Poesie der Aufklärung: Studien zum europäischen Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts 9783110348491, 9783110348415

Didactic poems are among the most influential literary genres of the European Enlightenment. This comparative study exam

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Poesie der Aufklärung: Studien zum europäischen Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts
 9783110348491, 9783110348415

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
I. Einleitung und Grundlagen
II. Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte: Weltdeutung, Selbstbestimmungsideal und Debattenkultur
III. Neue Tendenzen seit der Jahrhundertmitte: Feierlicher Enthusiasmus, die Unsterblichkeit und die Größe des Menschen
IV. Die Aufspaltung der Gattung um 1800: Epische Großform und philosophische Lyrik
V. Anhang
Personenregister

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Olav Krämer Poesie der Aufklärung

linguae & litterae

Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies Edited by Peter Auer, Gesa von Essen, Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris), Marino Freschi (Rom), Ekkehard König (Berlin), Michael Lackner (Erlangen-Nürnberg), Per Linell (Linköping), Angelika Linke (Zürich), Christine Maillard (Strasbourg), Lorenza Mondada (Basel), Pieter Muysken (Nijmegen), Wolfgang Raible (Freiburg), Monika Schmitz-Emans (Bochum)

Volume 61

Olav Krämer

Poesie der Aufklärung Studien zum europäischen Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts

ISBN 978-3-11-034841-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-034849-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038467-3 ISSN 1869-7054 Library of Congress Control Number: 2019944393 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Druckfassung meiner Habilitationsschrift, die ich Anfang 2016 bei der Philologischen Fakultät der Albert-LudwigsUniversität Freiburg eingereicht habe. Teile der Arbeit wurden während meiner Zeit als Junior Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) konzipiert und verfasst. Danken möchte ich zunächst und besonders herzlich Werner Frick, der die Entstehung der Arbeit von Beginn an auf vielfältige Weisen unterstützt hat. Auch Achim Aurnhammer und Monika Fludernik danke ich herzlich für die engagierte Betreuung der Arbeit. Für anregende Diskussionen, Ratschläge und die kritische Lektüre von Teilen der Studie bin ich insbesondere Andrea Albrecht und Lutz Danneberg zu großem Dank verpflichtet. Für hilfreiche Gespräche, Hinweise und anderweitige Unterstützung danke ich ferner Giovanna Cordibella, Gesa von Essen, Andreas Kablitz, Tilmann Köppe, Fabian Lampart, Hugues Marchal, Dieter Martin, Christopher Meid und Claus Zittel. Für seine tatkräftige Hilfe bei der Vorbereitung des Manuskripts für den Druck danke ich Anton Bröll. Meinen Eltern und Geschwistern danke ich für Rückhalt und Ermutigung, meinen Kindern Clara und Johann für heilsame Ablenkung. Am meisten danke ich meiner Frau Friederike Carl, ohne deren vielfältige Unterstützung ich dieses Buch nicht hätte schreiben können. Ihr ist es gewidmet. Osnabrück, im Mai 2019

https://doi.org/10.1515/9783110348491-201

Inhalt Vorwort I

II

V

Einleitung und Grundlagen 1 1 Aufstieg und Niedergang des Lehrgedichts im 18. Jahrhundert: Die Standardsicht und ihre Probleme 1 2 Der Gattungsbegriff ‚Lehrgedicht‘ von der Antike bis zur Frühen Neuzeit: Historische und theoretische Überlegungen 6 2.1 Vorbemerkungen 6 2.2 Zur Geschichte des Begriffs ‚Lehrgedicht‘ 10 2.3 Textstruktur und Inhalte des Lehrgedichts 14 2.4 Zwecke: Belehrung, Artistik, Gegenstandsnobilitierung 19 2.5 Belehrung im Lehrgedicht: Etabliertes oder neues Wissen? 25 2.6 Das Lehrgedicht, die Epistel und andere didaktische Gattungen 29 2.7 ‚Lehrgedicht‘, ‚Essay‘, ‚Discours en vers‘: Nationale Besonderheiten 32 2.8 Resümee: Arbeitsbegriff des Lehrgedichts 33 3 Das Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts: Zum Forschungsstand 3.1 Deutsches Lehrgedicht 35 3.2 Englisches Lehrgedicht 43 3.3 Französisches Lehrgedicht 48 4 Zielsetzungen und Korpus 50 5 Methode und theoretische Voraussetzungen 53 Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte: Weltdeutung, Selbstbestimmungsideal und Debattenkultur 63 1 Paradigma und Sonderfall: Alexander Popes An Essay on Man (1733/1734) 63 1.1 Der literarische Hintergrund: Philosophische Gedichte in England zwischen 1670 und 1730 66 1.1.1 John Wilmot, Earl of Rochester: A Satyr against Reason and Mankind 68 1.1.2 John Dryden: Religio Laici 70 1.1.3 Richard Blackmore: Creation 75 1.1.4 Resümee 81

34

VIII

Inhalt

1.2

2

Die Stellung des Essay on Man in Popes Autorbiographie 82 1.3 Das Projekt der Ethic Epistles 86 1.4 Die Philosophie des Essay on Man: ‚Zwischen den Extremen hindurchsteuern‘ 89 1.4.1 Die Rechtfertigung Gottes 92 1.4.2 Die Antriebe menschlichen Handelns und die Moral 104 1.4.3 Der Ursprung von Staat und Gesellschaft 117 1.4.4 Die Würde des Menschen 120 1.4.5 Zur zeitgenössischen Rezeption 124 1.5 Poetik und Form des Essay on Man 126 1.5.1 Einleitende Überlegungen 126 1.5.2 Die gedichtinternen Kommunikationssituationen 131 1.5.2.1 Die namenlosen Diskussionspartner 131 1.5.2.2 Bolingbroke 138 1.5.3 Virtuose Reformulierungen bekannter Gedanken 140 1.5.4 Die Inhaltszusammenfassung und ihr Verhältnis zum Gedicht 143 1.6 Zum zweiten Buch der Ethic Epistles: Die Epistel To Bathurst 144 1.6.1 Falscher und richtiger Gebrauch des Reichtums 146 1.6.2 Dissens unter Freunden: Die Auseinandersetzung mit Bathurst 151 1.6.3 Das Verhältnis der Epistel zum Essay on Man 157 1.7 Resümee 160 Deutschsprachige Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte: Zwischen Kanzel und Kaffeehaus 163 2.1 Albrecht von Haller 165 2.1.1 Hallers Versuch Schweizerischer Gedichte 167 2.1.2 Welche Gedichte Hallers sind Lehrgedichte? 168 2.1.3 Das Grundmodell: Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben (1732) 170 2.1.3.1 Sprechhandlungen: philosophische Erörterung, moralische Kritik und existenzielle Klage 174 2.1.3.2 Kommunikationsmodelle: Brief und Mahnpredigt 182 2.1.3.3 Selbstständiges Philosophieren oder Verbreitung vorgegebener Theorien? 185 2.1.4 Variationen des Grundmodells 187

Inhalt

2.1.5

3

4

5

Hallers Hinwendung zur philosophischen Dichtung und sein Dichtungsbegriff 197 2.1.6 Die Rolle der Naturwissenschaften in den Gedichten 206 2.1.7 Ethische und religiöse Positionen Hallers 209 2.1.8 Resümee 213 2.2 Friedrich von Hagedorn 215 2.2.1 Hagedorns Ethik 218 2.2.2 Der Dichter als Menschenfreund, Tugendlehrer und Ratgeber 225 2.2.3 Zur Form der Gedichte 228 2.2.3.1 Die Disposition: ‚nachlässiger‘ Gesprächsduktus 228 2.2.3.2 Gedichtinterne Kommunikationssituationen 231 2.2.3.3 Die Integration von Charakteren 234 2.2.3.4 Die Anmerkungen 237 2.3 Resümee 244 Voltaire: Deistische Frömmigkeit und Verteidigung des Menschen 247 3.1 Versepistel und philosophisches Lehrgedicht bei Voltaire 247 3.2 Le Mondain und Défense du Mondain 250 3.3 Discours en vers sur l’homme 255 3.3.1 Mit Pope gegen Pascal 256 3.3.2 Formprinzipien: Abwechslung, Heiterkeit, persönlicher Ton 261 3.4 Poème sur la loi naturelle 264 3.4.1 Zwei Fronten: Kritik an La Mettrie und an der französischen Kirchenpolitik 265 3.4.2 Zum Stil des Gedichts 269 3.5 Poème sur le désastre de Lisbonne 273 3.6 Resümee 278 Das Lehrgedicht in der Dichtungstheorie: Rechtfertigung durch Reduktion 279 4.1 Kritik und Verteidigung des Lehrgedichts im 18. Jahrhundert 279 4.2 Theoretiker über die Ziele von Lehrgedichten 282 4.3 Zum Verhältnis von Theorie und Praxis des Lehrgedichts 291 Zusammenfassung 295

IX

X

Inhalt

III Neue Tendenzen seit der Jahrhundertmitte: Feierlicher Enthusiasmus, die Unsterblichkeit und die Größe des Menschen 305 1 Edward Young: Night Thoughts (1742–1746) 309 1.1 Zum Inhalt der neun ‚Nächte‘ 311 1.2 Didaktische Strukturelemente 312 1.3 Emotionalisierung und das Erhabene 318 1.4 ‚The Dignity of Man‘: Youngs optimistische Antwort auf den skeptischen Essay on Man 321 1.5 Zusammenfassung 326 2 Friedrich Carl Casimir von Creuz und seine philosophischen Lehrgedichte 328 2.1 Monologische Form und Emotionalisierung 329 2.2 Narrative Strukturen und Verzeitlichung 335 2.3 Die skeptischen Momente in der Sicht auf Mensch und Welt 337 2.4 Unsterblichkeit und die Fortentwicklung im Jenseits 341 2.5 Resümee 344 3 Christoph Martin Wieland: Von Die Natur der Dinge (1752) zu Musarion (1768) 345 3.1 Die Natur der Dinge 347 3.1.1 Traditionsbezüge und Innovationen 348 3.1.2 Hoheit des Menschen, Fortschritt und Jenseits 352 3.2 Musarion 357 3.2.1 Die Mischung von Erzählung und Lehrgedicht 357 3.2.2 Musarions Philosophie 366 3.3 Resümee 369 4 Johann Wilhelm Ludwig Gleims Halladat oder Das rothe Buch (1775) 372 5 Christoph August Tiedges Urania (1801) 385 5.1 Der Nachweis von Gott, Unsterblichkeit und Freiheit 386 5.2 Die Verbindung didaktischer und ‚lyrischer‘ Strukturen 393 5.3 Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Ethik 403 5.4 Resümee 407 6 Die Freiheit der Dichtung und die Wahrheit des Lehrgedichts: Neue Tendenzen in der Dichtungstheorie 408 6.1 Die Frühaufklärung: Wahrheit als selbstverständliches Ziel von Lehrgedichten 410

Inhalt

6.2

7

Neuansätze nach Baumgarten: Der Wert unwahrer, aber schöner Lehrgedichte 413 6.3 Ambivalente Positionen bei den Verteidigern von Schillers Die Götter Griechenlandes 421 6.4 Schillers Erneuerung des Wahrheitsanspruchs in Ueber naive und sentimentalische Dichtung 431 Zusammenfassung 438

IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800: Epische Großform und philosophische Lyrik 445 1 Neue Naturwissenschaft in traditioneller Form: Erasmus Darwin und Jacques Delille 447 1.1 Erasmus Darwin: The Temple of Nature (1803) 448 1.1.1 Unterhaltsam-imaginative Naturdarstellung 451 1.1.2 Ethische und politische Lehren 455 1.2 Jacques Delille: Les Trois Règnes de la Nature (1808) 460 1.3 Resümee 469 2 Vom Lehrgedicht zur philosophischen Lyrik: Friedrich Schiller und Johann Wolfgang Goethe 470 2.1 Friedrich Schiller: Lehren ohne Lehrer 473 2.1.1 Resignation 475 2.1.2 Zwischen Predigt und Hymne: Das Reich der Schatten 480 2.1.3 Vom Lehren zum Darstellen: Elegie 487 2.1.4 Resümee 495 2.2 Johann Wolfgang Goethe: Naturlehre und Naturverehrung 499 2.2.1 Naturwissenschaftliche Lehrgedichte 501 2.2.1.1 Metamorphose der Tiere als repräsentatives Gedicht 505 2.2.1.2 Beziehungen zwischen Mensch und außermenschlicher Natur 511 2.2.1.3 Darstellung der schönen und göttlichen Züge der Natur 515 2.2.1.4 Suggestivität statt Anschaulichkeit 518 2.2.1.5 Veränderungen zwischen Klassik und Spätwerk 522 2.2.1.6 Zwischenfazit 526 2.2.2 Parallelen zwischen den naturwissenschaftlichen Lehrgedichten und Urworte. Orphisch (1820) 528

XI

XII

Inhalt

2.2.3

3 V

Der Aufsatz Ueber das Lehrgedicht (1827): Ein eigenwilliges Gattungsporträt 537 2.2.4 Die Gedichtgruppe Gott und Welt (1827) 541 2.2.4.1 Das Verhältnis der Gruppe zur Tradition des lukrezischen Lehrgedichts 542 2.2.4.2 Totalitätsentwurf als individuelle Leistung 552 2.3 Schillers und Goethes Lehrgedichte im Vergleich Resümee und Ausblick 560

Anhang 573 1 Verzeichnis der Siglen und Abkürzungen 573 1.1 Editionen 573 1.2 Sonstige 574 2 Quellen und vor 1900 erschienene Forschung 575 3 Forschung (erschienen ab 1900) 585

Personenregister

621

558

I Einleitung und Grundlagen 1 Aufstieg und Niedergang des Lehrgedichts im 18. Jahrhundert: Die Standardsicht und ihre Probleme Das Lehrgedicht gilt als eine der repräsentativen Gattungen der Literatur der Aufklärung. In mehreren europäischen Literaturen brachte das 18. Jahrhundert eine Fülle an Lehrgedichten hervor, von denen einige eine eindrucksvolle Zahl an Neuauflagen und Übersetzungen erreichten. Als repräsentativ für die Aufklärungsliteratur wird das Lehrgedicht aber nicht allein wegen solcher quantitativen Daten betrachtet, sondern vor allem wegen der angenommenen Übereinstimmung zwischen den Zwecken der Lehrgedichte einerseits, den Leitideen und dem Literaturverständnis der Aufklärung andererseits. In der grundlegenden Arbeit Christoph Siegrists über das deutschsprachige Lehrgedicht der Aufklärung heißt es gleich zu Beginn, die aufklärerische Dichtungstheorie nehme „das docere ernst“ und betrachte die Dichtung „als gleichberechtigte Partnerin von Philosophie und Wissenschaft“, die „die gesicherten und formulierten Wahrheiten“ in „poetischer, und das heißt den Sinnen zugänglicher Form“ verbreite und sie „unmittelbarer Nutzbarmachung“ zuleite.1 Diese Dichtungsauffassung sei der entscheidende Hintergrund, vor dem die Vorliebe für das Lehrgedicht zu sehen sei: Einzig im Umkreis einer so verstandenen funktionalisierten Dichtungsauffassung wird der Impetus für das Lehrgedicht verständlich; hier meinte man eine Möglichkeit zu besitzen, anspruchsvolle Wahrheiten auf eine überzeugende Art verbreiten zu können; [. . .].2

Ähnlich liest man es in neueren Handbüchern zur Literatur des 18. Jahrhunderts: Demnach äußerte sich das ‚wesentlich instrumentelle‘ Literaturverständnis der Aufklärung unter anderem in dem Bestreben, „durch poetische Wissensvermittlung zur Popularisierung gelehrter Erkenntnisse in einem größeren Kreis von Gebildeten beizutragen“, und dieses Ziel suchte man nicht zuletzt mithilfe von

1 Christoph Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, Stuttgart 1974, S. 13. – Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit der Arbeit Siegrists und anderen Beiträgen der Lehrgedichtsforschung erfolgt unten im Abschnitt 3 („Zum Forschungsstand“). An dieser Stelle werden nur einige grundlegende Thesen aufgegriffen, die in Handbücher und Epochenüberblicke Eingang gefunden haben. 2 Ebd., S. 18. https://doi.org/10.1515/9783110348491-001

2

I Einleitung und Grundlagen

Lehrgedichten über naturwissenschaftliche, philosophische und moralische Themen zu erreichen.3 Im späteren 18. und erst recht im 19. Jahrhundert gingen bekanntlich die Produktion und das Ansehen des Lehrgedichts zurück. Darüber, wie schnell und geradlinig sich dieser Prozess vollzog, gibt es unterschiedliche Einschätzungen; aber dass das Lehrgedicht etwa seit der Mitte oder dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts einen Kursverfall erlebte, ist weitgehend unstrittig. Die geläufigen Erklärungsansätze für diesen Niedergang verweisen zum einen auf den Aufstieg des Essays, der ein attraktiveres Medium für die Wissensverbreitung geboten habe,4 zum anderen und vor allem auf die Ablösung des aufklärerischen Dichtungsbegriffs durch neue Konzeptionen, die Gefühl und Einbildungskraft zur Grundlage der Dichtung erklärten und die schließlich am Ende des Jahrhunderts den Gedanken der Autonomie der Dichtung zur Losung erhoben.5 Um 1750 entstehe zwar

3 Vgl. Iwan-Michelangelo D’Aprile/Winfried Siebers, Das 18. Jahrhundert. Zeitalter der Aufklärung, Berlin 2008, S. 69–73; das Zitat auf S. 69. Zur aufklärerischen „Lehrdichtung“ vgl. ebd., S. 70–73. Einleitend heißt es hierzu: „Die aufklärerischen Autoren versuchten, die Popularisierung der zeitgenössischen Wissensbestände vor allem mit Hilfe der lehrhaften Dichtung zu bewirken.“ (Ebd., S. 70) Bei den im Folgenden vorgestellten Texten der lehrhaften Dichtung handelt es sich durchgehend um beschreibende Gedichte und Lehrgedichte. Die Formulierung, das Literaturverständnis der Aufklärung sei „wesentlich instrumentell“, übernehmen die Verfasser von Carsten Zelle, [Art.] „Aufklärung“, in: RLW, Bd. 1, S. 160–165, hier 163. – Vgl. auch Peter-André Alt, Aufklärung. Lehrbuch Germanistik. 3., aktual. Aufl. Stuttgart/Weimar 2007, S. 126–148, v. a. S. 129; ferner Wilhelm Große, „Aufklärung und Empfindsamkeit“, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 2., erw. Aufl., Würzburg 2001, S. 139–176, zu „Lyrik als Lehrdichtung“ S. 149–153. Auch hier wird die Leistung der Lehrgedichte Hallers, Hagedorns, Gellerts und vieler anderer Dichter als eine „Popularisierung neuzeitiger Ideen“ charakterisiert (ebd., S. 149). 4 Vgl. Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 52 f.; Sven Aage Jørgensen/Klaus Bohnen/ Per Øhrgaard, Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik 1740–1789, München 1990, S. 223. 5 Vgl. Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 28 f.; ders., „Fabel und Lehrgedicht: Gemeinsamkeiten und Differenzen“, in: Peter Hasubek (Hrsg.), Die Fabel. Theorie, Geschichte und Rezeption einer Gattung, Berlin 1982, S. 106–118, hier S. 117 f. Für ähnliche Positionen in neueren Überblicken vgl. Uwe Steiner, „Lehrdichtung“, in: Friedrich Jaeger (Hrsg.), Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 7: Konzert – Männlichkeit. Darmstadt 2008, Sp. 777–784, hier Sp. 783: „Um den Niedergang des Lg. in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s zu erklären, verweist die Forschung zum einen auf die zunehmende Bedeutung, die der Prosa-Essay als Form der Wissensvermittlung gewann, zum anderen auf ein dezidiert subjektives Poesieverständnis, für das im dt. Sprachraum das Auftreten Friedrich Gottlieb Klopstocks maßgebend wurde [. . .].“ Steiner verweist hier auf: Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 28 f., 52 f. Vgl. ferner Rainer Baasner, Einführung in die Literatur der Aufklärung, Darmstadt 2006, S. 88: Die „Lehrpoesie“ gerate „an ihre Grenzen, als lyrische Gedichte mit individuellen Themen und Ausdrucksformen das Publikumsinteresse auf sich ziehen.“

1 Aufstieg und Niedergang des Lehrgedichts im 18. Jahrhundert

3

noch die Spielart des empfindsamen Lehrgedichts, die die neuen Tendenzen der Aufwertung des Gefühls aufzunehmen suche, aber dieser Anpassungsversuch habe die Gattung langfristig nicht retten können. Ähnliches gelte für die Lehrgedichte, die von Schiller und Goethe verfasst wurden, also von zwei prominenten Verfechtern der Autonomieästhetik. Diese Gedichte werden manchmal als erfolglose „Wiederbelebungsversuche“6 der Gattung eingeordnet, manchmal auch als Gedichte, die eigentlich nicht mehr als Lehrgedichte zu klassifizieren, sondern der Gedankenlyrik oder philosophischen Lyrik zuzuschlagen seien.7 Die vorliegende Untersuchung will diese Annahmen über das Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts in einigen Teilen präzisieren und stärker differenzieren, in einigen Teilen auch grundsätzlich in Frage stellen. Sie setzt vor allem bei zwei Komponenten der eben referierten Auffassung an. Zunächst sollen die Annahmen über die Funktionen der Lehrgedichte des Zeitraums zwischen etwa 1730 und 1760 präzisiert werden. Die Rede von einem allgemeinen Streben nach Wissenspopularisierung, das sich gleichermaßen in Lehrgedichten zu naturwissenschaftlichen, philosophischen und moralischen Themen manifestiert habe, erscheint bereits vor einer genaueren Nachprüfung an den Texten als problematisch. Es handelt sich hier um Wissensarten, zwischen denen hinsichtlich ihrer lebenspraktischen Relevanz, ihrer Professionalisierung und der für sie einschlägigen Begründungsnormen erhebliche Unterschiede bestehen. Schon diese allgemeine Feststellung kann Zweifel an der Annahme hervorrufen, dass die Zielsetzungen der moralischen, religiösen und naturwissenschaftlichen Lehrgedichte sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen. Wenn zudem dieser angenommene Grundimpetus mit dem Ausdruck ‚Popularisierung‘ charakterisiert wird, dann scheinen dabei Gedichte mit fachwissenschaftlichem Inhalt als Prototyp des aufklärerischen Lehrgedichts vorausgesetzt zu werden. Doch die wirkungsmächtigsten Lehrgedichte des 18. Jahrhunderts stellten gerade nicht naturwissenschaftliche, sondern ethische und religiöse Fragen ins Zentrum. Ferner sind es die oben referierten Auffassungen über die Transformationen des Lehrgedichts seit der Jahrhundertmitte, die kritisch hinterfragt und präzisiert werden sollen. Mit Blick auf das ‚empfindsame Lehrgedicht‘ ist zu fragen: Wenn

6 Siegrist, „Fabel und Lehrgedicht“, S. 118. 7 Vgl. etwa Werner Keller, „‚Die antwortenden Gegenbilder‘. Eine Studie zu Goethes Wolkendichtung“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 1968, S. 191–236, hier S. 194: „Indes zögert man, Goethes Verse zu Howards Wolkenbestimmung, denen die nachfolgende Interpretation gewidmet ist, ein Lehrgedicht zu nennen, zumal wenn man sich an Dichtungen in der Manier von Tiedges ‚Urania‘ erinnert, die in ermüdender Weitläufigkeit philosophische Themen popularisieren. Goethes Lehrgedichte konzentrieren sich auf die Natur – und auf die Darstellung von Begriff und Gesetz in einer vollkommen sinnlichen Anschauung.“

4

I Einleitung und Grundlagen

das Lehrgedicht der ersten Jahrhunderthälfte so stark von dem ‚instrumentellen Literaturverständnis‘ der Aufklärung geprägt war, weshalb wurde diese Gattung dann im Zeichen eines veränderten Dichtungsbegriffs überhaupt weiter gepflegt und den neuen poetologischen Idealen angepasst? Eine naheliegende Vermutung lautet, dass das Lehrgedicht in der Phase bis etwa 1750 Funktionen übernommen hatte, die auch für die jüngeren, von der Empfindsamkeit geprägten Autoren noch relevant waren. Ähnliche Fragen und Vermutungen lassen sich mit Bezug auf die Lehrgedichte formulieren, die um 1800 von den Weimarer Klassikern verfasst wurden. Angesichts der offensichtlichen Spannung zwischen dem Autonomiekonzept und der didaktischen Dichtung erscheint es besonders erklärungsbedürftig, dass Schiller und Goethe sich mit „Wiederbelebungsversuche[n]“8 um die Gattung des Lehrgedichts bemühten. Nun ist, wie erwähnt, bezweifelt worden, ob die einschlägigen Gedichte Schillers und Goethes wirklich noch Lehrgedichte genannt oder eher als Gedankenlyrik oder philosophische Lyrik klassifiziert werden sollten. Andererseits aber ist die Tauglichkeit des Gattungsbegriffs ‚Gedankenlyrik‘ mindestens umstritten; gelegentlich ist er sogar vehement als ein „aufgedonnerte[r] Kompromißbegriff“ verurteilt worden,9 als ein „Feigenblatt“, das eigens dazu geschaffen wurde, die didaktische Seite der Weimarer Klassiker unter einer vornehmen Bezeichnung zu verdecken.10 Darüber, wie berechtigt diese Einschätzungen sind, gibt es noch keinen Konsens, und generell kann das Verhältnis, in dem die betreffenden Gedichte Schillers und Goethes – hinsichtlich ihrer Funktionen wie ihrer Formen – zum Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts stehen, nicht als befriedigend erforscht gelten. Die folgende Untersuchung sucht Antworten auf die skizzierten Fragen zu entwickeln, indem sie neue Interpretationen repräsentativer und wirkungsmächtiger Lehrgedichte vorschlägt und auf dieser Basis einen Entwicklungsstrang der Gattungsgeschichte beschreibt. Sie legt den Schwerpunkt auf Gedichte, die moralphilosophische und religiöse Themen ins Zentrum stellen oder die naturwissenschaftliche Befunde dezidiert für die Erörterung solcher Fragen funktionalisieren. Für die Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte soll gezeigt werden, dass ihre

8 Siegrist, „Fabel und Lehrgedicht“, S. 118. 9 Hans-Wolf Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland. In kritischen Zusätzen zu L. L. Albertsens Buch ‚Das Lehrgedicht‘“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 44/1970, S. 544–576, hier S. 555 (Anm. 48). 10 So Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd. II: Die Formenwelt, Stuttgart 1972, S. 495: „Die verehrten, soeben zu nationalbürgerlichen Heiligen erhobenen Klassiker hatten peinlicherweise auch eine didaktische Seite an sich gehabt. Diese Blöße wurde mit dem Feigenblatt ‚Gedankenlyrik‘ bedeckt, was etwas viel Feineres als die altmodische Didaktik sein sollte.“

1 Aufstieg und Niedergang des Lehrgedichts im 18. Jahrhundert

5

Zielsetzung nicht darauf reduziert werden kann, so etwas wie ein weitgehend geteiltes ‚aufklärerisches Weltbild‘ zu propagieren. Die Lehrgedichte jedenfalls entwerfen ihren Hintergrund vielfach als einen von Kontroversen beherrschten, und sie suchen innerhalb dieser Kontroversen begründet Stellung zu beziehen und konkurrierende Positionen zu kritisieren. Die denkgeschichtliche Voraussetzung des aufklärerischen Lehrgedichts besteht nicht nur in einer Anhäufung neuen wissenschaftlichen Wissens, das an die gebildete Bevölkerung weiterzugeben war. Sie besteht mindestens ebenso sehr in der sich verbreitenden Vorstellung, dass der einzelne Mensch mithilfe seiner Vernunft selbstständig seine moralischen und religiösen Überzeugungen formen sollte, sowie in den Differenzen hinsichtlich der Frage, welche Prämissen, Argumentationsweisen und Autoritäten hierbei als vernünftig gelten konnten. Dass die Lehrgedichte großenteils nicht einfach auf eine Verbreitung oder Popularisierung von Wissen zielten, bedeutet auch, dass sie die spezifischen Möglichkeiten der Gedichtform nicht allein für den Zweck einer Versinnlichung des Wissens funktionalisierten. Die Leistungen, die man sich von der poetischen Form erhoffte und auf die hin man die sprachliche Gestalt der Gedichte konzipierte, waren vielfältig und spezifischer als diese allgemeine Funktion der Veranschaulichung. In der ersten Jahrhunderthälfte fungierte das Lehrgedicht nicht nur als Medium für die Diffusion fachwissenschaftlichen Wissens, sondern auch als Medium für ethische und religionsphilosophische Auseinandersetzungen sowie für die stilisierte Darstellung einer selbstständig vollzogenen moralischen und religiösen Option. Es ist diese letzte Funktion, so suchen die Teile III und IV dieser Arbeit plausibel zu machen, die das Lehrgedicht auch noch für Autoren der Empfindsamkeit und der Klassik erfüllte. Diese späteren Lehrgedichte waren also hinsichtlich ihrer Zielsetzungen von den maßgeblichen Lehrgedichten der Aufklärung nicht durch eine so tiefe Kluft getrennt, wie oft angenommen wird und wie es Annahmen über die Autonomisierung der Literatur im späteren 18. Jahrhundert nahelegen können. Dabei soll nicht bestritten werden, dass viele dieser Lehrgedichte des späteren 18. und des frühen 19. Jahrhunderts sich wesentlich von denen der Frühaufklärung unterscheiden. Aber gerade die offenkundigen Unterschiede betreffen häufig weniger die belehrende oder nicht belehrende Absicht als vielmehr die Textstrukturen und den konkreten Gehalt der ethischen oder religiösen Ausführungen. Die Studie will mithin keinen umfassenden Überblick über das deutschsprachige Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts bieten, sondern ausgehend von bestimmten Fragen und Vermutungen einen Strang der Gattungsentwicklung näher analysieren – einen Strang freilich, dem sich viele und auch besonders prominente Lehrgedichte zuordnen lassen. Bleiben somit einerseits manche Ausprägungen des deutschen Lehrgedichts unberücksichtigt, so bezieht die

6

I Einleitung und Grundlagen

Arbeit andererseits auch englische und französische Gedichte ein. Für einen solchen komparatistischen Zugang spricht bereits der allgemein anerkannte Umstand, dass das Lehrgedicht im 18. Jahrhundert in mehreren europäischen Literaturen eine Blüte erlebte und dass die deutschsprachigen Gedichte englischen und französischen Gattungsvertretern viele Anregungen verdankten. In der germanistischen Forschung zum Lehrgedicht aber ist eine eingehendere Berücksichtigung dieser europäischen Dimension der Gattungsentwicklung bisher weitgehend ein Desiderat geblieben. Darüber hinaus aber erscheint die komparatistische Ausweitung gerade mit Blick auf die spezielleren Fragen und Ziele der Untersuchung als sinnvoll. In den Funktionalisierungen des Lehrgedichts, die hier aufgezeigt werden sollen, artikulieren sich spezifische Auffassungen von Moral und Religion, die nicht zuletzt bedingt sind durch Entwicklungen in der philosophischen Ethik und der Theologie: so etwa durch Vorgänge wie die Subjektivierung und Privatisierung der Religion11 oder die Entstehung neuer Subjekt-, Autonomie- und Pflichtkonzepte in der Ethik.12 Diese Entwicklungen umfassen ihrerseits vielfältige Prozesse des interkulturellen Transfers, besitzen also eine die nationalen Grenzen überschreitende Dimension. Mit diesem wissensgeschichtlichen Hintergrund ist ein hinreichendes Maß an Gemeinsamkeiten gegeben, um eine vergleichende Analyse von deutschen, englischen und französischen Lehrgedichten plausibel und erhellend zu machen.

