive, Frankfurt a.M. 1980,447 -464, hier 451 f. 10 Aron, Den Krieg denken (Anm. 8), 18. 11 Clausewitz, Vom Kriege (Anm. 1),21. 6 7

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Steigerung bis zum Äußersten angelegten Kriegsbegriff als etwas ,Jdeelles und Irreales", als außerhalb der Wirklichkeit liegenden Idealtyp. Da in diesem Begriff von Krieg der Faktor Gewalt eine ausschlaggebende Rolle zu spielen scheine, werde dem Begriffspaar abstrakter Krieg-blinde Gewalt die Koppelung von wirklichem Krieg und rationaler politischer Handlung entgegengesetzt l2 . Die Reduzierung des Begriffs des Krieges in Clausewitz' Werk auf die Tendenz zum Absoluten und Äußersten hat jedoch problematische Konsequenzen. So ist in Arons Interpretation etwa eine unaufhebbare Spannung enthalten: Auf der einen Seite attestiert Aron der Politik eine grundsätzliche Tendenz zur Ermäßigung des Krieges, der seinen immanenten Gesetzen bzw. seinem Begriff entsprechen würde. Auf der anderen Seite ist es nach Aron aber die Politik selbst, die über den tendenziell totalen wie relativ begrenzten Charakter des Krieges entscheidet. Clausewitz unterscheidet dementsprechend eindeutig zwischen einem Krieg, der aufgrund seiner inneren Gesetzmäßigkeiten zum Äußersten führt 13 , und dem begrenzten Krieg, bei dem drei moderierende Wechselwirkungen zum Tragen kommen l4 . Eine dieser drei ist der "politische Zustand", der auf den Krieg zurückwirkt l5 . Im ersten Kapitel wiederholt Clausewitz jedoch auch die aus der ,,Nachricht" vertraute Unterscheidung der doppelten Art des Krieges, des totalen und des begrenzten und argumentiert, daß entgegen dem äußeren Anschein beide gleichermaßen politisch bestimmt seien l6 • Das Spannungsgefüge zwischen beiden Betrachtungsweisen verschwimmt, wenn Aron grundsätzlich zwischen dem Absoluten und Äußersten des Krieges und einem totalen Krieg unterscheidet: "wer absoluten Krieg und totalen Krieg gleichstellt, ( ... ) interpretiert nicht, er verfälscht". Die Verbindungen zwischen beiden Begriffen thematisiert er dagegen an späterer Stelle. Zwar spricht er auch hier davon, daß die "abstrakte Notwendigkeit der Steigerung zum Äußersten" auf keiner Stufe einen "praxeologischen Imperativ" bilde, folgert jedoch, sobald man die realen Kriege betrachte, bestimme die Möglichkeit der Ermäßigung das Verhalten genauso wie die abstrakte Notwendigkeit der Steigerung 17 . Der Unterschied zwischen beiden Betrachtungsweisen reduziert sich demzufolge darauf, daß nach Aron die begriffliche Ebene allein vom Absoluten und Äußersten bestimmt sei, während sie auf derjenigen der wirklichen Kriege eine von zwei gegensätzlichen Tendenzen ist. 12 Panajotis Kondylis, Theorie des Krieges. Clausewitz - Marx - Engels - Lenin, Stuttgart 1988, 11 f. Als weitere Interpreten, die wie Aron den zu Anfang des ersten Kapitels entwickelten Kriegsbegriff als abstrakten, ideellen und irrealen kennzeichnen, nennt er Rothfels, Kessel, Ritter, Weil und Schmitt; ebd., 11. I3 In den drei Wechsel wirkungen zum Äußersten. Clausewitz, Vom Kriege (Anm. 1), 1821. 14 Her/ried Münkler, Gewalt und Ordnung. Das Bild des Krieges im politischen Denken, Frankfurt a.M. 1992, 16. 15 Clausewitz, Vom Kriege (Anm. 1), 22. 16 Ebd., 35; Nachricht, ebd., 8; ähnlich in: Gedanken zur Abwehr, in: Carl von Clausewitz, Verstreute kleine Schriften, Osnabrück 1979, 497 - 499. I7 Aron, Den Krieg denken (Anm. 8), 31 u. 108.

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Was beinhaltet diese "liberale Position" genauer? Keineswegs nur die Annahme einer Begrenzung des Absoluten und Äußersten des Begriffs durch die Politik, wie Kondylis annimmt. Auch er geht von einem ,,reinen", "unverdünnten" Begriff des Krieges im Kontext von Kampf und Gewalt aus, der allerdings deshalb nicht zu einem immanenten Äußersten führt, weil er durch die "Kultur" ermäßigt wird. Sowohl bei Aron wie bei Kondylis wird der Krieg in seiner reinen, abstrakten, immanent zum Äußersten führenden Gestalt durch ein umfassendes Ganzes begrenzt - bei Aron durch Politik, bei Kondylis durch Kultur 18 • Die eigentliche Gegenposition hierzu ist im Ansatz Keegans enthalten. Sie liegt wiederum nicht darin, daß auch er den Krieg durch ein umfassenderes Ganzes, die Kultur, bestimmt sieht. Vielmehr ist Keegan der Überzeugung, daß Krieg nicht notwendigerweise zu einem Absoluten und Äußersten führe, wenn er seinen eigenen Gesetzen folge, sich selbst überlassen bleibe und nicht durch ein Anderes, ein Äußeres, ermäßigt werde. Diesem Ansatz zufolge gibt es auch Begrenzungen gegenüber der Steigerung zum Äußersten, Begrenzungen des "furor belli", die dem Krieg selbst eigen, ihm immanent sind. Der Gegensatz zwischen beiden Betrachtungsweisen stellt sich so dar: Clausewitz formuliert in der ersten Wechselwirkung zum Äußersten, daß Kriege gebildeter Völker viel weniger grausam und zerstörerisch seien als die der ungebildeten. Er begründet dies mit dem unterschiedlichen gesellschaftlichen Zustand. Aus diesem Zustand gehe der Krieg hervor, werde bedingt, eingeengt, ermäßigt. Aber diese Dinge gehörten ihm nicht selbst an und seien dem Krieg nur ein Gegebenes. Nie könne in die Philosophie des Krieges selbst ein Prinzip der Ermäßigung hineingetragen werden, ohne daß damit eine Absurdität begangen würde 19. Die von Keegan vertretene Gegenposition könnte so formuliert werden: Krieg ist zwar ein Kampf auf Leben und Tod, der Steigerung zum Äußersten sind jedoch immanente Grenzen und Gegengewichte gesetzt wie etwa der Selbsterhaltungstrieb, die Furcht, getötet zu werden, anthropologisch bedingte Hemmungen, andere Menschen zu töten, Professionalisierung, Ritualisierung und Konventionalisierung. Die Steigerung zum Äußersten wird in diesem Ansatz nicht durch die Entwicklung immanenter Gesetzlichkeiten des Krieges begründet, sondern gerade umgekehrt durch äußere Faktoren: Politik und gesellschaftlich-kulturelle Entwicklung, die Überwindung der Tötungshemmung durch waffentechnische und industrielle Entwicklung sowie die Produktion von sozial-moralischer Ungleichheit, so daß der Gegner nicht mehr in seiner prinzipiellen Gleichheit als Mensch wahrgenommen wird2o . 18 Zusätzlich zu ergänzen ist, daß Aron zwischen subjektiver und objektiver Politik unterscheidet, wobei die Grenzen der letzteren zu Gesellschaft und Kultur offener sind als die harsche Kritik von Kondylis an Aron glauben lassen möchte. 19 Clausewitz, Vom Kriege (Anm. 1), 18. 20 Vgl. zu den Tötungshemmungen Dave Grossman, On Killing, New York 1996. Die Schaffung von räumlicher, zeitlicher und sozio-moralischer Distanz in ihrer Bedeutung der Verwandlung des Gegners als Mensch in ein Objekt zur Überwindung der Tötungshemmung

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John Keegan und Raymond Aron können idealtypisch als die beiden Extreme in der Clausewitz-Interpretation angesehen werden. Wie sind diese derartig gegensätzlichen Wertungen vor dem Hintergrund des gesamten Clausewitzschen Werkes zu bewerten? Verkürzt gesagt, war Clausewitz als junger Mann ein Anhänger der Offensive um jeden Preis und orientierte sich am Vorbildcharakter der Napoleonischen Feldzüge. Im Verlauf dieser Feldzüge und insbesondere während des Rußlandfe1dzugs entdeckte er jedoch deutlicher die Chancen der Defensive und betonte von nun an immer nachdrücklicher die historische Bestimmung von Kriegen, ihre Verschiedenheit je nach der Epoche und damit auch die Verschiedenartigkeit der Strategien21 . Es gibt demzufolge nicht nur entgegengesetzte Interpretationen von Clausewitz, sondern in seinem Werk selbst sind diese Gegensätze artikuliert. Die Problematik ist nun die, daß wir die gegensätzlichen Positionen nicht nur in der Entgegensetzung von frühem (bis etwa zum Ende der Befreiungskriege) und spätem Clausewitz (je nach Wertung der Interpretatoren vor oder nach der Abfassung des von ihm "Nachricht" genannten Aufsatzes von 1827)22 finden, sondern daß diese Gegensätze auch in sein unvollendet gebliebenes Hauptwerk "Vom Kriege" eingegangen sind. Aufgrund der unvollendeten Form dieses Werkes 23 finden sich in ihm ganz unterschiedliche Entwicklungsstufen des Clausewitzschen Denkens. Im folgenden wollen wir uns zunächst verschiedenen Formen der Entgrenzung des Krieges bei ihm zuwenden, um dann am ersten Kapitel des ersten Buches, das er als einzig wirklich abgeschlossenes begriffen hat, das Verhältnis von Entgrenzung und Begrenzung des Krieges bei Clausewitz zu diskutieren. 11. Orientierung am Vernichtungsprinzip und der (Entscheidungs)- Schlacht - der Vorbildcharakter der Napoleonischen Kriege In den berühmten und immer wieder diskutierten drei Wechsel wirkungen zum Äußersten im ersten Kapitel beschreibt Clausewitz phänomenologisch drei Tendenzen zur Eskalation. Ganz anders sieht es jedoch in dem zwar auch in den zwanziger Jahren verfaßten 8. Buch aus, das jedoch zweifellos vor der theoretischen betonen Oskar Negt/ Alexander Kluge. Geschichte und Eigensinn, Frankfurt a.M. 1981, 809 ff. Trotz seiner scheinbar so eindeutigen Position, daß eine Ermäßigung der Tendenz zum Absoluten nur durch Faktoren gegeben sei, die dem Krieg selbst nicht angehören, spricht auch Clausewitz in der ersten der drei Wechselwirkungen von einer Steigerung ohne Schranken "als die der innewohnenden Gegengewichte"; Clausewitz. Vom Kriege (Anm. I), 18. Die Annahme einer möglichen Selbstbegrenzung des Krieges hat wohl in Hegel ihren prominentesten Vertreter. In seiner Phänomenologie des Geistes schildert er den Kampf auf Leben und Tod zweier Selbstbewußtseine, der durch die Furcht eines der Kämpfenden vor dem Tod in ein asymmetrisches Verhältnis umgewandelt wird. 21 Aron, Den Krieg denken (Anm. 8),416. 22 Clausewitz. Vom Kriege (Anm. 1), 8 f. 23 Über die unvollendete Form seines Werkes ist sich Clausewitz voll bewußt gewesen und hat sie besonders hervorgehoben; Clausewitz. Vom Kriege (Anm. 1), 10.

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Wende Clausewitz' geschrieben wurde 24 • In gewisser Hinsicht nimmt dieses Buch eine Zwittergestalt zwischen frühem und spätem Clausewitz, zwischen Existentialität und Instrumentalität des Krieges, begrenztem und entgrenztem Krieg ein. Im 8. Buch finden wir explizit die Vorstellung, daß zwischen Eskalation und Mäßigung ein Mittelweg gefunden werden müsse, der abhängig sei vom Urteil des Feldherrn25 • Clausewitz unterscheidet hier zwar schon zwischen dem Begriff des Krieges und dem wirklichen Krieg, so daß im 8. Buch die doppelte Art des Krieges, wenn auch noch auf den Gegensatz von Begriff und Wirklichkeit begrenzt, vorstrukturiert ist26 . Gleichzeitig argumentiert er jedoch, wie eingangs erwähnt, daß es die Pflicht der Theorie sei, "die absolute Gestalt des Krieges obenan zu stellen und sie als einen allgemeinen Richtpunkt zu brauchen". Derjenige, der aus der Theorie etwas lernen wolle, müsse die absolute Gestalt des Krieges als "ursprüngliches Maß aller seiner Hoffnungen und Befürchtungen" betrachten, um sich ihr zu nähern, "wo er es kann oder wo er es muß',27. Clausewitz orientiert sich in weiten Teilen seines Lebens an der tendenziell (in der damaligen Zeit technisch möglichen und gesellschaftlich denkbaren) absoluten Gestalt des Krieges als Ziel, Ideal, natürlichem Verlauf etc. der Kriegführung. Trotzdem verstand der frühe Clausewitz die Entgrenzung des Krieges, die Orientierung der Kriegführung an seiner absoluten Gestalt instrumentell. Eine solche Entgrenzung des Krieges als Instrument der Kriegführung wie der Politik begründet sich bei Clausewitz durch die Erfolge der französischen Revolutionsarmeen und der Armeen Napoleons 28 • Die Niederlagen des preußischen Heeres von 1806 wurden von weiten Teilen der Öffentlichkeit als so grundlegend empfunden, daß die Orientierung an dieser spezifischen Form der Kriegführung und den Gründen ihres Erfolges eine verständliche Reaktion waren29 • In seiner Analyse des Clausewitzschen Werkes hebt John Fuller vor allem dessen (partielle) 24

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Aron. Den Krieg denken (Anm. 8), 625 -629. Zit. bei Münkler, Gewalt und Ordnung (Anm. 14), 60 f.

26 Vorstrukturiert erscheint sie dadurch, daß Clausewitz in diesem Buch den Gegensatz von absolutem und begrenztem Krieg an denjenigen von Begriff und Wirklichkeit anbindet, andererseits jedoch den Krieg in seiner absoluten Gestalt in der Kriegführung Napoleons zumindest seiner Tendenz nach verwirklicht sieht; Clausewitz. Vom Kriege (Anm. I), 642 - 644. 27 Clausewitz, Vom Kriege (Anm. 1),645. 28 John Fuller bezweifelt jedoch, ob Clausewitz wirklich die Napoleonische Kriegführung als Grundlage seiner Begriffsbildung genommen hat oder in Wirklichkeit abstrakt von seiner eigenen Begriffsbildung ausgegangen ist; lohn F. C. Fuller, Die entartete Kunst Krieg zu führen, Köln 1964,65. 29 Auf die Unterschiede zwischen der neuen Kriegführung und derjenigen des Ancien Regime will ich hier nicht gesondert eingehen; sie sind in diesem Band an anderer Stelle sowie in zahlreichen anderen Beiträgen dokumentiert genauso wie der prägende Einfluß, den sie auf die persönliche Entwicklung von Clausewitz gehabt haben; Münkler, Gewalt und Ordnung (Anm. 14), 54 - 63, 92 - 98 sowie 102 - 107; Aron. Den Krieg denken (Anm. 8), 46 - 74; Peter Paret. Clausewitz und der Staat, Bonn 1993,35 - 52 u. 129 - ISS.

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Orientierung an der Entscheidungsschlacht hervor: Das Wesen des Krieges sei Kampf, und die Hauptschlacht müsse man immer als den eigentlichen Schwerpunkt des Krieges betrachten. Die unmittelbare Vernichtung der feindlichen Hauptstreitkräfte sei überall das Vorherrschende, und nur dies wolle Clausewitz mit dem Vernichtungsprinzip erreichen. Die Hauptschlacht sei der blutigste Weg der Lösung. Clausewitz fährt fort: Zwar ist sie nicht bloßes gegenseitiges Morden und ihre Wirkung mehr ein Totschlagen des feindlichen Mutes als der feindlichen Krieger, allein immer sei Blut ihr Preis und Hinschlachten ihr Charakter wie ihr Name. Davor schrecke der Mensch im Feldherrn zurück3o . In seinem Kapitel über den Gebrauch der Schlacht führt Clausewitz ein "Doppelgesetz" an, wonach einerseits die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte hauptsächlich in großen Schlachten zu suchen sei und andererseits der Hauptzweck großer Schlachten die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte sein müsse. Wie sich die Strahlen der Sonne im Brennpunkt des Hohlspiegels zu ihrem vollkommenen Bilde und zur höchsten Glut vereinigten, so vereinigten sich Kräfte und Umstände des Krieges in der Hauptschlacht zu einer zusammengedrängten höchsten Wirkung 31 . Auch führe, so Clausewitz weiter, nicht bloß der Begriff des Krieges uns dahin, eine große Entscheidung nur in einer großen Schlacht zu suchen, sondern auch die Erfahrung der zurückliegenden Kriege. Selbst Bonaparte hätte den überragenden Erfolg der Schlacht von UIm (am 20. Oktober 1805) nicht erlebt, wenn er das (vorherige) Blutvergießen gescheut hätte. Clausewitz fährt, wie bereits zitiert, pathetisch fort: "Wir mögen nichts hören von Feldherren, die ohne Menschenblut siegen. Wenn das blutige Schlachten ein schreckliches Schauspiel ist, so soll das nur eine Veranlassung sein, die Kriege mehr zu würdigen, aber nicht die Schwerter, die man führt, nach und nach aus Menschlichkeit stumpfer zu machen,,32. Trotz der bluttriefenden Metaphorik bleibt die Entgrenzung der Gewalt auch in diesen Kapiteln über die Hauptschlacht das Instrument einer siegreichen Kriegführung. Die Instrumentalität setzt selbst der Entgrenzung noch immanente Grenzen, nämlich die des militärischen Erfolges. Eine solche in moralischer Hinsicht völlig unzureichende Abschwächung des Prinzips der Gewalt dürfte jedoch der immanent-logische Grund dafür sein, daß Clausewitz der Tendenz zur Entgrenzung des Krieges später ihre Begrenzung als Gegensatz gegenübergestellt hat. Die Unterordnung der Entgrenzung der Gewalt unter den militärischen Erfolg im Krieg relativierte Clausewitz' Orientierung an der Kriegführung Napoleons in dem Moment, als dieser damit keinen Erfolg mehr hatte. Eine wesentliche Etappe bei der Relativierung des Vorbildcharakters der Napoleonischen Strategie war für Clausewitz der Rußlandfeldzug Napoleons. Er unterschied sich in der Strategie nicht grundsätzlich von den vorhergehenden Feld30

31 32

Fuller, Die entartete Kunst (Anm. 28), 78 f.; Clausewitz, Vom Kriege (Anm. 1), 242. Clausewitz, Vom Kriege (Anm. 1),241. Ebd., 243.

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zügen. Entscheidend war jedoch, daß sich der Gegner ganz anders verhielt. Einem Gegner, der jeder Schlacht auszuweichen suchte, war mit einer Entscheidungsschlacht schwerlich beizukommen. Auch die (relative) Unermeßlichkeit des russischen Raumes warf für die Strategie Napoleons ein unüberwindliches Hindernis auf. Clausewitz betont immer wieder, daß die Strategie Napoleons vom rein militärischen Gesichtspunkt aus richtig gewesen sei: die russische Armee zu vernichten, Moskau zu erobern und anschließend mit Zar Alexander zu verhandeln 33 . Das Ausweichen der russischen Armee, ihre Taktik der "verbrannten Erde" und die Weite des russischen Raumes führten jedoch dazu, daß die Armee Napoleons an ihren eigenen Anstrengungen zugrundeging. Nach Clausewitz brauchte die Napoleonische Armee für den Marsch von Kowno nach Moskau von nur 115 Meilen über zwölf Wochen. Von anfangs 280 000 Soldaten kamen nur 90 000 in Moskau an 34 • Der russische Feldzug demonstrierte aufs eindringlichste die Überlegenheit der Verteidigung über den Angriff, wie sie von Clausewitz seitdem immer wieder betont wurde. Jeder Angriff schwächt sich in seinem eigenen Vorgehen, sind die letzten Worte in einem seiner letzten Texte 35 . Die Überlegenheit der Verteidigung über den Angriff relativierte den Vorbildcharakter der Napoleonischen Strategie, die in Clausewitz' Sicht an sich richtig war - nur paßte sie nicht für einen Gegner, der Rußland und nicht mehr Preußen oder Österreich hieß. Besonders deutlich wird diese Wandlung in einem späten Text, in dem Clausewitz die Entgrenzung der Gewalt in der Strategie Napoleons nicht mehr als Folge von dessen Genie ansieht, sondern aus seiner Notlage und dem Zwang zum Hazardspiel erklärt. Die außerordentlichen Verhältnisse Frankreichs und Bonapartes hätten das "Niederwerfen des Gegners" und sein Wehrlosmachen fast immer und überall gestattet, und darum sei man auf den Gedanken gekommen, die daraus entsprungenen Entwürfe und Ausführungen für die allgemeine Norm zu halten. Damit wäre aber die ganze frühere Kriegsgeschichte summarisch verurteilt, und dies wiederum sei nichts anderes als Torheit36 . Der ganze Zwiespalt in der Beurteilung Napoleons kommt in Clausewitz' Schlußworten seiner Darstellung des russischen Feldzuges zum Ausdruck: "Wir wiederholen es: Alles, was er war, verdankt er dieser kühnen EntAron. Den Krieg denken (Anm. 8), 207 f. Carl von Clausewitz. Der russische Feldzug 1812, Stuttgart o.J., 124. 35 Clausewitz, Vom Kriege (Anm. 1), 11. 36 Carl von Clausewitz. Gedanken zur Abwehr, in: ders., Verstreute Kleine Schriften, Osnabrück 1980, 493 - 527, hier 497f.; Münkler; Gewalt und Ordnung (Anm. 14), Kapitel 33

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,Die instrumentelle Auffassung des Krieges und die Relativierung des Vorbildcharakters der napoleonischen Strategie'; 94 - 98, hier 96. Zu problematisieren bleibt natürlich, daß Clausewitz zum Teil unter Vernachlässigung der historischen Bedingtheiten aus den Feldzügen Napoleons allgemeine Richtlinien für eine erfolgreiche Kriegführung abstrahierte und so zum Anknüpfungspunkt ganz entgegengesetzter Positionen zur Entgrenzung des Krieges als Instrument werden konnte. Ein Problem bei Clausewitz scheint auch zu sein, daß er nicht immer zwischen allgemeinen und geschichtlich bedingten Kriterien in der Kriegführung unterscheidet; Aron. Den Krieg denken (Anm. 8), 211.

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schlossenheit, und seine glänzendsten Kriege würden denselben Tadel erfahren haben, wenn sie nicht gelungen wären,,37. Nach wie vor bewundert Clausewitz das militärische Genie Napoleons. Gleichzeitig realisiert er aber, daß selbst dieses militärische Genie nicht unter allen Bedingungen zum Erfolg führen kann. "Daß die Russen Moskau verlassen, verbrennen und einen Vertilgungskrieg einleiten würden, war nicht mit Gewißheit vorauszusehen, war vielleicht nicht einmal wahrscheinlich; wenn es aber geschah, so war der ganze Krieg [für Napoleon] verunglückt, wie man ihn auch geführt hätte,,38. Im Spannungsfeld zwischen der weiteren Bewunderung Napoleons trotz seiner Niederlagen und der Einsicht in die Notwendigkeit der Variabilität und historischen Bedingtheit der Strategie infolge eben dieser Niederlagen bewegt sich das Denken des späten Clausewitz und seiner nur zögerlichen Abkehr vom Vorbildcharakter der Napoleonischen Strategie 39 . IH. "Überbieten" der Französischen Revolution durch den Partisanenkrieg Ein sehr ähnliches Verhältnis zwischen Entgrenzung und Selbstbegrenzung gerade durch die Intrumentalisierung der Entgrenzung findet sich auch in Clausewitz' Ausarbeitungen zum Kleinkrieg. In seiner Bekenntnisdenkschrift von 1812 verfolgt er zum Teil eine Strategie der völligen Entgrenzung des Krieges als Mittel zum Zweck: Ausgangspunkt ist die Frage, was passiere, wenn der mit regulären Truppen kämpfende Gegner durch eine entsprechend grausame Behandlung der gefangengenommenen Insurgenten der Bevölkerung den Mut zu einem solchen Krieg nehme. Den Bedenken gegen die Anwendung dieser Kriegsform hält er entgegen, "als ob wir nicht so gut grausam seyn könnten als der Feind". Der grausame Charakter eines solchen Krieges sei zum Nachteil desjenigen, der weniger Menschen aufs Spiel setzen könne, also desjenigen, der mit stehenden Heeren kämpfe und nicht die gesamte Bevölkerung einsetzen könne. Clausewitz fährt fort: ,,Lassen wir es darauf ankommen Grausamkeit mit Grausamkeit zu bezahlen, Gewaltthat mit Gewaltthat zu erwiedem! Es wird uns ein leichtes seyn den Feind zu überbieten, und ihn in die Schranken der Mäßigung und Menschlichkeit zurückzuführen,,40. Diese Passage ist besonders aufschlußreich für die Spannungen in Clausewitz' Werk. Deutlich enthüllt sie die Distanz des Theoretikers zum wirklichen Gesche37 Clausewitz. Der russische Feldzug (Anm. 34), 201. Der Begriff des Tadels ist hier im allgemeinen Sinn von Wertung gemeint. 38 Ebd., 197. 39 Aron formuliert hierzu: ,,In Wahrheit ist Clausewitz (und nach ihm viele Deutsche) bis zum Ende der Faszination Napoleons erlegen, und er war sich niemals des Widerspruchs zwischen seiner eigenen Definition des kriegerischen Genius und Napoleons Genius bewußt: Es fehlte letzterem als Staatsmann die höhere Tugend"; Aron. Den Krieg denken (Anm. 8), 208. 40 Carl von Clausewitz. Schriften, Aufsätze, Studien, Briefe, hrsg. v. Werner Hahlweg, Bd. 1, Göttingen 1966.733 f.

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hen, wie wenige Abschnitte später besonders deutlich wird. Dort argumentiert Clausewitz, daß die Vorstellungen, welche man von der Gefahr einer Entgrenzung der Gewalt habe, ganz übertrieben gewesen seien. In bezug auf den Kleinkrieg in Spanien, eines seiner Vorbilder für den von ihm vorgeschlagenen preußischen Befreiungskampf, behauptet er, selbst dort sei "die Sache nicht so arg, als man sie sich denkt,,41. Die Graphiken von Francisco Goya "Desastres de la guerra" und sein Bild über die Erschießung Aufständischer aus eben dem französisch-spanischen Krieg von 1808 -1814 gehören demgegenüber zu den eindringlichsten Darstellungen der Entgrenzung des Krieges42 . Jedoch ist auch ersichtlich, daß Clausewitz die Entgrenzung der Gewalt erstens instrumentell bestimmt und sie zweitens sogar als Mittel zur Rückführung des Krieges in eine begrenzte, regulierte und professionalisierte Form ansieht. Clausewitz hebt hervor, daß der jeweilige Gegner nach den ersten Grausamkeiten auf beiden Seiten dahin gebracht werde, die "Insurrections-Truppen", die Partisanen, "wie alle andem zu behandeln". Die Anerkennung der Mitglieder des Landsturmes als gleichberechtigte Teilnehmer am Befreiungskampf scheint ihm nahezu das eigentliche Anliegen der Entgrenzung des Krieges in dieser Passage zu sein. Er ist der Auffassung, daß die Extreme der Entgrenzung des Krieges, wie man sie aus Spanien höre, vermieden werden könnten, wenn die preußische Regierung erstens jeden bewaffneten Mann ihres Volkes unter den Schutz ihrer Autorität nehme und wenn sie zweitens ihrerseits an ihren Gefangenen Repressalien für jede Grausamkeit zu nehmen drohe, "welche man gegen Kriegsrecht und Sitte an diesen ächten Vertheidigem des Vaterlandes ausübt,,43. Clausewitz' Auffassung von der Entgrenzung des Krieges ist in dieser Passage eingebunden in ein Spannungsfeld aus drei Aspekten: 1. Die Unterschätzung der Entgrenzung der Gewalt im Krieg zwischen regulären und irregulären Truppen44 • 2. Die immanente Begrenzung der Entgrenzung des Krieges durch die Orientierung am militärischen Erfolg.

3. Das Ziel der Rückführung des entgrenzten Krieges in die begrenzenden Formen von "Sitte", Professionalisierung und gegenseitiger Achtung, also "in die Schranken der Mäßigung und Menschlichkeit,,45. Ebd., 734. Francisco Goya, Sämtliche Radierungen und Lithographien, Wien 1961; vgl. auch den Beitrag von Peter Paret in diesem Band. . 43 Clausewitz, Schriften I (Anm. 40), 734. 44 Clausewitz berücksichtigte darüber hinaus nicht die Rückwirkungen dieser Form der Kriegführung auf Politik und Gesellschaft der beteiligten Gegner; am Beispiel der Partisanen vgl. Münkler, Gewalt und Ordnung (Anm. 14), Kapitel ,Partisanen der Tradition', 137 -141, das den Unterschied zwischen militärischem Erfolg und Verlust der persönlichen und gesellschaftlichen Identität auf Seite der Partisanen beschreibt. 41

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Schon der Rußlandfeldzug Napoleons scheiterte nicht nur an der Weite des russischen Raumes, sondern vor allem auch am "Vertilgungskrieg" der russischen Armee. Durch die Deklaration der "levee en masse" während der Französischen Revolution war der Krieg zwar zu einer Sache "des ganzen Volkes" geworden, und nun hatten die "Mittel, welche angewandt, die Anstrengungen, welche aufgeboten werden konnten, keine bestimmte Grenze mehr,,46. Ist die Kriegführung der französischen Revolutionsarmeen und der Armeen Napoleons schon insgesamt durch eine Entgrenzung gekennzeichnet, so wurde sie zum Teil im Rußlandfeldzug, aber vor allem im Partisanenkrieg noch einmal überboten. Die Entgrenzung des Krieges durch die Mobilisierung der gesamten Nation in der Französischen Revolution hob zwar die Trennung zwischen militärischen Spezialisten auf der einen Seite und Bürgern auf der anderen auf, beseitigte jedoch nicht die Unterscheidung zwischen Kombattanten und der zivilen Bevölkerung als solcher. Genau diese Unterscheidung wird im Partisanenkrieg jedoch außer Kraft gesetzt, weil jeder, Mann oder Frau, Kind oder Greis, ein potentieller Teilnehmer an dieser Form des Krieges ist. "Überboten" wird jedoch auch die Aufhebung des politischen Subjekts. Ersetzte die Französische Revolution den persönlichen Souverän und die Fraktionen der Aristokratie als politisches Subjekt durch das Volk und die Nation, wird dieser Prozeß im Partisanenkrieg in Spanien noch einmal überboten: Hier gibt es gar kein politisches Subjekt mehr, sondern nur noch den dezentralisierten Widerstand von Bauernpartisanen, der seine Virulenz aus der unorganisierten Spontaneität und Grausamkeit bezieht. Auch im Rußlandfeldzug scheiterte die Napoleonische Strategie mithin daran, daß Zar Alexander die von Napoleon angestrebten Verhandlungen nach der Einnahme Moskaus ausschlug und sich somit als politisches Subjekt verweigerte. Der Kampf der spanischen Bauernpartisanen um die Wahrung und Anerkennung ihrer tradierten Lebensweise "überbietet" den Krieg als Kampf zwischen politischen Subjekten und transformiert ihn zumindest auf einer Seite in einen Kampf um Anerkennung der tradierten kulturellen und sozialen Lebensformen. Erst mit der grundsätzlichen Anerkennung als politisches Subjekt wird der entgrenzte Krieg transformiert in einen instrumentellen Krieg, einen Krieg um begrenzte Ziele mit begrenzten Mitteln.

IV. Anerkennungsthematik und existentielle KriegsautTassung Die Entgrenzung des Krieges bei Clausewitz ist eng verbunden mit seiner "existentiellen Kriegsauffassung" der frühen Jahre. In ihr wird der Krieg nicht als Mittel der Politik, sondern als Medium der Konstitution oder Transformation einer politischen Größe begriffen47 • Der Kern der Unterscheidung zwischen existentiel45 Vgl. zum Partisanenkrieg Münkler, Gewalt und Ordnung (Anm. 14), 111-175; Aron, Den Krieg denken (Anm. 8), 418 - 451. 46 Clausewitz, zit. nach Münkler, Gewalt und Ordnung (Anm. 14),56. 47 Ebd., 103.

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ler und instrumenteller Kriegsauffassung in Clausewitz' Entwicklung betrifft nicht die Instrumentalität als solche, denn Gewalt ist in beiden Fällen Mittel zu einem angestrebten Zweck. Die instrumentelle Kriegsauffassung des späten Clausewitz ist bezogen auf eine vorausgesetzte legitime politische Ordnung. In der existentiellen Kriegsauffassung ist der Krieg zwar auch ein Mittel, konstituiert oder transformiert aber erst die politische Größe, durch deren antizipierte Existenz er sich legitimiert48 . Besonders deutlich wird diese existentielle Kriegsauffassung in einem frühen Text, in dem Clausewitz sich mit Einwänden gegen die Befreiung von der Napoleonischen Herrschaft durch Krieg auseinandersetzt. Der entscheidende Satz lautet: "Sie wollen eine Revolution - ich habe nichts dagegen; aber wird diese Revolution in der bürgerlichen und Staatenverfassung sich nicht weit leichter machen in der Bewegung und Schwingung aller Teile, welche der Krieg hervorbringt?,,49 Krieg als Mittel zur Herstellung eines noch nicht existierenden politischen Subjekts ist unmittelbar mit dem Kampf auf Leben und Tod um Anerkennung zweier Selbstbewußtseine verbunden, wie er von Hegel in seiner etwa zeitgleich entstandenen Phänomenologie des Geistes beschrieben wird. Hegel argumentiert, daß jedes der beiden Selbstbewußtseine sein eigenes Leben aufs Spiel setzt, um zu demonstrieren, daß ihm absolute Freiheit und Anerkennung wichtiger seien als der Tod. Hegel formuliert jedoch im Unterschied z.B. zu Fichte und Kleist zwei entscheidende Pointen. Erstens kann die Anerkennung der Freiheit des Selbstbewußtseins trotz des Kampfes auf Leben und Tod gerade nicht durch den Tod eines der beiden erfolgen. Nach Hegel haben zwar beide ihr Leben gewagt und es an sich selbst und dem anderen verachtet50 , aber der Tod des einen hat zur Folge, daß durch diesen keine Anerkennung mehr erfolgen kann. In der späteren Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in der er die Anerkennungsthematik an anderer Stelle wieder aufnimmt, hat Hegel dieses Problem in einer Anmerkung präzisiert. Der absolute Beweis der Freiheit im Kampf um Anerkennung sei der Tod. Durch den Tod aber werde die Natürlichkeit tatsächlich negiert. Wenn von den beiden um gegenseitige Anerkennung Kämpfenden auch nur einer sterbe, komme keine Anerkennung zustande, weil der Übriggebliebene genausowenig wie der Tote als ein Anerkannter existiere51 • Ebd., 108. Carl von Clausewitz, Politisches Rechnen, in: Hans Rothfe1s, Carl von Clausewitz, Politik und Krieg, Bonn 1980,216. Im folgenden Satz problematisiert Clausewitz zwar, daß eine Revolution zum damaligen Zeitpunkt nicht in Sicht war, dies ändert jedoch nichts an der grundsätzlichen Einstellung, eine solche durch Krieg herbeizuführen. 50 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: ders., Werke, Frankfurt a.M. 1969 -71, hier Bd. 3, 149 ff: 51 Ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, in: ders., Werke (Anm. 50), Bd. 10, 221, Zusatz zu § 432. Zur Bedeutung und Omnipräsenz von Ehre und Anerkennung im Selbstbewußtsein bürgerlicher wie adliger Männer zur damaligen Zeit vgl. Ute Frevert, Ehrenmänner, Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991, 15. 48

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Eine andere Auffassung vom Kampf um Anerkennung, der mit dem Tod eines der beiden Kämpfenden endet, findet sich in Kleists Penthesilea 52 . Nachdem Achill vor Troja die Amazonenkönigin Penthesilea besiegt hat, stellt er sich aus Liebe zu ihr einem erneuten Kampf. Er beabsichtigt, diesen Kampf zu verlieren, um Penthesilea die Ehre als Kriegerin zurückzugeben und ihre Liebe zu erringen. Penthesilea durchschaut jedoch diese Absicht Achills, durch die ihre Ehre als Kriegerin noch mehr in Frage gestellt wird als durch die Niederlage, und tötet den auch von ihr Geliebten. Durch den Tod Achills erfolgt jedoch eine nochmalige Steigerung ihrer Selbstzweifel, da sie ihre Anerkennung nur durch Achill als dem Einzigem, der sie besiegte, hätte wiederbekommen können. Hegel beschreibt diesen Prozeß dahingehend, daß durch den Tod des einen ein neuer Widerspruch entsteht, der größer ist als der erste53 . Kleists Drama endet nicht nur mit dem Selbstmord Penthesileas, sondern infolge der Verweigerung der Anerkennung mit dem Rückfall in die Barbarei: Sie verstümmelt und zerfleischt die Leiche Achills wie ein Raubtier, womit sie die letzten Reste ihrer Ehre als Kriegerin verliert54 . Für unseren Zusammenhang ebenso wichtig ist die zweite Pointe Hegels. In der Erfahrung des Kampfes auf Leben und Tod werde dem Selbstbewußtsein bewußt, "daß ihm das Leben so wesentlich" wie Freiheit und Anerkanntsein sei55 . In der Enzyklopädie präzisiert Hegel wiederum, daß einer der beiden Kämpfenden das Leben vorzieht, sich als Person erhält, damit aber sein Anerkanntsein und seine absolute Freiheit aufgibt. Dieses Aufgeben mündet in eine Ungleichheit, die bei Hegel als die von Herrschaft und Knechtschaft begriffen wird. In deutlichem Unterschied zu Hegel begreift der frühe Clausewitz den Tod nicht als Sackgasse des Kampfes um Anerkennung, sondern gewissermaßen als dessen höchste Form. So heißt es bei ihm, daß selbst bei einer Niederlage der Kampf nicht umsonst gewesen sei. "Ist nun das Blut umsonst vergossen worden? Wird an dieser glorreichen Todestunde sich nicht der Mut unserer Nachkommen erheben?" Der König, der "glorreich untergeht, verherrlicht die Nation, und sein herrlicher Name ist Balsam auf ihre Wunden,,56! In der Bekenntnisdenkschrift heißt es ganz in diesem Sinne, daß selbst der Untergang der Freiheit "nach einem blutigen und ehren52 Kleists Penthesilea ist nahezu zeitgleich mit Hegels Phänomenologie entstanden; Heinrich von Kleist, Werke, hrsg. u. eingel. v. Heinrich Gerhard Stenzen, Salzburg o.J., 359 - 449. 53 Hegel, Enzyklopädie III (Anm. 51), 221, § 432. 54 Maengel interpretiert Achills und Penthesileas Motive zum Kampf unter Ausklammerung der Anerkennungsthematik, wodurch ihm die entscheidenden Motive entgehen: Manfred Maengel, Vernunft keilförmig, auf sinnlosem Kampf. Kleist, Krieg und Clausewitz, in: Tumult (Schriften zur Verkehrswissenschaft, 21), Bodenheim 1995, 80-96. Den möglichen zivilisatorischen Aspekt des Amazonentums, dadurch, daß sich diese Frauen weigern, Beute zu sein. thematisiert Herfried Münkler; Judith und Penthesilea, in: ders., Odysseus und Kassandra, Politik im Mythos, Frankfurt a.M. 1990, 11 - 24. 55 Hegel, Phänomenologie (Anm. 50), ISO. 56 Clausewitz, Politisches Rechnen (Anm. 49), 221; weitere Zitate und Ausführungen bei Münkler; Gewalt und Ordnung (Anm. 14), 102 -107.

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vollen Kampf die Wiedergeburt des Volkes sichert und der Kern des Lebens ist, aus dem einst ein neuer Baum die sichern Wurzeln schlägt,,57. Analysiert man den ersten Teil der Bekenntnisdenkschrift, so ist in ihr wenig vom Kampf gegen Napoleon und den militärischen Erfolgsaussichten zu lesen, um so mehr jedoch von Ehre, Menschenwürde und Freiheit. Clausewitz sagt sich los von der "schamlosen Aufopferung aller Ehre des Staates und des Volks, aller persönlichen, aller Menschenwürde". Staat und "Volk" erscheinen hier als ein individuelles Subjekt58 . Das entscheidende Motiv des Patrioten Clausewitz scheint kein konkretes politisches Ziel zu sein, sondern das Wiedererlangen von Anerkennung, Achtung und Ehre als Individuum und als Staat durch die Wiederaufnahme des Kampfes gegen Napoleon. Dieser Teil der Bekenntnisdenkschrift ist mit einem Duell zur Wiederherstellung der Ehre einer einzelnen Person zu vergleichen. Genauso wie beim individuellen Duell ist das Entscheidende nicht der Ausgang des Krieges, sondern durch den Kampf auf Leben und Tod wird zu erkennen gegeben, daß Ehre, Anerkennung und Freiheit höherwertige Güter sind als das eigene Leben59 . Erklärungsbedürftig bleibt, warum die Ehre zur damaligen Zeit eine derartige "Omnipräsenz" im Lebenszusammenhang adliger und bürgerlicher Männer und darüber hinaus für das ganze Staatswesen spielen konnte. Dies zu erklären ist vor allem deshalb erforderlich, weil der Begriff der Ehre und der des Ehrenzweikampfs eigentlich der Ständegesellschaft bzw. dem Adel zugeordnet werden. Wieso kam es zu einer solchen Aufladung von Ehrgefühl und Antimaterialismus, Persönlichkeitswahrung und Individualitätswillen, Mut und Männlichkeit60? Eine bloße Verteidigung der ständischen Ehre des Adels oder des Offizierskorps können wir bei Clausewitz zur damaligen Zeit ausschließen. Welchen geschichtlichen Ort hat der Kampf um Anerkennung auf Leben und Tod aber dann? Hegel hatte den Kampf auf Leben und Tod im Zusammenhang mit der Anerkennungsthematik in seiner Enzyklopädie der Wissenschaften auf den Naturzustand begrenzt und den geschichtlichen Ort des Ehrenzweikampfs dem Mittelalter zugewiesen. Wenn in seiner Zeit vom (Ehren)-Zweikampf die Rede sei, sei dies ein gemachtes Rückversetzen in die Rohheit des Mittelalters61 • In bezug auf das "äußere Staatsrecht" argumentiert er jedoch, daß durch den Krieg die Selbständigkeit der Staaten und damit ihr schon erreichter Stand an Anerkennung "aufs Spiel" gesetzt werde. Der Krieg ist beim späten Hegel ein Kampf um Anerkennung auf der Basis 57 Clausewitz, Schriften I (Anm. 40), 689. Die Vorstellung, daß eine ehrenvolle Niederlage die moralische Kraft erzeuge, um eine bessere Gesellschaft zu schaffen, war seit langem Glaubenssatz der Reformer; vgl. Paret, Staat (Anm. 29), 268. 58 Clausewitz, Schriften I (Anm. 40), 688. Zu Clausewitz' Identifizierung mit Staat und "Volk" zur damaligen Zeit vgl. Paret, Staat (Anm. 29), Kapitel, ,Die Logik des Patriotismus'. S9 Frevert, Duell (Anm. 51), 11. 60 Ebd., 11 - 15. 61 Hegel, Enzyklopädie III (Anm. 51), 222, Zusatz zu § 432.

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bereits vorausgesetzer Anerkennung62 • Die Frage ist, wie der Kampf um Anerkennung auf der Basis bereits erfolgter Anerkennung möglich ist, also in einem gesellschaftlichen Zustand, der über den "Naturzustand" hinausgeht? In der Interpretation der Naturzustandskonzeption, wie sie etwa von Thomas Hobbes entwickelt worden ist, ist zu unterscheiden zwischen einem historischen Anfangsstadium von Vergesellschaftung und der grundlegenden Gegenüberstellung von Natur- und Gesellschaftszustand. Mit diesem Begriff wird nicht die soziale Ausgangssituation der Vergesellschaftung unter Abstraktion von der geschichtlichen Entwicklung dargestellt. Vielmehr ist mit ihm der allgemeine Zustand unter den Menschen gekennzeichnet, der sich ergibt, wenn jedes politische Steuerungsorgan vom gesellschaftlichen Leben nachträglich fiktiv abgezogen würde. Da die menschliche Einzelnatur in Hobbes' Konzeption durch eine Haltung der präventiven Machtsteigerung gegenüber den Mitmenschen geprägt ist, besitzen die sozialen Beziehungen nach einer solchen "Subtraktion" den Charakter eines Krieges aller gegen alle63 • Gibt es nun solche "fiktiven Subtraktionen" bis zum Rückfall in den "Naturzustand" in der Wirklichkeit? Eine Möglichkeit ist, den so verstandenen Naturzustand in grundlegenden gesellschaftlichen Umwälzungen, Umbrüchen, Revolutionen zu verorten. In ihnen sind die alten politischen Mächte nicht mehr und die neuen noch nicht in der Lage, das gesellschaftliche Leben zu steuern. In dieses Gleichgewicht zwischen alten und neuen politischen Mächten stößt der "Naturzustand" des Kampfes auf Leben und Tod um Anerkennung, Rechte und Würde des einzelnen wie des als Individuum gedachten Kollektivsubjekts.

Eine andere Möglichkeit der Beantwortung dieser Frage ist immanent in der Unterscheidung zweier großer ideengeschichtlicher Argumentationsstränge angelegt. Der eine ist im wesentlichen bestimmt durch Machiavelli· und Hobbes. Den theoretisch konstruierten Zustand eines Kampfes aller gegen alle benutzte z. B. Hobbes, um an den negativen Folgen der Dauersituation des Krieges zu erweisen, daß die vertraglich geregelte Unterwerfung aller Subjekte unter eine souveräne Herrschaftsgewalt nur das vernünftige Resultat einer zweckrationalen Interessenabwägungjedes einzelnen sein kann64 • In dieser Konzeption bildet die Zweckrationalität das Zentrum einer Begrenzung des Krieges. Ganz anders argumentiert jener Strang, als dessen bedeutendster Repräsentant Hegel anzusehen ist. Im Gegensatz zu Machiavellis und Hobbes' Annahme eines Kampfes um Selbsterhaltung im Naturzustand postuliert Hegel einen Kampf auf Leben und Tod nicht aus Gründen der Selbsterhaltung, sondern der Anerkennung. Ebd., 346, § 547. Günther Buck, Selbsterhaltung und Historizität, in: Hans Ebeling (Hrsg.), Subjektivität und Selbsterhaltung, Frankfurt a.M. 1976; Herfried Münkler, Thomas Hobbes, Frankfurt a.M. 1993, 108 - 111; den Begriff des Naturzustandes thematisiert auch Claus Offe, Modeme ,Barbarei': Der Naturzustand im Kleinformat?, in: Modernität und Barbarei, hrsg. v. Max Miller und Hans-Geord Soeffner, Frankfurt a.M. 1996,258 - 289. 64 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M. 1992, 117 f. 62

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Hegel vertritt eine Position, die aus dem Kampf der Subjekte um wechselseitige Anerkennung einen innergesellschaftlichen Zwang zur praktisch-politischen Durchsetzung von freiheits verbürgenden Institutionen ableitet. Es ist der Anspruch der Individuen auf Anerkennung, der dem gesellschaftlichen Leben von Anfang an als eine moralische Spannung innewohnt, über das jeweils institutionalisierte Maß an sozialem Fortschritt wieder hinaustreibt und so auf dem negativen Weg eines sich stufenweise wiederholenden Konflikts allmählich zu einem Zustand von gelebter Freiheit führt 65 • In dieser Perspektive ist die Verletzung der Anerkennung das entscheidende Motiv für die Wiederaufnahme des Kampfes um Anerkennung auf Leben und Tod66 . Analysieren wir das Duell als Ausdrucksform des Kampfes um Anerkennung, so sind drei Momente zu unterscheiden 67 : 1. Das Duell wird provoziert durch die Verletzung der Anerkennung eines Individuums durch ein anderes. Hierdurch wird eine Person in ihrer Ehre und Würde, ihrer gesellschaftlichen Stellung verletzt und damit ihre Anerkennung als freie und gleichberechtigte Person in Frage gestellt. 2. Die Verletzung der Anerkennung kann jedoch nur durch eine Person gleicher Anerkennung erfolgen. Ehre und Würde, Anerkennung und Freiheit können demzufolge durch Personen, die selbst nicht anerkannt sind, auch nicht in Frage gestellt werden. Derjenige, der die Anerkennung eines anderen verletzt, muß selbst dem Anspruch auf Gleichheit und Freiheit genügen und "satisfaktionsfähig" sein. Hierdurch erhält der Kampf, obwohl er auf Leben und Tod geführt wird, den Charakter einer geregelten Auseinandersetzung. 3. Durch den ernsthaften, wenn auch geregelten Kampf auf Leben und Tod werden Ehre und Anerkennung desjenigen, der in dieser Beziehung verletzt wurde, und damit sein Anspruch, frei und gleich zu sein, wiederhergestellt68 . Ebd., 11. Ihre immanente Grenze findet diese Position in der Begründung für die Verletzung der Anerkennung. Hegels Konstruktion ist laut Honneth von der Überzeugung geleitet, daß erst durch die Zerstörung der Anerkennungsformen das Moment an den intersubjektiven Beziehungen zu Bewußtsein gelange, welches einer sittlichen Gemeinschaft als Fundament zu dienen vermöge. Eine solche Position setzt jedoch voraus, daß die Verletzung der bestehenden Anerkennungsformen lediglich ein Einfordern von noch nicht gewährter Anerkennung sei. Es ist jedoch ein grundlegender und nicht kompatibler Unterschied, ob die anerkannten Verkehrsformen verletzt werden mit dem Ziel eines auf die Probe stellens der Wirklichkeit der eigenen Anerkennung oder um die nicht verallgemeinerbare Entfaltung einer ungehemmten Subjektivität. Honneth verabsolutiert im Grunde die erste Form der Verletzung der Anerkennung und kritisiert an Hege!, daß er dieser Form des Kampfes um Anerkennung lediglich einen begrenzten Platz in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit einräumt; Honneth, Kampf um Anerkennung (Anm. 64), 36-44. 67 Frevert betont bezüglich der von ihr untersuchten Duelle, daß es um eine ernsthafte Auseinandersetzung um Leben und Tod ging; ein lediglich scheinbarer Kampf ist oder verstärkt eine Verletzung der Anerkennung; Frevert. Duell (Anm. 51), passim. 68 Frevert. Duell (Anm. 51), beschreibt in vielen Beispielen diese Grundstruktur. 65

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In einer Arbeit über den Zweikampf und die "germanische Ehre" argumentiert ein zeitgenössischer Autor zusätzlich mit dem Grundsatz, "daß die Ehre an die Kampffähigkeit geknüpft, der Wehrlose ehrlos" sei69 . In dieser Perspektive können die preußischen Niederlagen bei Jena und Auerstädt auch als Verletzung ihrer Ehre und Anerkennung interpretiert werden. In diesen Schlachten hatten die preußischen Truppen eine so verheerende Niederlage erlitten und danach weitgehend kampflos kapituliert, daß kaum noch von einem Kampf prinzipiell gleicher Gegner gesprochen werden konnte. Die Verletzung von Ehre und Anerkennung der preußischen Armee durch diese Niederlagen drückt Clausewitz in einem Brief an seine spätere Frau Marie deutlich aus. In ihm spricht er von den Menschen, die in diesen Schlachten "physisch und moralisch untergegangen sind". Kurze Zeit später wiederholt er seine letzten Zeilen aus einem Leserbrief in der Zeitschrift Minerva: "Verzweifelt nicht an Eurem Schicksale, das ist: ehret euch selbst,,7o! Für den frühen Clausewitz sind Ehre und Anerkennung von existentieller Bedeutung: "Kein Mensch in der Welt hat mehr Bedürfnisse nach National-Ehre und -Würde als ich,m. Und in der Korrespondenz mit seiner Braut heißt es: "Diesem Frieden, den die Demut gibt, entsage ich auf ewig. Kann ich nicht frei und geehrt als Bürger eines freien und geehrten Staates leben ( ... ), so mag er meine Brust auf ewig fliehen,,72. In dieser Perspektive können Clausewitz' Ausführungen zur Entgrenzung des Krieges als Reaktion auf eine yerletzung der Ehre seiner persönlichen wie kollektiven Identität mit dem Ziel ihrer Wiederherstellung interpretiert werden. So polemisiert er in seinen Stellungnahmen zu Positionen von großen Teilen des Hofes und der Öffentlichkeit: Man glaube an die Notwendigkeit einer Unterwerfung auf Gnade und Ungnade, einzelne zeichneten sich noch durch die Frechheit aus, mit der sie auf die Sicherheit und den ruhigen Genuß des bürgerlichen Eigentums pochten und diesem auch Rechte, Ehre und Freiheit des Königs zu opfern bereit seien. Wer dagegen an die Erhaltung des Staates "auf dem Wege der Pflicht und Ehre" glaube und nicht glaube, daß nur die schändlichste Unterwerfung Pflicht sei und daß es der Ehre nicht bedürfe, der sei in den Augen der vornehmen Stände, von denen Hof- und Staatsbeamte die Verderbtesten seien, ein Staatsverräter73 . Clausewitz' spätere "Wendung ins Konservative" (Münkler) kann auch dadurch begründet werden, daß ,,Ehre" und Anerkennung des Individuums Clausewitz wie des preußischen Staates durch den Befreiungskrieg und den Sieg über Napoleon wiederhergestellt worden waren. Den ,,revolutionären" Ansichten Clausewitz' wurde mit der Wiederherstellung von "Ehre und Würde" des preu69 R. Gneist, Der Zweikampf und die germanische Ehre, Berlin 1848, 11; Frevert, Duell (Anm. 51), 20. 70 Carl von Clausewitz, Brief vom 28. Januar 1807, in: Hans Rothfels, Carl von Clausewitz - Politische Schriften und Briefe, München 1922, 12 u. 14 (Hervorhebung HerbergRothe). 71 Clausewitz, Politische Schriften (Anm. 70), XlV. 72 Ebd.,5. 73 Clausewitz, Schriften I (Anm. 40), 686 f.

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ßischen Staates, der Nation und Clausewitz' selbst, nunmehr die Grundlage entzogen. Die Thematisierung von Ehre und Anerkennung beim frühen Clausewitz im Zusammenhang mit dem Kampf auf Leben und Tod bezieht sich sowohl auf das Vakuum im Gleichgewichtszustand zwischen alten und neuen politischen Kräften als auch auf die Verletzung des erreichten Standes von Anerkennung. Die Bedeutung der Anerkennungsproblematik für den frühen Clausewitz findet sich sowohl in seinem persönlichen Lebensweg als auch in den Äußerungen zu dem von ihm gedachten kollektiven politischen Subjekt74 • Die erfolgte Anerkennung durch die Befreiungskriege (unabhängig von Clausewitz' persönlichen Karriereproblemen) verwandelte die Entgrenzung des Krieges durch den Kampf um Anerkennung in seinem Denken im Laufe der Zeit in einen begrenzten, instrumentellen Krieg. In Clausewitz' Gesamtwerk werden die beiden grundlegenden Theoriestränge artikuliert: einerseits der der Machterweiterung, dem Interessenkalkül sowie der Staatsraison verpflichtete instrumentelle Krieg, der jedoch gerade infolge seiner Instrumentalität durch die Zweck-Ziel-Mittel-Relation begrenzt bleibt; andererseits der des Kampfes um Anerkennung, um Ehre, Recht und Würde, der eine große Nähe zu moralischen Kategorien aufweist, in seiner Tendenz jedoch eher entgrenzenden Charakter hat. Aber auch der existentielle Krieg um Anerkennung wird bei Clausewitz durch seine Instrumentalität immanent begrenzt. Sogar die Bekenntnisdenkschrift widmet sich nach dem hier thematisierten ersten Teil in wesentlich umfangreicheren Untersuchungen den realen Erfolgsaussichten des Krieges gegen Napoleon, als die emphatischen Bekenntnisse, die immer wieder zitiert werden, vermuten lassen. Diese Gewichtung ist bei Clausewitz nicht zufällig, sondern bezeugt die immanente Begrenzung selbst der Entgrenzung durch die Instrumentalitäe 5 .

v. Drei Wechselwirkungen zum Ahsoluten und Äußersten Wie stellt sich nun das Verhältnis von Entgrenzung und Begrenzung zwischen dem frühen und späten Clausewitz im ersten Kapitel seines Werkes "Vom Kriege" dar, dem einzigen Kapitel, das Clausewitz als vollendet begriffen hat76 • In diesem 74 Zu Clausewitz Lebensweg und der Bedeutung seiner Anerkennung als Person vgl. Paret, Staat (Anm. 29) und Aron, Den Krieg denken (Anm. 8), vor allem bezüglich der Problematik seines Adelsnachweises, der Heirat mit Gräfin Brühl und seiner Karriereprobleme nach den Befreiungskriegen. Reinhard Stumpf mißt dieser Problematik wiederum eine zu große Bedeutung bei, wenn er Clausewitz' theoretische Leistung durch die Brille der permanenten Hinweise auf den Zwiespalt und die Bruchstellen in seinem Leben beurteilt; Reinhard Stumpf, Kriegstheorie und Kriegsgeschichte. Carl von Clausewitz. Helmuth von Moltke, 1993, passim. 75 Clausewitz, Schriften I (Anm. 40), 3. Bekenntnis, 708 ff. 76 Clausewitz, Vom Kriege (Anm. I), 10.

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zentralen Kapitel stehen die drei Wechselwirkungen zum Äußersten und Absoluten an prominentester Stelle für die Entgrenzung des Krieges bei Clausewitz. Im folgenden beziehe ich die drei Wechselwirkungen zum Äußersten aus Clausewitz' erstem Kapitel primär nicht auf den Begriff des Krieges, sondern versuche sie als reale Probleme und Entwicklungstendenzen im Krieg zu analysieren. Dieser Ansatzpunkt beinhaltet, daß die drei Tendenzen zum Äußersten und Absoluten des Krieges weder auf den begrifflichen Bereich begrenzt sind, noch daß der Begriff des Krieges auf diese drei reduziert wird77 • In der ersten der drei Wechselwirkungen argumentiert Clausewitz, es gebe in der Anwendung der Gewalt keine Grenzen, und so gebe ,jeder dem anderen das Gesetz,,78. Wie ist hier zu verstehen, daß es in der Anwendung der Gewalt keine Grenzen gebe? Im moralischen Sinne sicher nicht, weil Clausewitz das Für und Wider von Gewalt und Krieg im moralischen Sinne nicht thematisiert. Er argumentiert, daß derjenige, der sich der Gewalt rücksichtslos bediene, ein Übergewicht bekomme, wenn der Gegner nicht dasselbe tue. Dadurch gebe er dem anderen das Gesetz, und beide steigern sich in dieser Vorstellung bis zum Äußersten79 • Clausewitz rechtfertigt oder begründet also keineswegs eine abstrakte Grenzenlosigkeit der Gewalt, sondern thematisiert ihre Eskalation in der zunächst isolierten Betrachtung von "Sieg oder Niederlage". Genauer betrachtet ist diese Argumentation nicht ganz schlüssig. Warum soll aus dem bloßen Willen bzw. Ziel der beiden Gegner eine Eskalation, eine Steigerung zum Äußersten vermittels einer Entgrenzung der Gewalt erfolgen? Wenn beide Gegner dasselbe tun, begründet dies zumindest nicht unmittelbar, daß sie sich wechselseitig in der Anwendung von Gewalt überbieten. Eine Schlußfolgerung könnte auch sein, daß einer der beiden Gegner sein Ziel der Vernichtung des anderen aufgibt. Hieraus können wir ebenfalls eine Wechselwirkung ableiten, die dann jedoch nicht zur Eskalation, sondern im Gegenteil zur Deeskalation führen würde. In einer der drei Wechselwirkungen zum begrenzten Krieg 80 argumentiert Clausewitz, was jeder der beiden Gegner aus Schwäche unterlasse, werde für den anderen ein wahrer objektiver Grund der Ermäßigung, und so werde durch diese Wechselwirkung das Streben nach dem Äußersten auf ein bestimmtes Maß der Anstrengung zurückgeführt81 • Aus der Wechselwirkung als solcher kann eine Steigerung zum Äußersten somit nicht abgeleitet werden. 77 Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Begriff des Krieges von Clausewitz muß an anderer Stelle erfolgen. Hinweisen will ich nur auf die für diese Diskussion entscheidende und bisher immer übersehene Tatsache, daß Clausewitz auch die wunderliche Dreifaltigkeit zum Schluß des ersten Kapitels als Begriff des Krieges bezeichnet; Clausewitz, Vom Kriege (Anm. 1),37. 78 Ebd., 19. 79 Ebd., 18. 80 Von Clausewitz unter der Überschrift ,.Modifikationen in der Wirklichkeit" angeführt; Clausewitz, Vom Kriege (Anm. 1),23 - 25. 81 Ebd., 24.

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Was berechtigt Clausewitz überhaupt, davon zu sprechen, daß es in der Anwendung der Gewalt keine Grenzen gebe? Nun könnte man argumentieren, daß Clausewitz in der ersten seiner drei Wechselwirkungen zum Äußersten zwar die Grenzenlosigkeit der Gewalt thematisiert, aber unter dem Gesichtspunkt des Vernichtungsgedankens, des Ziels des kriegerischen Akts. Eine solche Interpretation könnte begründet werden durch die Polarität des Zweikampfes als ,,Nullsummenspiel": Was der eine der beiden Gegner gewinnt, verliert der andere. Die Eskalation würde sich dann primär nicht durch den Willen, den anderen zu vernichten, begründen, sondern durch den, nicht selbst vernichtet zu werden 82 • Eine solche Begründung liefert Clausewitz tatsächlich in der zweiten der drei Wechselwirkungen zum Äußersten. Solange der jeweilige Gegner nicht niedergeworfen sei, müsse jeder der beiden fürchten, selbst niedergeworfen, besiegt und vernichtet zu werden. Nur durch die Vernichtung des Gegners wird in dieser Perspektive die eigene Vernichtung verhindert. Die Furcht vor der eigenen Vernichtung, bevor der Gegner nicht besiegt ist, führt in der zweiten Wechselwirkung zum Äußersten, zu einer Eskalation ohne Grenzen83 • Begründet die Furcht vor der eigenen Vernichtung die Eskalation in der zweiten Wechselwirkung, ist sie als Begründung für die erste nicht mehr zu verwenden. Begründen ließe sich Clausewitz' Position, es gebe in der Anwendung der Gewalt keine Grenzen, aber mit der Annahme, daß Gewalt selbst entgrenzend ist. Clausewitz versteht zwar in der anfänglichen Definition sowie in der berühmten Formel vom Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, Gewalt im Krieg prinzipiell instrumentell. In der ersten der drei Wechsel wirkungen zum Äußersten reflektiert er jedoch immanent, daß Gewalt selbst entgrenzend ist. Aus der Verbindung der Polarität des Zweikampfes und dem Vernichtungsprinzip auf beiden Seiten mit der Entgrenzung durch Gewalt entsteht eine reale Tendenz im Krieg, der Steigerung bis zum Äußersten und der Grenzenlosigkeit der Gewalt. Die Entgrenzung durch Gewalt, das Überschreiten von persönlichen und gesellschaftlichen Grenzen durch die Anwendung von Gewalt, ist in vielerlei Zusammenhängen dokumentiert. Zumeist werden die negativen Folgen der Entgrenzung durch Gewalt für Individuen sowie soziale Gruppen beschrieben, wie jüngst in verstärktem Maße bei Kindersoldaten in Bürgerkriegen 84 • Kant hat diesen Aspekt der 82 Dies schließt nicht aus, daß "äußere Faktoren" wie politischer Zweck, Kultur, gesellschaftliche Antagonismen etc. ebenfalls eine Potenzierung der Anwendung von Gewalt verursachen können. Der Wille jedoch, den anderen zu "vernichten", ist bei Clausewitz gebunden an den politischen Zweck und unterliegt einer Zweck-Ziel-Mittel-Relation. Demgegenüber hebt Clausewitz in den drei Wechsel wirkungen gegenüber der unmittelbar zuvor und an den Willen gebundenen Definition des Krieges hervor, daß keiner der bei den Gegner mehr "Herr seiner selbst" ist; Clausewitz, Vom Kriege (Anm. 1),20. 83 Ebd. 84 Die Folgen von Krieg für Kinder als Opfer in Erleidung und Anwendung von Gewalt schildert ein jüngst erschienener UNO-Bericht: Graca Marcel, The Impact of Arrned Conflicts on Children, New York 1997.

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Entgrenzung durch Gewalt auf die prägnante Formel gebracht: "Der Krieg ist darin schlimm, daß er mehr böse Leute macht als er deren wegnimmt',85. Frantz Fanon hat gegenüber dieser "negativen Entgrenzung" die Gewalt positiv als Akt der Befreiung kolonialisierter Völker begriffen86 , Teile der französischen Revolutionäre als Mittel der moralischen Selbsterneuerung87 . Kommen wir nunmehr zur dritten der drei Wechsel wirkungen zum Äußersten des Krieges bei Clausewitz. In den ersten beiden sind die Entgrenzung durch Gewalt und die Furcht vor Niederlage, Vernichtung und Tod in Verbindung mit der Polarität des Zweikampfes die benennbaren Faktoren für die Tendenz zum Äußersten. In der dritten gibt es keinen auf den ersten Blick so eindeutigen Faktor88 , der die Steigerung zum Äußersten begründen könnte. Die scheinbare Abstraktheit der Steigerung zum Äußersten wird noch dadurch hervorgehoben, daß sie von Clausewitz mit der "bloßen Vorstellung" verbunden wird 89 . Anband des Wettrüstens der vergangenen Periode des "Kalten Krieges" läßt sich jedoch verdeutlichen, daß auch die dritte Wechselwirkung nicht nur auf die bloße Vorstellung begrenzt bleibt. Clausewitz thematisiert in ihr die Konsequenzen, die sich aus dem Vemichtungsprinzip und der Überbietung des Gegners an militärischen Mitteln mit Notwendigkeit ergeben, wenn beide Gegner "dasselbe" wollen. "Wollen wir den Gegner niederwerfen, so müssen wir unsere Anstrengung nach seiner Widerstandskraft abmessen". Unter der Voraussetzung einer Wahrscheinlichkeit für die Widerstandskraft des Gegners müßten wir unsere eigenen Anstrengungen entweder so groß machen, daß sie überwiegen oder zumindest so groß wie möglich sind. "Aber dasselbe tut der Gegner". Die Abstraktheit der kurzen Analyse von Clausewitz sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch in ihr eine reale Tendenz in einem Konflikt mit gewaltsamen Mitteln dargestellt wird. Die Abstraktheit der dritten Wechselwirkung können wir durch einen Vergleich mit Platons Kriegsursachenanalyse des Peleponnesischen Krieges konkreter werden lassen. In Platons Sicht führt jede auf äußere Machtentfaltung angelegte Politik strukturell zwangsläufig zu einem Krieg. Der Peleponnesische Krieg war Münkler, Gewalt und Ordnung (Anm. 14),56f. Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, Reinbek b. Hamburg 1969. 87 Münkler, Gewalt und Ordnung (Anm. 14), 107 u. 57; die Vorstellung einer Begrenzung der Gewalt ist nach Auffassung von Jan-Philipp Reemtsma im 20. Jahrhundert auf das gründlichste ruiniert worden - in Kriegen, zivilen Massakern und Terrorsystemen: ders., Die Skala des Scheußlichen ist nach unten offen, in: Frankfurter Rundschau vom 14.4. 97. Aron argumentiert, daß die Zeit der Revolution und der Napoleonischen Kriege nur ein müdes Abbild eines spektakulären Horrorstücks ist, vergleicht man sie mit dem 20. Jahrhundert; Aron, Erkenntnis und Verantwortung (Anm. 5), 417. 88 Die dritte der Wechselwirkungen zum Äußersten ist zudem diejenige, die bereits quantitativ einen wesentlich geringeren Stellenwert bei Clausewitz einnimmt; die erste wird in 68 Zeilen dargelegt, die zweite in 29, die dritte nur noch in 18; Clausewitz, Vom Kriege (Anm. 1),18-21. 89 Ebd.,21 85

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demzufolge das zwangsläufige Resultat einer vom Seehandel ausgehenden Dynamik in Athen, die die alten Bräuche und selbstgenügsamen Prinzipien aufbrach und eine prinzipiell endlose Dynamik materieller Begehrlichkeit in Gang setzte. Von diesem Zeitpunkt an lief alles auf einen Kampf zwischen Athen und Sparta um die Vorherrschaft in Griechenland zu. Entscheidend ist neben der Habsucht und Pleonexie für Platon der Kampf um die Macht zweier Gegner, die dazu führt, daß beide zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs überhaupt keine Entscheidungs- und Handlungsfreiheit mehr hatten. Clausewitz drückt diesen Gesichtspunkt in der zweiten Wechselwirkung so aus, daß keiner der beiden mehr Herr seiner selbst, also frei in seinen Entscheidungen ist90 • In den drei Wechselwirkungen zum Äußersten werden von Clausewitz reale Entwicklungstendenzen von Kriegen beschrieben. Auch wenn er argumentiert, daß diese drei Tendenzen auf den Begriff des Krieges zu beziehen sind, und er sie vom wirklichen Krieg unterscheidet, der durch äußere Faktoren begrenzt wird, ist seine spätere Argumentation im ersten Kapitel stichhaltiger. Diese stellt den drei Tendenzen zum Äußersten drei entgegengesetzte "moderierende Wechselwirkungen" (Münkler) zum begrenzten Krieg gegenüber. Der Entgrenzung durch Gewalt wird der Zusammenhang mit dem früheren Staatsleben gegenübergestellt. Der dritten Wechselwirkung aus der Verabsolutierung des Vernichtungsprinzips stellt Clausewitz entgegen, daß die Vernichtung des Gegners einem politischen Zweck untergeordnet bleibt, der "durch den Kalkül" auf die Kriegführung zurückwirkt91 . Besonders plastisch wird die Entgegensetzung von moderierenden Tendenzen gegenüber den eskalierenden jedoch in der zweiten der drei Wechsel wirkungen. In der zweiten Wechselwirkung zum Äußersten hatte Clausewitz die Furcht vor der eigenen Vernichtung als wesentlichstes Motiv für die Eskalation benannt. Wenn nur die Vernichtung des Gegners die Gewähr dafür bietet, nicht selbst vernichtet zu werden, ist in dieser Logik eine grenzenlose Spirale der Gewalt unausweichlich. In der zweiten moderierenden Wechselwirkung relativiert Clausewitz jedoch die Logik zur Eskalation, indem er argumentiert, daß diese nur gelte, wenn der Krieg aus einer einzigen oder einer Reihe gleichzeitiger Entscheidungen bestehen würde. Der Natur des Krieges sei aber eine vollkommene Vereinigung der Kräfte "in der Zeit" (gemeint ist zur "gleichen" Zeit) entgegen. Die Möglichkeit einer späteren Entscheidung bedinge, daß "der menschliche Geist ( ... ) in seiner Scheu vor allzugroßen Anstrengungen" und "aus Schwäche" nicht eine einzige Entscheidung anstreben würde92 • 90 Ebd., 20; Münkler, Gewalt und Ordnung (Anm. 14), 83f. Eine ähnliche Verbindung können wir zwischen der zweiten Wechselwirkung zum Äußersten bei Clausewitz und der Kriegsursachenanalyse von Thukydides ziehen - bei Clausewitz setzt die Furcht davor, besiegt zu werden, bei Thukydides die Furcht vor Machtverlust die politisch-militärische Eskalation in Gang; Münkler, Gewalt und Ordnung (Anm. 14),82. 91 Clausewitz, Vom Kriege (Anm. 1), 22 - 24. 92 Ebd.

Die Entgrenzung des Krieges bei Clausewitz

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Diese "Schwäche" des menschlichen Geistes schildert Clausewitz im - der Systematik des Textes nach späteren, zeitlich jedoch sehr viel früheren - Abschnitt über den Gebrauch der Hauptschlacht so: "Aber noch mehr erbebt der Geist des Menschen vor dem Gedanken der mit einem einzigen Schlag gegebenen Entscheidung. In einen Punkt des Raumes und der Zeit ist hier alles Handeln zusammengedrängt". Regierungen und Feldherrn zu allen Zeiten hätten stets Wege um die entscheidende Schlacht herum gesucht. Aus der zeitlichen Dauer des Krieges und dem Risiko, mit einer einzigen Schlacht den ganzen Krieg zu verlieren, resultiert eine "Ökonomisierung" des Krieges 93 . Es ist die "Furcht inmitten der Furchtlosigkeit", der Überlebenstrieb, aus denen sich alles Zaudern, Zögern und kalkulierendes Abwägen im Krieg ableiten läßt, und damit die Tendenz zum begrenzten Krieg, wie sie in der zweiten moderierenden Wechselwirkung beschrieben wird94 . Dieselbe Furcht vor der eigenen Vernichtung hat in Clausewitz' Wechselwirkung zum Äußersten einerseits und der moderierenden Wechselwirkung andererseits somit ganz entgegengesetzte Konsequenzen: Im ersten Fall führt sie zur Logik der Eskalation, im zweiten ist sie einer der Gründe für die Begrenzung des Krieges. Somit gibt es nicht nur gegensätzliche Interpretationen des Clausewitzschen Werkes wie die von Aron und Keegan. Auch Clausewitz selbst artikulierte die Gegensätze von entgrenztem und begrenztem Krieg nicht nur in unterschiedlichen Entwicklungsstufen seines Denkens. Die Gegensätze zwischen den drei Wechselwirkungen zum Absoluten und Äußersten und den drei moderierenden Wechselwirkungen können auch nicht allein durch den Gegensatz von Begriff und Wirklichkeit erklärt werden. Auf dieser Erklärungsebene würde ihre Gegensätzlichkeit lediglich auf die Aporie verschoben, daß Politik bei Clausewitz über den tendenziell absoluten wie relativen Charakter des Krieges entscheidet und ihr gleichzeitig ein prinzipiell ermäßigender Einfluß auf den Krieg zugeschrieben wird95 • Vielmehr sind die Gegensätze von Entgrenzung und Begrenzung konstitutiv für Clausewitz' Bestimmung des Krieges im ersten Kapitel. ,,Eskalation und Mäßigung der Gewalt" (Münkler) können in der Clausewitzschen Theorie als die beiden opponierenden Prinzipien des Krieges angesehen werden. Clausewitz hat demzufolge weder doktrinär auf die Eskalation noch auf die Mäßigung gesetzt, sondern beide Prinzipien als entgegengesetzte Kräfte gedacht, aus deren jeweiligem Verhältnis zueinander er eine Typologie der Kriege entwarf, die bei der "bewaffneten Beobachtung" begann und beim "Niederwerfungskrieg" endete96 . Führen wir diesen Gedanken weiter, so sind die in der Clausewitzschen Theorie des Krieges festzustellenden Gegensätze durch den Gegenstand dieser Theorie, 93

Ebd., 242.