2 Der Gattungsbegriff ‚Lehrgedicht‘ von der Antike bis zur Frühen Neuzeit: Historische und theoretische Überlegungen 2.1 Vorbemerkungen Der Ausdruck ‚Lehrgedicht‘ hat sich in der deutschsprachigen Forschung als Bezeichnung für eine literarische Gattung etabliert, die durch den Bezug auf einige antike Gründungstexte sowie durch von ihnen abstrahierte Eigenschaften definiert ist. Diese Verwendung des Ausdrucks wird auch in der vorliegenden Arbeit

11 Vgl. dazu knapp zusammenfassend Albrecht Beutel, Aufklärung in Deutschland, Göttingen 2006, S. 376–382. Vgl. ferner Ernst Feil, Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation, Göttingen 1986, S. 16–31, vor allem S. 18–25. Feil beschreibt hier die Herausbildung eines Konzepts der ‚inneren Religion‘ als eine (oder sogar die) maßgebliche Tendenz in der Entwicklung des neuzeitlichen Religionsverständnisses. 12 Für eine umfassende historische Darstellung der Ethik im 17. und 18. Jahrhundert, die einen Schwerpunkt auf neue Konzepte der Autonomie legt, vgl. J. B. Schneewind, The Invention of Autonomy. A History of Modern Moral Philosophy, Cambridge [u. a.] 1998.

2 Der Gattungsbegriff ‚Lehrgedicht‘ von der Antike bis zur Frühen Neuzeit

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übernommen. Als Begründer der Gattung gilt Hesiod mit seiner Theogonie und seinen Erga Kai Hēmerai (‚Werke und Tage‘).13 Weitere antike Gedichte, die üblicherweise zum Korpus der Lehrgedichte in diesem Sinne gezählt werden, sind die Phainomena des Arat, das Gedicht De rerum natura des Lukrez, die Georgica Vergils, die Ars amatoria Ovids und die Astronomica des Manilius. Wenn diese Gedichte als Vertreter einer Gattung zusammengestellt werden, muss offenkundig erläutert werden, welche Eigenschaften es sind, die diese Zusammenstellung rechtfertigen und die somit als konstitutiv für die Gattung gelten können. Die Antworten der Forschung auf diese Frage weisen einige Divergenzen, aber auch beträchtliche Übereinstimmungen auf. Diese Gattungseigenschaften und die um sie geführten Diskussionen sind im Folgenden noch eingehend zu erörtern. Schon hier sei aber hervorgehoben, dass die Eigenschaften, die übereinstimmend als konstitutiv für die Gattung angesehen werden, in erster Linie die Textstruktur und den Inhalt betreffen, nicht die Textfunktion oder die Autorintention. Die Bezeichnung ‚Lehrgedicht‘ legt zwar die Annahme nahe, dass die Gattung primär durch eine bestimmte Textfunktion, nämlich die der Belehrung, definiert sei, aber diese Annahme wird durch die gattungsgeschichtliche Forschung nicht eindeutig gestützt. Zu den textstrukturellen Eigenschaften, die als konstitutiv für die Gattung gelten, gehört aber vor allem eine spezifische gedichtinterne Kommunikationssituation, in der die Sprecherinstanz sich mit einer belehrenden Absicht an einen Adressaten wendet. Aufgrund dieser Eigenschaft der Texte kann die Bezeichnung ‚Lehrgedicht‘ als ein passender Name für die Gattung gelten. Diese Grundzüge des vorausgesetzten Lehrgedichtbegriffs werden hier vorwegnehmend hervorgehoben, weil der Ausdruck ‚Lehrgedicht‘ in der Forschung gelegentlich auch anders gebraucht wird,14 nämlich als Bezeichnung

13 So etwa bei Wilhelm Kühlmann, Wissen als Poesie. Ein Grundriss zu Formen und Funktionen der frühneuzeitlichen Lehrdichtung im deutschen Kulturraum des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin/ Boston 2016, S. 29; Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boëthius. Mit Berücksichtigung ihrer Bedeutung für die Neuzeit. Bd. 1. München 1994, S. 219. 14 Außer Betracht bleiben kann hier zunächst die Bedeutung, mit welcher der Ausdruck von Georg Philipp Harsdörffer in die deutsche Sprache eingeführt wurde, denn Harsdörffers Verwendungsweise ist langfristig nicht prägend geworden. Harsdörffer gebrauchte den Ausdruck im sechsten Teil seiner Frauenzimmer Gesprechspiele (1646) und in Nathan und Jotham (1650/1651) für literarische Texte in Versform oder Prosa, deren Hauptmerkmal eine Zweiteilung in eine parabelhafte Erzählung und eine Auslegung derselben war. (Vgl. L[eif] L[udwig] Albertsen, Das Lehrgedicht. Eine Geschichte der antikisierenden Sachepik in der neueren deutschen Literatur, Aarhus 1967, S. 10–12; Peter Heßelmann, „‚Diese noch der Zeit unbekante Dichtart‘. Zur Poetologie des ‚Lehrgedichts‘ in Georg Philipp Harsdörffers Nathan und Jotham“, in: Hans-Joachim Jakob/ Hermann Korte [Hrsg.], Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005, Frankfurt a.M. 2006, S. 195–211.) Im späteren 17. und noch im frühen 18.

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für Gedichte, die nun in der Tat primär oder sogar ausschließlich durch die Funktion der Belehrung definiert sind. Wo der Ausdruck auf diese Weise verwendet wird, da geht es häufig darum, zu bestreiten, dass bestimmte Texte Lehrgedichte sind. So ist etwa in Studien zu Martin Opitz’ Gedicht Vesuvius, zu Albrecht von Hallers Gedicht Ueber den Ursprung des Uebels und zu französischen Gedichten nach Art von Jacques Delilles Les Trois Règnes de la Nature jeweils die Auffassung vertreten worden, es handle sich entgegen den gängigen Einordnungen nicht um Lehrgedichte, weil die Gedichte nicht auf Belehrung zielen.15 Als alternative Bezeichnungen sind dabei etwa ‚wissenschaftliches Gedicht‘, ‚philosophisches Gedicht‘ oder ‚poésie scientifique‘ vorgeschlagen worden. Der Begriff der Lehre oder Belehrung, von dem die betreffenden Gedichte weggerückt werden, wird dabei in einem engen Sinne verstanden: ‚Lehre‘ steht in den betreffenden Studien für eine besonders schlichte Art der Wissensvermittlung, die weder Erklärungen von Phänomenen noch Problematisierungen von Doktrinen enthält oder die sich auf bloße Informationsweitergabe beschränkt und nicht auf das Handeln der Rezipienten einwirken will.16

Jahrhundert haben einige Autoren den Ausdruck im Sinne Harsdörffers verwendet (vgl. Albertsen, Das Lehrgedicht, S. 12 f.), doch als das Wort um die Mitte des 18. Jahrhunderts größere Verbreitung fand, spielte sein Verständnis desselben, soweit ich sehe, so gut wie keine Rolle (vgl. auch ebd., S. 15 f.). 15 Dass Opitz’ Vesuvius kein Lehrgedicht sei oder dass diese Bezeichnung jedenfalls besser zu vermeiden sei, meinen: Ralph Häfner, Götter im Exil. Frühneuzeitliches Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christlicher Apologetik und philologischer Kritik (ca. 1590–1736), Tübingen 2003, S. 203 (Anm. 106); Ders., „Naturae perdiscere mores. Naturrecht und Naturgesetz in Martin Opitz’ wissenschaftlichem Gedicht ‚Vesuvius‘“, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 19/ 2009, S. 41–50; Claus Zittel, „La terra trema. Unordnung als Thema und Form im frühneuzeitlichen Katastrophengedicht (ausgehend von Martin Opitz: Vesuvius)“, in: Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit, 12/2008, 3/4, S. 385–427, hier S. 398 (mit Anm. 32). Zu Hallers Ueber den Ursprung des Uebels vgl. Sandra Richter, „Metahistorische Aspekte in Albrecht von Hallers Ueber den Ursprung des Uebels“, in: Heinrich Detering/Peer Trilcke (Hrsg.), Geschichtslyrik. Ein Kompendium. Bd. 2. Göttingen 2013, S. 515–546, hier S. 521 f. Zu Delilles Trois Règnes de la Nature vgl. Hugues Marchal, „L’ambassadeur révoqué: poésie scientifique et popularisation des savoirs au XIXe siècle“, in: Romantisme, 144/2009, S. 25–37, hier S. 26 f. 16 Vgl. Zittel, „La terra trema“, S. 398 (mit Anm. 32). Zittel begründet die Auffassung, dass der Vesuvius kein Lehrgedicht sei, unter anderem damit, dass das Gedicht „nicht belehren, sondern erklären will“ (ebd., S. 398). Häfner vermeidet in seiner Analyse von Opitz’ Vesuvius den Ausdruck ‚Lehrgedicht‘ grundsätzlich und beruft sich dabei auf eine Bemerkung von Werner Beierwaltes, die sich im Rahmen einer Erörterung der Dichtungstheorie des Proklos findet (Häfner, Götter im Exil, S. 203 [Anm. 106]). Vgl. Werner Beierwaltes, „Suchen und ‚Denken‘ des Einen als Prinzip der Literatur“, in: Ders., Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte, Frankfurt a.M. 1985, S. 296–318, hier S. 304. Beierwaltes tritt dafür ein, eine der von Proklos unterschiedenen Dichtungsarten nicht als „didaktische“

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Es ist wichtig, diese verschiedenen Verwendungsweisen der Bezeichnung ‚Lehrgedicht‘ auseinanderzuhalten, um Missverständnisse zu vermeiden. Nach dem hier vorausgesetzten Verständnis von ‚Lehrgedicht‘ könnten sich die genannten Gedichte von Opitz, Haller und Delille durchaus als Lehrgedichte erweisen, auch wenn die in den betreffenden Studien vertretenen Deutungen ihrer Absichten akzeptiert werden, diese Absichten also nicht auf eine Belehrung im engen Sinne hinauslaufen. Mit Blick auf die Ausdrücke ‚Belehrung‘, ‚Lehre‘ oder auch ‚didaktisch‘ gilt es ferner zu betonen, dass sie in der Forschung keineswegs immer in diesem engen, sondern manchmal auch in einem weiten Sinne verwendet werden. In Diskussionen über den belehrenden Charakter konkreter Gedichte kann es daher leicht zu einem Aneinander-Vorbeireden kommen. In einem weiteren Sinne wird der Begriff des Lehrhaften offenbar von mediävistischen Forschern gebraucht, wenn sie erklären, dass sich Lehrhaftigkeit als Grundanforderung durch so gut wie alle Gattungen der mittelalterlichen Literatur ziehe.17 Ferner finden sich bei Dichtern und Forschern verschiedener Epochen Varianten der Behauptung, letztlich ziele alle Literatur auf Belehrung.18 Als Beispiel für ein besonders weites Verständnis von ‚didaktisch‘ mag schließlich eine Äußerung Ezra Pounds dienen, der in einem Brief unwirsch erklärte: „It’s all rubbish to pretend that art isn’t Dichtung, sondern als „epistemische Dichtung“ zu bezeichnen, weil diese Dichtung „über das bloß Informative hinausgeht: aus Wissen kommend und Wissen vermittelnd, produktiv und maßgebend für Wissen und Handeln“ (ebd.). Paradigmen dieser epistemischen Dichtung seien Theognis sowie die philosophische Dichtung von Parmenides und Empedokles (vgl. ebd.). Daneben sagt Beierwaltes, dass „dieser Poesie-Typus am ehesten durch das repräsentiert ist, was wir seit dem 17. Jahrhundert mit einem von Georg Philipp Harsdörfer [sic] geprägten Terminus ‚Lehrgedicht‘ nennen“ (ebd.). Wo Sandra Richter die Auffassung vertritt, dass Hallers Ueber den Ursprung des Uebels nicht als Lehrgedicht, sondern eher als philosophisches Gedicht einzuordnen sei, nimmt sie als Kennzeichen philosophischer Gedichte an, dass sie „eine explorative, darstellende, problematisierende, nicht unbedingt aber eine didaktische Absicht haben“ (Richter, „Metahistorische Aspekte in Albrecht von Hallers Ueber den Ursprung des Uebels“, S. 521 f.). 17 Vgl. Christoph Huber, [Art.] „Lehrdichtung. B.II. Mittelalter“, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 5: L–Musi, Darmstadt 2001, Sp. 107–112; Henrike Lähnemann/Sandra Linden, „Was ist lehrhaftes Sprechen? Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.), Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, Berlin/New York 2009, S. 1–10. 18 Vgl. etwa Goethes Aussage: „Alle Poesie soll belehrend seyn, aber unmerklich [. . .].“ (Johann Wolfgang Goethe, „Ueber das Lehrgedicht“, in: FA I, 22, S. 317–318, Zitat S. 317.) Mit Bezug auf antike Konzepte vgl. Katharina Volk, The poetics of Latin didactic. Lucretius, Vergil, Ovid, Manilius, Oxford [u. a.] 2002, S. 36: „[I]t is important to distinguish from didactic poetry proper the notion, widespread in Greek and Roman culture, that all poetry is, or has the potential to be, didactic [. . .].“ Vgl. auch Peter France, „The Poet as Teacher“, in: Keith Aspley/Peter France (Hrsg.), Poetry in France. Metamorphoses of a Muse, Edinburgh 1992, S. 122–138.

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didactic. A revelation is always didactic.“19 Für Pound sind also auch Kunstwerke, die eine ‚Offenbarung‘ bieten, als didaktisch zu bezeichnen. Man kann gewiss die Ansicht vertreten, dass Pound hier die Bedeutung des Worts ‚didaktisch‘ in einem nicht hilfreichen Maße ausdehnt; aber andererseits gibt es bisher keine allgemein anerkannte Grenzziehung, die Belehrung oder Didaxe von anderen Modi der Wissensvermittlung trennt. Die vorliegende Studie sucht diesem Problem zu begegnen, indem sie die betreffenden Ausdrücke nicht ohne genauere Erläuterungen zu verwenden sucht, die Begriffe der Lehre oder des Didaktischen an sich also nicht mit viel Gewicht belastet. In ihrem Gebrauch des Ausdrucks ‚Lehrgedicht‘ schließt diese Studie jedenfalls an die erste der oben unterschiedenen Verwendungsweisen an: Unter ‚Lehrgedicht‘ wird hier eine Gattung im Sinne einer Diskurstradition oder eines Schreibmusters verstanden,20 die bzw. das in erster Linie durch antike Werke wie Lukrez’ De rerum natura und Vergils Georgica repräsentiert wurde. Für den Großteil der Texte des 18. Jahrhunderts, die in der jüngeren Forschung als Lehrgedichte klassifiziert werden und die teilweise auch schon zeitgenössisch so bezeichnet wurden, lässt sich die Annahme plausibel machen, dass sie auf ältere oder neuere Ausprägungen dieses Schreibmusters zurückgreifen und es somit produktiv weiterführen. Dieses Muster ist im Folgenden zu konturieren, indem die einschlägigen Befunde der Forschung zum Lehrgedicht von der Antike bis zur Frühen Neuzeit resümiert und diskutiert werden.

2.2 Zur Geschichte des Begriffs ‚Lehrgedicht‘ Bei dem Versuch, die gemeinsamen, gattungskonstituierenden Merkmale von Gedichten wie Hesiods Theogonie, Arats Phainomena, Lukrez’ De rerum natura und Vergils Georgica herauszupräparieren, helfen die dichtungstheoretischen Abhandlungen der Antike nur wenig weiter. Zwar sind intertextuelle Bezugnahmen in den Gedichten selbst als Indizien dafür gedeutet worden, dass

19 Ezra Pound an Felix E. Schelling, Brief vom 8./9. Juli 1922. In: The Selected Letters of Ezra Pound 1907–1941, D. D. Paige (Hrsg.), London 1971, S. 178–182, Zitat S. 180. Den Hinweis auf diese Bemerkung Pounds verdanke ich: David Duff, „Antididacticism as a Contested Principle in Romantic Aesthetics“, in: Eighteenth-Century Life, 25/2001, S. 252–270, hier S. 253. 20 Den Ausdruck ‚Schreibmuster‘ übernehme ich von Thomas Haye, der ihn ebenfalls zur Erläuterung seines Begriffs von historischen Gattungen gebraucht; vgl. Thomas Haye, Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter. Analyse einer Gattung, Leiden [u. a.] 1996, S. 2. Außer von „Schreibmuster[n]“ spricht Haye auch von „spezifische[n] Schreibtraditionen“ (ebd.). – Näheres zu dem in dieser Studie zugrunde gelegten Gattungsbegriff unten in Abschnitt 5.

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diese Gedichtart von den Dichtern relativ früh als eine distinkte wahrgenommen wurde,21 aber sie wird von den Dichtern nicht mit einer spezifischen Bezeichnung belegt und in dichtungstheoretischen Schriften kaum als eine eigene Art thematisiert.22 Gattungen wurden in diesen Abhandlungen häufig nach dem Kriterium des Metrums unterschieden, so dass die überwiegend in Hexametern verfassten Gedichte, die man heute als Lehrgedichte auffasst, den Epen zugeschlagen wurden.23 Über Aristoteles wird zwar oft gesagt, er habe in seiner Poetik das Lehrgedicht aus der Dichtung ausgeschlossen, als er deklarierte: „Homer und Empedokles haben [. . .] außer dem Versmaß nichts Gemeinsames; daher wäre es richtig, den einen als Dichter zu bezeichnen, den anderen aber eher als Naturforscher denn als Dichter.“24 Aus dem

21 Bernd Effe zufolge wurde das Lehrgedicht in der Antike zwar „von der Theorie ignoriert bzw. ausdrücklich aus dem Bereich der Dichtung eliminiert“, „blühte“ aber in der Dichtungspraxis (Bernd Effe, Dichtung und Lehre. Untersuchungen zur Typologie des antiken Lehrgedichts, München 1977, S. 19), wobei die Autoren „ein ausgeprägtes Gattungsbewußtsein“ bzw. „so etwas wie ein literarisches Gruppenbewußtsein“ gezeigt hätten (ebd., S. 21). Zur Begründung verweist Effe hier summarisch auf intertextuelle Bezugnahmen auf frühere Lehrgedichte bei Arat, Nikander, Lukrez, Vergil, Manilius und anderen, die in den folgenden Einzelinterpretationen näher beleuchtet werden sollen (vgl. ebd., S. 21 f. [Anm. 33]). Haye hat die Kritik geäußert, Effe habe seine These vom ‚ausgeprägten Gattungsbewusstsein‘ nicht „[m]it Beispielen [. . .] belegt“ (Haye, Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter, S. 23). Insgesamt scheint mir Effes These über das Gattungsbewusstsein der antiken Lehrdichter aber vielfach Zustimmung zu finden, so etwa explizit bei Christos Fakas, Der hellenistische Hesiod. Arats Phainomena und die Tradition der antiken Lehrepik, Wiesbaden 2001, S. 3. 22 Im 2. Jahrhundert nach Christus etwa äußert sich Galen häufig über Werke der Lehrdichtung – einer Dichtungsart, die er sehr schätzt –, scheint für sie aber „keinen spezifischen Gattungsterminus zu kennen“. Vgl. Heinrich von Staden, „Gattung und Gedächtnis: Galen über Wahrheit und Lehrdichtung“, in: Wolfgang Kullmann/Jochen Althoff/Markus Asper (Hrsg.), Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike, Tübingen 1998, S. 65–94, Zitat S. 71. Zu Galens Wertschätzung der Lehrdichtung vgl. ebd., S. 75–78. 23 Vgl. Volk, The Poetics of Latin Didactic, S. 27, 29; von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boëthius, Bd. 1., S. 218. – Noch Martin Opitz rechnet Vergils Georgica und das Gedicht des Lukrez zu derselben Dichtungsart wie die Aeneis und die Ilias, nämlich zu den „Heroisch[en] getichte[n]“. Vgl. Martin Opitz, Buch von der Deutschen Poeterey [1624]. Studienausgabe. Herbert Jaumann (Hrsg.), Stuttgart 2002, S. 26–30, Zitat S. 26. – In der deutschsprachigen Forschung werden für umfangreiche Lehrgedichte gelegentlich auch die Ausdrücke ‚episches Lehrgedicht‘ und ‚Lehrepik‘ verwendet; vgl. etwa Thomas Reiser, Mythologie und Alchemie in der Lehrepik des frühen 17. Jahrhunderts. Die „Chryseidos Libri IIII“ des Straßburger Dichterarztes Johannes Nicolaus Furichius (1602–1633), Berlin [u. a.] 2011; Georg Roellenbleck, Das epische Lehrgedicht Italiens im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des Humanismus und der Renaissance, München 1975. 24 Aristoteles, Poetik. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994, S. 7 (1447b).

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unmittelbaren Kontext des Satzes geht hervor, dass es der nicht-mimetische Charakter der Werke des Empedokles ist, der sie für Aristoteles von der Dichtung trennt.25 Doch darüber hinaus ordnet Aristoteles diese Werke hier nicht einer besonderen Gattung zu.26 Als die ersten dichtungstheoretischen Schriften, in denen ausdrücklich das Lehrgedicht oder die Lehrdichtung als Gattung erwähnt wird, gelten eine im sogenannten Tractatus Coslinianus überlieferte Schrift, die vermutlich aus hellenistischer Zeit stammt, sowie der Kommentar des Servius zu Vergils Georgica und die Ars Grammatica des Diomedes. Der Tractatus Coslinianus teilt – gegen die aristotelische Auffassung – alle Dichtung in mimetische und nicht-mimetische Dichtung und unterscheidet innerhalb der nicht-mimetischen Dichtung zwei Unterarten, von denen eine die ‚erzieherische‘ Dichtung ist.27 Für die folgenden Jahrhunderte wichtiger waren die Bemerkungen bei Servius und Diomedes. Servius erklärte in seinem Kommentar zum Anfang der Georgica, diese gehörten zu den „libri didascalici“. Kennzeichnend für sie sei, dass sie an jemanden geschrieben werden, da die Lehre die Personen des Lehrers und des Schülers erfordere; so schreibe Vergil an Maecenas, Hesiod an Perses, Lukrez an Memmius.28 Während Servius also die libri didascalici nur isoliert charakterisiert und nicht zu anderen Dichtungsarten ins Verhältnis setzt, taucht in der Ars Grammatica des Diomedes die „species didascalice“ als eine Art innerhalb einer Taxonomie auf. Diomedes betrachtet das „genus enarrativum“ als eine von drei nach dem Redekriterium differenzierten Hauptgattungen und unterscheidet innerhalb dieses genus drei Arten, von denen eine die species didascalice ist. Sie umfasse „philosophia Empedoclis et Lucreti, item astrologia, ut phaenomena Aratu et Ciceronis, et georgica Vergilii et his similia.“29 Diese knappen Aussagen über die didaktische Gattung wurden „durch das lateinische Mittelalter hindurch in den bekannten Lexika, Wörterbüchern, Grammatiken und Dichtungslehren weitertransportiert“, wobei man sowohl die Bemerkungen über die charakteristischen Merkmale der Gattung (der Dichter 25 Vgl. Bernhard Fabian, „Das Lehrgedicht als Problem der Poetik“, in: Hans Robert Jauß (Hrsg.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München 1968, S. 67–89, hier S. 70; Gerald F. Else, Aristotle’s Poetics: The Argument, Leiden 1957, S. 50–53. 26 Vgl. auch Volk, The Poetics of Latin Didactic, S. 30. 27 Vgl. ebd., S. 31 f.; von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boëthius, Bd. 1, S. 219. 28 Vgl. Servii grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii. Georg Thilo/Hermann Hagen (Hrsg.). Bd. III/1: In Vergilii Bucolica et Georgica commentarii. Georg Thilo (Hrsg.). Leipzig 1887, S. 129. 29 Vgl. Diomedis Artis grammaticae Libri III. In: Grammatici latini. Heinrich Keil (Hrsg.). Bd. I. Leipzig 1857, S. 297–529, hier S. 482 f.

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spricht in eigener Person; Anrede einer Schüler- durch eine Lehrerfigur) als auch die modellhaften Autoren und Texte übernahm.30 Darüber hinaus widmeten die mittelalterlichen Dichtungstheorien dem Lehrgedicht kaum eingehende Erörterungen, obwohl die so bestimmte Gattung in einigen Epochen des Mittelalters intensiv gepflegt wurde. In ähnlicher Weise kann man für die Zeit von Humanismus und Renaissance feststellen, dass die umfangreiche Produktion an Lehrgedichten, die auch zeitgenössisch hochgelobte Werke namhafter Dichter einschloss, nur in geringem Maße durch dichtungstheoretische Reflexionen begleitet wurde.31 In der Forschung besteht denn auch ein weitreichender Konsens darüber, dass die Lehrdichter des Mittelalters wie der Renaissance sich in erster Linie an den antiken Modelltexten orientierten, nicht an Dichtungstheorien.32 Es ist noch nicht hinreichend geklärt, in welchem Maße das auch noch für die Verfasser von Lehrgedichten im 18. Jahrhundert gilt. Für diese Epoche haben einige Forscher eine starke Orientierung der lehrdichterischen Praxis an der Dichtungstheorie allgemein und speziell an Theorien des Lehrgedichts angenommen. Aber zu einer intensiven theoretischen Beschäftigung mit dem Lehrgedicht kommt es erst in den mittleren Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, als die einflussreichen Lehrgedichte Hallers, Popes und Voltaires großenteils schon erschienen sind. Es ist also denkbar oder sogar wahrscheinlich, dass auch diese Autoren ihr Verständnis der Gattung Lehrgedicht in erster Linie aus ihrer Bekanntschaft mit antiken und jüngeren Vertretern dieser Gattung gewannen, nicht aus Definitionen und Erörterungen in dichtungstheoretischen Abhandlungen.

30 Vgl. Haye, Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter, S. 39–44, vor allem S. 40; dort auch das Zitat. 31 Vgl. etwa: Fokke Akkerman, „Auf der Suche nach dem Lehrgedicht in einigen neulateinischen Poetiken“, in: Stella P. Revard/Fidel Rädle/Mario di Cesare (Hrsg.), Acta Conventus NeoLatini Guelpherbytani. Proceedings of the Sixth International congress of Neo-Latin Studies 1985, Binghamton (NY) 1988, S. 409–417. – Haye hat einen wiederkehrenden Forschungsbefund wie folgt resümiert: „Sowohl die Forschung zum antiken Lehrgedicht als auch jene zum Lehrgedicht der Renaissance und Frühen Neuzeit hat beklagt, daß der breiten Masse lateinischer Lehrgedichte nur wenige, zudem schwer verwertbare zeitgenössische Äußerungen gegenüberstehen, die dem Lehrgedicht ein allgemein literaturtheoretisches, speziell poetologisches oder ausdrücklich texttypologisches Fundament bereiten könnten.“ (Haye, Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter, S. 39) 32 Vgl. Haye, Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter, S. 2, 39; Reiser, Mythologie und Alchemie in der Lehrepik des frühen 17. Jahrhunderts, S. 3; Walther Ludwig, „Neulateinische Lehrgedichte und Vergils Georgica“, in: Dennis Howard Green/L. Peter Johnson/Dieter Wuttke (Hrsg.), From Wolfram and Petrarch to Goethe and Grass. Studies in Literature in Honour of Leonard Forster, Baden-Baden 1982, S. 151–180, hier S. 151.

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2.3 Textstruktur und Inhalte des Lehrgedichts Thomas Haye hat in seiner grundlegenden Studie über das lateinische Lehrgedicht des Mittelalters einen „texttypologische[n] Steckbrief“ zusammengestellt, der ihm als „heuristisches Arbeitsinstrument“ dient.33 Dieses Gattungsprofil basiert auf älteren Untersuchungen zum Lehrgedicht verschiedener Epochen und lautet wie folgt: Lehrgedichte sind vorwiegend präsentische, indikativische Texte in Versen, die primär und unmittelbar auf die systematische Vermittlung von reproduzierbarem Wissen abzielen, sie beruhen auf einer fiktiven Kommunikationssituation zwischen dem Lehrer, der in der ersten Person spricht, und dem direkt angesprochenen, weitgehend passiven Schüler. Die Verbindung der beiden Personen erfolgt durch eine gemeinsame Objektreferenz. Lehrgedichte wollen nach Konzeption, Umfang und poetischem Arsenal als eigenständige Gedichte ernst genommen werden; sie werden durch ein Prooimion eingeleitet und oftmals auch durch einen Epilog beendet; es gibt keine Strukturierung von Ort und Zeit, somit auch keine Handlung; der Inhalt ist zumeist einschlägigen Prosa-Vorlagen entnommen.34

Dieser „Steckbrief“ versammelt Eigenschaften unterschiedlicher Art. Einige von ihnen sind am ehesten als formale und strukturelle Texteigenschaften einzuordnen: so die Versform, das Vorherrschen von Präsens und Indikativ, Proömium und Epilog und schließlich die textinterne, fiktive Kommunikationssituation von Lehrer und Schüler. Das Fehlen einer erzählten Handlung kann man ebenfalls als strukturelle oder auch als inhaltliche Eigenschaft begreifen. Daneben gibt es Eigenschaften, die den Zweck und Anspruch der Texte betreffen: Lehrgedichte zielen „primär und unmittelbar auf die systematische Vermittlung von reproduzierbarem Wissen ab[]“ und wollen „nach Konzeption, Umfang und poetischem Arsenal als eigenständige Gedichte ernst genommen werden“. Diese Bestimmungen von Ziel und Anspruch können je nach vorausgesetzter Interpretationskonzeption auf die Autorintention oder auf Textfunktionen bezogen werden. Schließlich enthält Hayes ‚Steckbrief‘ eine intertextuelle Eigenschaft, nämlich den inhaltlichen Bezug auf Prosa-Vorlagen. In ihrer Untersuchung zum lateinischen Lehrgedicht der Antike hat Katharina Volk eine Definition der Gattung vorgestellt, die sich auf weniger Eigenschaften beschränkt als das Suchprofil Hayes. Die vier von ihr als zentral angesehenen Eigenschaften sind erstens eine explizite didaktische Absicht, zweitens eine innertextuelle Lehrer-Schüler-Beziehung, drittens ein beträchtlicher Grad an

33 Haye, Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter, S. 38. 34 Ebd., S. 38. – Zu den Untersuchungen, auf die sich Haye bei der Erstellung dieses Profils stützt, vgl. ebd. (Anm. 101).

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‚poetischer Bewusstheit‘ und viertens das Vorliegen ‚poetischer Simultaneität‘.35 Dabei gehören die ersten zwei Merkmale eng zusammen, denn mit der expliziten didaktischen Absicht meint Volk ausdrücklich nicht (oder nicht primär) die Absicht des Autors, sondern die der Sprecherinstanz des Gedichts, die in der Rolle eines Lehrenden auftrete und sich so an einen oder mehrere Adressaten wende.36 Zugleich präsentiere der Sprecher im Lehrgedicht aber auch sich selbst als Dichter und das von ihm Mitgeteilte als Dichtung; diesen Zug der Gedichte bezeichnet Volk als „poetic self-consciousness“.37 Die ‚poetische Simultaneität‘ als viertes Merkmal ist eng mit den drei anderen verknüpft: Gemeint ist damit, dass gliedernde Bemerkungen ein zeitliches Fortschreiten der Belehrung markieren, das mit der Entstehung des Gedichts gleichgesetzt wird.38 Die deutlichste Überschneidung zwischen den von Haye und Volk erstellten Gattungsprofilen bildet die Aussage, dass für Lehrgedichte eine textinterne Kommunikationssituation konstitutiv sei, in der eine Sprecherinstanz einen oder mehrere Adressaten anspricht und dabei die Absicht äußert, den oder die Adressaten über einen bestimmten Gegenstand zu belehren. Dies ist auch die Eigenschaft, die in Untersuchungen zum antiken, mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Lehrgedicht am häufigsten als definierendes Merkmal der Gattung genannt wird.39 Zugleich handelt es sich, wie gesehen, um ein Merkmal 35 Vgl. Volk, The Poetics of Latin Didactic, S. 36–40. 36 Vgl. ebd., S. 37: „It is important to note that the displayed didactic intent is not in the first place that of the actual author who wishes to instruct his audience – an intention that may underlie many works of poetry and that need not be made explicit [. . .]. Rather, the poem’s didactic intent is part of what might be called a little intra-textual drama, in which the speaker of the text teaches a student or students by means of the poem itself.“ – Während hier die Formulierung „in the first place“ noch den Eindruck erwecken kann, dass Volk zumindest an nachgeordneter Position auch Annahmen über die didaktische Autorintention in ihre Gattungsdefinition aufnehmen möchte, macht sie etwas später deutlich, dass (und warum) sie die Frage nach Autorintentionen weitestgehend ausblenden will: „[. . .] [T]he actual intentions of authors (Did Vergil really want to teach farmers?) and reactions of readers [. . .] are extremely hard to assess and [. . .] my focus is instead on the purely intra-textual aspects of didactic poetry.“ (Ebd., S. 38) Vgl. ferner ebd., S. 4, Anm. 6: „While I may, on occasion, not resist the temptation to speculate about the relationship between author and reader, I shall always clearly mark these forays into extra-textual territory.“ 37 Vgl. ebd., S. 39. 38 Vgl. ebd., S. 39 f. 39 Vgl. ebd., S. 36–39; Haye, Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter, S. 38; Fakas, Der hellenistische Hesiod, S. 85 f.; Egert Pöhlmann, „Charakteristika des römischen Lehrgedichts“, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Hrsg. von Hildegard Temporini. I, Bd. 3: Von den Anfängen Roms bis zum Ausgang der Republik, Berlin/New York 1973, S. 813–901, vor allem S. 836 f., 848 f., 855; Alexander Dalzell, The Criticism of Didactic Poetry. Essays on Lucretius, Virgil, and Ovid, Toronto [u. a.] 1996, S. 7, 25 f.; Marietta Horster/Christiane Reitz, „Dichtung

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von Lehrgedichten, auf das schon Servius hingewiesen hat. Die gedichtinterne Kommunikationssituation ist auch als „die elementare Handlung jedes Lehrgedichts“40 oder als der ‚didaktische Plot‘41 bezeichnet worden. Zu betonen ist dabei, dass – was etwa von Servius nicht erwähnt wird – der Adressat innerhalb des Lehrgedichts nicht durchgehend derselbe sein muss. Vergils Sprecher in den Georgica wendet sich im Eingangsteil jedes Buchs an Maecenas, dazwischen aber über weite Strecken auch an eine unbestimmte Gruppe namenloser ‚Landwirte‘ oder ‚Männer‘.42 Die Gestaltung der Sprecher- und AdressatenInstanzen in Vergils Georgica und anderen antiken Lehrgedichten ist in der Forschung intensiv untersucht worden.43 Als den Zweck oder die Leistung dieser Ausgestaltung der textinternen Kommunikationssituation haben einige Forscher die Modellierung der Rezeption des Lehrgedichts betrachtet.44 In den einschlägigen Studien wird allerdings kaum einmal näher erörtert, was eine Beziehung zwischen Sprecher und Adressat zu einer ‚Lehrer-Schüler-

und Lehre“, in: Dies. (Hrsg.), Wissensvermittlung in dichterischer Gestalt, Stuttgart 2005, S. 7–14, hier S. 9; Ruth Monreal, Flora Neolatina. Die „Hortorum libri IV“ von René Rapin S. J. und die „Plantarum libri VI“ von Abraham Cowley. Zwei lateinische Dichtungen des 17. Jahrhunderts, Berlin/New York 2010, S. 5. 40 Fakas, Der hellenistische Hesiod, S. 86. Fakas spricht auch von einem „Unterweisungsdrama“ (ebd., S. 85, 91). 41 Vgl. Don Fowler, „The Didactic Plot“, in: Mary Depew/Dirk Obbink (Hrsg.), Matrices of Genre. Authors, Canons, and Society, Cambridge (MA)/London 2000, S. 205–219, 299–302 (Anm.). 42 Vgl. Vergil, Georgica, I. 101 und II. 36 („agricolae“), I. 210 („viri“). Vgl. auch Richard Rutherford, „Authorial Rhetoric in Virgil’s Georgics“, in: Doreen Innes/Harry Hine/Christopher Pelling (Hrsg.), Ethics and Rhetoric. Classical Essays for Donald Russell on his Seventy-Fifth Birthday, Oxford 1995, S. 19–29, hier S. 19 f. 43 Zur gedichtinternen Lehrer-Schüler-Konstellation bei Lukrez, Vergil und Ovid vgl. die im Register unter „teacher-student-constellation“ verzeichneten Abschnitte in Volk, The Poetics of Latin Didactic. Vgl. ferner Alessandro Schiesaro/Phillip Mitsis/Jenny Strauss Clay (Hrsg.), Mega nepios: il destinatario nell’epos didascalico, Pisa 1993. Der Sammelband enthält Untersuchungen zu den Adressatenfiguren in Lehrgedichten u. a. von Arat, Lukrez, Vergil, Ovid und Manilius. Zu Sprecher und Adressaten bei Arat vgl. auch Fakas, Der hellenistische Hesiod, S. 85–148. 44 Vgl. Alessandro Schiesaro, „Il destinatario discreto. Funzioni didascaliche et progetto culturale nelle Georgiche“, in: Schiesaro/Mitsis/Clay (Hrsg.), Mega nepios, S. 129–147, hier S. 129 f. Vgl. auch Fakas, Der hellenistische Hesiod, S. 86. Fakas verweist hier unter anderem auf Wilfried Barner, „Neuphilologische Rezeptionsforschung und die Möglichkeiten der klassischen Philologie“, in: Poetica, 9/1977, S. 499–521, hier S. 509. Barner erörtert hier allgemein ‚innertextliche Rezeptionsvorprägungen‘ in antiken Texten, erwähnt aber nicht speziell die didaktische Poesie und spricht auch nicht (wie Fakas ihn zitiert) von ‚didaktischen Gesten‘, sondern von ‚dialogischen Gesten‘. Dennoch dürfte die gedichtinterne Kommunikationssituation in Lehrgedichten zu dem von Barner gemeinten Phänomenbereich gehören.

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Beziehung‘ macht beziehungsweise was eine ‚belehrende Absicht‘ zu einer solchen macht. Es muss sich offensichtlich um etwas Spezielleres als um irgendeine Mitteilungsabsicht handeln: Wenn der Sprecher dem Adressaten von seinem Liebeskummer berichtet, soll das zweifellos nicht als Ausprägung der lehrgedichtspezifischen Kommunikationssituation gelten. Die erforderliche Einschränkung kann etwa so formuliert werden: Die Gegenstände, über die der Sprecher dem Adressaten etwas mitteilen will, müssen einen allgemeinen, nicht oder nicht primär persönlichen Charakter haben; häufig geht es um Naturerscheinungen, um Richtlinien für praktische Tätigkeiten oder um philosophische Fragen. Genau genommen, handelt es sich bei dieser Eigenschaft also eher um die Verbindung zweier Eigenschaften, von denen eine struktureller oder formaler Art ist (explizit realisierte Beziehung Sprecher – Adressat), die andere eher inhaltlicher oder thematischer. Die Schwierigkeit, trennscharf anzugeben, was eine Beziehung zwischen Sprecher und Adressat zu einer LehrerSchüler-Beziehung macht, zeigt bereits an, wie Grenzfälle des Lehrgedichts beschaffen sein könnten: Es ist offenkundig denkbar, dass die Sprecherinstanz in ihren an den Adressaten gerichteten Ausführungen allgemeine Erörterungen mit persönlichen Stellungnahmen oder Erfahrungsberichten mischt. Weitere strukturelle und formale Eigenschaften, die in Definitionsvorschlägen als charakteristisch oder konstitutiv für das Lehrgedicht genannt worden sind, betreffen die Art und Weise, wie die beschriebene interne Kommunikationssituation realisiert wird. Zu diesen Eigenschaften wird meist auch das Vorhandensein eines Proömiums gerechnet.45 Im Proömium benennt der Sprecher üblicherweise sein Thema und spricht den Adressaten an; daneben wird hier zumindest in antiken Lehrgedichten meist „eine für den Stoff zuständige Gottheit angerufen“.46 Im weiteren Verlauf des Gedichts wird „mit dem besonderen Adressaten bzw. mit dem allgemeinen Leser durch Anrede, Aufmunterung, Ermahnung ein gesprächsartiger Kontakt gesucht.“47 Diese Verfahren, den Kontakt zum Adressaten aufrechtzuerhalten, überschneiden sich mit einem weiteren Bündel textueller Merkmale, die als charakteristisch für Lehrgedichte hervorgehoben worden sind: Lehrgedichte weisen demnach typischerweise eine deutlich markierte Strukturierung auf, und zwar auf der Makro- wie auf der Mikroebene. Dazu gehört zunächst, dass sie häufig in

45 Vgl. für das antike römische Lehrgedicht: von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boëthius. Bd. 1, S. 222. Für das mittellateinische Lehrgedicht: Haye, Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter, S. 38. 46 Von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boëthius. Bd. 1, S. 222. 47 Ebd.

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Bücher oder Kapitel unterteilt sind.48 Das Proömium nennt in vielen Fällen nicht nur das übergeordnete Thema des Gedichts, sondern auch verschiedene Teilthemen, und zwar in der Reihenfolge, in der sie im Folgenden behandelt werden; dies kann am Anfang der folgenden Bücher oder Gedichtteile wiederholt werden.49 Schließlich wird innerhalb der Gedichtteile der Beginn eines neuen Sinnabschnitts oft ausdrücklich markiert, wobei die Ausdrücke, die in den antiken Mustertexten Vergils und Ovids zu diesem Zweck gebraucht werden, in zahlreichen späteren Gedichten wieder auftauchen.50 Häufig handelt es sich hier um Temporaladverbien, im Lateinischen etwa „nunc“, oft auch um zweiteilige Konstruktionen, in denen sowohl das soeben behandelte als auch das im Folgenden aufgenommene Thema benannt werden (etwa „hactenus“ und „nunc“). Es fällt auf, dass die formalen Eigenschaften, die als konstitutiv oder charakteristisch für das Lehrgedicht genannt werden, größtenteils eher die Rahmung der eigentlichen belehrenden Ausführungen betreffen als diesen Lehrvortrag selbst. Auf die Form des Letzteren beziehen sich etwa in Hayes umfangreichem Profil des Lehrgedichts nur die negativ oder sehr allgemein formulierten Feststellungen, dass in Lehrgedichten Präsens und Indikativ vorherrschen und dass es „keine Strukturierung von Ort und Zeit, somit auch keine Handlung“ gebe.51 Dass es schwer fällt, hier präzisere positive Bestimmungen zu treffen, dürfte mit der thematischen Heterogenität der Lehrgedichte zusammenhängen, die sich schon beim Blick auf einige der bekanntesten, als Paradigmen geltenden Gedichte zeigt: In einem Gedicht wie Lukrez’ De rerum natura, das von Naturerscheinungen und den ihnen zugrunde liegenden Gesetzen handelt, kann man etwa die über weite Strecken zu beobachtende Dominanz von argumentativen und erklärenden Sprechhandlungen als charakteristisch hervorheben.52 Aber auf Vergils Georgica träfe eine solche Bestimmung nicht zu; dafür findet sich in diesem Gedicht, dessen Sprecher den Adressaten vor allem über die richtige Durchführung praktischer Tätigkeiten belehrt, eine große Zahl imperativischer Formulierungen. Selbst die

48 Haye hat beim mittellateinischen Lehrgedicht „einen hohen Grad der Strukturierung in einzelne Bücher, Kapitel und Paragraphen“ konstatiert. Vgl. Haye, Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter, S. 169. 49 Vgl. ebd., S. 174–180. 50 Vgl., auch zum Folgenden: ebd., S. 180–184. 51 Vgl. ebd., S. 38. 52 Lukrez’ Verfahren der Argumentation haben in der Forschung denn auch große Aufmerksamkeit gefunden. Vgl. etwa David West, „Lucretius’ Methods of Arguments (3.417–614)“, in: The Classical Quarterly, 25/1975, 1, S. 94–116; Carl Joachim Classen, „Poetry and Rhetoric in Lucretius“ [1968], in: Ders. (Hrsg.), Probleme der Lukrezforschung, Hildesheim [u. a.] 1986, S. 331–372; K[arl] Büchner, „Über den Aufbau von Beweisreihen im Lukrez“ [1937], in: ebd., S. 173–187.

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negative Bestimmung, dass die belehrenden Ausführungen – abgesehen von als Exkursen markierten Epyllien – „keine Handlung“ aufweisen oder nicht narrativ strukturiert sind, ist problematisch: Die ausführliche Schilderung der Kulturentstehung im fünften Buch von De rerum natura ist narrativ strukturiert und zeigt eine Handlung53; es wäre wenig überzeugend, wenn man deswegen sagen müsste, dass das Gedicht hier zwischenzeitlich den Lehrgedichtcharakter verliert.

2.4 Zwecke: Belehrung, Artistik, Gegenstandsnobilitierung Die Merkmale, über deren konstitutiven Status für das Lehrgedicht die größte Einigkeit besteht und die sich in der bisherigen Forschung am meisten ‚bewährt‘ haben, sind also Eigenschaften der Textstruktur und – in zweiter Linie – des Inhalts. Strittig ist hingegen, ob es als definierendes Merkmal von Lehrgedichten gelten sollte, dass die Gedichte primär dem Zweck der Belehrung dienen, dass die Belehrung also die vorrangige Autorintention oder Textfunktion ist und somit der didaktischen inneren Kommunikationssituation gewissermaßen eine didaktische äußere Kommunikationssituation entspricht. Wie gesehen, nimmt Haye eine solche Bestimmung in das ‚Suchprofil‘ seiner Untersuchung des mittellateinischen Lehrgedichts auf, während Volk in der Gattungsdefinition, die sie ihrer Untersuchung des antiken lateinischen Lehrgedichts voranstellt, ausdrücklich die Frage nach den Autorintentionen offen lässt.54 Damit geht sie einen anderen Weg als Bernd Effe, der eben diese Frage zum Ansatzpunkt für eine Typologie des antiken Lehrgedichts gemacht hatte.55 Effe betrachtete also nicht eine Intention, eben die der Belehrung, als konstitutives Merkmal der Gattung, sondern beschrieb drei Grundtypen des Lehrgedichts, die durch spezifische Autorabsichten definiert sind. Diese Typologie ist weiterhin von Interesse und sei daher knapp in Erinnerung gerufen. Der erste Typ des Lehrgedichts in Effes Darstellung, der ihm zufolge auch historisch als erster auftritt, ist das ‚transparente‘ Lehrgedicht, das durch die Phainomena des hellenistischen Dichters Arat von Soloi, aber auch durch Vergils Georgica repräsentiert werde.56 Arats Sprecher erklärt es im Gedicht zu seiner Absicht, Bauern und Seeleute über die Bedeutung von Sternzeichen und

53 Vgl. Lukrez, De rerum natura, Buch V, Verse 925–1457. 54 Vgl. Volk, The Poetics of Latin Didactic, S. 37 f. 55 Vgl. Effe, Dichtung und Lehre. 56 Vgl. ebd., S. 40–56 (zu Arat), 80–97 (zu Vergils Georgica). Zu der Zuordnung der Georgica zum ‚transparenten‘, durch Arat vertretenen Typ sowie zu Bezugnahmen auf Arat in Vergils Gedicht vgl. ebd., S. 89, 93–97.

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Wetterzeichen zu belehren, während Vergils Sprecher angibt, Landwirte über das richtige Vorgehen bei Ackerbau und Viehzucht belehren zu wollen. Doch verschiedene Eigenschaften der Gedichte zeigen nach Effe, dass dies nicht die wirklichen Absichten der Dichter sind. Sie wollen eine Lehre vermitteln, aber eine „weltanschaulich-philosophische“ Lehre, auf die hin sie ihre Ausführungen über astronomische und meteorologische Phänomene beziehungsweise über landwirtschaftliche Tätigkeiten ‚transparent‘ machen.57 Diese ‚weltanschauliche‘ Lehre wird in den Gedichten, etwa in Proömien oder Exkursen, auch explizit formuliert und zu dem vordergründigen Hauptinhalt der Gedichte in Beziehung gesetzt. Beim zweiten Typ, dem ‚formalen‘ Lehrgedicht, gibt es ebenfalls eine Diskrepanz zwischen der deklarierten Absicht des Sprechers und der eigentlichen Absicht des Dichters.58 Der Sprecher im Gedicht erklärt auch hier, seine Adressaten über ein bestimmtes Sachgebiet belehren zu wollen. Doch die Sprödigkeit, Abseitigkeit oder Banalität dieses Gegenstands in Verbindung mit der raffiniert-kunstvollen Formgebung des Gedichts geben zu erkennen, dass es dem Dichter eigentlich um die Vorführung seiner sprachlichen Virtuosität geht. Als Repräsentanten dieses Typs betrachtet Effe die Gedichte des Nikander, die von Gifttieren beziehungsweise von Giften und ihren Gegengiften handeln. Der dritte Typ schließlich ist das ‚sachbezogene‘ Lehrgedicht.59 In ihm gibt die erklärte Absicht des Gedichtsprechers direkt Aufschluss über die Absichten des Dichters, „Stoff und Thema“ fallen „als Objekt tatsächlicher und direkter Didaktik zusammen[]“.60 Als Vertreter dieses Typs deutet Effe das Gedicht des Lukrez, der sich mit dieser „konkret-lehrhaften, einschichtigen Direktheit“61 von den hellenistischen Ausprägungen des Lehrgedichts abgegrenzt und in der Geschichte der Gattung einen „Neubeginn“62 herbeigeführt habe.63

57 Vgl. etwa ebd., S. 46: „Die Beschreibung der Himmels- und Wetterzeichen [. . .] ist ‚transparent‘ für das vom Autor während und über dieser Beschreibung etablierte weltanschaulichphilosophische Thema.“ 58 Vgl. zu diesem Typ: ebd., S. 56–65. 59 Vgl. zu diesem Typ: ebd., S. 66–79. 60 Ebd., S. 78. 61 Ebd., S. 66. 62 Ebd., S. 79. 63 Neben diesen drei Grundtypen behandelt Effe als eine ‚Sonderform‘ auch ‚spielerischparodistische Formen der Lehrdichtung‘. Als einen Vertreter dieser Form nennt Effe die Ars amatoria und die Remedia amoris des Ovid, der mit diesen Gedichten dem „thematisch ernsten Lehrgedicht“ ein „spielerisch-witziges Pendant“ habe an die Seite stellen wollen. Vgl. ebd., S. 239; zu den ‚spielerisch-parodistischen Formen der Lehrdichtung‘ insgesamt vgl. ebd., S. 234–248, zu Ovid S. 238–248. – Auch Manfred Fuhrmann hat Ovids Ars amatoria als Beispiel für die Variante des „spielerischen, parodistischen oder ironischen Lehrgedicht[s]“ angeführt;

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Von Rezensenten wurde Effes Typologie als ein hilfreiches Instrumentarium zur Analyse einzelner Lehrgedichte gewürdigt.64 Diese Einschätzung scheint sich trotz kritischer Einwände gegen einzelne Aspekte von Effes Ansatz durchgesetzt zu haben.65 Auch ein Abgleich mit jüngeren Forschungsarbeiten erlaubt die Feststellung, dass Effe drei Verknüpfungen von textuellen Verfahren und Autorabsichten unterschieden hat, die sich zumindest für die grobe Charakterisierung von Lehrgedichten verschiedener Epochen von der Antike bis zur Frühen Neuzeit eignen. Dass es Lehrgedichte gibt, deren Verfasser auf ‚direkte‘ Weise über das im Gedicht zentrale Thema belehren wollen, dürfte am wenigsten strittig sein. Was Lukrez betrifft, so stimmt Effes Deutung zumindest hinsichtlich der Grundrichtung mit einem breiten Konsens innerhalb der Forschung überein, und ein großer Teil der von Haye untersuchten mittellateinischen Lehrgedichte, von denen nicht wenige für den Unterricht in Schule oder Universität verfasst wurden,66 entspricht offenbar dieser ‚direkten‘ Ausprägung des Lehrgedichts. Dass

vgl. Hans Blumenberg [u. a.], „Zweite Diskussion: Die poetische Illegitimität der Lehrdichtung“, in: Hans Robert Jauß (Hrsg.), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, München 1968, S. 549–558, hier S. 551. 64 Egert Pöhlmann, „[Rez.] Bernd Effe: Dichtung und Lehre. Untersuchungen zur Typologie des antiken Lehrgedichts (Zetemata. 69). München: C.H. Beck, 1977“, in: Poetica, 10/1977, S. 514–522, hier S. 517: „Ungeachtet dieser Methodenprobleme erweist sich Vfs. Typologie als ein geeignetes Mittel, die Besonderheiten der einzelnen Lehrgedichte herauszustellen.“ Vgl. ferner E. J. Kenney, „The Typology of Didactic. Bernd Effe: Dichtung und Lehre. Untersuchungen zur Typologie des antiken Lehrgedichts (Zetemata. 69). München: C.H. Beck, 1977“, in: The Classical Review, 29/1979, 1, S. 71–73, hier S. 73: „In general Effe’s classifications, when duly qualified as they must be, are an acceptable and useful basis for further work in the field of ancient didactic.“ 65 So hat Michael von Albrecht gegen die Typologie eingewandt, dass die drei von Effe unterschiedenen Zielsetzungen häufig innerhalb derselben Gedichte zusammentreffen. Vgl. von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boëthius. Bd. 1, S. 223. Selbst wenn dies zutrifft, würde Effes Unterscheidung einen Gewinn an deskriptiver Präzision ermöglichen, nämlich Beschreibungen der verschiedenen Kombinationen der Zielsetzungen erlauben. Grundsätzliche methodische Vorbehalte gegen Effes Ansatz hat Volk formuliert; ihr zufolge schließt Effe generell zu unmittelbar von Texteigenschaften auf Autorintentionen und manchmal von seinen subjektiven Eindrücken auf die ‚verborgene Agenda‘ der Autoren. Vgl. Volk, The Poetics of Latin Didactic, S. 4. In eingeschränkter Form findet sich diese methodische Kritik auch bei Christel Meier, „Pascua, rura, duces – Verschriftungsmodi der Artes mechanicae in Lehrdichtung und Fachprosa der römischen Kaiserzeit“, in: Frühmittelalterliche Studien, 28/1994, S. 1–50, hier S. 20 (Anm. 96). Diese Einwände richten sich mithin nicht gegen die Unterscheidung der drei Zielsetzungen als solche, sondern gegen Effes Vorgehen beim Erschließen der Ziele konkreter Gedichte. 66 Zu mittelalterlichen Lehrgedichten, die für den Einsatz im Unterricht verfasst wurden, vgl. auch Peter Stotz (Hrsg.), Dichten als Stoff-Vermittlung. Formen, Ziele, Wirkungen. Beiträge

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es ferner ‚formale‘ oder ‚artistische‘ Lehrgedichte gibt, deren Verfasser in erster Linie nicht belehren, sondern sprachliche Virtuosität demonstrieren wollen, ist ebenfalls eine häufig vertretene Ansicht; insbesondere für einige Lehrgedichte der Renaissance ist diese Zielsetzung von mehreren Forschern als zentral angenommen worden.67 Am wenigsten gut bestätigt ist bisher wohl die Annahme, dass es eine Tradition des ‚transparenten‘ Lehrgedichttyps gegeben habe. Dass aber Vergil in den Georgica seinen Lesern nicht (oder nicht in erster Linie) landwirtschaftliches Wissen, sondern allgemeinere, philosophische Lehren vermitteln wollte, ist in der jüngeren Forschung eine weit verbreitete Deutung.68 Studien zur Rezeption der Georgica in der neulateinischen Dichtung bieten zumindest Indizien dafür, dass sich hier Gedichte mit einer vergleichbaren Grundstruktur und Intention finden. Die Bezeichnung ‚transparent‘ für dieses Verfahren der Belehrung erscheint allerdings als unglücklich. Die Rede von einer sich „auf zwei Ebenen“ vollziehenden Belehrung, die Manfred Fuhrmann mit Blick auf die Georgica verwendet hat, könnte eine passendere Kurzcharakterisierung des betreffenden Verfahrens sein.69 Eine weitere Absicht, die in der Forschung als charakteristisch für Lehrgedichte genannt worden ist, ist die Aufwertung oder Nobilitierung bestimmter

zur Praxis der Versifikation lateinischer Texte im Mittelalter, Zürich 2008. Darin besonders Bernhard Pabst, „Ein Medienwechsel in Theorie und Praxis. Die Umstellung von prosaischen auf versifizierte Schultexte im 12. bis 14. Jahrhundert und ihre Problematik“, in: ebd., S. 151–174. 67 Vgl. Kühlmann, Wissen als Poesie, S. 31 (über Lehrgedichte des griechischen Hellenismus und der Renaissance); Roellenbleck, Das epische Lehrgedicht Italiens im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, S. 16, 21 f. 68 Vgl. Katharina Volk, „Introduction: Scholarly Approaches to the Georgics since the 1970s“, in: Dies. (Hrsg.), Vergil’s Georgics, Oxford 2008, S. 1–13, vor allem S. 6 f.; William Batstone, „Virgilian didaxis: value and meaning in the Georgics“, in: Charles Martindale (Hrsg.), The Cambridge Companion to Virgil, Cambridge 1997, S. 125–144, vor allem S. 125, 143. 69 Vgl. Manfred Fuhrmann, „Fluch und Segen der Arbeit. Vergils Lehrgedicht von der Landwirtschaft in der europäischen Tradition“, in: Gymnasium, 90/1983, S. 240–257, hier S. 243. – Den Ausdruck ‚transparent‘ halte ich für unglücklich, weil er suggeriert, dass der prima facie zentrale Inhalt (in den Georgica die Landwirtschaft) gleichsam von sich aus den Blick auf die eigentlich entscheidende Lehre freigibt. Die Rede von ‚zwei Ebenen‘ besagt etwas anderes als Effes Begriff des ‚transparenten Lehrgedichts‘, weil sie die Möglichkeit offenlässt, dass es dem Autor tatsächlich um beide Lehren geht (etwa die Landwirtschaft und die allgemeinen ethischen oder religiösen Anschauungen). Zudem deutet dieser Ausdruck eher an, dass die Beziehung zwischen den zwei Ebenen bzw. Lehren auf verschiedene Weisen beschaffen sein kann und also selbst erst untersucht werden muss. Die konkreten Darlegungen etwa über Bodenkultivierung, Viehzucht oder über Wetterzeichen können als besondere Fälle allgemeiner Gesetze gemeint sein oder aber als allegorische oder symbolische Darstellungen dieser allgemeinen Zusammenhänge.