Maengel, Kleist, Krieg, Clausewitz (Anm. 54), 81. 95 Das Spannungsfeld zwischen der grundlegenden Begrenzung des Krieges durch Politik und der Annahme, daß über den tendenziell absoluten wie begrenzten Charakter des Krieges eben die Politik entscheidet, tritt in der Interpretation Clausewitz' durch Aron besonders deutlich hervor. 96 Münkler, Gewalt und Ordnung (Anm. 14),60. 94

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den Krieg selbst, begründet. Die "gleiche" Furcht vor der Vernichtung in einer einzigen Entscheidung hat bei Clausewitz auf der einen Seite eine "ökonomisierende" Funktion, auf der anderen Seite führt sie jedoch zur Entgrenzung der Gewalt. Es ist also die gleiche Furcht, die ganz entgegengesetzte Wirkungen haben kann. Ebenso ist die Gewalt in seiner Konzeption entgrenzend, wird jedoch zugleich instrumentell und damit tendenziell begrenzend bestimmt. Die Instrumentalität selbst des entgrenzten wie des existentiellen Krieges verweist ebenso wie die anderen Gegensätze darauf, daß es sich bei ihnen nicht nur um unterschiedliche Kriegsarten, um eine "doppelte Art des Krieges,,97 handelt, sondern um widerstreitende Gegensätze innerhalb eines jeden Krieges. Je nach politisch-gesellschaftlicher bzw. kultureller Bedingtheit kann diese Gegensätzlichkeit besonders hervortreten oder scheinbar dann verschwinden, wenn einer der beiden Pole den anderen nahezu vollständig dominiert. Die Instrumentalisierung der Entgrenzung des Krieges und die Begrenzung des Kampfes auf Leben und Tod durch die Anerkennung als politisches Subjekt zeigen darüber hinaus, daß die Begrenzung des Krieges in der Clausewitzschen Theorie nicht nur von "äußeren" Faktoren bestimmt ist. Fassen wir zusammen, thematisiert Clausewitz die Konsequenzen, die sich aus den Erfahrungen der Kriege Napoleons und der französischen Revolutionsarmeen zunächst auf militärtheoretischem Gebiet ergeben. Stand anfangs die Vorbildfunktion der französischen Erfolge und der Kriegführung Napoleons im Vordergrund, wurden diese zwangsläufig durch deren abschließende Niederlagen relativiert. Fast noch entscheidender war für Clausewitz, daß sich am Kampf um Anerkennung der französischen Revolutionäre und der gewaltsamen politisch-gesellschaftlichen Umgestaltung Europas durch Napoleon Gegenbewegungen entzündeten, die die hierdurch eingeleitete Entgrenzung der Gewalt überboten. Clausewitz selbst instrumentalisierte die Entgrenzung der Gewalt, indem er sie nicht mit der Anerkennung von tradierten oder zu erreichenden gesellschaftlichen Verkehrsformen verknüpfte, sondern mit dem abstrakten militärischen Erfolg. Die am reinen Erfolg orientierte Instrumentalisierung der Entgrenzung der Gewalt reflektiert die "machbare Maßlosigkeit" (Münkler) als einen Teil der Modeme. Dieses Überbieten der Entgrenzung der Gewalt findet jedoch zugleich seine Grenze - derselbe angestrebte militärische Erfolg, der verabsolutiert zur Entgrenzung des Krieges führt, begrenzt noch die Entgrenzung im Rahmen einer Zweck-Ziel-Mittel-Relation. Genauso wie die Furcht entgegengesetzte Wirkungen haben kann, hat auch der vor allem vom frühen Clausewitz verfochtene Primat des militärischen Erfolgs entgrenzende wie begrenzende Konsequenzen. Clausewitz thematisierte jedoch nicht nur die militärtheoretischen Konsequenzen aus den französischen Erfolgen. Er verstand sich selbst als Teil der Gegenbewegungen, die sich an der Französischen Revolution entzündeten. Im Unterschied vor allem zu den Widerstandsbewegungen der Bauern in der Vendee und in 97 Die doppelte Art des Krieges als eine der Leitideen zur Überarbeitung seines Werkes betonte Clausewitz in der "Nachricht" von 1827; Clausewitz, Vom Kriege (Anm. 1),8.

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Spanien ging es ihm in diesem Kampf jedoch nicht um eine Anerkennung der tradierten sozialen Verkehrsformen und Lebensweisen, sondern um die Anerkennung als politisches Subjekt. Wie zitiert, wollte er dem Frieden auf immer entsagen, wenn er nicht als freier und geehrter Bürger eines freien und geehrten Staates leben könne. Durch den Kampf um ihre eigene Anerkennung verletzte die Französische Revolution tradierte soziale oder sich im Wandel befindende politische Anerkennungsformen. Der Kampf um die Restituierung oder Neubegründung der verletzten Anerkennungsformen führte auf Seite der Gegenbewegungen zu einem Überbieten der Gewalt, die erfolgte Anerkennung zu ihrer Begrenzung. In der ersten der drei Wechselwirkungen zum Äußersten formuliert Clausewitz aus seiner Sicht den entscheidenden Gegensatz: Er argumentiert einerseits, daß die Kriege "gebildeter Völker" viel weniger grausam und zerstörend seien als die der "ungebildeten" und erläutert dies mit dem unterschiedlichen gesellschaftlichen Zustand98 . Andererseits sei die in dem Begriff des Krieges liegende Tendenz zur Vernichtung des Gegners auch faktisch durch die zunehmende Bildung keineswegs gestört oder abgelenkt worden. Ganz im Gegenteil gebe die "Intelligenz" den "gebildeten" Völkern "wirksamere Mittel zur Anwendung der Gewalt" als die ,,rohen Äußerungen des Instinkts,,99. Hieraus läßt sich die Zuordnung von einem größeren Maß an Gewalt zu vorbürgerlichen Gesellschaftsformen, dem Kampf auf Leben und Tod im Naturzustand (Hegel und Hobbes), jedoch genauso die Steigerung der Wirksamkeit von Gewalt durch die Entwicklung von Technik und Wissenschaft wie durch Politik und Gesellschaft ableiten. Clausewitz formuliert damit den entscheidenden Widerspruch, den "ein und dieselbe" Entwicklung von bürgerlichen, rationalen und interessengeleiteten gesellschaftlichen Verhältnissen und Denkformen produzierte: die Begrenzung der Gewalt gegenüber vorbürgerlichen Verhältnissen in Opposition zu ihrer Entgrenzung durch eben dieselben Entwicklungen J()().

Ebd.,18. Ebd., 19. 100 Literaturbericht von Lutz Schrader; Gewalt und Politik, in: Welttrends Nr. 9, Berlin 1995, 134 - 145; den entgrenzenden Aspekt der Moderne betont vor allem Keegan, Kultur des Krieges (Anm. 3); zum Verhältnis von Moderne und Gewalt vgl. auch Hans Joas, Die Modernität des Krieges, in: Leviathan 24 (1996), 13 - 27, sowie die Diskussion im Sammelband Modernität und Barbarei, hrsg. v. Max Miller und Hans Georg Soeffner; Frankfurt a.M. 1996. 98

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Rühle von Lilienstern und seine Apologie des Krieges Von Jean-Jacques Langendorf, Droß

Die Vielschichtigkeit Rühles, sowohl was seinen Charakter als auch sein Werk angeht: spiegelt sich im Urteil seiner Zeitgenossen. Seiner Person wie seinen Schriften war es gewissermaßen gegeben, die Geister zu scheiden, was bedeutet, daß er niemanden gleichgültig ließ - ein Beweis für Charakter. Er kannte große Freundschaften, etwa die mit Kleist, über die schon soviel geschrieben worden ist, oder mit Ernst von Pfuel l . Er rief aufrichtige Zuneigung hervor: "Ich liebe Rühle sehr", schrieb Rahel am 12. Juni 1811 an Alexander von der Marwitz. "Er hat etwas Dürftiges, aber er ist ein liebenswürdiger Mensch von der offensten, jugendlichsten Freundlichkeit, einer so milden, anspruchslosen und doch nicht schwachen Persönlichkeit, wie ich kaum einen anderen kenne,,2. Und Varnhagen, der viele Jahre früher, 1793 - 1794, sein Mitschüler an der Kadettenschule gewesen war, würdigte ihn folgendermaßen, als er 1847 von seinem Tod erfuhr: ,,Er war ein reiner, edler Melisch ohne Vorurtheil, ohne Haß, von klarem Verstand, und sicherem Einsehen, reichem vielartigen Wissen, anspruchslos mittheilsam; ein gütiges, empfängliches Herz hielt dem forschenden Geist das Gleichgewicht,,3. Bei vielen anderen, von Goethe bis Radetzky, über die eminentesten Vertreter der Romantik, finden sich lobende Äußerungen, sowohl über den Menschen wie über dessen geistige Fähigkeiten. Und sein Verhältnis zu Kleist, zu Adam Müller, zu Varnhagen oder auch Caspar David Friedrich zeigt ihn als einen großzügigen und treuen Freund. Doch es gab auch andere. Jene, die ihm zunächst Wohlwollen entgegenbrachten, das aber dann in unversöhnlichen Haß umschlug, der in ihm nur noch den unverbesserlichen Pedanten sehen wollte. Friedrich von Gentz zum Beispiel wünschte ihn zum Teufel nach einer kurzen Phase lauer Freundschaft. Im Grunde verkörperte Rühle für ihn alles, was man nicht sein sollte. So schrieb er ihm im Oktober 1 1779 - 1866. Der zukünftige Gouverneur von Neuchätel, General der Infanterie und Minister war ebenfalls in seiner Jugend mit Kleist befreundet. Nach der Niederlage von 1806 diente er in der österreichischen Armee, dann (wie Clausewitz) in der russischen. Als einer der besten Athleten seiner Zeit gründete er die erste preußische Militär-Schwimmanstalt. Wie Rühle war er auch wissenschaftlich und künstlerisch tätig. 2 Friedersdorf, 12. Juni 1811, in: Rahel und Alexander von der Marwitz in ihrem Briefwechsel ( ... ), hrsg. v. Heinrich Meisner; Gotha 1925, Nr. 23, 80. 3 Berlin, 9. Juli 1847, in: Aus dem Nachlaß Varnhagens von Ense, Tagebücher, Bd. 4, hrsg. v. Friedrich von Gentz, Leipzig 1861, 115 f.

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1808: "Ein eigentliches Zusammenkommen zwischen uns halte ich überdies für unmöglich. Ihr Studium hat mit dem meinen blos den Namen gemein; sonst, glaube ich, ist alles an uns verschieden, die Maximen, die Richtung, der Zweck, die Manier, etc. Selbst der Ursprung trennt uns schon gänzlich,,4. Sein Schüler, Prinz Bernhard von Sachsen-Weimar, Sohn des Herzogs earl August, erinnerte sich noch jahrelang mit Abscheu an seinen Erzieher. Auch Jomini, mit dem er sich 1807 anfreundete, der ihm als Sieger einige Dienste erwies und dessen Studie L' art de la Guerre er 1808 in der ersten Nummer seiner Zeitschrift Pallas abdruckte, wurde zu einem erbitterten Feind. Er bezog öffentlich Stellung gegen ihn und veröffentlichte 1832 in Paris sogar eine Streitschrift mit dem Titel: PoIemique strategique entre les generaux Jomini et Rühle von Lilienstern5 , eine Replik auf eine Rezension des letzteren6 . Diese "doppelte" Persönlichkeit Rühles war schon manchen Zeitgenossen aufgefallen. "Voriges Jahr", schrieb Legationsrat Blümner 1808, ,,habe ich Rühle gesehen, niedergedrückt von den Niederlagen und der Unehre der preußischen Waffen, sehr bescheiden, in demütiger Haltung, nur über Dinge redend, die ihm bekannt waren ( ... ), einen sehr vorteilhaften Eindruck hervorrufend. Heute sah ich ihn wieder in seiner Eigenschaft als Begleiter des Prinzen Bernhard von Weimar, bekleidet mit dem Titel Major und dem Kammerherrschlüssel, gut angezogen, groß und fett, viel sprechend und mit Sicherheit über Dinge, von denen er nichts wußte, und sich als Persönlichkeit gebärdend"? Eichendorff schrieb unter dem 24. November 1811 in sein Tagebuch: "Da kommt Baron Buhle und der weymarische Oberst Brühl (sie), der anfangs ganz renomistisch kein Einheitzen vertragen kann, dann angenehm stotternd viel über die gotische Baukunst spricht"s. Kleist seinerseits, der meinte, "Rühle verstand mich am besten,,9, bewies, daB er umgekehrt die Psyche seines Freundes sehr wohl erfaBte, wenn er im Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zuJinden ( ... ) schrieb, er sei "von irgendeinem Geiste der Sonderbarkeit und des Widerspruchs getrieben"lO. 4 Prag, 14. Oktober 1808, in: Schriften von Friedrich von Gentz. Ein Denkmal, hrsg. v. Gustav Schlesier, 5 Bde., Mannheim 1838 - 1840, hier Bd. 1, 328. 5 Vgl. Patrick Darasse, Le general Jomini (1779-1869), de l'homme a l'oeuvre, these de 3e cycle d'etudes politiques (masch.), Paris [1984], 182. 6 [Rühle von Lilienstern}, Neueste Beiträge des Generals Baron Jomini zur höhern Kriegskunst, in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik (März 1832),44 - 47. 7 Ludwig Bäte, Zwischen Klassik und Romantik. Aus unveröffentlichten Briefen und Tagebüchern eines deutschen Geschlechts, in: Kölnische Zeitung, 12. April 1937. 8 Wien, 24. November 1811, in: Joseph von Eichendorff, Tagebücher (Sämtliche Werke, 11), hrsg. v. Wilhelm Kosch und August Sauer; Regensburg 1908,301. 9 An Wilhelmine von Zenge, Berlin, 22. März 1801, in: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Helmut Sembdner, 2 Bde., München 1961, hier Bd. 2, Nr. 37, 634f. 10 Heinrich von Kleist, Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört - auch unter den größten Drangsalen des Lebens - ihn zu genießen, in: ders., Sämtliche Werke (Anm. 9), II, 311. Der Aufsatz, um den März 1799 verfaßt, ist Rühle gewidmet.

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Diese Widersprüchlichkeit des Charakters rief auch widersprüchliche Reaktionen in seiner Umgebung hervor. Der berühmt-berüchtigte Oberst Massenbach hatte Rühle am Anfang seiner militärischen Laufbahn unter die Fittiche genommen und ihn 1804 in den Generalstab gebracht. Sein Schützling, der ein langes Gedächtnis hatte, sowohl was Dankbarkeit als auch was Feindseligkeit anging, verteidigte den Besiegten nach der Schlacht bei Jena-Auerstaedt in seinem Bericht eines Augenzeugen über den Feldzug von 1806, den er im folgenden Jahr veröffentlichte, was nicht nur nobel, sondern auch mutig war. ,,Ein edler junger Mann!", rief der gewesene Oberst bei der Lektüre des Buches aus l1 . Scharnhorst sah das anders; er schrieb am 27. November 1807 aus Memel an Clausewitz: "Die Schrift von Rühle ist noch elender als die Elendigkeiten, welche er beschreibt, sie ist übrigens parteiisch und auf einer niedrigen Stufe der militärischen Kultur,,12. Zur selben Zeit äußerte sich Jomini, der auf Seiten der Sieger den Krieg mitgemacht hatte, sehr anerkennend über diese Arbeit 13. Und in diesem Fall hatte Jomini und nicht Scharnhorst recht, denn der Bericht ist ein eindrucksvolles Zeugnis. Sechs Jahre danach war es übrigens derselbe Scharnhorst, der Rühle bat, sein Handbuch für den Offizier zu überarbeiten. Die Beziehungen zu Schelling, um noch ein Beispiel zu nennen, sollten später ebenfalls inkonsequent sein. Rühle fühlte sich dem Philosophen geistig verwandt, der seinem Frontalangriff auf Hegel (dieser fand die Schrift übrigens "verachtungswürdig") in Sein, Werden und Nichts (1833) vollkommen zustimmte. Doch nach einigen Jahren distanzierte sich Rühle endgültig von Schelling, der "als Philosoph völlig Bankrott gemacht hat", wie er erklärte 14• Die physische Erscheinung trug zu dieser Zweideutigkeit bei. Groß und hager - und im Gegensatz zu seinem Freund Pfuel verabscheute er körperliche Ertüchtigung - war er von schwacher Gesundheit. Er verwendete äußerste Sorgfalt auf ein gepflegtes Äußeres und auf seine Kleidung. ,,Ein selbstgefälliger Höfling", sagte ein Kunsthistoriker von seinem Porträt, das Gerhard Kügelgen um 1809 malte 15 . Wie konnte dieser Mann ein furchteinflößender Krieger sein? Wie konnten diese zarten Hände eine Apologie des Krieges schreiben? Nach dem Gefecht bei Wartenburg, im Oktober 1813, wurde Rühle in diplomatischer Mission zu Bernadotte gesandt, um diesen zu bewegen, die Schlesische Armee Blüchers zu unterstützen. Einer plötzlichen Eingebung folgend und sein Mandat überschreitend, teilte er dem Kronprinzen von Schweden mit, daß Blücher auf keinen Fall mehr über die EIbe zurückgehe, sondern zur Saale marschiere, um sich mit der Haupt11 Erklärung des Obersten v. Massenbach über das Buch: Galerie Preußischer Charaktere, Frankfurt a.M./Leipzig 1808,8. 12 Memel, 27. November 1807, in: Schamhorst, der Schöpfer der Volksbewaffnung. Schriften von und über Schamhorst, Berlin (Ost) 1953, 155. 13 Jornini an Rühle, Glogau, 29. Mai 1808, in: Aus den Papieren der Familie von SchIeinitz. Mit einer Vorbemerkung von Fedor von Zobeltitz, Berlin 1905,59. 14 Berlin, 18. November 1841, in: Vamhagen, Tagebücher (Anm. 3), I, 370f. 15 Constantin von Kügelgen, Gerhard von Kügelgen als Porträt- und Historienmaler, Leipzig 1901,96.

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armee zu VereInIgen. "Und was soll aus Berlin werden?", fragte [Bernadotte] zuletzt. "Ist Moskau abgebrannt, kann man wohl auch Berlin preisgeben", antwortete [Rühle],,16. Diesen Ausspruch bezweifelte Friedrich Förster, der in seiner Geschichte der Befreiungskriege Rühle vor allem als den "feinen Einfadler" sah. "Dergleichen Worte sind zuverlässig niemals über die fast jungfräulich schüchternen Lippen Rühles gekommen, dessen Wesen und Weise zu sprechen - ein wenig stotterte er - ebenso weit von Sparta als von Moskau entfernt waren,,17. Seine künstlerischen Neigungen wie seine Schriften mochten das Bild noch mehr verwirren, das sich die Zeitgenossen von ihm machten. Als virtuoser Fagottspieler ließ er sich in seiner Jugend hören. Er war ein hervorragender Zeichner und Maler, in der Manier Caspar David Friedrichs, mit weniger Talent. Er betätigte sich als Übersetzer, auch hier halb militärisch, halb ästhetisch, denn er nahm Carnot und Racine in Angriff. Vor allem aber schrieb er unerntüdlich, auf militärischem Gebiet einerseits, von den zaghaften Anfangen 1803 mit einem Referat vor der "Militärischen Gesellschaft zu Berlin" über ein Schultherna: "Über das Ziehen mit Pelotons,,18, bis hin zu den großangelegten Konstruktionen wie dem Handbuch für den Ojfizier l9 oder den Aufsätzen ( ... ) aus dem Gebiete des Kriegswesens 18182 Auf der anderen Seite steht das Werk des Historikers, Geographen, Astronomen, Geologen, Hydrographen, Archäologen, Orientalisten und Mathematikers, mit Abschweifungen in die Botanik oder die Muschelkunde. Daneben war er ein leidenschaftlicher Sammler von Mosaiken, Münzen und Autographen. Er interessierte sich nicht nur für alle technischen Entwicklungen, von der Lithographie bis zum Eisenbahnwesen, sondern auch für die Tagespolitik, wie seine Studien zur Orientierung über die Angelegenheit der Presse (1820) beweisen 21 , in denen er auf das Problem der Zensur einging. Für seine Zeitschrift Pallas 22 , aber auch für andere, verfaßte er Rezensionen und Essays. Sein militärisches Werk war jedoch im wesentlichen 1818 abgeschlossen. Nicht nur, weil immer größere Aufgaben (Direktor der Allgemeinen Kriegsschule, Generalinspecteur des Militär-Erziehungsund Bildungswesens, Begründer und Leiter des Militär-Wochenblatts) sowie vielfaltige andere Interessen ihn von Bellona ablenkten, sondern auch, weil er das

°.

Beiheft zum Militair-Wochenblatt (1845),341. Friedrich Förster; Geschichte der Befreiungskriege ( ... ),3 Bde., Berlin 1856- 61, hier Bd. 2, 64. 18 Gedr. in: Denkwürdigkeiten der militärischen Gesellschaft in Berlin, Bd. 2, Berlin 1803,109-114. 19 Handbuch für den Offizier zur Belehrung im Frieden und zum Gebrauch im Felde, hrsg. v. Rühle von Lilienstern, 2 Abt., Berlin 1817/18. 20 Aufsätze über Gegenstände und Ereignisse aus dem Gebiete des Kriegswesens, hrsg. v. Rühle von Lilienstern, Bd. I, Berlin 1818. Obwohl gesetzt, ist der zweite Band nie erschienen. 21 Hrsg. v. Rühle von Lilienstern, 2 Tle., Hamburg 1820. 22 Eine Zeitschrift für Staats- und Kriegs-Kunst, hrsg. v. Rühle von Lilienstern, Tübingen 1808 - 1810. 16 17

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Gefühl hatte, auf diesem Gebiet das Wesentliche gesagt zu haben. Was war nun dieses Wesentliche? 1. Die Unmöglichkeit einer "apriorischen" Kriegswissenschaft. "Das Dasein theoretischer Grundsätze, d. h. solcher unwandelbaren, bestimmt ausgesprochenen Sätze, daß sie bei der Anwendung keiner durch die Umstände vorgeschriebenen Modifikation und Änderung fahig noch bedürftig wären, leugnen wir geradehin ab,,23. "Die Theorie hat genauso wenig ein ,absolutes Gewicht' wie eine Unze Gold in der Waagschale, deren Gewicht sich zwischen den Polen ändert und deren Fallgeschwindigkeit im Vakuum dasselbe ist wie die einer Feder. Die Theorie kann nur ein momentanes Gewicht besitzen, das sich aus der Handlung ergibt, die sie hervorgebracht hat,,24.

2. Der Krieg ist der Domäne der Kunst zuzuordnen. "Eben weil der Krieg ein Kunstwerk ist und die Kriegführung eine Kunst, vermögen nur Künstler, das heißt solche die Palme zu erringen, die sich in dem Gebiete ihres Wirkens mit Anmut und Freiheit bewegen,,25. Es kann daher keine Theorie, die auf der Wissenschaft beruht, geben ohne Praxis, die dem Gebiet der Kunst oder, auf niedrigerer Ebene, des Handwerks angehört. Man kann den Krieg also nicht aus Büchern lernen, wie beispielsweise die Mechanik. Andererseits ist die Kriegserfahrung allein, der kurze Augenblick des Handeins, natürlich nicht hinreichend, um sich Wissen anzueignen. Schon die Notwendigkeit einer "Kriegskunst in Friedenszeit" legitimiert die Theorie. Doch diese Kenntnisse müssen ständig im Hinblick auf die in der Praxis verfolgten Ziele relativiert werden. ,,Das praktische Bedürfnis ist dabei jederzeit der richtige Wegweiser,,26. 3. Krieg und Politik sind wesensmäßig eng verflochten. Es kann keinen ,,reinen" Krieg geben, der nichts als ein Ablauf militärischer Operationen wäre. "Es gibt aus dem hohen Gesichtspunkte wahrer Staatskunst auch keine streng geschiedene Kriegs- und Friedenskunst, sondern beide laufen aufs innigste verschränkt und unaufhörlich eine in das Gebiet der anderen übergreifend durch alle Zweige der Staatskunst nebeneinander her,m. Anders gesagt, wie in einem System kommunizierender Röhren "durchtränkt" der Krieg die Politik und umgekehrt. 4. Der Defensive den Vorrang vor der Offensive (oder umgekehrt) einräumen zu wollen, hieße gleichermaßen in theoretischen Dogmatismus zu verfallen. Im übrigen wäre es absurd, die Vorstellung vom gerechten Krieg mit der Defensive und vom "ungerechten" mit der Offensive zu verbinden, gibt es doch auch völlig ungerechte Defensivkriege. Und wer dürfte den Anspruch erheben, in diesem höchst fließenden Bereich gerecht oder ungerecht zu definieren? 23 Rühle von Lilienstern, Antikritik, in: Bericht eines Augenzeugen, 2. Ausg., Tübingen 1809,201. 24 Ebd., 204. 25 Ebd.,199f. 26 Rühle von Lilienstern, Aufsätze (Anm. 20), 77. 27 Ebd., 180.

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5. Ziel eines Krieges (aus der Sicht der Kriegskunst) muß es sein, ein "überwiegendes Maß an Gewalt" zu entfalten, um den Gegner niederzuwerfen. "Der Sieg hängt demnach nicht davon ab, wie groß oder wie klein die Macht der einen Partei an und für sich ist, sondern davon, in welchem Verhältnis sie zur Kraft des Gegners steht,,28. 6. Eine mechanisch-deterministische Berechnung des Kräfteverhältnisses ist unmöglich, denn auch der scheinbar Schwächere hat Chancen: "Ist die Übermacht auf Seiten des Feindes, so sollen wir uns erinnern, daß die geistigen und moralischen Kräfte einerseits, die dämonischen Potenzen andererseits [Clausewitz' Friktionen] keiner festen Berechnungen faltig sind, daß daher die Verhältnisse und die daraus resultierenden Kraftmomente im Laufe der Zeit veränderlich sind, daß es demnach nie auf ein Haben der Übermacht ankommt, sondern vielmehr auf ein Gewinnen der Übermacht,,29. 7. Eine Armee ist so viel wert wie der Staat, den sie verteidigen soll. "Das Heer reorganisieren heißt demnach den Staat reorganisieren; und umgekehrt ist keine Reorganisation des Staates möglich ohne eine ihr entsprechende Umwandlung der Kriegsverfassung,,30. Es darf keinesfalls zu einem Bruch zwischen Bürgern und Armee kommen, und das beste Mittel, dies zu vermeiden, ist "die Militarisierung der Nation und die Nationalisierung der Armee". Alle Einwohner müssen zur Verteidigung des Landes beitragen, die Armee hat als pädagogischer Schmelztiegel für die Jugend zu fungieren und damit zum wesentlichen Erziehungsmittel der Nation zu werden. 8. Die stehenden Heere, die kostspielig sind, wenn man sie bei angemessener Stärke halten will, und die stets zum Staat im Staat entarten, müssen abgeschafft werden in der Form, die sie Ende des 18. Jahrhunderts besaßen. Sie sind weitmöglichst zu reduzieren (müssen aber beispielweise noch in der Lage sein, einen Überraschungsangriff abzublocken) und durch eine nationale Streitmacht aus den lebendigen Kräften des Volkes zu ergänzen. In Rühles halb militärischem, halb wissenschaftlichem und ästhetischem Werk nehmen zwei Bücher eine Sonderstellung ein, sie sind nicht einzuordnen, geradezu zwitterhaft, und als sicherlich persönlichste Schriften Rühles bis zu einem gewissen Grade bezeichnend für die Widersprüche seines Geistes. Da sind zunächst die Hieroglyphen 31 von 1808 (deren Titel allein schon aufschlußreich ist), in denen Gentz "ein rasendes Ding" erblickte und die Goethe und einige andere verwirrten. In der Tat vermittelt das Buch einen kuriosen Eindruck. Stellt es eine philosophiEbd., 270. Ebd., 270 f. 30 Vom Kriege. Ein Fragment aus einer Reihe von Vorlesungen über die Theorie der Kriegskunst von Rühle von Lilienstem. Frankfurt a.M. 1814, 103. 31 Hieroglyphen oder Blicke aus dem Gebiete der Wissenschaft in die Geschichte des Tages ( ... ), 1. Aufl., Dresden / Leipzig 1808. 28 29

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sche "Rumpelkammer" dar? Ein "totales Kunstwerk", wie es manche Romantiker erträumten? Oder ein subtiles Nebeneinander von Kartographie, Mathematik, Geschichte und Tagespolitik? Zweifellos ist die Kartographie der Bezugspunkt. In Anlehnung an die Arbeiten des preußischen Ingenieurmajors Müller unternimmt Rühle eine Art Totalprojektion Europas, deren Zentrum nicht mehr der Nordpol ist, sondern Berlin. Doch was die Sache kompliziert macht, ist der Versuch des Autors, ein Projektionssystem zu entwerfen, das Raum und Zeit verbindet, gleichzeitig Terrain und Geschichte erfaßt. Doch davon abgesehen sprudelt das Buch über von Ideen, Vorschlägen, Polemiken, Widerlegungen, von der Rolle der Mathematik als Universalsprache bis zur Bedeutung der Militärpädagogik, von den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Europa und Indien, England und dem Kontinent bis hin zu der Beziehung zwischen Krieg und Frieden. Hier finden sich mit den Bemerkungen zu Kant bereits Elemente der späteren Apologie. Das andere hybride Werk, das schon den Grundtenor der Apologie andeutet, ist die dreibändige Reise mit der Annee im Jahre 1809 (erschienen 1810)32, vielleicht das militärische Buch dieser Zeit schlechthin (neben dem später veröffentlichten von Alexandre de Laborde über denselben Feldzug) 33 , das Krieg und Ästhetik am vollkommensten zu einer romantischen Einheit verschmelzen läßt. Rühle begleitete seinen ungeliebten Schüler, den Prinzen von Sachsen-Weimar, der als Hauptmann im sächsischen Kontingent diente, in den Feldzug der Franzosen gegen die Österreicher. Ein weiterer Zwiespalt in seinem Leben, denn er stand unter Bernadotte auf französischer Seite, während seine besten Freunde Adam Müller und Ernst von Pfuel sich unter dem Banner der Habsburger verpflichtet hatten, was er auch von Kleist vermutete. "Der Maler wird Soldat". Diese Fiktion in Form von Briefen an eine imaginäre Schwester (in Wirklichkeit an seine Frau) erlaubte Rühle, virtuos die Register zu wechseln. Das Buch beginnt mit einer Beschreibung von Caspar David Friedrichs Kreuz im Gebirge, dann wechseln ästhetische Betrachtungen mit militärischen ab, die in der Schilderung der Schlacht bei Wagram gipfeln, an der er in vorderster Reihe teilnahm und in der er Kriegskunst und Ästhetik vereinigt sah34 . Die Apologie dagegen nimmt keine Sonderstellung im Werk Rühles ein, sie ist nicht einmal eine Wunderlichkeit wie die Hieroglyphen. Sie wurde auch nicht in einem Augenblick patriotischer Erhebung geschrieben, als sursum corda, und weder von Valentin Embser (den Rühle nicht gelesen hatte) noch von Fichte beein32 Reise mit der Armee im Jahre 1809, 3 Th., Rudolstadt 1810-1811. Auszüge, nur die militärischen Operationen betreffend, in: Feldzugserinnerungen aus dem Kriegsjahre 1809, bearb. v. Friedrich M. Kircheisen, Harnburg 1909, Nr. 2: Erlebnisse eines sächsischen Offiziers von Otto August Rühle von Lilienstern, 89 - 147. 33 Malerische Reise durch Österreich, 2 Bde., Paris 1821/22. Der 3. Bd. trägt einen anderen Titel: Pr6cis historique de la guerre entre la France et I' Autriche ( ... ), Paris 1822. 34 Zur Enstehungsgeschichte des Werkes vgl. Jean-Jacques Langendorf, Der Krieg als schöne Kunst betrachtet, in: Rühle v. Lilienstern, Reise mit der Armee 1809, Wien 1986, 233 - 273. Diese Ausgabe ist eine gekürzte Fassung des Originals.

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flußt, wie Gertrud Köhler vermutet 35 , die nur die Ausgabe von 1814 kannte, während das Werk tatsächlich vor dem 1813 erschienenen Begriff de~ wahrhaften Krieges geschrieben und veröffentlicht wurde. Seine Entstehungsgeschichte ist leicht nachzuzeichnen 36 . Ende 1811 verlor Rühle seinen Erzieherposten. Er hatte daher Muße und beschloß, wobei selbstverständlich auch der finanzielle Aspekt eine Rolle spielte, im Winter 1813/14 Privatvorlesungen in Dresden zu halten. Er wollte dem Publikum eine "allgemeine Theorie der Kriegskunst" vorstellen, die alle Formen dieser Kunst, bis in die kleinste Einzelheit, umfaßte. Doch der drohende Krieg zwischen Frankreich und Rußland brachte das Projekt zum Scheitern. Rühle, der noch immer ohne Stellung war, begann mit der Niederschrift seiner Vorlesung für ein imaginäres Publikum. Er verfaßte einige Kapitel, darunter die Apologie, die damit einen organischen und sogar zentralen Bestandteil seines militärischen Werkes bildete, zu dem sie gewissermaßen die metaphysische Grundlage lieferte. Die Elemente dieser Metaphysik übernahm er großenteils vom Theoretiker der Elemente der Staatskunst. Adam Müller hatte er 1807 in Dresden kennengelernt, und bald sollten die beiden unzertrennlich werden, "geistige Zwillingsbrüder", wie manche sie damals nannten. Gemeinsame Unternehmungen wie die Buchhandlung Phönix und die Zeitschrift Phöbus, später die von Rühle herausgegebene Pa lIas, die den Studien Müllers breiten Raum gewährte, ließen die beiden in der Folge ständig zusammenkommen. Rühle, der Müller Geld lieh, wie er schon Kleist geholfen hatte, nutzte seine Stellung beim Prinzen Bernhard, um Müller (aber auch Pfuel) einen Broterwerb zu erwirken, der den erlauchten Sprößling in Wirtschaftswissenschaften unterrichtete. Und diese Freundschaft überdauerte die Befreiungskriege, Rühle lieferte Beiträge für Müllers Deutschen Staatsanzeiger und übernahm manche Ideen des Freundes für sein Buch über die Pressefreiheit. Ihre geistige Osmose war so vollkommen, daß verschiedene Passagen der Apologie ebensogut von Müller stammen könnten, weil beide durch die Brille der "Theorie der Gegensätze" sahen. Manche Bibliographen des 19. Jahrhunderts ließen sich übrigens täuschen und schrieben die Werke des einen dem anderen zu, denn in der Dresdener Zeit hatte Rühle sogar stilistische Eigenheiten Müllers übernommen und umgekehrt. Doch die Behauptung Gertrud Köhlers, die Apologie stamme weitgehend aus der Feder Müllers, geht zu weit. Louis Sauzin, der 1936 eine Neuausgabe der Schrift besorgte und ein hervorragender Kenner Müllers war, dem er seine Habilitationsschrift gewidmet hatte, sprach treffender von einem starken Einfluß, geistiger Osmose und möglichen Zitaten ohne Anführungsstriche 37 • 35 Gertrud Köhler, Über das Verhältnis von Rühle von Liliensterns Buch "Vorn Kriege" zu Adam Heinrich Müllers ,,Elementen der Staatskunst", Göttingen 1922, 16. 36 Für die Einzelheiten vgl. Jean-Jacques Langendorf, Rühle von Lilienstern und die ,,romantische" Einheit des Krieges, in: Rühle von Lilienstern, Apologie des Krieges, Wien 1984, 1- LIII. Im folgenden zitiert nach dieser Ausgabe. 37 Louis Sauzin, Rühle von Lilienstern et son apologie de la guerre, these complementaire pour le doctorat es-Iettres, Paris 1936.

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Um das Anliegen der Apologie zu verstehen, muß man sich die ,,Friedensdiskussion" in Deutschland in Erinnerung rufen, die bereits um 1760 einsetzte und mit dem Werk Kants 1795 einen neuen Impuls erhielt38 . Jenen, die den Krieg und die stehenden Heere als vemunftwidrig, der menschlichen Würde, dem Gemeinwohl und dem Fortschritt der Zivilisation abträglich verurteilten, stellten sich bald andere entgegen, die ihm zumindest relative Verdienste zuerkannten. In völkerrechtlicher Perspektive zeigte ein Justi 39 , daß der Traum des AbM de Saint Pierre40 von einem europäischen Staatenbund illusorisch sei; Jerusalem41 ging noch weiter und betonte, daß die Abschaffung des Krieges, der wie ein Korsett wirke, ein Erschlaffen des Sozialgefüges zur Folge habe. Auf die erste, durch Saint Pierre entfachte Debatte folgte eine weitere, die sich aus den Ideen Kants nährte und in den letzten Zügen lag, als Preußen bei Jena zusammenbrach. Dies bewirkte einen Einschnitt in der Auseinandersetzung, denn im vom Krieg verwüsteten Deutschland wurde es wesentlich schwieriger, von einem idealen Frieden zu sprechen. Nun kamen jene zu Wort, die den Krieg positiv werteten, in "einer verwirrenden Wende", wie Sauzin meint. Fessler behauptete 1807, der ewige Friede komme einem ewigen Tod gleich 42 , und Müller, gerade er, beschwor in Von der Idee der Schönheit (1807/08) den "wahren Krieg,,43, der die Idee der Freiheit und der nationalen Schönheit der Deutschen wieder ans Licht bringen könne und den er in den Elementen der Staatskunst 1809 als ein Element der Regenerierung pries. Die Ereignisse bestätigten Müller und Rühle sowie viele ihrer Freunde in ihrer Ablehnung der "naiven und trockenen Aufklärer", die an die Begründung eines universellen, ewigen Friedens geglaubt hatten. Kein Zweifel, daß Rühle seine Apologie mit der Schadenfreude dessen verfaßte, der Recht behalten hatte gegen diese Aufklärer, "die den Krieg betrachten als eine bloße Ausnahme von allen Friedensregeln, als ein schreckliches Interregnum des Zufalls, und, sobald er ausbricht, ist ihre gesamte Friedensweisheit zu Ende", wie es in den Elementen der Staatskunst heißt44 . Der erste Aspekt der Apologie ist der Versuch einer metaphysischen Klärung. Bevor man sich an die Ausarbeitung einer Kriegskunst macht, muß man sich 38 Ewiger Friede. Dokumente einer deutschen Diskussion um 1800, hrsg. v. Anita und Walter Dietze, München 1989. 39 Johann Heinrich Gottlieb Justi, Untersuchung: Ob Europa in eine Staatsverfassung

gesetzt werden könne, wobei ein immerwährender Friede zu hoffen ist, in: ders., Historische und juristische Schriften, Bd. I, Frankfurt a.M. I Leipzig 1760, 171 - 184. 40 In seinem ,.Projet pour rendre la paix perpetuelle en Europe" von 1713. 41 Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, Leipzig 1768, 143. 42 IgnazA. Fessler; Bonaventuras mystische Nächte, Berlin 1807,359,364. 43 Adam H. Müller; Von der Idee der Schönheit, in: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften, hrsg. v. Walter Schroeder und Werner Siebert, Bd. 2, Neuwied/Berlin

1967, 152f. 44 Ders., Die Elemente der Staatskunst, hrsg. v. Jakob Baxa, 1. Halbbd., Jena 1922, 9,

Erste Vorlesung. 15"

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fragen: "Was ist Krieg?" Die provisorische Antwort lautet: ein Gleichgewichtsfaktor. Der Friede allein trägt der Gesamtheit der menschlichen Wünsche und Bedürfnisse nicht Rechnung. Nur den Frieden zu postulieren, heißt von einer unvollständigen Menschheit auszugehen, der es eben deshalb an Gleichgewicht gebricht, weil das Gegengewicht Krieg fehlt. Daher ist die Vorstellung von einem ewigen Frieden falsch, denn sie ignoriert ein pennanentes Phänomen der Menschheitsgeschichte. Da Kant es ist, der nach Ansicht Rühles das Problem in der Perspektive der Vernunft und Sittlichkeit am eingehendsten behandelt hat, ist es angemessen, mit diesem die Klingen zu kreuzen. Der Kern der Debatte besteht in der fundamentalen Meinungsverschiedenheit zwischen Rühle und Kant über das Wesen des Rechts. Für Kant entspringt es dem kategorischen Imperativ, es ist Ausdruck des moralischen Gesetzes, das Gott ins Herz des Menschen geschrieben hat, es ist transzendent und unwandelbar. Für Rühle dagegen ist es kontingent, an geschichtliche Ereignisse gebunden und daher in seinen Fonnen variabel. Es kann kein Schiedsrichter in Konflikten sein, wie Kant das behauptete, weil es selbst ein Ergebnis von Konflikten ist, geboren aus dem ersten Streit zwischen Adam und Eva. Dem Axiom Kants: "Der Krieg ist das Aufhören des Rechts" hält Rühle entgegen: "Der Krieg ist der Ursprung des Rechts". Der Einsatz von Gewalt erlaubt, je nach den Umständen, Recht zu behaupten, zu erwerben oder zu erweitern, das damit ein "lebendiges Recht" wird, nach dem Verständnis von Rühle und Müller. Als Ursprung des Rechts kann der Krieg nur gerecht und gut sein, denn er führt zum Frieden. Krieg zu führen bedeutet also, für den Frieden zu wirken und umgekehrt. "Das eine Grundverlangen des menschlichen Gemütes nach Freiheit wird Ursache des Krieges, das andere nach ruhigem Besitze veranlaßt den Frieden. Beide zusammen erzeugen das Recht ( ... ). Die selbe Saat, welche in einem Zustande ausgestreut ward, wird im anderen als Ernte gewonnen. Der Frieden gebiert das Verlangen nach Freiheit, das im Kriege befriedigt wird; der Krieg führt das Recht herbei, das im Frieden genossen wird,,45. Krieg und Frieden ergänzen einander, der eine kann den anderen nicht entbehren. Absoluter Krieg würde die Welt ins Verderben stürzen, absoluter Friede ihre Erstarrung bewirken. Die Welt Rühles wie die Müllers ist nicht die Welt des kategorischen Imperatvis: ,,Es soll kein Krieg sein", sondern eine Welt der Gegensätze: "Es soll Krieg und Frieden sein", sonst wäre kein Leben. Gleichgewicht und Harmonie werden dadurch gesichert, daß jedes Prinzip nach seinem Gegensatz und seiner Ergänzung verlangt. Somit sind Krieg und Frieden unzertrennlich. Die Vernunft kann eine organische Tatsache, die weit über sie hinausgeht, nicht verurteilen. "Die Vernunft kann weder kategorisch gebieten: es soll überhaupt kein Krieg, noch: es soll überhaupt kein Frieden sein, sondern bloß hypothetisch: es soll kein anderer Krieg und kein anderer Frieden sein, als solcher, der vom echten Geiste rechtlichen Strebens durchdrungen ist. Weder ununterbrochener Krieg noch immerwährender Frieden, sondern ewiger, vom Geist des Krieges und vom Geist des Friedens gleichmäßig zu lebendigem Wachsturne befördeter Rechtszustand: das ist es, was die Vernunft begehrt,,46. 45

Rühle von Lilienstem, Apologie (Anm. 36), 35.

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Schließlich ist der Krieg das Durchblutungsprinzip des Staates: "Alle Institutionen müssen dergestalt konstruiert werden, daß sie gleichmäßig taugsam sind zum Kriege wie zum Frieden, daß der Ausbruch eines notwendigen Krieges nicht mit tödlicher Kraft die ganze bisherige Ordnung über den Haufen werfe, sondern daß der Krieg selbst als Lebensprinzip in den Staatsorganismus mit eingreife, daß er Mittel werden könne, die Volksfreiheit kräftiger aufblühen zu machen, den Volksgeist zu beleben, das Volksband enger zu schürzen, die Volkswohlfahrt überall im großen zu befördern. Jeder Tropfen Blut, der den Staat durchfließt, soll mit dem Eisen des Krieges versetzt sein,,47. Als Rühle von Kant abläßt, um sich der theologischen Rechtfertigung des Krieges zuzuwenden, bedient er sich des Prinzips der Gegensätze (leider kannte er weder Suarez noch Vitoria), um die Friedensbotschaft Christi zu erklären. Das friedfertige Neue Testament sei ganz einfach der notwendige Gegensatz zum kriegerischen Alten. Bei der Lektüre des Werkes kann man sich des Gedankens nicht erwehren, daß sein Titel unzutreffend ist. Es handelt sich nämlich keineswegs um eine Verherrlichung des kriegerischen Aktes, unbarmherzig und rächerisch, der Körper und Seele erneuert, das Blut reinigt und die gefallenen Soldaten zur Saat der Zukunft macht. Rühles Krieg ist weder der eines Fichte noch der eines Proudhon und schon gar nicht jener eines Rene Quinton! Dem unwandelbaren Rhythmus der Gegensätze unterworfen, kehrt er mit der Regelmäßigkeit des Halleyschen Kometen wieder, als Träger und Schöpfer des Rechts. Von der Unabwendbarkeit des Krieges wäre ein viel passenderer Titel gewesen. Schließlich hat sich der Krieg, wie Rühle ihn versteht, an die Regeln der Ritterlichkeit zu halten, der Krieger muß von der Furcht Gottes durchdrungen sein. Man soll "Treu und Glauben gegen den Feind, Verschmähung meuchlings mordender Waffen und Vorkehrungen, Enthaltung aller nutzlosen oder unnötigen Raub-, Mord- und Verheerungssucht, menschliche Behandlung der Schwachen, Unmündigen, Gefangenen und Überwundenen, Schonung allen Privateigentums und Ehrfurcht für die volklichen Religions- und Kunstheiligtümer als Pflicht anerkennen und als solche ausüben,,48. In diesem Zusammenhang warf übrigens Fichte Rühle vor - ein weiterer Widerspruch auf seinem Konto -, den unbegrenzten Krieg der "levee en masse" mit begrenzten Mitteln führen zu wollen49 . Doch wenn Rühle für Ritterlichkeit plädierte, für die "mise en Ebd., 48. Ebd., 68. 48 Ebd., 72. In der diesem Referat folgenden Diskussion bemerkte J. Heideking treffend, daß dieser Passus "einen Rotkreuz-Geschmack" habe. Und in der Tat benutzte der Oberbefehlshaber der Eidgenössischen Truppen gegen die "sezessionistischen" Kantone des "Sonderbundes", General Guillaume Henri Dufour, in seinem Tagesbefehl vom 5. November 1847 fast die gleichen Worte. 17 Jahre später zählte er zu den Mitbegründern des Roten Kreuzes. Vgl. Jean-Jacques Langendorf, Guillaume Henri Dufour, General - Kartograph - Humanist, Zürich 1987,36-38. 49 L. Sauzin, Rühle et son apologie (Anm. 37), 120. 46

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forme" des Krieges, so vielleicht deshalb, weil er ihn - im Gegensatz zu dem Philosophen - am eigenen Leib erlebt hatte. Im Zusammenhang mit der Friedensund Kriegsapologetik ist noch darauf hinzuweisen, daß die furchtbarste und blutrünstigste Apologie des Krieges, in schriftlicher und mündlicher Form, in der damaligen Debatte offenbar vergessen wurde, nämlich jene des Nationalkonvents und des Wohlfahrtsausschusses in den Jahren 1792 bis 1795. Da für Rühle der Krieg in seinen Gegensatz, den Frieden, mündet, darf man die Friedensmöglichkeiten nicht radikal zerstören. Bei den Jakobinern aber existiert dieser Gegensatz nicht, der Krieg ist ein totaler, es gibt im Grunde genommen keine Feinde mehr, sondern - wie Robespierre sagt - nur wilde Tiere, die danach trachten, das Menschengeschlecht zu verschlingen. Hiervon ausgehend entwickelt sich eine ganze Apologetik des Krieges, die alles erlaubt, weil es darauf ankommt, die Menschheit vor der Unmenschlichkeit zu retten 50 . Die Apologie erschien zuerst in gekürzter Form in den beiden ersten Heften des Jahres 1813 von Friedrich Schlegels Deutschem Museum unter dem Titel Apologie des Krieges, besonders gegen Kant. Vom Obersten von Rühl. Schlegel erhielt sie nicht über Müller, wie Sauzin behauptet, sondern durch Pfuel, der kurz zuvor einen militärischen Artikel in derselben Zeitschrift veröffentlicht hatte. Sie wurde 1814 in Frankfurt am Main neu aufgelegt, unter dem Titel Vom Kriege. Ein Fragment aus einer Reihe von Vorlesungen über die Theorie der Kriegskunst von R. v. L. Im Vergleich zum Deutschen Museum hatte sich der Textumfang verdoppelt, da Rühle seine von Schlegel gekürzten Argumente gegen Kant wieder vollständig eingebaut und außerdem eine ,,zugabe" beigefügt hatte, "von der Hand eines Freundes", die das Problem der Legitimität des Krieges in theologischer Hinsicht behandelte, was zeigt, daß Rühle die Unzulänglichkeit seiner diesbezüglichen Argumente erkannt hatte. Endlich erschien 1818 eine letzte, von Rühle im Vorjahr überarbeitete Fassung in den Aufsätzen über Gegenstände und Ereignisse aus dem Gebiet des Kriegswesens unter ihrem teilweisen Originaltitel Apologie des Krieges. Dabei handelte es sich um eine gekürzte Version der vorigen Ausgabe mit dem theologischen Anhang, der nicht aus Rühles Feder stammt. 1937 veröffentlichte der französische Germanist Louis Sauzin die Apologie in der "Aufsätze-Fassung", die 1984 in Wien neu herausgebracht wurde und schließlich 1993 in Rom in italienischer Sprache erschien51 • In den Augen Rühles hatten die Fassungen von 1813 und 1814 nicht mehr denselben Zweck wie den ursprünglich 1811 vorgesehenen. Aus einer theoretischen Abhandlung war die Apologie angesichts der Ereignisse zur Demonstration dafür geworden, daß der Komet Krieg zurückgekehrt sei und man ihn auf sich nehmen müsse, um neue Rechtsverhältnisse gegenüber dem französischen Unterdrücker zu so Vgl. u. a. Augustin Cochin, Le patriotisme humanitaire (1908), in: ders., Les societes de pensee et la democratie moderne. Etudes d'histoire revolutionnaire, Paris 1978,207 - 216. 51 Johann Jakob Otto August Rühle von Lilienstem, Apologia della Guerra (contra Kant) con un saggio di Jean-Jacques Langendorf, Roma 1993.

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schaffen. Deshalb hätte sie als obligatorische Ergänzung zum praktischen Kriegskatechismus für die Landwehr, den Rühle ebenfalls im März 1813 in Breslau veröffentlichte, in jeden Tornister gehört, wäre sie nicht so intellektuell gewesen. Es ist hier nicht der Ort, auf die Wirkungs geschichte der Apologie einzugehen, auf den Einfluß, den sie zum Beispiel auf Joseph Maria Ernst von Radowitz ausübte 52 , oder von ihren Bewunderern (Treitschke unter anderen53 ), oder Gegnern zu sprechen, die nach dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg auf den Plan traten. Halten wir nur fest, daß sie dem entsprach, was man einen Höhepunkt nennt in einem von Schicksalsschlägen nicht verschont gebliebenen Leben, einem jener Momente, in denen der Mensch im Einklang mit seinem Ideal und seiner Umgebung die Früchte seiner Arbeit erntet. Ende 1813 zum "Generalkommissar für die deutsche Landesbewaffnung" ernannt, wählte Rühle für "sein höchst seltsames Militärbüro", wie Ritter sagt54 , Mitarbeiter aus, die alle seine Doppelgänger waren, bei denen sich zur Leidenschaft für die Ästhetik der Wille gesellte, die Nation zu mobilisieren und ihr die Seele wiederzugeben - Männer, die Metternich abschätzig als "fanatische Freiwillige, Poeten und Literaten" bezeichnete. Schon ihre Namen sind aufschlußreich: der Dya-Na-Sore Meyern, Friedrich Ludwig Jahn, Ernst Moritz Arndt, Max von Schenkendorf. Die beiden Letztgenannten sollten später in ihrem literarischen Werk Rühle ein Denkmal setzen55 • Als dieser im März 1814 die Bilanz seiner Tätigkeit zog - Aufstellung, Ausrüstung und Ausbildung von 112000 Mann Linientruppen und Landwehr, Organisation eines Landsturms von 600 000 Mann -, muß er das sicher berauschende Gefühl gehabt haben, eine der Grundforderungen seiner Apologie verwirklicht zu haben.

52 Vgl. Der Mangel an Krieg [Fragment von 1852], in: Radowitz' ausgewählte Schriften, hrsg. v. W. Corvinus, Bd. 2, Regensburg o.J., 450-453. 53 Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1,7. Aufl., Leipzig 1904, 589f. 54 Gerhard Ritter, Stein. Eine politische Biographie, 3. Aufl., Stuttgart 1958, 464. 55 Max von Schenkendorf, Die deutschen Städte (1814), in: ders., Gedichte, hrsg. v. Edgar Groß, Berlin o.J., 78. In dem anonymen "Roman" von Friedrich Ludwig lahn, Denknisse eines Deutschen oder Fahrten des Alten im Bart, hrsg. v. K. Schöpach, Schleusigen 1835, tritt Rühle als "der Oberst" auf.

Das Bild des Krieges bei den deutschen Philosophen Von Massimo Mori, Turin

Zwischen dem Ende des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts erfuhr das Kriegswesen eine große Veränderung. Bei kriegerischen Operationen kam es bisher mehr auf den Aufmarsch von eindrucksvollen Heeresverbänden als Ausdruck des militärischen Potentials als auf reale Gewaltanwendung an. Die enormen Kosten der Militärapparate veranlaßten die Herrscher und Generäle, das wertvolle Kriegsgerät in einer Feldschlacht nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen und eher eine bescheidene, aber auf diplomatischer Ebene durchführbare Lösung anzustreben. Dies ermöglichten z. B. die Einnahme von Festungen, siegreiche Gefechte mit der Nachhut oder einfache Drohmanöver. Mit den zuerst vom revolutionären Frankreich und dann von Napoleon geführten Kriegen änderte sich das Bild jedoch vollständig: Die Stellungs- und Belagerungskriege wurden durch große Bewegungskriege ersetzt, die durch spektakuläre Feldschlachten entschieden wurden. Die Verluste an Menschen und Material entsprachen dem organisatorischen und finanziellen Aufwand, der zur Kriegsvorbereitung notwendig gewesen war. Clausewitz sah sich sogar gezwungen, dem Erzfeind Napoleon das Verdienst zuzubilligen, dem Krieg seinen alten Glanz zurückgegeben zu haben. Aber diese Umwälzung betraf nicht nur die Kriegführung und den Einsatz von Truppen. Der Wandel des realen Kriegsgeschehens zog auch eine Veränderung in der Bewertung des Krieges bei den Zeitgenossen nach sich. An die Stelle einer fast ausschließlich negativen Betrachtungsweise, die im 18. Jahrhundert vorherrschte, trat nun verstärkt eine positive Einschätzung, die geschichtsphilosophisch, moralisch, politisch, ästhetisch und manchmal auch metaphysisch begründet wurde. So wie die neue Form der Kriegführung die militärische Konsequenz aus der Krise des ancien regime und seiner dynastischen Konzeption der internationalen Beziehungen war, so resultierte die Veränderung des Bildes vom Kriege aus der Krise jener Kultur des 18. Jahrhunderts, die wir - nur sehr annäherungsweise und aus Gründen der Darstellung - als Kultur der Lumieres oder der Aufklärung bezeichnen. I. Die Krise der Geschichtsphilosophie der Aufldärung

Der Entwurf einer Geschichtsphilosophie - d. h. die Suche nach einer einheitlichen Sinngebung des historischen Prozesses - ist eine der Errungenschaften der

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Massirno Mori

französischen Aufklärung. Saint-Pierre, Voltaire, Turgot, Condorcet hatten, wenn auch in je verschiedener Weise, dieses vereinigende Element in der Konzeption des Fortschritts entdeckt: Die Geschichte erschien als ein einziger Prozeß, in dem die Faktoren, die nach und nach als Kriterien des Fortschritts ausgemacht wurden - die Vernunft, die Künste und die Wissenschaften, die technische Kunstfertigkeit, die wirtschaftliche und politische Freiheit -, sich immer stärker durchzusetzen begannen. Diese Auffassung verbreitete sich rasch auch im deutschsprachigen Raum, wo man sowohl - wie der Schweizer Iselin - dem Modell Voltaires verpflichtet war, als auch - wie Lessing - Ansätzen folgte, die das historische französische Fortschrittsdenken mit dem die deutsche Aufklärung kennzeichnenden Interesse für analytische Religionsphilosophie verbanden. Auch wenn der Grad des Optimismus diese Auffassungen im einzelnen unterscheidet, sind sie insgesamt durch die Tatsache vereint, daß der Fortschritt als Anhäufung begriffen wird. Die Geschichte erscheint als ein riesiger Behälter, in dem - mal schneller, mal langsamer - die begleitenden Faktoren des Fortschritts und der Kultur sich sammeln. In dieser kumulativen Ansicht des Fortschritts, die eine mechanistische Denkweise der Natur und der Realität spiegelt, sind die Ergebnisse um so greifbarer, je mehr Menschen und Nationen mit friedliebender Gesinnung und im Geist der Zusammenarbeit sich an der Bereitstellung von neuen wissenschaftlichen, künstlerischen und kulturellen Errungenschaften beteiligen. Je mehr menschliche Kraft vergeudet wird durch Konflikte, die nichts anderes bewirken, als die historischen Möglichkeiten der Menschheit zu reduzieren, desto später wird das Ziel der Geschichte erreicht. Die Geschichte der Aufklärer ist in den meisten Fällen eine Geschichte ohne Dialektik. Eine erste Kritik an der Geschichtsschreibung der Aufklärung äußert Herder in "Auch eine Philosophie der Geschichte der Menschheit" (1774). Unter den zahlreichen Aspekten der Geschichtsphilosophie der Aufklärung, die der junge "Stürmer" ablehnt, nimmt die lineare und konfliktlose Auffassung des historischen Prozesses einen ersten Platz ein. Dem "sanften Philosophen", der gläubig einen Fortschritt ohne Revolution vertritt, antwortet Herder, daß "so ein stiller Fortgang des menschlichen Geistes zur Verbesserung der Welt kaum etwas anderes als ein Phantom unsrer Köpfe, nie Gang Gottes in der Natur ist"!. Die Entwicklung der Geschichte ist sicherlich ein progressiver Prozeß, in dem die Aufeinanderfolge der verschiedenen Epochen und Völker die Bildung eines menschlichen Geschlechts vorantreibt, in dem das tausendfältige Antlitz der Menschheit zustande gebracht wird, aber die Harmonie, die über den Teilen waltet, ist nur von einem Standpunkt des Ganzen aus sichtbar, vom Standpunkt der göttlichen Vorsehung, die die Geschichte leitet. In Wirklichkeit hat jedes einzelne Volk von seinem besonderen Standpunkt aus die Absicht, sich all jenen zu widersetzen, die ihm vorangegangen sind, und es zeitigt eine neue Form der Zivilisation eben deshalb, weil es jene verabscheut, die durch andere Völker verkörpert wurden: Denn der Haß selber unter 1 Johann Gott/ried Herder, Särnrntliche Werke (Suphan-Ausgabe), 33 Bde., Berlin 18771919, hier Bd. 5, 532.

Das Bild des Krieges bei den deutschen Philosophen

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den Völkern "zeigt Entwicklung, Fortgang, Stufen der Leiter,,2. Und auch als Herder in seinem Hauptwerk "Die Ideen zur Philosophie der Geschichte" (17831793) - er hat bereits die Phase des "Sturm und Drang" hinter sich gelassen - eine bedächtigere geistige Haltung vertritt, kennzeichnet das Element der Konfliktualität und des Gegensatzes weiterhin seine Geschichtskonzeption. Indem er die Theorie von den Maxima der Vollkommenheit umreißt, versichert er, daß jede historische Individualität auf einem idealen Verhältnis ihrer Kräfte gründet, das sie innerlich konstituiert, um so ein stabiles und organisches Ganzes zu schaffen. Aber diese globale Ordnung ist immer das Ergebnis eines Konflikts zwischen den Kräften, die sie formen: "in wilder Verwirrung laufen diese gegeneinander, bis nach unfehlbaren Gesetzen der Natur die widrigen Regeln einander einschränken und eine Art Gleichgewicht und Harmonie der Bewegung werden,,3. Die Funktion des historischen Konflikts, von Herder schon seit den 60er Jahren wahrgenommen, wird bei Kant, der seine Reflexionen zur Geschichte nach der Französischen Revolution niederschreibt, grundlegend. Kant kann sogar als lebendes Sinnbild der Krise betrachtet werden, auf die die aufklärerische Geschichtsphilosophie zusteuert. Einerseits nämlich ist die Geschichtsphilosophie Kants in typischer Weise von der Aufklärung geprägt, da in ihrem Zentrum die Idee von der Entwicklung der Vernunft steht - noch verstanden als individuelle und pragmatische Vernunft -, nämlich von einem anfänglichen (und natürlichen) Zustand der Beherrschung des Instinkts bis zu einem Endzustand der Verwirklichung der "Kultur": Die "Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" und der "Mutmaßliche Anfang der Menschengeschichte" sind eine Antwort auf Rousseau wie auf Mendelssohn, die jegliche, im aufklärerischen Sinn optimistische Auslegung der Geschichte zurückgewiesen haben, der eine, indem er den historischen Prozeß als moralischen Verfall betrachtet, der andere, indem er ihn auf der Ebene der Entwicklung des Menschengeschlechts leugnet. Andererseits ist der historische Fortschritt jedoch für Kant nur möglich - im Unterschied zu der von den Aufklärern vertretenen Position - dank eines immerwährenden "Antagonismus", einer andauernden "ungeselligen Geselligkeit", die es den Menschen verbietet, in einem primitiven Garten Eden friedfertiger Beschränktheit zu ermatten. "Der Mensch will Eintracht, aber die Natur weiß besser, was für die Gattung gut ist: sie will Zwietracht,,4. Nicht jede Form des Konflikts jedoch ist dem Fortschritt förderlich. Wenn der Konfliktbereitschaft keine Grenzen gesetzt werden, wenn in der "ungeselligen Geselligkeit" die ungesellige Komponente überwiegt, hat der Konflikt einen rein destruktiven Ausgang. Damit solches aber nicht eintritt, ist es notwendig, daß der Antagonismus auf der individuellen Ebene sich innerhalb der von der bürgerlichen 2

Ebd., 489.

3

J. G. Herder, Sämmtliche Werke (Anm. 1), Bd. 14,227.

4 Immanuel Kant, Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Gesammelte Schriften '(Akademie-Ausgabe), 29 Bde., Berlin/Leipzig 1910 - 1968, hier Bd. 8, 21.

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Gesellschaft festgelegten Grenzen entwickelt, und analog dazu, daß der Antagonismus auf nationaler Ebene kontrolliert wird von jenem "Surrogat" der bürgerlichen Gesellschaft, dem Völkerbund nämlich, zur Wahrung des Friedens. Paradoxerweise jedoch kann die Begrenzung des Konfliktes innerhalb vernünftiger Grenzen das Ergebnis einer Selbstbeschränkung der Ungeselligkeit selber sein, "die durch sich selbst genöthigt wird, sich zu disziplinieren"s. In dieser Weise gibt es unter den positiven Funktionen, die der Krieg in der Geschichte eingenommen hat, nicht nur einige spezifisch zivilisatorische Aspekte - wie die Unterscheidung zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen und die Bevölkerung des ganzen Erdballs -, sondern auch einen Anstoß zur Selbstbeschränkung des Krieges und der Annäherung an den Zustand des Friedens. Es ist der von Hobbes übernommene "Krieg aller gegen alle", der die Menschen zum Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft geführt hat. In gleicher Weise wird es der Krieg zwischen den Nationen sein - immer beschwerlicher, immer komplizierter und immer unheilvoller -, der zur Gründung einer friedlichen Ordnung unter den Staaten führt. "Alle Kriege sind so viel Versuche (zwar nicht in der Absicht der Menschen, aber doch in der Absicht der Natur), neue Verhältnisse der Staaten zu Stande zu bringen, und durch Zerstörung, wenigstens Zerstückelung aller neue Körper zu bilden, die sich aber wieder entweder in sich selbst oder neben einander nicht erhalten können und daher neue, ähnliche Revolutionen erleiden müssen; bis endlich ... ein Zustand erreicht wird, der, einem bürgerlichen gemeinen Wesen ähnlich, so wie ein Automat sich selber erhalten kann,,6. Wenn auch Herder und Kant die positive Rolle des Konfliktes im historischen Prozeß unterstreichen, so tritt eine wahrhaft dialektische Auffassung der Geschichte erst im idealistischen Denken in Erscheinung. Hier nämlich ist die Idee vom Konflikt im allgemeinen - und oft vom Krieg im besonderen - nichts anderes als die Anwendung der in der logischen Reflexion ausgearbeiteten dialektischen Gegenüberstellung auf den Bereich der Geschichte und der Politik. Das "ursprüngliche Normalvolk", von dem Fichte in den "Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters" (1806) spricht, ist die historische Projektion des absoluten Ichs der "Wissenschaftslehre". Es ist ein rein rationales Konzept, das ein geschichtsloses Modell des Goldenen Zeitalters bereitstellt, in dem sich eine vollkommene, aber abstrakte Kultur realisiert, ein normatives Ideal, das darauf wartet, in den historischen Prozeß einbezogen zu werden. Ebenso sind die historischen Völker, mit denen sich das Normalvolk vergleicht und auseinandersetzt, die Verkörperung der "Wildheit", der faktischen Negation der rationalen und idealen Ordnung, wie das Nicht-Ich der Wissenschaftslehre die natürliche Negation der absoluten Vernunft des Ichs ist7 • Der Kampf zwischen dem Normalvolk und dem barbarischen - oder nach der revidierten Fassung der "Staatslehre" von 1813, die gegenseitige Einflußnahme zwiEbd., 22. Ebd., 24f. 7 Johann Gottlieb Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, in: Sämmtliche Werke (Immanuel Fichte-Ausgabe), 11 Bde., Berlin 1845/46, hier Bd. 7, 132 - 135. 5

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schen einem Volk, das das statische Moment der Geschichte verkörpert, des "gegebenen und schlechthin vorhandenen Seyns", d. h. den Wert in seiner einfachen und reinen Setzung, und einem Volk, das dagegen das dynamische Prinzip "des durch Freiheit hervorzubringenden Seyns" darstellt, oder den Wert in seiner konkreten und bewußten Realisations - ist die offensichtliche Umsetzung in den historischphilosophischen Bereich von dem, was auf der logischen Ebene die Dialektik von Ich und Nicht-Ich war. Aber eine ausgereifte dialektische Konzeption finden wir bekanntlich erst bei Hegel, der sich in der "Philosophie der Weltgeschichte" mittels der Auseinandersetzung mit Lessing und seinem Begriff der Erziehung des Menschengeschlechts bewußt gegen die lineare, von der Aufklärung vertretene Auffassung des Fortschritts wendet. Auch für Hegel ist Geschichte eine progressive Entwicklung, aber diese Entwicklung kann nicht einfach nur "quantitative" Merkmale haben - ,,immer mehr Bewußtsein, eine immer verfeinertere Kultur" -, sondern sie muß von einer "qualitativen" Veränderung ausgehen, die erst ermöglicht wird durch den Widerspruch, durch den der Geist das niedrigere Prinzip überwindet und zu einem höheren gelangt, indem er sich zu sich selbst in Widerspruch setzt9 . Die Dialektik der Geschichte fällt mit der Dialektik der Idee zusammen, die deren wesentliches metaphysisches Substrat ist lO • Der Weltgeist äußert sich in den verschiedenen "Volksgeistern", die einander sukzessiv auf der Bühne der Geschichte als herrschende Völker ablösen, um notwendigerweise unterzugehen und ihre "leadership" an andere aufstrebende Völker abzugeben, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, das Voranschreiten des Weltgeistes auszudrücken. In der "Philosophie der Weltgeschichte" erscheint jedoch der Krieg nur indirekt unter den Faktoren, die die Ablösung der Völker in der Verkörperung des Weltgeistes bewirken. Hegel insistiert hier vor allem auf der geistigen Schwäche, die den Abstieg der Völker verursacht, nachdem sie all das ausgedrückt haben, was sie auszudrücken vermochten: Die Niederlagen, die sie auf dem Schlachtfeld erlitten, sind nur die äußerlichen Konsequenzen jener inneren Schwäche. Großes Gewicht dagegen wird der Rolle des Krieges zuerkannt, wenn Hegel in der ,,Enzyc1opädie" (1817) und in der "Philosophie des Rechts" (1821) die Geschichtsphilosophie in enger Beziehung zu rechtlichen und politischen Aspekten betrachtet. Hier zeigt sich deutlich, wie der Krieg das einzige Instrument darstellt, um internationale Konflikte zu schlichten, in denen es ,,keinen Prätor, höchsten Schiedsrichter und Vermittler zwischen Staaten"ll geben kann. Letztere nämlich können weder einem angenommenen internationalen Recht unterworfen sein, noch irgend einer anderen 8

J. G. Fichte, Die Staatslehre, in: Sämmtliche Werke (Anm. 7), Bd. 4, 468 - 493.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (Lasson-Hoffmeister-Ausgabe), Bd. 1, Hamburg 1955,149-151. 10 Ebd., 34 f. II G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 333, in: Sämtliche Werke (Glockner-Ausgabe), 20 Bde., Stuttgart 1927 - 1939, hier Bd. 7,443. 9

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Fonn des Rechts, denn sie sind höchster Ausdruck der Sittlichkeit, die eine dem Recht überlegene und von ihm unabhängige Bestimmung des Geistes ist. "Das Volk als Staat ist ... die absolute Macht auf Erden; ein Staat ist folglich gegen den anderen in souveräner Selbständigkeit. Als solcher für den anderen zu seyn, d. i. von ihm anerkannt zu seyn, ist seine erste absolute Berechtigung,,12. Hegel verwendet also für den Staat dieselbe Kategorie der "Anerkennung", die er in der "Phänomenologie des Geistes" (1807) ausgearbeitet hatte, um die Beziehung zu charakterisieren, die sich zwischen zwei "Selbstbewußtseynen" entwickelt hat, d. h. zwischen zwei Individualitäten, die einander gegenseitig ausschließen und als solche danach streben, anerkannt zu sein. In dem 1807 veröffentlichten Werk stellt sich die Anerkennung mittels eines "Kampfes auf Leben und Tod" her, an dessen Ende das eine Selbstbewußtsein beweist, eine Herrschernatur zu besitzen, da es bereit ist, eher zu sterben, als die eigene Beziehung zum Universalen aufzugeben, während das andere sein knechtisches Bewußsein enthüllt, da es bereit ist, sich als abhängig von seinem Antagonisten anzusehen, nur um das besondere Gut des Lebens zu retten 13. Auch die Staaten erreichen ihre Anerkennung durch einen tödlichen Kampf, der in ihrem Fall den Kriegszustand bedeutet. "Durch den Zustand des Krieges aber wird die gegenseitige Anerkennung der freyen Völkerindividuen bewirkt, oder auch dasjenige, welches der unendlichen Ehre der Freyheit und Tapferkeit das endliche Verstehen des besondern Daseyns vorzieht, erhält, was es gewollt, seine Unterwerfung und das Aufhören seiner Selbständigkeit 14. Wie die Individuen das Besondere aufs Spiel setzen müssen, nämlich das Leben, um zu beweisen, daß sie in der Lage sind, für das Allgemeine einzutreten, nämlich den Tod, so müssen die Staaten ihr Moment des Besonderen aufs Spiel setzen, ihr "System der Bedürfnisse", ihren ökonomischen Apparat, der sie in Abhängigkeit hält von den spezifischen Bedingungen ihrer Existenz, um zu beweisen, daß sie wahre Träger des absoluten Geistes sind. Für kollektive Individuen, also für Völker und Staaten, ist der Krieg demnach keine "bloß äußerliche Zufälligkeit", durch Leidenschaften oder Willkür entfesselt - wie die Aufklärer glaubten, die ihn auf subjektive Intentionen der Monarchen und Herrscher zurückführten -, sondern er ist "das sittliche Moment", dessen notwendiger Charakter die immediate Konsequenz der Notwendigkeit ist, die die Dialektik ganz allgemein charakterisiert 15 . Ebd., § 331,441. G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke (Anm. 11), Bd. 2, 148 - 155. 14 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817), § 446, in: Sämtliche Werke (Anm. 11), Bd. 6, 298. Vgl. auch Enzyklopädie (1830), § 547, wo Hegel selbst die Anerkennung zwischen Staaten mit der Anerkennung zwischen einzelnen Bewußtseinen (§ 430) in Verbindung bringt. Neben aer Anerkennung, die innerhalb des Staats und durch den Staat stattfindet, bleibt es auch im späterem Denken Hegels eine Anerkennung, die sich außerhalb des Staates und zwischen den Staaten vollzieht, die genau wie die einzelnen Bewußtseine der Phänomenologie als sich gegenseitig ausschließende Totalitäten verstanden werden. 15 G. W. F. Hegel, Philosophie des Rechts (Anm. 11), § 324,433 f. 12 13

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11. Die Krise der naturrechtlichen Staatsauffassung Aus Hegels Auffassung vom Krieg als Fonn einer internationalen "Anerkennung" geht deutlich hervor, daß die durch das deutsche Denken zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert erfolgte Neubewertung des Krieges nicht nur von der Krise des aufklärerischen Geschichtsbegriffs abhängt, sondern in ebenso enger Weise von der Krise der naturrechtlichen Auffassung des Staates und der internationalen Beziehungen. Die Naturrechtslehre nämlich, die sich im 17. und 18. Jahrhundert herausbildete und daher die Kultur der Aufklärung tiefgehend beeinflußte, hatte eine Theorie der politisch-juristischen Beziehungen entwickelt, in der - sowohl in bezug auf die innere Verfassung des Staates als auch auf die zwischenstaatlichen Beziehungen der Frieden ein oberstes Ziel darstellte. Was die innere Struktur des Staates angeht, hat das Naturrecht - ein weiteres Mal einer mechanistischen Vorstellung verpflichtet - das politische Ganze als eine Vereinigung von Individuen aufgefaßt, in der das Zusammengesetzte über keinerlei Wertautonomie gegenüber den einzelnen Teilen verfügt. Das Individuum war nicht abhängig vom Staat, sondern der Staat war eine Funktion des Individuums. Derart konnte der Staat keinen anderen Zweck haben als die Summe der Zwecke der Individuen: Und weil die Individuen nicht Opferbereitschaft und Krieg als ihre Zwecke ansehen, sondern Wohlergehen und Frieden, verfolgt der Staat pazifistische und eudämonistische Ziele und greift nur gelegentlich auf das Mittel Krieg zurück,· um Interessen zu verteidigen, die auf jene individuellen zurückführbar sind!6. Das gleiche mechanistische - und in der Substanz statische - Modell wurde auf die Definition der internationalen Beziehungen angewandt. In den Denkansätzen von Grotius, Pufendorf, Wolff und Vattel wurden die Staaten - im allgemeinen mit ,juristischen Personen" vergleichbar!? - als den Individuen gleichberechtigte Subjekte einer bestimmten Rechtssphäre angesehen, die nach der lex naturalis kompatibel mit den Rechtssphären anderer Staaten ist!8. Einzig im Fall, daß eine Nation ihre Pflichten gegenüber den anderen Staaten verletzt, schließen sich die Rechtssphären verschiedener Staaten zusammen und bilden eine internationale Ordnung, die natürlicherweise pazifistisch ausgerichtet ist. In der naturrechtlichen Perspektive dient der Krieg also nur dazu - nach dem Prinzip "vim per vim repellere licet" -, die natürliche Rechtsordnung wiederherzustellen, wenn diese vorsätz16 Zum Grundsatz des Naturrechts bei Thomasius ,,Facienda esse, quae vitam hominum reddunt et maxime diuturnam et felicissimam, et evitanda, quae vitam reddunt infelicem et mortem accelerant" (Christian Thomasius, Fundamenta iuris naturae et gentium. I, VI, § 21, Halle/Leipzig 1718, 172). Eine vollständige Glückseligkeit erreicht man aber nur im Staat und durch den Staat. Vgl. ders., Institutionum jurisprudentiae divinae libri tres, I, IV, § 57: "Homo citra societatem non potest esse beatus". 17 Vgl. Z. B. Christian Wolf!, Jus gentium, § 2, Halle 1749, ND Hildesheim 1972, I. 18 Achenwall faßt dieses Prinzip in der Formel zusammen: "Suum naturale cuique". Gottfried Achenwall, Ius naturae in usum auditorum, § 95, Göttingen 1755, 43.