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Wissensbestände oder Wissensgebiete.70 Wenn Gedichte eine Sprecherinstanz enthalten, die einen Adressaten über ein Sachgebiet belehren, so ist demnach mit der Möglichkeit zu rechnen, dass es dem Autor dabei nicht primär um eine Vermittlung von Wissen über dieses Sachgebiet geht, sondern um die Aufwertung dieses Wissens oder der Disziplin, die dieses Wissen verwaltet. Was genau unter dieser Aufwertung oder Nobilitierung zu verstehen ist oder durch was sie erfolgt, wird in den betreffenden Darstellungen leider kaum näher erläutert.71 Gemeint ist vermutlich zunächst, dass die Darbietung in kunstvoll gestalteten Versen als solche sowie – bei mittelalterlichen und neuzeitlichen Texten – der Anschluss an kanonische antike Werke wie die Georgica den behandelten Gegenstand aufwerten. Dass die Gattung des Lehrgedichts zu diesem Zweck genutzt wurde, erscheint schon auf den ersten Blick als eine plausible Vermutung und ist für einzelne Texte auch überzeugend dargelegt worden. Allerdings kann man annehmen, dass Autoren dabei häufig die von der Gedichtform allein geleistete Nobilitierung auf der inhaltlichen Ebene zu unterstützen suchten. Die Werte und Normen, die diese Nobilitierungsversuche voraussetzen, können offensichtlich ganz unterschiedliche sein: Es kann darum gehen, die nützlichen, unterhaltsamen, ästhetisch reizvollen oder die religiös erbaulichen Qualitäten des betreffenden Wissens oder der behandelten Gegenstände herauszustellen. Der Forschung zufolge waren für Lehrgedichte von der Antike bis zur frühen Neuzeit also unterschiedliche Absichten leitend, die grob zu (mindestens) drei oder vier Klassen zusammengefasst werden können: Belehrung (auf ‚direkt-einschichtige‘ oder auf ‚zweischichtige‘ Weise), sprachliche Artistik und Nobilitierung von Wissen oder Wissensgegenständen. Für die vorliegende Untersuchung ist nun die Frage von entscheidendem Interesse, in welchem Maße diese Multifunktionalität der Gattung Lehrgedicht zum Gattungsbewusstsein von Autoren des 18. Jahrhunderts gehörte. Hierüber lassen sich allerdings nur vorsichtige Vermutungen formulieren. Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich unter den Lehrgedichten der Renaissance und der Frühen Neuzeit sowohl solche mit ‚artistischen‘ Tendenzen als auch solche mit einer ‚auf zwei

70 Vgl. dazu den Sammelband: Tobias Leuker/Rotraud von Kulessa (Hrsg.), Nobilitierung versus Divulgierung? Strategien der Aufbereitung von Wissen in romanischen Dialogen, Lehrgedichten und Erzähltexten der Frühen Neuzeit, München 2011. Vgl. auch Kühlmann, Wissen als Poesie, S. 2. Kühlmann expliziert dort den Begriff ‚Lehrdichtung‘ wie folgt: „[U]nter dem Begriff ‚Lehrdichtung‘ [fassen wir] das versgebundene, mehr oder weniger ästhetisch ambitionierte Schrifttum zur Vermittlung oder poetischen Nobilitierung von Sach-, Verhaltens- und Orientierungswissen.“ (Ebd., S. 1 f.) 71 Vgl. etwa das knappe Vorwort der Herausgeber in: Leuker/von Kulessa (Hrsg.), Nobilitierung versus Divulgierung?.

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Ebenen‘ angesiedelten Belehrung finden. Dies lässt es zumindest als denkbar erscheinen, dass diese Verfahren und Zwecke auch im 18. Jahrhundert noch als Möglichkeiten des Lehrgedichts wahrgenommen wurden. Einige relevante Indizien liefern auch Studien zur Rezeption der Georgica: Sie zeigen, dass Vergils Gedicht bis in die Neuzeit hinein als ein Werk verstanden und ernst genommen wurde, das über Landwirtschaft belehren wollte,72 dass neben dieser Deutung aber schon sehr früh eine andere vertreten wurde, nach der es Vergil mehr um sprachliche Anmut als um Wahrheit ging.73 Ferner finden sich vom frühen Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert auch Auslegungen, die den lehrhaften Gehalt der Georgica nicht nur in den Anweisungen zur Landwirtschaft sahen, sondern auch in einer religiös-philosophisch begründeten Auffassung vom Wert der Arbeit, die das Gedicht also als ein ‚auf zwei Ebenen‘ belehrendes interpretierten.74 Um vorläufig zusammenzufassen: Es gibt kaum gute Gründe für die Annahme, dass das Lehrgedicht in dem Gattungsverständnis, das Autoren des

72 Für Belege vgl. etwa Wolfgang Polleichtner, „Vergil (Publius Vergilius Maro). C. Georgica“, in: Christine Walde (Hrsg.), Die Rezeption der antiken Literatur. Kulturhistorisches Werklexikon, Stuttgart/Weimar 2010 (Der Neue Pauly, Supplemente, Bd. 7), Sp. 1098–1108. 73 Sehr bekannt ist eine Äußerung Senecas, der zufolge Vergil in den Georgica nicht Bauern belehren, sondern Leser erfreuen wolle und dementsprechend nicht dasjenige zu sagen suche, was man für wahr, sondern dasjenige, was man für anmutig befinden würde. Seneca stützte diese Behauptung auf die Feststellung, dass Vergils Gedicht viele sachliche Fehler enthalte, von denen er zwei anführte. (Vgl. Seneca, Ep. 86.15 f.). Vgl. hierzu etwa Fuhrmann, „Fluch und Segen der Arbeit“, S. 250. Dass diese Deutung Senecas in seiner Zeit keineswegs einen Konsens darstellte, dass die Georgica also zugleich als Autorität auf dem Gebiet der Landwirtschaft betrachtet wurden, betonen: Robert M. Schuler/John G. Fitch, „Theory and Context of the Didactic Poem: Some Classical, Mediaeval, and Later Continuities“, in: Florilegium, 5/1983, S. 1–43, hier S. 37 f. (Anm. 61); Eckhard Christmann, „Zur antiken Georgica-Rezeption“, in: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft, 8/1982, S. 57–67. Vgl. zu der Stelle bei Seneca auch M. S. Spurr, „Agriculture and the Georgics“, in: Greece & Rome, 33/1986, 2, S. 164–187, hier S. 164–166. Spurr sucht hier zu zeigen, dass Senecas Hinweise auf zwei angebliche Fehler Vergils selbst mehrere Ungenauigkeiten oder Fehler enthalten und mangelhafte landwirtschaftliche Kenntnisse auf Seiten Senecas indizieren. 74 Vgl. dazu Fuhrmann, „Fluch und Segen der Arbeit“. Fuhrmann skizziert hier knapp die Rezeption der vergilischen Arbeitsauffassung unter anderem in den Institutiones divinarum et saecularium litterarum des Cassiodor (6. Jh.; vgl. ebd., S. 251) und in Miltons Paradise Lost (vgl. ebd., S. 255–257). – Yasmin Haskell hat in ihrer Untersuchung neulateinischer Lehrgedichte von Jesuiten des 17. und 18. Jahrhunderts die These vertreten, einer der Gründe für die starke Orientierung dieser Dichtungen an Vergils Georgica habe darin bestanden, dass die Jesuiten in diesem Gedicht eine ihrem eigenen Arbeitsethos kongeniale Auffassung vom Sinn der Arbeit fanden. Vgl. Yasmin Haskell, Loyola’s Bees. Ideology and Industry in Jesuit Latin Didactic Poetry, Oxford 2003, vor allem S. 14–16.

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frühen 18. Jahrhunderts aus ihrer Bekanntschaft mit der Tradition gewannen, auf eine eng umschriebene Funktion festgelegt war. Vielmehr sprechen die genannten Indizien eher für die Vermutung, dass diese Autoren die Gattung als eine wahrnahmen, die sich für verschiedene, wenn auch gewiss nicht beliebige Zwecke anbot.

2.5 Belehrung im Lehrgedicht: Etabliertes oder neues Wissen? In der Forschung ist es verschiedentlich als ein charakteristisches oder sogar konstitutives Merkmal von Lehrgedichten angesehen worden, dass sie ein Wissen präsentieren, das andernorts bereits schriftlich fixiert vorliegt. In dem ‚Suchprofil‘, mit dem Haye in seiner Untersuchung mittellateinischer Lehrgedichte arbeitet, heißt es, der Inhalt von Lehrgedichten sei „zumeist einschlägigen Prosa-Vorlagen entnommen“,75 und ein beträchtlicher Teil der von ihm analysierten Texte erfüllt diese Bedingung. Als ein konstitutives oder definierendes Merkmal der Gattung hat Effe die Bezugnahme auf Prosavorlagen betrachtet.76 Dies ist einer der zwei Gründe, derentwegen die Gattung des Lehrgedichts für ihn im eigentlichen Sinne erst mit Arat beginnt, während die älteren Gedichte etwa des Empedokles, aber auch Hesiods, nicht als Lehrgedichte anzusprechen seien: Erstens gebe es in der Zeit des Arat, nicht aber in der des Hesiod, eine ausgebildete fachwissenschaftliche und philosophische Literatur in Prosa, sodass die Entscheidung für die Versform tatsächlich eine Wahl darstelle. Zweitens präsentieren nach Effe die älteren Dichter wie Empedokles in ihren Gedichten ihre eigenen philosophischen Theorien, während Arat und die Lehrdichter der Folgezeit sich in aller Regel auf Prosavorlagen stützen, also ihr Wissen ‚aus zweiter Hand‘ beziehen.77

75 Haye, Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter, S. 38. 76 Vgl., auch zum Folgenden: Effe, Dichtung und Lehre, S. 24–26. Effe hat diese Auffassungen zumindest den Grundzügen nach in jüngerer Zeit bekräftigt; vgl. ders., „Typologie und literaturhistorischer Kontext: Zur Gattungsgeschichte des griechischen Lehrgedichts“, in: Marietta Horster/Christiane Reitz (Hrsg.), Wissensvermittlung in dichterischer Gestalt, Stuttgart 2005, S. 27–44, hier vor allem S. 31. 77 Georg Roellenbleck hat in seiner Studie über italienische Lehrepen des 15. und 16. Jahrhunderts konstatiert, dass in diesen Gedichten „in der Mehrzahl der Fälle bereits anderweitig erarbeitetes und der präsumptiven Leserschaft wohl auch schon in großen Zügen bekanntes Wissen präsentiert wurde“ (Roellenbleck, Das epische Lehrgedicht Italiens im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, S. 16). Roellenbleck versieht diese Aussage über die „Mehrzahl der Fälle“ allerdings mit der zusätzlichen Einschränkung, sie gelte „im großen und ganzen“ (ebd.). Etwas später schreibt er denn auch, in der didaktischen Poesie seines Untersuchungszeitraums seien

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Der Umstand, dass Lehrgedichte in vielen Fällen ein bereits in wissenschaftlichen oder philosophischen Prosatexten festgehaltenes Wissen wiedergeben, kann die Sichtweise befördern, nach der das Lehrgedicht – wenn es denn auf Belehrung und nicht auf ‚Artistik‘ zielt – typischerweise als ein Instrument der Popularisierung dient, also ein in Fachkreisen erarbeitetes und akzeptiertes Wissen an ein breiteres Publikum weitergeben soll. Doch bei näherer Überlegung zeigt sich, dass die Bezugnahmen auf Prosavorlagen allein noch kaum weiterreichende Schlüsse darüber zulassen, welche Art der Wissensverarbeitung die Lehrgedichte betreiben und wie die Leistungen der Gattung in dieser Hinsicht etwa von Autoren der frühen Neuzeit wahrgenommen wurden. Erstens können Gedichte, wenn sie sich auf Prosavorlagen beziehen, deren Inhalte auf verschiedene Arten verwerten, was sich etwa an den ‚auf zwei Ebenen‘ belehrenden Gedichten illustrieren lässt. So gilt es als wahrscheinlich, dass Vergil die landwirtschaftlichen Lehren der Georgica großenteils der einschlägigen Fachliteratur entnommen hat78; aber wie oben erwähnt, machen diese landwirtschaftlichen Instruktionen nach Ansicht vieler Interpreten nicht die eigentliche oder jedenfalls nicht die ganze Lehre des Gedichts aus. Zweitens und vor allem sagt die Tatsache, dass der Inhalt eines Lehrgedichts wissenschaftlichen oder philosophischen Prosatexten entnommen ist, noch nichts darüber aus, welche Akzeptanz dieser Inhalt in der wissenschaftlichen oder philosophischen ‚Fachwelt‘ oder auch in der Gesellschaft des Lehrdichters besitzt. Wissenschaftliche Theorien sind schließlich typischerweise Gegenstand von fachlichen Diskussionen, und ein Gedicht, das eine bestimmte Theorie wiedergibt, kann damit prinzipiell sowohl eine Popularisierung als auch die Durchsetzung gegen konkurrierende Theorien bezwecken. Der Hinweis darauf, dass die vom Lehrdichter ‚aus zweiter Hand‘ bezogenen Theorien in seiner Zeit viele unterschiedliche Grade der Akzeptanz besitzen können, ist hier nicht nur von allgemeiner oder theoretischer Relevanz. Zumindest für die Geschichte des frühneuzeitlichen Lehrgedichts ist das damit angesprochene Problem ganz direkt relevant, weil in dieser Zeit das im 15. Jahrhundert wiederentdeckte Gedicht des Lukrez zu einem der wichtigsten Muster der Gattung avanciert. Lukrez nun erklärt bekanntlich im Gedichttext selbst ausdrücklich, dass er die

„die verschiedensten Grade der Popularisierung schwieriger Materien angestrebt worden: die Skala reicht von den anspruchslosen italienischen Oktaven, in denen Tolosani ausdrücklich den kaum Gebildeten Himmelskunde und Geographie vermitteln will, über die elegante Präsentation von Bekanntem bis hin zu dem Vortrag neuer Einsichten, etwa bei Bonincontri oder bei Palingenius.“ (Ebd., S. 21) 78 Vgl. etwa Richard F. Thomas, „Prose into Poetry: Tradition and Meaning in Virgil’s Georgics“, in: Harvard Studies in Classical Philology, 91/1987, S. 229–260; dort auch Hinweise auf ältere Studien zu Vergils fachliterarischen Quellen (ebd., S. 230).

2 Der Gattungsbegriff ‚Lehrgedicht‘ von der Antike bis zur Frühen Neuzeit

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Lehren Epikurs vermitteln will. Gleichwohl wäre seine Zielsetzung mit dem Begriff der Wissensverbreitung oder gar Popularisierung nur unzureichend bestimmt, denn entscheidend für die Struktur großer Teile von De rerum natura ist, dass der Sprecher seine Adressaten als Anhänger von Überzeugungen konzipiert, die im Widerspruch zu den Lehren Epikurs stehen, und dass er mithilfe Epikurs diese Überzeugungen – den Glauben an die Immaterialität der Seele und an ein Weiterleben nach dem Tode sowie gewisse Annahmen über die Götter – widerlegen oder destruieren will. Was Lukrez’ Sprecher bei seinen Adressaten bewirken will, ist mithin nicht allein ein Wissenszuwachs, sondern auch eine Bekehrung.79 Inwiefern die in De rerum natura aufgebaute Kommunikationssituation der ‚äußeren‘ Kommunikationssituation und den Einstellungen der zeitgenössischen Leser des Lukrez entsprachen, kann an dieser Stelle außer Betracht bleiben.80 Die destruktiven und die ‚missionarischen‘ Zielsetzungen des Gedichtsprechers aber wurden auch in der Lukrez-Rezeption der Frühen Neuzeit wahrgenommen und im Wesentlichen mit den Zielen des Gedichts und seines Verfassers gleichgesetzt.81 Für diese Zeit gilt es also festzuhalten, dass mit dem Gedicht des Lukrez ein Muster des

79 Die in der Forschung immer wieder anzutreffende Rede von den ‚missionarischen‘ Zügen des lukrezischen Unterfangens soll offensichtlich diese spezielle Zielsetzung sowie den leidenschaftlich-engagierten Duktus, den man bei Lukrez’ persona im Gedicht wahrnimmt, einfangen. Vgl. etwa Effe, Dichtung und Lehre, S. 66 („Indem sich der Autor aus innerster Überzeugung der missionarischen Aufgabe unterzieht [. . .]“), 70 („Der missionarische Überzeugungseifer [. . .]“), 77. 80 Zur Bekanntheit der epikureischen Philosophie in der römischen Republik des ersten Jahrhunderts vor Christus vgl. David Sedley, „Epicureanism in the Roman Republic“, in: James Warren (Hrsg.), The Cambridge Companion to Epicureanism, Cambridge 2009, S. 29–45. Als bedeutendster und vermutlich wirkungsmächtiger Vertreter der epikureischen Lehre in dieser Zeit gilt der aus Griechenland stammende Philodemos (vgl. ebd., S. 32–39). Etwa seit Ende des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts entstand daneben „a native Italian Epicurean movement“ (ebd., S. 39). Belege für substanzielle Beziehungen zwischen Lukrez und Philodemus oder den anderen italienischen Vertretern des Epikureismus gibt es bislang nicht (vgl. ebd., S. 41). – Die in der älteren Forschung begegnende Auffassung, Lukrez sei mit seinen epikureischen Überzeugungen in seiner römischen Umgebung isoliert gewesen, ist schon vor einiger Zeit kritisiert worden: „[. . .] [B]oth the Epicurean subject matter and the poetic genre of the De Rerum Natura mirror contemporary tastes. Epicureanism, which had been known at Rome since at least 154 B.C., or maybe 173 B.C., reached a height of popularity in the late Republic [. . .].“ (Robert D. Brown, „Lucretius and Callimachos“, in: Illinois Classical Studies, 7/1982, S. 77–97, hier S. 77.) Eine zustimmende Bezugnahme auf diese Aussagen bei E. J. Kenney, „Lucretian texture: style, metre and rhetoric in the De rerum natura“, in: Stuart Gillespie/Philip Hardie (Hrsg.), The Cambridge Companion to Lucretius, Cambridge 2007, S. 92–110, hier S. 94. 81 Zur Lukrez-Rezeption in der Frühen Neuzeit wie zur neuzeitlichen Lukrez-Rezeption insgesamt liegt mittlerweile eine Fülle von Studien vor. Vgl. für neuere Überblicksdarstellungen die einschlägigen Artikel in Gillespie/Hardie (Hrsg.), The Cambridge Companion to Lucretius. Zu

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I Einleitung und Grundlagen

Lehrgedichts vorlag, das nicht auf die weitere Verbreitung eines als gültig anerkannten Wissens zielte, sondern auf die Durchsetzung bisher kaum akzeptierter Theorien und auf den Umsturz eines etablierten Überzeugungssystems. Die Relevanz dieses Umstands für die Geschichte des Lehrgedichts bezeugen besonders deutlich einige explizit anti-lukrezische und anti-epikureische Lehrgedichte, die zwischen dem späten 17. und der Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden. Die Frage, ob Lehrgedichte typischerweise ein bereits schriftlich fixiertes und womöglich auch schon allgemein akzeptiertes Wissen wiedergeben, wird hier auch deshalb etwas ausführlicher erörtert, weil dieser Status des mitgeteilten Wissens gelegentlich als Kriterium vorgeschlagen worden ist, anhand dessen Lehrgedichte von ‚philosophischen Gedichten‘ unterschieden werden können. Der Begriff des philosophischen Gedichts aber und die Frage, ob und wie zwischen philosophischen Gedichten und Lehrgedichten differenziert werden kann, sind mit Blick auf den Untersuchungszeitraum von besonderem Interesse, weil bekanntlich um 1800 eine Reihe von Gedichten namhafter Autoren entstehen, die man häufig als philosophische Gedichte, philosophische Lyrik, Ideengedichte oder auch Gedankenlyrik klassifiziert. Diese Bezeichnungen werden allerdings oft ohne explizite Definitionen gebraucht, und von den in einzelnen Untersuchungen oder Handbüchern vorgeschlagenen Definitionen scheint sich keine allgemein durchgesetzt zu haben. Wo es um die Unterscheidungsmerkmale zwischen Lehrgedichten und philosophischen Gedichten geht, werden zwei Merkmale häufiger genannt: Philosophische Gedichte sollen sich dadurch auszeichnen, dass die philosophischen Inhalte und die Gedichtform auf besonders enge, ‚notwendige‘, nicht bloß äußerliche Weise miteinander verbunden sind; oder aber dadurch, dass die Verfasser in ihnen ‚eigene‘, neuartige philosophische Gedanken vorstellen, nicht eine ‚schon vorhandene‘ Philosophie nachträglich in Verse bringen.82

verschiedenen Einzelaspekten vgl. aus der neueren Forschung David Norbrook/Stephen Harrison/Philip Hardie (Hrsg.), Lucretius and the Early Modern, Oxford 2016. 82 Vgl. etwa: Charlotte Lamping/André Schwarz, „Philosophische Lyrik“, in: Dieter Lamping (Hrsg.), Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte, Stuttgart/Weimar 2011, S. 140–146; vgl. hier die Definition von „philosophische[n] Gedichte[n] im engeren Sinn“: „Einen letzten Typus philosophischer Lyrik stellen Gedichte dar, die – eigene – Gedanken entwickeln, die man in einem weiten, nicht fachwissenschaftlichen Sinn philosophisch nennen kann. Solche Gedichte finden sich z. B. bei Friedrich Hölderlin [. . .], ebenso beim späten Rilke (Duineser Elegien) [. . .].“ (Ebd., S. 144) – Vgl. auch Sandra Richters Überlegungen zur Abgrenzung zwischen philosophischen Gedichten (oder philosophischer Lyrik) und Lehrdichtung: Richter, „Metahistorische Aspekte in Albrecht von Hallers Ueber den Ursprung des Uebels“, S. 517–522. Ferner die von Kurt Flasch in einem Essay über Tommaso Campanella angestellten Überlegungen dazu, in welchem Sinne Campanellas Gedichte „Philosophie sind“ und wann generell

2 Der Gattungsbegriff ‚Lehrgedicht‘ von der Antike bis zur Frühen Neuzeit

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An dieser Stelle soll nur knapp auf eines der vorgeschlagenen Unterscheidungsmerkmale eingegangen werden, nämlich eben auf den originellen Charakter der in philosophischen Gedichten vorgetragenen Gedanken, der mit dem vorgegebenen Status des Inhalts von Lehrgedichten kontrastiere. Die obigen Ausführungen sollten auch andeuten, dass eine so begründete Differenzierung zwischen Lehrgedichten und philosophischen Gedichten mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert ist. Die Schwierigkeiten entstehen insbesondere dadurch, dass die Rede von einem ‚vorgegebenen Wissen‘ einerseits, ‚eigenen‘ oder ‚originellen‘ Gedanken andererseits stark idealisierende Züge hat, also besonders einfache oder reine Fälle bezeichnet, die in der Literaturgeschichte zwar vorkommen, aber nur einen Teil der in Betracht kommenden Gedichte abdecken dürften. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch, dass das Gedicht des Lukrez innerhalb der Forschung zum Lehrgedicht fraglos dieser Gattung zugerechnet und meist als eines ihrer mustergültigen, paradigmatischen Exemplare betrachtet wird, außerhalb dieses Forschungszweigs aber auch nicht selten als philosophisches Gedicht aufgefasst wird.83 Die Diskussion der Fragen, die Bezeichnungen wie ‚philosophisches Gedicht‘ und die Abgrenzungen zwischen Lehrgedicht und philosophischem Gedicht aufwerfen, soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. Im Rahmen dieser einführenden Überlegungen ist aber relevant, in welchem Verhältnis das Lehrgedicht zu anderen Gattungen steht, die gemeinhin der didaktischen Dichtung zugerechnet werden. Die Beziehung zu diesen anderen Gattungen ist auch von Interesse im Hinblick auf die Frage, ob Lehrgedichte typischerweise ein vorgegebenes oder bereits akzeptiertes Wissen ausbreiten.

2.6 Das Lehrgedicht, die Epistel und andere didaktische Gattungen Zumindest in der deutschsprachigen Forschung besteht weithin Einigkeit darüber, dass der Begriff ‚Lehrgedicht‘ von einem weiteren Begriff ‚Lehrdichtung‘ zu unterscheiden ist, dass man ihn also für eine Gattung innerhalb eines Spektrums verschiedener Gattungen der Lehrdichtung reservieren sollte. Zu diesen anderen Gattungen werden Versfabel, Epigramm, Spruchsammlung,

Gedichte als „genuin philosophische Gedichte“ gelten können: Kurt Flasch, „Poesie – Philosophie – Politik: Tommaso Campanella“, in: Tommaso Campanella, Philosophische Gedichte. Italienisch – deutsch. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Thomas Flasch. Mit einleitendem Essay und Kommentar von Kurt Flasch. Frankfurt a.M. 1996, S. 11–94, Zitate S. 18, 20. 83 Vgl. etwa Flasch, „Poesie – Philosophie – Politik: Tommaso Campanella“, S. 18.

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Städtelob und topographische Poesie, Versepistel und Verssatire, Hexameralgedichte, Kataloggedichte sowie Tag- und Jahreszeitendichtung gerechnet.84Als definierendes Merkmal der Lehrdichtung und somit als gemeinsames Merkmal dieser Gattungen gilt die primär belehrende Absicht85; streng genommen heißt das, dass Lehrgedichte, die primär auf die Demonstration sprachlicher Virtuosität oder auf die Nobilitierung bekannten Wissens zielen, nicht zur Lehrdichtung zu zählen wären. Die Spezifika, durch die die einzelnen Gattungen innerhalb der Lehrdichtung definiert sind, sind unterschiedlicher – teils thematischer, teils struktureller – Art, und zwischen einigen dieser Gattungen sowie zwischen ihnen und manchen nicht-didaktischen Gattungen sind vielfältige Mischungen und Übergänge denkbar. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, aber auch kaum erforderlich, eine größere Zahl dieser didaktischen Gattungen durchzugehen und ihr Verhältnis zum Lehrgedicht zu erörtern. Eine nähere Betrachtung verdient aber die Gattung der Epistel, da sie im 18. Jahrhundert intensiv gepflegt wird und eine enge Verbindung mit dem Lehrgedicht eingeht86: Unter den Gedichten dieser Epoche, die von den Zeitgenossen oder in der späteren Forschung als Lehrgedichte eingeordnet wurden, sind viele Episteln oder auch Gedichte, die Merkmale der Epistel und des Lehrgedichts im engeren Sinne verbinden. Dass es solche Mischformen geben kann, ist leicht zu sehen: Die Epistel ist in erster Linie durch eine textinterne Kommunikationsstruktur definiert, in der der Sprecher als Schreiber eines Briefs an den Adressaten auftritt.87 Die Beziehung zwischen Schreiber und Adressat des fiktiven Briefs

84 Vgl. die – hier nur selektiv wiedergegebene – Auflistung einschlägiger Textsorten bei: Kühlmann, Wissen als Poesie, S. 20–27. Ferner ders., [Art.] „Lehrdichtung“, in: RLW, Bd. 2, S. 393–397, hier vor allem S. 394 f.; Haye, Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter, S. 257–264 („Lehrgedicht und didaktische Dichtung“); W.-L. Liebermann, [Art.] „Lehrdichtung. A. Def. B. I. Antike“, in: Gert Ueding (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 5: L–Musi, Darmstadt 2001, Sp. 93–107; Leif Ludwig Albertsen, „Lehrdichtung“, in: Ulfert Ricklefs (Hrsg.), Das Fischer-Lexikon Literatur. Bd. 2: G–M, Frankfurt a.M. 1996, S. 937–960, hier S. 937. Vgl. auch Roellenblecks Hinweis auf andere didaktische Formen, insbesondere Kleinformen, die die Ränder der von ihm untersuchten Gruppe der italienischen Lehrepen bilden: Roellenbleck, Das epische Lehrgedicht Italiens im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert, S. 9 (mit Anm. 9). 85 Vgl. Kühlmann, [Art.] „Lehrdichtung“, S. 393. 86 Zu deutschen Episteln des 18. Jahrhunderts vgl. Markus Motsch, Die poetische Epistel. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur und Literaturkritk des achtzehnten Jahrhunderts, Bern/Frankfurt a.M. 1974; zur Annäherung mancher Episteln an das Lehrgedicht vgl. ebd., S. 91. Zum Verhältnis zwischen Lehrgedicht und Epistel vgl. auch Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 36 f. 87 Vgl. Dirk Kemper, [Art.] „Epistel“, in: RLW, Bd. 1, S. 473–475, vor allem die Begriffsexplikation ebd., S. 473: „Die dem Brief eigene inhaltliche und stilistische Ausrichtung auf einen abwesenden Empfänger bildet das Grundschema der Gattung. Die Epistel [. . .] behandelt in der

2 Der Gattungsbegriff ‚Lehrgedicht‘ von der Antike bis zur Frühen Neuzeit

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ist häufig eine freundschaftliche, kann grundsätzlich aber vielfältiger Art sein. Wenn der Sprecher allgemeine Betrachtungen etwa über Fragen der Moral oder Lebensführung anstellt, so nähert sich die Epistel dem Lehrgedicht. Auch mit Blick auf die Epistel und die möglichen didaktischen Züge konkreter Episteln gilt es, zwischen Textstruktur und Textfunktionen zu unterscheiden. Die eben herangezogene Definition der Epistel benennt lediglich textstrukturelle Züge und sagt nichts darüber, ob die Epistel typischerweise belehrenden Zwecken dient und, falls ja, welcher Art diese Belehrung ist. Es erscheint denn auch fraglich, ob sich solche Zwecke identifizieren lassen, die tatsächlich auf einen Großteil der in verschiedenen Epochen der europäischen Literaturgeschichte verfassten Episteln zutreffen. Im vorliegenden Rahmen ist vor allem interessant, welche charakteristischen Funktionen Autoren des 18. Jahrhunderts der Epistel zugeschrieben haben, und mit Blick auf diese Frage sind neben dichtungstheoretischen Aussagen vor allem die in jener Zeit vorherrschenden Deutungen derjenigen Episteln aufschlussreich, die als Muster der Gattung galten. Hierzu zählten insbesondere die Episteln des Horaz, deren breite produktive Rezeption im 18. Jahrhundert in der Forschung häufig beschrieben wurde. Horaz nun wurde von seinen Kommentatoren im frühen 18. Jahrhundert nicht nur als Dichter, sondern auch als Philosoph gesehen, und dies nicht zuletzt aufgrund seiner Episteln.88 Die Episteln dienten dieser Deutung zufolge also nicht als Mittel der ‚popularisierenden‘ Verbreitung philosophischer Lehren, sondern als ein Rahmen, in dem Horaz seine eigenständigen Auffassungen entwickelte und mitteilte. In der ‚programmatischen‘ Eingangspassage der Epistel I, 1 betont Horaz’ Sprecher selbst seine Unabhängigkeit von philosophischen Schulen und seinen Willen zur Selbstständigkeit in der Bestimmung seiner Lebensmaximen.89 Der Anspruch der horazischen Episteln im

Regel Themen von allgemeinem Interesse, im Unterschied zur Lehrdichtung aber mit stilistischer Leichtigkeit im brieflichen Plauderton.“ Vgl. auch die Kurzdefinition ebd.: Eine Epistel ist demnach ein „Gedicht didaktischen oder lyrischen Charakters mit den Kennzeichen des Briefes“. 88 Vgl. für Frankreich: Russell Goulbourne, „Appropriating Horace in eighteenth-century France“, in: Luke B.T. Houghton/Maria Wyke (Hrsg.), Perceptions of Horace. A Roman Poet and his Readers, Cambridge [u. a.] 2009, S. 256–270, hier S. 263–270. 89 Vgl. Horaz, Epistulae, I.1, V. 13 f.: „ac ne forte roges, quo me duce, quo lare tuter: | nullius addictus iurare in verba magistri, [. . .].“ In der Übersetzung Wielands: „Fragst du, in welche von den Weisheitsschulen | Athens ich eingeschrieben sei, so wisse, | in keine! Frei und ohne auf die Worte | von einem Meister, wer er sei, zu schwören, | bin ich [. . .].“ (Christoph Martin Wieland, Übersetzung des Horaz. In: Ders., Werke in zwölf Bänden. Hrsg. von Gonthier-Louis Fink u. a. Bd. 9. Hrsg. von Manfred Fuhrmann, Frankfurt a.M. 1986, S. 39) – In welchem Maße Horaz in den Episteln tatsächlich eigenständige Positionen vertrat oder sich weitgehend an

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Besonderen und die Möglichkeiten und Aufgaben der Versepistel im Allgemeinen wurden nun von Autoren des 18. Jahrhunderts gewiss auf unterschiedliche Weisen gedeutet.90 Aber die knappen Hinweise mögen genügen, um die Vermutung plausibel zu machen, dass der Epistel vielfach eine spezifische Art der Belehrung oder Wissensvermittlung als Funktion zugeschrieben wurde und dass diese Spezifik nicht allein den vertraulichen oder persönlichen Ton, sondern die Beschaffenheit des vermittelten Wissens betraf.

2.7 ‚Lehrgedicht‘, ‚Essay‘, ‚Discours en vers‘: Nationale Besonderheiten In deutschsprachigen Überblicksdarstellungen zur Literatur der Aufklärung werden Albrecht von Hallers Gedicht Über den Ursprung des Übels, Alexander Popes An Essay on Man und Voltaires Gedichte Discours en vers sur l’homme und Poème sur la loi naturelle üblicherweise als Lehrgedichte eingeordnet. Eine französischsprachige Darstellung der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts hingegen behandelt diese Texte in einem Abschnitt mit der Überschrift „Le discours en vers“.91 Diese variierenden Begriffe in der jüngeren Forschung zeugen noch davon, dass sich in den Nationalliteraturen des 18. Jahrhunderts zum Teil unterschiedliche Bezeichnungen für das Lehrgedicht oder für angrenzende didaktische Gattungen etabliert hatten. Ob diese divergierenden Bezeichnungen auch nationalspezifische Gattungsentwicklungen reflektieren, ist dabei nicht auf den ersten Blick ersichtlich.92 Die Bezeichnung ‚Lehrgedicht‘ selbst etwa erlangt im 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum eine größere Geläufigkeit als die Bezeichnungen ‚didactic poem‘ und ‚poème didactique‘ im

stoischen, epikureischen oder anderen Lehren orientierte, ist in der Forschung kontrovers diskutiert worden. Für eine gründliche kritische Diskussion solcher Einordnungen vgl. Niall Rudd, „Horace as a Moralist“, in: Ders. (Hrsg.), Horace 2000: A Celebration. Essays for the Bimillennium, London 1993, S. 64–88. 90 Diderot etwa zitierte die erwähnten Verse aus der Epistel I, 1 im Artikel „Éclectisme“ der Encyclopédie. Vgl. Goulbourne, „Appropriating Horace in eighteenth-century France“, S. 268–270. 91 Vgl. Meredith Lee, „Les textes poétiques“, in: Peter-Eckhard Knabe/Roland Mortier/François Moureau (Hrsg.), L’Aube de la Modernité 1680–1760, Amsterdam [u. a.] 2002, S. 329–382, hier S. 349–352. 92 Zu dem hiermit angesprochenen allgemeineren Problem vgl. Rüdiger Zymner, „Gattungslandschaften. Probleme des generologischen Kulturvergleiches“, in: Christiane Solte-Gresser/ Hans-Jürgen Lüsebrink/Manfred Schmeling (Hrsg.), Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive, Stuttgart 2013, S. 321–329.

2 Der Gattungsbegriff ‚Lehrgedicht‘ von der Antike bis zur Frühen Neuzeit

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Englischen beziehungsweise Französischen. Der Gebrauch des Ausdrucks ‚Essay‘ für längere Gedichte mit diskursivem Charakter hingegen ist zunächst einmal eine englische Besonderheit, während der Gattungsbegriff ‚Discours en vers‘ eine spezifisch französische Erscheinung ist. Alexander Popes An Essay on Man und Voltaires Discours en vers sur l’homme weisen nun textstrukturelle Merkmale auf, die es gestatten, sie als Lehrgedichte zu rubrizieren; dennoch gilt es zu berücksichtigen, dass die Bezeichnungen in den Titeln diese Texte mit spezifischen literarischen Traditionen und Praktiken in Verbindung bringen, die die Bezeichnung ‚Lehrgedicht‘ allein verdecken könnte.

2.8 Resümee: Arbeitsbegriff des Lehrgedichts Die obigen Ausführungen sollten zunächst die zentralen Eigenschaften des historischen Schreibmusters näher erläutern, das in der vorliegenden Arbeit wie in großen Teilen der Forschung als Lehrgedicht bezeichnet wird. Diese Eigenschaften sind struktureller und inhaltlicher Art: Das Schreibmuster ist charakterisiert durch die Versform und durch den Aufbau einer gedichtinternen Kommunikationssituation,93 in der die Sprecherinstanz den oder die Adressaten belehrt, wobei mit Belehrung gemeint ist, dass der Sprecher einen Sachgegenstand ausführlicher erörtert oder vorstellt. Zu diesem belehrenden Charakter der Ausführungen gehört auch, dass in der Regel ihr Thema zu Beginn ausdrücklich genannt wird und dass ihre Struktur transparent gemacht wird, indem etwa inhaltliche Zäsuren als solche markiert werden. Dieses strukturell und inhaltlich definierte Schreibmuster, so sollte ferner deutlich werden, ist von der Antike bis zur frühen Neuzeit zu unterschiedlichen Zwecken verwendet worden. Diese Pluralität der Zwecke, die fließenden Übergänge zwischen manchen von ihnen und die vielfältigen Möglichkeiten ihrer Kombination sprechen dagegen, bestimmte Zwecke oder Wirkungsabsichten zu den definierenden Eigenschaften des genannten Schreibmusters zu zählen. Festzuhalten ist allerdings, dass es ein Spektrum von

93 Den Begriff der Kommunikationssituation übernehme ich von Thomas Haye. Vgl. Haye, Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter, v. a. S. 104–131 (Kap. 5: „Der Autor und sein Publikum: Literarische und reale Kommunikationssituationen“). Statt von ‚literarischen‘ und ‚realen‘ spreche ich allerdings lieber von ‚gedichtinternen‘ und ‚äußeren‘ Kommunikationssituationen. – Für theoretische Überlegungen zur Gestaltung von Kommunikationssituationen in Gedichten vgl. Jochen Petzold, Sprechsituationen lyrischer Dichtung. Ein Beitrag zur Gattungstypologie, Würzburg 2012, S. 142–160; Thomas Pittrof, „Reden und Anreden“, in: Heinrich Bosse/Ursula Renner (Hrsg.), Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. 2., überarb. Aufl. Freiburg i.Br. [u. a.] 2010, S. 209–226.

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Absichten gibt, die – dem Stand der Forschung zufolge – besonders häufig mit diesem Schreibmuster verknüpft wurden: so namentlich die Absicht der Belehrung, die wiederum in verschiedenen Varianten auftritt, sowie die Absichten der Ausstellung sprachlicher Virtuosität und der Aufwertung oder Nobilitierung bestimmter Gegenstände oder Wissenskorpora. Schließlich ist oben noch auf zweierlei Komplikationen hingewiesen worden, die in gattungsgeschichtlichen Untersuchungen des Lehrgedichts zu berücksichtigen sind: Erstens existieren neben dem Lehrgedicht andere Gattungen oder Schreibtraditionen wie Epistel und Verssatire, die häufig als didaktische Gattungen bezeichnet werden, die Ähnlichkeiten mit dem Schreibmuster des Lehrgedichts aufweisen und die von Autoren in konkreten Texten mit ihm kombiniert wurden. Zweitens finden sich in den europäischen Literaturen des 18. Jahrhunderts einige nationalspezifische Bezeichnungen für das Lehrgedicht oder für verwandte Schreibmuster, und diese Bezeichnungen – wie etwa ‚Essay‘ oder ‚Discours en vers‘ – verweisen zum Teil auch auf nationalspezifische Gattungsentwicklungen, etwa auf eigenständige englische oder französische Weiterentwicklungen der Epistel. Worin genau allerdings die Spezifika bestanden, ist bisher kaum eingehender untersucht worden.

3 Das Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts: Zum Forschungsstand Die vorliegende Arbeit möchte Lehrgedichte des 18. Jahrhunderts aus Perspektiven untersuchen, die zum Teil durch die oben skizzierten Überlegungen bestimmt werden. Zugleich soll sie an die vorliegende Forschung zu diesem Gegenstandsbereich anschließen. Wenn im Folgenden die wesentlichen Ergebnisse und Tendenzen dieser Forschung zusammengefasst werden, sollen dabei auch die einleitenden Bemerkungen über die ‚Standardsicht‘ auf das Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts konkretisiert und präzisiert werden. Der folgende Überblick widmet sich nacheinander der Forschung zu deutschen, englischen und französischen Lehrgedichten, da vergleichende oder zumindest Gedichte mehrerer Nationalsprachen berücksichtigende Arbeiten nur in sehr geringer Zahl vorliegen.94

94 Für Überblicksartikel in einer europäischen Literaturgeschichte, die sich de facto aber weitgehend auf einzelne Nationalliteraturen konzentrieren, vgl. Erwin Leibfried, „Philosophisches Lehrgedicht und Fabel“, in: Walter Hinck (Hrsg.), Europäische Aufklärung (I. Teil), Frankfurt a.M. 1974 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus von See, Bd. 11), S. 75–90; Erwin Wolff, „Dichtung und Prosa im Dienste der Philosophie – Das

3 Das Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts: Zum Forschungsstand

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3.1 Deutsches Lehrgedicht Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft heißt es im Artikel „Lehrdichtung“, die Forschung zum Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts habe „das Stadium nützlicher Gesamtdarstellungen erreicht“.95 Gemeint sind damit offenbar die monographischen Darstellungen von Leif Ludwig Albertsen und Christoph Siegrist sowie Überblicksartikel in großen Literaturgeschichten, die wiederum von Siegrist sowie von Hans-Wolf Jäger verfasst wurden.96 Diese Arbeiten markieren weiterhin den Stand der Forschung, was umfassende Untersuchungen zum deutschsprachigen Lehrgedicht dieses Zeitraums betrifft.97 Zu Albertsens Buch Das Lehrgedicht (1967) hat Hans-Wolf Jäger in einem vielbeachteten Aufsatz eine Reihe von Kritikpunkten formuliert und ausführlich entfaltet. Dieser Kritik hat sich Siegrist in seiner Monographie Das Lehrgedicht der Aufklärung (1974) angeschlossen, die es sich unter anderem zur Aufgabe machte, einige der von Jäger benannten Desiderate zu erfüllen.98 Siegrists Durchführung dieses Vorhabens hat vielfach Anerkennung erhalten,99 und seiner Arbeit wird noch in einer jüngeren Einführung in die Aufklärungsliteratur bescheinigt,

philosophisch-moralistische Schrifttum im 18. Jahrhundert“, in: Heinz-Joachim Müllenbrock (Hrsg.), Europäische Aufklärung (II. Teil), Wiesbaden 1984 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus von See, Bd. 12), S. 155–204. 95 Kühlmann, [Art.] „Lehrdichtung“, S. 396. 96 Vgl. Albertsen, Das Lehrgedicht; Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung; ders., „Lehrdichtung“, in: Ralph-Rainer Wuthenow (Hrsg.), Zwischen Absolutismus und Aufklärung. Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, 1740–1786, Reinbek 1980, S. 219–233; Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“; ders., „Lehrdichtung“. 97 Ich konzentriere mich in dieser Forschungsdiskussion auf solche umfassenden gattungsgeschichtlichen Untersuchungen; der Forschungsstand zu einzelnen Autoren wird in den jeweiligen Kapiteln dargestellt. Auch auf die umfassenderen Arbeiten älteren Datums gehe ich an dieser Stelle nicht näher ein. Zu nennen wären hier: Wolfgang Ulrich, Studien zur Geschichte des deutschen Lehrgedichts im 17. und 18. Jahrhundert, Diss. Kiel 1960; Georg Willy Vontobel, Von Brockes bis Herder. Studien über die Lehrdichter des 18. Jahrhunderts, Diss. Bern 1942. Die Arbeiten Ulrichs und Vontobels werden knapp charakterisiert bei: Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 2. Aufgrund des behandelten Textkorpus sind ferner relevant: Wilhelm Totok, Das Problem der Theodizee in der deutschen Gedankenlyrik der Aufklärung, Diss. Marburg 1948; Stefanie Behm-Cierpka, Die optimistische Weltanschauung in der Gedankenlyrik der Aufklärungszeit, Diss. Heidelberg 1933. 98 Vgl. Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 2. 99 Vgl. etwa Manfred Beetz, „Anakreontik und Rokoko im Bezugsfeld der Aufklärung – Eine Forschungsbilanz“, in: Manfred Beetz/Hans-Joachim Kertscher (Hrsg.), Anakreontische Aufklärung, Tübingen 2005, S. 1–17, hier S. 5 f.

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dass sie „mit ihrer souveränen analytischen Prägnanz die ältere Forschung zum Thema aufhebt“.100 Daher empfiehlt es sich, in der Darstellung des Forschungsstands bei Siegrists Buch anzusetzen. Die übergeordnete Frage seiner Untersuchung, mit der Siegrist sich von älteren Studien zum deutschen Lehrgedicht der Aufklärung abgrenzt, ist die nach den „Strukturgesetzlichkeiten der Spezies“.101 Seine Untersuchung, so Siegrist, [. . .] zielt auf den Gattungscharakter, wie er sich in der Theorie und Praxis der Epoche ausprägt, und nicht auf eine Porträtgalerie einzelner, sicher unterschiedlicher Lehrdichter. Sie sucht den Typus des Lehrgedichtes der Aufklärung zu rekonstruieren, wie er sich in den verschiedenen Gedichten ausprägt.102

Siegrist nimmt also an, dass den Lehrgedichten der Aufklärung ein einheitlicher „Typus“ oder ein „Gattungscharakter“ zugrunde liegt, der sich in der „Praxis“ wie in der „Theorie der Epoche“ ausprägt. Der Gattungscharakter definiert sich nach Siegrist zunächst über bestimmte „Präsentationsformen“, denen sich der umfangreichste Teil der Untersuchung widmet; sie umfassen Bildformen, Beschreibungsformen, Argumentations- und Beweisformen, Aufbauformen.103 Zum Gattungscharakter gehören nach Siegrist ferner bestimmte „Inhalte“, also Themen und Motive, Annahmen und Theorien.104 Darüber hinaus ist dieser Charakter des aufklärerischen Lehrgedichts, wie Siegrist ihn beschreibt, aber auch durch spezifische Autorabsichten und Leistungen der Gedichte definiert: Die Verfasser der Lehrgedichte hätten ihre Aufgabe darin gesehen, von der Philosophie erarbeitete und begründete „Wahrheiten“ aufzunehmen, sie „zwecks größerer Wirksamkeit ein[zukleiden]“ und sie einem bestimmten Publikum, nämlich dem Bürgertum, propagierend zu vermitteln.105 Bei den Wahrheiten, die in den Lehrgedichten verbreitet werden sollten, habe es sich um die zu Beginn des Jahrhunderts von Gelehrten wie Thomasius und Wolff entwickelten „Grundlinien eines neuen Weltbildes aus Vernunftprinzipien“ gehandelt.106 So kann auch die Rolle des aufklärerischen Lehrgedichts in der gesellschaftlichen Entwicklung des 18. Jahrhunderts bündig zusammengefasst werden: Indem es

100 Alt, Aufklärung, S. 165. 101 Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 3. 102 Ebd. 103 Vgl. ebd., S. 89–174, Zitat S. 89 (Kapitelüberschrift). 104 Vgl. ebd., S. 175–227, Zitat S. 175 (Kapitelüberschrift). 105 Vgl. ebd., S. 54, 243 f.; Zitat S. 54. 106 Ebd., S. 244.

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das von den Philosophen erarbeitete neue Weltbild „dem bürgerlichen Stand didaktisch vermittelt[e]“, habe es „zur Konsolidierung und Ausbreitung bürgerlichen Bewußtseins“ beigetragen.107 Siegrists Monographie hat zur Erschließung des Lehrgedichts der Aufklärung einen entscheidenden Beitrag geleistet, dem auch die vorliegende Untersuchung verpflichtet ist. Gleichwohl ist gegen seine zentralen Annahmen über die weitreichende Homogenität des aufklärerischen Lehrgedichts einzuwenden, dass sie nur bedingt plausibel gemacht und teilweise eher vorausgesetzt als nachgewiesen werden. In gewissem Maße gilt dies bereits für die Untersuchung der charakteristischen „Präsentationsformen“, die nur eingeschränkt nachzuvollziehen erlaubt, wie viele Gedichte des Gesamtkorpus die jeweils herausgestellten Formen aufweisen, wie ähnlich sich das Zusammenspiel dieser Formen in verschiedenen Gedichten gestaltet und wie spezifisch diese Formen für die Gattung Lehrgedicht sind. Doch es ist unbestreitbar, dass die Untersuchung zahlreiche formale Mittel erfasst und systematisch ordnet, die in den Lehrgedichten häufig begegnen und in diesem (‚schwachen‘) Sinne für diese Gattung charakteristisch sind. Fragwürdiger sind aber Siegrists Thesen über die Autorabsichten und die historische Leistung ‚des‘ aufklärerischen Lehrgedichts. Zur Stützung dieser Thesen verweist Siegrist so gut wie ausschließlich auf Aussagen von Theoretikern des 18. Jahrhunderts.108 Dass die Intentionen der Autoren den von den Theoretikern proklamierten Aufgaben der Dichtung in hohem Maße entsprochen haben und ohne signifikante Verkürzung mit diesen

107 Ebd. Vgl. auch den Satz, mit dem Siegrist das Resümee des Kapitels zur Soziologie des Lehrgedichts einleitet: „Das Lehrgedicht, so läßt sich abschließend die Bilanz ziehen, spielt eine bedeutende Rolle im Bildungsprozeß des Bürgertums im 18. Jahrhundert insofern, als es auf anspruchsvolle Weise dessen Mitglieder in ihrem Selbstbewußtsein zu entwickeln und zu bestärken und ihnen die Maximen des Handelns wiederholend, veranschaulichend und vertiefend herzuleiten und zu demonstrieren vermag, welche eine Verwirklichung des diesseitigen Lebens garantieren.“ (Ebd., S. 243 f.) – Jäger hingegen hatte in seinen ‚Zusätzen‘ von Albertsens Buch vorsichtige Skepsis gegenüber der These der älteren Untersuchung Wolfgang Ulrichs geäußert, der zufolge das Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts generell als ‚bürgerlich‘ zu charakterisieren sei (Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung“, S. 566). Siegrist geht auf diesen Einwand ein und sucht ihn zu entkräften; vgl. Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 240. – Vgl. auch: Siegrist, „Fabel und Lehrgedicht: Gemeinsamkeiten und Differenzen“, S. 115 f., 118. 108 Vgl. etwa Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 54: Hier heißt es, die Verfasser der Lehrgedichte hätten ihre Aufgabe darin gesehen, von der Philosophie erarbeitete und begründete „Wahrheiten“ aufzunehmen, sie „zwecks größerer Wirksamkeit ein[zukleiden]“ und zu propagieren. Die einzige Quelle, auf die Siegrist hier diese Behauptung stützt, ist eine Aussage Sulzers in einem Brief an Bodmer.

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Positionen der Theoretiker identifiziert werden können, ist wiederum eine Annahme, die von Siegrist eher vorausgesetzt als nachgewiesen wird.109 Die Annahme einer weitreichenden Entsprechung zwischen der Praxis des Lehrgedichts und den zeitgenössischen Theorien des Lehrgedichts hat auch Hans-Wolf Jäger vertreten, freilich in teilweise vorsichtigeren Formulierungen als Siegrist. Doch die Vernachlässigung dieser Theorien bildet einen seiner wichtigsten Kritikpunkte in der Auseinandersetzung mit Albertsens Buch.110 Dieser Kritik ist zumindest insofern zuzustimmen, als die fast gänzliche Ausblendung der Theorie des Lehrgedichts ein Manko der Untersuchung Albertsens darstellt; die Frage nach der Relevanz dieser Theorie für die dichterische Praxis taucht so in Albertsens Buch praktisch nicht auf. Doch auf der anderen Seite wird die Annahme einer weitreichenden Konvergenz zwischen Theorie und Praxis bei Siegrist und Jäger letztlich nicht befriedigend begründet. Zumindest bleibt es noch

109 Der seines Erachtens maßgeblichen und fundierenden Rolle der Dichtungstheorie trägt Siegrist auch Rechnung, indem er, bevor er sich den Lehrgedichten zuwendet, die „Wesensund Funktionsbestimmung der Dichtung im Gottschedschen Raum“ (Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 6) rekonstruiert und im Anschluss daran die Grundzüge der Theorien des Lehrgedichts nachzeichnet, die von Autoren wie Batteux, Meier, Sulzer, Dusch und Engel entwickelt wurden (vgl. ebd., S. 20–88). 110 Vgl. Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“, besonders explizit etwa S. 557, 561. Dieser Theorie hätte man überzeugendere Kriterien und Begriffe zur Sortierung des Quellenmaterials entnehmen können; nachdem Jäger knapp einige Kriterien, anhand derer im 18. Jahrhundert literarische Gattungen definiert und voneinander unterschieden wurden, vorgestellt hat, schreibt er: „Nur durch eine ausführliche Analyse der Gattungsschemata und –begründungen, ihrer Differenzen und ihrer Entwicklung kann ein zureichender Untergrund für die Darstellung der Didaktik und ihrer Hauptgattung, des Lehrgedichts, hergestellt werden.“ (Ebd., S. 557) Später heißt es bei Jäger, es wäre auch im Rahmen einer „praktisch interpretatorische[n] Bemühung“ wie derjenigen Albertsens „[t]öricht [. . .], die von der Theorie angebotenen Begriffe, Kategorien und Vorschriften nicht aufzunehmen und zu verwerten. Die Vorreden zu den Gedichtausgaben, worin in einer Vielzahl der Fälle die Didaktiker ihr Unternehmen poetologisch begründen, rechtfertigen und deuten, wie auch das Faktum, daß die Dichter – man denke an Haller, Lessing, Wieland, Dusch, Kästner, Herder – oft zugleich Theoretiker und Kritiker sind, erlauben zumindest heuristisch-hermeneutisch einen Aufriß der Formen und Elemente der Didaxe anhand der Theorien. Albertsens mehr isolierendes und punktuelles Verfahren könnte dadurch nur gewinnen und kann nur so ergänzt werden. Gerade seine Vernachlässigung der Theorien bringt unzureichende Interpretationen und historisch schiefe Wertungen mit sich.“ (Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“, S. 561) Die zuletzt formulierte Kritik sucht Jäger im Folgenden durch einige konkrete Beispiele zu begründen. Diese Detailkritiken beziehen sich allerdings häufiger auf Wertungen als auf Interpretationsthesen Albertsens; die kritisierten Interpretationen scheinen zwar auch mir nicht überzeugend, aber Jäger zeigt nicht, dass ihre geringe Klarheit oder Plausibilität auf eine mangelnde Berücksichtigung der Dichtungstheorie zurückzuführen wäre.

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näher zu prüfen, wie weit diese Übereinstimmungen reichen und wie sie zu erklären sind. So hat Albertsen in seiner Replik auf Jäger einen Einwand formuliert, dessen Relevanz eigentlich offen zutage liegt, der aber dennoch in der Forschung nicht aufgegriffen wurde: Die von Jäger herangezogenen theoretischen Erörterungen des Lehrgedichts, so Albertsen, entstanden erst im späten 18. Jahrhundert, werden von Jäger aber auf früher verfasste Lehrgedichte bezogen;111 denselben Einwand hat Albertsen auch gegen das Buch Siegrists erhoben.112 Dieser Hinweis auf die ‚Verspätung‘ der Theorie gegenüber der Konjunktur des Lehrgedichts bleibt stichhaltig, selbst wenn man einräumt, dass die von Jäger und Siegrist angeführten Theorien keinesfalls alle aus dem „spätesten“113 18. Jahrhundert stammen, sondern zum Teil schon aus den 1750ern und 1760ern. Wichtig bleibt Albertsens Einwand auch nach dieser Relativierung, weil Jäger wie Siegrist ebenso wie die Mehrzahl der Forscher die in den 1730er und 1740er Jahren oder noch früher veröffentlichten Lehrgedichte Hallers, Brockes’ und Hagedorns als besonders bedeutende und wirkungsmächtige Vertreter der Gattung betrachten.114 Die erste Auflage von Hallers Band Versuch Schweizerischer Gedichte, die bereits zwei seiner einflussreichen Lehrgedichte enthielt, erschien 1732; zu diesem Zeitpunkt lagen die maßgeblichen Äußerungen Gottscheds oder Breitingers zum Lehrgedicht noch nicht vor, von Batteux, Sulzer oder Engel ganz zu schweigen. Die Diskussion des Forschungsstands hat ihren Ausgang von Siegrists Buch über Das Lehrgedicht der Aufklärung genommen, das den Zeitraum von etwa 1730 bis 1760 behandelt. Zu der Entwicklung des Lehrgedichts in den folgenden Jahrzehnten bis zur Zeit von Klassik und Romantik hat Jäger eine Reihe von Thesen formuliert, die bisher kaum aufgegriffen, geprüft oder weiterentwickelt worden sind.115 Dabei hat Jäger insbesondere seine Ausführungen zum Fortleben des Lehrgedichts in Klassik und Romantik ausdrücklich als vorläufige Überlegungen ausgewiesen, die sich vor allem auf dichtungstheoretische Äußerungen stützen und eines Abgleichs mit den Entwicklungen

111 Vgl. Albertsen, „Zur Theorie und Praxis der didaktischen Gattungen im deutschen 18. Jahrhundert“, vor allem S. 186 f. 112 Vgl. Albertsen, „Das Lehrgedicht und die deutsche Aufklärung“, S. 225. 113 Albertsen, „Zur Theorie und Praxis der didaktischen Gattungen im deutschen 18. Jahrhundert“, S. 186. 114 Siegrist vertritt sogar die Auffassung, der „Typus des aufklärerischen Lehrgedichtes“ sei bereits mit der zweiten Auflage von Hallers Gedichtband (1734) fertig ausgeprägt, und „die weitere ‚Entwicklung‘“ sei „eigentlich nur noch eine Variation der von Haller geschaffenen Form“ (Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 245). 115 Vgl. Jäger, „Lehrdichtung“, S. 529–533; ders., „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“, S. 568–576.