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lieh verletzt wurde 19. Der Konflikt durfte kein anderes Ziel haben, jedenfalls wenn er "ein gerechter Krieg" bleiben wollte, als die Sanktion für die Regelverletzung und die Wiedergutmachung des Schadens, indem er an dem Prinzip festhielt, nach dem die angewandte Gewalt bei der Strafaktion und bei der Forderung nach Schadenersatz gleich jener sein sollte, die vom Angreifer aufgewendet wurde2o . Das naturrechtliehe Vertrauen in die Existenz einer natürlichen Friedensordnung wird durch die Tatsache unterstrichen, daß - mit der einzigen Ausnahme von Wolff, der eine civitas maxima voraussetzt, die die Beziehungen zwischen den einzelnen Staaten institutionalisiert21 - die Vertreter der Naturrechtslehre eine internationale Friedensorganisation nicht für notwendig erachten, da die natürliche Gesellschaft der Staaten noch stärker ist als die der Individuen 22 . Und selbst Hobbes, der sich ebenfalls von der orthodoxen Tradition des Naturrechts absetzt, indem er die Existenz einer natürlichen rechtlichen Ordnung leugnet, glaubt, daß der naturrechtlieh gegebene internationale Zustand weniger verderblich sei als der unter den Individuen und daß sich daher das Problem der Einrichtung einer Zivilgesellschaft unter den Staaten nicht stellt23 . Nur am Rande der naturrechtlichen Tradition und mit teilweise unabhängigen Wurzeln entwickelt sich eine Gedankenfolge - von William Penn über den Abbe de Saint-Pierre bis hin zu Kants "Ewigem Frieden" (1795) -, in der die These von der Identität von Naturzustand und Kriegszustand als Vertragsmodell von der individuellen Ebene auf die internationale übertragen wird. In den vierzig Jahren, die sich von der Französischen Revolution bis zum Tode Hegels erstrecken, wird die mechanistische und naturrechtliche Auffassung des Staates rasch durch ein entgegengesetztes dynamisches und organisches Modell ersetzt. Die begrifflichen Voraussetzungen für diese Umwandlung wurden von Kant in der "Kritik der Urteilskraft" aus dem Jahr 1790 mit der Definition des Begriffs "organisiertes Product der Natur"24 geschaffen. Aus der Natur, auf die Kant ihn eingegrenzt hatte, übertragen auf die Realität im allgemeinen vor allem durch die Arbeiten von Schelling, wurde der Begriff des Organismus immer häufiger auch auf politische Strukturen angewandt. Ende der 20er Jahre ist der Begriff "Staats19 Vgl. Samuel Pufendorf, De jure naturae et gentium, VIII, VI, § 2, Frankfurt/Leipzig 1759, ND Frankfurt a.M. 1967,432: "Ipsi quoque homini licitum et quandoque necessarium fit bellum, quando nempe alter dolo malo noxam mihi intentat aut debitum detrectat". Auf gleiche Weise drückt sich Wolff aus: Christian Wolff, Institutiones juris naturae et gentium, I, III, § 98, Halle/Magdeburg 1750,51. 20 Vgl. C. Wolff, Institutiones (Anm. 19), I, V, § 159,87: "In bello tanta vi uti licet, quanta ad consecutionem juris sui et superandam resistentiam vi justae factam requiritur". 21 C. Wolff, Jus gentium (Anm. 17), Prolegomena, §§ 9 - 21,7 -16. 22 Vgl. Z. B. die an Wolffs ,civitas maxima' von Vattel geübte Kritik: Emeric de Vattel, Le droit des gens, I, Preface, London 1758, XVII - XVIII. 23 Thomas Hobbes, Leviathan, in: The English Works, London 1839, ND Aalen 1966, 716. 24 I. Kant, Gesammelte Schriften (Anm. 4), Bd. 5, 376.

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Organismus" bereits in den allgemeinen Gebrauch übergegangen, wie es das "Allgemeine Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften" (1827 -1829) des Kantianers Wilhelm Traugott Krug bezeugt 25 • Nachdem sich der Begriff "politischer Organismus" nur mühselig im Werk Fichtes durchgesetzt hatte - Fichte kann als exemplarischer Fall der Krise der naturrechtlichen Konzeption betrachtet werden -, wird er zum Allgemeingut der post-aufklärerischen Kultur, sei es in der Form der eigentlichen Romantik, wie bei Novalis und Adam Müller, sei es im romantisierten Idealismus von Schelling und im rationalistischen von Hegel. Die zwei Hauptmerkmale, die nach Kant den Organismus kennzeichnen, sind Totalität und Autonomie 26 • Die Übertragung dieser Merkmale des natürlichen auf den politischen Organismus stößt die naturrechtlichen Voraussetzungen völlig um. Der Staat wird nicht mehr als Agglomeration von Individuen angesehen, sondern als eine Totalität, der gegenüber der einzelne über keinerlei Autonomie mehr verfügt: Die Unterordnung des Staates unter das Individuum verkehrt sich in Zweckdienlichkeit des Individuums für den Staat. Konsequenterweise erwirbt der Staat, wenn man ihn als autonomes Individuum auffaßt, das seine eigene Ursache in sich selber trägt, auch eine eigene Finalität, die von der der Individuen verschieden ist, ja ihr sogar entgegengesetzt sein kann. Wenn in der naturrechtlichen Sichtweise der Staat existierte, um die eudämonistischen und pazifistischen Ziele des Individuums zu verfolgen, so können und müssen die Individuen in der neuen organischen Konzeption ihre Interessen und ihr individuelles Glück opfern, um die Ziele des Staates zu realisieren. Aber das erste Ziel des Staates ist es, sich selber zu bewahren und zu verteidigen, die eigene Individualität gegen die der anderen Staaten zu behaupten und eventuell die eigene Überlegenheit mit Waffengewalt durchzusetzen. Bleibt das Ziel des Individuums auch immer Ruhe und Frieden, so ist jenes des Staates oft Konfliktualität und Krieg. In der Jugendschrift "Verfassung Deutschlands" (1799 - 1803), worin Hegel gegen die Auffassung vom Staat als Maschine polemisiert, bezeichnet er als entscheidendes Wesensmerkmal der organischen Einheit des Staates das Vorhandensein eines vereinten Heeres und die Fähigkeit, einen Krieg geschlossen zu führen27 . Später in der Zeit der Reife gibt Hegel seiner Konzeption vom organischen Staat eine solidere philosophische Basis durch den Begriff des ethos. Das ethische 25 Wilhelm Traugott Krug, Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte, Bd. 3, Leipzig 1832 - 1838, ND Brüssel 1970, 127ff. 26 I. Kant, Gesammelte Schriften (Anm. 4), Bd. 5, 373: ,,zu einem Ding als Naturzweck wird nun erstlich erfordert, daß die Theile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind. ( ... ) Soll aber ein Ding als Naturprodukt in sich selbst und seiner innem Möglichkeit doch eine Beziehung auf Zwecke erhalten, ... so wird zweitens dazu erfordert: daß die Theile derselben sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, daß sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind". 27 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, Leipzig 1923,4.

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Moment drückt nämlich die organische Einheit des Individuums mit der Allgemeinheit in der Substanz des objektiven Geistes aus 28 . Der Staat ist die absolute sittliche Totalität, die zu all dem in ausschließliche Beziehung treten kann, was ihre Absolutheit begrenzen könnte. Die Bedrohung kann von außen kommen, d. h. von anderen Staaten, die ihrerseits als absolut anerkannt sein wollen, oder von innen, wenn eine oder mehrere Komponenten des Staates eine autonome Existenz verlangen, indem sie vom Staate losgelöste oder ihm zuwiderlaufende Sonderinteressen verfolgen. In beiden Fällen löst ein Krieg den Konflikt, indem der Staat sich gegen den Feind verteidigt oder die Überlegenheit der eigenen sittlichen Individualität durchsetzt29 (Hegel unterscheidet nicht zwischen Angriffs- und Verteidigungskrieg). Gleichzeitig konsolidiert sich ein inneres Zusammenhalten, und das Streben nach individuellem Nutzen wird abgetötet3o • Neben der Totalität und der Autonomie ist für das organische Modell ein drittes Merkmal wesentlich: vitale Bewegtheit. Schon Kant hatte in der "Kritik der Urteilskraft" bemerkt, daß der Organismus sowohl mit einer "bewegenden Kraft" ähnlich der der Maschinen ausgestattet ist, als auch mit einer "bildenden Kraft", die die Organisation der Materie ermöglicht und die nicht auf die mechanische Bewegung reduziert werden kann 31 • Aber einmal vom natürlichen Organismus auf den politischen übertragen, wird das Prinzip des Lebens, der Bewegung, des Wachstums und der vitalen Ausdehnung mit der Idee des Krieges in Zusammenhang gebracht. Aus der Annahme der Naturrechtslehre und der Aufklärung, die die Staaten in einem friedlichen Nebeneinander zeigt, folgt eine Ansicht, wonach die Nationen Organismen in dauernder Bewegung sind, die aufeinandertreffen und kollidieren. Die "Bewegung des Krieges" und nicht die "Ruhe des Friedens" wird vom jungen Hegel als bestes Indiz für den Zustand eines gesunden Staates angesehen32 . Sehr viel ausdrücklicher noch als Hegel macht Adam Müller aus der Bewegung die grundlegende Bedingung für den Staat, den er als "die Totalität der menschlichen Angelegenheiten, ihre Verbindung zu einem lebendigen Ganzen,m definiert. Tatigkeit und Bewegung stellen nämlich die wichtigsten Kriterien dar, um die unterschiedlichen Eigenarten und Kräfte der Staaten kennenzulernen, die sich im Lauf der Geschichte im fortwährenden Kontrast zueinander befinden. Die Perioden des größten nationalen Glanzes stellen sich in Zeiten der Umwälzungen und des Krieges ein. Der Staat muß deshalb als Institution für den Krieg nicht weniger als für den Frieden aufgefaßt werden, und seine Bürger müssen auf beide Fälle vorbereitet sein. Müller kehrt das Ideal des 17. und 18. Jahrhunderts von der Trennung des Militärischen vom Zivilen völlig um: Damit jedes Individuum bereit 28 29 30

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G. W. F. Heget, Philosophie des Rechts (Anm. 11), §§ 142-148,226-230. Ebd., §§ 321-326, 423-437. Ebd., bes. §§ 323 f., 433. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 65, in: Gesammelte Schriften (Anm. 4), Bd. 5, 374. G. W. F. Heget, Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie (Anm. 27), 4. Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst, Jena 1922, Bd. 1,48.

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ist, sich im Bedarfsfall in einen Soldaten zu verwandeln, muß auch die von ihm ausgeübte zivile Tätigkeit in Friedenszeiten durchdrungen sein vom kriegerischen Geist, der seine Unternehmungen in Zeiten des Krieges beseelt34 . Mit der Einführung der Begriffe Tätigkeit und Bewegung gerät auch die naturrechtliche Konzeption des Rechts als statische Ordnung, die ein für alle Male durch Natur und Vernunft bestimmt schien, in eine Krise. Dieser Tradition hält die historische Rechtsschule Karl von Savignys eine historistische Ansicht entgegen, nach der das Recht, genauso wie die Sprache und die Kultur, ein Produkt der historischen Entwicklung des jeweiligen Volksgeistes ist. Diese historische Sichtweise Savignys erweitern Hegel und Müller um ein dialektisches oder wenigstens antithetisches Element als Entstehungsbedingung von neuem Recht - wenn auch unter verschiedenen Gesichtspunkten. Wie bei zwei gegensätzlichen Rechtsansprüchen auf internationaler Ebene zu beurteilen ist, welcher der wahre ist (Hegel), und womit die Vermittlung zwischen zwei staatlichen Rechtsauffassungen durch eine neu zu schaffende dritte zu begründen ist (Müller), ist der Konflikt35 . Von einer Ursache für Ungerechtigkeit und Gewalt nach der aufklärerischen Konzeption oder allenfalls von einem Instrument zur Wiedereinsetzung eines verletzten Rechts (nach der naturrechtlichen Lehre vom gerechten Krieg) wird der Krieg nun zu einer wahren Rechtsquelle. Das wahre Recht nämlich ist nie etwas Unmittelbares oder apriori von der Natur bzw. der Vernunft Gegebenes, sondern durch einen dialektischen Prozeß konstituiert und definiert. Die Krise des Naturrechts hat ihre tiefste Ursache darin, daß die Auffassung von einer konfliktlosen und undialektischen Realität in Frage gestellt wird. Die Neubewertung des Krieges zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Deutschland liegt noch vor dem historisch-politischen in einem logisch-metaphysischen Diskurs begründet. Eine kurze Analyse des deutschen politischen Organismusgedankens am Anfang des 19. Jahrhunderts darf die Entstehung des Nationalgedankens nicht ausblenden, auch wenn in diesem Rahmen einige kurze Hinweise genügen müssen (denn der bedeutendste Verfechter des nationalen Denkens in Deutschland, Fichte, ist Gegenstand eines eigenen Beitrags). Der Begriff des politischen Organismus ist wesentlich mit dem Begriff der Nation verbunden, verstanden als Totalität der kulturellen, sprachlichen und ethischen Faktoren, die die Einheit und die Individualität eines Volkes bestimmen (diese Beziehung stellt sich jedoch nicht automatisch her, so steht z. B. bei Hegel einer politischen, stark organisch geprägten Idee ein nur schwach ausgeprägtes Empfinden für das Nationale gegenüber). In Deutschland entwickelt sich ein Nationalgefühl deutlich später als bei anderen V6lkern, die sich schon lange vorher in Nationalstaaten konstituiert hatten. In einigen Fällen kommt dem neuen nationalen Bewußtsein keine politische Bedeutung zu, sondern es beschränkt sich auf das Bewußtsein von den Unterschieden zwischen den V6lkern, was gut verträglich ist Ebd., 9 - 12, 32f., 86 f. G. W. F. Hegel, Schriften zUr Politik und Rechtsphilosophie (Anm. 27), 101; A. Müller, Staatskunst (Anm. 33),113 -127,131-136; zum Krieg als Rechtsquelle vgl. ebd., 81- 83. 34 35

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mit der Bewahrung einer kosmopolitischen Einstellung (Herder ,md Humboldt). Oder das Nationalbewußtsein beschränkt sich auf die Behauptung der deutschen Überlegenheit auf kulturellem Gebiet, wobei die Berufung zur Universalität bewahrt bleibt (Novalis, A. W. Schlegel und eingeschränkt selbst Fichtes ,,Reden an die deutsche Nation"). Häufig jedoch reichert sich der Begriff der Nation mit spezifisch politischen und staatlichen Werten an (wie im politischen Denken Fichtes in den "Reden") bis hin zu Formen des verschärften Nationalismus (wie bei Ernst Moritz Amdt und Ludwig Jahn). In diesem Fall entwickelt sich eine doppelte Wechselwirkung zwischen den Begriffen Nation und Krieg. Einerseits macht es die Zugehörigkeit zu einer Nation, d. h. zu einer politisch und kulturell einheitlichen Totalität, zur heiligen Pflicht, das nationale Interesse zu verteidigen: Jeder Bürger ist verpflichtet, mit all seinen physischen und moralischen Kräften an den Kriegen teilzunehmen, die ja nicht mehr aus dynastischen oder monarchischen Interessen oder aus Machtgier eines Ministers geführt werden, sondern für die Belange des Vaterlandes 36 • Die Tradition des Bürgersoldaten, die in Frankreich von Rousseau, Mably, Condorcet verteidigt und in der Französischen Revolution übernommen wurde, kehrt im Denken Fichtes wie auch bei Amdt und Jahn zurück. Auf der anderen Seite - wenn das Nationalgefühl die Bereitschaft zum Krieg verlangt fördert und konsolidiert der Krieg umgekehrt den nationalen Geist. "Aber auch im Kriege und durch gemeinschaftliches Durchkämpfen desselben wird ein Volk zum Volke", bemerkt Fichte, natürlich nur, wenn es sich nicht um einen "Krieg des Landesherm" handelt, der im Interesse eines Dritten geführt wird, sondern um einen "wahren" Krieg, also einen "Volkskrieg", der dem Interesse des Volkes verpflichtet ist31 . Für Amdt, der den Nationalismus über die Grenzen des Revanchismus hinaus treibt, wird der Krieg sogar notwendig, um gegenseitige Feindseligkeit zu erzeugen und zu nähren, jenen "wohltätigen Haß" also, ohne den die Völker Gefahr laufen würden, in einen platten, beschränkten Kosmopolitismus zu verfallen 38 . III. Die Krise der Eudämonia

Der Staat, als Organismus begriffen, verliert, wie wir gesehen haben, jene utilitaristische und eudämonistische Zweckbestimmtheit, die die politische Auffassung des naturrechtlichen Denkens charakterisiert hatte. Aber die Krise der Glückseligkeit an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert betrifft nicht nur den Bereich der Politik. Das, was in der Kultur der Aufklärung als höchstes Ziel des Menschen angesehen wurde - in Frankreich zählte man die "Traites" oder ,,Essais sur le bonheur" zu Dutzenden - wird nun vollständig entwertet. Es ist richtig, daß in 36 Für Fichte vgl. z. B. den zweiten Teil der Staatslehre von 1813, der den bezeichnenden Titel "Über den Begriff des wahren Krieges" trägt (Sämtliche Werke [Anm. 7], 402 - 413). 37 J. G. Fichte, Sämtliche Werke (Anm. 7), Bd. 7, 551. 38 Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit, in: Sämmtliche Werke, 14 Bde., Leipzig 18921900, 289 - 293.

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Deutschland im Unterschied zu Frankreich auch im 18. Jahrhundert die Glückseligkeit öfter durch spirituelle Begriffe definiert wurde als durch materielle: Schon Leibniz hatte, im Gegensatz zu der von Locke angestellten simplen Identifikation von Glückseligkeit mit Lust, die erstere als eine "beständige Freude" bezeichnet, d. h. als "eine Lust, so die Seele an ihr selbst empfindet", insofern sie eine "Vollkommenheit oder Vortrefflichkeit" wahrnimmt39 . Hauptverantwortlich dafür ist jedoch ohne Zweifel Kant, der in der Glückseligkeit einen Zustand der Heteronomie, also der Abhängigkeit von der Natur und der Sinnlichkeit sieht: Das Glück wird deshalb der Autonomie der moralischen Gesetze oder auch nur jener der "Kultur", verstanden als "Tauglichkeit und Geschicklichkeit zu allerlei Zwecken,,4o, gegenübergestellt. Aber die deutsche Kultur um die Jahrhundertwende, die den Gegensatz zwischen Autonomie des Geistes und Heteronomie der Sinnlichkeit verschärft, gelangt zu sehr viel radikaleren Schlußfolgerungen als Kant, der dem Glück immerhin noch einen wenn auch untergeordneten Wert beimißt und so aus ihm einen unauslöschlichen Bestandteil des höchsten Gutes macht. In der Nachfolge Kants gibt es nur noch die Alternative zwischen einer totalen Ablehnung jeglicher Form des Eudämonismus und der Zurückführung der Glückseligkeit auf eine bloße innere Seligkeit, die aus der vollen Entfaltung der geistigen Kräfte herrührt. Diese unterschiedliche Bewertung der Glückseligkeit bringt offensichtlich auch eine neue Bewertung des Krieges mit sich. In einer eudämonistischen Sichtweise wird der Krieg als Haupthindernis für die Verwirklichung des materiellen Wohlstands verabscheut, während die kriegerische Auseinandersetzung in einer Weltanschauung völlig anders bewertet werden kann, die in der Entsagung und im Opfer die Bedingung dafür sieht, daß sich die spirituellen Kräfte der Seele auszudrücken vermögen. Letztere Position ist deutlich auch bei einem Autor wie Humboldt nachzuweisen, der behauptet - obwohl kein radikaler Gegner des Eudämonismus -, der wahre Zweck des Lebens auf Erden sei nicht die Glückseligkeit, sondern die Entwicklung aller in der menschlichen Natur angelegten Keime 41 . Der Vorrang der Bildung vor dem Glück führt dazu, daß "alle Situationen, in welchen sich die Extreme gleichsam an einander knüpfen", d. h. die, in denen die Menschen die höchste geistige Spannung erreichen, "die interessantesten und bildendsten" sind42 . Wo geschieht das mehr als im Krieg, wo Neigung und Pflicht sich kontrastiv gegenüberstehen und der Mensch gezwungen ist, seine höchsten sittlichen Kräfte gegen die Anlagen zur Trägheit und Sinnlichkeit zu entwickeln? Deswegen glaubt Humboldt, daß der Krieg "eine der heilsamsten Erscheinungen zur Bildung 39 Gottfried Wilhelm Leibniz, Opera philosophica omnia (Erdmann-Ausgabe), Bd. 2, Aalen 1959,671. 40 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Gesammelte Schriften (Anm. 4), Bd. 5, 430. 41 Wilhelm von Humboldt, Briefe, hrsg. v. Albert Leitzmann, Bd. 2, Berlin 1949,224. 42 Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen des Staates zu bestimmen, in: Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), 17 Bde., Berlin 1903 -1936, hier Bd. 1, 138.

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des Menschengeschlechts" ist, und nur ungern sieht er ihn "nach und nach immer mehr vom Schauplatz zurücktreten"43. In Wirklichkeit hat Humboldt den Krieg in der Antike vor Augen, in dem die Männer Körper an Körper einen Kampf führten, der ihre persönlichen Tugenden hervortreten ließ. Der modeme Krieg und vor allem der immer stärker durch Technologie bestimmte und immer anonymere, postrevolutionäre Krieg erschien ihm eher als eine Form der Degeneration ohne jegliche erzieherische Kraft44 . Daß der Krieg zu einem Werkzeug der moralischen Erziehung werden kann, während ein langer Frieden die geistigen Kräfte entnervt und die Tugend schwächt, ist in dieser Zeit geradezu ein Gemeinplatz geworden. Schon Kant hat neben vielen Worten der Verdammung bemerkt, daß der Krieg, wenn er unter Beachtung der Menschenrechte geführt werde, "etwas Erhabenes an sich" habe und die Geistesverfassung eines Volkes sich desto mehr erhebe, je mehr sie der Gefahr und der Opferbereitschaft ausgesetzt sei, während ein langer Frieden den Händlergeist, den Egoismus und eine niedere Moral überwiegen lasse45 . Schiller seinerseits hatte den Krieg als "moralisches Bad" ausgerufen, der das wieder zum Leben erweckt, was im menschlichen Geist abgestorben ist oder gerade abstirbt46 . Novalis erscheint der Krieg als eine "poetische Wirkung", die als solche die Negation des Egoismus und der Engherzigkeit ist, von der die reale Wirklichkeit geprägt ist47 . Deswegen sind die wahren Kriege jene ideologischen oder religiösen, in denen das destruktive Element jede utilitaristische Erwägung zurückdrängt und "die intelligenten Anführer der Franzosen einen Meisterstreich vollbrachten, als sie ihren Kriegen das Ansehen eines Meinungskrieges zu geben gewußt haben,,48. Sehr berühmt ist die zweimal wiederholte49 Bemerkung Hegels, wonach der Krieg "die sittliche Gesundheit der Völker in ihrer Indifferenz gegen das Festwerden der endlichen Bestimmtheiten erhalten wird, wie die Bewegung der Winde die See vor der Fäulnis bewahrt, in welche sie eine dauernde Ruhe, wie die Völker ein dauernder Friede versetzen würde". Heinrich Gottlob Tzschirner, der die Geisteshaltung der Epoche in einem Büchlein mit dem Titel "Über den Krieg" (1815) zusammenfaßt, rechtfertigt den Krieg im Lichte der Theodizee: Der bewaffnete Konflikt spielt eine Rolle in der Vorsehung, weil die Gefahr das Pflichtbewußtsein anstachelt, der Kampf zur Standhaftigkeit erzieht und das Unglück die Tugend befördert, indem es an Opfer und an Verzicht auf jene Genüsse gewöhnt, die - im Busen des Friedens entstanden Ebd., 136. Ebd., 138 f. 45 I. Kant, Kritik der Urteilskraft (Anm. 40), 263. 46 Vgl. u. a. Friedrich Schiller, Die Braut von Messina, Akt 1, Szene 8. 47 Novalis, Heinrich von Ofterdingen, in: Schriften (Kluckhohn und Samuel-Ausgabe), 4 Bde., Stuttgart 1960-1968, hier Bd. 1,285. 48 Novalis, Vorarbeiten, in: Schriften (Anm. 47), Bd. 2, 593 (Fragment 307). 49 G. W F. Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, in: Sämtliche Werke (Anm. 11), Bd. 1,487. Das Zitat wird in der Philosophie des Rechts, § 324 wiederholt (Sämtliche Werke, Bd. 7, 434). 43

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Das Bild des Krieges bei den deutschen Philosophen

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- Vorboten von Korruption und Schwäche sind50 . Auf einem höheren philosophischen und literarischen Niveau, aber mit denselben Intentionen, feiert einige Jahre später Joseph de Maistre die göttliche Natur des Krieges, die als "Gesetz dieser Welt" wie eine einzige Kette von Gewalt durch alles Geschaffene hindurchgeht, indem sie das Böse durch das Böse verzehrt, "bis zum Tod des Todes,,51. Aber schon seit Ende des Jahrhunderts hatte er davor gewarnt, daß "die menschliche Seele, wenn sie einmal ihren Elan durch Verweichlichung, durch Ungläubigkeit, durch schwärende Laster, die die Folgen eines Übermaßes an Zivilisation sind, verloren hat, daß sie dann durch nichts anderes als durch Blut ihre Festigkeit wiedererlangen kann,,52. Im Bereich des Idealismus wird der Gegensatz zwischen dem ethischen Wert des Opfers (und damit des Krieges) und der Gefahr des Eudämonismus (und damit indirekt des Friedens) durch die Beziehung zwischen dem Notwendigen und dem Zufälligen ausgedrückt, oder richtiger: zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen. Obgleich schon bei Fichte vorhanden, vor allem in der zweiten Phase seines Denkens (nach 1800), wird diese Position besonders deutlich bei Hegel. Die Glückseligkeit, insofern sie nicht von der Bewegung des Geistes abhängt, sondern von besonderen und äußeren Bedingungen, die sie erst ermöglichen, ist Ausdruck der Zufälligkeit: die Termini "Glück" und "Glückseligkeit" enthalten den Hinweis auf "Glück haben", auf den Zufall53 (wie übrigens auch das französische "bonheur"). Aber die Zufälligkeit und der Zufall haben keinerlei Beziehung zur Notwendigkeit des Allgemeinen: "Die Zeiten des Glücks" - so drückt sich Hegel aus - in der Weltgeschichte sind "leere Blätter,,54. Analog dazu stellt das Moment der Ökonomie und des Nützlichkeitsdenkens, das durch die Dreiheit von Bedürfnis - Arbeit - Eigentum definiert wird, das Element des Besonderen dar, welches der Universalität des Geistes und des Staates gegenübersteht. Im Unterschied zum einfachen Glück können jedoch die ökonomischen Bedingungen eine positive Funktion in dem Maße einnehmen, wie sie nicht beanspruchen, unabhängig vom Moment des Allgemeinen zu werden, d. h. in dem Maße, wie die ökonomischen Tätigkeiten der Völker dem ethischen Leben untergeordnet sind und von ihm kontrolliert werden. Wenn sich jedoch das Besondere vom Ganzen isoliert und die ökonomischen Bedingungen danach streben, ihre Eigenständigkeit durchzusetzen, wird die Priorität des durch den Staat verkörperten Allgemeinen geleugnet und die moralische Gesundheit der Völker gefährdet. Um das zu vermeiden, ist das geeignete Instrument der Krieg, "der, was dahin geht, (die Verminderung des Besitzes 50 Heinrich Gottlieb Tzschimer, Über den Krieg. Ein philosophischer Versuch, Leipzig 1815,242-250,257,262-264. 51 Joseph de Maistre, Soirees de Saint-Petersbourg, in: Oeuvres completes, 14 Bde., Lyon 1884 - 1886, hier Bd. 5, 22 - 25. 52 J. de Maistre, Considerations sur la France, in: Oeuvres completes (Anm. 51), Bd. I, 35f. 53 G. W F. Heget, Philosophische Propädeutik, in: Sämtliche Werke (Anm. 11), Bd. 3, 53. 54 G. W F. Heget, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Anm. 9), 92.

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und Erschwerung des Erwerbens) in mannigfaltige Verwirrung bringt',55. Dank der Vorsehung werden die "Systeme der Bedürfnisse" der einzelnen Staaten in ihrem Inneren von Zeit zu Zeit von den Kriegen durcheinandergerüttelt, die die Aufgabe übernehmen, "ihre sich zurecht gemachte Ordnung und Recht der Selbständigkeit" zu verletzen und zu verwirren 56 . Der Krieg tötet das Kleben an besonderen Egoismen, aber er belebt das Gefühl für die organische Totalität; er vergiftet in der Blüte stehende ökonomische Systeme, rettet aber moralisch kranke Staaten. Erst wenn sich die Hinfalligkeit individuellen Besitzes angesichts blitzender Säbel einfallender Husaren manifestiert, wie Hegel57 bemerkt, verliert die Vergänglichkeit der Güter und der irdischen Dinge ihre redensartliche Bedeutung und wird harte Realität. Eine lange, in der französischen Kultur durch Montesquieu und in der englischen durch Adam Smith verbreitete Tradition, die auch der deutschsprachigen Welt nicht unbekannt war, wie Kants Zustimmung beweist, hatte dem Krieg den Handel entgegengesetzt. Hegel bezieht sich indirekt auf diese Tradition, indem er jedoch die Begriffe umkehrt: Der Gegensatz wird nicht mehr in dem Sinn verstanden, daß der friedliebende Handelsgeist allmählich den Platz der kriegerischen Bestrebungen der Menschen einnimmt, sondern daß der Geist des Krieges die Krämerseele der Völker zügeln muß, wenn diese ihre "sittliche Gesundheit" erhalten wollen. Der Krieg ist die Manifestation der "Kraft des Negativen", der Ausdruck der Macht, mit der das Allgemeine das Element des Besonderen negiert. Durch den Zusammenbruch der ökonomischen Sicherheit, durch den Verlust des persönlichen Eigentums, durch die Demütigung partikularer Interessen und durch das Auslöschen physischen Lebens entsteht eine kathartische Kraft, die das Individuum dazu zwingt, nur im Interesse des Allgemeinen zu handeln, indem sie die Nichtigkeit des Besonderen enthüllt. Aus der Krise der bürgerlichen Tugenden erhebt sich die Tapferkeit, die einzige absolute Tugend, bei der das Leben für einen überpersönlichen Zweck aufs Spiel gesetzt wird. Der Krieg wird zum Reich des Absoluten und Universalen, wo alles unpersönlich und in einer von aller Subjektivität freien Form geschieht. Die Feuerwaffen, modernste Instrumente der Kriegführung, drücken auf unübertreffliche Weise den Charakter des Krieges aus: "Das Schießgewehr ist die Erfindung des allgemeinen, indifferenten, unpersönlichen Todes, und es ist die Nationalehre das Treibende, nicht das Verletztsein eines Einzelnen,,58. Für Hegel wie für Humboldt ist der moderne Krieg - und um so mehr der revolutionäre und napoleonische - inhuman geworden. Wahrend dies für Humboldt den Verlust eines Wertes anzeigt, der auf die klassische Antike verweist, ist es für Hegel ein Indiz des weiter fortschreitenden Weltgeistes. 55 56

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G. W. F. Heget, Naturrecht (Anm. 49), 488. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Sämtliche Werke (Anm. 11), Bd. 2,

G. W. F. Hegel, Philosophie des Rechts (Anm. 11), § 324, Zusatz, 436. G. W. F. Hegel, System der Sittlichkeit, in: Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie (Anm. 27), 467 f. 57 58

"Wer sterben kann, wer will denn den zwingen"Fichte als Philosoph des Krieges* Von Herfried Münkler, Berlin

Bewaffnet mit Kavalleriepistolen und einem Pallasch, so berichtet Friedrich Foerster, sei Fichte im Sommer 1813 nicht nur auf dem Exerzierplatz, sondern auch in den Räumen der Universität zu sehen gewesen, und wenn er durch die Straßen geeilt sei, so habe die Scheide des Pallaschs auf dem Pflaster Funken geschlagen, "so wie er selbst das Feuer im Herzen seiner Zuhörer weckte',I. Berlin war zu dieser Zeit durch napoleonische Truppen bedroht, und in Vorbereitung auf eine entschlossene Verteidigung der Stadt war der Landsturm aufgeboten worden, an dessen Übungen sich Fichte regelmäßig beteiligte, wiewohl er nach dem Landwehrreglement vom März 1813, demzufolge alle 17- bis 40jährigen zum Dienst in der Landwehr verpflichtet waren, dies aufgrund seines Alters nicht mehr gemußt hätte. Fichte war nicht der einzige der Universitätsprofessoren, der an diesen Übungen teilnahm; auch Friedrich Schleiermacher, Philipp Marheineke und Barthold Georg Niebuhr waren dort anzutreffen, und in Berlin kursierte der Witz, es seien die Rekruten Falstaffs, die Schatte, Schimmelig, Schwächlich, Warze und Bullenkalb, wie sie in Shakespeares Heinrich Iv. geschildert werden, die sich bei den Übungen des Landsturms träfen: "Schatte", so der Buchhändler Gustav Parthey, "wurde durch den Direktor Zeune repräsentiert, einen zarten blaßen Mann, der als Vorsteher der Blindenanstalt durch ein wunderbares Spiel des Zufalls schon damals an den Augen litt und später fast gänzlich erblindete; Schwächlich war der Historiker Georg Niebuhr, dessen hervorragenden Geist niemand in der unansehnlichen Figur suchte; Warze der kleine, etwas verwachsene Schleiermacher; Bullenkalb der Buchhändler Reimer, von mehr dicker als großer Gestalt, mit freiem Halse und lang herabwallenden Haaren; Schimmelig der überaus blasse und blonde Franz Horn,,2. Der von Parthey nicht erwähnte Fichte hätte gut zu dieser eigentümlichen Gruppe von Landsturrnmännern gepaßt, denn infolge einer schweren Erkrankung, vermutlich des Zentralnervensystems, die er im Sommer 1808 erlitten hatte, waren einer seiner Arme und eines seiner Beine teilweise gelähmt. Fichtes militärische Verwendungsfähigkeit dürfte überaus beschränkt gewe-

*

Für Hinweise und Anregungen danke ich Stefan Reiß. Friedrich Foerster, Geschichte der Befreiungskriege, Bd. I, Berlin 1857, 169. 2 Gustav Parthey, zit. nach 1813 - 1815. Die deutschen Befreiungskriege in zeitgenössischer Schilderung, mit Einführungen hrsg. v. Friedrich Schulze, Leipzig 1912,59. 1

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sen sein. Ein "nach dem Leben gezeichnetes" koloriertes Bild von C. Zimmermann zeigt ihn mit zwei altertümlichen Pistolen im Halfter und einem riesigen Säbel, den er aus der Scheide gezogen hat; Kleidung und Brille weisen ihn als Gelehrten aus, der sich als Krieger verkleidet hat3 . Am 19. Februar 1813 hat Fichte seine Vorlesungen über die Wissenschaftslehre alles andere als leichten Herzens abgebrochen. In einer kurzen Rede an seine Zuhörer hat er diese Entscheidung begründet: "Schon einmal, im Jahre 1806, bin ich durch den Krieg genöthigt worden, eine sehr glückliche Bearbeitung der Wissenschaftslehre abzubrechen. - Jetzt hatte ich von neuem eine Klarheit errungen, wie noch nie, und ich hoffte diese in der Mittheilung an Sie, meine Herren, ein vorbereitetes, empfängliches, und tief ergriffenes Auditorium, wie ich auch noch nie gehabt habe, zur allgemeinen Mittheilbarkeit zu erheben. Es thut mir weh, diese Hoffnungen weiter hinauszuschieben,,4. Aber die ersten Studenten hatten nach der zehn Tage zuvor erfolgten Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht die Universität bereits verlassen und sich zu den in Ostpreußen und Schlesien entstehenden Heeresverbänden begeben. In einem auf den 13. Februar datierten Brief an seine Schwägerin hatte Barthold Georg Niebuhr die Situation in Berlin folgendermaßen beschrieben: "Das Gedränge der Freiwilligen, die sich einschreiben lassen, ist heute so groß auf dem Rathause wie bei Teurung vor dem Bäckerladen. ( ... ) Es gehen junge Leute aus allen Ständen; Studenten, Gymnasiasten, Primaner, Handlungskommis, Apotheker, Handwerker aus allen Zünften; gereifte Männer von Amt und Stand, Farnilienväter usw"s. In dieser Situation wollte und konnte Fichte nicht mit seiner Vorlesung fortfahren, als sei nichts geschehen. Außer seiner kurzen Ansprache anläßlich des Abbruchs der Vorlesungen über die Wissenschaftslehre hat er - wahrscheinlich - in diesen Februartagen auch eine Vorlesung Ueber den Begriff des wahrhaftigen Krieges gehalten, die er im Sommer desselben Jahres im Rahmen seiner Vorlesungen über die Staatslehre dann noch einmal, wohl in erweiterter und ausgearbeiteter Form, wiederholt hat6 . Auf diese Vorlesung wird später ausführlich einzugehen sein. In den Begründungen, die Fichte für den Abbruch seiner Vorlesungen über die Wissenschaftslehre gibt, kehrt er die Überlegungen um, mit denen er seine Reden an die deutsche Nation eröffnet hat, und bestimmt mit Blick auf die nunmehr Ebd., 56f. J. G. Fichte's Rede an seine Zuhörer, bei Abbrechung der Vorlesungen über die Wissenschaftslehre am 19. Februar 1813, in: Fichtes Werke, hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte, Bd. IV, Berlin 1971,610. 5 Barthold Georg Niebuhr, zit. nach 1813 - 1815 (Anm. 2), 56. 6 Daß Fichte diese Vorlesung bereits im Februar 1813 einmal gehalten haben muß, geht aus einem auf den 20. Februar datierten Brief eines Berliner Studenten hervor, in dem es heißt: "Wie sehr hätte ich gewünscht, Du hättest den Vorlesungen ,Über die Bedeutung des wahrhaften Krieges', mit denen uns unser geliebter Lehrer entließ, beigewohnt ( ... )". Zit. nach Hans Schu/z, Fichte in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen, Leipzig 1823, 248. Überliefert ist diese Vorlesung freilich nur im Rahmen der Vorlesungen über die Staatslehre, vgl. Fichtes Werke (Anm. 4), Bd. IV, 401-430. 3

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eingetretenen politisch-militärischen Konstellationen die Aufgaben neu: Hatte er damals, am 13. Dezember 1807, in der Ersten seiner Reden an die deutsche Nation die militärische Niederlage nicht nur Preußens, sondern ganz Deutschlands gegen Napoleon konstatiert und, statt auf einen weiteren Waffengang zu hoffen, auf ein nationales Erziehungsprogramm gesetzt, vermittelst dessen die Nation umgebildet bzw. neu geschaffen werden sollte7, daß sie - was Fichte freilich infolge der Zensur nicht offen aussprechen konnte - in ferner Zukunft wieder an eine auch militärische Auseinandersetzung mit Napoleon denken könne, so begründet er am 19. Februar 1813, warum diese Zeit der Selbsterziehung nunmehr vorerst zu Ende sei und ein neuerlicher Waffengang mit Napoleon unternommen werden müsse. Fichte hat es sich mit dieser Feststellung nicht einfach gemacht, und er geht in seiner kurzen Ansprache noch einmal alle Argumente durch, die für eine Fortsetzung des im Jahre 1807 propagierten Nationalerziehungsprogramms, was auch heißt: des geregelten Universitätsbetriebs, sprachen: Er wisse sehr gut, so Fichte, "dass dem Reiche des alten Erbfeindes der Menschheit, dem Bösen überhaupt, welcher Feind in verschiedenen Zeitaltern in den verschiedensten Gestaltungen erscheint, durch nichts so sicherer und grösserer Abbruch geschieht, als durch die Ausbildung der Wissenschaft im Menschengeschlechte"s. Siege der Waffen nämlich seien wirksam nur für ihre Zeit, die Ausbildung der Wissenschaft aber sei folgenreich für alle Zeit. Das spräche zweifellos, dafür, das in den Reden an die deutsche Nation entwickelte Erziehungsprogramm fortzusetzen und auf einen erneuten Waffengang gegen Napoleon zu verzichten. "Aber", so Fichte weiter, "dieser geistige Krieg gegen das Böse erfordert äusseren Frieden, Ruhe, Stille, Sicherheit der Personen, die ihn führen. Wenn diese gefährdet wäre, wenn freie Geistesausbildung in der Welt gar nicht mehr erlaubt und geduldet werden sollte, dann müsste vor allen Dingen diese Freiheit erkämpft, und nichts geschont, und Gut und Blut dafür geopfert werden,,9. - Aber dem ist nicht so, stellt Fichte fest, "niemand hat uns verhindert, frei zu forschen", und deswegen gilt: ,,Für die Eroberung der Freiheit zur Geistesbildung bedarf es nicht, die Waffen zu ergreifen. Wir haben diese Freiheit; und es bedürfte bloss, dass wir uns derselben recht emsig bedienen"lO. Sicherlich 7 "So ergibt sich denn also, daß das Rettungsmittel, dessen Anzeige ich versprochen, bestehe in der Bildung zu einem durchaus neuen, und bisher vielleicht als Ausnahme bei einzelnen, niemals aber als allgemeines und nationales Selbst, dagewesenen Selbst, und in der Erziehung der Nation, deren bisheriges Leben erloschen, und Zugabe eines fremden Lebens geworden, zu einem ganz neuen Leben, das entweder ihr ausschließendes Besitztum bleibt, oder, falls es auch von ihr aus an andere kommen sollte, ganz und unverringert bleibt bei unendlicher Teilung; mit einem Worte, eine gänzliche Veränderung des bisherigen Erziehungswesens ist es, was ich, als einziges Mittel, die deutsche Nation im Dasein zu erhalten, in Vorschlag bringe". Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, mit einer Einleitung von Reinhard Lauth, 5. Aufl., Hamburg 1978, 21. Zum rhetorischen Programm der Reden jetzt eingehend Peter L. Oesterreich, Philosophen als politische Lehrer. Beispiele öffentlichen Vernunftgebrauchs, Darmstadt 1994, 147 ff. 8 Fichte's Rede an seine Zuhörer (Anm. 4), 604. 9 Ebd., 605. 10 Ebd., 606.

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stellen das Programm der Nationalerziehung und das Ergreifen der Waffen zu einem neuerlichen Krieg gegen Napoleon für Fichte ohnehin keinen Gegensatz dar, sondern es handelt sich dabei um komplementäre Projekte, von denen das eine kurzfristig, das andere dagegen langfristig ist. In gewisser Hinsicht lassen sich der kurzfristige Waffengang gegen Napoleon und die langfristige Nationalerziehung der Deutschen auch als die Beziehung zwischen Politik und Philosophie bei Fichte fassen. Danach weist die Philosophie über das Bestehende hinaus und sucht "durch Misvergnügen mit dem Bekannten und dunkele Ahnung getrieben"ll nach einem "Etwas", das Fichte als "sittliches Gesetz", "wahre Freiheit" und "Reich des Rechts" bezeichnet. Dagegen ist die Aufgabe der Politik die Bewältigung der unmittelbar anfallenden Probleme. In diesem Sinn hat Fichte im Februar 1813 die Gewichte verlagert und die Akzente verschoben: Die langfristigen Aufgaben, die in den Zuständigkeitsbereich der Philosophie, also die endgültige Entwicklung der Wissenschaftslehre, fallen, müssen zurückstehen hinter dem unmittelbaren Problem der Niederringung Napoleons. Aber Fichte wäre nicht Fichte, wenn er nicht diese Aufgabe auch sehr bald als eine Herausforderung der Philosophie begriffen hätte. Trotz des apokalyptischen Tons, den Fichte eingangs durch die Parallelisierung Napoleons mit dem Bösen, mit Satan, ins Spiel gebracht hat 12, verzichtet er hier auf eine entsprechende Dramatisierung: Die Freiheit der Geistesbildung ist nicht bedroht. Bedroht ist diese eher durch unbedachtes Eingreifen in den Gang der Dinge, durch, wie Fichte meint, "verkehrten Eigendünkel (eines manchen Studenten, H.M.), durch seine aus thörichter Ansicht der Geschichte entsprungene Sucht, auch einer ihrer Heroen zu werden, durch seine aus gereizter Eitelkeit entstandene Rachsucht, und wie die verkehrten Eigenschaften alle heißen mögen,,13. Demgegenüber mahnt Fichte zu Ruhe und Gelassenheit: ,.zeit kann verlorengehen, aber auf diese kommt nichts an, denn wir haben eine unendliche vor uns: dass aber die in ihnen (den Gebildeten, H.M.) niedergelegten und aus ihnen sich entwickelnden Principien eines besseren Zustands nicht verlorengehen, darauf kommt alles an. Sie müssen darum sich selbst, ihre äussere Ruhe und Sicherheit, und, was sie eigentlich schützt, ihre scheinbare Unbedeutsarnkeit erhalten, so gut sie können, und durch nichts die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen,,14. Das alles spräche dafür, den Vorlesungsbetrieb fortzuführen und sich von den zu erwartenden Kämpfen fernzuhalten. So war es in den zurückliegenden Jahren, meint Fichte, aber jetzt hätten sich die Umstände verändert. - Inwiefern und wodurch? 11 Johann Gottlieb Fichte, Die Staatslehre oder über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche, in: Fichtes Werke (Anm. 4), Bd. IV, 36. 12 Die Identifizierung Napoleons mit dem Teufel war damals weit verbreitet: Ein Flugblatt der Befreiungskriege zeigt den Teufel mit einem Wickelkind im Arm, bei dem es sich unverkennbar um Napoleon handelt. Die Bildunterschrift lautet: "Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe", abgebildet in: 1813 -1815 (Anm. 2), Tafel 2; weitere Beispiele bei Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988, 155 ff. 13 Fichte's Rede an seine Zuhörer (Anm. 4), 606. 14 Ebd.,607.

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Es ist nicht nur die günstige Gelegenheit, daß in Deutschland bzw. Preußen der Kampf gegen Napoleon jetzt erneut aufgenommen wird, sondern Fichte glaubt auch eine Veränderung in der geistigen Verfassung der Gesellschaft konstatieren zu können. Hat er vordem, und zwar sowohl in den Vorlesungen über die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters als auch in den als deren Fortsetzung konzipierten Reden an die deutsche Nation die Selbstsucht, Dunkelheit und Dumpfheit der Regierten wie Regierenden gebranntmarkt, die für den allgemeinen Niedergang Deutschlands und schließlich auch die militärische Katastrophe Preußens verantwortlich seien und an denen alle Anstrengungen der Erleuchteten zuschanden geworden seien 15, so stellt er nun fest, daß zumindest die Möglichkeit gegeben sei, einen Schritt in Richtung einer freien Gesellschaft zu tun, und diese Möglichkeit müßten "die Freunde der Geistesbildung", wie er sie nennt, entschlossen nutzen. Fichte interpretiert die oben kurz beschriebene allgemeine Unruhe in Preußen und insbesondere in Berlin somit nicht bloß als Reaktion auf die jüngste Niederlage Napoleons in Rußland, sondern auch als Indizien für eine viel tiefergreifende Wende, für den Übergang von dem - in der Begrifflichkeit der Grundzüge - ,,zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit" in das der "anbrechenden Rechtfertigung", also der Überwindung der Selbstsucht und des ungebundenen Lebens zugunsten von Menschheits- und Wahrheitsliebe 16. In dieser Situation ist die Tathandlung der "Freunde der Geistesbildung" gefordert, denn durch sie wird beschleunigt, was im Gang der Geschichte vorgesehen, in seinem Zeitablauf aber nicht festgelegt ist. ,,zuvörderst", so Fichte jetzt in direkter Wendung an seine Zuhörer, die offizielle preußische Politik interpretierend, "wird der Kampf begonnen im letzten Grunde für ihr Interesse; ob auch nicht jeder es so meint, und versteht; sie können es so verstehen; denn die gebundenen und gemisbrauchten Kräfte sollen befreit werden, und es kann gar nicht fehlen, dass nach dieser Befreiung auch der Geist, wenn er nur seine Zeit erwarten und nichts ungeduldig übereilen will, auf die Bestimmung derselben einfliessen werde,,17. Wie sehr Fichte den Fortgang der kriegerischen Auseinandersetzung mit Napoleon unter menschheitsgeschichtlicher Perspektive gesehen und in welchem Maße er dabei seiner Philosophie eine nicht nur post festurn deutende und erklärende Rolle, wie dies Hegel etwa getan hat, zugeschrieben, sondern sie als intervenierende und orientierende Anleitung zum Handeln begriffen hat, belegen die Äußerungen des bereits Todkranken, als er vom Rheinübergang der Armee Blüchers bei Kaub erfuhr: "Daß ich das erleben darf. Neue Aufgaben stehen uns bevor. Meine 15 "Was vorher hätte helfen können, nämlich wenn die Regierung ( ... ) die Zügel kräftig und straff angehalten hätte, ist nun nicht mehr anwendbar, nachdem diese Zügel nur noch zum Scheine in ihrer Hand ruhen, und diese ihre Hand selbst durch eine fremde Hand gelenkt und geleitet wird". So Fichte 1807 (Ders .• Reden an die deutsche Nation [Anm. 7]. 18 f.). 16 Zur Frage der Fichtesehen Konzeption der Geschichte, insbesondere zur Fortführung der Grundzüge in den Reden vgl. Wilhelm Matz. Die Weltgeschichte beim späten Fichte, in: Fichte-Studien 1 (1990), 126 ff. 17 Fichte's Rede an seine Zuhörer (Anm. 4), 608.

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Wissenschaftslehre ganz neu, faßlich, sonnenklar darstellen! Im Kopf ist schon alles durchdacht, hundertmal erwogen, eine Anleitung zum praktischen Handeln,,18! Dieser Antrieb, in den Fortgang der Ereignisse orientierend eingreifen zu können und zu sollen, wie er sich hier noch einmal in der Verbindung von Blüchers Vormarsch und der Neufassung der Wissenschaftslehre zeigt, ist ein Grundzug von Fichtes persönlichem Charakter wie seiner Philosophie insgesamt. So hatte er schon 1799 nach seiner Entlassung in Jena den Franzosen seine Dienste angeboten, um als ein von Frankreich aus wirkender Schriftsteller die Augen der verblendeten Deutschen zu öffnen; 1806 hatte er im Vorfeld des Krieges sich dem preußischen König anerboten, dessen Truppen als Feldprediger zu begleiten, um ihnen die Bedeutung des Krieges darzulegen. Worum es in diesem Krieg gehe, so Fichte in dem Fragment Anwendung der Beredsamkeit für den gegenwärtigen Krieg, sei die Frage, "ob dasjenige, was die Menschheit seit ihrem Beginne durch tausendfache Aufopferung an Ordnung und Geschicklichkeit, an Sitte, Kunst und Wissenschaft, und fröhlichem Aufheben der Augen zum Himmel errungen hat, fortdauern und nach den Gesetzen der menschlichen Entwicklung fortwachsen werde; oder ob alles, was Dichter gesungen, Weise gedacht und Helden vollendet haben, versinken wird in dem bodenlosen Schlund einer Willkür, die eben durchaus nicht weiss, was sie will, außer daß sie eben unbegrenzt und eisern Will,,19. Gegen eine solche "unbegrenzt und eisern" wollende Macht, als welche Fichte Napoleon immer wieder, auch in seiner Vorlesung Über den Begriff des wahrhaftigen KriegeiO, charakterisiert hat, war nur durch eine vergleichbare Willensstärke und Entschlossenheit zu siegen. Diese wollte Fichte den Soldaten einflößen, und das Motto, das er ihnen zu predigen gedachte, lautete: "Vor der Schlacht und in Rücksicht des Krieges: nicht zu schwanken und nur den Krieg zu wollen, aber fest und besonnen alle seine Erfolge zu berechnen. In der Schlacht: im Getümmel festen Sinn in der Brust zu behalten, selber im Tode Sieg, Vaterland, Ewiges zu denken,,21. Um sich des Zit. nach Fichte. Ausgewählt und vorgestellt von Günter Schulte. München 1996, 67. Johann Gottlieb Fichte. Anwendung der Beredsamkeit für den gegenwärtigen Krieg, in: Fichtes Werke (Anm. 4), Bd. VII, 506. 20 "So ist unser Gegner. Er ist begeistert und hat einen absoluten Willen: was bisher gegen ihn aufgetreten, konnte nur rechnen, und hatte einen bedingten Willen. Er ist zu besiegen auch nur durch Begeisterung eines absoluten Willens, und zwar durch die stärkere, nicht nur für eine Grille, sondern für die Freiheit" (Fichtes Werke [Anm. 4]. Bd. IV, 427 f.); Carl Schmitt hat Fichte darum als den ,,Philosophen der Napoleon-Feindschaft" bezeichnet: "Fichte ist der eigentliche Philosoph der Napoleon-Feindschaft, man darf sagen, er ist es in seiner Existenz als Philosoph. Sein Verhalten gegenüber Napoleon ist der paradigmatische Fall einer ganz bestimmten Art von Feindschaft: sein Feind Napoleon, der Tyrann, der Zwingherr und Despot, der Mann, der ,eine neue Religion stiften würde, wenn er keinen anderen Vorwand hätte, die Welt zu unterjochen', dieser Feind ist Fichtes ,eigene Frage als Gestalt' ein von seinem Ich geschaffenes Nicht-Ich als Gegenbild in ideologischer Selbstverfremdung, Goethe hat es wohl bemerkt; eine Tagebuchnotiz vom 8. August 1806 lautet: ,Fichtes Lehre in Napoleons Thaten und Verfahren wiedergefunden ..•. earl Schmitt. Clausewitz als politischer Denker. Bemerkungen und Hinweise, in: Der Staat 6 (1967), 479 - 502, hier 492 ff., 494 f. 18

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Verdachtes zu erwehren, er schicke andere in den Tod, halte sich selbst aber der Gefahr fern, versicherte Fichte, er werde als Feldprediger in einer Weise reden, daß dies vor jedem Gericht des Feindes zwangsläufig das Todesurteil zur Folge haben werde, und er fügt, sich in der dritten Person apostrophierend, hinzu: "Er wird auch darum keineswegs feigherzig sich verbergen, sondern er giebt vor Eurem Angesicht das Wort, entweder mit dem Vaterlande frei zu leben, oder in seinem Untergange auch unterzugehen,m. So weit ist es nicht gekommen, denn der König hat Fichtes Gesuch abgelehnt, und er hat dies 1813 erneut getan, als Fichte abermals mit der Vorstellung aufkam, er könne und solle als Feldprediger Verwendung finden. Immer wieder also trieb es Fichte, aktiv auf den Fortgang der Ereignisse Einfluß zu nehmen. Philosophie hieß für ihn gerade nicht, abzuwarten bis "eine Gestalt des Lebens alt geworden" ist, wie es in Hegels Vorrede zur Rechtsphilosophie heißt23 , und dann "Grau in Grau" zu malen, womit diese Gestalt "sich nicht veIjüngen, sondern nur erkennen" lasse, sondern zu orientieren, einzugreifen und zu verändern. Vielleicht hat er nirgendwo prägnanter dieses Programm zusammengefaßt als am Schluß der Ersten seiner Reden an die deutsche Nation, wo es heißt: ,,Nach allem ist es der allgemeine Zweck dieser Reden, Mut und Hoffnung zu bringen in die Zerschlagenen, Freude zu verkündigen in die tiefe Trauer, über die Stunde der größten Bedrängnis sanft hinwegzugleiten. ( ... ) Auch die Morgenröte der neuen Welt ist schon angebrochen, und vergoldet schon die Spitzen der Berge, und bildet vor den Tag, der da kommen soll. Ich will, so ich es kann, die Strahlen dieser Morgenröte fassen, und sie verdichten zu einem Spiegel, in welchem die trostlose Zeit sich erblicke, damit sie glaube, daß sie noch da ist, und in ihm ihr wahrer Kern sich ihr darstelle, und die Entfaltungen und Gestaltungen desselben in einem weissagenden Gesicht vor ihr vorübergehen. In diese Anschauung hinein wird ihr dann ohne Zweifel auch das Bild ihres bisherigen Lebens versinken, und verschwinden, und der Tote wird ohne übermäßiges Wehklagen zu seiner Ruhestätte gebracht werden können,,24. Fichtes Insistenz auf der intervenierenden Tathandlung war jedoch nicht nur die Folge seines unruhigen Charakters, sondern erwuchs zugleich aus den Grundprinzipien seiner Philosophie, und zwar gänzlich in Übereinstimmung mit der berühmten Formulierung aus seiner Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre von 1797, die lautet: "Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was für ein Mensch man ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen und annehmen könnte, wie es uns beliebte, sondern es ist beseelt 21 Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutschen Krieger zu Anfange des Feldzuges 1806 (Fragment), in: Fichtes Werke (Anm. 4), Bd. VII, 512. 22 Ebd., 510. 23 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke, hrsg. v. Eva Moldenhauer u. a., Bd. 7, Frankfurt a.M. 1970, 28. 24 J. G. Fichte, Reden an die deutsche Nation (Anm. 7), 26.

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durch die Seele des Menschen, der es hat. Ein von Natur oder durch Geistesknechtschaft, gelehrten Luxus und Eitelkeit erschlaffter und gekrümmter Charakter wird sich nie zum Idealismus erheben,,25. In seinem Bestreben, den kantischen Dualismus zwischen transzendentalem Ich und Ding an sich zu überwinden, hatte Fichte die drei Grundsätze seiner Wissenschaftslehre formuliert: Das Ich setzt sich selbst; das Ich setzt sich ein Nicht-Ich entgegen; im Ich setzt sich das teilbare Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen. Ausgangspunkt Fichtes ist das singuläre, selbstreferentielle Ich, durch dessen freie Selbstsetzung erst die nicht dieses Ich seiende Welt, das Nicht-Ich, mitgesetzt wird. Das Ich ist der sinnlichen Welt vorausgesetzt, und dadurch ist es wirklich frei. Es ist dadurch auch der Unterscheidung von Subjekt und Objekt vorausgesetzt, wie sie im dritten Grundsatz der Wissenschaftslehre formuliert ist. Wichtig für unsere Überlegungen zu Fichtes Philosophie des Krieges ist an diesen Grundsätzen der Wissenschaftslehre der Primat der Tathandlung gegenüber den Tatsachen. Eine solche Philosophie konnte nicht in einer Anerkenntnis der Übermacht äußerer Fakten enden, und dementsprechend war ihr auch ein Begriff von Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit zutiefst fremd. Nur in Phasen tiefster politischer Verzweiflung hat sich Fichte einer Auffassung genähert, in der er bereit war, sich den vorgefundenen Gesetzmäßigkeiten des Politischen zu unterwerfen. Sein 1807 in Königsberg verfaßter Text Über Macchiavelli, als Schriftsteller, und Stellen aus seinen Schriften, in dem Fichte die preußische Niederlage gegen Napoleon anerkannt und sich ihr dennoch trotzig verweigert hat, ist eines der wenigen Beispiele hierfür, und mit Recht hat Friedrich Meinecke festgehalten, daß damals "Fichtes Geist auf seiner Bahn den Punkt der größten Erdennähe, der ihm möglich war", erreicht habe26 . Widerpart des Machiavelli-Aufsatzes ist in Fichtes Denken seine Vorlesung Über den Begriff des wahrhaftigen Krieges, aber bevor diese Polarität ausführlicher behandelt werden soll, ist zunächst noch einmal zu Fichtes Rede anläßlich des Abbruchs seiner Vorlesungen zur Wissenschaftslehre zurückzukehren. Wie oben gezeigt, ist Fichte darin eine Reihe von Argumenten durchgegangen, die dafür oder dagegen sprachen, in Anbetracht der nunmehr entstandenen politisch-militärischen Situation die Universität zu verlassen und zu den Waffen zu eilen. Ausschlaggebend für die Aufforderung, zu den Waffen zu. greifen, war für Fichte schließlich die Überlegung, es könne sich in den gegenwärtigen Ereignissen eine menschheitsgeschichtliche Wende vorbereiten, bei der die ,,Freunde der Geistesbildung" nicht abseits stehen dürften, sondern auf die sie Einfluß nehmen müßten, um den ,,zwecken der höheren Ansicht" Geltung zu verschaffen. Aber der bevorstehende Waffengang erscheint Fichte nicht nur als Beschleuniger eines feststehenden, nur in seinen Ablaufzeiten veränderbaren Weltplans, sondern ist auch Fichtes Werke (Anm. 4), Bd. I, 434. Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, hrsg. u. eingel. v. Hans Herzfeld, München 1969,95. 25

26

Fichte als Philosoph des Krieges

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bedeutsam für die moralische Verfaßtheit derer, die an ihm teilnehmen. "Sodann", so Fichte, "soll das Ganze von der Schmach, welche die Unterdrückung auf dasselbe warf, gereinigt werden. Diese Schmach ist auch auf sie (die Freunde der Geistesbildung, H.M.) mit gefallen; freilich unverdient, ja zu ihrer Ehre, weil um höherer Zwecke willen sie dieselbe frei und entschlossen duldeten. Diese höheren Zwecke der Duldung fallen nun weg; sie sind durch die herrschende Kraft selbst aufgefordert, nicht mehr zu dulden. Jetzt möchte es scheinen, als ob der, der nicht das Seinige thut, die Schmach abzuwälzen, gern geduldet hätte,m. Letzteren Verdacht weist Fichte freilich sogleich wieder zurück, denn "um Muth zu zeigen, bedarf es nicht, dass man die Waffen ergreife'.28. Hinge der Mut daran, die Waffen zu ergreifen, so hätte sich Fichte ja selbst in die Reihen der Mutlosen einordnen müssen. Immerhin, in seinen Reden an die deutschen Krieger, einem Fragment aus dem Jahre 1806, hatte er es als die "Schuld des Zeitalters" bezeichnet, daß der Beruf der Gelehrten von dem des Kriegers abgetrennt worden sei, und nicht ohne Wehmut hatte er an Aischylos und Cervantes erinnert, die beide Funktionen noch in einer Person zu verbinden vermocht hätten29 • Fichte dürfte also im Sommer l8l3 mit großer innerer Genugtuung dem Aufgebot des Landsturms gefolgt sein, und wenn er nach dessen Übungen gelegentlich mit Säbel und Kavalleriepistolen in die Universität kam, um eine Vorlesung zu halten oder anderen Verpflichtungen nachzukommen, so dürfte dies für ihn auch ein Ausdruck für die neuerliche Zusammenführung der Berufe des Gelehrten und des Kriegers gewesen sein. Als Fichte nun Mitte Februar l8l3 seine Vorlesung zur Wissenschaftslehre abbrach, war die Allgemeine Wehrpflicht gerade erst eingeführt worden, und die preußische Regierung hielt sich hinsichtlich der Politik, die sie gegenüber Napoleon verfolgen wollte, noch bedeckt; offizielle Proklamationen gab es noch nicht. Gleichwohl stellt Fichte in der Rede an seine Zuhörer die keineswegs nur rhetorisch gemeinte Frage: "Aber, wenn ihnen die Theilnahme an dem Widerstande nicht nur freigelassen wird, wenn sie sogar zu derselben aufgefordert werden, wie verhält es sich sodann,,30? Genau diese Teilnahme aller am bewaffneten Widerstand, die ein völliger Bruch mit den Gepflogenheiten Preußens in der Zeit vor den Reformen war, hatte Fichte in seiner etwa zeitgleich konzipierten Vorlesung Ueber den Begriff des wahrhaftigen Krieges als ein Unterscheidungskriterium zwischen Fürsten- und Volkskrieg entwickelt. "Wenn aber die vorausgesetzten Dollmetscher des öffentlichen Willens", heißt es dort, "selbst reden von Freiheit und Selbständigkeit der Nationen und eine Kriegsweise befehlen auf Leben und Tod, ohne Unterschied der Cantonfreiheit, ohne Schonung des Eigenthums, wie sie möglich und rechtlich ist nur in der wahren Erkenntnis, so soll dem Erleuchteten sich das Herz erheben beim Anbruche seines Vaterlandes, und er soll es begierig als wahren 27

Fichte's Rede an seine Zuhörer (Anm. 4), 608.

28

Ebd.

29

J. G. Fichte. Reden an die deutschen Krieger zu Anfange des Feldzugs 1806 (Anm. 21),

30

Fichte's Rede an seine Zuhörer (Anm. 4), 608 f.

510.

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Ernst ergreifen,,31. Keine Kantonsfreiheit, keine Stellung von Stellvertretern, sondern allgemeine Wehrpflicht - gerade das sollte die Studenten begeistern, sie anfeuern und ihnen zeigen, daß es in diesem Kriege nicht um irgendwe1che kleinlichen Interessen von Fürsten, sondern um die Freiheit selber ging. In der Rede an seine Zuhörer argumentiert Fichte anders; hier setzt er nicht auf die Begeisterung der Studenten, die aus der Betrachtung des entschlossenen Agierens der Regierung erwächst, sondern auf das Pflichtgefühl, dem sich keiner entziehen kann, weil jeder gefordert ist. "Die Masse der zum Widerstande nöthigen Kräfte", so Fichte hier, ,,können nur diejenigen beurtheilen, die jenen Entschluss fassten, und die an der Spitze des Unternehmens stehen. Nehmen sie Kräfte in Anspruch, die in der Regel nicht dazu bestimmt sind, so müssen wir, nachdem wir überhaupt Vertrauen zu ihnen haben können, ihnen auch darin glauben, dass diese Kräfte nöthig sind,,32. Fast einen Monat vor Unterzeichnung der Aufrufe An Mein Volk und An Mein Kriegsheer durch Friedrich Wilhelm 1lI. geht Fichte hier bereits davon aus, daß in dem sich abzeichnenden Krieg Kräfte mobilisiert werden, die, wie er formuliert, .Jn der Regel nicht dazu bestimmt sind", und er fordert seine Zuhörer auf, sich auch in dieser Frage auf die Regierung zu verlassen. Wenngleich die Verbindungen zwischen Fichte und den Militärreformern für das Jahr 1812 schwer faßbar und kaum belegbar sind - bekannt ist nur ein Mittagessen in der "Deutschen Tischgesellschaft" im Januar 1812, an dem Fichte und Gneisenau teilgenommen haben und wo in "deutungsreichen Worten" über einen nahenden Befreiungskrieg gesprochen wurde 33 -, so ist hier doch greifbar, wie nahe Fichte den Reformern nicht nur im Hinblick auf allgemeine Werte und Ziele, sondern auch in operativer Hinsicht stand. Fichte jedenfalls läßt keine Ausrede gegenüber der allgemeinen Inpflichtnahme gelten; jeder ist jetzt gefordert, und also fährt er fort: "Und wer möchte, in dem Falle, dass das Unternehmen scheitern sollte, oder nicht auf die gehoffte Weise gelingen sollte, den Gedanken auf sich laden, dass durch sein Sichausschliessen und durch das Beispiel, das er dadurch gegeben habe, das Mislingen veranlasst sey? Das Bewusstseyn, meine Streitkraft ist nur klein, wenn es auch ganz gegründet wäre, könnte dabei nicht beruhigen: denn wie, wenn nicht sowohl auf die Streitkraft, als auf den durch das Ganze zu verbreitenden Geist gerechnet wäre, der hoffentlich aus den Schulen der Wissenschaft ausgehend ein guter Geist seyn wird; wie wenn gerechnet wäre auf das grosse, den verbrüderten deutschen Stämmen zu gebende Beispiel eines Stammes, der einmüthig und in allen seinen Stämmen ohne Ausnahme sich erhebt, um sich zu befreien,,34. 31 Johann Gottlieb Fichte, Die Staatslehre, oder über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftsreiche, in Vorlesungen, gehalten im Sommer 1813 an der Universität zu Berlin, in: Fichtes Werke (Anm. 4), Bd. IV, 414. Die Vorlesung "Ueber den Begriff des wahrhaftigen Krieges" firmiert als zweiter Abschnitt der 1820 aus dem Nachlaß herausgegebenen Vorlesungen. 32 Fichte's Rede an seine Zuhörer (Anm. 4), 609. 33 H. Schutz, Fichte in vertraulichen Briefen (Anm. 6), 246 f. 34 Fichte's Rede an seine Zuhörer (Anm. 4), 609. Zumindest einer der Hörer, die an Fichtes Vorlesungen über die Wissenschaftslehre teilgenommen haben, war nicht bereit, dieser

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Auf den ersten Blick scheint sich eine tiefgreifende Veränderung in Fichtes Auffassung vom Kriege vollzogen zu haben, wenn man die zuletzt zitierten Stellen aus der Rede an seine Zuhörer mit einer Passage aus dem 1793 veröffentlichten Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution vergleicht, in der es heißt: "Der Krieg, sagt man, cultiviert, und es ist wahr, er erhebt unsere Seelen zu heroischen Empfindungen und Thaten, zur Verachtung der Gefahr und des Todes, zur Geringschätzung von Gütern, die täglich dem Raube ausgesetzt sind, zum innigen Mitgefühl mit allem, was Menschenantlitz trägt, weil gemeinschaftliche Gefahr oder Leiden sie enger an uns andrängen; ( ... ),,35. Freilich, so wendet Fichte ein, kultiviere auch der Despotismus; die Frage sei jedoch, um welchen Preis. Der Krieg, so Fichte weiter, verändere nicht die Menschen, sondern intensiviere an ihnen nur das, was ohnehin in ihnen angelegt sei. ,,Nur solche Seelen erhebt der Krieg zum Heroismus, welche schon Kraft in sich hapen; den Unedlen begeistert er zum Raube und zur Unterdrückung der wehrlosen Schwäche; er erzeugt Helden und feige Diebe, und welches wohl in grösserer Menge?,,36 Fichtes Aufmerksamkeit galt zu dieser Zeit dem System des Gleichgewichts in Europa, mit dessen Aufrechterhaltung von verschiedenen Seiten die militärische Intervention in Frankreich gerechtfertigt wurde. Fichte bezweifelte, daß die Orientierung am Gleichgewicht tatsächlich das Handeln der Regierungen leite, aber selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, stellte sich die Frage nach dem Preis, der dafür zu entrichten war, und ob ihm ein angemessener Nutzen gegenüberstand. Gerade dies verneinte Fichte: "Die völlige Aufhebung des Gleichgewichts in Europa könnte nie so nachtheilig für die Völker werden, als es die unselige Behauptung desselben gewesen ist,,37. Also beschäftigte Fichte sich mit der Frage, ob und wie in Europa ein dauerhafter Frieden hergestellt werden könne, ohne daß er auf der permanenten Kriegsbereitschaft, wie sie das Gleichgewichtssystem erforderte, Argumentation zu folgen: Arthur Schopenhauer; er verließ Berlin und zog sich nach Rudolstadt zurück, wo er seine Dissertation ..Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde" schrieb. 35 Fichtes Werke (Anm. 4), Bd. VI, 90. 36 Ebd., 90 f. Ganz ähnlich heißt es in Kants zwei Jahre später veröffentlichter Schrift Zum ewigen Frieden: ..Der Krieg aber selbst bedarf keines besonderen Bewegungsgrundes, sondern scheint auf die menschliche Natur gepfropft zu sein, und sogar als etwas Edles, wozu der Mensch durch den Ehrtrieb, ohne eigennützige Triebfedern, beseelt wird, zu gelten: so, daß Kriegesmut (von amerikanischen Wilden sowohl, als den europäischen, in den Ritterzeiten) nicht bloß, wenn Krieg ist (wie billig), sondern auch, daß Krieg sei, von unmittelbarem großem Wert zu sein geurteilt wird, und er oft, bloß um jenen zu zeigen, angefangen, mithin in dem Kriege an sich selbst eine innere Würde gesetzt wird, sogar daß ihm auch wohl Philosophen, als einer gewissen Veredelung der Menschheit, eine Lobrede halten, uneingedenk des Ausspruchs jenes Griechen: ,Der Krieg ist darum schlimm, weil er mehr böse Leute macht, als er deren wegnimmt'''. lmmanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: ders., Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1970, Bd. 9, 222. 37 Fichtes Werke (Anm. 4), Bd. IV, 95. 17"

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errichtet war. Wie Kane s glaubte er diese Möglichkeit in einer Veränderung der Staatsverfassungen gefunden zu haben: Wenn Republiken an die Stelle von Despotien getreten seien, so sei Frieden auch ohne permanente Kriegsbereitschaft herstellbar. "Daß eine ganze Nation", schrieb Fichte in Die Bestimmung des Menschen, "beschließen sollte, des Raubes halber ein benachbartes Land mit Krieg zu überziehen, ist unmöglich, indem in einem Staate, in welchem alle gleich sind, der Raub nicht Beute einiger weniger werden, sondern unter alle sich gleich vertheilen müßte, dieser Anteil des Einzelnen aber nimmer mehr die Mühe des Krieges lohnen würde. Nur da, wo der Vortheil den wenigen Unterdrückern zuteil wird, der Nachtheil aber, die Mühe, die Kosten, auf das zahllose Heer der Sklaven fällt, ist ein Raubkrieg möglich und begreiflich,,39. Dieselbe Überlegung findet sich auch in Kants Schrift Zum ewigen Frieden, wo es im Ersten Definitivartikel heißt: "Wenn (wie es in dieser Verfassung [der republikanischen, H.M.] nicht anders sein kann) die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ,ob Krieg sein solle, oder nicht', so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten (als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Habe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern; zum Übermaße des Übels endlich noch eine, den Frieden selbst verbitternde, nie (wegen naher immer neuer Kriege) zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen,,40. Unter dem Eindruck der Niederlage Preußens gegen Napoleon im Jahre 1806 hat sich Fichte dann von dieser an die Staatsform geknüpften Friedensvorstellung definitiv abgewandt und ist in seinem Machiavelli-Aufsatz zu einer Vorstellung von äußerer Politik gelangt, die er in seiner früheren Kritik der Gleichgewichtsvorstellungen noch entschieden verworfen hat. Es sei zu wünschen, schreibt er nun, daß "unsere Politiker" sich von der Richtigkeit zweier Sätze überzeugten und sich von ihnen als politische Direktiven niemals eine Ausnahme gestatteten: ,,1. Der Nachbar ( ... ) ist stets bereit, bei der ersten Gelegenheit, da er es mit Sicherheit können wird, sich auf deine Kosten zu vergrößern. Er muß es tun, wenn er klug ist, und kann es nicht lassen, und wenn er dein Bruder wäre.

2. Es ist gar nicht hinreichend, daß du dein eigentliches Territorium verteidigst, sondern auf alles, was auf deine Lage Einfluß haben kann, behalte unverrückt die Augen offen, dulde durchaus nicht, daß irgend etwas innerhalb dieser Grenzen deines Einflusses zu deinem Nachteil verändert werde, und säume keinen Augenblick, wenn du darin etwas zu deinem Vorteile verändern kannst; denn sei versichert, daß der andere dasselbe tun wird, sobald er kann, versäumst du es nun an deinem Teile, so bleibst du hinter ihm zurück. Wer nicht zunimmt, der nimmt, wenn andere zunehmen, ab,,41.

38 Vgl. Volker Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf ,Zum ewigen Frieden'. Eine Theorie der Politik, Darmstadt 1995, 79 ff. 39 Fichtes Werke (Anm. 4), Bd. 11, 274f. 40 I. Kant, Zum ewigen Frieden (Anm. 36), 205 f.

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Dieser Auffassung hatte sich Fichte freilich bereits vor der preußischen Katastrophe angenähert, finden sich doch in der 14. Vorlesung seiner Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters ganz ähnliche Überlegungen. "In diesem allgemeinen Ringen der Kräfte", heißt es da über die machtpolitischen Konstellationen in Europa, "will es noth thun, keinen Vortheil aus der Hand zu lassen; denn der Nachbar wird ihn sogleich ergreifen; ( ... ) Wer hier nicht vorwärts schreitet, kommt zurück, und kommt immer mehr zurück, bis er endlich seine politische Selbständigkeit verliert, ( ... ),,42. Doch in den Grundzügen handelt es sich bei diesen Passagen um eine Beschreibung des ,,zeitalters der vollendeten Sündhaftigkeit", das für Fichte den Tiefpunkt der menschheits geschichtlichen Entwicklung darstellt, und deswegen kann Fichte hier noch von den Bürgern eines in diesen Konflikten untergegangenen Staates sagen: "Sie behalten, was sie wollen und was sie beglückt: der sonnenverwandte Geist wird unwiderstehlich angezogen werden und hin sich wenden, wo Licht ist und Recht". Und er schließt mit einer nachhaltigen Distanzierung von dieser Form der politischen Geschichte: "In diesem Weltbürgersinne können wir denn über die Handlungen und Schicksale der Staaten uns vollkommen beruhigen, für uns selbst und unsere Nachkommen, bis ans Ende der Tage,,43. Wie anders dagegen ist die Beurteilung des Gleichgewichtssystems im Machiavelli-Aufsatz: ,,Man glaube nicht", schreibt Fichte hier, "daß, wenn alle Fürsten so dächten, und nach den aufgestellten Regeln handelten, der Kriege in Europa kein Ende nehmen würde. Vielmehr wird, da keiner den Krieg anzufangen gedenkt, wenn er es nicht mit Vorteil kann, alle aber stets gespannt und aufmerksam sind, keinem irgend einen Vorteil zu lassen, ein Schwert das andere in Ruhe erhalten, und es wird ein langwieriger Friede erfolgen, der nur durch zufällige Ereignisse, als da sind, Revolutionen, Sukzessionsstreitigkeiten, u. dgl., unterbrochen werden könnte,,44. Ein recht verstandenes Gleichgewichtssystem wird hier zum Garanten eines leidlich erträglichen Friedens. An dieser Auffassung hat Fichte noch in dem 1812 vorgetragenen System der Rechtslehre festgehalten 45 , freilich gemildert um die Aussicht, daß dieser Zustand durch die Errichtung eines Völkerbundes, der ein mit Zwangs gewalt versehener rechtlicher Wille sei, beendet werden könne. "Aber wie soll es dazu kommen?", fragt er und antwortet: "Dies ist eine unauflösliche Aufgabe an die göttliche Weltregierung,,46. 41 Jolumn Gottlieb Fichte, Werke, I. Erg.bd.: Staatsphilosophische Schriften, hrsg. v. Hans Schulz, Leipzig 1919,23 f. 42 Fichtes Werke (Anm. 4), Bd. VII, 211 f. 43 Ebd., 212. 44 J. G. Fichte, Werke, I. Erg.bd. (Anm. 41), 26. 45 ,,Es folgt darum, daß alle durch das Recht und die Pflicht der Selbsterhaltung genötigt sind, einander immerfort argwöhnisch zu beobachten, stets gerüstet zu sein, keine Gelegenheit sich entgehen zu lassen, wo sie sich verstärken können. Denn jeder versäumte Gewinn kann einst der Grund ihres Untergangs sein". Johann Gottlieb Fichte, Ausgewählte politische Schriften, hrsg. v. Zwi Batscha u. Richard Saage, Frankfurt a.M. 1977,352. 46 Ebd., 353.

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Worauf Fichte im System der Rechtslehre freilich verzichtet, ist eine Wendung im Machiavelli-Aufsatz, in der er die Sicherung militärischer Schlagkraft für den Fall der Fälle durch regelmäßige Kolonisationskriege empfiehlt: "Und da gleichwohl die Kriegsführung nicht ausgehen darf, wenn die Menschheit nicht erschlaffen, und für den späterhin doch wieder möglichen Krieg verderben soll, so haben wir ja noch selbst in Europa, noch mehr aber in den anderen Weltteilen, Barbaren genug, welche doch über kurz oder lang, mit Zwang dem Reiche der Kultur werden einverleibt werden müssen. In Kämpfen mit diesen stähle sich die Europäische Jugend, ( ... ),,47. Offenkundig macht Fichte den Umstand, daß Preußen solche Kriege nicht geführt hat, für die verheerende Niederlage von Jena und Auerstedt und die anschließende Abfolge kampfloser Kapitulationen mitverantwortlich. Außerdem habe man seit der Französischen Revolution - und diesen Vorwurf macht sich Fichte offenbar auch selbst - den "Lehren vom Menschenrechte und von der Freiheit und ursprünglichem Gleichheit aller" ein zu großes Gewicht beigelegt und darüber die Realitäten der Staatskunst vergessen. "Gar flach, kränklich und armselig" sei die ,.zeit-Philosophie" geworden, und das nicht zuletzt, weil sie sich "ganz besonders ( ... ) verliebt (habe) in den ewigen Frieden,,48. Als Heilmittel gegen diese lange Zeit auch von ihm selbst gehegte Illusion empfiehlt Fichte sich und anderen die Schriften Machiavellis. In seiner Vorlesung Ueber den Begriff des wahrhaftigen Krieges, die er unter den ersten Eindrücken des beginnenden Befreiungskrieges konzipierte, hat Fichte diese Position erneut einer grundlegenden Revision unterzogen. Er entwickelt hier zwei gegensätzliche Vorstellungen über den Krieg, die nur näherungsweise als die zwischen Fürsten- und Volkskrieg bezeichnet werden können, insofern sie zugleich auf grundlegend verschiedenen Auffassungen von Sinn und Zweck des menschlichen Lebens beruhen. Pointiert wird man wohl sagen können, daß Fichte hier seine Vorstellungen von einem entfremdeten und einem unentfremdeten Leben in äußerster Zuspitzung vorgetragen hat. Zunächst zur ersten Vorstellung: Ihr zufolge ist das zeitliche irdische Leben der erste und höchste Zweck menschlicher Existenz. Daraus folgt nun als nächster Zweck die Sicherung und Mehrung des Eigentums, das dazu dienen soll, dieses Leben "so mächtig, so bequem, und so angenehm als möglich zu führen: irdische Güter und Besitzthümer, immer nur bezogen auf Erhaltung und Annehmlichkeit des irdischen Lebens, - und die Wege, um zu diesen zu gelangen, Gewerbefleiss und Handel. Blühende Gewerbe und so viel möglich Menschen durch einander in möglichstem Wohlstande, - dies. das höchste Gut, der Himmel auf Erden; etwas Höheres giebt die Erde nicht,,49. Um dies zu sichern, bedarf es des Staates, der das Eigentum schützt; der Staat ist somit eine "Anstalt der Eigenthümer"so. Die Menschheit zerfällt demzufolge in Eigen47 48 49

50

Fichte, Werke, 1. Erg.bd. (Anm. 41), 26. Ebd.,28f. Fichtes Werke (Anm. 4), Bd. IV, 402. Ebd., 403.

J. G.

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tümer und Nicht-Eigentümer; erstere halten sich den Staat, letztere haben zu dienen. Fichte führt diese Unterscheidung bis in die Militärverfassung fort, wenn er sagt: "Wer eigenes Vermögen hat, dient nicht: der Diener dient, weil er nichts hat, um seinen Sold, der Soldat. Wer einen Diener hat, thut die Dienste, für die er diesen bezahlt, nicht selber. Das Zeichen - die Cantonfreiheit,,51. Dabei ist es den Eigentümern gleichgültig, wer sie schützt, wenn sie nur geschützt werden; damit entsteht freilich das Problem, daß sie sich selbst nicht gegen ihre Verteidiger verteidigen können und also ihnen geben müssen, was sie verlangen. Die Verteidiger nun machen ihr Verteidiget:amt zum Erbbesitz, es entstehen Adels- und Herrscherfamilien, zwischen denen zunehmend Konflikte über die Größe der je zu verteidigenden Distrikte entstehen. Die daraus erwachsenden Kriege sind reine Kriege der Herrscherfamilien, in die sich einzumischen für die Eigentümer eine Torheit wäre. Wer auch immer in diesen Kriegen siegt, kann ihnen gleichgültig sein, wenn er nur die Schutzfunktion übernimmt, die ihm von den Eigentümern zugedacht worden ist und für die er qua Steueraufkommen bezahlt wird. Unter Bezugnahme auf die berühmte Erklärung des Berliner Stadtkommandanten nach Bekanntwerden der Niederlage von Jena und Auerstedt, wonach der König eine Bataille verloren habe und Ruhe die erste Bürgerpflicht sei, fahrt Fichte fort: ,,Nur der Augenblick, so lange er (der Kampf, H.M.) unentschieden ist, ist gefahrlich; denn aller Kampf verheert das Eigenthum. Wahrend desselben ist Ruhe die erste Bürgerpflicht. Bürger heisst Eigenthümer und Gewerbetreibende, im Gegensatze des Söldners. Ruhe, dass er ganz neutral, in sein Haus verschlossen, bei verrammelten Fenstern, den Ausgang abwarte und sehe, wen derselbe ihm zum künftigen Vertheidiger geben werde, womöglich für einen guten Vorrath weissen Brotes, frischen Fleisches und stärkender Getränke gesorgt habe, mit denen er, nach Ausgang des Kampfes, dem Sieger, welcher von beiden es sey, sich empfehle und dessen Gewogenheit gewinne,,52. Ganz unverkennbar zielt Fichte mit dieser Darstellung auf den Krieg von 1806, zumal wenn er damit fortfährt, daß eine Verkürzung des Kampfes unter diesen Umständen ganz im Interesse der Eigentümer liege: Unzeitiger Widerstand sei darum nicht am Platze, die Festungen sollten übergeben, die Staatsgüter angezeigt, die Gewehre weggeworfen werden. Die Eigentümer haben nichts verloren, wenn sie nun dem neuen Herrn zahlen, was sie zuvor dem alten gaben. Nicht ohne bittere Distanz referiert Fichte ihre Überlegungen: "Es wird ja doch auszuhalten seyn, der Feind wird schon Manneszucht halten, es ist dies sein eigener Vortheil, und dergleichen: mit solchen Worten trösten sich die Feigen untereinander,,53. Sie haben sich aber verrechnet, wenn - und auch hier steht die unmittelbare Vergangenheit Pate - der Sieger, statt Gewerbefreiheit zu garantieren, eine Handelssperre verhängt, statt die Kantonsfreiheit fortzuführen, Konskriptionen vornimmt und wenn 51 52

53

Ebd.,404. Ebd., 406. Ebd.,408.

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er schließlich obendrein erheblich mehr Geld verlangt als der alte Beschützer. Durch seine Politik der Kontinentalsperre gegen England wie die Fortsetzung der kriegerischen Expansion habe Napoleon die Eigentümer düpiert. Dagegen stellt Fichte nun die andere Vorstellung vom Leben. Sie geht über das erscheinende und zeitliche Leben hinaus auf die sittliche Aufgabe der Menschen; um sich ihr zu stellen, ist das zeitliche Leben ein bloßes Mittel. Es ist die Freiheit des Menschen in der Annahme dieser Aufgabe, die erst dem Leben seinen Wert verleiht. Hier also steht die Freiheit als Ermöglichung der auf menschliche Selbstverwirklichung zielenden Tathandlung höher als die physische Existenz. Fichte faßt dies prägnant zusammen: "Freiheit ist das höchste Gut. Alles andere nur das Mittel dazu, gut als solches Mittel, uebel, falls es dieselbe hemmt. Das zeitliche Leben hat darum selbst nur Werth, inwiefern es frei ist: durchaus keinen, sondern es ist ein Uebel und eine Qual, wenn es nicht frei seyn kann. Sein einziger Zweck ist darum, die Freiheit fürs erste zu brauchen, wo nicht, zu erhalten, wo nicht, zu erkämpfen; geht es in diesem Kampfe zu Grunde, so geht es mit Recht zu Grunde, und nach Wunsch; denn das zeitliche Leben - ein Kampf um Freiheit. Das Leben selbst, das ewige, geht nicht zu Grunde, keine Gewalt kann es geben oder nehmen: der Tod ist dann, wo es das zeitliche Leben nicht seyn konnte, der Befreier,,54. Die geschichtsphilosophische Konstruktion der fünf aufeinanderfolgenden Zeitalter, wie Fichte sie in den Grundzügen entwickelt hatte, wird hier durch eine existenzielle Alternative unterlegt und dramatisiert: Im Übergang vom ,,zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit" zu dem der "anhebenden Rechtfertigung" muß jeder einzelne sich entscheiden hinsichtlich des Lebens, das er zu führen gedenke. Die Alternativen, zwischen denen die Entscheidung zu treffen ist, sind freilich nicht gleichgewichtig, denn die erste Vorstellung vom Leben führt in eine Fülle von Verkehrungen und Aporien: die Spaltung der Gesellschaft in Eigentümer und NichtEigentümer, den Aufstieg der bewaffneten Diener zu Herren infolge des militärischen Desinteresses der Eigentümer, schließlich die Auslieferung der Eigentümer an jeden beliebigen bewaffneten Herrn, je nachdem, wer im Kampf den Sieg davonträgt, und damit auch an seine Willkür und Launen. Die Grundsätze des Eigennutzes geraten dabei mit sich selbst in Widerspruch. Dem steht die zweite Vorstellung des Lebens gegenüber, bezüglich deren politischer Konsequenzen Fichte feststellt: ,,Alle sind frei durch ihr Leben als Menschen, sind die zeitliche Gestalt der Vernunft auf dieselbe Weise, haben darum gleiche Ansprüche auf Freiheit: darüber und jenseits dieser Ansprüche nichts. Darum alle gleich, nicht zwei Stände, sondern Einer,,55. Die Konsequenz dieser Vorstellung des Lebens ist die Enthegung des Krieges, der nun bedingungslos und bis zum Äußersten zu führen ist - was, wie oben gezeigt worden ist, in Fichtes Sicht eine unabdingbare Voraussetzung dafür ist, daß Napoleon besiegt werden kann. Der Krieg, der unter diesen Umständen zu führen S4

5S

Ebd., 410f. Ebd., 411.

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ist, ist der eigentliche oder wahrhaftige Krieg, er ist der Krieg des Volkes: "Die allgemeine Freiheit, und eines jeden besondere ist bedroht; ohne sie kann er leben gar nicht wollen, ohne sich für einen Nichtswürdigen zu bekennen. Es ist darum jedem für die Person und ohne Stellvertretung, - denn jeder soll es ja für sich selbst thun, - aufgegeben der Kampf auf Leben und Tod,,56. Es ist naheliegend, an dieser Stelle Fichtes Vorlesung Ueber den Begriff des wahrhaftigen Krieges mit dem HerrKnecht-Kapitel in Hegels Phänomenologie des Geistes zu parallelisieren, um die konträren Vorstellungen von Freiheit und Selbstbewußtsein zu konturieren. "Nur frei", so Fichte, ,,hat das Leben Werth: ich muß darum, da die Ueberwindung meiner Freiheit mich beraubt, nicht leben, ohne als Sieger. Der Tod ist dem Mangel der Freiheit weit vorzuziehen,,57. Dagegen endet bei Hegel die Suche nach der Wahrheit der Gewißheit seiner selbst, wenn sie in einem Kampf auf Leben und Tod zweier Selbstbewußtseine zum Erfolg gebracht werden soll, in einer Katastrophe des Scheiterns für beide, den Sieger wie den Verlierer dieses Kampfes: "Diese Bewährung aber durch den Tod hebt eben so die Wahrheit, welche daraus hervorgehen sollte, als damit auch die Gewißheit seiner selbst überhaupt auf; denn wie das Leben die natürliche Position des Bewußtseins, die Selbständigkeit ohne die absolute Negativität ist, so ist er die natürliche Negation desselben, die Negation ohne die Selbständigkeit, welche also ohne die geforderte Bedeutung des Anerkennens bleibt. ( ... ) Thre Tat ist die abstrakte Negation, nicht die Negation des Bewußtseins, welches so aufhebt, daß es das Aufgehobene aufbewahrt und erhält, und hiermit sein Aufgehobenwerden überlebt,,58. Hegel führt diese Überlegungen weiter bis an den Punkt, an dem er zeigen kann, daß nicht Kampf, sondern Arbeit die Lösung bei der Suche nach Anerkennung ist. Hegels und Fichtes Behandlung von Krieg und Kampf weisen in deutlich verschiedene Richtungen59 . Wie Hegel 56 Ebd., 412. Es ist deswegen falsch, wenn Dieter Bergner meint, Fichte habe mit seiner Ablehnung der "landläufigen Ansicht" des Krieges die Haltung des Bürgertums gegenüber den ,preußischen Feudalkriegen' vertreten; tatsächlich ist Fichtes Vorstellung vom "wahrhaftigen Krieg" den Interessen des Bürgertums scharf entgegengesetzt. Vgl. Dieter Bergner, Johann Gottlieb Fichte - Skizze seines Lebens und seiner Philosophie, in: Wissen und Gewissen. Beiträge zum 200. Geburtstag Johann Gottlieb Fichtes, hrsg. v. Manfred Buhr, Berlin 1962,24. 57 Fichtes Werke (Anm. 4), Bd. IV, 412. 58 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. Johannes Hoffmeister, 6. Aufl., Hamburg 1952, 145. 59 Etwa zu der Zeit, als Fichte voll Genugtuung die Nachricht vom Rheinübergang der Schlesischen Armee Blüchers empfing, berichtete Hegel an Niethammer vom Eintreffen der siegreichen Russen, Preußen und Österreicher in NünIberg: ,,Ludwig erwarte ich auf die Feiertage. ( ... ) Er war hier unter anderem, um unsere Befreier durchziehen zu sehen (wenn einmal par hazard Befreite zu sehen sein werden, werde ich mich auch auf die Beine machen). Ich machte ihn dabei darauf aufmerksam, in welche Gesellschaft er komme, wenn er sich als Freiwilliger an sie anschließe. ( ... ) Der Preis der Einquartierung in den Schenken ist für 1 Russen 1 fl. 12 kr. (doch auch 1 fl. 30 kr., selbst 2 fl.), für einen Oesterreicher 52 kr. (für einen Franzosen war es 48 kr.), für einen Bayer(n) 36 kr., für einen bayerischen Rekruten 24 kr. - welcher Gradationsstempel! Der Russe ist aber 3mal teurer als ein bayerischer Rekrut um 3 Qualitäten willen: 1) des Stehlens, 2) der Läuse, 3) des entsetzlichen Branntweinsaufens

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Herfried Münkler

hat auch Goethe sich geweigert, den Krieg gegen Napoleon und die Franzosen als einen Kampf um die Freiheit zu bezeichnen. Gegenüber dem glühenden Patrioten Heinrich Luden erklärte er nach der Niederlage Napoleons: "Und was ist dann errungen oder gewonnen worden? Sie sagen: die Freiheit. Vielleicht würden wir es aber Befreiung nennen; nämlich Befreiung nicht vom Joche der Fremden, sondern von einem fremden Joche. Es ist wahr: Franzosen sehe ich nicht mehr und nicht mehr Italiener, dafür aber sehe ich Kosaken, Baschkiren, Kroaten, Magyaren, Kassuben, Samländer, braune und andere Husaren. Wir haben uns seit einer langen Zeit gewöhnt, unseren Blick nur nach Westen zu richten und alle Gefahr nur von dort her zu erwarten, aber die Erde dehnt sich auch noch weithin nach Morgen aus,,60. Daß Fichte gänzlich anderer Auffassung war, zeigt eine Passage seiner Kriegsvorlesung, in der er noch einmal alle Konsequenzen seiner Freiheitsvorstellung für die Art der Kriegführung zusammenstellt: "Kein Friede, kein Vergleich, von seiten des Einzelnen zuvörderst. Das, worüber gestritten wird, leidet keine Theilung: die Freiheit ist, oder ist nicht. Kein Kommen und Bleiben in der Gewalt, vor allem diesem steht ja der Tod, und wer sterben kann, wer will denn den zwingen? ( ... ) Anstrengung aller Kräfte, Kampf auf Leben und Tod, keinen Frieden ohne vollständigen Sieg, ( ... ). Keine Schonung, weder des Lebens, noch Eigenthums, keine Rechnung auf künftigen Frieden,,61. In seinem Entwurf zu einer politischen Schrift im Frühlinge 1813, die Fichte in Anschluß an die erste Fassung seiner Vorlesung Über den Begriff des wahrhaftigen Krieges ausgearbeitet hat, und in Reaktion auf den Aufruf des Königs An mein Volk, hat er den Gegensatz ( ... ). Das ist auch wieder zu sagen, daß hier und anderwärts gegen Art. 1 und 3 ein gutes Scheitholz viel half und sie auf die Knie brachte, gegen Art. 2 freilich nicht. ( ... ) Die Befreiung sollte, meine ich, eine Befreiung von den Lasten des vorigen Systems sein; das Bessere kommt jedoch erst nach. Das Vortreffliche, das bereits geschehen, liegt meinem Interesse noch zu fern, z. B. daß die ehemals freie Republik Holland einen prince souverain statt eines roi erhalten. - Ich denke bloß an mich und sehe, wenn wir das erhalten und erlangen, was wir zu erlangen wünschen, für eine überschwengliche Frucht der vertriebenen Unterdrückung [an], - um so mehr, wenn die hiesige Pastete zur alten Herrlichkeit zurückerblühen sollte". Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Brief an Niethammer vom 23. Dez. 1813, in: Briefe von und an Hegel, hrsg. v. Johannes Hoffmeister, Bd. 11: 1813 -1822,3. Aufl., Hamburg 1969, 14f.; Hegels Nähe zur napoleonischen Protektion wird relativiert bei Domenico Losurdo, Hegel und das deutsche Erbe. Philosophie und nationale Frage zwischen Revolution und Restauration, dt. von E. Brielmayer, Köln 1989, 207ff. 60 Zit. nach Wilhelm Treue, Deutsche Geschichte, 2. Aufl., Stuttgart 1958,493 f. Die nachhaltige Distanzierung von den Ursachen, die sich auch bei Hegel findet ("mehrere Hunderttausend Kosaken, Baschkiren, preußische Patrioten u.s.f. näherten sich", Brief an Niethammer vom 21. Mai 1813, in: Briefe von und an Hegel [Anm. 59], Bd. 11, 6), war ein Symbol für die Distanzierung gegenüber dem Programm der antinapoleonischen Politik. Ganz anders klingt der Bericht Niebuhrs über die Kosaken: "Sie sind die originellsten Erscheinungen. Sie biwakieren mit ihren Pferden in der Stadt. Um vier Uhr morgens klopfen sie an den Türen und verlangen Frühstück. Für die Kinder ist es ein herrliches Leben; sie setzen sie auf die Pferde und hätscheln mit ihnen. Es sind auch Kalmücken und Baschkiren mitgekommen; indes wohl nur wenige hier geblieben. Die Kosaken selbst zeigen letztere wie eine Art Wundertier"; zit. nach 1813 - 1815 (Anm. 2), 56. 61 Fichtes Werke (Anm. 4), Bd. IV, 413.

Fichte als Philosoph des Krieges

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zwischen Fürsten- und Volkskrieg noch einmal aufgegriffen und zugespitzt. So schreibt er über den "Krieg für die Landesherrschaft": "Es ist ein Krieg des Interesses, des Mein und Dein. ( ... ) Drum die Kraft des ,U nterthanen " sein Blut, ist des Landesherrn; er kann sie mit einem anderen theilen: da giebt er im Frieden Theile ab, um das Ganze zu erhalten, tauscht, arrondirt sich: oder verkauft auch wohl seine Heere an fremde kriegführende Mächte, was ganz in der Consequenz dieses Princips liegt. ( ... ) Tribut- und Soldatengeben, was ist Sklaverei, wenn dies keine ist,,62? Dagegen schreibt Fichte über den Volkskrieg: ,,Jener ist durchaus auf Sieg und volle Wiederherstellung gerichtet; das ganze Volk kämpft, und kein Theil desselben darf ihm verloren gehen, kann aufgegeben werden. Wenn alle so denken, so ist nichts zu erobern als ein leeres Land,,63. Fichte hat, als er diesen Grundgedanken seiner Kriegsphilosophie erneut aufnahm, dies im Kontext der Frage getan, wie aus den in voneinander getrennte Herrschaften zerstreuten Deutschen ein Volk werden könne, und dann festgehalten, daß "auch im Kriege und durch gemeinschaftliches Durchkämpfen desselben ( ... ) ein Volk zum Volke" zu werden vermöge64 . - Es war also ganz folgerichtig, daß Fichte, als er vom Rheinübergang Blüchers hörte, sofort an die endgültige Ausarbeitung seiner Wissenschaftslehre dachte.

62 Johann Gottlieb Fichte, Entwurf zu einer politischen Schrift, in: Fichtes Werke (Anm. 4), Bd. VII, 551. 63 Ebd. 64 Ebd., 550.

Jean Pauls Friedens-Predigt Die Ästhetisierung des Krieges in den "Politischen Schriften" Von Peter J. Brenner, Köln

I. Jean Pauls Haltung zum Krieg ist schnell benannt: Er war dagegen - jedenfalls meistens. Manchmal war er auch dafür, und oft läßt sich nicht ausmachen, ob er dagegen oder dafür war. Diese Unklarheit ist unter seinen Zeitgenossen nicht ungewöhnlich. Die Hoffnung späterer Interpreten, die bedeutenden deutschen Autoren der Zeit um 1800 auf pazifistische oder humanistische Positionen festlegen zu können, ist oft enttäuscht worden. Das liegt zunächst in der Natur der Sache, die in diesem Fall europäische Geschichte nach der Französischen Revolution heißt. In der Umbruchs situation nach 1789 war es für die deutschen Schriftsteller nicht leicht, eindeutige, moralgeleitete Stellungnahmen zu den neuen historischen Erfahrungen zu finden. Der wechselhafte Verlauf der Geschichte mit seinen Einflüssen auf den Alltag der Bevölkerung und auf die Berufspraxis der Schriftsteller hat einen häufigen Wandel ebenso wie das unvermittelte Nebeneinander widersprüchlicher Auffassungen mit sich gebracht. Der Verlauf der Französischen Revolution hat zudem Verunsicherungen bei den deutschen Intellektuellen hervorgerufen, die zu einer manchmal uneingestandenen Aushöhlung aufklärerischer Positionen führen konnten. Von dieser allgemeinen Verunsicherung sind Jean Pauls politische Äußerungen in der Zeit seit etwa 1806 geprägt. Der Verlauf der Geschichte hinterläßt in ihnen seine Spuren. Das führt zu einer uneinheitlicheren Wahrnehmung und Beurteilung des Krieges, als sie sich bei seinen Schriftstellerkollegen der vorhergehenden Generation findet. Der publizistisch einflußreichste deutsche Schriftsteller des ausgehenden 18. Jahrhunderts war Christoph Martin Wieland mit seinem Teutschen Merkur, dessen Leitung er bis 1799 innehatte, auch wenn er sich schon zuvor weitgehend aus den Redaktionsgeschäften zurückgezogen hatte. Der Teutsche Merkur - seit 1790 als der Neue teutsche Merkur weitergeführt - war die deutsche Zeitschrift, welche die besten Informationen und Kommentare, meist aus Wie lands eigener Feder, über den Verlauf der Revolution brachte. Die hier entwickelten Auffassungen dürfen als Standardmeinung der deutschen Intellektuellen über die Revolution gelten. Wie für fast alle anderen war für Wieland die Hinrichtung des Bürgers Capet im Januar 1793 der Wendepunkt in seinem zunächst positiven

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Peter J. Brenner

Urteil. Danach hat sich Wieland weiterhin, wenn auch sehr verhalten, optimistisch über die Möglichkeiten der Revolution geäußert. Zum entschiedenen Kritiker der von der Revolution ausgehenden Entwicklungen - uJ;ld durchaus nicht der Revolution selbst - wird er erst in dem Moment, als er wahrnimmt, daß die Revolution Krieg für Europa bedeutet. Diese Konsequenz ist er nicht mehr zu akzeptieren bereit, und entsprechend unzweideutig sind seine Kommentare. In seinem Aufsatz Über Krieg und Frieden. Geschrieben im Brachmonat 1794 - also im Juni - äußert er sich über den schon seit zwei Jahren anhaltenden Ersten Koalitionskrieg. Er gibt eine ziemlich präzise Einschätzung der welthistorisch neuen Lage, die dadurch eingetreten ist. Wieland macht noch einmal - zum letzten Mal - die aufklärerische Standardauffassung zum Thema "Krieg" deutlich: Es kann durchaus Situationen geben, in denen das Interesse der Nation einen Krieg erforderlich macht; aber er darf erst geführt werden, wenn kein anderer vernünftiger Ausweg mehr möglich ist: ,,Nur unvermeidliche Nothwendigkeit kann einen Krieg erlaubt machen", und der "Krieg an sich, oder, was eben so viel ist, ein ewiger Krieg. aller gegen alle, kann nie der Zweck policierter Völker seyn. "I Die französischen Revolutionäre haben diese Regel außer Kraft gesetzt. Ihr Krieg markiert den Anfang des absoluten Krieges, der im "Weltbürgerkrieg" münden wird2 • Das französische Volk sei von den eifernden Führern der Revolution betrogen und in einen Krieg getrieben worden, der seinen Interessen und erst recht denen der Vernunft nicht entspreche: ,,Die Franzosen selbst haben den gegen sie vereinigten Mächten, ja, in der Trunkenheit ihres tollen Freyheits- und Gleichheitseifers, allen Staaten der Welt einen Krieg angekündigt, der nur mit dem gänzlichen Umsturz aller jetzt bestehenden Verfassungen aufhören sollte.,,3

Die Ideologisierung des Krieges durch die Revolutionäre hat eine vernunftwidrige Auffassung des Krieges herbeigeführt. Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung gibt Wieland den Fürsten der Koalition den Rat zur Mäßigung: "einen Feind, der das Leben so wenig achtet, dass er eine heutige Niederlage als eine Verpflichtung morgen zu siegen ansieht, einen solchen Feind zur äussersten Verzweiflung zu treiben, kann in keinem Falle ein Rath der Klugheit seyn!,,4

Um 1800 zieht sich Wieland fast völlig aus dem Kommentieren politischer Tagesaktualität zurück und widmet sich seinen großen Antike-Romanen, obwohl er erst 1813 starb und also den Aufstieg wie den Anfang vom Ende der napoleonischen Ära noch erlebt hat. 1 Christoph Martin Wieland, Über Krieg und Frieden. Geschrieben im Brachmonat 1794, in: ders., Sämmtliche Werke, Bd. 29, Leipzig 1797,492- 516, hier 496f. 2 V gl. Hanno Kesting, Geschichtsphilosophie und Weltbürgerkrieg. Deutungen der Geschichte von der Französischen Revolution bis zum Ost-West-Konflikt, Heidelberg 1959, 15 - 23. 3 Wieland, Über Krieg und Frieden (Anm. 1),504 f. 4 Ebd., 516.

Jean Pauls Friedens-Predigt

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Eine ganz ähnliche Entwicklung läßt sich bei Friedrich Gottlieb Klopstock beobachten, dem Heros der deutschen Schriftsteller der siebziger und frühen achtziger Jahre, dessen Ruhm freilich um 1800 schon verblaßt.war. Klopstock war bedingungsloser Befürworter der Revolution, auch nach der Hinrichtung des Königs, und für ihn führt ebenso der durch die Revolution ausgelöste Krieg zu einem Wandel in seiner Einschätzung. Unmittelbar nach der Revolution, 1790, kennzeichnet er es als eines ihrer großen Verdienste, des Krieges Herr geworden zu sein: "Was vollbringet sie nicht! Sogar das gräßlichste aller Ungeheuer, der Krieg, wird an die Kette gelegt! Cerberus hat drei Rachen; der Krieg hat tausend: und dennoch Heulen sie alle durch dich, Göttin, am Fesselgeklirr. ,,5

Angesichts dieser großen Bedeutung, die er der Fesselung des Krieges durch die Revolution zugeschrieben hat, ist es nicht überraschend, daß die spätere gegenteilige Erfahrung für ihn zum Hauptmoment seiner Enttäuschung über die Revolution wird. In der Ode Der Erobrungskrieg widerruft er seine frühere Einschätzung: ,,Jetzo lag an der Kette das Ungeheuer, der Greuel Greue!! itzt war der Mensch über sich selber erhöht! Aber, weh uns! sie selbst, die das Untier zähmten, vernichten Ihr hochheilig Gesetz, schlagen Erobererschlacht. Hast du Verwünschung, allein wie du nie vernahmst, so verwünsche!

_,,6

Klopstock ist 1803 gestorben, so daß er die weiteren Folgen der Revolution nicht mehr erfahren und kommentieren konnte. Beide, Wieland wie der vier Jahre ältere Klopstock, sind in ihrer Stellung zur Revolution und zum Krieg bestimmt vom Erbe der Aufklärung. Auch wenn inzwischen bekannt ist, daß das aufklärerische Denken über den Krieg keineswegs eindeutig war, so läßt sich doch cum granD salis konstatieren, daß der Krieg als akzeptables Mittel der Politik weitgehend abgedankt hatte. Er vertrug sich schlecht mit einem Fortschrittsdenken, das sein Telos in der allgemeinen Kultivierung der Menschheit gesehen hatte. Die Revolution, das ist bekannt, hat dazu geführt, daß der Krieg innerhalb der Tradition aufklärerischen Denkens als Mittel einer Fortschritts-Politik wieder rehabilitiert wurde - freilich ein Krieg neuen Typs und mit neuer moralischer Legitimation 7 • Die "Enthegung des Krieges durch die Französische Revolution"g ist eine Umkehrung der vorherigen Tendenz in den absolutistischen Staaten, den Krieg einzugrenzen. Wahrend diese sich gerade anschickten, ihr militärisches Potential zu reduzie5 Friedrich Gottlieb Klopstock. Sie und nicht wir. An La Rochefoucauld, in: ders., Ausgewählte Werke, München 1962, 142. 6 Friedrich Gottlieb Klopstock, Der Erobrungskrieg, in: ders., Ausgewählte Werke, München 1962, 150. 7 Vgl. Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1: Die Grundlagen, Freiburg i. Br. 1929, 126. 8 Herfried Münkler, Gewalt und Ordnung. Das Bild des Krieges im politischen Denken, Frankfurt a.M. 1992,54.

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ren, begann im revolutionären Frankreich die militärische Eskalation9 . Die ,,Neubewertung des Krieges als moralischer Anstalt" setzt sich um die Jahrhundertwende durch, nachdem schon zuvor erkennbar wurde, daß die philosophisch-ethische Ächtung des Krieges durch die Aufklärung in Auflösung begriffen war lO • Bis hin zu Kant, der immer nur als Propagandist des ,,Ewigen Friedens" gewürdigt wird, finden sich Hinweise auf die moralisch kräftigende Wirkung des Krieges 11 •

11. Diese Situation - die Ablehnung des Krieges bei der älteren Generation der aufklärerischen Schriftsteller und seine Rehabilitierung durch die Revolution - ist die Ausgangslage für Jean Pauls Stellung zum Krieg, sie ist aber nicht ihre Grundlage. Denn Jean Paul entwickelt in seinen "Politischen Schriften" originäre Positionen, die sich nur im Plural kennzeichnen lassen, da ihnen jene Eindeutigkeit fehlt, mit der sich die älteren Autoren geäußert hatten 12 . Seine ersten Auseinandersetzungen mit dem "Krieg" werden herausgefordert durch die Französische Revolution. In seinen frühen ,,hohen Romanen" Die Unsichtbare Loge, Hesperus und Titan, die zwischen 1796 und 1803 erschienen, spielt die Revolution thematisch eine zentrale Rolle - und mit ihr die Frage des Krieges. Mit diesen drei frühen Romanen wurde er zum populärsten deutschen Schriftsteller um die Jahrhundertwende 13 • Ihre heute schwer nachvollziehbare Popularität verdanken sie ihrer empfindsamen Komponente; Jean Paul bedient auf originäre Weise das Bedürfnis eines vornehmlich weiblichen Roman-Publikums. Daneben aber sind alle drei Romane politische Romane. Es hat mühseliger und forschungsgeschichtlich spät angesiedelter germanistischer Arbeiten bedurft, um hinter dem Dickicht von Jean Pauls eigenwilligempfindsamem Stil die politischen Handlungslinien herauszuarbeiten. Dabei ist deutlich geworden, daß für Jean Paul eine im Geist der Aufklärung rezipierte Französische Revolution einen entscheidenden Impuls darstellte und daß sich in diesen Vgl. ebd., 6l. Johannes Kunisch, Von der gezähmten zur entfesselten Bellona. Die Umwertung des Krieges im Zeitalter der Revolutions- und Freiheitskriege, in: ders., Fürst - Gesellschaft Krieg. Studien zur bellizistischen Disposition des absoluten Fürstenstaats, Köln I Weimar I Wien 1992, 203 - 226, hier 224. 11 Vgl. Wilhelm Janssen, Art. Krieg, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982,567 - 615, hier 593 f. 12 Die differenzierteste Darstellung der schwankenden, aber im Grundsatz ablehnenden Haltung Jean Pauls zum Krieg findet sich bei Gerhard Sauder; Jean Pauls Kriegsächtung und Friedenspredigt zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Literatur und Geschichte 1788 - 1988, hrsg. v. Gerhard Schulz u. Tim Mehigan in Verbindung mit Marion Adams (Australisch-Neuseeländische Studien zur deutschen Sprache und Literatur, 15), Bem/Frankfurt a.M./New York/Paris 1990,41- 65. 13 Zur schwierigen epochengeschichtlichen Positionsbestimmung Jean Pauls vgl. Peter J. Brenner; Neue deutsche Literaturgeschichte. Vom "Ackermann" zu Günter Grass, Tübingen 1996,116-119. 9

10

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Romanen viele, wenn auch in ihrer ästhetischen Einbindung nicht immer eindeutig interpretierbare politische Aussagen finden. In diesem Zusammenhang gewinnt der "Krieg" einen eigenen Stellenwert. Er wird zum Medium der revolutionären Veränderung. Damit folgt lean Paul einem Modell, das sein Zeitgenosse Wilhelm Friedrich von Meyern in seinem Roman Dya-Na-Sore und seinem fingierten Reisebericht Abdul Erzerum 's neue Persische Briefe vorgebildet hatte. Wie Meyerns Roman zeigt der Titan Anklänge an eine Auffassung, die den revolutionären Impuls des Krieges würdigt. Auch für lean Paul wird der Krieg zum Medium, das "die bestehenden Verhältnisse zugunsten individueller und kollektiver Entfaltungsmöglichkeiten aufzusprengen und zu verändern vermochte."l4 Es ist unübersehbar - und längst bekannt -, daß lean Paul der Revolution große Sympathie entgegenbringt und daß er diese Haltung auf seine Romanhelden überträgt. Anders aber als jene Zeitgenossen, die sich in publizistischen Schriften zur Revolution geäußert haben, kann sich lean Paul eindeutigen Stellungnahmen entziehen, indem er seine Revolutionsbegeisterung in eine fiktionale Romanhandlung überträgt. Der ,,Freiheitskrieg", den die Franzosen zu führen sich anschicken, wird als legitim anerkannt; aber die Stellung zum Krieg bleibt unscharf. Im einschlägigen ,,105. Zykel" des Titan läßt lean Paul seinen Helden Albano die Begeisterung für die gallische Revolution in eine Kriegs-Apotheose einmünden: "Sie können vielleicht sinken, aber um höher zu fliegen. Durch ein rotes Meer des Bluts und Kriegs watet die Menschheit dem gelobten Lande entgegen, und ihre Wüste ist lang; mit zerschnittenen, nur blutig-klebenden Händen klimmt sie wie die Gemsenjäger empor. ,,15

Aber das bleibt selbst in diesem Kapitel nur die halbe Wahrheit. Albanos Vater bringt zunächst aus dem Geist der Aufklärung historisch fundierte Argumente gegen jede Heroisierung des Krieges vor. Albanos Revolutionsbegeisterung gipfelt trotzdem "in dem Entschluß", unter "die Fahnen der Revolutionsarmee zu eilen"l6 - aber er tut es eben dann doch nicht, sondern akzeptiert seine Stellung als Fürst seines Landes, die ihn nicht einen revolutionären Krieg führen lassen kann gegen andere Fürsten. In den anderen beiden ,,hohen Romanen" findet sich die gleiche Unentschiedenheit. Das immer wieder auftretende Revolutionspathos wird im geichen Atemzug durch Re1ativierungen im Handlungsverlauf wieder zurückgenommen l7 . Die zeit14 Johannes Kunisch, Das ,,Puppenwerk" der stehenden Heere. Ein Beitrag zur Neueinschätzung von Soldatenstand und Krieg in der Spätaufklärung, in: ders., Fürst - Gesellschaft - Krieg (Anm. 10), 161 - 201, hier 201. 15 Jean Paul, Titan, in: ders., Werke, Bd. 3, hrsg. v. Norbert Miller, München 1966, 71010, hier 588. 16 Wolfgang Harich, Jean Pauls Kritik des philosophischen Egoismus. Belegt durch Texte und Briefstellen Jean Pauls im Anhang, Frankfurt a.M. o. J., 24. 17 Vgl. Heidemarie Bade, Jean Pauls politische Schriften (Studien zur deutschen Literatur, 40), Tübingen 1974, 16 - 19. Günter Hannemann, Jean Pauls Stellung zu Krieg und Frieden, Diss. masch. FU Berlin 1952, 62 - 64.

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genössische Umwertung des Kriegs durch die Revolution in diesen Romanen ist deutlich präsent, aber sie wird von Jean Paul nicht konsequent vollzogen. Die fiktionale Form des Romans erlaubt es ihm, sich der Entscheidung zu entziehen, die der politische Autor treffen müßte - "innerhalb der Geschichten, die er erzählt, nimmt die Welt der Politik einen ganz und gar nebensächlichen Raum ein,,!8. In dieser Hinsicht ist Jean Paul weit entfernt von Meyerns Dya-Na-Sore, dessen Einfluß auf Jean Paul sonst ebenfalls nur gering zu veranschlagen ist. Amo Schmidts Behauptung!9 eines bedeutenden Einflusses Meyerns auf Jean Paul ist kaum haltb~o; und auch die Wiederholung dieser Behauptung durch Harichs Diktum, daß Dya-Na-Sore ,,in Jean Pauls Entwicklung Epoche" gemacht habe 2 !, ist nicht richtig 22 . Die den ,,105. Zykel" des Titan abschließende Episode liest sich fast wie eine Antwort auf Dya-Na-Sore: Die "Kriegsspiele", die Albano mit einem befreundeten Korsen zur Erzüchtigung von Körper und Seele spielt, nehmen ein unerfreuliches Ende: Die beiden werden sich nicht einig, wofür sie denn in den Krieg ziehen wollen - Albano will für, der Korse gegen die Revolution kämpfen, wie beide am Ende ihrer Beziehung überrascht feststellen 23 . Angesichts solcher Episoden wäre überhaupt zu erwägen, ob die Kriegsbegeisterung von Jean Pauls idealischen Jünglingen tatsächlich so eng mit der Revolutionsbegeisterung verbunden ist, wie es in den großen Romanen scheint. Die literarische Darstellung legt oft die Vermutung nahe, daß Jean Paul den Krieg nur im gleichen 18 Kurt Wölfel, Zum Bild der Französischen Revolution im Werk Jean Pauls, in: Deutsche Literatur und Französische Revolution. Sieben Studien von Richard Brinkmann u. a., Göttingen 1974, 149-171, hier 151. 19 Vgl. Amo Schmidt, Dya Na Sore oder Die blondeste der Bestien, in: ders., Das essayistische Werk zur deutschen Literatur in vier Bänden. Sämtliche Nachtprogramme und Aufsätze. Eine Edition der Amo Schmidt Stiftung, Bd. 2, Zürich 1988, 109 - 136, hier 115 f. 20 Und wer Amo Schmidts Nachtprogramme kennt, würde kaum auf den Gedanken kommen, sie als Quellen für literarhistorische Urteile allzu ernst zu nehmen - sie folgen, bei allen Verdiensten, die sie für die Popularisierung vergessener Autoren gehabt haben, den Gesetzen des Feuilletons und des Gelderwerbs, nicht denen der Philologie. Vgl. Heiko Postma, Lesen ist Lernen & Leben. Amo Schmidt als Essayist und Kritiker, in: Amo Schmidt. Leben - Werk - Wirkung, hrsg. v. Michael M. Schardt u. Hartmut Vollmer, Reinbek 1990, 200 - 215, hier 211 f. 21 Wolfgang Harich, Jean Pauls Revolutionsdichtung. Versuch einer neuen Deutung seiner heroischen Romane, Reinbek 1974, 167. 22 Diese notwendige Feststellung trifft, entgegen anderslautenden Fehlurteilen der Jean Paul-Forschung, Günter de Bruyn, Taten und Tugenden. Meyern und sein deutsches Revolutionsmodell, in: W. Fr. Meyern, Dya-Na-Sore, oder die Wanderer. Eine Geschichte aus dem Sam-skritt übersezt, Frankfurt a.M. 1979, 935 - 995, hier 970 - 972. Zu den jeweils einseitigen Fehlurteilen Harichs wie Schmidts über die politische Konzeption von Meyerns Roman - der eine sieht in ihm einen revolutionären Demokraten, der andere einen reaktionären Kriegstreiber und Vorläufer des SS-Staates - hat de Bruyn ebenfalls das Nötige gesagt - vgl. ebd., 952 f. Auch Bade stellt zu Recht fest, daß Wolfgang Harich nur durch "pauschalierende, unsorgfältige Stilisierungen" zu dem Urteil kommen konnte, daß die drei ,,hohen Romane" Jean Pauls ,,Revolutionsdichtung" seien; Bade, Jean Pauls politische Schriften (Anm. 17), 16. 23 Vgl. Jean Paul, Titan (Anm. 95), 591.

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Sinne benutzt wie die Liebe oder die Natur - als Anlaß für sentimentale Schwärmereien, wie sie für den empfindsamen Roman der Spätaufklärung charakteristisch 4 • Fast idealtysind und denen der auslösende Anlaß ziemlich gleichgültig pisch wird das ganze Konglomerat Jean Paulscher Empfindsamkeit in der Gelegenheitserzählung Erinnerungen aus den schönsten Stunden für die letzten gefaßt: Poesie, Religion, Liebe, Sterben werden hier auf 15 Seiten zusammengedrängt. Der idealische Jüngling Gottreich ist ein verspäteter Nachfahre der Helden aus den frühen großen Romanen Jean Pauls, und auch er will, wie diese, in den Krieg ziehen - diesmal fürs Vaterland. Was die mäandrierende Handlungsführung der heroischen Romane verwischt, wird in der kurzen Erzählung deutlich ausgesprochen. Der Krieg ist Mittel zum Erwecken und Ausleben sentimentaler Empfindungen:

war

,,Die tätigen Kräfte seiner Natur, die bisher nur still seinen poetisch-rednerischen hatten zuhören müssen, standen auf, und es war ihm, als suchten die Flammen der Begeisterung, die bisher, wie die aus einem Naphtaboden, vergeblich in die leere Luft gestiegen, einen Gegenstand zum Ergreifen. ,,25

III.

Jean Pauls Kriegsauffassung steht erkennbar in der Tradition der Aufklärung. Seine "geschichtsphilosophische Stellung zu Krieg und Frieden entspricht ihrer Grundlage nach dem Fortschrittsoptimismus der Aufklärung und der rationalistisch-aufklärerisch verstandenen Philosophie der Stoa. ,,26 Gegenüber der Aufklärung geht er aber eigene Wege. Wielands exemplarische Dichotomisierung von "Krieg" und "Frieden" wird aufgeweicht. Aber es läßt sich beim Übergang vom älteren zum jüngeren Autor - Jean Paul war eine Generation jünger als Wieland nicht einfach von einer "Enthegung" des Krieges im Sinne seiner intellektuellen oder gar moralischen Rehabilitierung sprechen. Im Kern seiner persönlichen Auffassung bleibt Jean Paul sicher ein Kriegsgegner; aber in der öffentlichen Darstellung wird diese Position oft bis zur Unkenntlichkeit und manchmal bis zur gegenteiligen Aussage verwischt. Das Korpus der "Politischen Schriften" Jean Pauls ist überschaubar - es umfaßt etwa 300 Seiten - und besteht im wesentlichen aus vier Texten, die selbst eher wieder locker gefügte Sammlungen sind: Die FriedensPredigt an Deutschland wurde in Auszügen zunächst 1808 in Achim von Amims Zeitung für Einsiedler, dann im gleichen Jahr als broschierte ,,Flugschrift" bei Mohr & Zimmer in Heidelberg publiziert. Die Dämmerungen für Deutschland er24 Vgl. Peter J. Brenner, Die Krise der Selbstbehauptung. Subjekt und Wirklichkeit im Roman der Aufklärung (Studien zur deutschen Literatur, 69), Tübingen 1982, 122 f. 25 Jean Paul, Herbst-Blumine oder gesammelte Werkchen aus Zeitschriften, in: ders., Sämtliche Werke [zuvor: Werke], Abteilung H, hrsg. von Norbert Miller u. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Bd. 3, München 1977, 109 -618, hier 357. 26 Hannemann, Jean Pauls Stellung zu Krieg und Frieden (Anm. 17), 196; vgl. auch 18 f.

IS*

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schienen im auszugsweisen Vorabdruck in Cottas Morgenblatt, dann beim gleichen Verleger 1809 als Buch; Mars' und Phöbus' Thronwechsel war für die Neujahrsausgabe 1814 des Morgenblatts vorgesehen; nach Schwierigkeiten mit der Zensur erschien der Text in erweiterter Form als selbständige Schrift. Abschließend erscheinen die Politischen Fastenpredigten, eine Sammlung von seit 1809 verstreut erschienenen kleineren Texten unterschiedlichen Charakters, die 1817 bei Cotta publiziert wurde 27 . Das Thema des "Krieges" wird, trotz einschlägiger Titel und Zwischentitel dieser Schriften, nie kohärent oder gar systematisch behandelt. Es ist stets verwoben mit Erörterungen der verschiedensten Art. Die in die "Kriegsschriften" eingeflochtenen Komplexe spiegeln zum großen Teil die Diskussionslage der Zeit, und sie lassen sich, bei aller Jean Paulschen Verworrenheit der Darstellung, einigermaßen klar herauspräparieren. Es ist sicher nicht falsch, die Widersprüchlichkeit seiner Aussagen auf einen Nenner zu bringen: "Sobald Jean Paul im allgemeinen vom Krieg spricht, ist er entschiedener Kriegsgegner, dagegen lassen sich die Äußerungen, die eine positive Einstellung zum Krieg ausdrücken, fast durchwegs auf den napoleonischen Krieg beziehen. ,,28 Als grobes Raster taugt diese Differenzierung. Im Detail und erst recht in der Tiefenschicht von Jean Pauls Äußerungen über den Krieg sind jedoch erhebliche Differenzierungen und Verflechtungen zu erkennen. Offenkundig wirkt zunächst eine gemeinaufklärerische Auffassung nach: Kriegskritik ist verbunden mit Fürsten-, Adels- und Staatskritik. Daneben stehen, ebenfalls noch Erbe der Aufklärung wie des Neuhumanismus der Jahrhundertwende, humanitäre Erwägungen, welche die Auswirkungen des Krieges auf den einzelnen und das Volk betreffen. Das ist traditionell und gehört noch dem 18. Jahrhundert an. Zugleich nimmt Jean Paul die neuen Diskussionen auf, die im Gefolge der Französischen Revolution geführt wurden. Die Nationalismus- und Patriotismusdiskussion hat nachhaltige Spuren in seinen "Politischen Schriften" hinterlassen, und es finden sich Einwirkungen des Napoleon-Mythos 29 . Jean Pauls "Politische 27 Zur komplizierten Publikationsgeschichte dieser Texte vgl. Wilhelm von Schramm, Einleitung, in: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch=kritische Ausgabe, Erste Abt., Bd. 14: Politische Schriften, Weimar 1939, V-LVI, hier XXVII-XLVII. 28 Bade, Jean Pauls politische Schriften (Anm. 17), 111. 29 Jean Pauls wiederum schwankende Haltung gegenüber Napoleon, der in den zeitgenössischen Diskussionen stets ein experimentum crucis für den politischen Standort eines Autors darstellte, wurde schon verschiedentlich genauer beschrieben; vgl. Schramm, Einleitung (Anm. 27), XIII-XXI; Bade, Jean Pauls politische Schriften (Anm. 17), 59 - 72; Sauder, Jean Pauls Kriegsächtung (Anm. 12), 52 - 57. Die schwierige zeitgenössische deutsche Haltung zu Napoleon drückt sich am deutlichsten in den einschlägigen Gedichten aus; abgedruckt in: Fremdherrschaft und Befreiung. 1795-1815, hrsg. v. Rohert F. Amold (Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst= und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen. Reihe Politische Dichtung, 2), Leipzig 1932: Johann Isaak Freiherr von Gerning, Bonaparte, 14; Karl Müchler, Der Eroberer, 33 f.; Johann Kaspar Häfeli, Des Siegers Triumph und Wort, 39 f.; Johann Friedrich Schink, Napoleon am Niemen, 113 - 115; Johann Friedrich Schink, Dem Korsen. Schand= und Schimpfode. Zur Feier der Zernichtungsschlacht am 18. und 19. Oktober 1813, 178f.

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Schriften" sind, begünstigt durch die über weite Passagen aphoristische Form, ein Sammelbecken von politischen Äußerungen zu diesen Themenfeldern, in dem sich fast alle zeittypischen Positionen wiederfinden. Das gilt ebenso für seine Äußerungen über den Krieg. Seine Position ist fast klassisch zu nennen - sie ließe sich zurückführen bis zu Heraklit3o . Wie dieser stellt er Vorzüge und Nachteile des Krieges recht unbekümmert und fast ohne Wertung nebeneinander: "Damit aber verknüpft sich Böses zu Gutem; der Krieg will Schnelle, wie der Friede Langsamkeit; der Krieg - wenrr er gut ist - ackert und säet; der Friede pflegt, gießt, behütet und will Zeit, wie der Krieg die Ewigkeit; in diese schickt er. ,,31

Auch der klassische Verweichlichungs-Topos fehlt nicht: "Der Krieg ist die stärkende Eisenkur der Menschheit, und zwar mehr des Teiles, der ihn leidet, als des, der ihn führt. Ein Kriegsstoß weckt die Kräfte auf, die das lange Nagen der täglichen Sorgen durchfrißt. Im Frieden kriecht der Bürger so leicht mit weicher Schlaffheit durch. ,,32

Solche Bemerkungen finden sich ebenfalls in den privaten Briefen: "Aber die jetzige Menschheit bedurfte des stärkenden Kriegs früher als des Friedens, der erst hinter jenem stählt", und in einer Anmerkung fügt er redundant hinzu: "Tagliches Plagen und Nagen mattet ab; ein tapferer Kriegs-Stoß weckt auf m . Auch das zeitgenössische Patriotismus-Argument greift er durchgehend auf: "Das Kriegsfeuer hat (evangelistisch zu reden) gewiß etwas Besseres entzündet als Häuser, nämlich Herzen für Deutschland,,34. Am Ende steht er zweifellos auf der Seite des Friedens - aus sittlichen wie aus alltagspraktischen Gründen, von denen die Briefe hinreichend Zeugnis geben. Aber sein rhetorisches Engagement für den Frieden bleibt lau, und es speist sich oft aus patriotischen Quellen: Nur Deutschland "litt am längsten und härtesten, und nur in ihm wurden Länder und Jahrhunderte mit Kanonenrädern untergeackert,,35. Deshalb bedauert er dieses "gute ehrliche Herz, das fast alle europäischen Kriege mit ihren Kanonen durchbohrten!,,36 Selbst in der 30 Herakleitos: "Der Kampf ist Vater aller Dinge, aller Herrscher ist er, die einen lehrt er Götter, die andem Menschen werden, diese macht er zu Sklaven, jene zu Freien." Die Anfänge der abendländischen Philosophie. Fragmente der Vorsokratiker (Bibliothek der Antike), übers. u. erläutert v. Michael Grünwald, München 1991,97. 31 Jean Paul, Dämmerungen für Deutschland, in: ders., Werke, hrsg. v. Norbert Miller, Bd. 5, 3. Aufl., München 1973,917 -1035, hier 942. 32 Jean Paul, Friedens-Predigt an Deutschland, in: ders., Werke, Bd. 5 (Anm. 31), 877916, hier 913. 33 Jean Paul, Sämtliche Werke. Historisch=kritische Ausgabe, hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 3. Abt., Bd. 5: Briefe 1804-1808, hrsg. von Eduard Berend, Berlin 1961, Brief Nr. 305, 16. 1. 1807, 126. 34 Jean Paul, Dämmerungen (Anm. 31), 1010. 35 Jean Paul, Politische Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche, in: ders., Werke, Bd. 5 (Anm. 31),1069-1193, hier 1190. 36 Jean Paul, Friedens-Predigt (Anm. 32), 882.

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,,Erziehschrift" Levana bezieht er nicht eindeutig Stellung, läßt aber doch die aufklärerische Grundtendenz erkennen, wenn er den Krieg als den "ältesten Barbarismus der Menschheit" bezeichnet und seinem eigenen Zeitalter eine "wachsende Einsicht in dessen Unrechtmäßigkeit" bescheinigt - aber auf der anderen Seite hält er an der alten Vorstellung von der die Völker läuternden Kraft des Krieges, der ,,Ekel- und Vipemkur der Qual" fest 3? Diese Unentschiedenheit ist wohl weniger philosophischer als anthropologischer Natur: Allem programmatischem Rousseauismus zum Trotz ist Jean Pauls Menschenbild von einem tiefen Pessimismus durchtränkt, der nicht erst im Fälbel oder im Katzenberger zum Ausdruck kommes. Eine genauere Betrachtung seiner ,,Politischen Schriften" bestätigt die Feststellung, daß der Autor, der rund dreihundert Seiten über den Krieg geschrieben hat, ihm weitgehend gleichgültig gegenüber gestanden hat und daß er sich dessen bewußt war: "Hätt' ich nicht so viel noch zu schreiben: wahrlich mir würde jedes Kriegsschicksal gleichgültig, und meine Kinder würd ich schon zu stellen wissen,,39. Die aktuellen Ereignisse, so weit sie überhaupt angesprochen werden, interessieren ihn in ihrer Eigengewichtigkeit kaum40 • Sie werden vielmehr fast immer nur zum Anlaß für allgemeine aphoristische Reflexionen über Krieg und Frieden, für fragmentarisierte historische Reminiszenzen oder für seine charakteristischen ,,Metaphernspiele". In bezug auf direkte politische Aussagen zur historischen Situation sind seine drei großen ,,italienischen" Romane trotz ihrer Unentschiedenheiten ergiebiger als seine späteren ,,Politischen Schriften". Die Gleichgültigkeit gegenüber den Kriegsereignissen und ihren Folgen bestätigt ein Blick in seine Briefe aus dieser Zeit. In dem Jahrzehnt von 1805 bis zum Wiener Kongreß hat der fleißige Briefschreiber Jean Paul sich ebenso kontinuierlich wie oberflächlich mit den Kriegsereignissen befaßt. In diesen Jahren finden sich rund zweihundert Bemerkungen über den Krieg41 , in denen sich der geniale Metaphernerfinder nicht unbedingt auf der Höhe seiner Kunst zeigt. Über Jahre hinweg sind es in konstanter Gleichförmigkeit immer nur die "Wolken", Gewitter und Stürme des Krieges, die Jean Paul näher kommen oder über Bayreuth hinwegziehen sieht - ,,in dieser Zeit voll Wolken, die über halb Europa reichen und donnern,,42. Nur vereinzelt geht Jean Paul konkret kommentierend auf die politischen 37

574.

Jean Paul, Levana oder Erziehlehre, in: ders., Werke, Bd. 5 (Anm. 31), 515 - 874, hier

38 Vgl. Sauder, Jean Pauls Kriegsächtung (Anm. 12),47. - Zur ambivalenten Kriegsauffassung Jean Pauls im Rahmen seiner ,,Erziehlehre" vgl. den Kontext ebd., 46 - 49. 39 Jean Paul, Ideen-Gewimmel. Texte & Aufzeichnungen aus dem unveröffentlichten Nachlaß, hrsg. v. Thomas Wirtz u. Kurt Wölfel, Frankfurt a.M. 1996,80. 40 ,)ean Paul spricht eigentlich immer von einer Idee, niemals von der politischen Lage, immer von der Zukunft, niemals von der Gegenwart." Hannemann, Jean Pauls Stellung zu Krieg und Frieden (Anm. 17),47. 41 Frau Stefanie Peters war so freundlich, Jean Pauls Briefe unter diesem Gesichtspunkt für mich durchzusehen und Auszüge anzufertigen. 42 Jean Paul, Sämtliche Werke, Bd. 5 (Anm. 33), Brief Nr. 172,5. 12. 1805,68.

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Ereignisse ein, und nur vereinzelt finden sich allgemeinere moralisch-politische Reflexionen dazu. Diese recht gelassene Haltung ist um so bemerkenswerter, als das Fürstentum Bayreuth zwar nicht direkt von den Kriegsereignissen berührt wurde, aber indirekt erheblich unter den Folgen zu leiden hatte. In den entscheidenden Jahren zwischen 1806 und 1810 stand es unter unmittelbarer französischer Herrschaft und wurde zeitweise mit Einquartierungen und hohen Kriegskontributionen belastet43 , denen sich Jean Paul jedoch zu entziehen wußte44 . Beeindruckt zeigt er sich nur, wenn durch den Krieg seine eigenen, insbesondere seine schriftstellerischen Interessen eingeschränkt werden: Wenn die Post mit den Verlegern unzuverlässig funktioniert, wenn die Zensur verschärft oder der Druck anderweitig behindert wird - oder wenn sein Silberzeug im Krieg gestohlen wird45 . Die Haltung in den Briefen ist ein recht getreues Spiegelbild dessen, was Jean Paul in seinen "Politischen Schriften" über den Krieg zu sagen hat.

IV. Diese Indifferenz wirft die Frage auf, warum Jean Paul sich überhaupt so intensiv wie kaum ein anderer deutscher Zeitgenosse mit dem Krieg auseinandersetzt. Die von ihm selbst kolportierte Legende - die vielleicht auch wahr ist - nennt einen pädagogisch-moralischen Grund: Er beruft sich, sicherlich in einiger Stilisierung, auf die Anfrage einer Leserin seiner pädagogischen Schrift Levana, die ihn ausdrücklich zur öffentlichen Stellungnahme aufgefordert habe46 • Dieser Hinweis ist nicht ohne Bedeutung. Er erklärt zumindest teilweise den Charakter von Jean Pauls Äußerungen zur aktuellen politischen Lage, die tatsächlich stark von einem erzieherischen und weniger von einem politischen Impuls geleitet sind. Dennoch betritt Jean Paul mit diesen Schriften den politischen Meinungsmarkt; das wird schon am Wandel seines Publikationsverhaltens deutlich. Während er bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich als Buchautor hervorgetreten war, der seine kleineren nicht-literarischen Arbeiten in seine Romane eingefügt hatte, beginnt er seit 1807 im stärkeren Maße mit der Publikation in Zeitschriften, insbesondere im gerade von Cotta begründeten Morgenblatt. Das Faktum als solches ist nicht ohne Bedeutung. Es hat sicherlich auch biographisch-ökonomische Gründe, die teilweise indirekt durch den Krieg hervorgerufen wurden. Die Unsicherheit des Buchmarktes hat Einfluß auf Jean Pauls Erwerbsmöglichkeiten gehabt, so daß er sich entschloß, im stärkeren Maße Angebote von Zeitschriftenherausgebern anzunehmen, auf die er freilich, wegen einer 1809 von Dalberg gewährten Rente, nicht unbedingt angewiesen war.

43 44 45

46

Vgl. Bade, Jean Pauls politische Schriften (Anm. 17), 11. Hannemann, Jean Pauls Stellung zu Krieg und Frieden (Anm. 17), 70 f. Vgl. Jean Paul, Sämtliche Werke, Bd. 5 (Anm. 33), BriefNr. 492,4.3.1808,201. Vgl. Schramm, Einleitung (Anm. 27), XXVIII f.

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Die Hinwendung zur publizistischen Form ist ein Hinweis auf einen Wandel im Selbstverständnis des Schriftstellers Jean Paul, der sich damit als politischer Publizist zu verstehen beginnt. Er folgt damit einer Entwicklung, die sich in der Literaturgesellschaft der Jahrhundertwende in Deutschland allgemein beobachten läßt und sicher mit eingeleitet wurde durch die allgemeinen politischen Entwicklungen in eins mit dem Wandel des literarischen Marktes. Die Wendung vom Buch zur Zeitung und Zeitschrift ist Indiz für das neue Verständnis und die neue Bedeutung der "öffentlichen Meinung", die sich um 1800 konstatieren läßt und aus der sich ein neues Selbstverständnis des "Literaten" ableitet47 . Seit 1808 beginnt Jean Paul mit der Publikation jener "Politischen Schriften", die um das Problem des "Friedens" - und damit des Krieges - kreisen. Sie sind das einzige einigermaßen geschlossene publizistische Textkorpus, das Jean Paul veröffentlicht hat. Jean Paul hat in der ersten dieser Schriften den auslösenden Impuls benannt: "Der Krieg hat über Deutschland ausgedonnert", und seine Absicht sei es jetzt, "mehr Hoffnungen als Klagen und mehr moralische Ansichten als politische" vorzustellen48 . Dieser Impetus ist zeittypisch. Nach der preußischen Niederlage von 1806 findet sich in der deutschen Literatur eine Häufung von Schriften verschiedensten Typs, in denen die militärische Niederlage als Resultat eines moralischen Niedergangs aufgefaßt wurde. Diese Diagnose wurde von den Schriftstellern als Aufforderung zur Aufwertung ihres eigenen Status verstanden. Nach dem Versagen der Politik kommt die Moral zu ihrem Recht, als deren Sachwalter die Autoren sich verstehen. Sie artikulieren wie Jean Paul das Bewußtsein einer Zeitenwende, deren weitere Entwicklung zum "Frühling" oder "Herbst,,49 noch nicht absehbar ist und an der die Schriftsteller mitarbeiten wollen. Deshalb ist es kein Zufall, daß die Kriegsdiskussion bei Jean Paul aufs engste mit der Selbstthematisierung des Schriftstellertums verbunden ist, häufig vermittelt durch das ,,zensur"-Problem, von dem Jean Paul während seiner ganzen Laufbahn berührt wurde und dem er einige wichtige Schriften gewidmet hat. Die Literatur "als Instrument der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung" einzusetzen5o , wie es in der Lyrik der Befreiungskriege geschah, liegt durchaus im Horizont seiner Vorstellungen - tatsächlich ist dies eine konsequente Fortsetzung des aufklärerischen Selbstverständnisses der Schriftsteller. Auch bei ihm findet sich der selbstschmeichlerische Leitgedanke, daß die Schriftsteller die Funktion einer Erziehungsinstanz hätten. Daß der Schriftsteller eine solche Aufgabe gegenüber der Öffentlichkeit wahrnehmen solle, wie es Ernst Moritz Arndt in diesen Jahren formulierte 5 !, ist Jean Paul nicht ganz fremd, tritt aber etwas hinter der alten Idee 47 Vgl. Ernst Weber, Lyrik der Befreiungskriege (1812-1815). Gesellschaftspolitische Meinungs- und Willensbildung durch Literatur (Germanistische Abhandlungen, 65), Stuttgart 1991,61- 67. 48 Jean Paul, Friedens-Predigt (Anm. 32), 880 u. 879. 49 Ebd., 881. 50 Weber, Lyrik der Befreiungskriege (Anm. 47), 74. 5! Vgl. ebd., 47.

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der Fürstenerziehung zurück: "Die Stelle eines fürstlichen Bibliothekars oder auch Vorlesers für den Fürsten" - also Institutionen, die dem Fürsten die Schriften der Schriftsteller zugänglich machen - ,,könnte die wichtigste und heiligste im Staate werden,,52. V. Mit diesen Überlegungen steht Jean Paul nicht allein. Nur ihm eigen sind hingegen die Darstellungsformen seiner Kriegs-Essays. Erst die stilistische Eigenart dieser Schriften markiert den singulären Ort Jean Pauls in der Kriegsdiskussion der Zeit. Wahrend er sachlich kaum den aktuellen Diskussionsstand erreicht, eher hinter ihn zurückfällt, findet er eine Darstellungsform, die andere Perspektiven als die des politischen Diskurses eröffnet. Im stilistischen Duktus bleibt Jean Paul dem Verfahren seiner Romane in den "Politischen Schriften" treu; allenfalls läßt sich eine Akzentverschiebung feststellen: Wahrend in den Romanen reflektierende Betrachtungen in eine oft kaum erkennbare romanhafte Handlungslinie locker eingefügt wurden, tritt jetzt das expositorische Moment hervor, ohne daß aber die für Jean Paul charakteristische literarische Form verschwände - auch hier handelt es sich um genuine Jean-Paul-Texte. In der Einleitung zur ,,Friedens-Predigt" hat Jean Paul seine Stilform selbst bündig, wenn auch keineswegs umfassend charakterisiert: "Sollte einer und der andere einige Unordnung und viel Abgerissenheit im Werkchen wahrnehmen wollen: so erklär' ich, daß ich der allererste war, der die Sache wahrgenommen, um so mehr, da ich sie mir anfangs vorgesetzt,,53. Die "Sache", nämlich Jean Pauls stilistische Eigenart, geht freilich weit über die "Abgerissenheit" hinaus. Wie in den Romanen zeigt sich in den "Politischen Schriften" eine stilistische Spannbreite, die von der "Predigt" über die Reflexion bis zur Satire reicht. Dieses Variationsspektrum ist sicher auch, aber nicht nur ein für Jean Paul typischer Manierismus. Hinter ihm verbergen und in ihm artikulieren sich inhaltliche Positionen. Besonders gerne nutzt Jean Paul das Genre der "Predigt": Er schreibt eine "Friedens-Predigt", er hält "politische Fastenpredigten", er läßt sich selbst, den Schriftsteller Jean Paul, in der "Nepomuks-Kirche" eine "mündliche Friedenspredigt" vortragen, "wie er eine gedruckte an Deutschland selber gehalten"54. Auch ansonsten greift er bemerkenswert häufig auf die geistliche Form der Predigt zurück - oft freilich als Parodie oder Travestie, besonders gerne als Kontrafaktur, in der die Predigt als Strafpredigt zur Satire wird55 . Hier 52 Jean Paul, Friedens-Predigt (Anm. 32),907. Vgl. Bade, Jean Pauls politische Schriften (Anm. 17), 27 f.; 34 - 37. - Entgegen dem eigentlichen Tenor seines Buches ist Rarichs Feststellung richtig, daß Jean Paul in seinen "hohen Romanen" das "poetische Bild des Idealfalls der Revolution ,von oben '" zeichnet - das aber ist die Standardauffassung der deutschen Intellektuellen der Aufklärung noch zur Zeit der Französischen Revolution. Vgl. Harich, Jean Pauls Revolutionsdichtung (Anm. 21), 186. 53 Jean Paul, Friedens-Predigt (Anm. 32), 879. 54 Jean Paul, Politische Fastenpredigten (Anm. 35), 1134.

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handelt es sich um ein Säkularisationsphänomen, das sich in der Prosa Jean Pauls durchgehend nachweisen läßt56 . Diese Bezugnahmen auf die christliche Redeform der Predigt kommen nicht von ungefähr. Sie haben selbstverständlich ihre Wurzeln in der Biographie des Predigersohns Jean Pau157 . Daneben hat die Wahl dieser Form zeitgenössische Wurzeln. Die "Predigt" ist durchaus nicht so obsolet, wie sie am Ende des Zeitalters der Aufklärung scheinen mag. Sie erfahrt im Gegenteil im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts eine Wiederbelebung genau in dem Kontext, in dem Jean Paul sie verwendet: in der politischen Diskussion. Die protestantische Predigt der Spätaufklärung öffnet sich zeitgeschichtlichen und pragmatischen Themen und stellt sich in Gegensatz zur "orthodoxen Predigtweise,,58. Die "politische Predigt" oder die ,,zeitpredigt" wird von den Aufklärungsschriftstellern dieser Jahre wieder gerne benutzt, um öffentliche Wirkung zu erzielen. Es setzt sich eine "betont sozialethische Tendenz der Aufklärungspredigt" und damit eine Säkularisierung durch, die zwischen "Kirche und Welt" nicht mehr scharf trennt59 . Aber weniger die Ursprünge dieser Gattungswahl Jean Pauls als die Folgen sind von Interesse. Die Feststellung ist zutreffend, daß seine "Predigten" sich an die "überlieferten Argumente und Topoi des Seelsorgers" anlehnen; "nirgendwo sonst hat sich Jean Paul so weitgehend mit der geistlichen Tradition identifiziert,,60. Der Befund ist zutreffend, bemerkenswert und interpretationsbedürftig. Immerhin bedarf es der Erklärung, daß Jean Paul sich ausgerechnet in seinen vergleichsweise wenigen unmittelbar politisch gemeinten Schriften die Gelegenheit entgehen läßt, Argumente der Aufklärung vorzutragen - wie er es in seinen Romanen getan hat -, und statt dessen auf eine zwar nicht notwendig aufklärungsfeindliche, aber doch aufklärungsferne Tradition zurückgreift. Denn der Form entspricht der Inhalt. In seinen "Politischen Schriften" geraten die vorgetragenen Argumente häufig und an entscheidender Stelle in Konflikt zur Standardauffassung aufklärerischen Denkens: Jean Paul profitiert einerseits von der Säkularisierung der Predigt, kurios ist aber, daß er andererseits wieder eine Re-Theologisierung vornimmt. Am markantesten wird dies im Problemfeld der Geschichtsphilosophie deutlich, zu der er sich am einläßlichsten in seinem "Dämmerungen"-Aufsatz Über den Gott in der Geschichte und im Leben geäußert hat. Jean Paul erinnert oft genug daran, daß ihm der aufklärerische Fortschrittsgedanke vertraut und sympathisch ist: 55 Vgl. Ursula Naumann, Predigende Poesie. Zur Bedeutung von Predigt, geistlicher Rede und Predigertum für das Werk Jean Pauls (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft, 55), Nürnberg 1976,35 - 40; auch Ursula Naumann, ,,Denn ein Autor ist der Stadtpfarrer des Universums". Zum Einfluß geistlicher Rede auf das Werk J. P. F. Richters, in: Jean Paul, hrsg. v. Uwe Schweikert (Wege der Forschung, 336), Darmstadt 1974,451 - 484, hier 466. 56 Naumann, Predigende Poesie (Anm. 55), 3 f. 57 Auf Kindheitseinflüsse verweist NauTfumn, ebd., 18 f. 58 Reinhard Krause, Die Predigt der späten deutschen Aufklärung (1770-1805) (Arbeiten zur Theologie, 11 /5), Stuttgart 1965, 17. 59 Ebd., 89f. 60 Naumann, Predigende Poesie (Anm. 55), 55.