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in der dichterischen Praxis bedürfen.116 Was den Wandel des Lehrgedichts seit den 1750er Jahren angeht, so hat Jäger als übergreifende Tendenz eine stärkere Betonung der Empfindungen und des Subjektiven herausgestellt, die mit einer ‚Lyrisierung‘ des Lehrgedichts einhergehe oder diese bewirke.117 Verbunden mit dieser Entwicklung sei eine zunehmende Anreicherung der Lehrgedichte mit narrativen und dramatischen Komponenten.118 Einige dieser Tendenzen werden nach Jäger auch von Goethe und Schiller in ihren um 1800 entstandenen Lehrgedichten wie Die Metamorphose der Pflanzen oder Der Spaziergang aufgegriffen und weitergeführt.119 Charakteristisch für einige dieser neuartigen Lehrgedichte sei auch, dass sie den Prozess der Gewinnung von Erkenntnissen vorführen, anstatt nur die Ergebnisse der Reflexion zu präsentieren.120 Auch diese Veränderungen können nach Jäger zumindest teilweise als Formen einer ‚Lyrisierung der Didaxe‘ aufgefasst und so einer Tendenz zugeordnet werden, die sich auch in zeitgenössischen theoretischen Überlegungen zu lyrischer und didaktischer Dichtung sowie in Christoph August Tiedges erfolgreichem ‚lyrisch-didaktischen Gedicht‘ Urania manifestiere.121 Für die in jener Zeit entstandenen theoretischen Erörterungen zum Lehrgedicht sei ferner kennzeichnend, dass sie dem „Prinzip der Begeisterung“122 eine zentrale Stellung einräumen und unter anderem unter Rekurs auf dieses Prinzip den Gegenstandsbereich und die Leistung des Lehrgedichts neu bestimmen: Der „begeisterte Dichter“ sei nicht mehr nur „Lieferant von Ideen aus zweiter Hand“, sondern „Finder und ursprünglicher Vermittler von

116 Vgl. Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“, S. 568–576. Es handelt sich um den Schlussabschnitt des Aufsatzes zu Albertsens Lehrgedicht-Buch; er trägt die Überschrift: „Ausblick auf Klassik, Romantik und das 19. Jahrhundert“ (ebd., S. 568). Den Status dieser Überlegungen erläutert Jäger ebd., S. 568 (Anm. 115): Er „skizziere“ hier „in groben Umrissen die Tendenzen, die den Wandel der didaktischen Theorie um die Jahrhundertwende bestimmen.“ (Ebd.) Dass seine Beobachtungen zu Entwicklungen in der didaktischen Theorie durch Analysen der dichterischen Praxis ergänzt werden müssten, stellt Jäger ausdrücklich in einer Passage fest, die sich mit der „Annäherung der lyrischen und der didaktischen Gattung“ in der Theorie beschäftigt (ebd., S. 571). 117 Vgl. „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“, S. 569–571; der Ausdruck „Lyrisierung“ auf S. 571. 118 Vgl. Jäger, „Lehrdichtung“, S. 529–533. 119 Vgl. Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“, S. 569; vgl. auch ders., „Anakreontiker als Lehrdichter – Zwölf kurze Kapitel“, in: Beetz/Kertscher (Hrsg.), Anakreontische Aufklärung, S. 223–238, hier S. 231. 120 Vgl. Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“, S. 569, 571. 121 Vgl. ebd., S. 571. 122 Ebd. („Begeisterung“ im Original gesperrt).

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Wahrheiten eigener Art“.123 Diese theoretischen Entwürfe sind auch von Georg Jäger und Almut Todorow analysiert und als „Wandlung zum idealistischen Lehrgedicht“ beschrieben worden.124 Georg Jäger und Todorow neigen dabei dazu, diese idealistischen Konzeptionen des Lehrgedichts von der ‚Lyrisierung‘ des Lehrgedichts klar zu trennen,125 während in Hans-Wolf Jägers Aufsatz eher offen bleibt, wie eng die Entwicklungen miteinander zusammenhängen. Die genannten Arbeiten berücksichtigen dabei alle fast ausschließlich dichtungstheoretische Äußerungen, während Lehrgedichte der Zeit nur knappe Erwähnung finden.126 Seit den genannten Arbeiten Albertsens, Jägers und Siegrists sind keine Untersuchungen mehr erschienen, die die Entwicklung des deutschen Lehrgedichts im 18. Jahrhundert in einer umfassenden Perspektive behandeln. Ein größeres Segment aus dem Korpus der Lehrgedichte dieser Zeit behandelt aber Friedrich Vollhardts Arbeit über das „Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert“, die ein Kapitel über „[d]as moralische Lehrgedicht und die praktische Weltweisheit des Naturrechts“ enthält.127 Vollhardt untersucht die Rezeption und Verarbeitung von naturrechtlichen Konzepten, insbesondere aus dem Bereich der Individual- und der Sozialethik, in Lehrgedichten von Pope, Haller, Withof, Gellert, Lichtwer, Hagedorn und anderen Autoren. Die analysierten Beispiele können die These plausibel machen, dass „die didaktische Poesie einen maßgeblichen Anteil an der Verbreitung der naturrechtlichen Gesellschaftslehre hatte“.128 Insofern scheint die Leistung der Lehrgedichte, wie Vollhardt sie allgemein beschreibt, zunächst den einschlägigen Aussagen Siegrists und anderer Forscher zu entsprechen, denen

123 Ebd., S. 572. 124 Vgl. Almut Todorow, Gedankenlyrik. Die Entstehung eines Gattungsbegriffs im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1980, S. 69–74, die Überschrift „Wandlung zum idealistischen Lehrgedicht“ auf S. 69; Georg Jäger, „Das Gattungsproblem in der Ästhetik und Poetik von 1780 bis 1850“, in: Jost Hermand/Manfred Windfuhr (Hrsg.), Zur Literatur der Restaurationsepoche 1815–1848. Forschungsreferate und Aufsätze, Stuttgart 1970, S. 371–404, hierzu v. a. S. 390–392. 125 Zur Lyrisierung der Didaktik vgl. Todorow, Gedankenlyrik, S. 65–69; Jäger, „Das Gattungsproblem in der Ästhetik und Poetik von 1780 bis 1850“, S. 388–390. 126 Einige seiner Thesen über die Wandlung des Lehrgedichts in der zweiten Jahrhunderthälfte hat Hans-Wolf Jäger aber in einer Interpretation von Gleims Halladat ausführlicher und textnah entwickelt; vgl. Jäger, „Anakreontiker als Lehrdichter – Zwölf kurze Kapitel“, zu Halladat S. 230–238, zur Einordnung in die Gattungsentwicklung S. 231 f. 127 Vgl. Friedrich Vollhardt, Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2001; das betreffende Kapitel ebd., S. 260–298. 128 Ebd., S. 268.

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zufolge die Lehrgedichte auf eine Popularisierung neuer Erkenntnisse beziehungsweise des neuen ‚Welt- und Selbstverständnisses der Aufklärung‘ zielten. In Vollhardts Analysen einzelner Gedichte wird aber auch deutlich, dass die Autoren nicht lediglich einen weitgehend konsensuell akzeptierten ‚Kern‘ naturrechtlicher Lehren wirkungsvoll zu verbreiten suchten, sondern die Ideen des Naturrechts mit unterschiedlichen religiösen, anthropologischen und ethischen Konzeptionen verbanden, dabei zu divergierenden Resultaten kamen und gelegentlich auch kritisch auf die Positionen anderer Lehrgedichte reagierten.129 Zu erwähnen sind schließlich zwei Studien, in denen einzelne Lehrgedichte eingehend interpretiert und in größere Entwicklungen eingeordnet werden. Gunter E. Grimm hat in seiner grundlegenden Studie über Literatur und Gelehrtentum in Deutschland Martin Opitz’ Gedicht Vesuvius und Abraham Gotthelf Kästners Philosophisches Gedicht von den Kometen analysiert und als Beispiele für die humanistische Ausprägung gelehrter Poesie beziehungsweise für die gelehrte Dichtung im Zeichen eines „mathematisch-empiristischen Wissenschaftsparadigma[s]“ gedeutet.130 Grimm betrachtet dabei Kästners Gedicht ausdrücklich nicht als repräsentativ für die frühaufklärerischen Lehrgedichte insgesamt; bei den Lehrgedichten Hallers, Brockes’ oder Christian Fürchtegott Gellerts, so Grimm, wären andere Kontexte und Entwicklungslinien relevant als bei Kästner.131 In Uwe Steiners Studie Poetische Theodizee ist es nicht die Frage nach der Beziehung von Literatur

129 Vgl. etwa die Beobachtungen zu Besonderheiten des Umgangs mit naturrechtlichen Konzepten in Hallers Gedicht Ueber den Ursprung des Uebels: Ebd., S. 277 f. In der Analyse eines Lehrgedichts Johann Lorenz Withofs weist Vollhardt darauf hin, dass dieser sich u. a. von Lehren Popes distanziert: vgl. ebd., S. 279. Vgl. auch ebd., S. 286 f. (zu Positionen in Magnus Gottfried Lichtwers Das Recht der Vernunft in Abgrenzung von Pope und Haller bzw. von Brockes). 130 Vgl. Gunter E. Grimm, Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung, Tübingen 1983; zu Opitz’ Gedicht Vesuvius als „Exempel für humanistisch-gelehrte Poesie“ S. 209–222 (Zitat S. 209), zu Kästners Gedicht S. 703–720, der Ausdruck „mathematisch-empirische[s] Wissenschaftsparadigma“ auf S. 684; zusammenfassend zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten der zwei Gedichte ebd., S. 717–720. 131 Vgl. ebd., S. 699. Als literaturgeschichtlich zukunftsträchtig erwiesen sich dabei, so Grimm, eher die von Haller und Gellert vertretenen Varianten als der von Kästner verkörperte „Typus des reinen, vernunftorientierten Gottschedianismus“: „Haller und Gellert führen die Entwicklung weiter; Kästner ist ein Endpunkt.“ (Ebd.) Zu Kästner vgl. umfassend Rainer Baasner, Abraham Gotthelf Kästner, Aufklärer (1719–1800), Tübingen 1991; zu Kästners Lehrgedichten ebd., S. 166–297. Zu den Lehrgedichten Kästners, die zugleich Gelegenheitsgedichte für akademische Feiern sind, vgl. Olav Krämer, „Kasuale Lehrgedichte im Kontext der aufklärerischen Gelehrtenrepublik. Johann Christoph Gottsched und Abraham Gotthelf Kästner“, in: Scientia Poetica, 22/2018, S. 53–82, hier S. 69–79.

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und Gelehrtentum, sondern die nach dem Verhältnis von Literatur und Philosophie, die im Zentrum steht und die Perspektive auf die untersuchten Texte der „lehrhaften Dichtung im achtzehnten Jahrhundert“ bestimmt.132 Ein Hauptteil des Buchs widmet sich Leibniz’ Epicedium auf den Tod der preußischen Königin Sophie Charlotte (1705), das von Steiner als Beispiel für den Übergang von Kasualzu Lehrdichtung betrachtet wird. Ein weiterer Teil untersucht die in der Fabeldichtung und Fabeltheorie begegnenden Auffassungen vom Verhältnis zwischen Poesie und Philosophie sowie zwischen Fiktion und Wahrheit. Ein Epilog wendet sich Voltaires Gedicht auf das Erdbeben von Lissabon zu, in dem eine Wahrheit präsentiert werde, die sich „nicht ohne weiteres in die philosophische Sprache diskursiver Begrifflichkeit zurückübersetzen“ lasse; daher weise das Gedicht „nicht nur in die Tradition der Lehrdichtung zurück, sondern auch über sie hinaus“.133 Wie Steiner in der Vorbemerkung erklärt, erhebt die Arbeit nicht den „Anspruch [. . .], ihren weitgefaßten Gegenstand im einzelnen, geschweige denn im allgemeinen erschöpft zu haben.“134 Tatsächlich erscheint die Arbeit in ihrer Anlage und in der Auswahl der interpretierten Texte als geleitet durch die Absicht, die Herausbildung einer ganz bestimmten, auf die Moderne vorausweisenden Dichtungsauffassung in einzelnen Gedichten und dichtungstheoretischen Texten aufzuzeigen.135 Inwiefern die Tendenzen, die Steiner durch Voltaires Lissabon-Gedicht verkörpert sieht, für die Entwicklung der Gattung Lehrgedicht insgesamt repräsentativ sind, bleibt in der Studie weitgehend offen.

3.2 Englisches Lehrgedicht Zum englischen Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts liegen keine umfassenden monographischen Darstellungen vor. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Begriffe „Didactic poetry“ und „Didactic poem“ in der englischen Literatur

132 Vgl. Uwe Steiner, Poetische Theodizee. Philosophie und Poesie in der lehrhaften Dichtung im achtzehnten Jahrhundert, München 2000. 133 Vgl. ebd., S. 11, 306. 134 Ebd., S. 11. 135 In seiner Vorbemerkung skizziert Steiner eine Entwicklungslinie von Leibniz bis Nietzsche: Leibniz bereits habe seine „Essais de théodicée mit der Erzählung einer Fabel“ beschlossen, „die die ästhetischen Implikationen seiner Philosophie nachdrücklich vor Augen führt“, und die „an die Leibniz-Wolffische Philosophie sich anschließende philosophisch-poetologische Theoriebildung“ habe mit der „Grundlegung der Ästhetik als philosophischer Wissenschaft [. . .] den Grundstein einer Entwicklung [gelegt], als deren nur allzu folgerichtige Konsequenz in mancher Hinsicht Nietzsches Artistenmetaphysik zu gewärtigen wäre.“ (Steiner, Poetische Theodizee, S. 11)

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und Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts wie in der anglistischen Forschung zwar Verwendung finden, aber insgesamt wohl eine weniger prominente Rolle spielen als in der deutschen Literatur und in der Germanistik. Auffällig ist, dass es in der Anglistik, nicht aber in der Germanistik, monographische Studien zum georgischen Gedicht und zur Versepistel im 18. Jahrhundert gibt, also zu Gedichttypen, die als Untergattung bzw. als Nachbargattung des Lehrgedichts aufgefasst werden können.136 Doch in Handbüchern zur englischen Literatur des 18. Jahrhunderts sind auch die Begriffe „Didactic poetry“ oder „Lehrgedicht“ durchaus präsent. Den Forschungsstand markieren in erster Linie zwei Artikel aus dem einschlägigen Band der Cambridge History of English Literature, die von J. Paul Hunter beziehungsweise John Sitter verfasst wurden.137 Sie behandeln die „Political, satirical, didactic and lyric poetry“ im Zeitraum von der Restauration bis 1780, wobei sie als maßgebliche Zäsur innerhalb dieser Zeit den Tod Alexander Popes (1744) ansetzen. Die von ihnen gezogenen Grundlinien der Gattungsentwicklung seien hier knapp referiert.138 Hunter behandelt didaktische und satirische Gedichte in demselben Abschnitt seines Artikels und begründet dies, indem er auf die gemeinsamen Voraussetzungen und das gleichsam komplementäre Verhältnis der zwei Gattungen hinweist. In den Lehrgedichten wie den Satiren jener Epoche manifestiert sich demnach ein ‚engagiertes‘ Streben nach öffentlicher Wirkung sowie das Eintreten für die Reform politischer, sozialer und sittlicher Verhältnisse.139 Mit Blick auf die Lehrgedichte hebt Hunter die thematische und formale Diversität der Texte hervor, in denen sich Rat und Belehrung zu so gut wie allen Lebensbereichen finden, zu 136 Vgl. Richard Feingold, Nature and Society. Later Eighteenth-Century Uses of the Pastoral and Georgic, New Brunswick (NJ) 1979; John Chalker, The English Georgic. A Study in the Development of a Form, London 1969; Bill Overton, The Eighteenth-Century British Verse Epistle, Basingstoke 2007. 137 Vgl. J. Paul Hunter, „Political, satirical, didactic and lyric poetry (I): From the Restoration to the death of Pope“, in: John Richetti (Hrsg.), The Cambridge History of English Literature, 1660–1780, Cambridge 2005, S. 160–208, der Abschnitt zu „Didactic and satirical poetry“ auf S. 187–196; John Sitter, „Political, satirical, didactic and lyric poetry (II): after Pope“, in: ebd., S. 287–315, der Abschnitt zu „Didactic / discursive poetry“ auf S. 299–309. Vgl. ferner den knappen Überblick über das klassizistische Lehrgedicht bei Heinz-Joachim Müllenbrock, „Die klassizistische Dichtung“, in: Heinz-Joachim Müllenbrock/Eberhard Späth (Hrsg.), Literatur des 18. Jahrhunderts, Düsseldorf 1977, S. 107–167, hier S. 135–140. 138 An Überblicksdarstellungen sind insbesondere auch Handbuchartikel zum georgischen Gedicht und zur Versepistel relevant. Vgl. Juan Christian Pellicer, „The Georgic“, in: Christine Gerrard (Hrsg.), A Companion to Eighteenth-Century Poetry, Malden (MA) [u. a.] 2006, S. 403–416; Bill Overton, „The Verse Epistle“, in: ebd., S. 417–428. 139 Vgl. Hunter, „Political, satirical, didactic and lyric poetry (I)“, S. 187 f.

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Kochen, Weintrinken und Gartenbau ebenso wie zu Tanz und Cricket, zur Sorge um die körperliche Gesundheit wie zum Predigen und schließlich zum Regieren einer Nation.140 Das wichtigste literarische Modell, auf das vor allem Gedichte zu praktischen und alltäglichen Themen fast durchgehend Bezug nahmen, stellten Vergils Georgica dar, das zudem das maßgebliche Vorbild für deskriptive oder ‚topographische‘ Gedichte war. Hunter weist hier auch darauf hin, dass diese Gedichttypen, für die verschiedene Bezeichnungen im Umlauf sind, nur schwer vom georgischen Gedicht abzugrenzen sind.141 Ebenso charakteristisch wie die Fülle didaktischer Gedichte zu alltäglichen und manchmal trivialen Gegenständen, die vielfältige Abstufungen von Ernsthaftigkeit und Ironie aufweisen, ist für die Epoche die große Anzahl umfangreicher und ehrgeiziger Lehrgedichte zu philosophischen, religiösen oder historischen Themen. Hinsichtlich ihrer intellektuellen Ambitionen suchen diese Gedichte, so notiert Hunter am Rande, Anforderungen zu erfüllen, die traditionell an das Epos gestellt wurden, und mit dem Epos teilen viele der Gedichte auch die dezidiert nationalkulturelle Perspektivierung („a national and cultural focus“).142 Ähnliche Beobachtungen hat schon 1963 Ulrich Broich in einem vielzitierten Aufsatz breiter ausgeführt, wobei er allerdings dazu tendierte, die Übernahme epischer Motive und Zielsetzungen als charakteristisch für das englische Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts darzustellen143; demgegenüber wird in Hunters Artikel deutlich, dass diese Parallelen nur für eine, wenn auch prominente, Spielart des Lehrgedichts kennzeichnend sind. John Sitter sucht in seinem Artikel über das Lehrgedicht ‚nach Pope‘ vor allem die Neuerungen zusammenfassend zu charakterisieren, die einige

140 Vgl. ebd., S. 193–196. Auch in anderen Abschnitten des Artikels, die sich nicht speziell auf didaktische Gedichte beziehen, hat Hunter die Offenheit für eine immense Vielfalt von Themen als Signatur des englischen Gedichts im frühen 18. Jahrhundert hervorgehoben; vgl. vor allem ebd., S. 160 f. Diese thematische Offenheit und die damit einhergehende Nähe vieler Gedichte zu verschiedenen Formen der Prosa sind auch ein Gegenstand der Überlegungen in: Ders., „Couplets and Conversation“, in: John Sitter (Hrsg.), The Cambridge Companion to Eighteenth Century Poetry, Cambridge 2001, S. 11–35. 141 Nachdem er Popes Windsor Forest als Beispiel für Gedichte genannt hat, die nicht im engen Sinne georgische Gedichte sind, aber „strong Georgic features and aims“ haben, fährt Hunter fort: „And there are many other descriptive or ‚place‘ poems [. . .] that are, in a broad sense, Georgics. Works that we tend to label descriptive-didactic, topographical, locodescriptive, landscape, prospect, house or estate poems often are in fact nearly indistinguishable in intent and method from those labelled Georgics: the memory or even air of tradition is characteristically more important than labels and rules.“ (Hunter, „Political, satirical, didactic and lyric poetry (I)“, S. 195) 142 Ebd., S. 196. 143 Vgl. Ulrich Broich, „Das Lehrgedicht als Teil der epischen Tradition des englischen Klassizismus“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N. F. 13/1963, S. 147–163.

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englische Autoren seit den 1740ern in die Gattung einführten und die teilweise mit programmatischen Abgrenzungen von Pope, dem Essay on Man und seinen Episteln zu moralischen Themen verbunden waren. Kennzeichnend für diese Gedichte, unter denen Edward Youngs Night Thoughts (eigentlich: The Complaint; or, Night Thoughts upon Life, Death and Immortality) und Mark Akensides The Pleasures of Imagination die berühmtesten sind, sind nach Sitter der Gebrauch des Blankverses, eine gesteigerte Emotionalität und die Integration narrativer Passagen, die Episoden aus dem Leben des Sprechers darstellen und in diesem Sinne auch zur Subjektivierung beitragen.144 Die Neuorientierung des englischen Lehrgedichts wird von Sitter somit ähnlich beschrieben wie die empfindsame Ausprägung des deutschen Lehrgedichts in der germanistischen Forschung, insbesondere bei Hans-Wolf Jäger. Sitter verfolgt ferner, wie diese Tendenzen zur Emotionalisierung und Subjektivierung sich in längeren didaktischen Gedichten der zweiten Jahrhunderthälfte ausprägten. Charakteristisch verschiedene, aber zum Teil auch einander ähnliche Ausformungen dieser Tendenzen findet er in Oliver Goldsmiths The Traveller und The Deserted Village, George Crabbes The Village und William Cowpers The Task.145 Diese Handbuchartikel bieten instruktive Überblicke sowie einige anregende Thesen zur Entwicklung der Gattung, können aber naturgemäß die Strukturen, Intentionen und Gattungsbezüge einzelner Gedichte nicht eingehend analysieren. Einzelstudien zu den Gedichten hingegen schenken Gattungsfragen häufig nur wenig Aufmerksamkeit; das gilt auch für die umfangreiche Forschung zum Essay on Man und für die Untersuchungen zu einem so kanonischen Text wie Youngs Night Thoughts. Anregende Überlegungen zur Einstellung der englischen Romantiker zum Lehrgedicht bietet David Duffs Aufsatz „Antididacticism as a Contested Principle in Romantic Aesthetics“.146 Duff widerspricht der verbreiteten Auffassung, der zufolge die Romantiker didaktische Dichtung kategorisch abgelehnt und also auch keine Dichtung dieser Art verfasst hätten. Vielmehr sei die Einstellung der Romantiker zur didaktischen Literatur tief ambivalent gewesen: Einerseits äußerten sich Autoren wie Wordsworth und Shelley tatsächlich wiederholt sehr kritisch über didaktische Literatur, andererseits wiesen sie der Dichtung durchaus Aufgaben wie Erkenntnisvermittlung oder Bildung, gelegentlich auch eine quasi-prophetische Rolle zu, und ihre

144 Vgl. Sitter, „Political, satirical, didactic and lyric poetry (II): after Pope“, S. 299–303. 145 Vgl. ebd., S. 305–309. 146 Vgl. Duff, „Antididacticism as a Contested Principle in Romantic Aesthetics“.

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Werke weisen denn auch teilweise ausgeprägt belehrende Züge auf.147 Die ambivalente Haltung der Romantiker zur didaktischen Literatur lässt sich nach Duff, vereinfacht gesagt, darauf zurückführen, dass sie zwar die Autonomie der Dichtung verfechten, ihr aber zugleich eine bedeutende kulturelle Rolle sowie gesellschaftliche und politische Relevanz zuweisen wollten. Duff hat damit auf einen Sachverhalt aufmerksam gemacht, der mit etwas anderen Perspektivierungen auch für die deutsche Dichtungstheorie um 1800 beschrieben worden ist: Die Dichter und Theoretiker, die in diesem Zeitraum die Autonomie der Dichtung verfochten, wollten ihr teilweise zugleich die Fähigkeit und Aufgabe zur Vermittlung besonders wertvoller Einsichten zuschreiben. Damit ergab sich auf der Ebene der Dichtungstheorie das Problem, dass die ‚gute‘, Erkenntnisse auf die richtige Weise vermittelnde Literatur von der verfehlten didaktischen Literatur abgegrenzt werden musste; auf dieses Problem dürften etwa Formulierungen wie ‚höheres Lehrgedicht‘ oder ‚didaktisch im höheren Sinne‘ reagieren. Auf der Ebene der Dichtungspraxis ergab sich das Problem, wie die Abgrenzung von älteren Lehrgedichten in den Strukturen der Gedichte selbst markiert werden konnte. Unter diesem letzteren Gesichtspunkt könnten sowohl deutsche als auch englische ‚philosophische Gedichte‘ der Zeit um 1800 analysiert werden.

147 Gegen diese These hat Christoph Bode eingewendet, sie beruhe auf einer fragwürdigen Ausweitung des Begriffs ‚didaktische Literatur‘, der bei Duff schließlich alles bezeichne, „was nicht reines l’art pour l’art ist. Selbstverständlich verfolgen Gedichte von Blake, Wordsworth, Keats und Shelley irgendeinen purpose, das macht sie aber noch lange nicht zu Lehrgedichten im üblichen Sinne des Wortes.“ Vgl. Christoph Bode, „‚There is no want of knowledge [. . .]. We want the creative faculty to imagine that which we know‘. Die Wissenschaften im Konterdiskurs der englischen Romantik“, in: Henning Hufnagel/Olav Krämer (Hrsg.), Das Wissen der Poesie. Lyrik, Versepik und die Wissenschaften im 19. Jahrhundert, Berlin/Boston 2015, S. 69–90, hier S. 79, Anm. 33. Man kann gewiss argumentieren, dass Duff in seiner Kritik an einer traditionellen Sicht, die eine Kluft zwischen der didaktischen Dichtung des frühen 18. Jahrhunderts und der autonomem Dichtung der Romantik behauptet, über das Ziel hinausgeschossen ist und auf entgegengesetzte Weise übertrieben hat. Letztlich scheint mir Bodes Kritik aber vor allem indirekt auf das Desiderat einer genaueren Bestimmung von „Lehrgedichten im üblichen Sinne des Wortes“ hinzuweisen. Um auszubuchstabieren, weshalb die Zwecke der Gedichte Wordsworths oder Shelleys – die im Falle der Gedichte mit philosophischem Gehalt auch kognitiver Art sein dürften – sie noch nicht zu Lehrgedichten machen, dürfte ein Rekurs auf die formalen und strukturellen Eigenschaften erforderlich sein, die für Lehrgedichte konstitutiv sind.

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I Einleitung und Grundlagen

3.3 Französisches Lehrgedicht Dass das Lehrgedicht auch in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts eine intensiv gepflegte Gattung darstellt, ist in der Forschung unbestritten. Auch der Begriff „poésie didactique“ ist in der Literatur und Dichtungstheorie dieses Zeitraums unübersehbar präsent, und dies nicht nur im Rahmen von systematischen Werken wie jenen Charles Batteux’; auch Louis Racine und Marmontel verfassten Überlegungen über die didaktische Dichtung. Doch umfassende monographische Darstellungen liegen wie zum englischen, so auch zum französischen Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts nicht vor. Einen Überblick bieten am ehesten Artikel in literaturgeschichtlichen Handbüchern sowie einzelne Kapitel in Studien zur Literatur dieses Zeitraums, die allerdings häufig nur einzelne Spielarten der „poésie didactique“ berücksichtigen und der Frage nach dem Gattungscharakter teilweise kaum Aufmerksamkeit schenken.148 Gedichte Voltaires wie die Discours en vers sur l’homme oder das Poème sur la loi naturelle werden manchmal als Lehrgedichte, manchmal als philosophische Gedichte oder Ideengedichte bezeichnet.149 Die Aussage, dass es zum Lehrgedicht dieses Zeitraums keine monographischen Darstellungen gibt, ist allerdings auf ähnliche Weise wie beim englischen Lehrgedicht zu präzisieren. Wie es umfassende Untersuchungen zum georgischen Gedicht und zur Versepistel in der englischen Literatur des 18. Jahrhunderts gibt, so finden sich auch in der Forschung zur französischen Literatur Studien zu Unter- oder Nachbargattungen des Lehrgedichts, konkret zum beschreibenden Gedicht, zum philosophischen Gedicht und zur ‚poésie scientifique‘. Édouard

148 Für Kapitel oder Abschnitte, die sich ausdrücklich der „poésie didactique“ widmen, vgl. Leo Pollmann, Geschichte der französischen Literatur. Eine Bewußtseinsgeschichte. Bd. 3: Zeitalter des Bürgertums (Von 1685 bis 1879), Wiesbaden 1978, S. 222–226; Robert Sabatier, La Poésie du XVIIIe siècle, Paris 1975, S. 62–67, 71–77, 124–142. Vgl. ferner Alain Génetiot, „La poésie (XVIIe–XVIIIe siècles)“, in: Jean-Charles Darmon/Michel Delon (Hrsg.), Histoire de la France littéraire. Tome 2: Classicismes XVIIe–XVIIIe siècle, Paris 2006, S. 587–628, hier S. 593–595 (zu theologischen und philosophischen Gedichten u. a. Louis Racines und Voltaires), S. 622 f. (zu beschreibenden Gedichten); France, „The Poet as Teacher“. France behandelt in dem Artikel nicht nur Lehrgedichte, sondern auch literarische Texte anderer Gattungen, die belehrende Zwecke verfolgen, darunter Epen und Oden. – An literaturgeschichtlichen Untersuchungen mit Abschnitten zu Lehrgedichten sind zu nennen: Édouard Guitton, Jacques Delille (1738–1813) et le poème de la nature en France de 1750 à 1820, Paris 1974; Sylvain Menant, La Chute d’Icare. La Crise de la Poésie française 1700–1750, Genf 1981, hier v. a. S. 338–350; Robert Finch, The Sixth Sense. Individualism in French Poetry 1686–1760, Toronto 1966; vgl. hier vor allem das Kapitel zu Louis Racine, S. 248–294. 149 Vgl. Béatrice Didier, Histoire de la Littérature Française du XVIIIe Siècle, Paris 1992, S. 73 f.