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"Und wo liegt denn das große Unglück, wenn das Licht (gleich dem Glück und dem Handel) Völker nach Völkern durchwandert, und von jedem weiterzieht, aber von keinem scheidet, ohne wenigstens Dämmerungen als Spuren zurückzulassen?,,61

Diese aufklärerische Grundvorstellung wird von einer anderen überlagert, die konkurrierend daneben tritt, ohne sie zu verdrängen oder zu ersetzen. Zum Leitwort seiner "Politischen Schriften" wird die "Hoffnung", eine der drei christlichen Grundtugenden. In seinem Neujahrsartikel für 1814 erklärt er sich ausdrücklich in diesem Sinne: "Verfasser darf sich zuerkennen, daß er schon in seinen frühem, unter den feindlichen Preßgängen nach Sklaven geschriebenen Werken (in der Friedenspredigt, in den Dämmerungen u.s.w.) statt der Furcht die Hoffnung gepredigt und genährt; denn nur diese gibt den rechten, die Verzweiflung aber höchstens einen des Tieres mehr als des Menschen würdigen Mut,,62. An anderer Stelle wird der Krieg ausdrücklich gewürdigt, weil er eben - anders als der auf die Gegenwart ausgerichtete Friede - neben "Angst und Wunsch" eben die "Hoffnung" auf die Zukunft fördert63 . Der Rückzug auf die Hoffnung bedeutet eine Entmächtigung des aufklärerischen Fortschrittsdenkens; ideengeschichtlich ist er ein Rückschritt gegenüber den Positionen der Aufklärung seit Voltaire 64 . Das wunschdurchtränkte Denken und Schreiben lean Pauls hat vielleicht wirklich das Vertrauen in den schematischen aufklärerischen Fortschrittsoptimismus verloren: "Und eben das Grausamste in der Geschichte ist dieser Wechsel zwischen Glücken und Mißglücken jedes sittlichen oder unsittlichen Zwecks,,65. Im Nachlaß formuliert er noch resignierter und wiederum in charakteristischer biblischer Sprache: "Die Geschichte ist die Passions Geschichte der Menschheit und ein Martyrologium,,66. Diese fast schon wieder barock anmutende Geschichtsauffassung verweist auf ein aufkeimendes Mißtrauen gegenüber der aufklärerischen Geschichtsphilosophie. In der Vorrede zu den Politischen Fastenpredigten heißt es: "Die Menschen vergessen und verzweifeln nur zu oft: sonst würden sie finden, daß das Schauen und Vertrauen auf die göttlichen Gesetze des großen Weltganges leichter das Ziel weissagen kann, als oft der Reichtum von Kenntnissen der politischen Einzelheiten vermag; und ein glaubiger Dichter ist zuweilen ein besserer Prophet als ein herzloser Kenner aller Kabinette. ,,67

Der Grund für die partielle Erneuerung einer theologischen WeItsicht mag in den zeitgeschichtlichen Erfahrungen liegen: "Der Aufklärungswille, die bessere Jean Paul, Politische Fastenpredigten (Anm. 35), 1102. Jean Paul, Mars' und Phöbus' Thronwechsel im Jahre 1814, in: ders., Werke, Bd. 5 (Anm. 31), 1037 - 1067, hier 1041. 63 Jean Paul, Friedens-Predigt (Anm. 32),903. 64 V gl. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, 7. Aufl., Stuttgart I Berlin I Köln I Mainz 1979, 105. 65 Jean Paul, Dämmerungen (Anm. 31),923. 66 Jean Paul, Ideen-Gewimmel (Anm. 39), 152. 67 Jean Paul, Politische Fastenpredigten (Anm. 35), 1073. 61

62

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Welt auf Erden zu schaffen - bei Jean Paul nie ganz irdisch geworden - ist unter dem Eindruck von terreur, Usurpation Bonapartes, deutscher Misere scheinbar wieder ganz in christlichen Auferstehungsglauben, in transzendente Gerechtigkeit zurückgenommen,,68. Gewiß nur scheinbar, denn entschieden hat sich Jean Paul in seinen "Politischen Schriften" nicht, wie das unvermittelte Nebeneinander der zwei Optionen "christliche Hoffnung" und "aufklärerischer Fortschritt" zeigt. Daß - bei aller Kritik an der offiziellen Kirche 69 - eine Re-Christianisierung seiner politischen Auffassungen erfolgt ist, bleibt unübersehbar7o ; unübersehbar ist aber auch die Skepsis: "Denn es trat einmal ein Einzelwesen auf der Erde, das bloß mit sittlicher Allmacht fremde Zeiten bezwang und eine eigne Ewigkeit gründete [ ... ] - es ist der stille Geist, den wir Jesus Christus nennen. War er, so ist eine Vorsehung, oder er wäre sie.'.71

Offensichtlich handelt es sich bei dieser Re-Christianisierung nicht einfach um eine Ablösung aufklärerischen Denkens. Die christliche Hoffnungsbotschaft wird politisch gewendet und damit säkularisiert. Sie richtet sich statt auf das Jenseits auf das Diesseits; der christliche Glaube an die Auferstehung Jesu wird transformiert in die Hoffnung auf eine Auferstehung Deutschlands72. Vielleicht trifft der Begriff der ,,Realisation" - statt Säkularisation - das Verhältnis Jean Pauls zur Religion am genauesten: Seine religiöse Sprache und seine poetischen Visionen lassen sich unter diesem Leitbegriff deuten als die "weltliche Konkretion dessen, was in der Sprache der Religion ,gegeben' oder versprochen ist,m. Die Predigtforrn der "Politischen Schriften" transportiert teils antike, teils aufklärerische und teils auch christliche Inhalte, die ihre Einheit in ihrem visionären Gehalt haben. Unter Gesichtspunkten der politischen Tagesaktualität sind sie unmittelbar kaum auszuwerten, und speziell auf die Frage nach Jean Pauls Auffassung vom Krieg geben sie keine Antwort. Die verstärkte Hinwendung zur Predigt68 Marie-Luise Gansberg, Welt-Verlachung und das ,rechte Land'. Ein literatursoziologischer Beitrag zu Jean Pauls ,Flegeljahren', in: Jean Paul (Anm. 55), 353 - 388, hier 367 f.; auch Minder hebt die Spannung hervor, die sich in Jean Pauls Texten dieser Jahre ausdrückt und die ihren Ursprung einer kaum gelingenden Vermittlung zwischen den epochalen Zeiterfahrungen und überschwenglichen religiösen Grundbedürfnissen verdankt; vgl. Robert Minder, Jean Paul oder die Verlassenheit des Genius, in: ders., Dichter in der Gesellschaft. Erfahrungen mit deutscher und französischer Literatur, Frankfurt a.M. 1972, 66 - 77, hier 74f. 69 Naumann, Predigende Poesie (Anm. 55), 89. 70 Naumann fordert deshalb zu Recht, daß die von Jean Paul gewählte Predigtform so genommen werden solle, wie sie gemeint ist - der formale Anschluß der politischen Texte an die Predigttradition verweist auf die gewollte Verschränkung von politischer und moralischer Aussage. Vgl. ebd., 54 f. 71 Jean Paul, Dämmerungen (Anm. 31),932. 72 Naumann, Predigende Poesie (Anm. 55), 61 f. 73 Dorothee SäUe, Realisation. Studien zum Verhältnis von Theologie und Dichtung nach der Aufklärung (Reihe Theologie und Politik, 6), DarmstadtlNeuwied 1973,29.

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fonn und die Übernahme einiger ihrer tradierten Inhalte hat vielmehr einen anderen Effekt im Zusammenhang von Jean Pauls politischer Argumentation. Es handelt sich um eine diskurspolitische Strategie: Jean Paullöst seine Reflexionen partiell aus dem Kontext der herrschenden Kriegs- und Politikdiskurse heraus und stellt sie in einen anderen Traditionszusammenhang. Er bereitet damit den Boden für die Eröffnung eines neuen Diskurses über den "Krieg". Eine ähnliche Strategie verfolgt er in der Wahl einer anderen Gattung für seine Kriegsthematisierungen. In die "Politischen Schriften" sind zwei zusammenhängende erzählende Texte aufgenommen, in denen der Krieg erzählerisch dargestellt wird: Mein Aufenthalt in der Nepomuks-Kirche während der Belagerung der Reichsfestung Ziebingen und Die Doppelheerschau in Großlausau und in Kauzen samt Feldzügen. Entscheidend ist die literarische Gattungswahl: Es handelt sich bei beiden Texten um Satiren in aufklärerischer Tradition. Sie wenden sich kritisch gegen den Krieg, und so ist ihre Aufnahme in die Politischen Fastenpredigten gerechtfertigt. Deutlicher wird ihre Bezogenheit auf den zeitgeschichtlichen Kontext im Blick auf die Erstveröffentlichungen: Sie erschienen 1810 und 1811 im Kriegskalender bei Göschen. Die Nepomuks-Kirche und die Doppelheerschau handeln von kriegerischen Ereignissen en miniature, die durch groteske Ereignisse veranlaßt werden und einen grotesken Verlauf nehmen. Im ersten Fall wird ein Krieg zwischen zwei Nachbardörfern durch einen Streit um vom Blitz erschlagene Gänse ausgelöst. Die realistisch anmutende Beschießung der Stadt und die Verschanzung in der besagten Nepomuks-Kirche, in die sich der anwesende Autor Jean Paul zurückzieht, nimmt ein unblutiges Ende. Die Doppelheerschau ist eine Satire auf die Kabinettskriege, die um die Ehre der Fürsten willen geführt werden - anstelle der alljährlich durchgeführten Revuen wird ein Krieg vereinbart: ,,Es sähe bei Gott ordentlich wie ein Krieg aus; nur müßte man Spaß verstehen,,74. Den Krieg in seiner traditionellen Fonn als inszenierte Revue darzustellen, ist so abwegig nicht. Es entspricht der Wirklichkeit des rationalisierten und reglementierten Heeres- und Kriegswesens im aufklärerischen Absolutismus, der mit "unbeirrbarer Leidenschaft um die fonnale Stilisierung eines auch im Krieg zu inszenierenden Spektakels bemüht war,,75. Jean Pauls Doppelheerschau zeichnet genau diese Kriegsauffassung satirisch nach. Abgesehen von den üblichen Eigenarten von Jean Pauls Erzählstil handelt es sich in beiden Fällen um höchst konventionelle Satiren. In beiden Erzählungen Jean Pauls sind die zeitgeschichtlichen Erfahrungen mit dem Krieg verarbeitet; und von keiner läßt sich sagen, daß sie diesen Erfahrungen gerecht würden. Sie werden in ein konventionelles Satiremodell gegossen, das angesichts der realen Situation völlig unangemessen erscheinen muß. Die Nepomuks-Kirche und die Doppelheerschau haben darin ein ehrwürdiges Vorbild: Das Kleinepos Der Froschmäusekrieg - Batrachomyomachia; wahrscheinlich um 500 v. ehr. entstanden 74 75

Jean Paul, Politische Fastenpredigten (Anm. 35), 1155. Kunisch, Das "Puppenwerk" der stehenden Heere (Anm. 14), 182.

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war eine Persiflage auf die großen homerischen Epen. Entsprechendes gilt im übrigen für Mars' und Phönix' Thronwechsel, im Untertitel als Eine scherzhafte Flugschrift ausgewiesen; hier wählt Jean Paul die Form der barocken Allegorie. Diese Gattungsentscheidungen bestätigen die Beobachtung, daß Jean Paul vom Krieg kaum berührt wurde. Entgegen der dominierenden Bedeutung, die die Kriegserfahrung im öffentlichen Diskurs der Zeit und im Alltagsleben gehabt hat, wird sie in diesen Schriften marginalisiert. Auch hier aber gilt die andere Feststellung: Jean Paul verweigert sich den dominierenden Erfahrungen und Diskursen seiner Zeit und sucht eine eigene - wenn auch nicht eben originelle - Form der Auseinandersetzung mit ihnen, indem er sie literarisiert. Dieses Phänomen läßt sich schließlich noch auf einer dritten Darstellungsebene beobachten. Auch die "Politischen Schriften" sind durchgängig geprägt vom spezifisch Jean Paulschen Stilgestus. Die Assoziations-, Allusions- und Kombinationslust Jean Pauls macht vor dem angeblichen Hauptgegenstand seiner "Politischen Schriften", dem Krieg eben, nicht halt. Selbst in der programmatisch eindeutigsten seiner Kriegs-Schriften, der Kriegs-Erklärung gegen den Krieg aus den Dämmerungen wird der Krieg in einen Metaphern- und Assoziationssog hineingezogen, der die Eindeutigkeit der Aussage verwischt: ,Jch sagte oft, seitdem ich die seltsame Tatsache gelesen: ich wünschte, niemand trommelte hieniden weiter als in Bamberg der Professor Stephan aus seinem Ohre mit dem Hammer heraus, gesetzt auch, man hörte das wenigste. Aber leider ist der Bellona kaum das jetztlebende Europa breit genug zur Sturmtrommel, und sie häutet Weltteil nach Weltteil ab, um die Haut über die Regimentstrommel zu spannen.,,76 Dieser Einleitungssatz der Kriegs-Erklärung demonstriert das poetische Verfahren, das Jean Paul in seinen "Politischen Schriften" konsequent verwendet. Wolfdietrich Rasch hat dafür die Formel von den ,,Metaphernspielen und dissonanten Strukturen" gefunden, er hat diese Technik einläßlich analysiert und ihre Funktion benannt: Jean Pauls Verfahren befreit die Dinge - in diesem Fall den Krieg - von der ",schweren Materie', in der sie als wirkliche Dinge gefangen sind, ,zersetzt' ihre zweckhafte Sachlichkeit, die ihre Realität allein bestimmt, und verwandelt sie in Zeichen, die auf eine überwirkliche Welt verweisen, auf das unbekannte ,fremde Meer', das die Insel dieser Erde umgibt,,77. Aus dem politischen Diskurs wird eine Welt von Zeichen. Dahinter verbirgt sich gewiß eine Ontologie: Jean Pauls metaphorisches Verfahren hat seine Legitimation nur unter der "zentralen Prämisse Jean Paul, Dämmerungen (Anm. 31),959. 77 Wolfdietrich Rasch, Die Erzählweise Jean Pauls. Metaphernspiele und dissonante Strukturen, in: Deutsche Romane von Grimmelshausen bis MusiI, hrsg. v. Jost Schillemeit (Interpretationen, 3),9. Aufl., Frankfurt a.M. 1976, 82-117, hier 102. - Es lohnt den methodengeschichtlichen Hinweis, daß Rasch diese Formulierungen bereits 1966 gefunden hat - lange bevor postmoderne Zeichentheorien Einzug in die Literaturwissenschaft gehalten haben, die allüberall in der Literatur jenes von Rasch beschriebene Verfahren entdecken wollen, das doch nur die Eigentümlichkeit einiger weniger Autoren in spezifischen Umbruchssituationen der Literaturgeschichte darstellt. 76

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einer in ihren Grund-Bezügen noch nicht festgestellten Welt,,78. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, was denn mit dem Überwirklichen, in das hinein Jean Pauls Prosa-Humor gespannt ist, gemeint sein könnte. Daß christliche Traditionen nachwirken, ist unübersehbar; aber ebenso unübersehbar ist, d~ sich Jean Pauls Visionen einer anderen Welt nicht darin erschöpfen, christliche Jenseits-Vorstellungen einfach wiederzubeleben. Es handelt sich vielmehr um eine Rehabilitation der Poesie. Aus der Wirklichkeit der Dinge der aufklärerischen Mimesis-Poetik wird das eigene Recht der Poesie - ein Vorgang, der sich in eben diesen Jahren um 1800 vollzieht und mit dem die deutsche Romantik die Literatur der Moderne einleitet. Jean Paul wendet sich in der Tat in seinen "Politischen Schriften" von "politischen und gesellschaftlichen Fragen" ab; und er wendet sich dem "Überirdisch-Außerweltlichen" zu 79 - aber dieses nimmt mehr eine ästhetisierend-poetische als eine christlich-metaphysische Gestalt an. Die simple Feststellung behält ihr Recht: "Auch als zeitkritischer und politischer Autor bleibt Jean Paul vor allem Poet,,80. Es kommt nicht von ungefahr, daß die Poesie im Zusammenhang mit Jean Pauls Kriegsdiskussion eine zentrale, aber schwer bestimmbare Rolle spielt. In der Vorschule der Ästhetik von 1805 wird sie in diesem Zusammenhang zwar nur beiläufig, aber auf signifikante Weise angesprochen: "Ungleich der Wirklichkeit, die ihre prosaische Gerechtigkeit und ihre Blumen in unendlichen Räumen und Zeiten austeilet, muß eben die Poesie in geschlossenen beglücken; sie ist die einzige Friedengöttin der Erde und der Engel, der uns, und wär' es nur auf Stunden, aus Kerkern auf Sterne führt.,,81

Gerade das völlige Auseinanderfallen von Poesie und Wirklichkeit läßt der Poesie eine im weitesten Sinne politische Funktion zukommen. "Friedensgöttin" kann sie werden, weil sie mit der unfriedlichen Wirklichkeit nichts zu tun hat - ein Gedanke, der von Ferne an Adornos Ästhetik erinnert, in der das Kunstwerk zur Utopie werden kann, gerade weil es gegenüber der Gesellschaft autonom ist82. In einer Nachlaßnotiz hat Jean Paul in diesem Sinne auch seine Dämmerungen erläutert. Die Poetisierung der unerfreulichen historischen Wirklichkeit versteht sich als ihre - utopische - Überbietung: "Die Dämmerungen sollen Regeln poetischer Anschauungen prosaischer Wildheiten sein - Ein Heiliges schwebe darüber und ordne leicht, sowol im Autor als im Leser!,,83 Solche poetischen Visionen blitzen bei Jean Paul vereinzelt auf, und sie bilden das Gegengewicht zu den berühmteren Vernichtungsvisionen. Ihretwegen ist er vielleicht als "Pazifist" zu bezeichnen, denn 78 Eckart Oehlenschläger, Närrische Phantasie. Zum metaphorischen Prozeß bei Jean Paul, Tübingen 1980, 11. 79 Bade, Jean Pauls politische Schriften (Anm. 17),29. 80 Herbert Kaiser, Jean Paul und die deutsche "Allerwelts-Nation", in: Dichter und ihre Nation, hrsg. v. Helmut Scheuer, Frankfurt a.M. 1993, 200 - 216, hier 200. 81 Jean Paul, Vorschule der Ästhetik, in: ders., Werke, Bd. 5 (Anm. 31),7 - 514, hier 35. 82 Vgl. Theodor W. Adomo, Ästhetische Theorie (Gesammelte Schriften, 7), 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1972 (zuerst 1970), 203 f. 83 Jean Paul, Ideen-Gewimmel (Anm. 39),154.

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ihnen liegt die Utopie eines paradiesischen Friedens zugrunde. Vielleicht läßt sich sein Werk wirklich als der Versuch verstehen, in der "Dichtung eine utopische zweite Welt zu entwerfen,,84. Im "Sechsten Schalttag" des Hesperus mit dem Titel Über die Wüste und das gelobte Land des Menschengeschlechts entwirft Jean Paul eine solche Utopie aus dem Geist einer Geschichtsphilosophie heraus, die in ihrem Überschwang kaum noch als aufklärerische zu bezeichnen ist. In Spekulationen über den Geschichtsverlauf kommt er zu dem Schluß, daß am Ende ein "goldnes Zeitalter" stehen wird. Als stärkstes Hemmnis wird der Krieg angesehen, und wenn es erreicht ist, wird "man den kriegerischen und juristischen Mord" verdammen. Auch diese Zeit ist poetischer Emphase der Darstellung fähig - "bis endlich über eine glücklichere Erde ein ewiger Morgenwind voll Blütengeister, vor der Sonne ziehend, alle Wolken verdrängend, an Menschen ohne Seufzer weht. ,,85 VI. Jean Paul hat sich für sein Verfahren der Poetisierung von realer Geschichte eine scharfe germanistische Rüge eingehandelt: "Solche inhaltliche Gleichgültigkeit hat zur Folge, daß die Gleichnisse lediglich das Analogisieren als ästhetische Potenz behaupten; sie bleiben bloßes Schema subjektiven Einfallsreichtums,,86. In der Sache ist dieser Befund sicherlich nicht falsch. Er verfehlt aber das Eigentliche an Jean Pauls Umgang mit der Kriegserfahrung seiner Zeit, weil er eine Perspektive wählt, die Jean Paul nicht mehr ganz angemessen ist. Die Kritik mißt Jean Paul an den Maßstäben aufklärerischer Prinzipien - und sie hat nicht Unrecht, denn diese Maßstäbe hat sich Jean Paul schließlich selbst zu eigen gemacht. Sie übersieht aber, daß - auf eine Formel gebracht - Jean Paul an der Schwelle zur Romantik steht und daß speziell in der Darstellung des Krieges die aufklärerische Konzeption durch die romantische überlagert - nicht verdrängt - wird. Jean Pauls Literarisierung der Kriegsdarstellung ist symptomatisch für diesen Schritt von der einen Epoche zur anderen. Sie führt über die metaphorische Poetisierung zur Ästhetisierung der Wirklichkeit - auch der Kriegswirklichkeit. In einer von Jean Pauls ausgereiftesten Schriften wird das Modell der Ästhetisierung des Grauens lange vor den "Politischen Schriften" vorweggenommen. Im zweiten Bändchen des Comischen Anhangs zum Titan, 1801 erschienen, publiziert er seine lange Erzählung Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch. Im satirischen Überflug über die deutschen Territorien kommt Giannozzo ein Schlachtfeld zu Gesicht: 84 Helmut J. Schneider, Jean Paul, in: Deutsche Dichter der Romantik. Ihr Leben und Werk, hrsg. v. Benno von Wiese, Berlin 1971, 13 - 54, hier 47. 8S Jean Paul, Hesperus oder 45 Hundposttage. Eine Lebensbeschreibung, in: ders., Werke, hrsg. v. Norbert Miller, Bd. 1,2. Aufl., München 1970,471 - 1236, hier 873 f. 86 Burkhardt Lindner, Politische Metaphorologie. Zum Gleichnisverfahren in Jean Pauls Politischen Schriften, in: Jean Paul, hrsg. v. Heinz Ludwig Amold (Text + Kritik Sonderband), 2. Aufl., München 1974, 103 - 115, hier 114.

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"Plötzlich zog ich über eine anmutige Ebene voll zerstreueter Laubbäume, ganz mit Affen des Lebens, mit Körpern bedeckt, die sich wie Mittagsschläfer warmer Länder zum Schlummer ausstreckten. Neben einem Feuer lagen ihre Kleider - da sah ich einen Mann, der einen in seinem Arme hängenden Leichnam entkleidete. - - 0 Hölle, es war dein Boden, es war ein unbegrabnes Schlachtfeld! - Ich warf Steine auf das Ungeheuer - ich brüllte ihm aus den Lüften: Teufel! Teufel! zu - ich wurde in einen eiskältern Himmel aufgezuckt - und der Orkus des Mords floh zurück, und blühende Weinberge flogen daher. ,,87

Das ist zweifellos kriegskritisch gemeint. Die Metaphorisierung des Vorgangs verdeckt nicht das Grauen, sondern intensiviert es. Zwölf Jahre später, unmittelbar nach der Schlacht von Lützen, gibt Jean Paul wiederum eine Schlachtbeschreibung aus der Phantasie - daß er selbst keine erlebt hat, erklärt er ausdrücklich in seiner Doppelheerschau 88 • Der kurze Text trägt den Titel Die Schönheit des Sterbens in der Blüte des Lebens; und ein Traum von einem Schlachtfelde. Er wurde nicht in die gleichzeitig zur Herausgabe vorbereiteten Politischen Fastenpredigten aufgenommen, in die er wirklich nicht gepaßt hätte, sondern Jean Paul publizierte ihn 1820 in seiner Sammlung Herbstblumine. Der Text ist der Germanistik als eine ,,(peinliche) poetische Überhöhung jugendlicher Kriegs- und Todesbegeisterung,,89 anstößig gewesen und wurde gerne ignoriert oder als Verirrung abgetan - denn er behandelt tatsächlich das, was der Titel verspricht. Dennoch paßt er in die eine Linie der Kriegsdarstellung Jean PauIs: Es ist nicht die Linie der aufklärerischrationalistischen Kriegskritik9o, sondern die der Ästhetisierung der Wirklichkeit, Jean Paul, Titan (Anm. 15),967. Vgl. Jean Paul, Fastenpredigten (Anm. 35), 1161. 89 Jean Paul-Chronik, Daten zu Leben und Werk. Zusammengestellt von Uwe Schweikert, Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Gabriele Schweikert, München/Wien 1975, 131. Hannemann versucht zur Rettung Jean Pauls den Kunstgriff, den Aufsatz zweizuteilen: Im ersten Teil mache sich Jean Paul eines kurzzeitigen Wandels seiner kriegsfeindlichen Auffassung schuldig, den er im zweiten Teil über das Elysium aber wieder revidiere. Vgl. Hannemann, Jean Pauls Stellung zu Krieg und Frieden (Anm. 17),5 f.; 92 - 95. - Vgl. weiter SöUe, Realisation (Anm. 73), 227. Nur de Bruyn würdigt das "Ärgernis, das nicht verschwiegen werden darf', in seinem Kapitel "Heldentod" ausführlicher, wie er überhaupt sehr einläßlich auf die ,,Politischen Schriften" Jean Pauls und ihren biographischen wie zeitgeschichtlichen Kontext eingeht. Vgl. Günter de Bruyn, Das Leben des Jean Paul Friedrich Richter, 2. Aufl., Halle 1975, 296; vgl. auch den Kontext 275 - 304. 90 Auch der Aufklärer Thomas Abbt hat gegen Ende des Siebenjährigen Krieges eine Apologie des Todes für das Vaterland geschrieben - aus dem Geist eines Rationalismus heraus, dem das Opfer des eigenen Lebens für ein Vaterland zur Pflicht werden kann, das seinen Bürgern die Wohlfahrt gewährleistet. In diesem Zusammenhang findet sich eine vorsichtige und fast kurios anmutende Verteidigung des ansonsten von der Vernunft geächteten ,,Enthusiasmus" als eines Mittels zur Anregung des soldatischen Pflichtgefühls. V gl. Thomas Abbt, Vom Tode für das Vaterland (1761), in: Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum Siebenjährigen Krieg, hrsg. v. Johannes Kunisch (Bibliothek der Geschichte und Politik, 9), Frankfurt a.M. 1996, 589 - 650. Von diesem vernunftbegründeten Enthusiasmus bis zur poetisierenden Kriegs- und Todesschwärmerei der Romantik und Jeans Pauls führt ein weiter Weg. Immerhin zeigt sich schon hier, daß Kriegsapologie und Republikanismus durchaus gleichen Ursprungs sein können - Thomas Abbts Bild des Soldatenturns läßt sich verstehen als Keimzelle eines neuen republikanischen Menschenbildes aus dem Geist eines aufkläre87 88

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auch der grauenhaften. Der Krieg erscheint nicht als deplorables zeitgeschichtliches Phänomen, er wird vielmehr zum extremen Anlaß poetischer Gestaltung. In dem Aufsatz entfaltet Jean Paul eine kurze Assoziationskette, aus dem seine Intention offensichtlich wird: Jeder Jüngling grenzt an den Dichter, insbesondere in der "Liebezeit"; die Liebe ist wie eine Dichtkunst; und die Liebe - wie die Dichtkunst, so muß der Schluß lauten - ist die "Freundin des Todes und seiner Bilder, der Gottesäcker und der Schwermut,,91. In diesem Sinne wird der Tod auf dem Schlachtfeld beschrieben - der gleichermaßen ästhetisiert wird, wie er in einer Traumvision mündet. Die Schreckensvisionen des Krieges werden breit entfaltet, aber sie bilden nur den Kontrast zu einer elysischen Erhöhung der gefallenen jünglinge, mit der die Vision ausklingt: "Auf der Zederinsel wohnen die Menschen, welche wie ich für die Erde gestorben sind; aber in irdischen Gesichten soll dir offenbart werden, wie der unendliche Vater die Menschenkinder belohnt, die für das Vaterland ihr Blut vergossen haben.,,92

Der Text ist zunächst in Cottas Damentaschenkalender erschienen - ein Publikationsort, der nicht so abwegig ist, wie er auf den ersten Blick scheinen mag: Hier liefert Jean Paul seinen Beitrag zur Poesie der Befreiungskriege ab: "Gleichsam, was die Männer herzustellen angefangen, das alte hochherzige Deutschtum, das haben die Frauen zu vollenden und zu runden gesucht,,93. Jean Paul nimmt allerdings trotz solcher Bemerkungen im Patriotismus der Zeit eine Sonderstellung ein. Auch wenn er sich in manchen seiner Formulierungen ganz der Tonlage seiner nationalistischen Zeitgenossen anzuschließen scheint, verbirgt sich hinter seinen risch interpretierten Soldatentums. Dazu Johannes Kunisch, Kommentar, in: ebd., 971-1008, hier 985 f. 91 Jean Paul, Herbst-Blumine (Anm. 25), 411. Der Motivkomplex Liebe - Tod - Poesie gehört zum Standardarsenal der europäischen und amerikanischen Romantik; die nicht immer "die Schrecken des Todes und seine Erhabenheit herausstellen will, sondern durch eine bewußte Ästhetisierung von Leichenbeschreibungen den Tod verharmlost, beschönigt oder einfügt in ein Konzept der Transzendenz". Eva Volkmer-Burwitz, Tod und Transzendenz in der deutschen, englischen und amerikanischen Lyrik der Romantik und Spätromantik (Europäische Hochschulschriften, XIV 1177), Frankfurt a.M.lBern/New York/Paris 1987, 113. 92 Jean Paul, Herbst-Blumine (Anm. 25), 422. Das "wie ich" bezieht sich auf den in fingierter Rede sprechenden Christus - Jean Paul greift mit dieser Anspielung auf die "imitatio christi" beiläufig ein Moment auf, das vereinzelt, so bei Max von Schenkendorf, zur Rhetorik der Befreiungskriegslyrik gehört, bei ihm selbst aber wohl tiefer verankert ist; vgl. Albert Portrrumn-1inguely, Romantik und Krieg. Eine Untersuchung zum Bild des Krieges bei deutschen Romantikern und ,,Freiheitssängern": Adam Müller, Joseph Görres, Friedrich Schlegel, Achim von Arnim, Max von Schenkendorf und Theodor Körner (Historische Schriften der Universität Freiburg, 12), Freiburg (Schweiz) 1989, 280 - 286. 93 Jean Paul, Herbst-Blumine (Anm. 25),425. - Zu Jean Pauls Beeinflussung durch den allgemeinen Patriotismus der Befreiungskriege, der sich speziell in diesem Text bekundet, vgl. Sauder, Jean Pauls Kriegsächtung (Anm. 12),57. Bianquis stellt aber mit Recht fest, daß Jean Paul 1813 zwar "patriote comme tout le monde" gewesen sei, daß seinem Patriotismus aber die zeitübliche Gallophobie gefehlt habe; vgl. Genvieve Bianquis, Le pacifisme de Jean Paul, in: Etudes Gerrnaniques 18 (1963), 13 - 22, hier 20.

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Aussagen ein anderes Verständnis der Nation: Für ihn ist die "Kultumation Deutschland" das Zentrum seiner einschlägigen Überlegungen 94, die eher poetische als politisch-patriotische Qualität haben - von hier ist es ein nicht mehr ganz so weiter Weg zur Ästhetisierung des Krieges. Der Text über Die Schönheit des Sterbens ist jedenfalls nicht als direkte Reaktion auf die Befreiungskriege mit ihrem nationalen Pathos zu deuten, denn er hat einen Vorläufer von 1795: Bereits im Siebenkäs hat lean Paul im ,,2. Blumenstück" Traum im "Traum eine ähnlich ästhetisierende Apologie des Kriegstodes geschrieben, in der die Christus-Assoziationen deutlicher hervorgehoben werden. Im Zentrum steht die Ästhetisierung des Heldentodes durch die Poetisierung der Darstellung: "Über die arme Erde bäumte sich jetzt eine rote Dampfsäule und umklammerte sie und verhüllte ein lautes Schlachtfeld. Endlich quoll der Rauch auseinander über zwei blutigen Menschen, die einander in den verwundeten Armen lagen. Es waren zwei erhabne Freunde, die einander alles aufgeopfert hatten und sich zuerst, aber ihr Vaterland nicht.,,9s

Nicht das konventionelle patriotische Argument ist entscheidend als vielmehr die ästhetische Gestalt, welche die Kriegsglorifizierung annimmt. Der Krieg wird als ästhetisches Phänomen begriffen, wenn auch nicht gerechtfertigt. Die Faszination durch das Schreckliche und durch den Tod, die lean Paul seit dem 15. November 1790 begleitet hat96, findet im Krieg ihr Material, das der ästhetischen Gestaltung unterworfen wird97 • Er sucht sich seine Vorwürfe dort, wo er sie findet, und er scheut ungeachtet aller aufklärerischen Einsichten nicht davor zurück, den Krieg in diesem Sinne ästhetisch zu funktionalisieren. Die inhaltliche Ambivalenz und der ästhetische Eigensinn von. lean Pauls Kriegsschriften weisen ihnen eine eigen- und einzigartige Stellung in den einschlägigen Diskussionen der Zeit zu: Jean Paul entzieht das Thema des "Krieges" weitgehend den konventionellen Diskursen seiner Zeit. Der theoretische Diskurs mit seinen juristischen, philosophischen und moralischen Implikationen spielt für ihn nur eine untergeordnete Rolle; er wird in der Regel nur in seinen konventionellen Versatzstücken zitiert. Jean Pauls Interesse gilt stärker den Zusammenhängen von 94 Vgl. Gerhard Schu/z, Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Zweiter Teil: Das Zeitalter der napoleonischen Kriege und der Restauration 1806-1830 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis zur Gegenwart, 7/2), München 1989, 12; Schulz gibt unter den allgemeinen literarhistorischen Darstellungen auch den ausführlichsten Überblick über die Literatur der Befreiungskriege, vgl. ebd., 3 - 81; vgl. auch die ältere Darstellung von Robert F. Amold, Einführung, in: Fremdherrschaft und Befreiung (Anm. 29), I-XV. 95 Jean Paul, Blumen-, Frucht- und Domenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs, in: ders., Werke, hrsg. v. Norbert Miller, Bd. 2, 3. neubearb. Aufl., München 1971,7 - 576, hier 279. 96 Vgl. Käte Hamburger, Das Todesproblem bei Jean Paul, in: Jean Paul (Anm. 55), 74105, hier 78. 97 Vgl. Bade, Jean Pauls politische Schriften (Anm. 173), 119.

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Krieg und Poesie als politischen oder moralischen Urteilen. Bis zu einem gewissen Grad ist diese Sichtweise auch in seiner zeitgenössischen literarischen Nachbarschaft zu beobachten, und er hat es aufmerksam registriert. Ende 1813 bezieht er sich ausdrücklich auf die an der Lyrik der Befreiungskriege abzulesende Entwicklung: ,,Das Dichten und der Glaube wurden Tat, der Gesang Gefecht, der Barde drang ins Schlachtgewühl, nicht als Lobsänger, sondern als Teilhaber der Wunden." Aber das ist nicht der Weg, den er selbst beschreiten will. Er eröffnet einen eigenen Diskurs: den der Literarisierung des Krieges, die über die Poetisierung auf seine Ästhetisierung verweist. Im unmittelbaren Anschluß an die "Barden"-Stelle fährt er fort: "Die leichten poetischen Blumen erinnerten wiedergebärend an die alte Sage, daß Juno bloß durch eine Blume den Krieggott empfangen und geboren.,,98 Der Krieg wird zum ästhetischen Phänomen, das sich einfügt in die "Ästhetik des Schreckens", wie sie nach einer langen Vorläufertradition von der Romantik vorbereitet wurde und bis ins 20. Jahrhundert99 weitergeführt wird. Neben den politisch-juristischen und den philosophisch-moralischen Diskussionen wird damit ein genuin literarisch-ästhetischer Diskurs über den Krieg eröffnet.

Jean Paul, Mars' und Phöbus' Thronwechsel (Anm. 62), 1064. Vgl. Karl Heinz Bohrer; Die Ästhetik des Schreckens, Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1983, bes. 64 -71; 252 - 66. - Matias Mieth, "Der Menschheit die Adern aufgeschlagen wie ein Buch im Blutstrom blättern". Krieg und Gewalt bei Heiner Müller, in: Militärische und zivile Mentalität. Ein literaturkritischer Report, hrsg. v. Ursula Heukenkamp, Berlin 1991, 187 -198, bes. 187 f. 98

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Der Krieg und die Poeten Theodor Körners Kriegsdichtung und ihre Rezeption im Kontext des reformpolitischen Bellizismus der Befreiungskriegslyrik

Von Ernst Weber, München

I. Das Verständnis von Körners Lyrik ist über 180 Jahre hin erstaunlich konstant geblieben, wenngleich sich ihre ästhetische und moralische Bewertung nach 1945 grundlegend geändert hat. Körner galt und gilt als nationalbewußter Dichter und seine Lyrik als Kriegsdichtung par excellence. Im 19. Jahrhundert als "teutscher Tyrtäus" gefeiert und nachgeahmt, brachten ihn die Deutschlehrer den Gymnasiasten nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 als "Dolmetscher der kampfbegierigen deutschen Jugend"! nahe, der "singend mit scharfem Schwerte,,2 dreingeschlagen habe. Auch seine literaturhistorische Einordnung durch eine nationalistische Literaturgeschichtsschreibung als "echter Volksdichter der Deutschen,,3, "Herold des deutschen Geistes,,4, ja ,jugendlicher Blutzeuge,,5, dessen Gesänge den völkischen Aufbruch vorweggenommen hätten, vennittelte nichts anderes, als was die Literaturwissenschaft unserer Zeit, geprägt von den Erfahrungen mit Nationalismus und zwei Weltkriegen, höchst kritisch bewertete: Körner habe "wie 1 Epische und lyrische Dichtungen erläutert für die Oberklassen der höheren Schulen und für das deutsche Haus, hrsg. v. O. Friek und Fr. Polek, Leipzig 1902, 527. Zur Rezeption vor 1870 zusammenfassend der Körner-Artikel in: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, hrsg. v. Constantin Wurzbaeh, Bd. 12, Wien 1864, 243 - 265; nach 1870 vgl. Helena Szepe, Opfertod und Poesie, in: Colloquia Germanica (1975), 292 - 304; Erhard löst, Der Heldentod des Dichters Körner, in: Orbis litterarum 32 (1977), 310 - 340; ders., Der Dichter als Idol. Zum 200. Geburtstag von Theodor Körner, in: DU (1991), 90-99; ders. Th. Körner und die Wirkungsweise patriotischer Literatur (Vortrag in Wöbbelin 1997). 2 Die patriotische Lyrik der Befreiungskriege, hrsg. v. Ad. Mathias (Velhagen und Klasings Sammlung deutscher Schulausgaben), BielefeldlLeipzig 1903,67. 3 H. Welsmann, Theodor Körners Leier und Schwert, St. Wendel 1891, 33; Adolph Kohut, Theodor Körner, Berlin 1891, nennt ihn gar "den genialsten Poeten der Weltliteratur" (244) und "größten politischen Lyriker des teutschen Volkes" (245). 4 A. Kohut, Körner (Anm. 3), 245. S Karl Borinski, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Stuttgart 1921, 265; vgl. auch Walter Linden, Geschichte der deutschen Literatur, Leipzig 1937/42, 351: Körners Kampflieder seien "echte und starke Gesänge des völkischen Aufbruchs".

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kaum ein anderer den Krieg verherrlicht" und sich "in starkem Maße darum bemüht, den Franzosenhaß mit allen rhetorischen Mitteln anzustacheln,,6. Seine "bluttriefende Poesie,,7 mit ihrem "martialischen Pathos,,8 und ihrer "Opfertodmanie,,9 predige "blindwütigen Haß und sadistische Rache"lO. Der Krieg werde in seinen Liedern poetisierend verharmlost und ein möglicher kritischer Abstand gegenüber nationalistischen Parolen "niedergebrüllt mit einem Hagel von suggestiven Lärmwörtern"ll. Gleichwohl vereinnahmte den Kriegsdichter, unter umgekehrten Vorzeichen, auch die Literaturpolitik der DDR. Sie stilisierte Körner zum Vorläufer demokratischer Ideen; um ihn als Verfechter eines "gerechten Krieges des Volkes gegen dessen Unterdrücker" für das Selbstverständnis des sozialistischen Staates in Anspruch nehmen zu können l2 . Der imperiale und aggressive Nationalismus der deutschen Reiche vor allem, für deren Propagandisten "ein rechter Krieg Poesie,,13 war, aber auch der ehemalige zweite deutsche Staat, der sich eine nationale Geschichte zu geben versuchte, griffen zur ideologischen Erziehung der deutschen Jugend auf eine Lyrik zurück, welche - offenbar aus politischen Gründen - "schlachtenfrohe Begeisterung,,14 mit nationalem Selbstbehauptungswillen zu verknüpfen schien. Die Rezeption Körners steht in einem engen Wechselverhältnis zu jener der Befreiungskriegslyrik. Diese wurde von der Literaturwissenschaft als "patriotische Kriegslyrik" interpretiert, aus der sich "die Inhalte und Ingredienzen des populären Nationalbewußtseins" 15, "das Seelenleben der Nation,,16 entnehmen ließen. Die Dichter galten als Sprecher dessen, "was als kräftiges Gemeinschaftsgefühl im 6 E. löst, Heldentod (Anm. 1), 326; ähnlich StaJfan Björck, Schwertertanz mit Theodor Körner, in: Orbis litterarum 19 (1964), 114: ,,Der Krieg wird bei Körner verherrlicht". 7 Albert Portmann-1inguely, Romantik und Krieg. Eine Untersuchung zum Bild des Krieges bei deutschen Romantikern und ,.Freiheitssängern", Freiburg (Schweiz) 1989,312; vgl. auch das Körner-Kap. bei Otto W. lohnston, Der deutsche Nationalmythos, Stuttgart 1990, 178 - 194. Beide Untersuchungen lassen sich von der historische Verhältnisse kaum aufschließenden Frage leiten, welcher literaturgeschichtliche Stellenwert Körners Lyrik zukommt. 8 A. Portmann-1inguely, Romantik (Anm. 7), 314. 9 H. Szepe, Opfertod (Anm. 1),293. 10 A. Portmann-1inguely, Romantik, (Anm. 7), 325. 11 Ebd., 345. 12 Edith Rothe, Theodor Körner - Sänger oder Held? in: Neue Deutsche Literatur 3 (1955), 118. Auch in der Bundesrepublik gab es Versuche, Körner demokratische Züge nachzuweisen; vgl. E. löst, Heldentod (Anm. 1), 316; dagegen H. Szepe, Opfertod (Anm. 1), 301 f. 13 Adolph Bartes, Geschichte der deutschen Literatur, Bd. 1, Leipzig 1905,668. 14 C. v. Gude, Erläuterungen deutscher Dichtungen, Leipzig '1906, 298, zit. nach H. Szepe, Opfertod (Anm. 1),299. 15 Hasko Zimmer, Auf dem Altar des Vaterlandes. Religion und Patriotismus in der deutschen Kriegslyrik des 19. Jahrhunderts, Darrnstadt 1971, 3; vgl. auch Oskar Richter, Die Lieblingsvorstellungen der Dichter des deutschen Befreiungskrieges, Diss. Leipzig 1909. 16 Sophus Stahl, Die Entwicklung der Affekte in der Lyrik der Freiheitskriege, Diss. Leipzig 1908,3.

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ganzen Volke" lebte l7 . Aus dieser Sicht war der Krieg Geburtshelfer einer bis dahin verborgenen Nation. Sein Zweck - und damit auch jener der für ihn agitierenden Verse - schien sich in der Vertreibung Napoleons als dem entscheidenden Hindernis auf dem Weg zum Nationalstaat zu erschöpfen. Wenn noch die jüngste Darstellung der Epoche Körners Lyrik als "Schulbeispiel für die deutsche patriotische Lyrik der Napoleonischen Kriege" heranzog l8 , so war dies nur folgerichtig, schien doch mit ihr die für die Befreiungskriegslyrik konstitutive Verknüpfung von Krieg und nationalpolitischer Zielsetzung rhetorisch besonders geglückt. So naheliegend die skizzierte Deutung der Befreiungskriegslyrik angesichts der Fülle an Schlachtgesängen, Kriegs- und Soldatenliedern auch ist, so manifestiert sich in ihr doch nur ihr ideologisch bestimmter Gebrauch vor allem zwischen 1870 und 1945 19 . Einmal reduziert auf Kriegslyrik diente sie als Bekenntnis zu unbedingter Kampf- und Opferbereitschaft für das Vaterland und als Ausdruck einer dezidiert franzosenfeindlichen Gesinnung der moralischen Aufrüstung in allen militärischen Konflikten mit Frankreich. Die Gleichsetzung von Befreiungskriegslyrik mit nationaler und patriotischer Kriegslyrik läßt sich jedoch weder historisch noch sozialgeschichtlich rechtfertigen. Ein Nationalbewußtsein hatte sich nur in Teilen der bürgerlichen Intelligenz entwickelt. Die Schriften von Amdt und lahn, die Predigten Schleiermachers oder die Vorlesungen von Luden und Fichte gaben ausschließlich den gesellschaftspolitischen Sehnsüchten ihrer akademisch gebildeten Zuhörer oder Leser Ausdruck2o . Allein in dieser sozialen Gruppe konnten sie auf ein Nationalbewußtsein rechnen sowie auf eine durch den Landespatriotismus vorgeprägte Bereitschaft, sich für das Wohlergehen des Staates mitverantwortlich zu fühlen. Von einem Nationalbewußtsein oder Nationalgefühl, das in allen sozialen Schichten vorhanden gewesen wäre, kann nicht die Rede sein. Dazu fehlten weitgehend die Voraussetzungen: Die Sozialisation des Untertanen im absolutistischen Staat war ganz darauf gerichtet, diesen in all seinem Denken und Tun auf den Lan17 J. Knipfer, Die Dichter der Befreiungskriege und die Lieder des deutsch-französischen Krieges, Altenburg 1899, 155. 18 Gerhard Schulz, Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration, Bd. 2, München 1989,55. 19 Vgl. Ernst Weber, Lyrik der Befreiungskriege (1812 -1815). Gesellschaftspolitische Meinungs- und Willensbildung durch Literatur, Stuttgart 1991, 12-19. 20 Dieter Düding, Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (18081847), München 1984, 22ff., bezeichnet die genannten Autoren als "nationale Wortführer", die entscheidende Impulse für ein allgemeines Nationalbewußtsein gegeben hätten. Kritisch dazu E. Weber, Lyrik (Anm. 19), 56 - 61. Über den "nach innen gewendeten Diskurs literarisch-philosophischer Intelligenz-Eliten" vgl. Harro Segeberg, Nationalismus als Literatur, in: Polyperspektivik in der literarischen Moderne, hrsg. v. Jörg Schönert und Harro Segeberg, Frankfurt a.M. 1988, 298 - 337. Kritisch zu Fichtes nationalem Denken Werner Schneiders, Der Zwingherr zur Freiheit und das deutsche Urvolk. J.G. Fichtes philosophischer und politischer Absolutismus, in: Volk - Nation - Vaterland, hrsg. v. Ulrich Herrmann, Hamburg 1996, 222 - 243. Zum Prozeß der Nationswerdung vgl. Otto Dann, Nationalismus und sozialer Wandel in Deutschland 1806 - 1850, in: ders., Nationalismus und sozialer Wandel, Hamburg 1978,77- 128.

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des fürsten zu verpflichten. Ein altruistisches Denken, welches das Gemeinwohl in das Kalkül der eigenen Lebenspraxis einbezog oder ihm gar das Privatinteresse nachordnete, mußte erst anerzogen werden. Auch konnte ein Nationalbewußtsein kaum innerhalb einer Gesellschaftsstruktur entstehen, in der "die Trennung des Einzelnen vom Staat und der Gebildeten von der Masse viel zu groß" war21 • Friedrich von Vincke hatte dieses Problem erkannt, als er in einer Denkschrift 1808 die Annäherung der Stände, ihre "Vereinigung zu gleichen Zwecken" forderte, um "Selbstsucht" und "Egoismus" zu verdrängen und "die energievolle Theilnahme aller am gemeinen Wohl" zu erreichen 22 • Fehlten aber die entscheidenden Bedingungen für ein in allen Bevölkerungsschichten verbreitetes Nationalbewußtsein, dann konnte die Befreiungskriegslyrik nicht allein dessen ,natürliche' Ausdrucksform und der durch sie propagierte Krieg nicht ausschließlich auf die Befreiung von französischer Okkupation bzw. auf die NationalstaatsgfÜndung gerichtet sein. Mit ihr mußten sich weitergesteckte Ziele verbinden. Dies gilt um so mehr, als sich das Eintreten von Dichtem wie Körner, Schenkendorf, Fouque, Amdt oder Rückert für Kampf und Krieg keineswegs von selbst versteht. Gut zwei Dekaden zuvor, im Juni 1790, hatte Klopstock in seiner Ode ,Sie und nicht wir' die (vermeintliche) Absage der französischen Nationalversammlung an jeden Eroberungskrieg als Fortschritt der Menschheit hymnisch gefeiert23 . Und in seiner Ode ,Der Freiheitskrieg', die er im Frühsommer 1792 dem designierten Oberbefehlshaber der Koalitionsarmee, dem Herzog Friedrich von Braunschweig, zusandte, um ihn zur Niederlegung des Kommandos zu bewegen, beschwört er das für ein vernunftbestimmtes, aufgeklärtes Bewußtsein verpflichtende Ideal eines ewigen Friedens. Der geplante Feldzug gegen die Franzosen stelle einen Rückfall in die Barbarei dar, der einzig "vergötzten Herrschern Menschenopfer" bringe 24 • Klopstocks Verse sind aus dem irenischen Denken einer älteren Gruppe der Gebildeten der Spätaufklärung erwachsen 25 • Dichter verkörperten für Klopstock das politisch-moralische Gewissen ihrer Zeit, das im versifizierten Appell an die Vernunft aktiv den Frieden als Prinzip der Politik vertrat. Darin äußerte sich der geistige Führungsanspruch der schreibenden Intelligenz, der Kritik am absolutistischen Herrschaftssystem ("vergötzte Herrscher") einschloß. Die Oden Klopstocks 21 Schleiennaeher in einem Brief an Georg Reimer vom 14.130.11. 1806, in: Ernst Müsebeck, Neue Briefe Schleiennachers, in: FBPG 22 (1909), 224. 22 Das Refonnrninisterium Stein. Akten zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte aus den Jahren 1807 -1808, hrsg. v. H. Scheel und D. Schmidt, Bd. 3, Berlin 1968,715; vgl. auch die Nassauer Denkschrift Steins vom Juni 1807, in: Freiherr vom Stein. Briefe und amtliche Schriften, hrsg. v. E. Botzenhart und W. Hubatsch, 4 Bde., Stuttgart 1957 -1963, hier Bd. 2,1, bes.391. 23 "Was vollbringet sie Galliens Freiheit nicht! Sogar das gräßlichste aller Ungeheuer, der Krieg wird an die Kette gelegt", in: Klopstocks sämmtliche Werke, Bd. 4, Leipzig 1854,323. 24 Ebd., 324. 25 Otto Dann, Die Friedensdiskussion der deutschen Gebildeten im Jahrzehnt der Französischen Revolution, in: Historische Beiträge zur Friedensforschung, hrsg. v. Wolfgang Huber, Stuttgart 1970,95 -153, hier HOff.

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fügen sich in ein publizistisch vertretenes, bürgerliche Freiheiten und Rechtsgleichheit für alle einforderndes Friedensdenken ein, das mit Kant den Krieg als "Quell aller Übel und Verderbnis der Sitten" stigmatisierte26 . Zur Zeit der Befreiungskriege jedoch scheint kaum noch etwas von jener Friedensliebe in Dichtung und Publizistik vorhanden gewesen zu sein. Arndt brachte im Oktober 1812 mit seinem ,Kurzen Katechismus' Lieder unter die Soldaten der Deutschen Legion in Rußland, die eindeutig auf die Aktivierung des Animalischen im Menschen zielten. Sätze wie "Auf, ihr Schläger! Auf, ihr Jäger! Auf zur frohen Jagd! Wölfe, Füchse, Tiger, Lüchse, Tödtet unverzagt; Drachenzähnen und Hyänen Weist den scharfen Stahl, Unbegraben laßt den Raben Sie zum feisten Mahl,,27 lassen keinen Zweifel daran, daß hier die Lust am todbringenden Kampf gegen die als "Hunde", "Schlangen", "Affen" oder "Schweine" apostrophierten Franzosen geweckt werden sollte28 . Der Krieg gilt nun nicht mehr als Rückfall in die Barbarei, sondern als Weg in eine bessere Zukunft. "Und opferst Du Dich auch: wohlan! Vergebens stirbt kein Ehrenmann, Aus Deinem Blut ein Phönix springt, der sich und seine Zeit verjüngt. Aus Deiner Asche kommt ein Schwan, Wie dort bei Huß! fleugt Himmel an Und singt von bessern Zeiten klar [ ... ]"29. Zwischen Klopstocks und Arndts Versen hatte sich ein entscheidender Umbruch in der Einstellung der schreibenden Intelligenz zum Krieg vollzogen 3o . Ausgelöst durch die Erfahrungen mit dem revolutionären Frankreich, seiner Bürgerarmee, seinem Nationalstolz und Sendungsbewußtsein, verschärft durch die annexionistische Eroberungspolitik Napoleons - von den Gebildeten als Bedrohung ihrer kulturellen Identität erlebt3! - und begleitet von staatsphilosophischen Überlegungen, welche das Verhältnis der Staaten zueinander als eine ständige Konkurrenzsituation beschrieben32 , wurde der Krieg als legitimes Mittel der Politik akzeptiert. Er 26 Zit. nach Otto Dann, Der deutsche Bürger wird Soldat, in: Lehren aus der Geschichte? Historische Friedensforschung, hrsg. v. Reiner Steinweg, Frankfurt a.M. 1990,62. 27 [Ernst Moritz Arndt], Kurzer Katechismus für teutsche Soldaten, nebst zwei Anhängen von Liedern, [Königsberg] 1813 [1. Auf!. 1812],56. 28 Ebd., 63, 54, 51, 66. 29 Karl Friedrich Wetzei, Rechter Sinn, in: Deutsche Blätter, Bd. 6, Leipzig, 368 (9.2. 1815). 30 Johannes Kunisch, Von der gezähmten zur entfesselten Bellona. Die Umwertung des Krieges im Zeitalter der Revolutions- und Freiheitskriege, in: ders., Fürst - Gesellschaft Krieg. Studien zur bellizistischen Disposition des absoluten Fürstenstaates, Köln 1992, 203 226; Otto Dann, Vernunftfrieden und nationaler Krieg. Der Umbruch im Friedensverhalten des deutschen Bürgertums zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Kirche zwischen Krieg und Frieden, hrsg. v. W. Huber und J. Schwerdtfeger, Stuttgart 1976, 169 - 224. 31 An Charlotte von Kathen schrieb SchleiemIacher Monate vor der Niederlage Preußens: "Glauben Sie mir, es steht bevor, früher oder später, ein allgemeiner Kampf, dessen Gegenstand unsre Gesinnung, unsre Religion, unsre Geistesbildung nicht weniger sein werden, als unsre äußere Freiheit und äußeren Güter [ ... ]" (20. 6. 1806), in: Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, Bd. 2, Berlin 1858,63. 32 O. Dann, Bürger (Anm. 26), 68 f.

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gewährleistete nationale Sicherheit und Unabhängigkeit als Bedingung autonomer gesellschaftlicher und staatlicher Entwicklung. Der Krieg, so Friedrich Gentz 1800, sei nicht als Unglück einer Nation zu betrachten, sondern "als das Mittel zur Vervielfältigung ihrer Kräfte,,33. Mit dem Krieg gegen Frankreich schien zugleich eine Umgestaltung der "alten Ordnung" möglich. In einem Brief Schleiermachers vom Dezember 1806 heißt es: "Siegt der Feind gänzlich, daß er auch Rußland und England zu einem Frieden nötiget, der seine Übermacht befestiget, so wird er auch in Deutschland den wissenschaftlichen und religiösen Druck beginnen, und dann wird die Nation aufstehn und sich also einen Staat bilden. Sollte er aber in seine Grenzen zurückgewiesen werden, so kann es allenfalls nur geschehen, wenn die Fürsten die Nation in Bewegung setzen [ ... ], und dann wird auf diesem Wege die alte Ordnung der Dinge von selbst verschwinden,,34. Was die bürgerliche Intelligenz unter der neuen Ordnung verstand, beschrieb Fichte 1813 in seinem Diarium bezeichnenderweise als Erwartung an den eingetretenen Krieg: ,,Republik, nicht Willkür [ ... ] darum eben Verfassung, Oberaufsicht des Volkes [ ... ] Krieg gegen Willkür und Alleinherrschaft,,35. Das Zitat macht deutlich, daß der Krieg nichts Anstößiges mehr hatte und daß die Gründung eines Nationalstaates hinter das Ziel einer durch Krieg herbeizuführenden Gesellschaftsrevolution zurücktrat, die mittels einer umfassenden nationalen Identitätsbildung zu individuellen Freiheiten, Rechtssicherheit durch Verfassung und politischer Mitsprache führen sollte. Amdts Verse, die 1813 den publizistischen Prozeß anstießen und zum Modell für die Kriegsagitation der Befreiungskriegslyrik wurden, sind ohne die vorausgegangenen Reflexionen einer kleinen bürgerlichen Elite über den Zusammenhang von nationalem Krieg und gesellschaftspolitischer Reform nicht denkbar. Er setzte - wie noch nachzuweisen ist - in publizistische Praxis um, was zuvor in Denkschriften und Abhandlungen der preußischen Reformer entworfen worden war. Amdts Gedichte sind nicht Ausdruck eines grundsätzlich antihumanen und friedensfeindlichen Denkens, sondern bewußt gewähltes, auf die politische Lage nach Napoleons Scheitern in Rußland abgestimmtes Mittel der öffentlichen Meinungsbildung. Die politische Vorgeschichte der Befreiungskriegslyrik liefert die Koordinaten, innerhalb derer ihre Agitation für den Krieg betrachtet werden muß. Das Volk für den antinapoleonischen Kampf zu aktivieren und "Heil und Rettung" in "einem Wirbelwind des Volks zu suchen,,36, mußte langfristig dessen Untertanenmentalität verändern und die Armee sozial integrieren. Damit waren die Voraussetzungen gegeben, um aus der ,freiwilligen' Kriegsteilnahme politische Ansprüche ableiten zu können. Die publizistisch betriebene Nationswerdung sollte die Bindung an den Zit. nach O. Dann, Vemunftfrieden (Anm. 30), 178, Anm. 20. Brief an Georg Reimer 6. 8. 1806, in: E. Müsebeck, Neue Briefe (Anm. 21), 224. 35 Zit. nach O. Dann, Bürger (Anm. 26), 73. 36 Amdt in einem Brief an Friedrich v. Horn vom 1. 12. 1812, in: Ernst Moritz Arndt, Briefe, hrsg. v. Albrecht Dühr, Bd. I, Darmstadt 1977, 234. 33

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Landesfürsten schwächen wie zum Abbau der staatlichen Autonomie zugunsten einer als Bundesstaat, Staatenbund oder Zentralstaat organisierten Nation führen. Die Institutionalisierung der öffentlichen Meinung schließlich gefahrdete den absoluten Machtanspruch der Fürsten. Im folgenden soll der Frage nachgegangen werden, zu welchen Ergebnissen der reformpolitische Bellizismus der Befreiungskriegslyrik geführt hat (11.) und welche Bedeutung ihm in der Geschichte des Bellizismus im 19. Jahrhundert zukommt (VI.). Der Krieg als Mittel der Politik wird auch durch jene Verse nicht bezweifelt, die einen Eroberungskrieg gegen Frankreich ablehnen 37 . Die politischen Zielvorstellungen, die außen- wie innenpolitischen, begründen seine Legitimität. Körners Lyrik, bislang als beispielhaft für die Befreiungskriegslyrik und ihren Bellizismus angesehen, hat - dies sei als These hier vorangestellt - nur wenig mit dem reformpolitischen Bellizismus dieser Literatur gemeinsam. Thre Kriegsagitation ist aufgrund ihres Ingroup-Charakters anational und obrigkeitsbezogen. Zwar bedient sich Körner der gleichen Schlagworte wie etwa Amdt, doch fehlt seiner Lyrik die antiabsolutistische Ausrichtung (111.). Thren besonderen Bellizismus half die literarische Welt verbreiten, die nach Körners Tod sich mit dessen Leben auseinandersetzte (IV.); er ist beispielhaft für den begrenzten politischen Horizont vieler Dichter der Romantik (V.).

11. Lyrik diente - neben Flugschriften - 1812/13 preußischen Reformern als Instrument der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung 38 . Mit Hilfe dieses Mediums sollte die nach 1806 eingeleitete Politik der Wiedergewinnung staatlicher Unabhängigkeit nach der militärischen Katastrophe Napoleons in Rußland entschieden fortgesetzt werden. Seit 1808 war man entschlossen, lieber "den blutigen Kampf um die Ehre und Unabhängigkeit" wie den Fortbestand der preußischen Monarchie zu riskieren, als "zahm und geduldig die Ansprüche eines verfluchten Tyrannen abzuwarten,,39. Die zu diesem Zweck von Stein, Gneisenau und Schamhorst angestrebte Volksbewaffnung sollte jedoch begleitet werden sowohl von einer aktiven Öffentlichkeitspolitik der Regierung, um den gemeinschaftlichen Geist zu fördern, als auch von der Einführung der Rede- und Meinungsfreiheit. Denn nur "durch freimütiges Reden und Schreiben", so Vincke, könnten sich "die edelsten Kräfte des Menschen entwickeln,,40. Das Ziel, den am Gemeinwohl desinteressierten, von der Politik ausgeschlossenen Untertanen in einen mündigen, kritisch mitdenkenden Staatsbürger zu verwandeln, der aktiv am politischen Leben partiziZ. B. Körner "Nicht zum Erobern zogen wir Vom väterlichen Heerd", s. u. 302 f. Zur öffentlichen Meinungsbildung vor den Befreiungskriegen vgl. E. Weber, Lyrik (Anm. 19), 74 - 90, dort auch die ältere Literatur. 39 E. BotzenhartlW. Hubatseh, Stein (Anm. 22), Bd. 2,2,485. 40 H. Scheel/D. Schmidt, Refonnministerium (Anm. 22), Bd. 3, 716 (Denkschrift vom August 1808). 37

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pierte, ließ sich nach Meinung der Reformer nur erreichen, wenn auch dem Staat eine "freiere Gestalt" gegeben würde. Eine ,,Municipalverfassung" sollte den Bürgern "das Wahlrecht ihrer Obrigkeiten und Rechenschaftsforderungen von selbigen" zugestehen41 . Dieser Plan, die militärischen Reserven zu nutzen, welche in der Volksbewaffnung steckten, bei gleichzeitiger Umverteilung der Macht im Staate, scheiterte am Widerstand des preußischen Königs42 . Dies und der Mißerfolg der Insurrektionsversuche 1809 in Nord- und Mitteldeutschland, welcher die Illusion von einer zum nationalen Befreiungskrieg bereiten Bevölkerung zerstörte, zwang die preußischen Reformer zu neuen Überlegungen. Da man, wie vom Stein resigniert feststellte, auf "freiwillige Volks-Erhebungen, die zur gleichen Zeit plötzlich ausbrechen [ ... ] bei dem Phlegma der nördlichen Deutschen, der Weichlichkeit der oberen Klassen, dem Mietlings-Geist der Beamten" nicht rechnen durfte43 , mußten sie durch öffentliche Meinungsbildung vorbereitet bzw. herbeigeführt werden. "Diese verruchte Nation", meinte Stein, "muß der öffentlichen Meinung unterliegen wenn man diese recht aufreizt,,44. Man suchte die Rettung zunächst bei den Schriftstellern. Denn "auf die Deutschen [würde] Schriftstellerei mehr als auf andere Nationen" wirken. Daher wollte er alle akademisch Gebildeten aktivieren, die "eine Veranlassung zu schriftstellerischen Arbeiten" hatten. Mittels Gedichten, Augschriften, Predigten und Zeitungen sollten sie die öffentliche Meinung bearbeiten zur Weckung des "staatsbürgerlichen und kriegerischen Geistes in der Nation,,45. In Arndt fand Stein den entscheidenden Mitstreiter für seine Pläne. In seinem Brief an den Zaren vom 18. 8. 1812 forderte er: "Herr Arndt [der zwei Tage zuvor in Petersburg eingetroffen war] muß sogleich mit Nutzen gebraucht werden a) um Schriften und Lieder u.s.w. abzufassen, welche unter den Deutschen verbreitet werden sollen, um ihre Ansichten zu berichtigen; b) er wird bei der deutschen Legion angestellt, um ihr - durch seine Schriften [ ... ] - Begeisterung und volle Hingebung einzuflößen [ ... ],,46. Der ,Kurze Katechismus' mit seinem Lied41 Gneisenau in einem Memoire vom August 1808, zit. nach Friedrich Thimme, Zu den Erhebungsplänen der preußischen Patrioten im Sommer 1808, in: HZ 86 (1901), 91. Gneisenau verband den Verfassungsgedanken mit einer Führungs- und Einigungsrolle Preußens unter den deutschen Staaten: ,,Eine freie Verfassung und eine einfacher geordnete Verwaltung werden es ihnen wünschenswerth machen, mit uns unter gemeinschaftlichen Gesetzen zu leben" (ebd., 90). - Auf welch breiter Basis das Reformprogramm ruhte, zeigt u. a. die Gründung des ,Deutschen Bundes' und des ,Tugendbundes', die der politischen Meinungsbildung unter den Gebildeten dienten. 42 Über den Zusammenhang von Militärreform und Gesellschaftsreform bes. bei Scharnhorst vgl. J. Kunisch, Bellona (Anm. 30), 205 - 213; O. Dann, Vernunftfrieden (Anm. 30), 198 ff. 43 E. Botzenhart/W. Hubatseh, Stein (Anm. 22), Bd. 3, 578. 44 Ebd., 148 (Brünn, den 8. 6. 1809). Stein legte bes. Wert auf "zweckmäßige Proclamationen", d. h. auf eine motivierende Information der Bevölkerung über Sinn und Zweck eines Krieges. 45 Ebd., 296 f.

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anhang, der Ende Oktober / Anfang November gut vier Monate vor der preußischen Kriegserklärung in St. Petersburg erschien, um in der Deutschen Legion verteilt zu werden, war das erste Ergebnis dieses publizistischen Aktionsprogramms, bei dem das revolutionäre Frankreich wie Napoleons Pressepolitik Pate gestanden hatten. Arndt nutzte die Gunst der Stunde, die Vernichtung der Grande Armee, um eine Truppe für den nationalen Befreiungskampf zu mobilisieren, die den Kern eines nationalen Heeres bilden sollte. Mit der Übersiedelung Arndts nach Königsberg im Januar 1813 wurde der insurrektionelle Charakter seiner publizistischen Tatigkeit offenkundig. Der nationale Befreiungskampf aus "einem Wirbelwind des Volks" sollte entfesselt werden. Dem kam die Aufstandsstimmung im Lande entgegen, wie sie sich in den zahlreichen Immediateingaben ständischer Deputierter Ostpreußens und des Landadels niederschlug 47 . Die Äußerung Steins, "Die Meinung bekämpft siegreich die Gewalt", richtete sich nicht mehr allein gegen Napoleon48 . In seinen Augen handelten die deutschen Fürsten, die er "elend" und "feig" nennt, dem Wohle Deutschlands entgegen49 . Arndt gestand später in einem Prozeß gegen ihn, daß er mit dem ,Kurzen Katechismus' ,,indirekt durch Verminderung der Anhänglichkeit an die bestehenden Dynastien und der Achtung für die Persönlichkeit der höchsten Gewalthaber für einen andern Zustand der Dinge" habe wirken wollen 5o . Fichtes Tagebuchnotiz "Krieg gegen Willkür und Alleinherrschaft" konnte in ihrem innen- und außenpolitischen Doppelsinn als Motto über der Kriegsagitation der Befreiungskriegslyrik stehen. - Im folgenden sei an Beispielen die refonnpolitische Funktionalität des Bellizismus der Befreiungskriegslyrik nachgewiesen. Er trug dazu bei, die alten absolutistischen Strukturen abzubauen und gesellschaftsverändernde Prozesse anzustoßen. ,,zweckmäßige Proc1amationen", so vom Stein, hatten die Bevölkerung über Sinn und Zweck des Krieges zu unterrichten 51 . Das Volk sollte nicht mehr länger nur willenloses Instrument der Regierungspolitik sein. Erst ein über das Schicksal des Staates informiertes Volk könne jene Kräfte entwickeln, die zur Selbsterhaltung notwendig seien. Die Befreiungskriegslyrik übernahm in einer Zeit eine informationsvermittelnde Rolle, als die preußische Regierung schwieg, Aufstandsbereitschaft mit Sanktionen bedrohte52 und Napoleon die öffentliche Meinung in 46 Helmut König, Zur Geschichte der bürgerlichen Nationalerziehung in Deutschland zwischen 1807 und 1815, Bd. 1, Berlin 1972,212. 47 Vgl. E. Weber, Lyrik (Anm. 19), 152. 48 E. BotzenhartlW. Hubatseh, Stein (Anm. 22), Bd. 3,294. 49 Brief an Frau vom Stein vom 21. 10. 1813, in: E. BotzenhartlW. Hubatseh, Stein (Anm. 22), Bd. 4, 280; vgl. auch den Brief an Münster vom 1.12. 1812, an Schön vom 16. 12. 1812 oder an Gneisenau vom 29. 12. 1813. 50 Der Innenminister von Rochow 1836 an Karl von Voß, den Vertrauten des Kronprinzen Wilhelm, in: E. Müsebeck. Neue Briefe (Anm. 21), 216. 51 Vgl. Anm. 44. 52 Vgl. die Antwort des Königs vom 8. 1. 1813 auf die Immediateingaben verschiedener Adliger vom 31. 12. 1812, abgedruckt in: Freiwillige Gaben und Opfer des preußischen Vol-

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seinem Sinne kontrollieren ließ53 • Das Ende 1812 entstandene Gedicht Arndts ,Der Wanderer und der Preuße' unterläuft dessen verschleiernde Politik nach der Vernichtung seiner Armee in Rußland. Wanderer Preuße Wanderer Preuße Wanderer Preuße

"Was sind das für bescheidne Krieger, Die jetzt bei uns vOTÜberziehn? Es sind die stolzen Weltbesieger, Die jetzo vor den Preußen fliehn. Ey sind denn das die bösen Gäste, Die uns vor kurzem so gequält? Es sind nur ihre Ueberreste Die weislich Flucht, statt Tod gewählt. Wo ist denn jener große Kaiser Mit seiner großen Kriegesmacht? Er nahm die Flucht und wurde heiser, Weil er zu früh, zu stark gelacht. [ ••. ]"54.

Beide Sprecher verfügen über einen partiell identischen, in einem entscheidenden Punkt aber unterschiedlichen Wissensstand. Der Wanderer hat noch nichts von der Vernichtung des Napoleonischen Heeres in Rußland gehört. Das Zwiegespräch ist daraufhin angelegt, dieses Informationsdefizit zu beheben. Die Antworten des Preußen auf des Wanderers Fragen enthüllen nach und nach das ganze Ausmaß der militärischen Katastrophe. Sie vermitteln den Eindruck eines vollständig vernichteten Heeres, das nur in "Ueberresten" noch vorhanden ist und dessen Führung angstgeschüttelt die Flucht angetreten hat. Das Gedicht gibt sich als versifizierte Form einer Zeitungsnachricht. Es vervollständigt das durch tagtägliche Anschauung von halbverhungerten, zerlumpten Soldaten gewonnene Wissen der Ostpreußen, weil es das ganze Ausmaß der Katastrophe andeutet, und es bestätigt das, was Breslauer, Berliner oder Hamburger geTÜchteweise kannten. Daß die Information in der Befreiungskriegslyrik nicht objektiv erfolgt, sondern von den Interessen der Befürworter eines Volkskrieges geprägt ist, geht aus der Struktur des Dialogs hervor. Der Wanderer, der den Part des Rezipienten übernimmt, bewertet am Schluß nach gelungener Belehrung die Zeitereignisse ("Rückzugs schwere Schmach"). Die Verse suggerieren dem Leser, daß der Zeitpunkt günstig ist, den bislang als unbesiegbar geltenden Napoleon durch einen Krieg vollends zu vernichten. kes aus den Jahren 1813 - 1815, hrsg. v. Ernst Müsebeck. in: Mitteilungen der königlich-preußischen Archivverwaltung, Heft 23, Leipzig 1913 (Urkundenanhang), 118 f., Anm. 1. 53 Zur Napoleonischen Presse- und Informationspolitik vgl. E. Weber, Lyrik (Anm. 19), 78- 82. 54 Das Gedicht erschien vermutlich zuerst in: Drei schöne Kriegslieder. Gedruckt in diesem Jahr 1812. Es wurde mehrfach nachgedruckt im Frühjahr 1813, hier zit. nach: Sammlung Deutscher Wehrlieder. Nebst Anhang. Neue verbesserte und vermehrte Ausgabe, [vermutlich hrsg. v. Friedrich Ludwig lahn], [Nordhausen] 1814, 27 - 29.