3 Das Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts: Zum Forschungsstand

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Guitton zeichnet in seinem weit ausholenden Buch über Jacques Delille die Entwicklung des deskriptiven Gedichts im Laufe des 18. Jahrhunderts nach und sucht dabei die These plausibel zu machen, dass das beschreibende Gedicht das didaktische ‚ablöse‘.150 Wie Andreas Kablitz in seiner Rezension hervorgehoben hat, stützt sich Guitton dabei auf einen theoretisch ungeklärten und unscharfen Begriff von „genre“, der die Grenze zwischen Schreibarten (wie der description) und komplexeren Mustern, also Gattungen im engeren Sinne, verwischt.151 Das Verhältnis des beschreibenden Gedichts zum Lehrgedicht wäre mithin noch auf der Grundlage eines präziseren Gattungsbegriffs zu untersuchen. Noch weniger Aufmerksamkeit erhalten der Gattungsbegriff und Fragen der Gattungszugehörigkeit in dem Buch La poésie philosophique des Philosophen Louis Vax.152 Vax behandelt Gedichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert und ordnet die Gedichte des 18. Jahrhunderts dabei noch eher der „philosophie versifiée“ als der „poésie proprement philosophique“ zu,153 ohne diese Begriffe allerdings zu klären. Die Analysen zu den Gedichten des 18. Jahrhunderts sind dennoch von Interesse, zumal Vax vereinzelt auch deutsche und englische Texte berücksichtigt. Besonders gründlich erforscht wurde in der jüngeren Zeit schließlich die „poésie scientifique“, ein fast ausschließlich über den naturwissenschaftlichen Inhalt definiertes Gedichtkorpus, das viele Texte umfasst, die – etwa aufgrund ihrer strukturellen Orientierung an Lukrez’ De rerum natura – als Lehrgedichte im hier verwendeten Sinne gelten können.154 Hervorzuheben ist schließlich, dass es selbst zu den bekanntesten französischen Lehrgedichten des 18. Jahrhunderts – abgesehen von einigen Vertretern der ‚poésie scientifique‘ – nur wenig Untersuchungen und insbesondere kaum Studien jüngeren Datums gibt. Das gilt auch für so prominente Titel wie

150 Vgl. Guitton, Jacques Delille (1738–1813) et le poème de la nature en France de 1750 à 1820. 151 Vgl. Andreas Kablitz, „[Rez. zu:] Édouard Guitton, Jacques Delille (1738–1813) et le poème de la nature en France de 1750 à 1820. [. . .] Paris 1974“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 92/1982, 4, S. 359–362, hier vor allem S. 360 f. 152 Vgl. Louis Vax, La poésie philosophique, Paris 1985. 153 Ebd., S. 20. 154 Vgl. Muriel Louâpre/Hugues Marchal/Michel Pierssens (Hrsg.), La Poésie scientifique, de la gloire au déclin, 2014, http://www.epistemocritique.org (letzter Zugriff am 08.04.2019). Zum Begriff „poésie scientifique“ vgl. Muriel Louâpre, „La poésie scientifique: autopsie d’un genre“, in: ebd., S. 21–42 (letzter Zugriff am 08.04.2019); Philippe Chométy/Hugues Marchal, „Poésie scientifique“, in: Saulo Neiva/Alain Montandon (Hrsg.), Dictionnaire raisonné de la caducité des genres littéraires, Genf 2014, S. 661–682. Eingeführt wurde der Begriff „poésie scientifique“ wohl von Casimir-Alexandre Fusil, La Poésie scientifique de 1750 à nos jours. Son élaboration, sa constitution, Paris 1917. Vgl. ferner Marchal, „L’ambassadeur révoqué“.

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I Einleitung und Grundlagen

Voltaires Poème sur la loi naturelle oder für das Gedicht Les Saisons von JeanFrançois de Saint-Lambert, das nicht nur als eines der wirkungsmächtigsten deskriptiven Gedichte im französischen 18. Jahrhundert angesehen wird, sondern nach Sylvain Menant auch weiterhin als „the model of a large-scale philosophical poem“ gelten kann.155

4 Zielsetzungen und Korpus Die Zielsetzungen der vorliegenden Arbeit orientieren sich zum Teil an den oben skizzierten Überlegungen zu Begriff und Geschichte des Lehrgedichts, zum Teil am Stand der Forschung zum Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts, und zwar insbesondere der germanistischen Forschung. Es sind im Wesentlichen vier ineinander greifende Ziele, die hier verfolgt werden. Das erste Ziel besteht darin, eine Reihe einflussreicher oder repräsentativer Lehrgedichte zu interpretieren und dabei die Art der Wissensvermittlung, die mit ihnen bezweckt wird, genauer zu bestimmen, als dies bisher geschehen ist. Es soll gezeigt werden, dass die leitende Absicht dieser Gedichte nicht auf eine Popularisierung philosophischen oder naturwissenschaftlichen Wissens reduziert werden kann, sofern unter Popularisierung die Verbreitung einer vereinfachten Version eines von Fachwissenschaftlern erarbeiteten Wissens verstanden wird. Zum einen wurde das Lehrgedicht auch als ein Medium für eigenständige Stellungnahmen zu Kontroversen genutzt; die Verfasser der Gedichte präsentierten sich vielfach nicht als Agenten der Diffusion und Propagierung ‚fertiger‘ Theorien, sondern als Teilnehmer an einer Diskussion, die nicht nur von Fachgelehrten, sondern vom weiteren Kreis der Gebildeten geführt wurde. Zum anderen zielten die Gedichte vielfach nicht allein auf die Vermittlung von Lehren im Sinne einer Menge von Propositionen und Argumenten, sondern darüber hinaus auch auf die Vermittlung von Haltungen oder Einstellungen. Hierfür ist von Bedeutung, dass die wirkungsmächtigen Lehrgedichte des 18. Jahrhunderts großenteils ethische und religiöse Lehren ins Zentrum stellten. Das Selbstverständnis und die Absichten der Lehrdichter erschließen sich nicht zuletzt über die formale Rahmung der dargebotenen Lehren. Zusammen mit den Intentionen sollen die Interpretationen daher zweitens die Formen und Strukturen der Lehrgedichte eingehend untersuchen. Besonderes Gewicht legen

155 Sylvain Menant, „Poetry“, in: Alan Charles Kors (Hrsg.), Encyclopedia of the Enlightenment. Vol. 3: Mably–Ruysch, Oxford 2003, S. 298–303, hier S. 301.

4 Zielsetzungen und Korpus

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die Gedichtanalysen auf jene formalen Eigenschaften, die für die Gattung Lehrgedicht im hier vorausgesetzten Sinne charakteristisch oder konstitutiv sind: also vor allem auf die Gestaltung der gedichtinternen Kommunikationssituation, aber auch auf explizite Strukturierungen des Gedankengangs und auf die Verknüpfung von allgemeinen Aussagen und Exempeln. In der Analyse und Deutung dieser formalen Gedichteigenschaften sucht die Untersuchung die verbreitete Ansicht zu relativieren und zu differenzieren, der zufolge die poetische Form der Lehrgedichte generell den Zwecken der Versinnlichung oder der ‚Verzuckerung‘ des Lehrgehalts diene. Diese Leistungen sind zweifellos für Autoren wie Rezipienten von Lehrgedichten des 18. Jahrhunderts relevant, erschöpfen aber nicht die Funktionen, die den poetischen Gestaltungselementen zugeschrieben wurden. Drittens will die Arbeit das Verhältnis von Lehrgedichten des späteren zu solchen des frühen 18. Jahrhunderts untersuchen und dabei auf Kontinuitäten hinweisen, die sich auf der Ebene der Intentionen der Lehrgedichtverfasser ergeben. Diese Kontinuitäten sind von den Veränderungen abzuheben, die auf den Ebenen der konkreten Gehalte wie der formalen Gestaltung festzustellen sind. Auf diese Weise soll verständlich gemacht werden, weshalb die Gattung unter den Bedingungen der neuartigen Dichtungsideale seit der Jahrhundertmitte nicht aufgegeben, sondern umgeformt wurde, und dies in einigen Fällen – wie im Falle von Youngs Night Thoughts – mit geradezu sensationellem Publikumserfolg. Ferner sind die Gedichte Schillers und Goethes, die mal als Lehrgedichte, mal als Gedankenlyrik, als Ideengedichte oder weltanschauliche Gedichte klassifiziert werden, auf ihre Beziehung zum Lehrgedicht des früheren 18. Jahrhunderts hin zu prüfen. Die vierte Zielsetzung, die im Hinblick auf den ihr gewidmeten Raum eine nachgeordnete Stellung einnimmt, bezieht sich auf die in der Forschung kontrovers behandelte Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis des Lehrgedichts im 18. Jahrhundert. Unter Rückgriff auf die erarbeiteten Gedichtinterpretationen soll die These plausibel gemacht werden, dass die Praxis des Lehrgedichts eine relativ hohe Eigenständigkeit gegenüber der zeitgenössischen Theorie der Gattung besaß und dass Deutungen der Gedichte, die sie vor allem als Umsetzung dieser theoretischen Bestimmungen auffassen, wesentliche Aspekte zu verfehlen drohen. Nachdem die Zielsetzungen der Arbeit benannt sind, ist die Zusammenstellung des Textkorpus noch näher zu erläutern. Behandelt werden in erster Linie, wenn auch nicht ausschließlich Gedichte, die in ihrer Zeit eine größere Wirkung ausübten oder als wichtige Vertreter der Gattung Lehrgedicht aufgefasst wurden. Einige dieser Texte haben kanonischen Rang und sind in der Forschung entsprechend intensiv untersucht worden, wenn auch nicht unbedingt

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I Einleitung und Grundlagen

hinsichtlich ihrer Stellung in der Geschichte des Lehrgedichts; andere haben bisher trotz ihrer Bekanntheit bei den Zeitgenossen wenig Aufmerksamkeit von Seiten der Literaturhistoriker erhalten. In der Auswahl der Texte legt die Untersuchung einen Schwerpunkt auf Gedichte mit ethischen und religiösen Themen. Nur am Rande berücksichtigt werden hingegen dezidiert fachwissenschaftliche Lehrgedichte156 und deskriptive Gedichte.157 Diese Schwerpunktsetzung ergibt sich zunächst aus dem Umstand, dass die Lehrgedichte des 18. Jahrhunderts, die von den Zeitgenossen als mustergültige Gattungsvertreter angesehen wurden – so etwa die einflussreichen Lehrgedichte Popes und Hallers –, größtenteils Gedichte zu Themen der Philosophie, insbesondere der Ethik, und der Religion waren. Zudem ist die Arbeit von der Vermutung geleitet, dass die thematisch bestimmten Subgattungen je spezifische Absichten und Formen aufweisen und auch eigene Traditionslinien ausbildeten. Im Übrigen ist zu betonen, dass moralphilosophische und religiöse Lehrgedichte des 18. Jahrhunderts keineswegs trennscharf von naturwissenschaftlichen oder beschreibenden Gedichten abgegrenzt werden können, wie bereits die bedeutende Rolle der Physikotheologie für die Literatur dieser Epoche vermuten lässt. Während die Untersuchung innerhalb des deutschsprachigen Lehrgedichts also gezielt Schwerpunkte setzt und einen thematisch bestimmten Strang der Gattungsgeschichte verfolgt, berücksichtigt sie andererseits auch englische und französische Lehrgedichte. Auch hier kann aus der Menge der Quellen nur ein kleiner Teil herausgegriffen werden. Ausgewählt werden Texte, die

156 Bei dieser inhaltlichen Klassifikation der Lehrgedichte greife ich etablierte Einteilungen auf. Siegrist unterscheidet hinsichtlich des Inhalts ‚philosophische‘, ‚moralische‘ und ‚fachwissenschaftliche‘ Lehrgedichte; vgl. Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 59–67; vgl. aber auch ebd., S. 58, zu dem „moralisch-philosophische[n]“ und dem „religiöse[n]“ Lehrgedicht. Zu inhaltlichen Einteilungen der Lehrgedichte in der Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts vgl. ebd., S. 58 f. Für eine Unterscheidung zwischen ‚wissenschaftlichen‘, ‚weltanschaulichen‘ und ‚philosophischen‘ Lehrgedichten vgl. Stefan Greif, Literatur der Aufklärung, München [u. a.] 2013, S. 127–133. 157 Zu deutschsprachigen beschreibenden Gedichten des 18. Jahrhunderts vgl. Jäger, „Lehrdichtung“, S. 506–513; Hans Christoph Buch, Ut Pictura Poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács, München 1972, S. 64–143, 282–293 (Anm.). Buch behandelt hier Brockes’ Irdisches Vergnügen in Gott, Hallers Alpen und Ewald Christian von Kleists Frühling. Zu dem zuletzt genannten Gedicht vgl. auch Christoph Willmitzer, Der Frühling Ewald Christian von Kleists. Themen und Poetologie im Kontext des Gesamtwerks, Berlin/Boston 2017; Lothar Jordan, „Was war neu an Ewald von Kleists Der Frühling?“, in: Ders. (Hrsg.), Ewald von Kleist zum 250. Todestag, Würzburg 2010, S. 93–108. Zum Verhältnis zwischen deskriptivem Gedicht und Lehrgedicht vgl. auch Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 38–42.

5 Methode und theoretische Voraussetzungen

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international eine große Wirkung ausübten oder die ansatzweise Phasen oder Tendenzen der Gattungsgeschichte in den jeweiligen Nationalliteraturen repräsentieren können. Nicht berücksichtigt werden in der Arbeit hingegen die in lateinischer Sprache verfassten Lehrgedichte des 18. Jahrhunderts, obwohl die Fortsetzung dieser neulateinischen Tradition zweifellos einen wichtigen literaturgeschichtlichen Sachverhalt darstellt.158 Abgesehen von dem prominenten Beispiel des Anti-Lucretius Melchior de Polignacs ist bisher noch kaum bekannt, welche Kontakte es zwischen neulateinischen und volkssprachlichen Gattungsentwicklungen gab, und die Analyse dieser Beziehungen muss hier künftigen Forschungen überlassen werden.

5 Methode und theoretische Voraussetzungen Die Zielsetzungen der Untersuchung implizieren theoretische Voraussetzungen, die nun noch ausdrücklich zu machen und näher zu erläutern sind. Wie die oben formulierte Frage nach der von den Lehrdichtern beabsichtigten Wissensvermittlung bereits erkennen lässt, stützt sich die Untersuchung auf eine intentionalistische Interpretationskonzeption. Eine ihrer zentralen theoretischen Grundannahmen lautet also, dass literarische Texte Mittel und Ergebnisse von Handlungen sind und folglich unter anderem im Hinblick darauf untersucht werden können, welche Absichten ihre Autoren mit ihnen verfolgten.159 Die

158 Vgl. Kühlmann, Wissen als Poesie, S. 153 f.; Kühlmann weist hier auf den Anti-Lucretius Melchior de Polignacs sowie auf jesuitische ‚Antworten‘ auf Lukrez in lateinischer Sprache hin. Yasmin Haskell, eine Spezialistin für das neulateinische Lehrgedicht, hat auch Untersuchungen zu Gedichten des 18. Jahrhunderts vorgelegt. Vgl. Haskell, Loyola’s Bees; dies., „Latin Poet-Doctors of the Eighteenth Century: The German Lucretius (Johann Ernst Hebenstreit) versus the Dutch Ovid (Gerard Nicolaas Heerkens)“, in: Yasmin Haskell/Susan Broomhall (Hrsg.), Humanism and Medicine in the Early Modern Period, Abingdon 2008 in: Intellectual History Review, 18/2008, 2, S. 91–101; dies., „Religion and Enlightenment in the Neo-Latin Reception of Lucretius“, in: Gillespie/Hardie (Hrsg.), The Cambridge Companion to Lucretius, S. 185–201. 159 Hier soll also keineswegs die Ansicht vertreten werden, dass der autorintentionalistische Interpretationsansatz der einzige sinnvolle Ansatz zur Interpretation literarischer Texte sei. Ich stimme vielmehr der von Werner Strube und anderen im Detail entwickelten Auffassung zu, dass es in der aktuellen Literaturwissenschaft verschiedene sinnvolle Interpretationsweisen gibt, die durch jeweils spezifische Ziele, Text- und Bedeutungskonzepte und Methoden definiert sind. Vgl. hierzu vor allem Werner Strube, Analytische Philosophie der Literaturwissenschaft. Untersuchungen zur literaturwissenschaftlichen Definition, Klassifikation, Interpretation und Textbewertung, Paderborn 1993, S. 67–96. Vgl. für eine vergleichbare, etwas anders begründete Position auch: Jeffrey Stout, „What Is the Meaning of a Text?“, in: New Literary

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I Einleitung und Grundlagen

sprach- und bedeutungstheoretischen Grundannahmen, auf die sich die Untersuchung stützt, entstammen der linguistischen Pragmatik sowie Richtungen der Sprachphilosophie, die den Begriff des sprachlichen Handelns ins Zentrum stellen. Auch der Begriff der Gattung wird hier in einer Weise konzeptualisiert, die sich an Definitionen und Theorien aus der Linguistik, speziell der historisch interessierten Pragmatik und der Soziolinguistik, anlehnt. Einige erläuternde Bemerkungen verlangt zunächst der Rekurs auf eine intentionalistische Interpretationskonzeption. Das autorintentionalistische Interpretieren war bekanntlich im Laufe des 20. Jahrhunderts mehreren grundsätzlichen Angriffen ausgesetzt, die in der literaturtheoretischen Diskussion eine immense Wirkung ausübten und auf breite Zustimmung stießen, während ihr Einfluss auf die interpretatorische Praxis der Literaturwissenschaft weit schwieriger abzuschätzen ist. Die – ganz unterschiedlich begründeten – Verurteilungen des Intentionalismus, die etwa von Wimsatt und Beardsley oder von Barthes formuliert wurden, sind allerdings ihrerseits vielfach und eingehend von Vertretern intentionalistischer Positionen kritisiert worden.160 Insbesondere in der anglophonen Literaturtheorie hat sich, so eine bilanzierende Feststellung aus dem Jahr 2007, „im Kontext einer intensivierten ‚analytischen‘ Debatte [. . .] die Stellung des intentionalistischen Lagers wieder konsolidiert.“161 An diesen Ansätzen der jüngeren History, 14/1982, 1, S. 1–12. Lutz Danneberg und Hans-Harald Müller unterscheiden zwischen ‚Interpretationskonzeptionen‘, die unter anderem durch eine ‚Bedeutungskonzeption‘ definiert sind; von ihnen übernehme ich den Ausdruck ‚Interpretationskonzeption‘. Vgl. Lutz Danneberg/Hans-Harald Müller, „Probleme der Textinterpretation. Analytische Rekonstruktion und Versuch einer konzeptionellen Lösung“, in: Kodikas/Code, 3/1981, S. 133–168, hier v. a. S. 148–150 und 153–157. 160 Für die kritische Auseinandersetzung mit der Position von Wimsatt und Beardsley ist besonders wichtig: David Newton-De Molina (Hrsg.), On Literary Intention. Critical Essays, Edinburgh 1976. Vgl. auch die Aufarbeitung und konstruktive Weiterführung der Debatte bei Lutz Danneberg/Hans-Harald Müller, „Der ‚intentionale Fehlschluß‘ – ein Dogma? Systematischer Forschungsbericht zur Kontroverse um eine intentionalistische Konzeption in den Textwissenschaften“ [zwei Teile], in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, 14/1983, S. 103–137, 376–411. Einen hilfreichen Überblick über anti-intentionalistische Einwände und intentionalistische Gegenargumente bietet Peter Lamarque, „The Intentional Fallacy“, in: Patricia Waugh (Hrsg.), Literary Theory and Criticism, Oxford 2006, S. 177–188. Zur Auseinandersetzung mit den Positionen von Roland Barthes und Michel Foucault vgl. etwa: Peter Lamarque, „The Death of the Author: An Analytical Autopsy“, in: British Journal of Aesthetics, 30/1990, S. 319–331; Noël Carroll, „Art, Intention, and Conversation“ [1992], in: Ders., Beyond Aesthetics. Philosophical Essays, Cambridge 2001, S. 157–180 (Anm. S. 413–417). 161 Carlos Spoerhase, Autorschaft und Interpretation. Methodische Grundlagen einer philologischen Hermeneutik, Berlin/New York 2007, S. 66. Spoerhase bietet auch eine umfassende, systematische Rekonstruktion und kritische Analyse der Einwände gegen den Intentionalismus; vgl. ebd., S. 57–105. Wichtige Beiträge zur ‚Konsolidierung‘ der intentionalistischen Position

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analytischen Literaturtheorie orientiert sich auch die vorliegende Arbeit. Sie übernimmt dabei nicht die gelegentlich anzutreffenden Argumente für die Ansicht, der Intentionalismus sei die angemessenste Interpretationstheorie, sondern Argumente für die Auffassung, dass er zumindest eine vertretbare Interpretationstheorie darstellt, die nicht mit schwerwiegenderen Problemen behaftet ist als andere Interpretationstheorien auch.162 Dazu gehört insbesondere die meist im Anschluss an Gilbert Ryle oder den späten Wittgenstein entwickelte Kritik an der Ansicht, Intentionen seien private mentale Entitäten und als solche grundsätzlich unzugänglich.163 Hinsichtlich ihrer Auffassungen von Bedeutung, sprachlichen Handlungen und kommunikativen Intentionen orientiert sich die Arbeit – wie die meisten intentionalistischen Ansätze der neueren analytischen Debatte – an einer

leisteten neben den genannten Kritiken an Wimsatt/Beardsley, Barthes und Foucault vor allem: Gary Iseminger (Hrsg.), Intention and Interpretation, Philadelphia 1992; Robert Stecker, Artworks. Definiton, Meaning, Value, University Park (PA) 1997; ders., Interpretation and Construction. Art, Speech, and the Law, Malden (MA) 2003. Für die deutschsprachige Diskussion wegweisend: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martínez/Simone Winko (Hrsg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999. In der neueren anglophonen Diskussion stehen sich nicht nur intentionalistische und anti-intentionalistische Positionen, sondern auch zwei verschiedene Grundformen des Intentionalismus gegenüber, die als ‚actual intentionalism‘ und ‚hypothetical intentionalism‘ bezeichnet und beide wiederum in unterschiedlichen Varianten vertreten werden. Vgl. zu dieser Debatte etwa Noël Carroll, „Interpretation and Intention: The Debate between Hypothetical and Actual Intentionalism“ [2000], in: Ders., Beyond Aesthetics. Philosophical Essays, Cambridge 2001, S. 197–213, 418–420 (Anm.). Der für die vorliegende Arbeit leitende Ansatz entspricht in etwa derjenigen Position, die meist als ‚moderate actual intentionalism‘ (oder ‚partial actual intentionalism‘) bezeichnet und etwa von Noël Carroll und Robert Stecker vertreten wird. Vgl. ebd. sowie: Robert Stecker, „Moderate Actual Intentionalism Defended“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 64/2006, 4, S. 429–438. 162 Dass „eine autorintentionale Auffassung der Interpretation (von Texten) sich letztlich mit nicht größeren Problemen konfrontiert sieht als andere Interpretationskonzeptionen auch“, ist die zentrale These von Lutz Danneberg, „Zum Autorkonstrukt und zu einem methodologischen Konzept der Autorintention“, in: Jannidis/Lauer/Martínez/Winko (Hrsg.), Rückkehr des Autors, S. 77–105, Zitat S. 77. 163 Zu dieser Kritik und zu ihrem Anschluss an Ryle und Wittgenstein vgl. knapp Lamarque, „The Intentional Fallacy“, S. 184. Die Auffassung von Intentionen, die sich im Gefolge von Ryles The Concept of Mind und Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen durchsetzte, fasst Lamarque so zusammen: „To describe a person’s thoughts, desires, and intentions, on the preferred view, was not to guess at a mysterious inner world to which only that person has direct access, but was to make a complex judgment about the person’s social interactions and observable responses. Intentions became part of the publicly accessible realm, and literary works were deemed as good an indicator of intention as any other manifest behaviour.“ (Ebd.)

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I Einleitung und Grundlagen

philosophischen Tradition, die durch den späten Wittgenstein, Austin und Grice markiert wird.164 Die Untersuchung will jedoch die literarischen Texte nicht allein im Hinblick auf die Autorintentionen auslegen, sondern auch ihre Gattungszugehörigkeit ins Zentrum rücken. Dabei stützt sie sich auf ein Verständnis von Gattungen, das ihre Bedeutung für konkrete sprachliche Handlungen zu bestimmen sucht und insofern mit der hier verwendeten Interpretationskonzeption kompatibel ist. Innerhalb des breiten Spektrums theoretischer Ansätze165 orientiert sie sich also grundsätzlich an der Gruppe „kommunikativ fundierte[r] Gattungstheorien“, die „den historischen Charakter literarischer Gattungen im Sinne soziokultureller Konventionen [betonen]“.166 Genauer sind es also vor allem von der Pragmatik geprägte Definitionen und Theorien, die für die Arbeit leitend sind.167 Das zugrunde gelegte Gattungskonzept kann mit einer Definition Susanne Günthners zusammengefasst werden: Gattungen bezeichnen [. . .] sozial verfestigte und komplexe kommunikative Muster, an denen sich Sprecher/innen und Rezipient/innen sowohl bei der Produktion als auch Interpretation interaktiver Handlungen orientieren.168

Die Leistung von Gattungen in diesem Sinne, insbesondere von Gattungen der Alltagskommunikation, wird in der Regel darin gesehen, dass sie die Lösung kommunikativer Probleme erleichtern, indem sie vorgefertigte Muster zur Lösung solcher Probleme bereitstellen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die

164 Zur Rolle der Bedeutungstheorien von Wittgenstein und Grice für die neueren intentionalistischen Ansätze vgl. Lamarque, „The Intentional Fallacy“, S. 184. Für eine neuere, an Wittgenstein und Grice orientierte linguistische Zeichen- und Bedeutungstheorie vgl. Rudi Keller, Zeichentheorie. Zu einer Theorie semiotischen Wissens, Tübingen/Basel 1995. 165 Für einen Überblick vgl. Rüdiger Zymner (Hrsg.), Handbuch Gattungstheorie, Stuttgart/ Weimar 2010; Marion Gymnich/Birgit Neumann/Ansgar Nünning (Hrsg.), Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, Trier 2007. 166 Wilhelm Voßkamp, „Literarische Gattungen und literaturgeschichtliche Epochen“, in: Helmut Brackert/Jörn Stückrath (Hrsg.), Literaturwissenschaft. Grundkurs 2, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 51–74, hier S. 52. 167 Vgl. knapp zu diesem pragmatischen Gattungsbegriff und seinem Verhältnis zu anderen Ansätzen: Birgit Neumann/Ansgar Nünning, „Einleitung: Probleme, Aufgaben und Perspektiven der Gattungstheorie und Gattungsgeschichte“, in: Gymnich/Neumann/Nünning (Hrsg.), Gattungstheorie und Gattungsgeschichte, S. 1–28, hier S. 11. 168 Susanne Günthner, „Gattungen in der sozialen Praxis. Die Analyse ‚kommunikativer Gattungen‘ als Textsorten mündlicher Kommunikation“, in: Deutsche Sprache, 23/1995, S. 193–218, hier S. 199.

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Gattung in unauflöslicher Weise mit einer bestimmten Problemlösungsfunktion verknüpft wäre, so dass allen konkreten Verwendungen der Gattung mechanisch diese Funktion als Sprecherabsicht zugeschrieben werden könnte. Sprecher, die sich einer Gattung bedienen, „‚unterwerfen‘“ sich damit zwar „den Gattungsregeln bis zu einem gewissen Grad“, können aber je nach situativen oder kulturellen Umständen „diesen Regeln mehr oder weniger strikt folgen, sie etwas abändern oder gar mit ihnen ‚spielen‘“.169 Solche Modifikationen der Gattungsregeln müssen aber offenkundig nicht unbedingt ein ‚Spiel‘ darstellen, sondern dürften sich häufiger dem Versuch des Sprechers oder Schreibers verdanken, die der Gattung konventionell zugeordneten Funktionen auf seine individuellen Intentionen ‚abzustimmen‘.170 Dieser Gattungsbegriff entspricht in wesentlichen Punkten dem Begriff der Diskurstradition, wie er sich in der Linguistik etabliert hat.171 Diskurstraditionen sind, so ein Definitionsvorschlag Wulf Oesterreichers, „normative, die Diskursproduktion und Diskursrezeption steuernde, konventionalisierte Muster der sprachlichen Sinnvermittlung.“172 Aus Oesterreichers Überlegungen zur Rolle von Diskurstraditionen im kommunikativen Handeln seien drei Annahmen hervorgehoben, die mir besonders wichtig zu sein scheinen und die implizit auch für die folgenden Untersuchungen leitend sein werden. Erstens: Diskurstraditionen

169 Ebd., S. 198. 170 Vgl. auch Carolyn R. Miller, „Genre as Social Action“, in: Quarterly Journal of Speech, 70/ 1984, S. 151–167, hier S. 163: „A genre is a rhetorical means for mediating private intentions and social exigence; it motivates by connecting the private with the public, the singular with the recurrent.“ 171 Der Begriff ist in der romanistischen Linguistik eingeführt und dort auch intensiv rezipiert worden. Grundlegende Aufsätze sind: Wulf Oesterreicher, „Zur Fundierung von Diskurstraditionen“, in: Barbara Frank/Thomas Haye/Doris Tophinke (Hrsg.), Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, Tübingen 1997, S. 19–41; Peter Koch, „Diskurstraditionen: zu ihrem sprachtheoretischen Status und zu ihrer Dynamik“, in: ebd., S. 43–79. Vgl. zu dem Begriff ferner: Raymund Wilhelm, „Diskurstraditionen“, in: Martin Haspelmath [u. a.] (Hrsg.), Language Typology and Language Universals. An International Handbook. Band I. Berlin/New York 2001, S. 467–477; Franz Lebsanft, „Kommunikationsprinzipien, Texttraditionen, Geschichte“, in: Harald Völker (Hrsg.): Historische Pragmatik und historische Varietätenlinguistik in den romanischen Sprachen, Göttingen 2005, S. 25–43; Johannes Kabatek, „Diskurstraditionen und Genres“, in: Sarah Dessí Schmid [u. a.] (Hrsg.): Rahmen des Sprechens. Beiträge zu Valenztheorie, Varietätenlinguistik, Kreolistik, Kognitiver und Historischer Semantik, Tübingen 2011, S. 89–100; Daniel Jacob, „Sprachund Literaturwissenschaft: Zuständigkeiten und Begegnungen“, in: Monika Fludernik/Daniel Jacob (Hrsg., unter Mitwirkung von Caroline Pirlet), Linguistics and Literary Studies. Interfaces, Encounters, Transfers / Linguistik und Literaturwissenschaft. Begegnungen, Interferenzen und Kooperationen, Berlin/Boston 2014, S. 3–33, hier S. 17. 172 Oesterreicher, „Zur Fundierung von Diskurstraditionen“, S. 20.