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Das katechetische Frage-Antwort-Spiel ist ein beliebtes literarisches Verfahren, wenn emotionalisierend über militärische Ereignisse informiert werden soll. Die Informationen erfolgen allerdings nur andeutungsweise oder beziehen sich auf ein Vorwissen. Häufig stellt schon der rezeptions steuernde Titel den Bezug her wie in folgenden Gedichten: ,Der Niemen an die Berezyna', ,Beym Einzug der Russen in Berlin am 4ten März 1813', ,Auf die Schlacht bei Groß-Görschen oder Lützen', ,Als Kaiser Franz den Franzosen den Krieg erklärte', ,Die Leipziger Schlacht', ,Rheinübergangs-Lied am 1. Januar 1814,55. Zeitungen gehen auf lokale Ereignisse ein, wie den Durchzug von Soldaten und Gefangenen oder den Besuch eines Fürsten oder Heerführers in einer Stadt. Wie bei den Napoleon-Liedern 56, die diesen mit der Aufzählung der Taten als Bösewicht, Länderdieb, Weltenherrscher oder Antichrist verurteilen, dienten die Informationen ausschließlich der Apologie des Krieges. Die Herabsetzung des Feindes, Siegesnachrichten oder die Veranschaulichung der Nationalität des Volkskrieges sollten möglicher Angst und Mutlosigkeit vorbeugen und den Kampfeswillen während des Krieges aufrechterhalten. Sie erfüllten damit die Aufgabe, welche zuvor die preußischen Reformer als Voraussetzung für einen erfolgreichen Krieg genannt hatten. Durch den Krieg und das nach Preußens Eintritt wachsende Interesse der deutschen Fürsten, alle Kräfte für ihn zu mobilisieren, bot sich den Nationalgesinnten die Chance, die Arkanhaltung des Absolutismus, daß Macht sich nicht erkläre, zu erschüttern. Indem die Lyrik politisch-militärische Zusammenhänge nahebrachte, für den Volkskrieg emotionalisierte und die Vertreibung Napoleons als politisches Ziel vorgab, förderte sie zum einen die Integration von Staat und Gesellschaft und trug zum andern dazu bei, daß sich die öffentliche Meinung als gesellschaftspolitische Macht konstituieren konnte. Ihre große Verbreitung und die Teilnahme so vieler, meist anonym gebliebener Autoren in nahezu allen deutschen Staaten sind selbst schon Indiz für den sich abzeichnenden Wandel der Öffentlichkeitsstrukturen. Er sollte sich noch deutlicher in der Publizistik zwischen 1814 und 1819 manifestieren, die u.a gleiche Rechte für alle Bürger, eine Verfassungsordnung und die politische Organisation eines zukünftigen deutschen Nationalstaates diskutierte. In welchem Maße die sich entfaltende öffentliche Meinung die alte Machtelite beunruhigte, geht aus einem Brief Friedrich von Gentz' an Metternich vom Sommer 1813 hervor: ,,Es muß wieder mehr geglaubt, es muß wieder mehr gehorcht, es muß tausendmal weniger als jetzt räsonniert, oder es kann nicht mehr regiert werden,,57. Im Verhältnis von Armee und Bevölkerung hat der reformpolitische Bellizismus der Befreiungskriegslyrik nicht minder weitreichende Folgen gehabt. Scharnhorst 55 ErgieBungen Deutschen Gefühles in Gesängen und Liedern bey den Ereignissen dieser Zeit, [Heidelberg] 1814, 97ff., 107, 87ff., 154ff., 105f., 91 ff., ND hrsg. v. Ernst Weber, Hildesheim 1983. 56 Ebd., 217-221: K. J. Blumenhagen, Napoleon. 1813 als Einzeldruck; vgl. auch die Sammlung: Lobgesänge auf Napoleon Bonaparte, Königsberg [vermutlich 1813]. 57 Zit. nach Heinrich Ritter von Srbik, Metternich der Staatsmann und der Mensch, Bd. 1, 2. Aufl., München 1957, 163.

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war schon in den 90er Jahren in einer Analyse des Erfolgs der französischen Revolutionsheere zu der Einsicht gekommen, daß erst eine Bewaffnung des ganzen Volkes die Voraussetzung für den Sieg über einen mächtigen Gegner schaffen würde58 . Er hielt zwar am stehenden Heere, einem "aus der Sphäre bürgerlichen Lebens weithin" ausgesperrten "sozialen Körper" fest 59, forderte aber die Aufstellung einer Miliz zur Unterstützung der Linientruppen, in der ,jeder Staatsbürger ohne alle Ausnahme dienen müsse,,60. Erst ein Bündnis zwischen Heer und Staat, das jenem eine neue, angesehene gesellschaftliche Stellung gebe, gewährleiste bei gleichzeitigem Abbau feudalistischer Strukturen im Heer die Unabhängigkeit und Sicherheit einer Nation. Arndt, der u. a. in ,Was bedeutet Landsturm und Landwehr?' die allgemeine Wehrpflicht befürwortete, ist im ,Kurzen Katechismus' bezüglich der Integration von Armee und Gesellschaft einen entscheidenden Schritt weitergegangen61 . Der Soldat gilt als ein wehrhafter Bürger, der Bürger als potentieller Soldat. Beide stehen in der Pflicht des Vaterlandes als ihrem gemeinsamen Bezugs- und Handlungsraum. Wenn der Soldat ein Bürger in "Mondur" ist62 - Arndt entwirft für ihn einen Verhaltenskatalog, der in seiner christlich fundierten Ethik dem unter bürgerlichen Privatleuten entspricht -, dann muß ein Bürger jederzeit die Rolle des Soldaten als Vaterlandsverteidiger übernehmen können. Eine Unterscheidung zwischen Heer und Gesellschaft wie auch zwischen Heer und Miliz trifft Arndt nicht mehr. Der Soldat ist ein Staatsbürger, der zeitweise in die Rolle des Kriegers schlüpft. Revolutionär jedoch ist der Versuch Arndts, den Soldaten von seiner Treuepflicht gegen den Landesherm als seinen obersten Feldherm zu entbinden. Die deutschen Fürsten hätten, so Arndt, sich durch das Bündnis mit Napoleon diskreditiert. Sie seien zu Handlangem des Feindes geworden mit der Folge, daß "teutsche Brüste von teutschen Soldaten durchstoßen" worden seien63 • Zu Ungehorsam und damit zu freier autonomer Entscheidung berechtigte sie, daß die Fürsten gegen das (göttliche) Sittengesetz verstoßen hätten, welches sie als "Ebenbild Gottes auf Erden und ein Gleichniß der himmlischen Majestät" zu solidarischem und verantwortlichem Handeln ihren Völkern gegenüber verpflichtete. Nicht den "vergänglichen" Königen und Fürsten, sondern allein Volk und Vaterland, die "unsterblich und ewig" seien64 , sollte der Soldat dienen. Im ,Kurzen Katechismus' spricht Arndt direkt aus, was seine Lieder für Soldaten im Frühjahr 1813 durch eine Leerstelle in der Rechtfertigung des Krieges nur indirekt vertreten. Der Kampf gegen Napoleon wird anders als im traditionellen, 58 59

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Vgl. J. Kunisch, Bellona (Anm. 30), zu Scharnhorst 207 - 214. Ebd., 210. Zit. nach ebd. Zum Katechismus (Anm. 27) vgl. E. Weber, Lyrik (Anm. 19), 160ff. E. M. Amdt, Katechismus (Anm. 27), 4. Ebd.,5. Ebd., 8.

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anonymen Soldatenlied tlicht mehr mit der Treuepflicht gegenüber dem Landesfürsten begründet. Die ,Fünf Lieder für deutsche Soldaten', das Lied ,An die Preußen' und auch die für ein russisch-preußisches Bündnis werbenden ,Lieder dem Vaterlande gesungen' erwähnen den preußischen König mit keinem Wort. Schill, Chasot, Gneisenau und Dörnberg, Vorbilder soldatischen Handeins, haben für "Deutschland" gekämpft. Sie fühlten sich dem Wohl dieses Vaterlandes - neben Gott und ihrem sittlichen Empfinden - allein verpflichtet. Amdts Verse sind zwar ganz auf die politische Lage nach Yorks Waffenstillstand hin geschrieben. Er wollte den Volkskrieg anzetteln, der den zaudernden preußischen König zur Entscheidung zwingen sollte. Für die Befreiungskriegslyrik jedoch wurde entscheidend, daß das "Vaterland", gleichviel ob man damit den Territorialstaat oder die deutsche Nation meinte, nun die Stelle des Landesfürsten einnahm ("Ihn sendet kein Kaiser, kein König aus, Ihn sendet die Freiheit, das Vaterland aus ),,65. Für seine Freiheit zog der Bürgersoldat in den Krieg. Die Verpflichtung des Soldaten auf den bürgerlichen Verhaltenskatalog, die Amdt im ,Kurzen Katechismus' vornahm, schuf die Voraussetzung, um ,König' und ,Fürst' durch ,Vaterland' zu ersetzen. Denn mit Manneszucht, Treue, Frömmigkeit und Hingabe waren Wertnonnen vorgegeben, die sich vom Individuum auf den Staat als soziale ,Individualität' übertragen ließen. Tapferkeit und Aufopferungsbereitschaft konnten nun der Nation gelten. Indem Amdt den Soldatenstand, ausgehend vom Sittenkodex bürgerlicher Privatleute, wie er in der bürgerlichen Emanzipationsbewegung des 18. Jahrhunderts entwickelt worden war, neu definierte, war die "Vergesellschaftung,,66 der Annee möglich geworden, die Scharnhorst und andere preußische Refonner angestrebt hatten. Die publizistisch verbreitete Vaterlandslyrik sollte diesen Prozeß vorantreiben. Im Sommer 1814 schien die Integration von Annee und Gesellschaft Realität geworden zu sein. Zeitungen in nord- und süddeutschen Staaten brachten Lieder, die den Eindruck einer engen Verbundenheit von Annee und Bevölkerung vennittelten. Den zurückkehrenden Soldaten schlug ein herzliches Willkommen, Achtung und Bewunderung entgegen, Indiz ihres gewandelten sozialen Status. "Willkommen! inniglich willkommen! Ihr Leidens-Brüder, die Ihr männiglich Für uns gekämpft, geduldet und gerungen habt! Es ist das Herz, was Euch entgegen fliegt; [ ... ] Es spiegelt sich in unsenn ganzen Wesen, Daß tief, sehr tief wir fühlen, was die Zeit Und Nachzeit Euch verdankt. Willkommen! Willkommen denn! Vergeßt in unsrer Mitte, Was Ihr für uns gelitten habt!,,67 Diese Verse geben Gefühlen Ausdruck, die revolutionär erscheinen, vergleicht man sie mit dem Renomee der Soldaten im 18. Jahrhundert. Dort verkörperten diese den Obrigkeitsstaat und 65 {Ders.], Fünf Lieder für deutsche Soldaten, [Berlin 1813], I; ebd., 6: "Dort will er [Chasot in Petersburg] für Vaterland, Gott und Ehren Erlesene Männer zum Streit bewehren. Dort hebt die deutsche Legion Für Freiheit und Deutschland das Siegspanier [ ... ]". 66 J. Kunisch, Bellona (Anm. 30), 222. 67 Niederdeutsche Blätter, Hamburg, Beilage zum 2. St., 30. 5. 1814: Willkommen der Hamburgischen Bürgergarde!

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waren zum "blinden und willenlosen Werkzeug der Willkühr und Gewalt erniedrigt,,68. Hier gelten sie als "Brüder,,69, "Mitbürger,,70 und "brave Krieger,,71, die dem "Ruf der Ehre"n gefolgt sind und "im Schlachtgewühl Das Vaterland erlös't [haben] mit ihrem Blute!"73 Wo immer in diesen Heimkehrerliedern die Einheit Deutschlands beschworen wird, schließt dies auch die neue Einigkeit zwischen Militär und Bevölkerung ein. Daß nicht der Fürst als oberster Feldherr die Tapferen begrüßte, ihre Verdienste lobte und ihnen Dank abstattete, sondern die "Stadt", das "Volk", das "Vaterland", erscheint wie die Frucht von Amdts publizistischem Wirken und der Befreiungskriegslyrik, auch wenn die Lieder - in der geschickten Ausdeutung des Jubels über die Heimkehrenden - wohl eher Leitbilder für ein zukünftiges Verhältnis zwischen Armee und Bevölkerung entwerfen. Der eingetretene Bewußtseinswandel ist unverkennbar. Der Soldat steht im Dienst des Vaterlandes, für das er aus "freiem Muthe" das Schwert gezogen hat74 . Man ignoriert das nach wie vor bestehende besondere Dienstverhältnis zwischen ihm und seinem Landesfürsten und präsentiert sich als ein einig Volk. Selbst dort, wo er vom Landesherm geehrt wird, wie in dem Lied aus Regensburg, wird dieser gleichsam zum Handlanger des "Vaterlandes": "Empfangt vom Vaterland aus Maxens Hand den Lohn [ ... ],,75. Der wohl wichtigste Beitrag der Befreiungskriegslyrik zur Reformpolitik und damit zur Veränderung der absolutistischen Staats- und Gesellschaftsordnung bestand in der Verbreitung und Entwicklung eines deutschen Nationalbewußtseins in allen sozialen Schichten und allen deutschen Staaten76 . Die Lyrik in Zeitungen hatte hieran wesentlichen Anteil 77 • Die Politisierung der Kulturnation als der unter den Gebildeten entwickelten Vorstellung einer in Sprache, Wertvorstellungen und Verhaltensweisen geeinten Nation, deren Fortbestand Napoleon bedrohte, wurde zur legitimierenden Grundlage der Kriegsagitation. Wenn Amdt "des Deutschen Vaterland" definierte: "Wo Eide schwört der Druck der Hand, Wo Treue hell vom Auge blitzt Und Liebe warm im Herzen sitzt- [ ... ] Wo Zorn vertilgt den wälsche Tand, Wo jeder Franzmann heißet Feind, Wo jeder Deutsche heißet Freund 68

E. M. Amdt, Katechismus (Anm. 27), 1.

Regensburger Zeitung, Nr. 170, 19.7. 1814. Korrespondent von und für Deutschland, Nürnberg, Nr. 175,24.6.1814. 71 Berlinische Nachrichten, Nr. 109, Beilage v. 10. 9. 1814: Unsern braven Vaterlandsvertheidigern bei ihrer Rückkehr [ ... ]. 12 Wie Anm. 71. 73 Berlinische Nachrichten (Anm. 71): An die zurückkehrende Königsbergsche Landwehr. 74 Berlinische Nachrichten, Nr. 105, 1. 9. 1814: An die als Sieger zurückkehrend durchgehend freiwilligen Preußen [ ... ]; verfaßt von Superintendent Schreiber. 75 Regensburger Zeitung (Anm. 69). 76 Dazu ausführlich E. Weber, Lyrik (Anm. 19). 77 Vgl. ders., Zwischen Emanzipation und Disziplinierung. Zur meinungs- und willensbildenden Funktion politischer Lyrik in Zeitungen zur Zeit der Befreiungskriege, in: U. Herrmann, Volk - Nation - Vaterland (Anm. 20), 325 - 352. 69

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[ ... ],,78, wenn der Krieg nicht um "schnödes Gold" und um "flackernder Ehre" willen geführt werden solC9 und der Heldentod gerechtfertigt erscheint mit dem Vers "Der Deutsche Mann achtet das Leben nicht"SO, wo das Epitheton "deutsch" "Mut", "Treue", ,,zucht", ,,Rechtschaffenheit", ,,zunge" oder ,,Freiheit" voransteht, dann wird diese Vorstellung zitiert. Als z. T. ,natürliche', durch die christliche Sozialisation vertraute, wahrnehmbare Werte waren sie den unteren Ständen zugänglich, als patriotisches Gefühl, Altruismus und Opferbereitschaft für ein ,Höheres' Appell an das Selbstverständnis der Gebildeten. Der Tugendkatalog bildete in Verbindung mit dem Feindbild als dessen negativem Gegenstück und dem Bewußtsein einer verpflichtenden Geschichte die soziale und ideelle Basis des Nationalgefühls und -bewußtseins. Der Krieg wurde zum Katalysator, der nationale Idee und bürgerliche Wert- und Verhaltensvorstellungen aufs engste miteinander verschmolz.

Daß diese Einheit unter den Bedingungen des Krieges auch die Modiftkation der gesellschaftlichen Rolle der Frau bewirkte, kann hier nur angedeutet werdensl . Gedichte an Frauen, zum überwiegenden Teil auch von Frauen geschrieben und vornehmlich in Zeitungen - an der Heimatfront - erschienen, nehmen das im 18. Jahrhundert entwickelte bürgerliche Frauenbild auf, um am Ende des Krieges den eingeleiteten Prozeß der Nationswerdung voranzutreiben. Da nach dem militärischen Sieg kein Feindbild mehr zur Verfügung stand, mußte man auf ein speziftsches Selbstbild zurückgreifen. Das "teutsche Weib" war aufgerufen, sich von allem "welschen Sinn" zu befreien und auf "eitlen welschen Putz" zu verzichten s2 . ,,Heilig sey uns deutsche Sitte; Häuslichkeit belebe unsre Mitte; Und des Fremdlings Ueberrnuth und Pracht Sey verbannt wie fremde Kleiderpracht"s3. Die Frauen sollten den Nationalcharakter zur Anschauung bringen. Diese Verse sind weniger Ausdruck männlichen Rollendenkens, als daß sie die gesellschaftspolitische Aufgabe der Frau im Frieden fortschreiben, die sie während der Kriegsjahre erhalten hatte. Denn dort war ihr in Gedichten ein gesellschaftspolitisches Tätigkeitsfeld zugewiesen worden, das außerhalb des Hauses lag. Da sie nach dem überlieferten Frauenbild Zartgefühl und hingebende Liebe verkörperte, konnte sie "in den Lazaretten" und an "Sterbebetten" die körperlichen und seelischen Folgen des Krieges auffangen s4 . Der den publizistischen Gebrauch von Lyrik begründende Gedanke des Volkskrieges, welcher die Ausschöpfung aller Ressourcen forderte, führte auch Zit. nach Ergießungen (Anm. 55), 180. Ebd., 130. 80 Ebd., 165. 81 Ausführlich dazu E. Weber, Emanzipation (Anm. 77), bes. 335 - 343. 82 Marburger Anzeigen, Nr. 37, 16. 9. 1815, 340f. (zuerst in: Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 3,4. 1. 1815): Gustav Schwab. An Teutschlands Frauen. Im August 1814. 83 Erholungen. Ein thüringisches Unterhaltungsblatt für Gebildete, Nr. 4, 14. 1. 1815: Amoldine Wolf, An Deutschlands edle Frauen. 84 Berlinische Nachrichten, Nr. 40, 2. 4. 1814: An die teutschen Frauen. Zu weiteren Funktionen vgl. E. Weber, Emanzipation (Anm. 77), bes. 335 - 343. 78

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zur nationalen und politischen Sozialisation der Frau. Der Krieg wurde zum Motor eines nationalen Integrationsprozesses, der die Politisierung der Frau ansatzweise einleitete. Ein Zitat aus dem Aufsatz ,Das Vaterland ist in Gefahr' vom Frühjahr 1815 in der Zeitschrift ,Nemesis' soll abschließend noch einmal den Zusammenhang von Bellizismus und Gesellschaftsreform, der dem publizistischen Gebrauch der Befreiungskriegslyrik zugrunde lag, verdeutlichen. Die politischen Ansprüche, welche man aus dem Volkskrieg ableitete, und die die Befreiungskriegslyrik aufgrund ihres Gattungscharakters nur in Schlagwörtern ausdrücken konnte, werden hier in aller Klarheit benannt. Der Artikel wurde unmittelbar nach der Rückkehr Napoleons von Elba geschrieben, die einen erneuten Krieg notwendig machte, sollte der nationale Befreiungskampf nicht vergeblich gewesen sein. "Aber wir dürfen auch mit voller Zuversicht erwarten, daß unsere Fürsten uns jetzt nicht wieder zu Aufopferungen und Leistungen, zu Schlacht und Sieg rufen werden, ehe sie uns die Güter versichert haben, wegen deren der Sieg allein die Anstrengung werth ist und der Freude. Sie sind es sich selbst, sie sind es ihrer Ehre, sie sind es der Nachwelt schuldig, daß sie dem Volke versprechen, was dasselbe, nach dem Geiste der Zeit, zu fordern berechtigt ist, und so laut, wenn gleich bescheiden, umsonst gefordert hat: die Vereinigung aller Teutschen in ein festes, für Vertheidigung, Rechtspflege und freien innern Verkehr gleich wohl geordnetes Reich; in den einzelnen Staaten Gleichheit der Bürger vor dem Gesetze, gleiche Vertheilung der Staatslasten, und gleiche Rechte aller Bürger auf die Staatsämter jeglicher Art, nach Geist, Tugend und Verdienst. Alles gesichert durch ständische Verfassungen, unter einem starken Kaiser! Und wenn dieses versprochen würde: wer wollte sich alsdann nicht gern treu zu seinem Fürsten stellen? wer nicht gern auch das Letzte freudig wagen ?,,85

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Körners Lieder und Gedichte galten schon den Zeitgenossen als eine standesund generationsspezifische Lyrik. Der Lützower Hermann Fischer schreibt nicht ohne Stolz auf die sittliche Überlegenheit der Gebildeten: "Während Arndt für den Soldaten dichtet, den treuherzigen Ton des Volkes, der älteren deutschen Sprache [ ... ] zu treffen sucht, sind Körners Lieder hervorgegangen aus der patriotischen Empfindung des gebildeten Theils der deutschen Jugend. Von dieser Volksklasse, die ja auch unter Körners Waffenbrüdern in engerem Sinn besonders zahlreich vertreten war, sind sie deshalb auch mit ungetheilter Begeisterung aufgenommen worden. Hier finden wir Schillers sittliches Pathos wieder, [ ... ] die erhabene sittliche Größe, wie sie aus Fichtes Reden uns anweht, den festen und heiligen Vorsatz, der großen Sache würdig zu sein und den deutschen Namen nicht nur durch die Siege auf dem Schlachtfelde, sondern auch durch den schweren Sieg über die unreinen Mächte des eigenen Innern zu erheben und zu verherrlichen"s6. Die gesellschaft85 Nemesis. Zeitschrift für Politik und Geschichte, hrsg. v. Heinrich Luden, Bd. 4, Weimar 1815,252 - 276 [recte 266], das Zitat 265.

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liche Zuordnung erklärt sich zunächst aus der frühen Distribution der Lyrik. Sie entstand z.T. während der Kriegszüge des Lützowschen Freicorps, dem Körner wie auch andere Dichter angehörten, z. T. während des Waffenstillstandes zwischen Juni und August 1813 und zirkulierte innerhalb dieser Truppe in Abschriften oder speziell für sie bestimmten Drucken87 . Nach Berichten von Lützowern spielte sie im Gruppengesang - das Freicorps besaß einen von Friedrich Ludwig Jahn gegründeten Sängerchor - eine besondere Rolle. ,,[ ... ] vor allem waren es aber unsere herrlichen Körnersehen Lieder, die die höchste Theilnahme und selbst Tränen der Rührung hervorbrachten,,88. Einer breiteren Öffentlichkeit wurden sie erst nach Körners Tod bekannt. Ende August 1813 erschienen ,Drei Deutsche Gedichte von Theodor Körner Jäger beim Lützowschen Freicorps', Berlin; im November, von W. Kunze gesammelt, ,Zwölf freie deutsche Gedichte. Nebst einem Anhang', [Leipzig]; im Februar 1814 vermutlich, von v. Freymann herausgegeben, ,Theodor Körner's Nachlaß. Oder dessen Gefühle im poetischen Ausdruck, bei Gelegenheit des ausgebrochenen deutschen Freiheits-Krieges. Aus dem Portefeuille des Gebliebenen', Leipzig, und die vom Vater Christian Gottlieb Körner veranstaltete Sammlung ,Leyer und Schwerdt', Berlin. Ab November verbreiteten auch zahlreiche Zeitungen und literarische Zeitschriften Körners Gedichte und Lieder im Nachdruck. Die frühe Distribution der Körnerschen Lyrik ist jedoch keine zureichende Erklärung für ihre Klassifizierung als Lyrik der jungen akademischen Intelligenz. In ihren Strukturen, ihrer Art, wie sie für den Krieg agitierte und für den Kampf zu motivieren suchte, liegt die Ursache dafür, daß diese soziale Gruppe sie für sich in Anspruch nahm. Im folgenden wird nachzuweisen sein, daß sie in ihren literarischen Verfahren und ihren Zielvorstellungen nur partiell mit dem reformpolitischen Bellizismus der Befreiungskriegslyrik übereinstimmte. Ihre Verknüpfung mit Schiller und Fichte bei Hermann Fischer, mit einem eher idealischen, nach sittlicher Erneuerung strebenden Nationalismus, ist ein erster Hinweis. Der größte Teil der 1813 entstandenen Lyrik wurde unmittelbar auf die militärische Situation der Freiwilligen hin geschrieben und für den gemeinschaftlichen Gesang eingerichtet. Auf unterschiedliche Weise thematisieren die Lieder die Gefühle der Soldaten vor, während und - sofern sie eine Niederlage war - nach der Schlacht, um ihnen Verzagtheit und Angst zu nehmen und Zuversicht auch dort zu vermitteln, wo die Bereitschaft zum ,Tod fürs Vaterland' gefordert war89 . Den 86 Zit. nach A. Kohut, Körner (Anm. 3), 244 f. Zum folgenden vgl. auch das Körner-Kapitel bei E. Weber, Lyrik (Anm. 19), 187 - 198. 87 Z. B. Jägerlied (,,Frisch auf ihr Jäger, frei und flink"); Lied zur feierlichen Einsegnung des Königl. Preußischen Freicorps ("Wir treten hier im Gotteshaus"). 88 Mebes, Briefe aus den Feldzügen 1813 und 1814, in: Jahrbücher für die deutsche Armee und Marine, 60, Berlin 1886, 27 f.; vgl. auch den Bericht Ludwig Nagels, in: Fr. Ammon I Th. Herold, Das Leben Dr. Christian Samuel Gottlieb Nagels, Bd. 1, Kleve 1829,70. 89 Z. B. Bundeslied vor der Schlacht; Trinklied vor der Schlacht; Gebet während der Schlacht; Abschied vom Leben; "Du Schwerdt an meiner Linken", in: Theodor Körner's Nachlaß, Leipzig [1814], 2ff., 21 f, 6ff., 23f., 60ff.

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gleichen Zweck erfüllen auch jene Verse, in denen das Gruppengefühl, die gemeinsamen Werte und Absichten motivierend ins Bewußtsein gehoben werden90• Eine Mischung von beiden Gedichttypen stellt das am 22.3. 1813 zwischen preußischer Kriegserklärung und Ausmarsch des Corps entstandene ,Jägerlied' dar, das Jahn sogleich in den von ihm Anfang April herausgegebenen ,Deutschen Wehrliedern für das Königlich Preußische Frey-Corps' veröffentlicht hat. Es gehört neben ,Lützows wilde Jagd' (..Was glänzt dort vom Walde im Sonnenschein") und ,Abschied vom Leben' (..Die Wunde brennt") zu den während der Kriegsjahre am meisten verbreiteten Gedichten 91 • Für Körners literarische Kriegsagitation wie für das Selbstverständnis der jungen akademischen Intelligenz, für die er schrieb, ist es beispielhaft92 • Frisch auf ihr Jäger frei und flink, Die Büchse von der Wand! Der Muthige bekämpft die Welt, Frisch auf den Feind, frisch in das Feld! Für's deutsche Vaterland! Aus Westen, Norden, Süd und Ost Treibt uns der Rache Strahl; Vorn Oderflusse, Weser, Mayn, Vorn Elbstrom und vorn Vater Rhein Und aus dem Donau ThaI. Doch Brüder sind wir allzusarnm' Und das schwellt unsern Muth. Uns knüpft der Sprache heilig Band, Uns knüpft ein Gott, ein Vaterland, Ein treues deutsches Blut. Nicht zum Erobern zogen wir Vorn väterlichen Heerd: Die schändlichste Tyrannenmacht Bekämpfen wir in freud'ger Schlacht, Das ist des Blutes werth! Ihr aber, die uns treu geliebt, Der Herr sey Euer Schild, Bezahlen wir's mit unserrn Blut; Denn Freiheit ist das höchste Gut, Obs tausend Leben gilt.

90 Z. B. Trost, als Rundgesang zu singen; Lied der schwarzen Jäger; Lied zur feierlichen Einsegnung; Lützows wilde Jagd, in: Zwölf freie deutsche Gedichte von Theodor Körner, [Leipzig] 1813, 37 ff., 9 ff., 5 f., 51 ff. 91 Von ,Lützows wilde Jagd' sind mir vierzehn, von ,Abschied vorn Leben' elf und von ,Jägerlied' zehn Drucke bis Ende 1815 bekannt (ohne die Vertonungen). 92 Zwölf Gedichte (Anm. 90), 7 f.

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Drum wackre Jäger, flink und frey, Wie auch das Liebchen weint! Gott hilft uns im gerechten Krieg! Frisch in den Kampf! - Tod oder Sieg! Frisch, Brüder, auf den Feind!

Gerahmt wird das Gedicht von zwei Strophen, in denen das lyrische Ich das Aufbruchsignal zum Feldzug gibt. Die Soldaten werden als ,,Jäger" angesprochen, was zunächst ihre militärische Funktion bezeichnet. Als ~etapher jedoch bringt der Begriff zum einen das neue Lebensgefühl der Freiwilligen zum Ausdruck, frei von Drill und Zwang der regulären Armee selbst verantwortlich handeln zu können, zum andern vermittelt er ein Überlegenheitsgefühl, indem er den Krieg als fröhliche Jagd erscheinen läßt und den gefährlichen Gegner als Wild gleichsam minimalisiert. Die vier mittleren Strophen enthalten die ,Begründungen', die ermutigen sollen und dem in den letzten Zeilen wiederholten Appell erst seinen umfassenden Sinn geben. "Rache" ist das Motiv für den Krieg gegen einen Feind, der in der vierten Strophe in Anlehnung an patriotisch-antifeudale Lyrik als "schändlichste Tyrannenmacht" charakterisiert wird, und ,,Freiheit" im Sinne von Befreiung das erklärte Kriegsziel. Konkret werden die Verse dort, wo es um die vielfältige landsmannschaftliche Zusammensetzung der Truppe geht. Sie beziehen sich auf eine Erfahrung, die der Lützower täglich machen konnte. Körner nimmt sie auf, um dem Krieg einen nationalen Charakter zu geben. Das Zusammenströmen der Freiwilligen aus den deutschen Territorialstaaten in Breslau wird als Zeichen eines nationalen Aufbruchwillens gedeutet. Das gleiche Prinzip, Erfahrungen, Wissen und Gefühle der Adressaten für den Kriegsappell zu nutzen, liegt allen Strophen zugrunde. Dazu gehört auch die Überzeugung bürgerlicher Freiwilliger, einer Kulturnation anzugehören, die auf einer gemeinsamen "Sprache", einem gemeinsamen "Gott" und gemeinsamen Verhaltenswerten wie Treue und Mut beruht. Sie bildet das einigende Band, das die Jäger unterschiedlicher Herkunft zu "Brüdern" macht. Es ist bezeichnend, daß Körner nicht von Preußen, Österreichern, Württembergern oder Westfalen spricht, sondern nationale Einheit schon dadurch nahelegt, daß er mit Rhein und Oder geographische Grenzen des deutschen Sprachgebietes nennt. Nationale Zusammengehörigkeit erscheint als etwas Natürliches und damit Gottgegebenes. Mit "Liebe" wird in den beiden letzten Strophen eine für die bürgerliche Familie spezifische Kommunikationsstruktur angesprochen, wie sie gerade in der Zeit der Romantik sich zur sozialen Norm entwickelte. Die Verse erwähnen den Verzicht des Freiwilligen auf "väterlichen Heerd", "Liebchen" und jene, "die uns treu geliebt", geben ihm dadurch das Gefühl, in seinem Schmerz verstanden zu sein, appellieren aber zugleich an seine Männlichkeit und Tatkraft, zumal es um "Freiheit" geht, das ,,höchste Gut" in einem Krieg, der - eine Reminiszenz irenischen Denkens - als "gerecht" bezeichnet wird, weil es sich nicht um einen Eroberungskrieg handelt ("Nicht zum Erobern zogen wir"). Das Gedicht ist in vielem typisch für die Befreiungskriegslyrik: in seiner Sangbarkeit, seinem Verzicht auf eine Metaphorik, die Bildungswissen voraussetzt, sei-

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nem ,individuellen', aber gruppenbezogenen Redegestus und in der psychologisch geschickten und situationsbestimmten Bezugnahme auf Gefühle und Wertnormen des vorgestellten Adressaten, um ihn für den Krieg zu gewinnen. Auch daß Körner sich in erster Linie an Personen mit einer bürgerlichen Erziehung wendet, entspricht dem publizistischen Auftrag einer Lyrik, die den gesellschaftlichen Strukturen Rechnung trägt. Gleichwohl zeigt sich in diesem Gedicht an einem entscheidenden Punkt das Besondere der Körnerschen Lyrik: Sie besitzt ein nur wenig ausgeprägtes, weil literarisch vorgeformtes Feindbild. Vergleichsweise selten werden Napoleon und die Franzosen direkt benannt. Meist ist von Tyrannen oder Tyrannei die Rede, einem Stereotyp antifeudalistischer Literatur des 18. Jahrhunderts, oder von "Feindes List und Spott"93, was einer Verteufelung des Gegners nach dem Muster religiöser Trutzlieder gleichkommt. Zwar handelt es sich bei dem Wort "Tyrann" um ein in der Befreiungskriegslyrik häufig gebrauchtes, emotionsbesetztes Kürzel für die Herrschaft Napoleons als der unzeitgemäß gewordenen Verkörperung der selbstsüchtigen Willkürherrschaft eines einzelnen. Mit ihm ließen sich persönliche Erfahrungen verbinden. Doch verzichtet Körner auf die Ausgestaltung des Feindbildes als Integrationsmoment und Quelle der Handlungsmotivation. Frankreichfeindliche Töne, welche den deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert begleiten sollten, finden sich bei ihm kaum94 . Entsprechend fehlen sowohl die in Amdts früher Lyrik häufige Aktivierung niederer Triebe, wie Haß und Fremdenfeindlichkeit, als auch die Evokation der Leiden, die in vielen Liedern der Befreiungskriege den Bezug zur erlebten Wirklichkeit herstellten und die Kriegsagitation begründeten. Nur im ,Bundeslied vor der Schlacht' wird mit "Graun der Nächte", "Schande", "Schmach", ,,Frevel fremder Knechte" darauf angespielt. Doch die Zeilen "die deutsche Eiche brach. Uns're Sprache ward geschändet, Uns're Tempel stürzten ein,,95 machen deutlich, daß die Erinnerung an den napoleonischen Imperialismus aus einem standesspezifischen, kulturpatriotischen Geiste kommt. Die Jahre der Fremdherrschaft werden als eine Zeit versuchter Zerstörung der kulturellen Identität verstanden. Die Menschenopfer, den Verlust an Hab und Gut breiter Bevölkerungsschichten, welche die Napoleonischen Kriege in den deutschen Staaten forderten, übergehen diese Gedichte. Mit dem nur undeutlich konturierten Feindbild korrespondiert, daß Körner, wenn er Vorstellungen von Deutschlands Zukunft nach dem Sieg entwickelt, diese auf die Wiederherstellung des "verlorenen Palladiums", der ästhetischen Feierabendkultur der Gebildeten, beschränkt. Im ,Bundeslied vor der Schlacht' heißt es:

Ebd.,42. Eine Ausnahme bilden die Verse: "Könnt ihr das Schwert nicht heben, so würgt sie ohne Scheu", in: Zwölf Gedichte (Anm. 90),9. Doch scheint es sich hier um eine literarische Reminiszenz an Kleists Germania-Ode oder an frühe Arndt-Gedichte zu handeln. 95 Nachlaß (Anm. 89), 2 - 6, Zitate, auch das folgende, 3. 93

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Vor uns liegt ein glücklich Hoffen, Liegt der Zukunft goldne Zeit. Steht ein ganzer Himmel offen, Blüht der Freiheit Seligkeit. Deutsche Kunst und deutsche Lieder, Frauenhuld und Liebesglück, Alles Große kommt uns wieder, Alles Schöne kehrt zurück96 .

Diese Verse sind exemplarisch für eine Lyrik, die einzig um der Restituierung der eigenen bürgerlichen Standeskultur willen für den Krieg optiert. Es soll nur ,,Rache" genommen werden für die Gefährdung oder zeitweilige Zerstörung des Lebensglücks der akademisch gebildeten Intelligenz. Da Körner die kriegerische Tat als Fortsetzung des dichterischen Gesanges versteht ("Die Leyer schweigt die blanken Schwerter klingen; Heraus mein Schwert, mag'st auch dein Liedehen singen!")97, kann der von ihm immer wieder gepriesene ,Tod fürs Vaterland' nur die Bedeutung haben, den Nachruhm unter den Dichtem mit neuen Mitteln zu sichern. Die Aufforderung zu brüderlichem Zusammenstehen meint dann weder die Stände und Länder im nationalen Geist zusammenzuführen noch die Armee zu vergesellschaften, sondern alle Kräfte für die Durchführung der eigenen "Rache" in Anspruch zu nehmen. So fatal sich das Feindbild ,Frankreich' in der Geschichte des deutschen Nationalismus auch auswirkte, sein Fehlen hier beraubt den Körnersehen Bellizismus jeder antiabsolutistischen und damit auch jeder reformpolitischen Perspektive. Wurde Napoleons Herrschaft nicht als exemplarisch für jede absolutistische Willkürherrschaft eines einzelnen begriffen, dann konnte der Krieg zwangsläufig nur die Wiederherstellung der alten Ordnung zum Ziel haben. Der Körnersehe Bellizismus ist nicht unpolitisch, sondern reaktionär. Fixiert auf die eigene Lebenswelt ist er blind für die sich mit dem Krieg eröffnende Chance gesellschaftspolitischer Reformen. Seine Lieder werben für einen Kampf, der in Analogie zum Kabinettskrieg zwar nicht für die Interessen eines einzelnen, aber für die eines einzigen, in der absolutistischen Gesellschaft privilegierten Standes geführt werden sollte. Dies macht verständlich, daß ein nicht unwesentlicher Teil der Gedichte - z.T. vor dem Krieg entstanden, aber erst durch die Ausgaben ab November 1813 verbreitet - preußischen und österreichischen Personen und Ereignissen gewidmet ist. Diese Gedichte geben einem obrigkeits- und territorial staats bezogenen Denken Ausdruck, wenn Körner z. B. den preußischen König nach dessen vermeintlichem Tod bei Bautzen (21. /22. 5. 1813) geschichtsklitternd als jemanden feiert, "Der kämpfend für sein Volk und seine Krone" fiel 98 , oder wenn er die verstorbene preußische Königin als "Heil'genbild für den gerechten Krieg [ ... ] auf unsern Ebd., 3 f. Zwölf Gedichte (Anm. 90), 4. 98 Leyer und Schwerdt, 59: An den König. Als das Gerücht ihn in der Bautzner Schlacht gefallen nannte. 96 97

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Fahnen schweben,,99 sieht, wenn er den Krieg als des Volkes "Pflicht", für "Preußens Adler" zu sterben 100, betrachtet, wenn mit ,,Freiheit" allein Preußens Befreiung gemeint ist lOl oder die individuelles Heldentum hervorhebende Schilderung der Schlacht von Aspern (21. /22. 5. 1809) mit einer stimmungsvollen, düsteren Naturszene beginnt und mit dem Ausruf des tödlich verwundeten ,,Jünglings" endet: "Hoch lebe das Haus Oesterreichl"lo2, schließlich, wenn Körner Hofers Aufstand von 1809 als Zeichen beispielhafter Treue gegenüber seinem "alten Fürsten" interpretiert lO3 . In allem zeigt sich ein Denken, das allein auf die Wiederherstellung der alten politischen Zustände gerichtet ist, die einst das "Palladium" bürgerlicher Lebensform gewährleisteten. Diese Gedichte mochten Soldaten motivieren, die aus patriotischer Treue in den Krieg zogen, nicht aber national denkende. Hier offenbart sich ein Bellizismus, der sich in nichts von dem unterscheidet, den patriotische Dichter vor der Amerikanischen Revolution im 18. Jahrhundert vertreten hatten. Diese übernahmen die Aufgabe, dem Untertanen seine (Kriegs-)Pflichten publizistisch zu verdeutlichen. Die Fürsten garantierten dafür den sozialen Aufstieg. Körners Gedicht ,An den (preußischen) König' vom Frühjahr 1813 veranschaulicht diese Wechselbeziehung. Daß sich in Körners Weltbild zwischen 1809 und 1813 nichts geändert hat, läßt sich folgenden 1809 geschriebenen Versen entnehmen, in denen - wie dann auch im ,Jägerlied ' von 1813 - die Teilnahme am Krieg auf ein unpolitisches Heldentum zwischen privatem Abschiedsschmerz und Opfertod reduziert wird. "Da trägt der tiefbewegte Sinn [des ,,Jünglings"] Die Träume zu der Liebsten hin. Sie weinte als er scheiden mußt' Und Wehmuth haucht in seiner Brust, Und er gedenkt der schönen Zeitenl - Er fühlt's, es war ein ewig Scheidenl"l04 Das ,Jägerlied' hat gezeigt, daß Körner Werte und Verhaltensmuster bürgerlicher Kultur aufrief, um Kriegsteilnahme sittlich verpflichtend erscheinen zu lassen. Mit diesem standesspezifischen Moment ist ein gruppen- und generations spezifisches verbunden: das Selbstbild der jungen akademisch gebildeten literarischen Intelligenz. Es übernimmt anstelle des fehlenden Feindbildes die Motivation für den Krieg. Dieser Austausch bestätigt, daß der Bellizismus Körners dem Landespatriotismus im Absolutismus verpflichtet bleibt, weil er nur der Glorifizierung der eigenen gesellschaftlichen Rolle dient. Dies Selbstbild wird durch ein lyrisches Ich 99 Zwölf Gedichte (Anm. 90), 28 - 29: An die Königin von Preußen 1813, Zitat 29; vgl. auch 12: Vor Rauchs Büste der Königin Louise. 1812. 100 Zwölf Gedichte (Anm. 90), 28. 101 Ebd., 30: Beym ersten Erblicken des preußischen Grenzadlers; vgl. auch Leyer und Schwerdt, 71: Oesterreichs Doppeladler. Als ich verwundet nach Oesterreich zurückkehrte. 1813. 102 Zwölf Gedichte Anm. 90), 24 - 27: Hoch lebe das Haus Oesterreich, Zitat 27; vgl. auch Auf dem Schlachtfelde von Aspern, ebd. 17 - 23; Leyer und Schwerdt, 18 f.: Den Siegern von Aspern.1812. 103 Zwölf Gedichte (Anm. 90), 11. 104 Ebd., 25.

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verkörpert, das, als fiktiver Repräsentant des Autors im Text, dessen Rollenwechsel vom Dichter zum Krieger thematisiert. Sein soziales Profil zeichnet Körner in den Gedichten ,Abschied vom Leben', ,Mannes Trost' und ,Trost'. Hier stellt er den jungen Freiwilligen mit bürgerlicher Sozialisation (und sich selber) als sensibel und empfindsam, aber auch als furchtsam und gefährdet dar, gleichwohl in der Gewißheit der auch metaphysisch abgesicherten Sinnhaftigkeit seines HandeIns bereit, für das Vaterland zu sterben 105. Der Schritt vom Dichter zum Krieger bringt auch den Abschied von einem Lebenskreis mit sich, der durch starke Gefühlsbindungen, der charakteristischen Beziehungsform der bürgerlichen Familie, gekennzeichnet ist. Doch um der ,,Freiheit" und des "Vaterlandes" willen werden alle persönlichen Beziehungen abgebrochen, nicht ohne den Zurückgebliebenen Trost zu spenden. "Drum die Thr uns liebt, nicht geweint und geklagt! Das Land ist ja frei und der Morgen tagt, Wenn wir's auch sterbend gewannen!"I06 Solche Verse, wie auch die durchgängige Erotisierung des Kampfes 107 , sind darauf gerichtet, den von den Gymnasien und Universitäten herbeigeeilten Freiwilligen, die wie Körner die Feder mit dem Schwert getauscht hatten, das Bewußtsein zu geben, daß sie Helden sind, die durch ihre Kriegsteilnahme besondere Verdienste erwerben. Sie bestätigen deren Selbstbewußtsein, einer gesellschaftlichen Elite anzugehören, indem sie vorgeben, daß mit dem Eintritt in das Befreiungsheer sie sich nicht in namenlose Soldaten verwandeln, sondern das besondere Individuum bleiben, das mit seinem Schritt gesellschaftliche Maßstäbe setzt. Dies gilt auch für den in den Liedern religiös überhöhten Opfertod fürs Vaterland 108, der diese wiederum als Schwanengesang erscheinen läßt; denn der Tod beraubt die ästhetische Welt eines Dichters. "Das schöne Traumbild wird zur Todtenklage,,109. Welche Resonanz dies haben konnte, belegt eine von C. A. Tiedge überlieferte Anekdote. Wenige Tage nach Körners Beerdigung, so berichtet er, stand "ein edler, vielseitig gebildeter Jüngling von Bärenhorst" auf einem gefahrlichen Posten bei dem Gefecht an der Göhrde. "Mit den Worten: ,Körner, ich folge Dir!' stürzte er auf den Feind, und von mehreren Kugeln durchbohrt, sank er zu Boden"llo. Auf geschickte Weise ,modernisiert' Körner mittels literarischer Form (Lied) und Sprechgestus den alten Anspruch der literarischen Intelligenz auf eine gesell105 Ebd., 48: "Hier steh' ich an der Marken meiner Tage. Gott, wie du willst, dir hab' ich mich ergeben!"; ebd., 42: "Herz laß' dich nicht zerspalten Durch Feindes List und Spott! Gott wird es wohl verwalten, Er ist der Freiheit Gott!" 106 Ebd., 33. 107 Zur Erotisierung des Kampfes und ihren psychologischen Implikationen vgl. E. Weber, Lyrik (Anm. 19), 195 f. 108 Zwölf Gedichte (Anm. 90), 4: "Und sollt ich einst im Sieges Heimzug fehlen, Weint nicht um mich, beneidet mir mein Glück, Denn was berauscht die Leyer vorgesungen, Das hat des Schwertes freye That errungen". 109 Ebd., 48 (Abschied vom Leben). 110 Zit. nach der Biographie Körners von Tiedge in: Sämtliche Werke. Im Auftrage der Mutter des Dichters hrsg. v. Karl Streckfuß. Bd. 1,4. Aufl., Berlin 1853,42 [I. Aufl. 1833].

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schaftliche Führungsposition, wie sie sich mit der Rolle des Barden seit Gleim verband. Auch wenn hier der Dichter nicht mehr der einsame, über die Zeit reflektierende Sänger ist, sondern die neue soziale Norm der Kriegsteilnahme als beispielgebendes Individuum vorlebt und vorsingt, darf doch bezweifelt werden, ob Körners Lieder außerhalb des Kreises von Schülern und Studenten Motivationsenergien freisetzen konnten. Da das Lützowsche Freicorps, in dem diese nur den kleineren Teil der Mitglieder stellten 11l, sich aufgrund seiner Zusammensetzung und durch die eingeführten vordemokratischen Verkehrsformen zwischen den Ständen als Modell der zukünftigen deutschen Nation verstand ll2, darf Liedern, die für es geschrieben wurden, unterstellt werden, daß sie alle sozialen Gruppen im Corps zur Kriegsteilnahme ,verführen' sollten. Eine solche Absicht lag der Befreiungskriegslyrik zugrunde, wenn ihre Autoren bürgerliche Tugenden nationalisierten. Doch in Körners Lyrik, die nur das Selbstbild der jungen akademischen Intelligenz reproduziert, werden selbst Rechtschaffenheit, Mut, Freiheitsliebe, Treue und Liebe zum ,,häuslichen Heerd" zu besonderen Qualitäten des bürgerlichen Standes. Als Selbstfeier der ,edlen, vielseitig gebildeten Jünglinge', für die sich schreibend auszudrücken zur Lebensform gehörte, halten Körners Lieder ganz im Einklang mit ihrem in der patriotischen Literatur vorgeprägten und damit obrigkeitsbezogenen Bellizismus - die gesellschaftliche Distanz zwischen Gebildeten und Ungebildeten aufrecht. Die Äußerung des Lützowers Hermann Fischer bestätigt dies. Ihrer anationalen, nicht in ein reformpolitisches Konzept eingebundenen Kriegsagitation verhalfen jedoch erst die Dichter zur Popularität, die sich nach Körners Tod mit ihm und seiner Lyrik beschäftigten. An deren Arbeiten werden die Konturen eines auf bedingungslose Opferbereitschaft setzenden Bellizismus sichtbar, der sich später im 19. Jahrhundert voll entfalten sollte.

IV. Die Antwort der literarischen Welt auf den ,Heldentod' eines der ihren trägt - wie die Körnersche Lyrik selbst - Züge einer Feier des eigenen Dichterideals und offenbart die Grenzen ihres politischen Verständnisses für das Zeitgeschehen. Zwar war Körner nicht der einzige und nicht der erste Dichter, der Opfer des Befreiungskrieges wurde und den man mit literarischen Totenklagen ehrte l13 . 111 Rudolf Ibbeken, Preußen 1807 - 1813. Staat und Volk als Idee und Wirklichkeit, Kölnl Berlin 1970, hat durch seine Forschungen den Mythos von der Freiwilligenbewegung als einer primär akademischen Bewegung zerstört. Nach seinen Angaben überstieg allein die Zahl der Handwerker im Lützowschen Freicorps die der Schüler und Studenten um 5 %; zum Freicorps 397 ff. 112 Vgl. E. Weber, Lyrik (Anm. 19), 175. ll3 Alexander von BIomberg, Verf. des durch Arndts ,Kurzen Katechismus' (2. Aufl. 1813) verbreiteten ,Schwerdtfegerliedes' (,,Mit fröhlichem Sinn"), fiel bei einem Handstreich Tettenborns auf Berlin schon am 20. 2. 1813. Fouque, August Zeune und Varnhagen haben in Versen seiner gedacht. Christian Kühnau, dessen ,Wehrlieder' und ,Die rächende Vergeltung

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Doch mit seiner Zugehörigkeit zum Lützowschen Freicorps besaß er die besten Voraussetzungen, daß sein Leben und Werk in der lesenden Welt auf nachhaltige Resonanz stieß. Denn mit Fouque, dem Mentor der jungen Literaten, Friedrich Förster, Fr.L. lahn u. a. besaß das Freicorps Mitglieder, die wortmächtig Gesinnung, Taten und Opfer der eigenen sozialen Gruppe herauszustellen wußten. Sie verfügten zudem über wichtige Verbindungen in einer ,Zunft', in der persönliche Beziehungen über den literarischen Erfolg mitentschieden 114. Körner profitierte zudem davon, daß er der Sohn eines Mannes war, in dessen Haus die literarischen Größen der Klassik und Romantik verkehrten. Die Aufmerksamkeit der Schriftsteller galt denn auch in erster Linie der Person, begründet in ..der Ueberlebenden Pflicht, durch belehrende Hinweisung auf des Geschiedenen Werth und Sinn, sein Gedächtniß zu einem heils'sam wirkenden Mittel inn'rer Stärke zu erheben, und ihm ein lebendiges Denkmal unsres Dankes zu errichten in unserm Herzen" 115.

Im folgenden kann nur angedeutet werden, auf welch vielfältige Weise die literarische Welt auf Körners Lyrik und Tod reagierte. Die ..Dichter und Dichterinnen" wetteiferten in ..dichterischen Todtenkränzen,,1l6 und eröffneten damit eine "ungestüme Vergötterungsperiode"117. Als erstes entstand ein Wettbewerb um die Sammlung und Herausgabe seiner Verse unter jenen, die Zugang zu den Liedmanuskripten und dem Tagebuch hatten. Daß ihre Veröffentlichung eine Sache der Dichter sein sollte, legt ein Nachruf in der ,Zeitung für die elegante Welt' nahe, in der Christoph August Tiedge aufgefordert wird, durch die Edition des Werkes ..seinem geliebten jüngern Bruder in Apoll ein würdiges Todtenopfer zu bringen" 11 8. Hier setzt eine Literarisierung der Körnersehen Kriegslyrik ein, deren ursprünglicher Zweck kaum noch reflektiert wird. Man würdigte sie wenngleich nicht als meisterhafte, so doch als gelungene Kunst 1l9; denn als erlebte, von wahren oder Das Weltgericht von Wilna' im Mai 1815 erschienen, fiel als Offizier der Landwehr am 27. 8. 1813. Die ,Berlinischen Nachrichten' gedachten zusammen mit Körner am 9. 9. 1813 dieses ..Kleeblatts gefallener Sänger". 114 Friedrich Rückert verdankt den Erfolg seiner ,Deutschen Gedichte' der Beziehung zu Fouque. 115 Deutsche Blätter, hrsg. v. Fr. A. Brockhaus, Leipzig I Altenburg, Bd. 1,442. 116 Deutsche Blätter (Anm. 115), Bd. 5, 205 (22. 9. 1814). ll7 Morgenblatt für gebildete Stände, Tübingen, 23. 11. 1815, Übersicht Nr. 21, 83. 118 Zeitung für die elegante Welt, Leipzig, 27. 1. 1814. Tiedge war durch sein Lehrgedicht ,Urania', 1800, bekannt geworden. 1814 beteiligte er sich mit eher philosophischen Versen an der Befreiungskriegslyrik (,Denkmale der Zeit'). 1815 veranstaltete er eine zweibändige Ausgabe der Werke Körners. 119 Erholungen (Anm. 83), Nr. 61 (29. 10. 1814),242: ..Wenn Körner als Dichter betrachtet, auch noch nicht in der Vollendung erkannt wird, die wir an den ersten Meistem seiner Kunst bewundern: so erhebet er sich doch, durch sein reines und wahrhaftes Gemüth, weit über die Dichterlinge der Zeit, deren Klingklang und kraftloses GeschälI [ ... ] ohne Nachhall bleibet". Vgl. auch Fouqui, in: Die Musen 2. St. (1814), 240: ..Daß mittelmäßige Gedichte durch keine Lobenswürdigkeit ihres Verfassers gut werden können, weiß ich wohl, auch eben so wohl, daß wer das Schwerdt ergriff, wie ein Held, keine andre, als begeisterte Lieder in seine Leyer singen kann".

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Empfindungen getragene Dichtung entsprach sie den Regeln romantischer Poetik. Mit der Literarisierung geht die Vermarktung einher, welche sie ganz in die literarische Zirkulations sphäre zurückholte und aus der andere Autoren ihren Nutzen zu ziehen wußten. Die ,Deutschen Blätter' z. B. warben im September 1814 für die von Göschen prächtig ausgestaltete Ausgabe von Friedrich Kind ,Die Körner - Eiche'. Das von Schnorr gezeichnete Titelblatt enthalte auch "Theodors Sigel und Devisen". Diese Edition verdiene, ,,in den Händen von gefühl- und geschmackvollen Sammlern zu seyn,,120. Selbst Arndt schien von Körners Ruhm profitieren zu wollen, als er der zweiten Ausgabe seines ,Lob teutscher Helden', 1814, dreizehn Gedichte Körners beigab l21 . Die Integration von Körners Liedern in die bürgerliche Feierabendkultur beförderten schließlich auch deren Vertonungen. Allein von ,Leyer und Schwerdt' erschienen derer drei in den Jahren 1814 und 1815 122 . Vaterlandsliebe und Kriegsagitation wurden zu einem Moment des ästhetischen Genusses im geselligen Leben der Bürger und führten zu einer sentimental gefarbten Begeisterung, in der wohl die Freude über die errungene Unabhängigkeit mitschwang, die sich jedoch vornehmlich auf die Person des "zu früh uns entrissenen" "vaterländischen Kriegers" und "mit hoher Genialität ausgerüsteten Geist[es]" bezog 123, der "die himmlische Musenkunst jugendlich-frischer erfaßt" habe als andere 124. Sie galt dem "durch die reinste Flamme der Vaterlandsliebe geläuterten Jüngling" 125, dessen Lieder man als Ausdruck eines ,,reinen und wahrhafft poetischen Gemüthes" genoß l26 , nicht ohne schmerzliches Bedauern über die "unerfüllt gebliebene [literarische] Hoffnung" 127. Diese Dichterverehrung blendete den Bellizismus der Körnerschen Lyrik aus, stilisierte ihren Verfasser zu einem "geist- und gemüthvollen Dichter,,128 und seine Verse zu ,,Reliquien eines talen120 Deutsche Blätter (Anm. 115), Bd. 5, 220 (22. 9. 1814). Vgl. auch die Anzeige der Amoldschen Kunst- und Buchhandlung in der Literatur-Beilage Nr. 6 der Berlinischen Nachrichten vom 5. 11. 1814: "Vor Ende dieses Jahres wird ein großes Blatt in Folio, eine Mondscheinlandschaft mit Theodor Körners Grab nach der Natur gezeichnet [ ... ] und aufs Fleißigste colorirt, in Begleitung eines dramatischen Gedichts [ ... ] von Friedrich Förster [ ... ] Körners Waffengefahrten bei uns erscheinen". In: Der Freimüthige, Berlin, 10. I. 1815, wird der Abdruck eines panegyrischen Gedichts von Fr. Scheinhardt [auf den Fürsten Schwarzenberg-Rudolstadt] damit gerechtfertigt, daß er ein ,,Busenfreund" Körners gewesen wäre. 121 Lob teutscher Helden gesungen von E. M. Amdt und Theodor Körner, [MailJuni] 1814. Die erste Auflage vom Februar 1814 und die dritte von 1815 enthalten keine KörnerGedichte. Arndt trug der besonderen Körner-Rezeption dadurch Rechnung, daß er fürstentreue Gedichte an den Anfang, "Das Volk steht auf' und "Du Schwerdt an meiner Linken" an das Ende des Körner gewidmeten Teils stellte. 122 Vertonungen von Beczwarzowsky, Berlin 1814, von C. M. Weber, Berlin 1815, und J. H. C. Bornhardt, Braunschweig 1815. 123 Germania, eine Zeitschrift für Deutschlands Gemeinwohl, Oldenburg, Bd. 2, H. 1,3. 124 Deutsche Blätter (Anm. 120). 125 Zeitung für die elegante Welt, 27. I. 1814, Sp. 140. 126 Erholungen (Anm. 83),29. 10. 1814,242. l27 Friedrich Schlegel in: Deutsches Museum, Bd. 4, Wien 1813, 441. 128 Berlinische Nachrichten, 21. 8. 1813.

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tierten jungen Mannes,,129. In dieses Bild einer literarischen, die Biographie des "zu früh" gefallenen Dichters glorifizierenden Rezeption fügt sich ein, daß man von den etwa fünfzehn Gedichten Körners, welche 1814/15 Zeitungen und literarische Zeitschriften verbreiteten, ,Abschied vom Leben' am häufigsten nachdruckte 130. Denn in diesem Gedicht konnte die literarische Welt ihr romantisch eingefärbtes Ideal von einem sensibel seine Gefühlsregungen in einer dramatischen Situation mitteilenden, sich hohen Zielen leidenschaftlich opfernden und seherisch die Zukunft kündenden Dichters gespiegelt finden. Körner verkörperte mit seinen "Harfentönen" nicht nur den "neuen Barden,,131, dessen Tod "um seine Geisteswerke einen schönen Schein" breitete 132 , sondern auch die jugendliche Variante des idealen Selbstbildes der akademisch Gebildeten: "eine in dem Alter seltene, leicht erworbene Cultur, eine vorzügliche Bildung des Geschmacks, große Schnelligkeit und Bestimmtheit der Urtheilskraft, eine angeerbte Kunstliebe und hohe Begeisterung für das Schöne und Wahre,,133. An einem von etwa dreißig Gedichten auf Körner zwischen 1813 und 1815 134, als einer weiteren, eng mit den zahlreichen Nachrufen 135 in den deutschen Blättern zwischen Wien und Berlin, Leipzig und Oldenburg, München und Hamburg korrespondierenden Form der frühen Rezeption, seien die Konsequenzen der Heroisierung Körners aufgezeigt. Auf indirekte Weise förderten diese Gedichte eine Entpolitisierung des Krieges. Denn sie gehen weder auf die potentiell politische Intention der Körnersehen Kriegsdichtung ein, noch reflektieren sie den Sinn seines Todes oder die mit der Befreiungskriegslyrik verfolgten politischen Ziele. Am 5. März 1814, der Krieg war noch keineswegs zugunsten der Alliierten entschieden, erschien im Münchner ,Gesellschaftsblatt für gebildete Stände' folgendes, hier auszugsweise wiedergegebenes Gedicht: Du bist bey der besung'nen Heiligin Du deutscher Held und warmer Sänger Unwiderstehlich zieht's zu ihr dich hin Hienieden weilen kannst nicht länger. Verlassen mustest eine holde Braut, Von deinen guten Eltern scheiden Dich ruft der blut' gen Schlachten Schreckens-Laut, Allgemeine Literatur-Zeitung, Halle, Nr. 137, 1814, Sp. 318. Eine Auflistung der Zeitungen und Zeitschriften, die Körner-Gedichte brachten, bei E. Weber, Lyrik (Anm. 19), 188, Anm. 240 (hinzuzufügen sind: Deutsche Blätter; Der Freimüthige). Körners Gedichte erschienen auch in einer Reihe von Anthologien dieser Jahre. 13l Alles in einer Nuß, Magdeburg 1814, Heft 1, 62. 132 Leipziger Tageblatt, Nr. 171,681 (20.6.1815). 133 Germania (Anm. 123), 4; vgl. auch: Deutsche Blätter (Anm. 115), Bd. 1, 441 - 450 (4. 12. 1813). 134 Gesammelt z.T. in: Für Theodor Körners Freunde, Dresden [1814]. Der Vater Christian Gottfried Körner besorgte diese Ausgabe. 135 Vgl. E. Weber, Lyrik (Anm. 19), 190f. 129 130

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Ernst Weber Am Kampfgetümmel willst dich weiden. Mavors ist, junger Dichter, dir nicht hold. Thalia nur weiß dich zu ehren Doch fliehen mußt du Kunst und Minne-Sold, Vom Ehrenfeld kannst nimmer kehren. Ihr Deutsche! staunt ihn an den jungen Mann, Der seltnes Ehrenglück verachtet, [ ... ] Du zweyter Gleim, du and'rer tapf'rer Kleist! Noch einmal schweb' dein Geist hernieden; [ ... ] O! geuß in jede brave deutsche Brust, Den Sinn, der feurig dich belebte, Erhalte unsre heisse Kampfes-Lust, Vor der der Feind erschrocken bebte. Den Platz, wo deine freie Asche ruht, Wird jeder deutsche Mann verehren, Und unter Körner's grüner Eiche Huth, Den Enkel Sinn für Deutschheit lehren 136 .

Der Verfasser preist Körner als beispielgebendes Vorbild und fordert die Leser auf, ihn anzustaunen. Als Grund für diese Vorbildlichkeit nennt er nicht dessen rhetorisches Eintreten für den nationalen Unabhängigkeitskrieg, sondern seinen Verzicht auf den Erfolg als Künstler wie auf Braut und Familie, mithin auf Karriere und Ehe als Wesensmerkmale des ,,Erdenglücks" eines bürgerlichen Lebens. Erst nachdem Körner auch historisch als patriotischer Dichter (Gleim) und dichtender Krieger (Ewald von Kleist) eingeordnet ist, folgt als weitere Begründung die ,,heisse Kampfes-Lust", die "feurig dich belebte". Mit dieser Idolisierung vollzieht sich eine folgenreiche Umwertung der Kriegsteilnahme. Sie wird moralisch, nicht politisch motiviert. Sie erscheint als ,logische' Folge bürgerlich-tugendhaften Verhaltens, eine neue soziale Norm, die für den bindend ist, der sich bürgerlicher Kultur verpflichtet weiß. Jeder, der nicht am Krieg teilnimmt, gilt denn auch als feige und verfallt dem moralischen Urteil 137. "Sinn für Deutschheit" beweist sich - wie in dem zitierten Gedicht - allein in ,,heisser Kampfes-Lust". Die Einbindung des Kriegsdienstes als sittliche Pflicht in die bürgerliche Verhaltens- und Wertordnung läßt die Frage nach dem politischen Sinn eines Krieges überflüssig werden; denn dieser liegt allein in der ,selbstverständlichen' Vernichtung des Feindes. Daher ist in den Gedichten auf Körner auch nicht andeutungsweise von den mit dem Befreiungskrieg verbundenen reformpolitischen 136 Körners Schatten, in: Gesellschafts-Blatt für die gebildeten Stände, München 1814, Sp. 137 f. Verfasser nennt sich nur mit seinen Initialen V.S. Mit "Heiligin" ist die verstorbene preußische Königin Louise gemeint, die Körner in zwei Gedichten besungen hat. Vgl. oben Anm.99. 137 Am deutlichsten in: Germania (Anm. 123), 3, Körners Gesang habe den "Muth der Edlen" erhöht "wie er den Feigen beschämt".

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Zielen die Rede. Insofern sind sie ein genaues Spiegelbild der Körnerschen Lyrik. "Freiheit" meint zwar eine von französischer Einsprache ungestörte Entwicklung nationaler Kultur, getreu der bürgerlichen Bildungsmaxime, daß "innere Freiheit [ ... ] nur durch äußere erworben" wird 138 - auch wenn nicht immer sicher ist, ob hier nicht nur einem privaten Lebensgefühl Ausdruck gegeben wird. Eine Freiheit aber, die neuen politischen Handlungsspielraum eröffnet und die Integration von Staat und Gesellschaft möglich macht, haben Gedichte nicht im Blick, die Körners Lieder als Ruf "zu unsers freien Königs Throne" verstehen l39 . Anders als bei Arndt wird die Legitimität der Fürsten nicht in Frage gestellt. So konnte man Körner als einen "zweiten Gleim" feiern 140; denn dessen Verse forderten im Siebenjährigen Krieg zur Identifikation mit den Interessen des preußischen Königs auf. Daß Gedichten wie ,Körners Schatten' die Idee vom Volkskrieg wie der einer Stände und Territorialstaaten vereinigenden Nation fremd ist, geht aus ihrer Anlage und Thematik hervor. Vom toten Körner erfleht man ,,heisse Kampfes-Lust". Man suchte sie nicht durch die Einsicht in die Notwendigkeit eines Volkskrieges zu wecken. Überhaupt bauen diese Gedichte eine Hierarchie zwischen dem ,Entrückten' und ,Vollendeten' ("Die Gottheit reicht die Sieges-Palme dir") und den Lebenden auf, die der zwischen Herrscher und Untertan recht nahekommt. Auch das Zitat germanischer Mythologie mit Körner als "umkränzter Barde,,141 oder "frommer Scald" in "Walhalla's goldumglänzten Höh'n,,142 macht deutlich, wie stark sich die Autoren von tradierten, spezifisch literarischen Wahrnehmungs mustern leiten ließen. Die Thematisierung der Biographie des Gefallenen, von Körners Beerdigung und Grab 143 oder der empfindsamen Anteilnahme am Leid der Familie l44 - Zeichen des familiären Zusammengehörigkeitsgefühls der literarischen Intelligenz evoziert die Vorstellung von einem außerordentlichen, die Masse der Soldaten überragenden Individuum 145, ein Verfahren, welches die gesellschaftliche SonderDeutsche Blätter (Anm. 115), Bd. 4, 446. Auf Theodor Körners Tod, in: Für Theodor (Anm. 134), 8. 140 Vgl. auch Fr. Raßmann, Nachruf an Theodor Körner, in: Berlinische Nachrichten, Nr. 104, 30. 8. 1814: ,,Leier und Schwerdt Füllten dir erst, Kleistischer Jüngling, Den Busen aus". 141 Morgenblatt (Anm. 117), Nr. 145, 19.7. 1815. 142 Deutsche Blätter, Bd. 5, 159f. Vgl. auch das Gedicht von Fouque in: Für Theodor (Anm. 134), 1 f. 143 Vgl. u. a. die Gedichte in: Für Theodor (Anm. 134), 5 -7, von Tiedge; Zeitung für die elegante Welt, Nr. 148, 29. 9. 1814: Auf Theodor Körners Tod; ebd., Nr. 18, 27. 1. 1814: Nänie über Theodor Körners Tod; Morgenblatt (Anm. 157), 19.6. 1815: Vischer, Nachtfeyer an Theodor Körners Grabmal; Fr. Rückert, Kranz der Zeit, 1817, 152 - 154: Körners Geist. 144 Caroline Pichler, An die Mutter Theodor Körners, in: Für Theodor (Anm. 134), 3 - 5; Fr. Nauck, Körners Grab, in: Berlinische Nachrichten, 27. 8. 1814. 145 In R. Wolfarts Gedicht: Theodor Körner, wird gar der Sieg Körners Gesängen zugeschrieben, in: Für Theodor Körners Freunde (Anm. 134), 12. 138

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rolle der literarischen Intelligenz bestätigte, die sie seit Mitte des 18. Jahrhunderts beanspruchte. Die wortreiche Verherrlichung eines Dichter-Kriegers, "Den glüh'nder Aufschwung mitten im Kriegessturm' Oft singen lehrt' ein rauschendes Harfenlied,,146, unterläuft letztlich die mit der Befreiungskriegslyrik vorangetriebene gesellschaftliche Integration der Armee. Für jene ist es bezeichnend, daß die Autoren nicht nur Anonymität wahrten, um damit ihrer Rolle als Sprecher kollektiver Empfindungen, Wünsche und Hoffnungen gerecht zu werden, sondern daß sie auf jede Panegyrik militärischer Einzelleistungen verzichteten l47 . Die Idee vom Volkskrieg, von einer Stände und Länder übergreifenden Nation drückte sich auch in der Wahl der literarischen Formen aus. Von einem solchen, auch formal umgesetzten politischen Zeitbezug kann in den Gedichten auf Körner nicht die Rede sein. In ihnen teilt ein lyrisches Ich seine privaten Gedanken und Gefühle stellvertretend für die Literaten mit. Ihre Bedeutung liegt darin, daß sie den Bürger moralisch zum Kriegsdienst verpflichteten und sein in der Exemtion vom Militärdienst liegendes Privileg aufhoben. Sie schufen damit zwar Gleichheit zwischen den aus den Unterschichten rekrutierten Soldaten der regulären Armee und den Gebildeten und unterstützten indirekt die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Aber sie machten auch den spezifisch Körnerschen Bellizismus populär, der nur im äußeren Feind den Gegner sah und daher politisch nicht mehr gerechtfertigt werden mußte. Das standes spezifische Interesse, den gesellschaftlichen Führungsanspruch der Dichter zu wahren, das Sendungsbewußtsein ("Ein wahrer Dichter ist ein wahrer Held,,)148 und die Fixierung auf den Nachruhm in der literarischen Welt verhinderten, daß man über die Niederlage Napoleons hinauszudenken versuchte und bedingte, daß man unter ,,Freyheit" nur die Befreiung von der französischen Okkupation verstand. Daß dies zu einer literarischen Stilisierung des Krieges führte, geht aus einem Bericht in der ,Königlich privilegirten Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen' vom 9. September 1814 hervor über eine für Körner gehaltene Totenfeier auf der Theaterbühne. Der Krieg wird zur Kulisse einer Szene fern aller gesellschaftlichen und politischen Realität, die nur empfindsame Gefühle für ein tragisches Schicksal wecken konnte. Der Krieg erscheint zwar als ein "Übel" (Kant), allerdings nur mehr ein privates, da er ein erfülltes bürgerliches Leben als Dichter verhinderte. ,,Den 7ten wurde auf der hiesigen Bühne dem zu früh verstorbenen Patrioten und Dichter, Theodor Körner, eine Totenfeier gehalten. Sie begann mit den tief eindringenden Accenten einer Trauer Ouvertüre von Weber. Beim Aufrollen des Vorhangs sah man in einer einsamen Waldgegend, von einer Eiche beschattet, einen Altar, den Baum bezeichnend, wo Körner sein letztes Lied sang, und die Stelle, wo er fiel. Mit langsamen Schritten näherte sich dem Platze die trauernde Muse, lehnt Vischer, Nachtfeyer (Anm. 143). Dies änderte sich nach dem zweiten Pariser Frieden 1815, als Gedichte auf Heerführer wie Blücher dazu dienten, im Frieden das Nationalbewußtsein in Erinnerung an die erfochtenen Siege zu festigen. 148 Für Theodor (Anm. 134),9. 146 147

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sich an den Baum, sieht wehmutsvoll auf den Altar herab, und nach dargebrachtem Zoll stiller Thränen, bricht sie in Klagen aus. Schön ist's wenn eines Jünglings edler Muth Vom Zwang der Wirklichkeit zu streng gezügelt, Für freien Dichterschwung den Geist beflügelt, [ ... ]

Kaum hat sie vollendet, als unter Begleitung eines Marsches, Körners Thatenbrüder, Preußische Krieger aller Waffengattungen erscheinen, um das Monument einen Halbkreis bilden, und das ,Siegeslied der Deutschen' (von Herklots, komponirt von Weber) anstimmen, während die Muse den Altar mit Körners Schwerdt und Lyra belegt, und sie mit dem Lorbeerkranz umschlingt. - Hierauf wurde zum ersten Male gegeben ,Zriny', Körners patriotisches Trauerspiel [ ... ],,149.

v. Körner ist nicht der einzige Dichter, dessen Kriegslyrik von der Struktur her keine reformpolitische Perspektive besitzt. Er erscheint beispielhaft gerade für einen Teil jener Autoren, die das Dichten zu ihrer Profession gemacht und in den Jahren vor dem Krieg etwa durch Volkslied- und Volksbuchsammlungen, historische Erzählungen und Sprach- und Literaturstudien zum nationalen Selbstverständnis der Gebildeten beigetragen hatten. Ihre in Thematik und rhetorischem Gestus zunächst kaum von der Masse der Befreiungskriegslyrik differierenden Lieder und Gedichte müssen von einer patriotischen Panegyrik unterschieden werden, die aus ganz anderen Gründen für den Befreiungskampf eintrat. Friedrich Staegemann, Karl Müchler oder Johann Friedrich Oswald in Preußen oder die Verfasser eines Teils der hessischen Befreiungskriegslyrik verstanden sich als publizistischer Arm ihrer Landesherren. Ihre patriotischen Verse bestätigten die absolutistische Staats- und Gesellschaftsordnung, indem sie die Untertanen zu bedingungsloser Selbstaufopferung für das Wohl der Dynastie aufforderten. Ihre Poesie war eine andere Form des Dienstes am Staat, der Krieg ein verhängtes Schicksal, in dem man dem Fürsten beizustehen hatte l50 . An drei Gedichttypen sei im folgenden nachgewiesen, auf welche Weise sich in einer an der Oberfläche nationalen Lyrik das Unverständnis für die gesellschaftspolitische Bedeutung des Krieges niederschlug. Der Gebrauch von Liedern und Gedichten zur öffentlichen Meinungsbildung war ein Zeichen für die antiabsolutistische Stoßrichtung der Befreiungskriegslyrik. Sich ihm zu verweigern, bedeutete den Verzicht darauf, das intendierte neue Ver149 Von den drei Strophen wurden hier nur die ersten drei Zeilen wiedergegeben. Herklots ,Siegeslied' erschien 1814 in Berlin als Einzeldruck mit Noten. 150 Vgl. E. Weber, Lyrik (Anm. 19), 198 - 207: Preußisch-patriotische Lyrik. 21*

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hältnis zwischen Staat und Gesellschaft durch den Krieg beschleunigt herbeizuführen. Joseph von Eichendorff schrieb während des Krieges ,,zeitlieder,,151. Sofern er sie nicht überhaupt erst in den 30er Jahren herausbrachte, veröffentlichte er sie nach dem Krieg in Taschenbüchern und Musenalmanachen, ein Verbreitungsmodus, der auf rein literarische Absichten schließen läßt. Denn diese Organe vermitfelten nationale oder patriotische Lyrik als Beispiele für den neuesten Trend in der Literatur. Der Krieg scheint für Eichendorff Anlaß zu privater Reflexion des Erlebten oder bloßer Vorwand gewesen zu sein, sich an einem neuen Thema dichterisch zu üben. Für die andere Form, die Lyrik aus dem politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß herauszunehmen, ist die Bardenlyrik Karl Wilhelm Justis und seines Marburger Dichterkreises beispielhaft. Die unter dem bezeichnenden Titel ,Erscheinungen im Haine Thuisko's' 1814 erschienenen Verse verweigerten sich allein schon durch Strophenbau - keines der Gedichte ist sangbar -, hohe Sprache und eine der Bardenlyrik des 18. Jahrhunderts entlehnte Metaphorik, die nur den Gebildeten zugänglich war, einem publizistischen Gebrauch 152. Dem entspricht eine reflektierende oder erzählende Darstellungsform, die den Leser in die von der Literatur her vertraute Rezeptionshaltung versetzt. Er sollte betrachtend Kunst genießen. Anders als die Masse der Befreiungskriegslyrik bauen diese Gedichte keine Kommunikationsstruktur auf, die den einzelnen in eine reale (Sänger) oder gedachte (Nation) Gemeinschaft einbindet, um nationales Selbstbewußtsein und eine positive Einstellung zum Krieg hervorzurufen. Zur meinungs- und willensbildenden Funktion der Befreiungskriegslyrik gehörte es auch, Zeitgeschichte nahezubringen, um über das Verstehen für den nationalen Befreiungskampf zu motivieren. Doch auch in dieser Hinsicht verweigerte sich die Lyrik der Dichtergruppe um Justi der Zeit 153. Die Okkupationspolitik Napoleons wurde als Kränkung des Selbstwertgefühles empfunden, die man durch den Entwurf eines zukünftigen Glücks zu bewältigen suchte, das man vage mit "Auferstehung" zu Ruhm und Sieg andeutete. In mythischen Bildern sollte Zeitgeschichte gegenwärtig werden. Mit dieser Flucht vor der zeitgeschichtlichen Realität korrespondiert die Darstellung von Geschichte als blind waltendem Schicksal. Damit reproduzieren die Autoren nur die Zeiterfahrung des Untertanen im Absolutisml:ls. Auf Krieg und fürstliche Willkür hatte man mit Schicksalsergebenheit reagiert. Im Gegensatz dazu wollte die politische Befreiungskriegslyrik dem Bürger das Gefühl geben, durch Eigenaktivität und nationale Solidarität Einfluß auf die Zeitereignisse nehmen zu können. Der Krieg ist jedoch für den Marburger Dichterkreis kaum 151 Eichendorffs patriotische Lyrik steht unter ,Zeitlieder' in der Gedichtausgabe von 1837. Dazu Jürgen Wilke, Das Zeitgedicht. Seine Herkunft und frühe Ausbildung, Meisenheim 1974, 50ff. 152 Erscheinungen im Haine Thuisko's. Mit einem Nachtrage von J. G. Seume, hrsg. v. K. W. Justi und W. Beck, Marburg 1814. 153 Vgl. E. Weber, Lyrik (Anm. 19),218 - 224.

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mehr als ein Anlaß zu kunstvollen Versübungen nach den Mustern der Bardenlyrik des Göttinger Hain 154• Statt auf die Wirklichkeit des Krieges hin zu schreiben, entwerfen sie eine ideale Welt der Kraft und moralischen Festigkeit und stilisieren sich als Barden zu Propheten einer baldigen Glückswende. Nicht die nationale idee, sondern der Parnaß ist der Fixpunkt einer Lyrik, in der sich das Gefühl politischer Ohnmacht, wie es die literarische Intelligenz vor der Französischen Revolution beherrschte, manifestiert. Auch für den zweiten Gedichttypus, für den Clemens Brentanos Kriegsdichtung repräsentativ ist, gilt, daß seine Autoren sich bewußt oder unbewußt in ihrem Selbstverständnis am patriotischen Dichter des 18. Jahrhunderts, dem Barden, orientieren. Dieser hatte - wie Gleim im Siebenjährigen Krieg - sich zugunsten der mit dem Staat gleichgesetzten dynastischen Interessen als Mittler zwischen Herrscher und Volk angeboten, ohne die absolutistische Staats- und Gesellschaftsordnung in Frage zu stellen i55 . Diese jedoch zu ,demokratisieren', die Kluft zwischen Arkanum und Gesellschaft wie die zwischen Bürger und Soldat zu schließen und politische Partizipation zu erreichen, war ein entscheidendes Motiv für den publizistischen Gebrauch von Lyrik zwischen 1812 und 1815. Brentano scheint mit seiner nach dem ersten Pariser Frieden erschienenen Lyrik das genannte Ziel zu unterstützen. Doch der Schein trügt. Im Gedicht ,Bei den Gedenk-Feuern der Berlinischen Turner' wird der Sieg von Leipzig der Güte Gottes zugeschrieben 156. Zwar ist eine theologisch-christliche Einordnung des antinapoleonischen Kampfes vielen Liedern 1814/15 eigen. Hier jedoch schmälert diese Deutung des Sieges die (nicht erwähnten) Leistungen des Volkes und konterkariert damit alle Anstrengungen der national Denkenden, aus den Taten und Opfern des Volkes - wie Görres im ,Rheinischen Merkur' - eine zukünftige politische Mitsprache abzuleiten. Das aus der Struktur des Gedichtes herauslesbare traditionsgebundene Verständnis patriotischer Lyrik bestätigen die in Wien entstandenen Dichtungen. Die im August 1813 nach Eintritt Österreichs in den Krieg verfaßte Kantate ,Österreichs Adlergejauchze und Wappengruß in Krieg und Sieg' wie der in Wien als Einzeldruck publizierte ,Rheinübergang' feiern das Gastland 154 In Justis Gedicht, Teutonia's Nacht und neuer Morgen, heißt es: ,Jch singe nicht von goldner Adler Beute, Nicht von vergoßnem Menschenblut [ ... ] Ich singe, wie nun bald als Ueberwinder Teutonia, hoch im Geist entzückt, Die tapfermütigsten der kampfgewohnten Kinder Mit frischen Eichenkränzen schmückt!" Den wiedergewonnenen Frieden stellt sich Justi fern aller Realität als ein neues Paradies vor: ,,0 Folgezeit, wo unter Frühlingsrosen, Gepflegt von Löbna's milder Hand, Die frommen Lämmer mit den Tigern kosen, Umschlungen sanft vom Friedens-Band!" 155 Vgl. dazu Ernst Weber, Patriotische Lyrik, in: Panorama der Fridericianischen Zeit, hrsg. v. Jürgen Ziechmann, Bremen 1985, 218 - 221. Zum Patriotismus im 18. Jahrhundert vgl. jüngst Hans-Peter Herrmann u.a. (Hrsg.), Machtphantasie Deutschland. Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhaß im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1996. 156 Berlinische Nachrichten, Nr. 131,2.11. 1815.

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und seinen Kaiser in panegyrischen Tönen i57 . In ,Rheinübergang' wird den Soldaten ein Treuebekenntnis zu Franz und anderen Fürsten nach Art des anonymen Soldatenliedes in den Mund gelegt und damit das u. a. von Arndt bekämpfte Verhältnis zwischen Soldat und Herrscher im Absolutismus bekräftigt. In diesem Gedicht wie auch in ,Aufgang des Sterns von Katzbach', einem den Sieg von Belle Alliance in Anekdoten fassenden Wechselgesang zwischen einem Chor und einem Vorsänger, imitiert Brentano den holprigen Sprachgestus, die metrische Struktur, die ,naive' Ausdrucks- und die unterhalb des politischen Horizontes bleibende Darstellungsweise des traditionellen Soldatenliedes. Zwar hat auch Arndt - z. B. in ,Fünf Lieder für deutsche Soldaten' im März 1813 - sich dieser stilistischen Mittel bedient, um zu Beginn des Krieges die in der Regel ungebildeten Soldaten des stehenden Heeres für den bevorstehenden Kampf zu gewinnen. Brentano aber schrieb seine Lyrik fürs Theater, soweit es die patriotischen Gedichte im Festspiel ,Victoria' betrifft. Arndt nutzte das volkstümliche Sprechen, um in einer konkreten militärischen Situation unter illiteraten Soldaten mittelbar für die nationale Sache zu werben. Brentano hingegen wandte sich an ein gebildetes, obrigkeitshöriges österreichisches Publikum im neuesten Ton der Lyrik. Dahinter mag auch der Karrierewunsch gestanden haben, nach Körners Tod eine führende Stellung im Wiener Theaterleben zu erlangen i58 . Doch letztlich ging es um literarische Selbststilisierung und Selbstfeier als moderner Dichter, wie das Gedicht ,Theodor Körner an Victoria' aus dem Festspiel ,Victoria' belegt 159 . Die Nation erscheint hier einzig als Freiheit gewährender Entfaltungsraum eines zur Vollendung strebenden, d. h. Dichtung und Leben in Einklang bringenden Künstlers und der Krieg als äußerer Anlaß, um dem Ideal des Dichter-Kriegers, den "deutschen Dichtem auf der Ritterfahrt" zu entsprechen. Der dritte Gedichttypus unterläuft durch die Wahl der literarischen Formen den mittels Lyrik angestrebten, die Armee einschließenden nationalen und sozialen Integrationsprozeß. Friedrich Rückerts ,Deutsche Gedichte', pseudonym 1814 in Heidelberg von Mohr und Zimmer verlegt, repräsentieren diesen vom Geist der (Kriegs-)Zeit unberührten Typus. Die Sammlung zerfallt in zwei sich in Sprachform, Thematik und intendiertem Adressaten deutlich unterscheidende Teile. Den ,Zwölf kriegerischen Spott- und Ehrenliedern', von denen der Autor fünf schon 1813 in ,Deutsche Glimpf- und Schimpflieder' publiziert hatte, folgen die ,Geharnischten Sonette'. Die Kriegslieder knüpfen am traditionellen Soldatenlied an, das durch einen selbstbewußten Sprachgestus dem Soldat ein Überlegenheitsgefühl vermittelte, um die Gattung mittels Sprachwitz 160 und concettihaften 157 Taschenbuch für vaterländische Geschichte, Bd. 4, Wien 1814, 101- 107. Rheinübergang. Kriegsrundgesang. Von Clemens Brentano, Wien 1814. 158 Vgl. Dieter Sprengel, Die inszenierte Nation. Deutsche Festspiele 1813 -1913, Tübingen 1991, 39f. 159 Victoria und ihre Geschwister mit fliegenden Fahnen und brennender Lunte. Ein klingendes Spiel von Clemens Brentano, Berlin 1817, 123. Zu dem Gedicht Wolfgang Frühwald, Das Spätwerk Clemens Brentanos (1815 - 1842), Tübingen 1977, 108 - 111.

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Einfallen 161 literarisch zu modernisieren. Diese Lieder wissen vom Krieg nur Anekdoten aus dem Leben französischer und deutscher Generäle zu erzählen, oder sie berichten im heiteren Ton von lärmenden Schlachten, die ,,Ruhm" gebracht hätten. Der Krieg erscheint als ein Staat und Gesellschaft kaum berührendes Ereignis, das seine Erfüllung einzig in der Niederlage des Feindes findet. Folglich ist "Friede" nicht mehr als ein Nachhausegehen. "Dann gehet heim, und jeder auf seinem Sitze, wie es euch ist [von Gott]) beschieden, Sitzt in Frieden Und über euch will ich [Gott] sitzen auf meinem" 162. Den Sieg hat der Soldat letztlich Gott zu verdanken. Seine politische Bedeutung für den nationalen und gesellschaftlichen Einigungsprozeß wird in keinem der Verse angesprochen. Den nicht singbaren und damit auch nicht im Gemeinschaftsgesang nutzbaren Sonetten im zweiten Teil - eine literarische Form, welche die Ode als Ort lyrischphilosophischer Zeitreflexion abzulösen begann - ist allein die politische Thematik vorbehalten. Es soll hier außer acht bleiben, ob Rückert bei der Bearbeitung von Themen wie ,Dienst am Vaterland', ,Staatsform nationaler Einheit', ,Rolle der Preußen im Krieg', ,Kriegsopfer der Frauen' u.a.m. Einsicht in den Zusammenhang von Krieg, nationaler Souveränität und innenpolitischen Reformen bewies. Wichtig ist, daß er mit der Ausgliederung der Zeitreflexion aus Liedern, die dem Sprachgestus nach zum nationalen Befreiungskampf motivieren sollten, die bestehende Trennung der Gesellschaft in Volk/Ungebildete und Gebildete/Literaturkundige, welche um der nationalen Einheit willen gerade überwunden werden sollte, durch die Wahl der Gattung aufrechterhielt. Ein Bürger in "Mondur" - seit den 90er Jahren wichtiger Kristallisationspunkt aller gesellschaftspolitischen Reformbestrebungen - sollte der Soldat offenbar nicht werden. Die Armee bleibt in den ,Deutschen Gedichten' ein militärisches, in die Gesellschaft nicht eingebundenes Instrument in wessen Hand auch immer und der Krieg nur Stoff für schöne Literatur. Allein Literaturverständigen scheint Rückert zuzugestehen, über politisch relevante Vorgänge nachdenken zu können, ohne daß dies zu politischem Handeln führen sollte. Das lyrische Ich als fiktiver Repräsentant des Autors im Text begnügt sich mit der Rolle des Philosophen wie zu Zeiten Klopstocks. Es bedarf nicht erst der Bestätigung durch Rückerts Briefwechsel und Tagebuch 163 , um zu erkennen, daß für ihn der nationale Befreiungskrieg nicht mehr bedeutete als ein aktuelles Thema für eine kunstgerechte, mit Volkston und komplexen Vers- und Gedichtformen Normen romantischer Poetik erfüllende Lyrik, mit der er in literarischen Kreisen reüssieren konnte. Wie wenig er dessen politi160 "General Vandamme Welchen Gott verdamme!" oder ,,Ey, Ey! Ney, Ney! Ey, Ney, was hast du verloren?" in: Deutsche Gedichte von Freimund Reimar, [Heidelberg] 1814,6 u. 8. 161 F. Rückert, Gedichte, 19: Napoleon: "Doch mit meinen Brücken Wills auch gar nicht glücken! Gar in keinem Land! Als ich kam zur Berezine Wo ich keine Brücke fand, Harr't ich mit des Todes Miene, Bis sie, schlecht g'nug, endlich stand." 162 Ebd., 55. 163 Vgl. H. W. Church, Friedrich Rückert als Lyriker der Befreiungskriege, New York 1916.

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sche Dimension erkannt hatte, belegt nicht zuletzt das quietistische ,Lied eines Fränkischen Mädchens.J64. In ihm erteilt er allem nationalen und patriotischen Engagement eine Absage. Befangen in der Dichterrolle der Spätaufklärung und getrieben von dem Wunsch, als Dichter erfolgreich zu sein, bestand sein Ziel in nichts weiter als einer literarisch anspruchsvollen, aber "volksmäßigen objectiven [!] Darstellung der Zeit,,165. Es ist erstaunlich, wie wenig sich die Repräsentanten der literarischen Romantik daran beteiligten, das von ihnen mit- und weiterentwickelte kulturelle Selbstverständnis der Gebildeten durch den antinapoleonischen Krieg zu politisieren. Ludwig Tieck interessierte sich kaum für den Nationswerdungsprozeß. Achim von Arnim hatte zwar 1806 versucht, die mit Volkslied- und Volksbuchsammlungen initiierte literarische Selbstvergewisserung einer Nationalkultur der Deutschen über den Stand der Gebildeten hinaus politisch zur Geltung zu bringen, indem er ,Kriegslieder' sammelte und unter Soldaten verteilen ließ. Wo er sich zurückhaltend am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß während der Befreiungskriege beteiligte, befürworteten seine Verse jedoch nur die Wiederherstellung der alten Ordnung, zu der das ,,Reich" und der aufgeklärte Absolutismus Friedrich 11. das Modell abgaben 166. Gleiches gilt auch für Friedrich Schlegel. Seine patriotische Lyrik der Vorkriegsjahre versteckte er gleichsam 1809 in einer Ausgabe seiner Gedichte. Durch diese Publikationsform beschränkte er ihren Gebrauch von vornherein auf den sozialen Stand, in dem die nationale Idee entwickelt worden war. Bezeichnenderweise wurde diese Lyrik mit Ausnahme von ,Gelübde' ("Es sei mein Herz und Blut geweiht") 1813 nur in Anthologien berücksichtigt, die mit ihrer breiten Dokumentation patriotischer und nationaler Lyrik seit dem 17. Jahrhundert in erster-Linie Nationalgesinnte mit literarischer Bildung ansprechen wollten. Und das Gedicht ,Freiheit' ("Freiheit, so die Flügel"), welches dem politisch unbestimmten, mit romantischer Natursehnsucht verknüpften Freiheitsgefühl und Ehrenkodex der akademischen Jugend Ausdruck gab, wurde erst wieder im ,Neuen vollständigen teutschen Commersbuch', 1815, nachgedruckt. "Vaterlands lieder" wie vor 1809 hat Schlegel während der Befreiungskriege nicht mehr geschrieben. Eine irenische Einstellung war sicher nicht der Grund, der die genannten Romantiker während des Krieges zu politischer Abstinenz, literarischer Selbstfeier als Dichter-Helden oder dazu bewegte, die politischen Ziele der Nationalbewegung zu unterlaufen. Sie zeigten weder Verständnis für die Nationalisierung der bürgerlichen Tugenden als sozialer Basis der angestrebten nationalen Einheit noch Sinn F. Rückert, Gedichte (Anm. 160), 24 - 27. Brief an Fouque vom 24. 10. 1814, in: Friedrich Rückert, Briefe, hrsg. v. Rüdiger Rückert, Schweinfurt 1977, Bd. I, 44 - 47, Zitat 46. 166 [Achim von Amim], Kriegslieder. Erste-Sammlung, Göttingen 1806, abgedruckt in: Achim von Amim und die ihm nahestanden, hrsg. v. E. Steig und H. Grimm, Bd. 1, 1884, 197 - 206. Vgl. Amims Gedichte in: Der Preußische Correspondent, Nr. 13, 24. l. 1814, anläßlich des Geburtstages von Friedrich II., Der deutsche Völkerbund, Nr. 14, 26. l. 1814: Dem 24sten Januar 1814. 164 165

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für die Taten und Opfer des deutschen Volkes, die schon bald in der Publizistik wie auf den Oktoberfeiern zur Leipziger Schlacht 1814 politische Ansprüche rechtfertigen sollten. Der Gedanke einer "Vergesellschaftung und Politisierung der Armee,,167 blieb ihnen ebenso fremd wie die neue Rolle des Dichters in der Gesellschaft, wie sie sich mit der reformpolitischen Befreiungskriegslyrik präsentierte. Dieser verkörperte dort nicht mehr das moralische Gewissen seiner Zeit, sondern fungierte als meist anonymes Sprachrohr seiner zu politischem Selbstbewußtsein gekommenen Nation. In der engen Verflechtung von Nationswerdung durch Krieg und antifeudaler Zielsetzung, wie sie in der Institutionalisierung der öffentlichen Meinung durch den publizistischen Gebrauch von Lyrik zum Ausdruck kam, dürfte die Ursache dafür liegen, daß jene Romantiker die mit dem Krieg gebotene Chance, die Realisierung reformpolitischer Ideen zu beschleunigen, nicht erkannten. Die alte Bindung der Gebildeten an den fürstlichen Hof scheint latent fortbestanden zu haben, obgleich die Entwicklung eines literarischen Marktes seit Mitte des 18. Jahrhunderts den Dichter von mäzenatischer Gunst unabhängiger gemacht hatte und ihm eine Existenz als freier Schriftsteller ermöglichte. Man wird eine andauernde innere Orientierung der sich als gesellschaftliche Elite verstehenden Dichter an den politisch Mächtigen annehmen müssen, sofern sie nicht ohnehin durch ihre berufliche Stellung dem Landesherrn und seiner Verwaltung verbunden waren. Staegemann (und Müchler) standen im Staatsdienst, Eichendorff strebte ihn an, Justi blieb als kirchlicher Superintendent seinem Kurfürsten verpflichtet. Brentano reflektierte auf eine öffentliche Stellung im kaiserlichen Wien, und Arnim, Mitbegründer der ,Christlich-teutschen Tischgesellschaft' in Berlin, redigierte 1813 /14 den halboffiziellen ,Preußischen Correspondenten'. Einzutreten für die Beseitigung jeder Willkürherrschaft, für eine vereinte Nation, welche die Souveränität der Fürsten einschränken würde, oder für die politische Partizipation breiter Schichten, hätte die existentiellen Interessen und eine Lebensform gefabrdet, nach der die Dichter - folgt man ihrem Selbstverständnis - den ,,Ersten der Nation an Rang und Namen" (1. J. Bodmer) gleichgestellt waren. Wie schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts das gebildete Bürgertum keine revolutionären Konsequenzen "aus seiner kritischen Einstellung gegenüber dem aristokratischen Herrschaftssystem" zog168, so verweigerte sich ein Teil der Romantiker den möglichen politischen Konsequenzen ihres nationalen Selbstverständnisses. Denn der Volkskrieg gegen die Willkürherrschaft Napoleons mußte den gegen jede Herrschaft eines einzelnen zur Folge haben. Und eine politische Emanzipation breiter Schichten konnte die privilegierte Stellung all jener in Frage stellen, die als Wortmächtige "eine Veranlassung zu schriftstellerischen Arbeiten" hatten.

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J. Kunisch, Bellona (Anm. 30), 222. O. Dann, Bürger (Anm. 26), 63.

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VI. Die Befreiungskriegslyrik motivierte zweifellos breite Bevölkerungsschichten für den antinapoleonischen Kampf. Aus pragmatischer Sicht erscheint somit die Unterscheidung zwischen einer politischen und einer unpolitischen, sich nur äußerlich bellizistischer Rede bedienenden Befreiungskriegslyrik irrelevant. Körners, Brentanos und auch Rückerts Lieder und Gedichte haben nicht nur das öffentliche Räsonnement über Politik freiwillig oder unfreiwillig unterstützt, sondern auch zur allgemeinen nationalen Autbruchstimmung beigetragen und, was Körner betrifft, Schüler und Studenten zur Opferbereitschaft motiviert. Zudem war es innerhalb einer von Landestraditionen bestimmten, nach Ständen und sozialen Gruppen gegliederten Gesellschaft nur von Vorteil, wenn der Autor mittels der seiner Gruppe eigenen Werte, Verhaltensnormen und Sehnsüchte für nationalen Gemeinsinn und Kamptbereitschaft wirken konnte. Vom eingetretenen Nationswerdungsprozeß her gesehen, wie er am ersten deutschen Nationalfest, den Gedenkfeiern zur Leipziger Schlacht im Oktober 1814, ablesbar ist l69 , scheint es ohne Bedeutung zu sein, ob ein sich den Fürsten allein verpflichtet wissender preußischer oder hessischer Patriot oder ein national wie reformpolitisch Denkender wie Arndt für den antinapoleonischen Krieg warb. So zutreffend dies im einzelnen auch ist, eine solche Argumentation verstellt den Blick auf die unterschiedlichen Wirkungsgrade der beiden Formen bellizistischen Denkens, welche sich während der Befreiungskriege entwickelt haben und für die Arndts und Körners Kriegsagitation exemplarisch stehen. Arndt sah im Krieg gegen Frankreich eine Chance, um im Rahmen öffentlicher Meinungsbildung mittels publizistisch eingesetzter Lyrik ein Nationalbewußtsein in allen Ständen und deutschen Staaten hervorzurufen mit dem Ziel, einer demokratischen Verfassung einen entscheidenden Schritt näherzukommen. Körner hingegen und mit ihm jene Dichter, die ihn glorifizierten, vertrat - narzißtisch befangen im Standesdenken - einen Bellizismus, der mit dem Kriegsinteresse der Fürsten kongruent war. Thre Agitation für die ,,Freiheit von fremder Herrschaft" als ein "unschätzbares Gut, jeglicher Anstrengung wert,,170, sollte die "alte Ordnung" (Schleiermacher) nicht gefährden. Eine Frage, wie sie der oben zitierte Artikel der ,Nemesis' aufwirft: ,,Fragt keiner: was denn die Fürsten für die Völker gethan, seit diese ihre Throne wieder aufgerichtet haben"l7l, liegt ihnen fern. Bezeichnenderweise wurden nicht sie zur bestimmenden Kraft der Nationalbewegung, die bestrebt war, das durch den Krieg entstandene Nationalgefühl und -bewußtsein durch die Gründung von Deutschen Gesellschaften, Turnerbünden, studentischen Verbindungen und Sängervereinen politisch zu institutionalisieren 172, sondern Publizisten und WisVgl. E. Weber, Lyrik (Anm. 19), 292 - 324. Nemesis (Anm. 85), 264. 171 Ebd. 172 Vgl. D. Düding, Nationalismus (Anm. 20); ders, Die deutsche Nationalbewegung im 19. Jahrhundert, in: Deutscher Staat, deutsche Nation, hrsg. v. Peter Krüger, Marburg 1993, 169

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senschaftler wie Heinrich Luden, Ludwig Oken, Carl Theodor Welcker, Carl von Rotteck oder Jacob Grimm. Das Erbe der Befreiungskriegslyrik in ihrer Verknüpfung von Krieg, Nationalbewußtsein, öffentlicher Meinungsbildung und antifeudalistischer Reformpolitik traten im Vormärz weder Dichter wie Friedrich Gaudy, Ludwig Uhland, Julius Mosen oder Friedrich Staegemann an, die in ,Historischen Erinnerungen in lyrischen Gedichten' 173 Schlachten der Befreiungskriege und ihre ,Helden' besangen, noch ihre Imitatoren in den 40er Jahren. Diese, wie Georg Herwegh, Rudolf Gottschall oder Ferdinand von Freiligrath sprachen zwar von ,,heiligem Krieg", ,,Freiheit" und "Vaterland", doch ihren Versen fehlte eine realistische, der Vormärzsituation gerecht werdende gesellschaftspolitische Konzeption. Die Aufforderung zum Kampf (Herwegh: "Reißt die Kreuze aus der Erden! Alle sollen Schwerter werden") lief ins Leere. Das antiabsolutistische und bellizistische Moment der Befreiungskriegslyrik hingegen wurde von den Demokraten im zeitlichen Umfeld des Hambacher Festes l74 aufgenommen und unter dem Druck des Neoabsolutismus weiterentwikkelt. Von den als "Verräther der Nationalsache" kritisierten Fürsten, "welche um der Eitelkeit, der Herrschsucht und Wollust willen die Bevölkerung eines ganzen Welttheils [ ... ] durch empörende Unterdrückung Jahrhunderte hindurch" hinderten, "zu materieller Wohlfahrt" und "geistiger Vollendung sich aufzuschwingen,,175, forderten sie den auf "Volksherrligkeit", die Souveränität des Volkes sich gründenden Nationalstaat. Erst durch die gesetzgeberische Kompetenz des Volkes werde Gleichheit, Rechtssicherheit und Freiheit im Sinne von Meinungs- und Pressefreiheit sowie individuelle und wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten gesichert. Um dies durchzusetzen, war man zu Krieg und Gewalt bereit, zu einem "Kampf der Nothwehr, der alle Mittel heiligt, die schneidendsten sind die besten [ ... ]"176. Die Verse Harro Harrings oder Ph.J. Siebenpfeiffers z. B. erklärten Fürsten und Adlige zu Räubern und Mördern, die umgebracht werden müssen, agitierten für einen Volksaufstand und stellten das revolutionäre Frankreich als Vorbild hin 177. Revolutionäre Gewalt als die innenpolitische Variante des Krieges gegen einen Feind, der den demokratischen Nationalstaat, die Souveränität des Volkes selbst mit Gewaltmaßnahmen hinderte, war kein Tabu. Den Frankfurter 73 - 83; Öffentliche Festkultur, hrsg. v. Dieter Düding, Reinbek b. Hamburg 1988; Karin Luys, Die Anfange der Nationalbewegung von 1815 - 1819, Münster 1992. 173 So der Titel einer Gedichtsammlung Staegemanns, Berlin 1828. 174 Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach, hrsg. v. J. G. Wirth, Neustadt a.H. 1832, 33. Zu Hambach zuletzt: Ernst Weber, Die nationale Idee in der Zeit der Romantik und des Vormärz, in: Die Intellektuellen und die nationale Frage, hrsg. v. Gerd Langguth, Frankfurt a.M./New York 1997, bes. 89ff., dort auch die einschlägige Literatur. m J. G. Wirth, Nationalfest (Anm. 174),43. 176 Ebd., 81. 177 Vgl. die Gedichte in: Männer-Stimmen für Deutschlands Einheit, hrsg. v. Harra Harring, Straßburg 1832; Volksstimme. Sammlung von Gesängen für alle Deutsche, Neustadt a.H.1832.

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Wachensturm von 1833 plante man als Initialzündung für eine Revolution in Deutschland. Die Bedeutung, welche die antiabsolutistische Befreiungskriegslyrik im bellizistischen Denken des 19. Jahrhunderts gewann, läßt sich an Hambach ablesen. Aufgrund des Sieges über Napoleon und der 1815 erreichten nationalen Autonomie konnte sie die Erfahrung vermitteln, daß der Krieg, den sie beförderte, ein legitimes und erfolgversprechendes politisches Instrument ist. Sie hat die nach 1790 sich herausbildende positive Einstellung zum Krieg einer kleinen bürgerlichen Elite allen sozialen Schichten nahebringen können mit der Folge, daß Kriege nicht als Schicksalsschläge und "Quell aller Übel" betrachtet werden mußten, sondern als ein aktiv zu beschreitender Weg, um politische Vorstellungen gegen innere und äußere Feinde durchzusetzen. Dies bedeutete aber auch, daß Nationswerdung, Demokratisierung und Krieg von nun an miteinander verbunden blieben, zumal die deutschen Fürsten spätestens nach den Karlsbader Beschlüssen 1819 alles taten, um die Demokratisierung durch Nationalisierung zu verhindern. Gleichwohl zeigt Hambach, daß Krieg und mit ihm revolutionäre Gewalt stets nur als ultima ratio dort in Betracht gezogen wurden, wo Reformen, Freiheit und Recht auf "dem gesetzlichen Weg" zu erreichen nicht mehr möglich schien 178 . Bellona sollte nur zeitweise entfesselt, Krieg nicht aus Willkür, egoistischem Macht- und Expansionsstreben geführt werden. Die Verbindung von Krieg und Nationswerdung besitzt zwei entscheidende Komponenten, Demokratisierung der Gesellschaft und nationale Selbtbehauptung gegenüber Frankreich, die im Laufe der Geschichte hervor- oder zurücktreten. Im Vormärz schon zeichnete sich ab, daß die antifranzösich-nationalistische die demokratische zu verdrängen begann. Nach 1849 sollte sie sich durchsetzen. Die nationale Identität hatte ihren wesentlichen Impuls aus einem Krieg mit Frankreich erhalten. Daß es der Nationalbewegung nach dem ersten Pariser Frieden nicht gelang, durch ein sich auf die nationalisierten bürgerlichen Tugenden stützendes positives Selbstbild der Deutschen, wie es die Lyrik auf den Oktoberfeiern 1814 entwarf, den Nationswerdungsprozeß vom Feindbild Frankreich zu lösen, sollte sich schon auf dem Hambacher Fest zeigen 179. Man hatte zwar erkannt, daß es sich bei dem Konflikt mit dem Neoabsolutismus um ein europäisches Problem handelte. Einige Redner plädierten daher für ein "conföderirtes republikanisches Europa" als Garant nationaler Unabhängigkeit, demokratischer Zustände und eines Friedenssystems 180 • Doch obwohl Frankreich Mitglied sein sollte, schürten einige Redner Ängste vor den Franzosen unter Hinweis auf deren Ansprüche auf links178 J. G. Wirth, Nationalfest (Anm. 174),81, Rede K. H. Brüggemann, der der Anwendung von Gewalt enge Grenzen zog. 179 Zum Feindbild vgl. Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich, Stuttgart 1992. 180 J. G. Wirth, Nationalfest (Anm. 174),48; vgl. die Reden von J. G. A. Wirth und K. H. Brüggemann.

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rheinische Gebiete. Das alte Feindbild erwies sich als stärker als die republikanische Solidarität. Verschärft wurde die antifranzösische Haltung dadurch, daß mit der nationalen Identitätsfindung schon 1806 bei Schleiermacher ein aus dem Kulturpatriotismus der Aufklärung geerbtes nationales Sendungs bewußtsein verbunden war 181 . "Deutschland", so J. G. A. Wirth, "sei berufen von der Natur, um in Europa der Wächter des Lichts, der Freiheit und der völkerrechtlichen Ordnung zu seyn,,182. Durch den hinter dem Schlagwort "Realpolitik" im Nachmärz l83 sich verbergenden Verzicht der Nationalbewegung auf eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 mußte ein solches nationales Überlegenheitsgefühl fast zwangsläufig zum Imperialismus führen - zumal in Verbindung mit einem Bellizismus, der durch eben diese gescheiterte Revolution seine ursprüngliche und wichtigste Legitimation verlor. Ein Krieg gegen Frankreich konnte zur treibenden Kraft auf dem Weg zum Nationalstaat werden. Diese Entwicklung von einem reformpolitisch motivierten Bellizismus zum imperialen Bellizismus des nationalen Machtstaates, an deren Anfang zwar die Befreiungskriegslyrik steht, für die sie jedoch nicht verantwortlich gemacht werden kann, muß bei der Rezeptionsgeschichte von Körners Kriegsliedern mitgedacht werden. Letztlich leistete sie jener Entwicklung Vorschub. Körners Verse hatten als eine spezifische Ingroup-Lyrik, deren Bellizismus die antiabsolutistische Intention fehlte, in der breite Schichten erfassenden Demokratiebewegung zu Beginn der 30er Jahre kaum eine Rolle gespielt l84 . Als eine Lyrik, die nur Kriegsbegeisterung vermittelte und von der Jugend unbedingte Opfer- und Todesbereitschaft fürs Vaterland forderte, mußte sie nach 1849 innerhalb eines Nationalismus populär werden, der sich ganz dem autoritären und imperialen Machtstaat verschrieben hatte. Im Kontext einer mit der Obrigkeit sich arrangierenden Nationalbewegung war ihre Struktur, ihr systemerhaltender Bellizismus dafür verantwortlich, daß sie zur nationalistischen Erziehung ,,kampfbegieriger deutscher Jugend" eingesetzt werden konnte.

181 Schleiennacher nennt die Deutschen "ein auserwähltes Werkzeug und Volk Gottes", Brief vom 31. 12. 1808, in: Aus Schleiennachers Leben (Anm. 31),200. Ähnliches findet sich auch bei Amdt und August Wilhelm Schlegel. 182 J. G. Wirth, Nationalfest (Anm. 174),41. 183 Vgl. August Ludwig Rochau, Grundsätze der Realpolitik, 1853, hrsg. v. Hans-U1rich Wehler, Frankfurt a.M. 1972. Vgl. dazu Peter Uwe Hohendahl, Literarische Kultur im Zeitalter des Liberalismus 1830-1870, München 1985,71 ff. 184 Für die Gedichte von Körner, die sich in: Volksstimme (Anm. 177); Vaterländische Lieder, Offenbach 1833; Volks-Klänge. Eine Sammlung patriotischer Lieder, [hrsg. v. German Mäurer], Paris 1841 finden, dürfte das von A. L. Folien herausgegebene Liederbuch der Gießener Schwarzen: Freye Stimmen frischer Jugend, Jena 1819, traditionsbildend gewirkt haben.

Funktionale Barbarei Heinrich von Kleists "Kriegstheater" und die Politik des Zivilisationsabbaus

Von Andreas Dömer, Magdeburg

I. Irritationen

Wir befinden uns im Jahr 1863. In allen deutschen Landen schickt man sich an, das 50jährige Gedenken der "V61kerschlacht" bei Leipzig zu feiern. Die Nachbeben der gescheiterten Revolution sind noch kaum verklungen, die deutschen Einigungskriege stehen unmittelbar bevor, und die Liberalen vollziehen ihre Konversion von der Ideal- zur Realpolitik. In dieser unruhigen Zeit der Weichenstellungen will man den Konsens von 1813 beschwören und sich alter Heldentaten erinnern. Auf der Suche nach einer ästhetisch anspruchsvollen Gestaltung der Feiern stößt man vielerorts auf Heinrich von Kleist, der - nach langer Anlaufzeit - nun allmählich ins Pantheon der deutschen Dichtkunst aufgenommen wird. Kleist hatte schon im Jahre 1808 ein Drama verlaßt, das "mehr, als irgend ein anderes, für den Augenblick berechnet'd und auf politische Wirksamkeit angelegt war. Was liegt also näher, als dieses Stück aufzuführen? Die frohgemut versammelten Veteranen und Honoratioren erleiden jedoch in den Festvorstellungen einen schweren Schock. Das Drama ist von edler Festtagspoesie mindestens genauso weit entfernt wie die Realität des Leipziger Gemetzels vom hohen Ton Körnerscher Jägerlieder. Stellvertretend für viele heißt es in einer Kritik zur Aufführung in Karlsruhe: ,,Nur eine Zeit, wie die, in welcher Kleist schrieb, kann ein solches Drama verstehen mit all' seinen barbarischen Auswüchsen und an ihm erglühen. Möge dieses Verständniß nie wiederkehren für Deutschland! Von der Bühne herab kann es aber in unserer Zeit keine unglücklichere Festvorstellung geben. Hermann ist wohl verklärt durch die heroengleiche, leuchtende Vaterlandsliebe, die die Mutter seines Hasses ist. Aber er und seine barbarische halbwilde Umgebung sind uns menschlich viel ferner gerückt, als die Feinde, deren Eroberungspolitik in unseren Augen eine civilisatorische Sendung annimmt,,2. 1 So Kleist in einem Brief vom 20. 4. 1809 an seinen Wiener Förderer Collin, in dem er um eine Aufführung des Stücks bettelt: ,jede Bedingung ist mir gleichgültig, ich schenke es den Deutschen; machen sie nur, daß es gegeben wird", gedr. in: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Helmut Sembdner, Bd. 2, Darmstadt 1962, 824.

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Zivilisation und Barbarei ist die Leitdifferenz dieses Diskurses3 . Und, so sehr sich die Empörung hier auch gegen das Stück wendet, so nahe steht sie bei genauem Hinsehen doch dem ursprünglichen Wirkungszusammenhang, in den die Kleistsche Politik der Gefühle verwickelt ist. Hier nämlich ging es tatsächlich um funktionale Barbarei, um gezielten Zivilisationsabbau zur Erreichung konkreter politischer Ziele. Ich möchte im folgenden darstellen, wie Kleist seine politischen Texte als Moment einer Dezivilisierungskampagne anlegt, die sich nahtlos einfügt in die symbolische Politik der Befreiungskriege4 • Diese Politik bahnte kulturell den Weg von der "gezähmten" zur "entfesselten Bellona", von den gehegten Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts zu den enthegten Volkskriegsszenarios im Zeitalter Napoleons 5 . Ich werde dabei zunächst kurz eingehen auf den Zusammenhang zwischen Krieg und Zivilisation, um danach der Thematik zivilisatorischer Normen und ihrer temporären Brüchigkeit bei Kleist nachzugehen. Der gezielte Abbau dieser Normen als Instrument des politischen Handeins ist in mehreren Texten fokussiert, auf die ich kurz eingehen werde6 . Im Mittelpunkt meiner Untersuchung soll das Kriegsdrama "Die Hermannsschlacht" stehen. Zivilisationsabbau als Zielpunkt symbolischer Politik wird hier exemplarisch und in propagandistischer Absicht vorgeführt. Am Schluß werde ich anhand einer Neuinszenierung des Dramas im Jahre 1982 danach fragen, was uns die Poetik der gewollten Barbarei heute noch zu sagen hat.

2 Die Theaterkritik ist abgedruckt in Feodor Wehl, Zeit und Menschen. Tagebuch-Aufzeichnungen aus den Jahren von 1863 - 1884, Bd. 1, Altona 1889,5. 3 Zum Zusammenspiel von Zivilisation und Barbarei in der Moderne vgl. jetzt auch die Beiträge in Max Miller/Hans Georg Soeffner (Hrsg.), Modernität und Barbarei. Soziologische Zeitdiagnose am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1996. 4 Zur symbolischen Politik im Zeitalter der Befreiungskriege vgl. ausführlich Andreas Dömer; Politischer Mythos und symbolische Politik. Sinnstiftung durch symbolische Formen am Beispiel des Hermannsmythos, Opladen 1995, 111 ff. Viele Ausdrucksformen der Symbolpolitik sind Vorbildern aus dem Kontext der Französischen Revolution verbunden. Die wichtigsten Symbolpolitiker der Zeit wie Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn waren gelehrige Schüler ihrer jakobinischen Lehrer. 5 Vgl. dazu Johannes Kunisch, Von der gezähmten zur entfesselten Bellona. Die Umwertung des Krieges im Zeitalter der Revolutions- und Freiheitskriege, in: Kleist-Jahrbuch 1988/89 (1989), 44-63. 6 Vorab sollte noch betont werden, daß es mir hier nicht um eine biographisch-psychologische Deutung zu tun ist. Dieser Zugang, der gerade im Hinblick auf den häufig als Psychopathen bezeichneten Kleist oft beschritten wurde, überdeckt durch individuelle Zurechnungsversuche immer wieder die politisch interessanten Aspekte der Thematik. Zur Rezeptionsgeschichte Kleists und seiner "Hermannsschlacht" vgl. Andreas Dömer / Ludgera Vogt, Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, Politische Kultur, Opladen 1994, 242 ff.

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11. Zivilisation und Krieg Der Begriff der Zivilisation ist in der deutschen Sprache sehr schillernd. Lange Zeit wohnte ihm in der Gegenüberstellung mit dem Kulturbegriff ein polemisch abwertender Unterton inne. Und in der heutigen Umgangssprache deckt er ein Spektrum von der Abendgarderobe bis zur Zentralheizung ab7 • Um das Phänomen spezifischer zu fassen, beziehe ich mich im folgenden auf die von Norbert Elias entwickelte Theorie des Zivilisationsprozesses abendländischer Gesellschaften. Es geht hier um die Entwicklung einer zunehmenden Affektkontrolle der Menschen, die sich sowohl in Scham und Peinlichkeitsempfinden als auch in einer Bändigung von Gewaltsamkeit und Brutalität äußert. Elias und seine Schüler versuchen, langfristige Strukturveränderungen von Sozialität, Psyche und Verhaltensformen als Elemente eines übergreifenden Prozesses der Zivilisation zu beschreiben. Besonders in dem schon 1936 fertiggestellten, aber erst in den 1970er Jahren in weiten Kreisen rezipierten Buch "Über den Prozeß der Zivilisation" zeigt Elias anband umfangreicher Quelleninterpretationen auf, wie die zunehmende Zivilisierung der Lebensformen das Zusammenleben der Menschen in einer dichter und komplexer werdenden Sozialwelt seit Mittelalter und früher Neuzeit erst möglich macht8 . Das ,,zusammenrücken" der Menschen im Laufe der Geschichte ist mit einer Umstrukturierung des psychischen Apparates verbunden. Elias versucht diese Formung in einer soziohistorischen Interpretation Freudscher Kategorien aufzufassen als Entwicklung vom gesellschaftlichen Fremdzwang zum Selbstzwang, als Kanalisierung offener Gewalt in pazifizierte Umgangsformen und eine geregelte Triebökonomie, die zur Kontrolle der Affekte führt. Historisch kristallisiert sich der Prozeß in Institutionen wie etwa dem mit seinen Umgangsformen genauestens 7 Ein solches breites Verständnis von Zivilisation liegt auch John Keegans kultur- und militärhistorischen Betrachtungen zugrunde, wo vor allem auch der Zusammenhang des Krieges mit der ökonomischen und technischen Entwicklung der Menschheit beleuchtet wird; vgl. John Keegan, Die Kultur·des Krieges, Berlin 1995, 197ff. 8 Vgl. die grundlegenden Arbeiten Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, mit einer Einleitung: Soziologie und Geschichtswissenschaft, Neuwied/Beriin 1969; ders., Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt a.M. 1976; ders., Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung, Frankfurt a.M. 1989; sowie die Studien von Horst- Volker Krumrey, Entwicklungsstrukturen von Verhaltensstandarden, Frankfurt a.M. 1984 und Michael Schröter, ,Wo zwei zusammenkommen in rechter Ehe ... '. Soziound psychogenetische Studien über Eheschließungsvorgänge vorn 12. bis zum 15. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1985; zur Diskussion vgl. Peter Gleichmann u. a. (Hrsg.), Materialien zu Norbert Elias' Zivilisationstheorie, Frankfurt a.M. 1979; dies., Macht und Zivilisation. Materialien zu Norbert Elias' Zivilisationstheorie 2, Frankfurt a.M. 1984; grundsätzliche Kritik findet sich in den neueren Arbeiten des Ethnologen Hans Peter Duerr, Der Mythos vorn Zivilisationsprozeß, Bd. 1: Nacktheit und Scham, Bd. 2: Intimität, Bd. 3: Obszönität und Gewalt, Frankfurt a.M. 1988 - 1993.

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geregelten "Hof' sowie in Verhaltens standards aus, die z. B. dem Genre der Benimmbücher oder der didaktischen Literatur zu entnehmen sind. Salopp ausgedrückt bewirkt also der Zivilisationsprozeß, daß zwei Menschen, die sich begegnen, nicht einfach übereinander herfallen und, sei es im Geschlechts- oder im Gewaltakt, ihre Triebe ausleben. Die Entwicklung geht vom Fremdzwang, sichtbar etwa in der Etablierung des zentralstaatlichen Gewaltmonopols, zum Selbstzwang, der die Menschen freiwillig das tun· läßt, was die Zivilisation von ihnen erwartet. Das wird da besonders deutlich, wo nahezu keine äußeren Zwänge und Hindernisse mehr vorhanden sind. Dies hat der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann anhand des modemen Freizeitvergnügens am Nacktbadestrand beschrieben9 • Hier ist der Selbstzwang bei Absenz aller materialen Hüllen so stark, daß sich die Beteiligten ohne Eingriffe irgendwelcher Ordnungskräfte ,beherrscht' verhalten. Nun stellt der Krieg eine Situation dar, in der die Akteure ihre "erlernte Friedfertigkeit,,1O gleichsam vergessen müssen. Zwar gilt auch hier kein "anything goes". Die Geschichte des Krieges ist auch eine Geschichte des Versuches, den Krieg einzuhegen, ihn "zivilisierter" zu machen durch Abkommen und Konventionen. Im Ernstfall bleibt jedoch das factum brutum der Funktionalität von Gewaltbereitschaft. Dies scheint in den - aus welchen Gründen auch immer - enthegten und totalisierten Kriegsformen verstärkt der Fall zu sein, weshalb auch die Politik des Zivilisationsabbaus im Kontext der Befreiungskriege einen herausgehobenen Stellenwert bekommt. Denn hier stehen politische, militärische und kulturelle Eliten vor dem Problem, wie der napoleonischen Besatzung angesichts offensichtlicher militärischer Unterlegenheit effektiv zu begegnen sei. In Preußen hat man die Lösung dieses Problems auf drei Ebenen gesucht. Die erste Ebene ist die der Strukturreform des Heerwesens. Damit sollen die elementaren Rahmenbedingungen einer veränderten Kriegführung gewährleistet werden. Obwohl die Heeresreform organisatorisch von den anderen Reformen abgekoppelt verläuft, besteht doch Klarheit darüber, daß beide Stränge nur in engem Wechselspiel erfolgreich sein können, wenn wirklich die angestrebte Integration von Staat und Volk zur Nation und eine Synthese aus Bürger und Soldat geschaffen werden SOllll. Die 1807 eingesetzte Reorganisationskommission leitet dann auch eine weitgehende Verbürgerlichung der Armee ein. Der Rechtsstatus der Soldaten wird verbessert (Abschaffung der Prügelstrafe), die Militärjustiz eingeschränkt, durch Ehrengerichte eine Zivilisierung der internen Konflikte gewährleistet. Das Adelsprivileg auf Offizierslaufbahnen wird abgeschafft, statt dessen ein leistungsorientiertes Aufstiegssystem eingeführt. Die Militärakademien sollen den Bildungsstand heben. Vgl. Jean-Claude Kaufmann, Frauenkörper, Männerblicke, Konstanz 1996. Karl Otto Hondrich, Lehnneister Krieg, Reinbek b. Hamburg 1992, 13. 11 Vgl. Wemer Gembruch, Zum Verhältnis von Staat und Heer im Zeitalter der Großen Französischen Revolution, in: Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit, hrsg. v. Johannes Kunisch, Berlin 1986,377 - 395, hier 393. 9

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Die allgemeine Wehrpflicht schließlich zielt darauf, die Distanz zwischen Bürger und Militär weitgehend aufzuheben, wobei ein Volksheer auch weitaus preiswerter in der Unterhaltung ist als ein stehendes Söldnerheer. Hinzu kommt die Bildung von Milizen (Landwehr und Landsturm), die so etwas wie Institutionen der Volksbewaffnung darstellen. Eine Armee, zu der alle Teile der Bevölkerung Zugang haben, kann so gleichsam zu einer repräsentativen Institution werden, in der die Einheit und die Handlungsfahigkeit der Nation symbolisiert wird. Die Nation, dies ist die wichtige Bedeutung gerade der Milizen, kann im gemeinsamen Kampf sinnlich erfahren werden. Die Reformprozesse verlaufen keineswegs reibungslos. Dafür sorgt nicht nur die Angst der Obrigkeit vor einem ,Volk in Waffen', nicht nur der Korpsgeist des Militärs, das nach wie vor von adeligen Offizieren und deren Standesinteressen dominiert ist, sondern auch die Distanz von Seiten des Bürgertums, das sich über Bildung und Arbeit, nicht jedoch über den Militärdienst für den König definiert 12. Trotzdem sind die Strukturreformen eine wichtige Bedingung für die Erfolge in den Befreiungskriegen, denn ein Volkskrieg setzt ein funktionierendes Volksheer voraus. Die zweite Ebene ist die Umstellung von Strategie und Taktik. An die Stelle oder doch zumindest an die Seite der alten Linienordnung rückt nun der ,,kleine Krieg", der den Gegner mit schnellen, gezielten Schlägen kleiner Einheiten aufreiben soll 13 • Es werden Guerillataktiken entworfen, die bewußt auch eine - von Spanien her bekannte - Eskalation der Gewalt in Kauf nehmen, da diese letztlich Besatzertruppen immer schwerer trifft als den Verteidiger mit seinem großen Menschenpotential. Gneisenau, der ,preußische Jakobiner', geht in seiner Denkschrift für Friedrich Wilhelm m. aus dem Jahre 1811 noch weiter. Er plant dort den "Aufstand in Masse,,14, die Insurrektion in allen besetzten Gebieten, die das Volk notfalls auch mit Piken durchführen soll. Das preußische Landsturmedikt von 1813 sieht ebenfalls einen radikalisierten und enthegten Volkskrieg vor, mit exzessiver Gewalt und einer Politik der verbrannten Erde. Zwar werden diese Pläne letztlich nur zu einem sehr geringen Teil umgesetzt. Freikorps und Landwehrbataillone legt man sehr schnell nach ihrem Einsatz wieder an die Kette strengster Disziplin und Bewachung - die Angst vor dem ,Volk in Waffen' ist zu groß. Gleichwohl bleibt die mobilisierende, ja begeisternde symbolische Wirkung dieser Einheiten nicht zu übersehen. Damit ist schließlich die dritte und für den vorliegenden Zusammenhang wichtigste Ebene des Umbruchs angesprochen. Die neue Kriegführung stellt Anforde12 Vgl. Bemd von Münchow-Pohl, Zwischen Reform und Krieg. Untersuchungen zur Bewußtseinslage in Preußen 1809 -1812, Göttingen 1987,332. 13 Vgl. A. W. A. Neithardt von Gneisenau, Denkschriften zum Volksaufstand von 1808 und 1811, 0.0. 1936, 13 f.; Carl von Clausewitz, [Bekenntnisdenkschrift], in: ders., Schriften Aufsätze - Studien - Briefe. Dokumente aus dem Clausewitz-, Scharnhorst- und GneisenauNachlaß sowie aus öffentlichen und privaten Sammlungen, hrsg. v. Werner Hahlweg, Bd. 1, Bonn 1966, 728 f. 14 N. v. Gneisenau, Denkschriften (Anm. 13),41.

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rungen an die Akteure, die so ohne weiteres nicht vorausgesetzt werden können 15 . Clausewitz nennt dies die "moralischen Größen" und betont deren oft unterschätzte Relevanz: "Die physischen erscheinen fast wie das hölzerne Heft, während die moralischen das edle Metall, die eigentliche, blankgeschliffene Waffe sind,,16. Als wichtigste Faktoren gelten ihm dabei die Talente des Feldherrn, vor allem aber die kriegerische Tugend des Heeres und der "Volksgeist" desselben. Zur kriegerischen Tugend zählen auch Eigenschaften wie Eigenständigkeit, Intelligenz, Flexibilität; Eigenschaften, die sicherlich vor allem im gebildeten Bürgertum zu finden sind. Auch von daher also erweist sich die Öffnung des Militärs zum Bürgertum hin als unerläßlich. Der zentrale Aspekt jedoch besteht in dem, was Clausewitz "Volksgeist" nennt: "Enthusiasmus, fanatischer Eifer, Glaube, Meinung,,17. Diese veränderten Anforderungen an die Akteure im Krieg: hohe Motivation, Eigenständigkeit, vor allem aber auch die Notwendigkeit, in kleinen Gefechten "Auge in Auge", bei eskalierender Gewalt den Gegner zu vernichten und alle Tötungshemmungen zu verlieren; diese Anforderungen machen umfassende Aktionen symbolischer Politik notwendig, die nicht nur den Bürger zum Krieg motivieren, sondern auch den Zivilisationsabbau beschleunigen. Kleist versucht, diese Strategien auf dem Feld der Poetik zu unterstützen und ihnen einen ästhetisch wirksamen Ausdruck zu verleihen. Kleists "Kriegstheater", insbesondere seine Vision von der "Hermannsschlacht", versteht sich als Bestandteil einer symbolischen Politik, die zunächst die Eliten und durch sie dann das ,Volk' zugleich mobilisieren und funktional entzivilisieren soll. III. Die "gebrechliche Einrichtung der Welt"

Die Thematik der Zivilisation durchzieht das Kleistsche Oeuvre von Anfang bis Ende, vom privaten Beziehungsproblem bis zur Staatspolitik. Das Wechselspiel von zivilisierter Interaktion und temporärer Barbarei, von Affektkontrolle und Triebentladung prägt nachhaltig die imaginären Textwelten. Schon Zeitgenossen wie Goethe haben dem Autor dafür ein krankhaftes Gemüt attestiert 18 , und spätere Deuter bis zum heutigen Tag suchen Kleist häufig der kulturgeschichtlichen Psychiatrie zu überantworten. Kleists Figuren durchbrechen mit den zivilisatorischen Normen immer wieder den Rahmen sozial definierter Normalität. 15 Vgl. dazu ausführlich Wemer Hahlweg. Preußische Reformzeit und revolutionärer Krieg (Beiheft der Wehrwissenschaftlichen Rundschau, 18), Berlin I Frankfurt a.M. 1962. 16 Carl von Clausewitz. Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals earl von Clausewitz, 18. Aufl., Vollständige Ausgabe im Urtext mit völlig überarb. u. erw. historisch-kritischer Würdigung von Wemer Hahlweg, Bonn 1973,357. 17 C. v. Clausewitz. Vom Kriege (Anm. 16),359. 18 Vgl. die Äußerungen Goethes zur Krankhaftigkeit Kleists in Helmut Sembdner (Hrsg.), Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten (Dokumente zu Kleist, 2), Frankfurt a.M. 1984,274.

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Kleist hat für diesen Prozeß die Formel von der "gebrechlichen Einrichtung der Welt" geprägt 19. Sie zeigt, daß es weniger schuldhafte Verfehlungen einzelner Menschen als vielmehr Gegebenheiten der conditio humana sind, die immer wieder einen Bruch des zivilisatorischen Rahmens durch das Begehren oder die Aggression bedingen. Rufen wir uns einige wenige Beispiele für diese "Gebrechlichkeit" der Zivilisation in Erinnerung: 1. Die Marquise von 0., "eine Dame von vortrefflichem Ruf,2o, kommt "ohne ihr Wissen, in andre Umstände". Ein russischer Offizier - durchaus ein Ehrenmann - hat sie in einem Kriegstumult zunächst vor zudringlichen Marodeuren geschützt. Mit der ohnmächtigen Schönen allein, überwältigen ihn jedoch die eigenen Triebe, und er schwängert sie. Ungehemmtes Begehren, das schließlich im Rahmen einer Ehe normalisiert wird.

2. Von Inzest und Totschlag handelt der ,,Findling", wo der Titelheld sich den Regungen der "Wollust und Rache" hingibt21 , um daraufhin für seine schändlichen Taten nicht etwa von der Justiz, sondern von seinem Pflegevater gerichtet zu werden. Dieser wiederum, des Mordes am Pflegesohn angeklagt und für schuldig befunden, verweigert vor der Vollstreckung des Todesurteils die Absolution mit den Worten, er wolle bewußt zur Hölle herabfahren, um dort seine Rache, die er hier nur unvollständig befriedigen konnte, wieder aufzunehmen22 . Ungehemmte Gewalt, die nicht einmal auf das Diesseits beschränkt bleibt. Rache und Vergeltung stehen aber auch andernorts, etwa in der ,,Familie Schroffenstein" im Mittelpunkt. Und geradezu rechtsphilosophische Dimensionen bekommen sie bei "Michael Kohlhaas". Der fordert das staatliche Gewaltmonopol offen heraus und überzieht mit Mordbrennerbanden das ganze Land, um Gerechtigkeit einzufordern. Rechtsgefühl und enthemmte Aggression gehen hier Hand in Hand. 3. Eine direkte Koppelung von Gewalt und Begehren zeigt die Amazonenfürstin Penthesilea, die in einem Rausch der Triebe den Geliebten Achill zerfleischt. Sie bringt die Nähe der Extreme in Liebe und Haß durch eine sprachliche Nähe zum Ausdruck: "Küsse und Bisse, das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, kann schon das eine für das andere greifen,m. 4. Nun ist jedoch keineswegs immer Zivilisation mit Ordnung und Barbarei mit dem Ausnahmezustand assoziiert. In einer Umkehrung der Rahmen zeigt Kleists ,,Erdbeben in Chili", daß hier gerade die Abwesenheit der Ordnung den Zustand einer friedvollen Idylle ermöglicht:

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H. v. Kleist, Werke (Anm. 1),11, 143. Ebd., H, 104. Ebd., H, 212. Ebd., H, 214. Ebd., I, 425.

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..Auf den Feldern, so weit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen, Fürsten und Bettler, Matronen und Bäuerinnen, Staatsbeamte und Tagelöhner, Klosterherren und Klosterfrauen: einander bemitleiden, sich wechselseitig Hülfe reichen, von dem, was sie zur Erhaltung ihres Lebens gerettet haben mochten, freudig mitteilen, als ob das allgemeine Unglück alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte,,24 (Hervorhebung im Original).

SobaJd jedoch die alten Herrschaftsinstitutionen, in diesem Fall die Kirche, wieder in Geltung sind, ist auch die Gewalt wieder präsent25 , und es zeigt sich die ganze Barbarei, derer Menschen fähig sind. Ein Mob fällt, von der Predigt angestachelt, über vermeintlich unmoralische, wehrlose Menschen her, und ein Kind wird "an eines Kirchenpfeilers Ecke zerschmettert", so daß das Hirn aus dem Schädel hervorquillt26 • Die restituierte Ordnung ahndet jegliche Abweichung von der verordneten Normalität nicht nur mit Exklusion aus der Gemeinschaft, sondern sogar mit Vernichtung. IV. Zivilisationsabbau und totaler Befreiungskampf Die entscheidende Wendung für unseren Zusammenhang vollzieht sich jedoch da, wo die "Gebrechlichkeit der Welt" gezielt menschlichen, insbesondere politischen Zwecken verfügbar gemacht wird. Hier ist der zivilisatorische Rahmen nicht ein Schutz, sondern ein Hindernis auf dem Weg zum politischen Ziel. Kleist hat in diesem Sinne das Instrument der Entzivilisierung als Mittel der Politik in verschiedenen Schriften eingesetzt. Da ist zunächst die berüchtigte Kriegslyrik, vor allem die 1809 verfaßte Ode "Germania an ihre Kinder", die eine offensichtliche Kontrafaktur zu Schillers Ode "An die Freude" darstellt. Sie ist in den Jahren 1813 und 1814 in nicht weniger als elf Neudrucken publiziert worden27 . Was später oft auf Kleists krankhaftes Gemüt oder eine exaltierte Stimmung des Dichters zurückgeführt wurde, erweist sich bei genauerem Hinsehen als planmäßige symbolpolitische Vorbereitung des enthegten Volkskriegs. Hier sind Emotionen gefordert und Grausamkeiten erlaubt. Kleist, der später auch plant, eine patriotische Zeitschrift mit dem Titel "Germania" herauszugeben, schreibt das Gedicht zusammen mit zwei weiteren Kriegsliedern im Frühjahr 1809, kurz bevor österreichische Truppen in Bayern einmarschieren. Die österreichische Offensive, 24 Ebd., II, 152. 25 Auf den engen Zusammenhang von Ordnung und Gewalt, den freilich auch Max Weber in seiner Staatstheorie schon herausgearbeitet hatte, macht ausführlich aufmerksam Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt, Frankfurt a.M. 1996. 26 H. v. Kleist, Werke (Anm. 1), H, 158. 27 Vgl. die Angaben bei Ernst Weber, Lyrik der Befreiungskriege (1812-1815). Gesellschaftskritische Meinungs- und Willensbildung durch Literatur, Stuttgart 1991, 101.

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mit Begleitpropaganda und breiter Mobilmachung inklusive Landwehr eingeleitet, ist in dieser Zeit das Hoffnungszeichen für viele. Kleists Ode stellt einen Wechselgesang zwischen der Germaniafigur und einem Chor (dem Volk) dar. Der Chor ruft alle zum Kampf: ,,zu den Waffen! Zu den Waffen! Was die Hände blindlings raffen! Mit der Keule, mit dem Stab, Strömt ins Tal der Schlacht hinab!,,28.

Bewußt sind hier die archaischen Waffen Keule und Stab gewählt, um den Kontext der erfolgreichen archaischen Volksaufstände zu beschwören. Schließlich die zentralen, skandalösen Passagen: "Alle Plätze, Trift und Stätten Färbt mit ihren Knochen weiß; Welchen Rab und Fuchs 'verschmähten, Gebet ihn den Fischen preis; Dämmt den Rhein mit ihren Leichen; Laßt, gestäuft von ihrem Bein, Schäumend um die Pfalz ihn weichen, Und ihn dann die Grenze sein! Chor: Eine Lustjagd, wie wenn Schützen Auf die Spur dem Wolfe sitzen! Schlagt ihn tot! Das Weltgericht Fragt euch nach den Gründen nicht!,,29.

Gerade die letzte Wendung zeigt die Distanz zur Schillerschen Vorlage: nicht weltweite Harmonie, nicht die Brüderschaft "aller Menschen" und eine vom Weltgericht garantierte Gerechtigkeitsnorm werden hier gepredigt, sondern exzessive Gewalt im Rahmen des enthegten und totalisierten Volkskriegs. Weiterhin ist zu verweisen auf "Die Verlobung in St. Domingo", eine Erzählung, die im Kontext des erfolgreichen Aufstandes der Haitianer gegen die französische Kolonialmacht situiert ist. Der "fürchterliche alte Neger Congo Hoango" bekämpft hier die weißen Besatzer mit allen Mitteln der Partisanentaktik. So wird auch die Tochter seiner Lebensgefährtin dazu angehalten, fremde Weiße in sein Haus zu locken und mit den Mitteln sexueller Verführung so lange dort zu binden, bis sie von einem Trupp Aufständischer getötet werden können. In der Perspektive der Novelle wird die Tragik der beteiligten Menschen hervorgehoben, die mit ihrem persönlichen Glück, ihrer Liebe und schließlich auch ihrem Leben der extremen Strategie zum Opfer fallen. H. v. Kleist, Werke (Anm. 1), I, 26. 29 Ebd., I, 26 f. 28

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Ruth Angress 30 hat auf die Wichtigkeit des realen Geschehens in Haiti für Kleist aufmerksam gemacht. Kleist sah eine deutliche Parallele zwischen dem französischen Kolonialismus in Übersee und der Besatzungspolitik Napoleons in Europa. Die Bevölkerung in St. Domingue, wie der französische Teil Haitis hieß, hatte sich unter Toussaint l'Ouverture, einem früheren Sklaven, erfolgreich gegen die Kolonialmacht erhoben. Toussaint wird in zeitgenössischen Quellen als Vertreter eines "barbarischen Extremismus,,31 bezeichnet und hat offensichtlich Kleists Congo Hoango als Modell gedient. Der Führer der Aufständischen ist zwar später mit List nach Frankreich gelockt und dort inhaftiert worden, aber sein Nachfolger Dessalines hat schließlich die französische Kolonialmacht endgültig besiegen können. Der Aufstand und die Niederlage der Franzosen sind in Europa ausführlich und intensiv diskutiert worden, so daß Kleists Erzählung nicht zufällig in irgendeiner pittoresken Umgebung angesiedelt, sondern bewußt in einem wichtigen politischen Geschehen situiert wurde. In der "Hennannsschlacht" wird dann der erfolgreiche Aufstand der Haitianischen Schwarzen auf dem Umweg über das Jahr 9 n.Chr. gleichsam nach Preußen exportiert32 . Hier ist die Perspektive verschoben: zwar werden auch die "menschlichen Kosten" des Kampfes nicht verschwiegen. Entscheidend ist jedoch die unausweichliche Notwendigkeit eines breit angelegten Zivilisationsabbaus, um im Befreiungskampf gegen die militärisch überlegenen Besatzer zu bestehen. Die Hennannsschlacht liefert eine Legitimation der funktionalen Barbarei. Sie soll diskursiv jene Schranken abbauen, die das im totalen Befreiungskrieg erforderliche archaische Verhalten bislang eingehegt haben.

V. Die Rationalität des Hasses Den deutlichen Bezug zwischen der "Hennannsschlacht" und der Diskussion unter den militärischen und politischen Eliten Preußens hat Wolf Kittler herausgearbeitet33 . Kittler stellt diese Neubewertung auf eine solide Basis, indem er 30 Ruth K. Angress, Kleist's Treatment of Imperialism. ,Die Hermannsschlacht' and ,Die Verlobung von St. Domingo', in: Monatshefte 69 (1977), 17 - 33. 31 So Louis Dubroca, Life of Toussaint I'Ouverture, London 1802. 32 Die Parallele zwischen dem römischen und dem französischen Kolonialismus hatte Kleist schon in einem Brief an seine Schwester vom 24. Oktober 1806 beschrieben: "Wir sind die unterjochten Völker der Römer. Es ist auf eine Ausplünderung von Europa abgesehen, um Frankreich reich zu machen"; H. v. Kleist, Werke (Anm. 1), I, 771. 33 Wolf Kittler; Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg 1987. Nachdem das Drama in der Forschung vor allem nach 1945 meist als ,Ausreißer' in der poetischen Produktion des Autors gesehen wurde, hat erst in den 1970er Jahren eine gewisse Neubewertung eingesetzt. Auf den engen Zusammenhang zwischen der "Hermannsschlacht" und den preußischen Reformen verweist allerdings schon früh, freilich mit wenig Resonanz, Richard Samuel, Kleists ,Hermannsschlacht' und der Freiherr vom Stein, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 5

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materialreich nicht nur den Zusammenhang des Stückes mit der zeitgenössischen politischen und strategischen Diskussion nachweist, sondern auch durch das gesamte (Euvre Kleists hindurch eine Kontinuität der Thematik aufzeigen kann. Die "Hermannsschlacht" erscheint somit nicht als Ausreißer, sondern als konsequente Fortsetzung eines politisch-ästhetischen Projektes. Hauptadressaten sind die kulturellen, politischen und militärischen Eliten. Das Stück, nach earl Schmitt "die größte Partisanendichtung aller Zeiten,,34, entwirft nicht nur ein Szenario für Insurrektion und Volkskrieg, wie Kittler plausibel aufzeigt. Es ist nicht nur "Handbuch der preußischen Guerilleros,,35, sondern auch Handbuch der Symbolpolitik. Es thematisiert, wie ein Volkskrieg durch wirksame symbolische Politik gestützt werden muß, wenn das Projekt nicht scheitern soll. Gerade darin scheint mir die Nähe Kleists zu den Militärreformern, insbesondere zu Gneisenau zu liegen, daß er den Zusammenhang von Volkskrieg, Mobilisierung (1961),64-101; ders., Heinrich von Kleist und Neithardt von Gneisenau, in: ebd. 7 (1963), 352 - 370. Die ersten Impulse zu einer differenzierten Neubewertung nach 1945 kommen aus den angelsächsischen Ländern, wo man offenbar ,unverkrampft' Strukturen und Wirkabsichten des Stückes analysieren kann; vgl. vor allem Sigurd Burckhardt, Kleist's Hermannsschlacht: The Lock and the Key, in: Sigurd Burckhardt, The Drama of Literature. Essays on Goethe and Kleist, Baltimore I London 1970, 116 - 162; [lse Graham, Heinrich von Kleist. Word into Flesh: A Poet's Quest for the Symbol, Berlin/New York 1977; R. K. Angress, Kleist's Treatment (Anm. 30); Geoffrey L. Sammons, Rethinking Kleist's Hermannsschlacht, in: Heinrich von Kleist Studies. Papers read at the Hofstra University Conference, November 1977, hrsg. v. Alexej Ugrinsky, New York 1981,33 -40; Lawrence Ryan, Die ,vaterländische Umkehr' in der ,Hermannsschlacht' , in: Kleists Dramen. Neue Interpretationen, hrsg. v. Walter Hinderer, Stuttgart 1981, 188 - 212, bringt diese neue Sichtweise in die deutsche Diskussion ein. Hans Dieter Loose, Kleists ,Hermannsschlacht' . Kein Krieg für Hermann und seine Cherusker. Ein paradoxer Feldzug aus dem Geist der Utopie gegen den Geist besitzbürgerlicher und feudaler Herrschaft, Karlsruhe 1984, bemüht sich, wenn auch an vielen Stellen problematisch, ebenfalls um einen Zugang, der von der Folie des Nationalismus und Chauvinismus wegführt. Besonders interessant ist schließlich die kleine Schrift des Schauspielers Mathieu Carriere, Für eine Literatur des Krieges, Kleist, 2. Aufl., Basel I Frankfurt a.M. 1984, der Kleist gleichsam als Vorläufer des Poststrukturalismus in die Diskussion bringt und die ,,Hermannsschlacht" als Manifest einer "Geschichte ohne Vernunft" deutet. Eine wissenschaftliche Neuverortung in den zeitgenössischen Diskursen leisten, wie schon angedeutet, die Arbeiten von Kittler sowie, mehr oder weniger in dessen Fahrwasser schwimmend, Raimar Zons / Klaus Lindemann, Die Schlacht im Theater - vor und nach den ,Befreiungskriegen': Kleists ,Hermannsschlacht' und Grabbes ,Napoleon', in: Grabbe-Jahrbuch 7 (1988),35 -77; Raimar Zons, Von der ,Not der Welt' zur absoluten Feindschaft. Kleists ,Hermannsschlacht', in: Zeitschrift für deutsche Philologie 109 (1990), 175 -199; Christiane Schreiber, ,Was sind das für Zeiten!' Heinrich von Kleist und die preußischen Reformen, Frankfurt a.M. u. a. 1991, 178 ff. sowie schließlich, relativierend Lothar Bomscheuer, Heinrich von Kleists ,vaterländische' Dichtung, mit der kein ,Staat' zu machen ist, in: Dichter und ihre Nation, hrsg. v. Helmut Scheuer, Frankfurt a.M. 1993,216-236. Der Zusammenhang von totalem Krieg, symbolischer Politik und Zivilisationsabbau ist freilich dort nirgends gesehen worden. 34 Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963, 15. 35 W. Kittler, Geburt (Anm. 33),235.

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und symbolischer Politik exemplarisch verdeutlicht 36 . Die schonungslose Offenheit, in der die Mechanismen aufgezeigt werden, belegt, daß es Kleist nicht darum geht, die Massen direkt anzusprechen, sondern Eliten und Vermittler zu erreichen, die das Modell des Befreiungskampfes in die Tat umsetzen können. Nachdem Kleist schon zuvor in Briefen auf das Hermannsthema angespielt hat37 , gestaltet er in seinem Drama eine ästhetisch anspruchsvolle und gleichwohl auf direkte Mobilisierung angelegte Version des Hermannsmythos. Dieser ist in der Zeit der Napoleonischen Kriege zum großen Symbol der Mobilisierung und des Widerstands gegen die französische Expansionspolitik avanciert und seither aus der deutschen politischen Mythologie nicht mehr wegzudenken 38 . Kleist bezieht sich in seinem Stück auf den bei Velleius Paterculus überlieferten Teil der Geschichte. Der bei Tacitus behandelte interne Konflikt der Germanen, der in Sturz und Ermordung des Fürsten Arrninius gipfelt, bleibt außen vor39 . Insofern also ist die überlieferte Folie entproblematisiert und auf den Zweck der politischen Mobilisierung zugeschnitten. Die Handlungsstruktur läßt sich folgendermaßen beschreiben: Es gibt zwei Kollektive, Römer bzw. als Stellvertreter das römische Heer, und Germanen, diese wiederum in sich nach Stämmen gegliedert. Das klassische Muster aus Tacitus' Beschreibung der Germanen findet sich auch hier realisiert: Die Römer erscheinen als dekadent und degeneriert, was sich einerseits in der höfisch-galanten Sprache des Legaten Ventidius manifestiert, andererseits in der Absicht der Römer, Haar und Zähne germanischer Frauen gleichsam als ,Kolonialwaren' zu "ernten,,40. Dem stehen die authentischen und naturverbundenen Germanen, die etwas naiven "deutschen Uren,,41 gegenüber. Diese Naivität findet freilich bei den Eliten, vor allem bei Hermann und seinem Rat Eginhardt, ein Ende. So ist der Gegenspieler Varus ob der Gerissenheit Hermanns schwer verblüfft. Varus als Führer der Römer steht mit seinem Helfer Ventidius dem Hermann als Führer der Germanen und seinem Helfer Eginhardt gegenüber. Das weitere 36 So hatte Gneisenau geplant, den Aufstand gegen die französischen Besatzer durch Propaganda und Symbolpolitiken vor allem von Seiten der protestantischen Geistlichen zu stützen. Die Prediger sollten nicht nur den Landwehren einen öffentlichen Eid abnehmen, daß sie, "wenn der Feind in ihre oder eine benachbarte Provinz kommt, ihn, wo sie können, totschlagen, gefangennehmen oder ihm auf andere Art schaden wollen", sondern sie sollten auch in ihren Gemeinden feurige Predigten halten; N. v. Gneisenau, Denkschriften (Anm. 13), 58. Die Kirchen stellten ohne Zweifel die am besten nutzbare kommunikative Infrastruktur für derartige Propaganda zur Verfügung. 37 H. v. Kleist, Werke (Anm. 1), I, 700 u. 771. 38 Zu den politischen Funktionen des Hermannsmythos in Deutschland vgl. ausführlich A. Dömer, Mythos (Anm. 14). 39 Vgl. Gaius Velleius Paterculus, Römische Geschichte. Deutsch v. F. Eyssenhardt (Langenscheidtsche Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker in neuern deutschen Ausgaben, 109), Berlin-Schöneberg 1920, 1 - 120; P. Comelius Tacitus, Annalen. Lateinisch und deutsch, hrsg. v. E. Heller, München / Zürich 1982. 40 H. v. Kleist, Werke (Anm. 1), I, 570 f. 41 Ebd., I, 565.

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Personal des Dramas setzt sich aus den zerstrittenen, später geeinten Stammesführern sowie Thusnelda, Hermanns Gattin, zusammen. Die Handlung besteht nun aus einem makro~ und einem mikropolitischen Strang: Hermann setzt sich von den anderen deutschen Fürsten ab und unterwirft sich scheinbar den Römern. Er läßt deren Truppen in sein Land, strebt jedoch gleichzeitig neue Bündnisse an, leistet Überzeugungsarbeit, fadelt Intrigen ein und betreibt parallel dazu eine radikale Symbolpolitik. Über sein erworbenes Vertrauen schließlich bringt er die Römer in eine strategische Lage, wo sie durch die germanischen Partisanenverbände geschlagen werden können. Am Schluß wird Hermann als neuer Führer der Germanen bestimmt, und die abschließenden Verse appellieren an das (zunächst innerdramatische) Publikum, man solle nicht eher ruhen, bis ganz Rom zerstört sei. Der mikropolitische Strang dagegen zeigt Hermanns repräsentative "Erziehung" seiner Frau Thusne1da zum Haß, indem er sie erst zu einem Techtelmechtel mit dem römischen Legaten Ventidius ermutigt, ihr dann aber brutal zeigt, daß dieser sie nur ausnutzen wollte. Sie nimmt grausige Rache, indem sie den Legaten von einer hungrigen Bärin zerfleischen läßt. Zunächst weist das Drama tatsächlich einige Charakteristika des Partisanenkriegs auf. Die offene ,,Feldschlacht" wird gemieden 42 , und an die Stelle des begrenzten Schlagabtausches rückt eine ,Politik der verbrannten Erde', die es den Besatzungstruppen unmöglich macht, sich länger im besetzten Land unter Ausnutzung von dessen Ressourcen einzurichten43. Der "tellurische Charakter", den Carl Schmitt44 als SpezifIkum des Partisanen begreift, kommt in dem großen Stellenwert von Landschaft und Natur im Befreiungskampf zum Ausdruck. Spielt schon in der symbolisch verdichteten zweiten Szene des Stücks der Wald als strategischer Faktor eine prominente Rolle, so greift die Natur als mythischer Akteur in der Nacht vor dem Aufeinandertreffen der Truppen aktiv ins Geschehen ein45 • Gewitter, Wald und morastiger Boden machen dem Römerheer das Fortkommen fast unmöglich. Das Land, der Boden selbst, leistet gegen die Besatzer Widerstand:

Ebd., I, 544. "Kurz, wollt ihr, wie ich schon einmal euch sagte, I Zusammenraffen Weib und Kind, I Und auf der Weser rechtes Ufer bringen,! Geschirre, goldn' und silberne, die ihr I Besitzet schmelzen, Perlen und Juwelen I Verkaufen oder sie verpfanden, I Verheeren eure Fluren, eure Herden I Erschlagen, eure Plätze niederbrennen,! So bin ich euer Mann"; H. v. Kleist, Werke (Anm. 1), I, 546. 44 C. Schmitt, Partisan (Anm. 34), 26. 45 Dieses Muster des Waldes als Symbol einer wehrhaften Nation findet sich in den Diskursen der Befreiungskriege häufig wieder, von der Gemälden eines Caspar David Friedrich bis zu den scheinbar so politikfernen Gedichten Joseph von Eichendorffs; vgl. dazu Klaus Lindemann, ,Deutsch Panier, das rauschend wallt' - Der Wald in Eichendorffs patriotischen Gedichten im Kontext der Lyrik der Befreiungskriege, in: Eichendorff und die Spätromantik, hrsg. v. Hans-Georg Pott, Paderborn u. a. 1985,91- 132. 42 43

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Andreas Dörner "Wenn auf je hundert Schritte nicht, Ein Blitzstrahl zischend vor uns niederkeilte, Wir würden, wie die Eul am Tage, Haupt und Gebein uns im Gebüsch zerschellen! Zweiter Feldherr. Wir können keinen Schritt fortan, In diesem feuchten Mordgrund, weiter rücken! Er ist so zäh, wie Vogelleim geworden. Das Heer schleppt halb Cheruska an den Beinen, Und wird noch, wie ein bunter Specht, Zuletzt, mit Haut und Haar, dran kleben bleiben,,46.

Varus verläßt sich, ohne hinreichende Kenntnis der Gegend, auf gennanische Führer, die ihn jedoch irreleiten. Die cheruskische Alraune, Symbol einer hannonischen Synthese von Natur und Kultur, verkündet dem römischen Feldherrn den Untergang47 • Die Unterscheidung von Kombattanten und Zivilisten ist aufgehoben, auch Frauen werden in den Kampf einbezogen, wie die Entwicklung der Thusnelda exemplarisch zeigt. Dieses Szenario entspricht in vielen Punkten den realen Strategien der Befreiungskriege. Es gibt tatsächlich nicht nur den Einsatz von Frauen an der "Heimatfront", sondern auch Frauen, die - in Männerkleidern - in Freikorps kämpfen und sich dabei durch ausgesprochene Tapferkeit auszeichnen48 • Der Sieg der Gennanen wird durch die Verbindung von Insurrektion und Partisanenkampf auf der einen Seite, dem Eingreifen regulärer Truppen auf der anderen Seite errungen, wobei dem Volk in der Kleistschen Mythosversion durchaus die Initiativrolle zukommt49 . Wir haben hier also eine Anwendung des klassischen Musters aus den amerikanischen Unabhängigkeitskriegen vor uns, in denen ebenfalls die Kombination beider Strategien den Erfolg brachte. Das Problem der Neuorganisation der regulären Truppen behandelt Kleist dann vor allem im "Prinz von Homburg", in dem eine der modemen Kriegführung angemessene Kombination von "absolutem Gehorsam und absoluter Selbsttätigkeit" projektiert wird50 • Die "Hennannsschlacht" zeigt nicht nur den Partisanenkampf, sondern auch den enthegten und totalisierten Vernichtungskrieg51 . Symbol dieses Kriegs ist die schwarze Fahne:

H. v. Kleist, Werke (Anm. 1), I, 600 f. 47 Ebd., I, 603 ff. 48 So erhält beispielsweise Eleonore Prohaska für ihre Verdienste das Eiserne Kreuz, obgleich doch zur Auszeichnung verdienstvoller Frauen eigens der ,,Luisenorden" gestiftet worden war. 49 H. v. Kleist, Werke (Anm. 1), I, 621. 50 W. Kittler; Geburt (Anm. 33), 283. 51 Zu Kleists Rezeption des veränderten Kriegsbegriffs im Zeitalter der Revolutions- und Befreiungskriege anhand seiner nichtfiktionalen Schriften vgl. J. Kunisch, Bellona (Anm. 5). 46

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"Wir oder unsere Enkel, meine Brüder! Denn eh doch, seh ich ein, erschwingt der Kreis der Welt Vor dieser Mordbrut keine Ruhe, Als bis das Raubnest ganz zerstört, Und nichts, als eine schwarze Fahne, Von seinem öden Trümmerhaufen weht!,,52

Aus dem politischen wird der absolute Feind, den man nicht schlagen, sondern vernichten muß. Insofern zeigt erst die schwarze Fahne als Zeichen totaler Zerstörung das Ende des Kampfes an. Besonders kraß wird die Enthegung des Krieges an der Behandlung des Gefangenen Septimius aufgezeigt. Septimius, der sich gerade zuvor bei einem Brand noch als besonders human gezeigt hatte, soll als Gefangener getötet werden. Er protestiert und verweist auf die "Siegerpflicht" , d. h. auf die Konvention zur Behandlung von Gefangenen. "Sieh da, so wahr ich lebe! Er hat das Buch vom Cicero gelesen" erwidert Hermann mit höhnischem Verweis auf Ciceros Buch "Von den Pflichten". Dieses konventionelle Recht im gehegten Krieg will er nicht gelten lassen, da es in der Situation einer ungerechten Besatzung keinen Ort haben kann. Der Besatzer, der aus der Position militärischer Stärke heraus die Bedingungen der Kriegführung setzt, befindet sich aus der Sicht des verzweifelten Befreiungskriegers im moralischen Umecht53 . Der Volksaufstand findet jenseits des Völkerrechts statt, und daher muß, so Hermann, der Gefangene sterben. Die Keule als Symbol des Volkskrieges symbolisiert hier die rechtliche Sondersphäre der Insurrektion: "Du weißt was Recht ist, du verfluchter Bube, Und kamst nach Deutschland, unbeleidigt, Um uns zu unterdrücken? Nehmt eine Keule doppelten Gewichts, Und schlagt ihn tot!"54

Ein solcher enthegter Volkskrieg ist nur zu führen, wenn die Normen von Zivilisation und Humanität und somit die Hemmschwellen der Gewalt abgebaut sind. Dies ist der funktionale Ort des Hasses. Der Haß des Hermann ist kein Ausbruch ungesteuerter Emotionen, wie man noch in der jüngsten Forschung meint55 , sondern funktionale Barbarei im Dienste des enthegten Volkskriegs. So sagt Hermann, als seine Gattin ihm vor Augen führt, daß es doch auch "gute Römer" gebe: "Was! H. v. Kleist. Werke (Anm. 1), I, 628. In dieser Weise hat auch Clausewitz den enthegten Volkskrieg begründet, vgl. C. v. Clausewitz. Bekenntnisdenkschrift (Anm. 13),741. 54 H. v. Kleist. Werke (Anm. 1), I, 612. 55 So etwa Michelsen, der Herrnann als Typus des "Menschenhassers" auffaßt: ,,Nur als Misanthrop ist der finstere Freiheitsheld richtig zu verstehen"; Peter Michelsen, ,Wehe, mein Vaterland, dir!' Heinrichs von Kleist ,Die Herrnannsschlacht', in: Kleist-Jahrbuch (1987), 115 - 136, hier 134. Solche Fehldeutungen verdanken sich dem Verfahren, daß man den Text aus dem Diskurskontext herauslöst und nach ahistorischen, in diesem Fall nach anthropologischen Faktoren sucht. 52

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Die Guten! Das sind die Schlechtesten!", denn sie erschweren die Ausbildung des Hasses. Für jeden Römer, der Gutes tut, gilt: "Er sei verflucht, wenn er mir das getan! Er hat, auf einen Augenblick, Mein Herz veruntreut, zum Verräter An Deutschlands großer Sache mich gemacht! Warum setzt' er Thuiskon mir in Brand? Ich will die höhnische Dämonenbrut nicht lieben! Solang sie in Germanien trotzt, Ist Haß mein Amt und meine Tugend Rache"s6.

Hermann muß sich zum Haß zwingen, er will nicht lieben, selbst wenn die unmittelbare Regung eine andere ist. Seine Wortwahl "Amt" und "Tugend" deutet darauf hin, daß der Haß eine politisch-kulturelle Zielperspektive im Volkskrieg ist, nicht eine spontane Expression. Diese Verschiebung der Referenzkultur von der Liebe zum Haß, von der Humanität zur Barbarei ist es, die Hermann ansteuert. Sie steht auch am Ende des Erziehungsprozesses, den Hermann mit seiner Frau Thusnelda inszeniert. Sie ist zum Schluß des Dramas dehumanisiert, zum Tier, zur Bärin geworden, die keine Gewalthemmungen gegenüber dem Feind mehr kennt. Hermann als Repräsentant der deutungskulturellen Eliten vermag in Thusnelda als Repräsentantin des Volks jenen Haß zu produzieren, der sich - hier symbolisch in der reißenden "Bärin von Cheruska" - im totalen Krieg entlädt. Die Interaktion zwischen Hermann und Thusnelda zeigt exemplarisch einen Prozeß der "Nationalerziehung", der zur Vorbereitung des Volkskriegs nötig ist. Und just so, wie Fichte in seinen ,,Reden an die deutsche Nation,,57 die Nationalerziehung ins Werk setzen will: unter Anwendung Pestalozzischer Grundsätze, just so wird Thusnelda stellvertretend für den gebildeten Teil der Nation erzogen: mit Anschauung und Selbsttätigkeit. Die Fürstin zeigt sich zunächst als Anwältin der Humanität und des differenzierten moralischen Urteils. Hermann erscheint ihr verblendet: "Dich macht, ich seh, dein Römerhaß ganz blind. Weil als dämonenartig dir Das Ganz' erscheint, so kannst du dir Als sittlich nicht den Einzelnen gedenken"s8.

In mehreren Gesprächen versucht Hermann, diese Haltung zu verwirren und zu provozieren, um sie an die schreckliche Perspektive der Ausbeutung durch die Besatzer heranzuführen. Die entscheidende Wende jedoch erfolgt erst, als Thusnelda selbst, am eigenen Leib und Gefühl, den Zynismus und die Grausamkeit der Römer erfährt. Eine Locke, die ihr der römische Legat angeblich als Souvenir der 56 57

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H. v. Kleist, Werke (Anm. 1), I, 594. Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, Berlin 1808. H. v. Kleist, Werke (Anm. 1), I, 557.

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Liebe abgenommen hat, wird in einem Brief an die römische Kaiserin als "Probe" für deren zukünftige Perücke gefunden 59 • Diese Erfahrung bewirkt zunächst einen völligen Zusammenbruch der Fürstin, dann jedoch ungebändigten Rachedurst: "Überlaß ihn mir! Ich habe mich gefaßt, ich will mich rächen! Hermann. Dir? Thusnelda. Mir! Du sollst mit mir zufrieden sein. Hermann. Nun denn, so ist der erste Sieg erfochten!,,60. Ist das Volk durch die Nationalerziehung hinreichend dezivilisiert und eingestimmt, so zählt dies wie ein militärischer Sieg, gleichsam ein Sieg über die inneren Widerstände der Nation. In der skandalträchtigen ,Bärenszene ' wird die Rache dann durchgeführt; Thusnelda läßt den Legaten in einem Park von einer ausgehungerten Bärin zerfleischen. Kleist zeigt hier die Dehumanisierung in ihrer ganzen Konsequenz auf, wobei jedoch deutlich wird, daß die Germanen nicht von Natur aus Tiere sind, wie es die Römer wohl meinen 61 , sondern daß sie durch die Besatzer dazu gemacht wurden: "Hinweg! - Er hat zur Bärin mich gemacht! ,,62. Die Bärin selbst, "die zottelschwarze Bärin von Cheruska", symbolisiert das Volk, das vom Gegner und von den eigenen politischen Eliten seiner Menschlichkeit entzogen, sich in den rücksichtslosen Kampf des enthegten Krieges wirft. Dieser Prozeß der Nationalerziehung wird schließlich ergänzt durch ein Programm der symbolischen Politik. Das Programm beinhaltet zunächst gegenüber dem Feind eine Politik des scheinbaren Entgegenkommens, mit der dieser in Sicherheit gewiegt wird. Man lobt den Mut des Gegners, verhält sich unterwürfig, gibt repräsentative Empfange 63 ; freilich ist sichtbar, daß auch die Römer sich dieses außenpolitischen Symbolmanagements bedienen. So befiehlt Varus ausdrücklich - und mit ironischem Unterton -, die deutschen heiligen Eichen zu ehren und, mit der Flexibilität der Besatzungsmacht, die kulturelle Autonomie des besetzten Landes bis hin zur kulturellen Selbstverleugnung anzuerkennen 64 • Noch wichtiger ist jedoch die Symbolpolitik nach innen hin, zur Mobilisierung des eigenen Volkes:

59 "Hier schick ich von dem Haar, das ich dir zugedacht, / Und das sogleich, wenn Hermann sinkt,lDie Schere für dich ernten wird,lDir eine Probe zu, mir klug verschafft"; H. v. Kleist, Werke (Anm. 1), I, 597. 60 H. v. Kleist, Werke (Anm. 1), I, 599. 61 Ebd., I, 570. 62 Ebd., I, 616. 63 Ebd., I, 537 f., 547 f., 563. 64 "Denn Wodan ist, das ihrs nur wißt, ihr Römer, /Der Zeus der Deutschen, Herr des Blitzes / Diesseits der Alpen, so wie jenseits der; / Er ist der Gott, dem sich mein Knie sogleich, / Beim ersten Eintritt in dies Land, gebeugt"; H. v. Kleist, Werke (Anm. 1), I, 574.

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Andreas Dömer "Was brauch ich Latier, die mir Gutes tun? Kann ich den Römerhaß, eh ich den Platz verlasse, In der Cherusker Herzen nicht Daß er durch ganz Germanien schlägt, entflammen: So scheitert meine ganze Untemehmung!,,65.

Der Haß als Mobilisierungsmedium im Volkskrieg muß, bei den kriegsmüden und bequemen Cheruskern, erst produziert werden, und diesem zentralen Ziel ist die symbolpolitische Strategie des Hermann gewidmet. So läßt er zunächst Missetaten, die das römische Heer bei seinem Durchzug durchs Land begangen hat, in übersteigerter Form als Nachricht verbreiten. Als man beispielsweise berichtet, eine heilige Eiche sei beschädigt worden, will Hermann diesen symbolträchtigen Frevel sofort ausschlachten, auch wenn die einfältigen Untertanen die Strategie kaum nachvollziehen können: ,,Man hat mir hier gesagt, Die Römer hätten die Gefangenen gezwungen, Zeus, ihrem Greulgott, in den Staub zu knien? Der dritte Hauptmann. Nein, mein Gebieter, davon weiß ich nichts. Hermann. Nicht? Nicht? - Ich hab es von dir selbst gehört! Der dritte Hauptmann. Wie? Was? Hermann in den Bar!. Wie! Was! Die deutschen Uren! Bedeut ihm, was die List sei, Eginhardt,,66.

Dieser Propagandastrategie folgt eine symbolische Politik, die sogar materiellen Schaden für das eigene Volk in Kauf nimmt, um den Feind als noch grausamer erscheinen zu lassen, als er ohnehin schon ist. Hermann läßt Germanen in Römerkleidern ausrücken, um im eigenen Land zu "sengen, brennen, plündern,,67. Die abtrünnigen Germanenfürsten wiederum wirbt Hermann, indem er nicht auf materiellen Gewinn oder die Gehorsamspflicht gegenüber dem Führer rekurriert, sondern indem er ganz im Sinne der modemen Nationalbewegung abstrakte Werte ins Spiel bringt, die eine höhere Sinnperspektive markieren: Freiheit, Vaterland und Rache68 . Mit dem "Fanal" und dem Bardengesang vor der Schlacht wird schließlich auch die Rolle der Ästhetik in der Politik des Volkskriegs thematisch 69 . Der Bardengesang festigt vor der Schlacht den Widerstandsgeist der Germanen. Der Moment des Kampfes kann mit Hilfe ästhetischer Inszenierung charismatisch überhöht und mit einer sakralisierten Sinnperspektive durchzogen werden. Im Zentrum der Symbolpolitik steht jedoch eine Szene, die neben der Bärenszene ebenfalls zum Skandalon der Rezeptionsgeschichte des Stücks werden wird: die Zerstückelung der Jungfrau Hally. Hally war von römischen Soldaten in der 65 66 67

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H. v. Kleis!, Werke (Anm. 1), I, 585. Ebd., I, 565. Ebd., I, 566. Ebd., I, 607. Ebd., I, 613.

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Nacht auf offener Straße vergewaltigt worden. Diese Schändung wird auch innerhalb der Textwelt als symbolischer Akt wahrgenommen. Man will den geschändeten Körper allen Blicken entziehen und wirft ein großes Tuch darüber7o • Der Vater des Opfers sieht als einzigen Ausweg die Tötung seiner Tochter: "Ich will sie führen, wo sie hingehört". Hally wird, noch immer mit dem Tuch verschleiert, erstochen. Tod und Vergessen scheint dem Vater die einzige Möglichkeit, mit der Schmach fertig zu werden. In diesem Moment kommt Hermann auf die Szene und gibt dem Geschehen eine neue Wendung. Aus der symbolischen Schändung des Volkes macht er ein Symbol des Widerstandes und der Rache. Nach dem Vorbild des alttestamentlichen "Buches der Richter" (19, 29) läßt er den Leichnam zerstückeln und die Teile an die verschiedenen Stämme, sprich: deutschen Teilstaaten versenden, um so über die Zerstückelung an die notwendige Einheit der Nation zu gemahnen: ,,Brich, Rabenvater, auf, und trage, mit den Vettern, Die Jungfrau, die geschändete, In einen Winkel deines Hauses hin! Wir zählen funfzehn Stämme der Germanier; In funfzehn Stücke, mit des Schwertes Schärfe, Teil ihren Leib, und schick mit funfzehn Boten, Ich will dir funfzehn Pferde dazu geben, Den funfzehn Stämmen ihn Germaniens zu. Der wird in Deutschland, dir zur Rache, Bis auf die toten Elemente werben: Der Sturmwind wird, die Waldungen durchsausend, Empörung! rufen, und die See, Des Landen Ribben schlagend, Freiheit! brüllen,,71.

Diese symbolpolitische Kemszene weist verschiedene interessante Aspekte auf. Zum einen fungiert sie als Reinigungsritual für die geschändete und beschmutzte. Gemeinschaft. Das schmutzige Blut des Verbrechens wird durch das frische Blut des heiligen Opfers gereinigt72, und die verwendeten Leichenteile geben von der Reinigung Kunde. Das Opfer heiligt auf diese Weise den Kampf gegen die Besatzer als Urheber des Leides. Der Widerstand und in Zusammenhang damit die Vereinigung der Nation erhalten damit eine sakrale Sinnperspektive. Zum zweiten kann das Geschehen als Schlüsselszene für die symbolische Konstruktion von Heimat verstanden werden. Die Zerstückelung macht die Sehnsucht nach Einheit 70 Eine als "das Volk" bezeichnete Sprechrolle kommentiert in dieser Situation: ,,0 des elenden, schmachbedeckten Wesens! / Der fußzertretnen, kotgewälzten, / An Brust und Haupt, zertrümmerten Gestalt"; H. v. Kleist, Werke (Anm. I), I, 587. Es wird deutlich, daß mehr geschehen ist als ein normales Verbrechen. Das Volk selbst fühlt sich in Hally geschändet. 71 H. v. Kleist, Werke (Anm. 1), I, 590f. 72 Diese Interpretation wird im Anschluß an Rene Girards funktionale Bestimmung der Gewalt im heiligen Ritus entwickelt bei Gerhard Gönner, Von ,zerspaltenen Herzen' und der ,gebrechlichen Einrichtung der Welt'. Versuch einer Phänomenologie der Gewalt bei Kleist, Stuttgart 1989.

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sinnlich faßbar, es entsteht eine politische Fonn von Heimweh, das die Menschen für den Volkskrieg mobilisiert73 . Die Zerstückelung macht auf einer konkreten Ebene deutlich, was politisch ohnehin schon real ist: die Zerrissenheit der Nation in Partikularstaaten und Partikularinteressen. Sie zeigt, daß dieser Zustand ein Zustand des Mangels ist. Der Erfolg von Hennanns Symbolpolitik wird innerhalb der Textwelt dokumentiert: Der Gennanenfürst Wolf berichtet, daß es die Teile der Hally als "des Vaterlandes grauses Sinnbild" waren, die das Volk empört und zu den Waffen getrieben haben 74. Die Mobilisierung ist erfolgreich, der Befreiungskampf wird vollendet, die Römer sind aus dem Land getrieben. Dem Drama selbst freilich ist vorerst weniger Erfolg beschieden. An eine Aufführung ist auf Grund der harten Zensurbedingungen zunächst nicht zu denken. Zwar ist Lektüre belegt, sie verbleibt jedoch im Privatkontext patriotisch gesinnter Kreise. Überraschenderweise hält die öffentliche Wirkungslosigkeit der "Hennannsschlacht" auch nach 1813 an, obgleich die politische Lyrik Kleists durchaus viel gedruckt und gelesen wird. Dies mag auch daran liegen, daß die Abschriften des Textes in irgend welchen unüberschaubaren Kanälen verschwunden sind. Die Hauptgründe liegen jedoch woanders. Die befremdliche Struktur des Stücks mit Ambivalenzen, schonungslosen Offenheiten und Momenten des Grotesken, der grimmige Humor in Kombination mit exzessiven Grausamkeiten scheint nicht geeignet, ein breiteres Publikum anzusprechen. Selbst die Eliten haben mit der Radikalität des Szenarios Probleme. Schließlich kommt erschwerend hinzu, daß der Text in den ästhetischen Normhorizonten kaum einzuordnen ist. Zu den dominanten Ästhetiken der Zeit, der Weimarer Klassik, der ,romantischen Schule' und der trivialisierten Spätaufklärung, steht das Kleistsche Drama quer. Seine eigentümliche Verbindung von klassischen Jamben, politischer Lyrik, militärischer Denkschrift und menschlicher Tragödie überfordert den zeitgenössischen Rezeptionshorizont. Obwohl schon 1809 entstanden, findet die Uraufführung des Stückes erst im Jahre 1860 statt! Erfolgreicher sind demgegenüber konventionell angelegte, auf Harmonie und Fürstenlob bedachte Stücke wie "Hennann" von F. E. Rambach oder August von Kotzebues ,,heroische Oper" "Hennann und Thusnelde,,75. Sie erscheinen, vor allem nachdem alle Insurrektions- und Partisanen pläne zu den Akten gelegt sind, als adäquate Bekräftigungen des politischen Status Quo. 73 Vgl. dazu die Bezeichnung der "Herrnannsschlacht" als "erste deutsche Heimatliteratur" bei Friedrich A. Kittler, Ein Erdbeben in Chili und Preußen. In: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists ,Das Erdbeben in Chili', hrsg. v. David E. Wellbery, München 1985, 24 - 38; ders., De Nostalgia, in: Das Konzept ,Heimat' in der neueren Literatur, hrsg. v. Hans-Georg Pott, Paderbom u. a. 1986, 153 - 168. 74 H. v. Kleist, Werke (Anm. 1), I, 625 .. 75 F[riedrich} E[berhard} R[ambach}, Herrrnann, Riga 1813; August von Kotzebue, Hermann und Thusnelde. Eine heroische Oper, in: August von Kotzebue, Theater, Bd. 39, Wien/ Leipzig (1813) 1841,95 - 150.

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VI. Zivilisationsabbau und totaler Krieg heute

Ich habe schon in den einleitenden Bemerkungen darauf verwiesen, daß selbst in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts die Fremdheit der strategischen Barbarei sichtbar bleibt. Erst allmählich, mit der politisch-kulturellen Verschiebung von der "Idealpolitik" zur moralisch indifferenten "Realpolitik" beginnen die kulturellen Eliten in Preußen, das Stück zu entdecken. Kleist avanciert zum borussisehen Kronzeugen, und Herrnann dient als simples Sinnbild jener "Blut und Eisen"-Politik, die Bismarck ins Werk setzt. Die "Hermannsschlacht" wird vor allem vorn nationalen Lager im Kaiserreich, später auch im Weimarer Kontext als ästhetisch anspruchsvolles nationalistisches Kampfdrama adaptiert. Die Nationalsozialisten schließen dort nahtlos an. Sie versuchen sogar, die Extreme des Befreiungskampfes zur Legitimation des Judenmordes heranzuziehen 76 • Kein Wunder also, daß Kleists Drama nach 1945 in den kulturellen Giftschrank wandert. Es wird in der Kleistforschung wie im Feuilleton als Ausdruck psychischer Überspanntheiten des Autors gesehen und aus dem literarhistorischen Kanon exkommuniziert. Die Frage, wie mit dieser monströsen Apotheose der Barbarei heute adäquat umzugehen sei, wird erst 1982 beantwortet. Claus Peymann zeigt in Bochum die erste Inszenierung des Stücks in der Bundesrepublik77, und diese wird - zur Verblüffung aller Beobachter - ein überragender Erfolg. Die Inszenierung erlebt nicht weniger als 86 Vorstellungen mit über 43.000 Zuschauern78 • Eine eigens 76 Stellvertretend sei hier eine Äußerung des Chefideologen Alfred Rosenberg zitiert: "Wir wissen, daß heute Juden, Polen und Franzosen die ,ganze Brut ist, die in den Leib Germaniens sich ein gefilzt wie ein Insektenschwarm '. Wir wissen, daß ein Ende sein muß mit der Liebespredigt für unsere Feinde, daß heute noch viel mehr als vor 1000 Jahren [sie!] Haß unser Amt ist und unsere Tugend Rache. Wir wissen auch, was wir zu sagen haben, wenn Angstmänner ihre Feigheit mit der Bemerkung bemänteln wollen, ,es gebe doch auch gute Juden': dasselbe, was Kleist den Hermann sagen ließ; als seine Gattin ihn um das Leben der ,besten Römer' bat: ,Die guten, das sind die Schlechtesten'. So ist Kleist unser", zit. nach Man/red Boetzkes u. a., Verarbeitung des kulturellen Erbes: Tendenzen der Klassiker-Inszenierung, in: Weimarer Republik, hrsg. v. Kunstamt Kreuzberg und Institut für Theaterwissenschaft der Universität zu Köln, Berlin/Hamburg 1977,739 -757, hier 750. 77 Allerdings fand im Jahre 1957 eine Freilichtaufführung der "Hermannsschlacht" im Dienste der deutschen Einheit statt: im Harzer Bergtheater Thale in der DDR. Unter der Devise "Es geht um den Bestand unserer Nation!" versuchte man, den Hermann als Sinnbild einer Lösung im Ost-West-Konflikt und als Kämpfer gegen amerikanischen Imperialismus darzustellen. Das Programmbuch gibt eindeutige Rezeptionsvorgaben: ,,1. Rom: das ist uns Amerika. 2. Die entzweiten und von Rom gegeneinander gehetzten, zum Bruderkrieg gestachelten deutschen V6lker: das ist der deutsche Westen und der deutsche Osten; und vor allem: die deutschen Arbeiter in West und Ost. 3. Aristan: das ist uns Adenauer und Co. 4. Das Verzeihen und Vergessen zwischen den betrogenen und in die Irre geführten deutschen Brüdern und Hermann - so wollen auch wir es halten, wenn erst die deutsche Einheit erkämpft ist"; Harzer Bergtheater zu Thale, Kleist, Die Hermannsschlacht. Inszenierung: Curt Trepte. Programmbuch, Quedlinburg 1957, 16.

23*

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Andreas Dömer

erstellte Filmversion wird im Zweiten Deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Das Presseecho ist überwältigend positiv, die Aufführungen beim Berliner Theatertreffen werden umjubelt, und schließlich erfolgt noch die Wahl zur Inszenierung des Jahres durch die Fachzeitschrift "Theater Heute". Peymann nimmt eine neue Kontextualisierung des Stückes vor. Der nationalistischen Tradition setzt er eine aktualisierende Reflexion entgegen über Freiheitskampf, Terrorismus und die Dialektik der Gewalt79. Diese Reflexion wird in einer Zeit, in der nicht nur die Dritte Welt, sondern auch die Bundesrepublik als "wehrhafte Demokratie" mit dem Gewaltproblem beschäftigt ist, als wichtiger Beitrag zur öffentlichen Diskussion gesehen. Die Struktur der Inszenierung zeichnet sich aus durch eine fast leere, dunkle Bühne. Im Kostümbereich wie in den Bewegungsstilen wird die grundsätzliche Opposition sinnlich faßbar: auf der einen Seite die "systernisch" durchorganisierten, einheitlich und geschlossen erscheinenden Römer, die durchweg in schönen, weißen Uniformen und mit beherrschten Bewegungen auftreten; auf der anderen Seite die Germanen, die sich natürlich und ungezwungen bewegen und deren Kostüme eine wilde Montage aus Germanenzeit, Biedermeier und Gegenwart darstellen. Hermann tritt auf in Cordhosen, Trenchcoat und Baskenmütze, eine Mischung aus Che Guevara und Heinrich Böll, aus Guerillero und empörtem Moralisten. Er ist kein martialisch auftretender Führer, sondern ein schlaksiger Intellektueller. Besondere Aufmerksamkeit wird den Problemszenen des Dramas gewidmet, die nicht gestrichen oder in einen Botenbericht umgewandelt, sondern in vollem Umfang auf die Bühne gebracht werden. Sie sind gleichsam eingeklammert, mittels einer ästhetischen Brechung ,aufgehoben', so daß der naive Schrecken angesichts des Geschehens überführt wird in eine Reflexion über das, was geschieht. Da ist zunächst die Hally-Episode: Die Leiche des von Römern vergewaltigten und daraufhin von seinem Vater getöteten Mädchens wird auf Hermanns Geheiß zerstückelt und an die Germanenstämme versendet. Die Szenerie wird mit den Mitteln diverser Zeichensysteme verfremdet: In intensiv rote Beleuchtung getaucht, kommen hinter stilisierten Tannen im Rückraum der Bühne die Cherusker hervor; sie tragen Masken, aber diese sind nicht vor das Gesicht, sondern vor das Haupthaar gespannt. Das Gesicht der Schauspieler ist dabei zum Boden gerichtet. Daraus ergibt sich eine Haltung, die den Eindruck lemurenhaft-geheimnisvoller Wesen hervorruft. Eine betont stilisierte Gestik und Intonation schließlich vervollständigt die Zeichenstruktur: Die Szene wird innerhalb des Bühnengeschehens in einen anderen Rahmen gehoben, erscheint als Traum oder Vision. Das Verfahren der ästhetischen Verfremdung gelangt auch bei der immer wieder kritisierten Bärenszene zur Anwendung. Hier wird gleich eine ganze Barockbühne 78 Hermann Beil u. a., Das Bochumer Ensemble. Ein deutsches Stadttheater 1979 - 1986, Königstein i.Ts. 1986,576. 79 In diese Richtung weisen auch die Texte des Bochumer Programmbuchs, die u. a. von lean-Paul Sartre, Frantz Fanon und Pablo Neruda stammen; Schauspielhaus Bochuml Bochumer Ensemble, Heinrich von Kleist. Die Hermannsschlacht. Ein Drama, Bochum 1982.

Funktionale Barbarei

349

heruntergelassen, die einen lauschig-romantischen Park darstellt. Mit dieser Konstellation der ,Bühne auf der Bühne' wird die ganze Szene in einen Modus der Reflexivität gebracht: Der Text thematisiert sich selbst, stellt das Geschehen seinerseits als "Theater" dar und ermöglicht dem Zuschauer so größte Distanz zu dem grausigen Spiel. Diese Distanz wird noch verstärkt durch die komischen Elemente: Ein Bärenwärter tritt auf im Gewand eines orientalischen Jahrmarkthändlers, und Ventidius, das Opfer, hüpft mit einem fröhlichen ,Trallala' in die Szene. Indem Peymann die Bärin tatsächlich auf die Bühne bringt (ein Schauspieler agiert im Bärenkostüm mit glühenden Augen), kommt ein karnevalistisch-groteskes Element ins Spiel. Dieser Bär fungiert als sinnliche Darstellung der Ambivalenz von Komik und Tragik, die diese Szene charakterisiert. Dadurch wird einerseits Distanz geschaffen, andererseits aber ein Abgleiten in die reine Lächerlichkeit vermieden. Vor diesem Hintergrund, der das Brutale und Grausame verfremdet, aber nicht völlig ausblendet, wird die Zerstörung der Psyche Thusneldas deutlich herausgearbeitet. Bei der Tötung des Varus schließlich ist bewußt auf jede Poetisierung und Verfremdung verzichtet worden. Das verzerrte Gesicht der Befreiungskrieger ist in all seiner Häßlichkeit offengelegt. Varus, verletzt und hilflos, wird von Hermann und zwei deutschen Fürsten gestellt. Sie streiten sich sogar darum, wer den Varus ,erlegen' darf. Fust, ein früherer Kollaborateur, der den Kampf für sich entscheidet, sticht danach den römischen Feldherrn regelrecht ab. Der Schauspieler bringt deutlich die dabei frei werdende libidinöse Energie zum Ausdruck. Die destruktive Komponente perspektiviert auch den Schluß des Aufführungstextes. Direkt im Anschluß an die Varus-Szene wird eine Pantomime eingefügt: Hermann, bestückt mit Flügelhelm, Schwert und Schild, stellt sich in Denkmalspose auf die Bühne. Ein Scheinwerfer in seinem Rücken wirft den Schatten an die Wand, und dieser wächst zu gigantischer Größe an, indem sich der Schauspieler rückwärts auf den Scheinwerfer zu bewegt. Simultan ertönen aus dem Lautsprecher Kanonenschüsse und krepierende Granaten. Mit dieser bildhaften Koppelung von Hermannsdenkmal und modernem Krieg wird ein wichtiger Teil der Rezeptionsgeschichte des Dramas zitiert. Das Bild zeigt, wie das Schema der totalen Befreiungspolitik umschlagen ·kann in totalen Nationalismus. So ist das problematische Erbe ,aufgehoben' in der letztlich pessimistischen Perspektive der Bochumer Inszenierung. Schild, Schwert und Helm fallen, die schwarze Verkleidung der Bühnenwände rechts und links wird heruntergelassen, das Hauptlicht geht an: In diesem Schlußbild totaler Desillusionierung, wo die Theatermaschine sichtbar wird und die Requisiten noch auf dem Boden herumliegen, treffen sich Hermann und Thusnelda als zwei psychisch zerstörte Menschen wieder. Der totale Krieg, und sei es auch ein moralisch gerechtfertigter Befreiungskrieg, läßt keinen Raum für Humanität. Die funktionale Barbarei kann nicht nach Belieben wieder eingehegt werden, sondern sie frißt diejenigen auf, die sich ihrer bedient haben.

Register (Die Namen moderner Autoren sind kursiv gesetzt; kursivierte Seitenzahlen verweisen auf den Text in den Anmerkungen; bei literarischen Figuren ist der Autor in Klammem angefügt.) Abbt, Thomas, 46, 71, 281/ Abdul Erzerum, 61, 62, 64, 68 f. Absolutismus, 62 - 64,72,93,95, 142, 173, 175, 263, 287 f., 293, 298, 305 f., 315 f., 318 - Aufgeklärter, 50, 277, 320 - Neo-, 323 f. Achenwall, Gottfried, 231 Achill (Kleist), 197, 333 Adams, Abigail, 145 Adams, John, 144f. Adel, 84, 95,129,162,167, 176f., 195, 196, 198,255 Adelsprivileg, 176 f., 330 Adenauer, Konrad, 347 Adomo, Theodor w., 58, 279 Aischylos, 249 Albano (Jean Paul), 265 f. Albrecht Achilles von Brandenburg, 2 Albrecht I. von Österreich, 11 Alembert, Jean Le Rond d', 44 Alexander 1., Zar, 192, 195 Alien and Sedition Act, 145 Amoh, Yasuo, 39 Ancien Regime, 59, 70, 77, 80, 84 - 86, 90, l32, 175f., 182,190,225 Andeli, Henri d', 14 Anerkennung durch Krieg, 195 - 202, 208 f., 230f.,257 Angress, Ruth, 336 Antimilitarismus, 152 Archenholz, Johann Wilhelm von, 60 Arevalo, Sanchez de, 45 Argonnen,118,124 Aristan (Kleist), 347 Armee - Berufs-, 35, 36, 37, 173

- Koalitionstruppen, 117, 120, 127f., 160, 288 - Kontinental- (Amerika), 134 - l39 - Linientruppen, 102, 119, 127, 159f., 175, 178,223,296 - napoleonische, 106,241 - preußische, 119, 174, 176, 181, 190,201 - Provisional Army, 145 - Reguläre Truppen, 40, 143, 145 - 149, 193 f., 303, 314, 340 - Revolutions-, 61, 76, 82, 90, 119, 127, l37, 158, 167, 174, 181, 190, 192, 195, 208,265,296 - russische, 192, 195 - Söldnerheer, 20, 22, 29, 125, l31, 161, 174, 255, 331 - Stehendes Heer, 19 - 22, 26, 29f., 33f., 36f., 95,119, 125, l31, 138 - 140, 142f., 145, 147, 17lf., 174f., 177, 180 - 182, 193,216,219,296,318,331 - Volksheer, 127 Arminius, 338 Arndt, Ernst Moritz, 53, 223, 236, 272, 287 - 294, 296 - 298, 300, 304, 308, 310, 313,318,322,325,328 Amim, Achirn von, 267, 320 f. Arnpeck, Veit, 12 Aron, Raymond, 186 - 189,193,205,207 Articles ofConfederation, l38, 141 Articles ofWar, 152 Aspern (Schlacht), 306 Athen, 206 Aube,88 Auerstedt (Schlacht), 201, 2l3, 219, 254f. Aufklärung, 17, 44, 47 - 50, 53f., 58 - 60, 69, 72, 79, 95 f., 129, l38, 161, 164, 168, 177,219,225 - 227,229 - 231,234 - 236,

352

Register

246, 261 - 265, 267 f., 270, 272, 274, 276, 280,282,288,320,325 Aufstand, 13, 17,23,41,338 Augsburg,2 Augustinus, 8 Bagetti, Giuseppe Pietro, 99 Baltimore, 150 f. Barbarei, 197, 270, 288 f., 327f., 330, 332334,336,337,341 - 343, 347, 349 Bastille, 80, 84 Baudelaire, Charles, 102, 104 Bautzen (Schlacht), 305 Bayern, 334 Befreiungskriege, 53, 62, 189, 201 f., 218, 244, 254, 283, 289, 304, 307 f., 312, 320, 322 f., 328, 330 f., 339, 340 Befreiungskriegslyrik, 272, 282, 284 - 288, 290 f., 293 - 295, 297 f., 300 f., 303 f., 311, 314 - 316, 321 - 325, 334 Beheim, Martin, 2 Belgrad, 7 Bellizismus, 43, 49, 55, 69, 73, 117, 291, 293,295, 300,305f., 308, 310, 314, 322, 324f. Bellum iustum, s. Krieg, gerechter Berenhorst, Georg Heinrich von, 154 Berezyna, 295 Bergner; Dieter; 257 Berlin, 214, 217,295 Bemadotte, Jean-Baptiste, 213 f. Bernhard von Sachsen-Weimar, 212, 217 f. Bertaux, Jacques, 86 f. Berthaud, P., 86 f. Bill of Rights, 133 Bingner, Heinrich Daniel, 43 Bismarck, Otto von, 347 Blair,Hugh,23,27f BIomberg, Alexander von, 308 Blücher von Wahlstatt, Gebhard Leberecht, 213,245 f., 257, 259,314 Blümner, 212 Bodmer, Johann Jakob, 321 Bonstetten, Albrecht von, 1, 16 Bordenau, 170 Borst, Amo, 116, 128 Brahms, Johannes, 27

Brentano, Clemens Wenzel Maria, 317f., 321 f. Brissot, Jacques Pierre, 79 Brüggemann, Karl Heinrich, 324 Bruyn, Günter de, 60, 63, 70 Buchwald, Reinhard, 116 Buhle, von, 212 Bullenkalb (Shakespeare), 241 Bülow, Dietrich Heinrich von, 154 Burckhardt, Jacob, 49, 52, 95 Bürger, 16, 20f., 23 f., 26, 30, 33 - 40, 49f., 63, 66 - 68, 72, 82, 84, 95 f., 116, 128 f., 162, 175 - 178, 195, 196, 198, 201, 216, 253, 255, 257, 261, 296, 303 f., 306 - 308, 310,312,321,330 - 332 - -liehe Eliten, 135, 138, 177, 287, 290, 321,324,332,336 - 338, 346f. - -soldat, 18f., 31, 33, 37, 39, 95,125,174, 177,236,289, 296f., 330 - Staats-, 158, 167,291 - -tugenden, 26, 75,240,308,320,324 Callot, Jacques, 94, 108 Capet, Bürger, s. Ludwig XVI. Carl August von Sachsen-Weimar, 121,212 Carlisle, 17 Carlyle, Alexander, 18, 19,41 Carnot, Lazare Nicolas, 65, 214 Casteggio (Schlacht), 99 f. Cervantes Saavedra, Miguel de, 249 Charnpagne, 124 Charles Edward Stuart (Bonnie Prince Charles), 17 Chasöt, Isaac Franz Egmont de, 297 Chaumette, Pierre Gaspard, 82 Cicero, Marcus Tullius, 341 Clausewitz, Carl von; 97, 104, 154, 163, 169, 185 - 196, 198, 201 - 209, 211, 213, 216,225,332,341 Clausewitz, Maria Sofia, geb. Gräfin Brühl, 201,202 Collin, Heinrich Joseph von, 327 Collot d'Herbois, Jean Marie, 87 Concord (Schlacht), 131 Condorcet, Antoine de, 226, 236 Congo Hoango (Kleist), 335 f. Cope, Sir John, 17 Comwallis, Lord, Charles, 134

Register Cotta von Cottendorf, Johann Friedrich, 268,271 Culloden (Schlacht), 18 Dalberg, Car1 Theodor Anton Maria von, 271 Dann, Otto, 125

David, Jacques Louis, 76, 82, 87, 107 De1aware, 94 Demokratisierung, 65, 77, 152, 286, 291, 317,321 f., 324f. Derby, 17 Desfonts, 86 Despotismus, 20, 30, 33, 49, 53, 64, 67, 79, 84,248,252 Dessalines, Jean Jacques, 336 Deutsch-französischer Krieg (1870171), 285 Dialektik der Geschichte, 228 f. Disziplin, 22 f. Dithmarschen, 6 Dörnberg, Wilhelm Kaspar Ferdinand, 297 Drechsler, Leonhard, 6 Drummond, George, 18 Duell, 5, 7,198, 200f. Dufour, Guillaume Henri, 221 Dumouriez, Charles Fran~ois, 118 f., 127, 167 Dundas, Robert, 41 Dünkirchen, 18, 156 Duplessis, Joseph Siffrede, 84 Duplessis-Bertaux, Jean, 98, 100 Dupres,88 Eberstein, 11 Edinburgh, 17f., 20 Eginhardt (Kleist), 338, 344 Ehrverletzung, 6 Eichendorff, Joseph von, 212, 316, 321,339 Einigungskriege, 327 Eibe, 213 Elias, Norbert, 329

Ellsworth, Oliver, 142 Ellwangen, 9 Embser, Georgius Jacobus, 44 Embser, Johann Valentin, 43 f., 46, 48 - 55, 59,69,71 f., 217 Ems,161 Epinal,106

353

Erdtmann, Ertwin, 2 Erich von Sachsen-Lauenburg, 6 Ernst von Schaumburg, 14 Eudämonismus, 231, 233, 236f., 239 Eutychius, 57, 71 f. Ewiger Friede, 43 - 45, 47, 48 f., 51, 52, 54, 57 - 59,70,72, 171, 219f., 231 f., 251 f., 254,264,280,288 Eyb, Ludwig von, 2, 11 Eylau (Schlacht), 98 f., 101 Falkirk,18 Fallen Timbers (Schlacht), 143 Fanon, Frantz, 205

Farewell Adress, 143 Federalists, 141 - 145, 147, 149 Fehde, 5 - 7, 9, 11,72 Fenelon, Fran~ois de Salignac de la MotteE,58 Ferguson, Adam, 18, 19,21 - 41, 95 Ferguson, Jarnes, 41 Fessler, Ignaz Aurelius, 219 Feudalismus, 32, 176, 296,337 Fichte, Johann Gottlieb, 52, 217, 221, 228, 233,235 f., 239, 241 - 259, 287, 290, 293, 300f.,342 Finchley, 95 Fingal, 27 Fischer, Hennann, 300 f., 308 Flandern, 124, 156f., 161 Fletcher, Andrew, 19 Florenz von Wevelinghoven, 10 Florida, 145 Foerster, Friedrich, 214, 241, 309, 310 Forster, Georg, 71 Fort, Simeon, 99 - 101 Fortschrittsdenken, 51, 219, 226, 229, 263, 267, 275f. Fouche,Joseph,87 Fouque, Friedrich Heinrich Karl de la Motte-E, 288, 308, 309 Frankfurter Wachensturm, 323 f. Franz 11., Kaiser, 295 Französisch-spanischer Krieg (1808 - 1814), 194 Freiligrath, Ferdinand von, 323 Freiwillige, 18, 26, 40f., 89f., 102, 127, 143 - 149,242,301,303,307 f., 331, 340

354

Register

French and Indian War, 151 Frevert, Ute, 200 Freymann, 301 Friedenthai, Richard, 120 Friedrich I. von der Pfalz, der Siegreiche, 3 f., 6, 11 f., 15 Friedrich 11. von Preußen, der Große, 46 f., 49J,97, 156,169,320 Friedrich III., Kaiser, 3 Friedrich von Thüringen, der Friedfertige, 3 Friedrich Wilhelm I. von Preußen, 173, 176 Friedrich Wilhelm 11. von Preußen, 114, 117,118, 120 Friedrich Wilhelm III. von Preußen, 114, 168,173, 246f., 250, 297, 305f., 331 Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, 293 Friedrich Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg-Oels, 288 Friedrich, Caspar David, 211, 214, 217, 339 Fuller; lohn, 190 Furet, Franrois, 77, 80, 85, 89 Fust (Kleist), 349

Gneisenau, August Wilhelm Anton Neidhardt von, 131, 181, 250, 291, 292, 297, 331,337,338 Goethe, Johann Wolfgang von, 27, 114130,211,216,246,258,332 Göhrde, 307 Gordon, Adam, 41 Görres, Johann Joseph von, 317 Gorsas, Antoine Joseph, 79 Gottreich (Jean Paul), 267 Gottschall, Rudolf, 323 Goya, Francisco, 109 f., 194 Grasse, Fran~ois Joseph Paul de Grassetilly de, 134 Grimm, Jacob, 323 Gros, Antoine-Jean, 107 GroBe Seen (Amerika), 146, 150 Groß-Görschen (Schlacht), 281, 295 Großlausau, 277 Grotius, Hugo, 231 Gustav 11. Adolf von Schweden, 153 Gustav III. von Schweden, 47, 50

Gallatin, Albert, 146 Garve, Christian, 71

Haiti, 335 f. Hally (Kleist), 344 - 346, 348 Hambacher Fest, 323 f. Hamilton, Alexander, 138 - 140, 142, 145, 147 Harich, Wolfgang, 266, 273 Harring, Harro, 323 Heeresreform, 65, 96 - preußische, 154, 168, 170, 173, 176, 178f., 183,250, 290-292, 295, 297, 330f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 52, 189, 196 - 200, 209, 213, 229f., 232 - 235, 238 - 240, 245, 247, 257 Heideking, lürgen, 221 Heinrich 11. von Holstein, der Eiserne, 3 Heinrich von Vrrneburg, 12; Heinrich XI. von Reuß, 123 Hennings, August von, 57 Heraklit von Ephesos, 269 Herder, Johann Gottfried, 27, 226 - 228, 236 Herklots, Karl Alexander, 315 Herkules, 87 f. Hermann (Kleist), 327, 338 f., 341 - 348 Hermann IV. von Hessen, 12

Gaud~Friedrich,323

Geissler, Christian Gottfried, 100f., 107 Gelehrte, 28,41,242,249,261,321,348 Gemeinwohl, 48, 219, 288, 291 Gemmingen, Otto von, 54 Gent (Frieden), 149 - 151 Gentz, Friedrich von, 211, 290, 295 G6rard, Fran~ois, 90 G6ricault, Th6odore, 101, 106 - 108 Gerry, Elbridge, 148 Gerstenberg, Wigand, 9 Gesellschaft - bürgerliche, 25 - 27, 29f., 38 f., 41, 128, 182,227f. - Markt-, 21, 25, 34, 36, 37 f., 41 - ständische, 39, 162, 164, 167, 175, 177, 198 - zivilisierte, 21, 23, 25, 30 Giannozzo (Jean Paul), 281 Girard, Ren6, 345 Gleichgewichtssystem, 251 - 253 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig, 308, 312 f., 317

Register Hermann von Hessen, der Gelehrte, 9 Heroismus, 48f., 66f., 76, 82f., 86, 251, 299, 306 - 308 Herwegh, Georg, 323 Hessen, 14 Hobbes, Thomas, 22, 24, 37, 199,209,228, 232 Hoche, Lazare, 167 Hofer, Andreas, 306 Hogarth, William, 95 Holstein, 3, 6f., 14 Holt, Andreas, 36 Horne, John, 18, 19,27

Honneth, Axel, 200 Horkheimer, Max, 58

Humanismus, 1, 15 - Neu-,268 Humanität, 45, 47, 58, 80, 96, 185, 191, 193 f., 261, 268, 341 f., 349 Humboldt, Wilhelm von, 71, 236 - 238, 240 Hume, David, 19, 23 f., 26, 27 Hutcheson, Francis, 24 Idealismus, 228, 233, 248 Identität, nationale, 26, 46f., 137, 178,201, 289 f., 304, 313, 315, 324 Imperialismus, 325 Indien, 63 Insurrections-Truppen, s. Krieg, GuerillaIrenisches Denken, 8 f., 15, 48, 288 f., 303, 320 Iselin, Isaak, 226 Isnard, Maximin, 79 Jackson, Andrew, 151 Jahn, Friedrich Ludwig, 223, 236, 287, 301 f., 309, 328 Jakobiner, 76, 78, 83, 87 - 89,91, 222, 328, 331 James ill. Stuart, 17 Jay Treaty, 143 Jean Paul, 59, 261, 264 - 268, 270 - 284 Jefferson, Thomas, 141 f., 145 - 147 Jemappes, 119 Jena (Schlacht), 201, 213, 219, 254f. Jerusalern, Johann Friedrich Wilhelm, 53, 71,219 Johann I. von Kleve, 9

355

Johann Ohnefurcht von Burgund, 3 Johnson, Samuel, 27 Jomini, Antoine Henry, 212 f. Jünger, Ernst, 73 Justi, Johann Heinrich Gottlieb von, 60, 219 Justi, Karl Wilhelm, 316,321 Kames, Lord, Henry Horne, 23 Kant, Immanuei, 43, 51f, 54, 58, 71, 204, 217, 219 - 222, 227f., 232 - 234, 237f., 240,251,252,264,289,314 Kantonsfreiheit, 249 f., 255 Kapitalismus, 41 Karl von Burgund, der Kühne, 3 f. Karl Wilhelm Ferdinand von BraunschweigLüneburg, 114,118, 119f., 127, 158, 163 Katharina n., Zarin, 47, 50 Kaub,245 Jraufinann,lean-Claude, 330 Kauzen, 277 Jreegan, lohn, 185, 188 f., 207, 329 Kellermann, Fran~ois Christophe, 102, 115, 118 f., 127 Kemnat, Matthias von, 2, 4, 6, 15 Jressel, Eberhard, 187

Key, Francis Scott, 151 ~nd,Friedrich,310

Jrittler, Wolf, 336 f.

Klassik, 309 Kleist, Ewald von, 304, 312 Kleist, Heinrich von, 62, 197,211 f., 217f., 327 f., 332 - 338, 340, 343, 346 f. Klopstock, Friedrich Gottlieb, 27, 44, 46, 53, 263, 288 f. Knebel, Karl von, 129 Knox, Henry, 141, 143 f. Koalitionskriege, 62, 91, 100, 125, 131, 157f.,163, 169,174,186 - Erster Koalitionskrieg, 262 Jröhler, Gertrud, 218 Kohlhaas, Michael (Kleist), 333 Jrohn, Richard H., 144, 145 Kolonialismus, 336 Jrondylis, Panajotis, 186, 188 Körner, Christian Gottlieb, 301,311 Körner, Theodor, 285 - 288,291,300 - 315, 318,322,325,327 Korpsgeist, 331

356

Register

Kotzebue, August von, 346 Kowno, 192 Krantz, Albert, 1 Krieg - äller gegen alle, 185 f., 199,228,262 - als moralische Anstalt, 51, 69 - 71, 79, 148,205,219,238 - 240, 251, 264,270 - als Rechtsstreit, 7f., 10, 15 f. - gegen Häretiker, 12 - absoluter, 163, 185 - 187, 190, 203, 207, 220,262 - abstrakter, 187 f. - Angriffs-,7, 11,71,234 - Ästhetisierung des, 75 f., 217, 223, 225, 261, 280 - 284, 344, 346 - Befreiungs-, 79, 194, 250, 292 f., 300, 312, 315f., 319, 334, 336, 338f., 346349 - begrenzter, 187, 189 - 191, 194, 199, 202 f., 207 - 209 - Belagerungs-, 225 - Bewegungs-, 225 - Bürger-, 51, 68, 77, 85 f., 137, 152,204 - entgrenzter, 185, 189 - 195, 201 - 203, 205,207 - 209, 264, 331 f. - enthegter, 256, 263, 267, 330, 334f., 343 - Erbfolge-, 14 - Eroberungs-, 263, 288, 291, 303 - existenzieller, 190, 195 f., 202, 208 - Freiheits-,265 - Fürsten-, 249, 254, 259 - gerechter, 5, lOf., 79, 215, 220, 232, 235, 286 - Guerilla-/Partisanen-, 134f., 137, 170, 193 - 195, 331, 335, 339f., 346 - Heiden-,5 - heiliger, 12, 15 - ideologischer, 5, 77, 126,238,262 - Industrialisierung des, 127 - instrumenteller, 186, 190, 195 f., 202, 208 - Kabinetts-, 137,277,305,328 - kleiner, 136, 160, 169f. - Kolonial-, 137 - Kolonisations-, 254 - Nationalisierung des, 37, 116, 127,216 - Niederwerfungs-, 207 - Ökonomisierung des, 207 f. - postrevolutionärer, 238

- Raub-,252 - Religions-, 16, 138 - revolutionärer, 91, 133, 137, 154, 181, 183,185,240,265 - Stellungs-, 225 - totaler, 152, 163, 187, 222, 330, 334336,337,342,347,349 - unrechtmäßiger, 270 - Verherrlichung des, 75 f., 81, 83, 89, 98, 107,265,311 - Vernichtungs-, 186, 189, 191, 193, 195, 203 - 206, 209, 332, 340 f. - Verteidigungs-, 7, 11, 16,71,79,234 - Volks-, 77, 127, 131, 134, 136, 146, 151, 181 f., 236, 249, 254, 257, 259, 294f., 297, 299f., 313f., 321, 328, 331, 334f., 337,341 f., 344, 346 - wahrhaftiger, 242, 246, 248 f., 250, 254, 257f. - Weltbürger-, 262 Kriegerischer Geist, 20, 37, 48 - 51, 53f., 78,89,179,235,238,240,246,250,292 Kriegführung, traditionelle, 120, 162 Kriegsbegeisterung, 66, 68, 125, 161, 165, 167,169,266,281,332,325 Kriegskritik, 8,91,264,268,281 Krippendorff, Ekkehart, 123 Krug, Wilhelm Traugott, 233 Kuegelgen, Gerhard, 213 Kühnau, Christian, 308 Kunze, W., 301 Kurze, Dietrich, 70 Laborde, Alexandre de, 217 Lafayette, Marie Joseph Paul Yves Roch Gilbert Motier de, 132 Lamballe, Marie TMrese Louise de SavoieCarignan de, 87 Lanarkshire, 40 Lancaster, 17 Landfrieden, 10 f., 15 Landsturm/-wehr, 62, 182, 194, 223, 241, 249,296,331,335,338 Laukhard, Friedrich Christian, 114, 118 Lee, Charles, 136 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm, 237 Leipzig (Schlacht), 295, 317, 321 f., 327 Lerbeck, Hermann von, 4

Register Lessing, Gotthold Ephraim, 226, 229 Leutze, Emanuel, 94 Levee en masse, 82, 90, 127, 148, 150, 153, 195,221 Lexington (Schlacht), 96, 131 Lille, 81 f., 117 Lincoln, Abraham, 151 Locke, John, 24, 237 London, 17 f. Louis Philippe I. von Frankreich, 100, 102 Louise, Königin von Preußen, 305,306,312 Lousiana, 145 Lübeck,l04f. Luden, Heinrich, 258, 287, 323 Ludwig IV., der Bayer, Kaiser, 12 Ludwig XIV. von Frankreich, 158 Ludwig Xv. von Frankreich, 158 Ludwig XVI. von Frankreich, 117, 261 Lützen (Schlacht), 281, 295 Lützowsches Freicorps, 301, 308 f. Lyon, 87 Mably, Bonnot Gabriel, AbM de, 236 Machiavelli, Niccolo, 199,248,252 - 254 MacPherson, James, 27 Madison, James, 139, 142,146, 147 - 149 Maengel, Manfred, 197 Mainz, 115, 119 Maistre, Joseph de, 239 Malthus, Thomas Robert, 41 Manchester, 17 Marat, Jean Paul, 80 f. Marchfeld (Schlacht), 14 Marengo (Schlacht), 99 Marheinecke, Philipp, 241 Marquise von O. (Kleist), 333 Marwitz, Alexander von der, 211 Marwitz, Rahel von der, 211 Maryland, 136 Massachusetts, 140, 148 Massenbach, Christian, 113 f., 120,213 Mauzaisse, Jean-Baptiste, 102f. Maximilian I. von Bayern, 298 Maximilian I., Kaiser, 16 Mechanistisches Denken, 226, 231, 233 Meinecke, Friedrich, 248 Meißen,ll Meisterlin, Sigisrnund, 2

357

Mernel,213 Mendelssohn Bartholdy, Felix, 27 Mendelssohn, Moses, 227 Menin, 156, 160 Menschenrechte, 50, 67,86, 125 f., 238, 254 Mettemich, Clemens Fürst von M.-Winneburg, 223, 295 Meulen, Adam Frans van der, 122 Meyern, Wilhelm Friedrich von, 59 - 73, 223,265f. Meynier, Charles, 98 f., 102, 107 Michelsen, Peter; 341 Militärische Gesellschaft, 168, 214 Militärische Revolution, 127, 153, 157, 165, 167f., 170, 182f. Militarisierung der Nation, 216, 314, 321 Militärpädagogik, 168,217 Miliz, 17 - 23, 26, 27, 29f., 33 - 35,37 - 41, 135 - 142, 144,146 - 150, 172 - 181, 296, 331 - Militia Act (England), 18 - Militia Act (Schottland), 40 - Militia Bill (Schottland), 23 - Uniform Militia Act (USA), 144 Mirabeau, Honore Gabriel de Riqueti de, 60 Mississippi,199,152 Montebello (Schlacht), 99 f. Montesquieu, Charles Louis de Secondat de La Brede, 60, 65, 240 Moralische Erneuerung, s. Krieg als moralische Anstalt Moreau, Jean Victor, 167 Morristown, 135 Mosen, Julius, 323 Moskau, 192f., 195 Mountstewart, Lord, John Stuart, 34 Müchler, Karl, 315, 321 Müller, Adam H., 211, 217 - 220, 233 - 235 Münkler; Herfried, 197, 201,206 - 208 Nachmärz, 325 Naigeon, Alexandre, 90 Napoleon I. Bonaparte, 5, 27, 61,73,95,98, 106 - 108, 147, 148, 151, 167, 170, 186, 189-193, 195f., 198, 20H., 205,208, 225, 243 - 246, 248 f., 252, 256, 258, 268, 276, 287, 289 - 291, 293 - 296, 298, 300, 304f., 314, 316, 319,324,328,336

358

Register

Napoleonische Kriege, 100, 186, 189, 225, 240,268,287,338 Nation, 17,19, 25,40, 46f., 49, 53, 65, 69, 72, 81 f., 85, 88, 94, 98, 151, 164 - 166, 172, 177f., 182, 195, 197, 202, 233, 235 f., 243, 252, 262, 283, 286 f., 290292, 296f., 308, 313f., 321, 330f., 343, 345 Nationalbewußtsein, 4, 26f., 29,31,48 - 50, 52 f., 126, 163 - 165, 201, 235 f., 286289, 298, 303, 305f., 314, 317, 320, 322f. Nationalcharakter, 21, 26, 28, 31, 161, 181, 229,235,299,332 Nationalerziehung, 216, 243 f., 286, 342 f. Nationalismus, 125, 129, 144, 236; 268, 283,285 f., 301, 304, 325, 337, 349 Nationalkonvent (Frankreich), 76, 80, 82 f., 222 Nationalversammlung (Frankreich), 117,288 Nationalverteidigung, 17 - 19,21,25,34 - 36 Nationswerdung, 137, 290, 299, 320 - 322, 324f.,344 Naturrecht, 45 f., 231 f., 234 - 236 Naturzustand, 198 f. Neuchätel,211 New Orleans, 150f. Niebuhr, Barthold Georg, 241 f., 258 Niethammer, Friedrich Emmanuel, 257f Nietzsche, Friedrich, 73 Nithard,l Northof, Levold von, 2 Novalis, 233, 236, 238 Öffentlichkeit, 72, 137, 143, 151 f., 163, 169, 190, 272, 290 - 293, 295, 301, 315, 321 f. Ohio, 151 Oken, Ludwig, 323 Opferbereitschaft, 46, 53, 64, 71 f., 76, 89, 164, 180, 231, 237f., 246, 286f., 297, 299,306 - 308, 315, 325 Ossian, 27 Oswald, Johann Friedrich, 315 Otto von Schaumburg, 4 Ottokar 11. Premysl von Böhmen, 13

Paret, Peter, 131 f. Paris, 79,87, 118, 127 Paris (Frieden, 1783), 141 Paris (Frieden, 1814),317,324 Paris (Frieden, 1815),314 Pariser Commune, 82 Pariser Vertrag, 175 Parthey, Gustav, 241 Patriotismus, 46, 48 - 50, 52 - 55, 62, 66 f., 69,72,75,79 - 83, 86, 90, 102, 109, 119, 124 - 126, 132 - 134, 179f., 182, 198, 258, 268 f., 282f., 287, 299 f., 304, 306, 308,310,320,325,327,334,346 Pazifismus, 58,117,231,233,261,280 Peloponnesischer Krieg, 205 Penn, William, 232 Pennsylvania, 144 Penthesilea (Kleist), 197, 333 Perrin, Jean-Charles, 90 Peymann, Claus, 347 - 349 Pfuel, Ernst von, 211, 213, 217f. Philadelphia, 140, 142 Philipp m. von Burgund, der Gute, 3 Piccolomini, Aeneas Silvius, 3, 8, 9, 15 Pichegru, Charles, 167 Pitt, Williarn, d. Ä., 18 Platon, 44, 206 Plautus,44 Pocock, lohn G. A., 19 Poker Club, 20, 33 Posilge, Johannes von, 7 Preston,17 Prestonpans, 40 Prieur,86 Prohaska, Eleonore, 340 Proudhon, Pierre Joseph, 221 Pufendorf, Samuel, 231 Quinton, Rene, 221 Racine, Jean, 214 Radetzky von Radetz, Johann Joseph Wenzel,211 Radowitz, Joseph Maria Ernst von, 223 Rambach, Friedrich Eberhard, 346 Rasch, Wolfdietrich, 278 Raynor, David R., 19 Reemtsma, lan-Philipp, 205

Register Regensburg, Andreas von, 2 Regnault, Jean Baptiste, 75 f., 78, 87 Reimar, Freimund, 319 Reimer, Georg Andreas, 241 Reims, 127 Renaissance, 45 Republicans/Republican Party, 141 - 146, 148, 150 Republik, 24, 75 f., 78, 88, 90, 147, 163, 252,290 Republikanismus, 40f., 50, 125, 138, 152, 165 f., 282 Resmuration, 77, 79, 104, 182 Revolution, 50, 53, 66, 76 f., 79 f., 96, 154, 166,179, 182f., 196, 198,226,228,253, 265f., 324 - (1848/49),325 - amerikanische, 96, 136, 138,306 - französische, 58, 65, 75 - 85, 88 - 91, 93, 95f., 117, 125, 127f., 132, 142, 153, 158, 164,167,169,172,185,193,195,208f., 227, 232, 251, 254, 261 - 264, 268, 273, 317,328 Revolutionsbegeisterung, 50, 266 Richelieu, Armand Jean du Plessis de, 49 Richer,1 Ritter; Gerhard, 187, 223 Ritterlichkeit, 6 f., 221 Robertson, William, 18, 23,28 Robespierre, Maxirnilien Marie Isidore de, 76,79,87,91,164,222 Rochambeau, Donatien Marie Joseph de Vimeur de, 134 Rochow, Gusmv Adolf Rochus von, 293 Roland de la Platiere, Jeanne Marie, 79 Romantik, 211, 233, 279f., 282, 284, 291, 303,309,320,346 Rosenberg, Alfred, 347 Rothe, Johannes, 1 Rothfels, Hans, 187 Rotteck, Carl von, 323 Rousseau, Jean Jacques, 44, 60, 95, 227, 236 Rubens, Peter Paul, 94 Rückert, Friedrich, 288, 309, 318 f., 322 Rudolf I. von Habsburg, 14 Rühle von Lilienstern, Otto August, 43, 211 - 214, 216 - 223

359

Ruppin,106 Rußlandfeldzug, 189, 191 f., 195 Saale, 213 Saint-Pierre, Charles Irenee Castei, AbM de,44,58,219,226,232 Saint-Just, Louis Antoine de, 77 Sallustius, Gaius '" Crispus, 44 Sansculotten, 83, 86, 88 f., 165 Sauzin, Louis, 218 f., 222 Savigny, Karl von, 235 Scharnhorst, Gerhard von, 153 - 183, 213, 291,297 Schatte (Shakespeare), 241 Schaumburg, 11 Schaumburg-Lippe, 172 f. Schaumburg-Lippe, Wilhelm zu, 71, 155, 167,171,173 Scheinhardt, Fr., 310 Schelling, Friedrich Wilhelm von, 213, 232f. Schenkendorf, Max von, 223, 282, 288 Schill, Ferdinand Baptism von, 297 Schiller, Johann Christoph Friedrich von, 58, 63, 238, 300 f., 334 f. Schimmelig (Shakespeare), 241 Schiphower, Johannes von, 6f., 9,14 Schlegel, August Wilhelm, 236, 325 Schlegel, Friedrich, 222, 310, 320 Schleiermacher, Friedrich, 241, 287, 289, 290,322,325 Schlüter, Anclreas, 95 Schmidt, Amo, 59, 113, 120,266 Schmitt, earl, 246, 337, 339 Schmitt, Walter E., 187 Schnorr von Carolsfeld, 310 Schopenhaue~Arthur,251

Schreiber, Christian, 298 Schubert, Franz Peter, 27 Schüren, Gert van der, 3, 6, 9 Schwächlich (Shakespeare), 241 Schwarzenberg-Rudolsmdt, Fürst von, 310 Septembermassaker, 85 Septirnius (Kleist), 341 Shakespeare, William, 241 Sheridan, Philip Henry, 152 Sherman, William Tecumseh, 152 Shy, lohn, 137

360

Register

Siebenjähriger Krieg, 18,34,46, 156f., 169, 174,281,313 Siebenpfeiffer, Philipp Jacob, 323 Slaughter, Thomas P., 144 Smith, Adam, 20, 22 - 24, 25, 26, 31, 3341,240 Soest, Jacob von, 8 Soester Fehde, 3, 6, 9 Sorel, George, 50 Souveränität, 37, 321 Sparta, 206 Speyer,119 St. Menehould, 118 Staatskunst, 215, 218, 254 Städtekrieg (1449), 9 Staegemann, Friedrich, 315, 321, 323 Stainreuter, Leopold, 3 Steiermark, 14 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom, 177, 179, 180,291 - 293 Stephan, Kaspar Johann, 278 Steuben, Friedrich Wilhelm von, 135 f., 144 Stewart, Archibald, 18 Strategie, 67, 120, 137, 146, 154, 156, 158, 189, 192,215 - 219, 222 - der verbrannten Erde, 134, 192,331,339 - napoleonische, 97, 99,189,191 - 193,195, 208 Stumpf, Reinhard, 202 Sturm und Drang, 44, 50, 58, 63, 226 Stützer, August Christian, 182 Suarez, Fran~isco, 221 Tacitus, Publius Cornelius, 338 Taktik, 39, 96, 127, 137, 153, 158 - 161, 169 f., 174, 335, 339 - Linear-, 127 Tapferkeit, 49, 52, 67, 230, 240, 297, 332, 340 Taunay, Nicola-Antoine, 91 Tecumseh, 148 f. Tempelhoff, Georg Friedrich von, 156 Terreur, 77, 80 - 83, 85, 87, 89,91, 101,276 Theoderich, 8 Thomasius, Christian, 231 Thukydides, 4, 8, 202 Thusnelda (Kleist), 339 f., 342 f., 346, 348 Tibet, 63

Tieck, Ludwig, 320 Tiedge, Christoph August, 307, 309 Tirailleurtaktik, s. Taktik Toennies, Ferdinand, 46 Toland, John, 19 Toulon,82 Tournai, 117 Toussaint l'Ouverture, Fran~ois Dominique, 336 Traiteur, Karl Theodor, 54 Treitschke, Heinrich von, 223 Trenchard,John,19 Trenton,94 Trier, 14 Trippe, Heinrich, 7 Tuilerien, 85 - 87 Turgot, Anne Robert Jacques de L'Aulne, 27,226 Tyrtäus, 285 Tzschirner, Heinrich Gottlieb, 43, 45, 51, 238 Uhland, Ludwig, 323 Uhle- Wettler; Franz, 127 Ulm (Schlacht), 191 Unabhängigkeitserklärung, amerikanische, 138, 150 Unabhängigkeitskriege, amerikanische, 131133, 137, 139, 141, 146, 149 - 152, 169, 340 Utilitarismus, 236, 238 Utopie, 59, 63, 65, 70, 72, 279 f., 337 Valenciennes, 156 Valley Forge, 135 Valmy, 100, 102f., 113, 116f., 119, 125128, 130 Varnhagen von Ense, Karl August, 211, 308 Varus (Kleist), 338, 340, 343, 349 Vattel, Emer de, 231, 232 Velleius Paterculus, Gaius, 338 Vendee, 181, 208 Ventidius (Kleist), 338 f., 349 Verdun,81, 114, 117, 124 Verfassung, amerikanische, 141 Vernet, Carle, 98 - 100 Vernet, Horace, 100, 102 - 104, 106

Register Vernunft, 44f., 54, 58, 71, 97, 123, 220, 226 - 228, 235, 256, 262, 288 Verweichlichung, 48, 239, 269 Villeneuve, 85 Vincke, Friedrich von, 288, 291 Virginia, 136 Vitoria, Francisco de, 221 Volksaufstand, 80, 86 - 88, 323, 331, 335, 341 Volksbewaffnung, 23, 142, 175, 182,291 f., 296,331 Volkssouveränität, 65, 137 f., 323 Voltaire, 226, 275 Vormärz, 323 Wagrarn (Schlacht), 217 Wallace, Robert, 19 Wallmoden-Gimborn, Johann Ludwig von, 156, 168 Wartenburg, 213 Warze (Shakespeare), 241 Washington, 150 Washington, George, 134 - 137, 139, 141, 145, 147 Waterloo, 96 Watteau, Jean Antoine, 95 Wayne, Anthony, 143 Weber, Bernhard Anse1m, 315 Weber, Max, 334 Wehrpflicht, allgemeine, 170,179,242,249 f., 296,314,331

24 Kunisch/MUnkler

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Weil, Eric, 187 Weißenburger Krieg, 12 We1cker, Carl Theodor, 323 Wellington, Arthur Wellesley of, 150 Weltbürgertum, 47, 52, 236, 253 West Point, 147 West, Benjamin, 96 Widukind von Corvey, 8 Wieland, Christoph Martin, 261 - 263, 267 Wiener Kongreß, 124, 151,270 Wildbad,ll Wilhelm August von Cumberland, 18 Winer, Charles Henry (A. Schmidt), 113 Wirth, Johann Georg August, 325 Wohlfahrtsausschuß (Frankreich), 164,222 Wolf (Kleist), 346 Wolff, Christian, 231 f. Worms,119 Worringen (Schlacht), 13 Württemberg, 6, 11 Würzburg, 7, 10

York von Wartenburg, Hans David Ludwig, 267 Yorktown,134 Zeune, August, 241, 308 Zimmermann, Clemens, 242 Zivilisation, 33, 35, 219, 226, 239, 263, 328 - 330, 332f., 341