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I Einleitung und Grundlagen

sind in der Regel „kompositer Natur“ und weisen „ganz unterschiedliche diskursive Teilkomponenten“ auf, die etwa thematische, strukturelle und stilistische Eigenschaften betreffen können.173 Dieses Kennzeichen von Diskurstraditionen lässt sich, wie oben deutlich wurde, auch in dem Bündel von gemeinsamen Merkmalen beobachten, die in der Forschung als charakteristisch für antike, mittelalterliche und frühneuzeitliche Lehrgedichte herausgearbeitet wurden. Zweitens: Diskurstraditionen sind Muster, die von Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft erworben, reproduziert und fortgebildet werden.174 Ihre Reproduktion hat keinen deterministischen Charakter,175 jede konkrete Realisierung enthält „die Möglichkeit der Transformation einer Diskurstradition“.176 Wie groß diese Spielräume für die Abwandlung sind, hängt wesentlich von den sozialen und kommunikativen Kontexten ab, innerhalb derer eine Diskurstradition situiert ist.177 Drittens: Die diskurstraditionellen Muster, die von Personen erworben werden, können ihnen in unterschiedlichem Maße als solche ‚bewusst‘ sein, oder anders gesagt: Sie können verschiedene Grade der „reflexiven Distanzierung“ erreichen. Sofern sie als Muster wahrgenommen werden, können sie mit Namen belegt und der theoretischen Betrachtung unterzogen werden.178 Im Falle literarischer Diskurstraditionen ist diese theoretische Betrachtung in Gestalt der Dichtungstheorie oder Poetik gewissermaßen fest institutionalisiert worden. Allerdings kann man nicht voraussetzen, dass die Gattungsbeschreibungen in Poetiken alle in der zeitgenössischen Literatur aktualisierten Diskurstraditionen erfassen oder dass sie alle Komponenten der in ihnen behandelten Diskurstraditionen berücksichtigen.179

173 Ebd., S. 31. Vgl. auch Jacob, „Sprach- und Literaturwissenschaft“, S. 17. 174 Vgl. Oesterreicher, „Zur Fundierung von Diskurstraditionen“, S. 24 f. 175 Vgl. ebd., S. 29 f. 176 Ebd., S. 31. 177 In der Literatur sind Oesterreicher zufolge diese Spielräume besonders groß, fast schon unbegrenzt. Ob sich diese Behauptung in dieser allgemeinen Form halten lässt, muss hier nicht diskutiert werden. Die Untersuchung übernimmt von diesen Darlegungen aber die Annahme, dass Modifikationen einer Diskurstradition in einem konkreten Text gewissermaßen der Normalfall sind. 178 Ebd., S. 25. Vgl. Jacob, „Sprach- und Literaturwissenschaft“, S. 16 f. 179 Da der hier zugrunde gelegte Gattungsbegriff weitgehend diesem Begriff der Diskurstradition entspricht, mag es begründungsbedürftig erscheinen, dass im Folgenden nicht ausschließlich der Ausdruck ‚Diskurstradition‘ statt ‚Gattung‘ verwendet wird. Als einen Vorzug des Begriffs der Diskurstradition hat man angeführt, dass man mit ihm eher der „Offenheit“ der kompositionellen und sich wandelnden Schreibmuster Rechnung tragen könne, während der Gattungsbegriff „eher ganzheitlich und damit auch stärker mit Aprioris behaftet[]“ sei (Jacob, „Sprach- und Literaturwissenschaft“, S. 17). Doch auch der Gattungsbegriff ist in

5 Methode und theoretische Voraussetzungen

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Da in der vorliegenden Arbeit literarische Texte verschiedener Nationalliteraturen untersucht werden, gilt es auch zu erläutern, an welcher Art des komparatistischen Vorgehens sie sich orientiert. In der Theorie der Komparatistik werden verschiedene Arten des Vergleichs meist aufgrund der gewählten Vergleichsgrundlage oder des Erkenntnisinteresses differenziert.180 Die entscheidende Grundlage für den Vergleich deutscher, englischer und französischer Lehrgedichte bildet hier der gemeinsame Bezug zu der aus der Antike stammenden Gattungstradition des Lehrgedichts. In einigen Fällen dienen ferner direkte Rezeptionsbeziehungen als zusätzliche Vergleichsbasis.181 Ein Erkenntnisinteresse der Vergleiche besteht in der Profilierung spezifischer Merkmale der nationalen Gattungsentwicklungen mithilfe einer Kontrastierung.182 Noch mehr aber geht es darum, Parallelen zu registrieren und aus ihnen Vermutungen und Anschlussfragen zu nationenübergreifend wirksamen Bedingungskontexten zu gewinnen. Abschließend sei der Ansatz der Arbeit knapp zusammenfassend charakterisiert und im Feld aktueller literatur- und kulturwissenschaftlicher Methoden verortet. Mit ihrer intentionalistischen Interpretationskonzeption und

jüngerer Zeit schon vielfach in einer Weise konzeptualisiert worden, die von dieser Annahme einer unveränderlichen Ganzheit frei ist. Unter diesen Umständen erscheint es als ein Vorteil des Ausdrucks ‚Gattung‘, dass mit ihm der Anschluss an die Forschungsgeschichte hervorgehoben werden kann. Denn auch wenn die vorliegende Untersuchung sich auf einen gegenüber älteren Forschungsphasen modifizierten Gattungsbegriff stützt, will sie mit der Frage nach dem historischen Wandel literarischer Formen doch ein Problem aufgreifen, das in der Literaturwissenschaft eine längere Tradition hat. 180 Vgl. etwa Schmelings Unterscheidung von fünf Arten des vergleichenden Vorgehens: Manfred Schmeling, „Einleitung: Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Aspekte einer komparatistischen Methodologie“, in: Ders. (Hrsg.), Vergleichende Literaturwissenschaft. Theorie und Praxis, Wiesbaden 1981, S. 1–24, hier S. 11–18; ferner Zimas Unterscheidung zwischen genetischem und typologischem Vergleich: Peter V. Zima, Komparatistik. Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft. 2., überarbeitete und ergänzte Aufl., Tübingen/Basel 2011, S. 105. Zu diesen Unterscheidungen vgl. auch Dieter Lamping, „Vergleichende Textanalysen“, in: Thomas Anz [Hrsg.], Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen, Bd. 2: Methoden und Theorien, Stuttgart/Weimar 2007, S. 216–224, hier S. 220. Vgl. ferner Peter Brockmeier, „Der Vergleich in der Literaturwissenschaft“, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Schriewer (Hrsg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2003, S. 351–366. 181 So etwa bei Popes Essay on Man und einigen Gedichten Voltaires oder bei Youngs Night Thoughts und Creuz’ Die Gräber. 182 Zu dieser Funktion von Vergleichen siehe u. a.: Christiane Solte-Gresser, „Potenziale und Grenzen des Vergleichs. Versuch einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Systematik“, in: Solte-Gresser/Lüsebrink/Schmeling (Hrsg.), Zwischen Transfer und Vergleich, S. 23–36, hier S. 27 f.

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I Einleitung und Grundlagen

dem pragmatischen Gattungsbegriff wählt die Studie ein Vorgehen, das der neueren Ideengeschichte oder der intellectual history nahesteht. Während einige einflussreiche Ansätze der Gattungsgeschichtsschreibung sich an der soziologischen Systemtheorie orientieren (so etwa Voßkamps institutionengeschichtlicher Ansatz 183), entspricht das Vorgehen dieser Arbeit innerhalb des soziologischen Theorieangebots eher dem der handlungstheoretischen Richtung. Wenn im Folgenden von ‚Funktionen‘ von Lehrgedichten die Rede ist, so sind damit (sofern nicht ausdrücklich anders gesagt) dementsprechend stets die von Autoren beabsichtigten Leistungen der Gedichte gemeint, nicht die Beiträge der Gattung zum Fortbestand des sozialen Systems. Wo von bestimmten Problemen als dem Kontext von Lehrgedichten gesprochen wird, sind Probleme gemeint, die die Verfasser – mutmaßlich – als solche wahrnahmen und adressieren wollten, nicht die semantischen Begleiterscheinungen gesellschaftsstruktureller Veränderungen im Sinne Niklas Luhmanns.184 Diese theoretischen Optionen beruhen wohlgemerkt nicht auf der Überzeugung, die anderen genannten Ansätze seien verfehlt. Handlungs- und systemtheoretisch inspirierte Vorgehensweisen sind auch in der Literaturgeschichtsschreibung zweifellos beide sinnvoll und dürften sich auch ergänzen und gegenseitig befruchten können.185 Eine wichtige Begründung für den theoretischen Ansatz dieser Untersuchung ergibt sich wiederum aus der Forschungslage. Mit Siegrists Monographie liegt eine Studie vor, die das Lehrgedicht der Aufklärungsepoche als eine durch „Strukturgesetzlichkeiten“186

183 Vgl. Wilhelm Voßkamp, „Gattungen als literarisch-soziale Institutionen“, in: Walter Hinck (Hrsg.), Textsortenlehre – Gattungsgeschichte, Heidelberg 1977, S. 27–44. 184 Vgl. Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980; darin besonders: „Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition“, in: ebd., S. 9–71. 185 In der Soziologie wird seit längerem darüber diskutiert, wie sich handlungs- und systemtheoretische Zugänge vermitteln lassen. Auf diese theoretischen Diskussionen und auf die Frage, wie sie für die Literaturgeschichtsschreibung fruchtbar gemacht werden können, kann hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. stellvertretend Thomas Schwinn/Clemens Kroneberg/Jens Greve (Hrsg.), Soziale Differenzierung. Handlungstheoretische Zugänge in der Diskussion, Wiesbaden 2011; darin etwa Rainer Schützeichel: „‚Doing Systems‘. Eine handlungstheoretische Rekonstruktion funktionaler Differenzierung“, in: ebd., S. 73–91. Ferner Jens Greve/Annette Schnabel/Rainer Schützeichel (Hrsg.), Das Mikro-Makro-Modell der soziologischen Erklärung. Zur Ontologie, Methodologie und Metatheorie eines Forschungsprogramms, Wiesbaden 2008; Karin Knorr-Cetina/Aaron Victor Cicourel (Hrsg.), Advances in social theory and methodology. Toward an integration of micro- and macro-sociologies, Boston [u. a.] 1981. 186 Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 3.

5 Methode und theoretische Voraussetzungen

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bestimmte Ganzheit analysiert und diesen Abschnitt der Gattungsgeschichte insgesamt auf ein soziales ‚Makrophänomen‘ bezieht, nämlich den Aufstieg des Bürgertums. Um diese Sicht zu präzisieren und durch neue Perspektiven zu ergänzen, erscheint die vertiefende intentionalistische Interpretation einzelner Gedichte in Verbindung mit einem komparatistischen Ansatz als ein sinnvoller Weg. Auf der Basis dieser Einzelinterpretationen wird die Studie einen Strang der Gattungsgeschichte beschreiben, der wesentlich durch den Bezug zu ideen- oder denkgeschichtlichen Entwicklungen charakterisiert ist, die sowohl für die deutsche als auch für die englische und französische Literatur der Zeit als Kontext relevant sind. Die Frage, wie diese Veränderungen sich zu sozialstrukturellen Entwicklungen verhalten, muss hier weitestgehend offen gelassen werden. Die vorliegende Untersuchung setzt bei einzelnen Lehrgedichten und den Absichten ihrer Verfasser an und berücksichtigt, soweit in diesem Rahmen möglich, auch ihre zeitgenössische Rezeption. Sie will damit aber keine „Porträtgalerie einzelner [. . .] Lehrdichter“187 aufstellen, sondern ausgehend von den einzelnen Texten – also gewissermaßen in einem bottom up-Verfahren – auch breitere gattungsgeschichtliche Tendenzen herausarbeiten, die sowohl Strukturen als auch Funktionen (im Sinne beabsichtigter oder tatsächlicher Wirkungen) der Texte betreffen. Insofern lässt sich das hier gewählte Vorgehen durchaus vermitteln mit institutions- und funktionsgeschichtlichen Ansätzen der Gattungshistoriographie wie demjenigen Voßkamps. Dieses Vorgehen lässt aber zunächst einmal offen, ob solche breiteren Tendenzen tatsächlich von allen oder den meisten Vertretern der Gattung innerhalb eines Zeitraums realisiert werden oder nur von einer Untergruppe. Wie Teil II zeigen soll, sind für eine thematisch bestimmte Untergruppe des Lehrgedichts in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Zielsetzungen leitend, die sie von fachwissenschaftlichen Lehrgedichten klar unterscheiden.188

187 Ebd. 188 Gewiss kann man eine abstraktere Beschreibung entwickeln, unter die sich dann die Ziele beider Gruppen subsumieren lassen. Aber es spricht viel dafür, dass zeitgenössische Leser der untersuchten Gedichte ihre Zielsetzungen meist nicht mithilfe solcher hochabstrakten Begriffe, sondern in spezifischeren Kategorien verstanden haben.

II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte: Weltdeutung, Selbstbestimmungsideal und Debattenkultur 1 Paradigma und Sonderfall: Alexander Popes An Essay on Man (1733/1734) Alexander Popes An Essay on Man war, so heißt es in einer neueren Darstellung der Aufklärungsepoche, das „wichtigste[] Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts“.1 Es war auch eines der international erfolgreichsten Lehrgedichte dieser Zeit2: Bis zum Ende des Jahrhunderts erschienen mehr als zehn Übersetzungen ins Deutsche, mindestens sechs Übersetzungen ins Französische, von denen einige mehrfach neu aufgelegt wurden, sowie mehrere Übersetzungen ins Italienische.3 Zugleich gab es kaum ein anderes Lehrgedicht, über das so lebhafte und langanhaltende Diskussionen geführt wurden. Die von Jean-Pierre Crousaz geübte Kritik an dem Werk und William Warburtons Verteidigung desselben,4 die Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften für das Jahr 17555 sowie

1 Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, Berlin 2015, S. 363. 2 Der Text wird hier nach der Twickenham Edition zitiert: Alexander Pope, An Essay on Man. Maynard Mack (Hrsg.). In: TE III.i. Zitate werden im Haupttext durch Angabe der Epistel in römischen und der Verse in arabischen Ziffern nachgewiesen. 3 Vgl. Rainer Baasner, „Alexander Popes An Essay on Man in deutschen Übersetzungen bis 1800“, in: Das achtzehnte Jahrhundert, 27/2003, S. 189–216. Baasner listet hier 21 Übersetzungen auf; von vier der Übersetzungen habe sich bisher aber kein erhaltenes Exemplar nachweisen lassen. Vgl. ferner Heinrich Schweinsteiger, Das Echo von Pope’s Essay on Man im Ausland, Leipzig 1913. Zu den Übersetzungen ins Französische vgl. Peter France, „The French Pope“, in: Colin Nicholson (Hrsg.), Alexander Pope. Essays for the Tercentenary, Aberdeen 1988, S. 117–129. 4 Vgl. Jean-Pierre de Crousaz, Examen de l’Essay de monsieur Pope sur l’Homme, Lausanne 1737; ders., Commentaire sur la traduction en vers de M. l’Abbé Du Resnel, de l’Essai de M. Pope sur l’homme, Genf 1738; William Warburton, A Critical and Philosophical Commentary on Mr. Pope’s Essay on Man. London 1742. 5 Die Aufgabe wurde 1753 veröffentlicht und lautete: „On demande l’examen du système de Pope, contenu dans la proposition: Tout est bien. Il s’agit: (1) de déterminer le vrai sens de cette proposition, conformément à l’hypothèse de son auteur. (2) De la comparer avec le système de l’optimisme, ou du choix du meilleur, pour en marquer exactement les rapports et les différences. (3) Enfin d’alléguer les raisons qu’on croira les plus propres à établir ou à détruire ce système.“ Zitiert nach der Wiedergabe bei Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd. I, 1, Berlin 1900, S. 404; zu den Hintergründen der https://doi.org/10.1515/9783110348491-002

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II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte

Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne (1756)6 sind einige der bekanntesten Stationen in dieser frühen, kontroversen Phase der Rezeptionsgeschichte.7 Aber noch 1776 veröffentlichte Johann Georg Schlosser einen ambitionierten Anti-Pope.8 Was die Bekanntheit und die zeitgenössische Resonanz betrifft, steht somit außer Frage, dass der Essay on Man in einer Untersuchung zum Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts einen prominenten Platz verdient. Andererseits ist der Essay on Man unter den Lehrgedichten dieser Epoche auch eines derjenigen, die besonders eingehend erforscht worden sind, so dass der breite Raum, der dem Text hier eingeräumt wird, eine Rechtfertigung erfordert. Doch gerade die Frage nach dem Verhältnis, in dem Popes Gedicht zur Tradition des Lehrgedichts steht, hat in der umfangreichen Forschungsliteratur nur wenig Aufmerksamkeit gefunden. Die Gattungszugehörigkeit des Essay ist insgesamt auffallend selten zum Thema gemacht worden, und die vorliegenden Diskussionen dieser Frage sind meist insofern unbefriedigend, als sie jeweils nur einen Traditionsstrang in den Blick nehmen und als dominantes Modell des Essay zu erweisen suchen. Andere Fragen, die im Rahmen dieser Untersuchung von besonderem Interesse sind, sind in der Forschung zwar ausgiebig diskutiert worden, aber ohne dass sich auch nur annähernd ein Konsens herausgebildet hätte. Dies gilt etwa für die Frage, um welche Art der Wissensvermittlung es Pope im Essay on Man ging, ob er also vorliegende Theorien in eine gefällige poetische Form bringen oder eigene Theorien entwerfen wollte, sowie für die Frage, was die zentralen philosophischen Positionen des Gedichts sind. Die philosophischen Zielsetzungen des Essay etwa werden

Preisaufgabe vgl. ebd., S. 404–409. Eine Wiedergabe der Aufgabe auch bei Stefan Lorenz, De Mundo Optimo. Studien zu Leibniz’ Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland (1710–1791), Stuttgart 1997, S. 167; zu der preisgekrönten Abhandlung vgl. ebd., S. 167–179. 6 Vgl. Voltaire, Poème sur le désastre de Lisbonne [1756]. Critical edition by David Adams and Haydn T. Mason. In: OCV 45A. Oxford 2009, S. 269–358. 7 Vgl. zur ersten Phase der internationalen Rezeption: Robert W. Rogers, „Critiques of the Essay on Man in France and Germany 1736–1755“, in: Journal of English Literary History, 15/ 1948, 3, S. 176–193. Zur Aufnahme in Frankreich vgl. ferner: Alessandro Zanconato, La dispute du fatalisme en France. 1730–1760, Fasano/Paris 2004; Robert Shackleton, „Pope’s Essay on Man and the French Enlightenment“, in: R. F. Brissenden (Hrsg.), Studies in the Eighteenth Century II, Toronto/Buffalo 1973, S. 1–15; Richard Gilbert Knapp, The Fortunes of Pope’s Essay on man in 18th century France, Genf 1971. Englische, französische und deutsche Rezeptionszeugnisse berücksichtigt: Marion Hellwig, Alles ist gut. Untersuchungen zur Geschichte einer Theodizee-Formel im 18. Jahrhundert in Deutschland, England und Frankreich, Würzburg 2008. 8 Vgl. [Johann Georg Schlosser], Anti-Pope oder Versuch über den natürlichen Menschen. Nebst einer neuen prosaischen Uebersetzung von Pope’s Versuch über den Menschen. Leipzig 1776. Zu diesem Text vgl. Hellwig, Alles ist gut, S. 248–257; Vollhardt, Selbstliebe und Geselligkeit, S. 267 f.

1 Paradigma und Sonderfall: Alexander Popes An Essay on Man (1733/1734)

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in vier monographischen Gesamtdeutungen, die in den letzten Jahrzehnten erschienen sind, auf sehr unterschiedliche Weisen gedeutet.9 Ebenso heterogen präsentiert sich der Forschungsstand hinsichtlich der Fragen, wie die Form des Essay angemessen zu beschreiben, zu deuten und zum philosophischen Gehalt in

9 Vgl. Douglas H. White, Pope and the Context of Controversy. The Manipulation of Ideas in An Essay on Man, Chicago/London 1970; A. D. Nuttall, Pope’s ‚Essay on Man‘, London [u. a.] 1984; Harry M. Solomon, The Rape of the Text. Reading and Misreading Pope’s Essay on Man, Tuscaloosa/London 1993; Michael Srigley, The Mighty Maze. A Study of Pope’s An Essay on Man, Stockholm 1994. White zufolge präsentiert Pope in An Essay on Man ein „system of natural religion“, wie es etwa auch William Wollaston in The Religion of Nature Delineated oder William King in seinem Essay on the Origin of Evil tat (White, Pope and the Context of Controversy, S. 11; vgl. auch S. 125). Nuttall betrachtet es als zentrale Absicht des Essay on Man, eine Rechtfertigung Gottes zu liefern (vgl. Nuttall, Pope’s ‚Essay on Man‘, etwa S. 57, 195); das Gedicht insgesamt oszillere allerdings zwischen einer Sprecherhaltung, die alles in der Welt für gut erklärt, und einer satirischen, entlarvenden Haltung, die scheinbar Wertvolles als sinnlos entlarvt (vgl. ebd., S. 165). Während Whites Buch nach philosophischen Themen gegliedert ist, folgt Nuttalls Untersuchung linear dem Text der vier Episteln. Charakteristisch für seine Studie ist vor allem die durchgehende Vermischung der Analyse mit Bewertungen, die ganz überwiegend kritischer Art sind. Er wirft dem Gedicht unplausible Thesen und gedankliche Inkonsistenzen, aber gelegentlich auch ästhetische und moralische Mängel vor. Die kritischen Urteile über die behaupteten philosophischen Defizite des Essay sind so zahlreich und teilweise so scharf und herablassend formuliert (vgl. etwa ebd., S. 76 f., 146–149, 158), dass Nuttall am Ende des Buchs versichern zu müssen meint, er verachte Pope nicht so sehr, wie es vermutlich den Anschein habe (vgl. ebd., S. 208). Nuttalls Buch, von Mack als „a brilliant but [. . .] sometimes rather off-the-cusp consideration of the Essay“ bezeichnet (Mack, Alexander Pope. A Life, S. 899, Anm. 541), ist eines der Hauptziele der Polemiken in Solomons Buch, das einem Großteil der Forschung zum Essay on Man eine simplifizierende und oftmals arrogante Behandlung des Textes vorwirft. Solomon sucht die unterschätzte Komplexität des Essay aufzuzeigen, indem er auf Eigenheiten der rhetorischen Formung und auf meist übersehene Aspekte der historischen Kontexte hinweist. Nach Solomon will Pope in seinem Gedicht in erster Linie nicht eine Theodizee bieten, sondern eine Ethik (vgl. Solomon, The Rape of the Text, S. 38, 54, 69, 73). Das Gedicht verfolge keine metaphysischen Ambitionen (vgl. etwa ebd., S. 38 f., 73). Es führe aber den Kontrast zwischen einer subjektiv-betroffenen und einer objektivbeobachtenden Sicht des Menschen auf die Welt und sich selbst vor, einen Kontrast, der im Gedicht als charakteristisch für den Menschen als mittleres und gemischtes Wesen erscheine (vgl. ebd., S. 60–66). Auch Srigley wendet sich in seiner Interpretation häufig kritisch gegen Nuttall, aber mit anderen Gründen als Solomon. Srigley zufolge entwirft Pope im Essay ein konsistentes philosophisches System, das Gott als in der Natur immanent, als die ‚Seele‘ der Natur verstehe (vgl. Srigley, The Mighty Maze, S. 65–71 sowie zusammenfassend S. 170). Die Philosophie von Popes Gedicht weise hinsichtlich des Gottesverständnisses zahlreiche Parallelen zur Philosophie Spinozas auf, die allerdings nicht auf eine tatsächliche Beeinflussung Spinoza zurückzuführen sein müssen (vgl. ebd., S. 168–170). Popes Gedicht vertrete ferner eine Theorie der Seelenwanderung oder Reinkarnation, die in der Tradition von Pythagoras stehe (vgl. ebd., S. 98–115).

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II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte

Beziehung zu setzen ist.10 Spezifische Interpretationsprobleme ergeben sich auch aus dem Umstand, dass Pope den Essay on Man als Teil eines umfassenderen Werks mit dem Titel Ethic Epistles präsentiert hat. Die Beziehung des Essay zu den anderen Episteln dieses Werks ist in der Forschung kaum untersucht worden. Diese Forschungssituation lässt es in Verbindung mit dem immensen Einfluss des Essay on Man auf die Lehrgedichte des 18. Jahrhunderts geboten erscheinen, dem Text eine ausführliche Untersuchung zu widmen. Diese Analyse soll es auch ermöglichen, im weiteren Verlauf der Arbeit die Auffassung, der Essay on Man sei „das große europäische Musterstück aufgeklärter Lehrdichtung“,11 zu überprüfen und zu präzisieren. Es wird sich zeigen, dass Popes Essay in der Tat repräsentativ für charakteristische Ambitionen des aufklärerischen Lehrgedichts war; zugleich weist der Text aber auch strukturbestimmende Züge auf, die bei kaum einem anderen Lehrgedicht der Zeit ein Pendant finden dürften.

1.1 Der literarische Hintergrund: Philosophische Gedichte in England zwischen 1670 und 1730 In der Forschung zum Essay on Man hat die Frage nach der Gattungszugehörigkeit des Textes, wie erwähnt, relativ wenig Aufmerksamkeit gefunden.12 Es ist üblich, den Essay als Lehrgedicht oder als philosophisches Gedicht zu klassifizieren, wobei diese Gattungsbezeichnungen häufig nicht näher erläutert werden.13 Sofern die Frage nach den für den Essay relevanten Gattungstraditionen eingehender erörtert wurde, haben sich die Diskussionen häufig auf die Beziehungen einerseits zur horazischen Epistel, andererseits zu Lukrez und seinem De rerum natura konzentriert.14 Nachdem Reuben Brower in einer

10 Vgl. dazu die Bemerkungen unten, am Anfang von Abschnitt 5. 11 Alt, Aufklärung, S. 144. 12 Dies hat Miriam Leranbaum in einer Studie von 1977 festgestellt, und es trifft im Großen und Ganzen auch für die seither erschienene Forschung zu; vgl. Leranbaum, Alexander Pope’s ‚Opus Magnum‘, S. 38. 13 Vgl. ebd.: „Critics agree that it [i. e. An Essay on Man; O.K.] is clearly a didactic and philosophic poem [. . .].“ Als philosophisches Gedicht wird Popes Essay etwa eingeordnet bei: Nuttall, Pope’s ‚Essay on Man‘, S. 192; Fritz Greub, Popes ‚Essay on Man‘ und Thomsons ‚Seasons‘. Zwei philosophische Gedichte, Bern 1975. 14 Vgl. Brean S. Hammond, Pope and Bolingbroke. A Study of Friendship and Influence, Columbia 1984, S. 79: „Insofar as any systematic attempt has been made to define the genre within which the Essay on Man is working, the frontrunners are the Horatian epistle and the Lucretian philosophical epic.“ – Dass Lukrez für Pope bei der Konzeption des Gedichts von Bedeutung war, geht unter anderem aus einem Brief hervor, den er kurz nach der Veröffentlichung

1 Paradigma und Sonderfall: Alexander Popes An Essay on Man (1733/1734)

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einflussreichen Monographie von 1959 die Episteln des Horaz als das wichtigste Modell für den Essay on Man gedeutet hatte,15 haben später mehrere Forscherinnen und Forscher diese Rolle dem Gedicht des Lukrez zugewiesen.16 Weitgehend unabhängig von diesen Diskussionen um die Bezüge zu Horaz und Lukrez haben andere Interpreten auf verschiedene englische Gedichte der Jahrzehnte zwischen etwa 1670 und 1730 aufmerksam gemacht, an denen Pope sich im Essay on Man orientiert haben könnte, um sie nachzuahmen, zu variieren und zu überbieten. Zu den Gedichten, die in diesem Sinne als Modelle für den Essay on Man vorgeschlagen wurden, gehören das unter dem Titel A Satyr against Reason and Mankind bekannte Gedicht von John Wilmot, Earl of Rochester,17 ferner John Drydens Religio Laici18 und schließlich Sir Richard Blackmores Gedicht Creation.19 Blackmores Creation lässt sich vorbehaltlos als Lehrgedicht klassifizieren, während die zwei anderen vorläufig als Mischformen zwischen philosophischem Lehrgedicht und Epistel beziehungsweise Satire angesprochen werden können. Die drei Texte repräsentieren damit auch drei verschiedene

der vier Episteln des Essay an Swift schickte. Hier äußert sich Pope zunächst über seine Entscheidung, die Episteln anonym zu veröffentlichen, und fährt dann fort: „Whether I can proceed in the same grave march like Lucretius, or must descend to the gayeties of Horace, I know not, or whether I can do either?“ (Alexander Pope und Henry St. John, Lord Bolingbroke, an Jonathan Swift, Brief vom 15.9.1734, in: Corr. III, S. 431–434, hier S. 433.) 15 Vgl. Brower, Alexander Pope. The Poetry of Allusion, S. 213, 239. 16 So vor allem Leranbaum, Alexander Pope’s ‚Opus Magnum‘, S. 38–63; Bernhard Fabian, „Pope and Lucretius: Observations on ‚An Essay on Man‘“, in: The Modern Language Review, 74/1979, 3, S. 524–537. Für eine überzeugende Kritik an einigen Argumenten, auf die Fabian seine These zu stützen sucht, vgl. Hammond, Pope and Bolingbroke, S. 80–83. Als nachgewiesen gilt die Orientierung Popes an Lukrez als zentralem Modell bei David B. Morris, Alexander Pope. The Genius of Sense, Cambridge (MA)/London 1984, S. 156. 17 Vgl. Douglas H. White/Thomas P. Tierney, „‚An Essay on Man‘ and the Tradition of Satires on Mankind“, in: Modern Philology, 85/1987, 1, S. 27–41. Rochesters Satyr against Reason and Mankind war den Verfassern zufolge in Popes Zeit neben der achten Satire Boileaus das bekannteste (oder berüchtigste) Exemplar einer ‚satire on mankind‘; vgl. ebd., S. 27 f. 18 Mack hat in der Einleitung zu seiner Edition des Essay on Man darauf hingewiesen, dass Popes Gedicht häufig mit Drydens Religio Laici verglichen werde; vgl. Mack, „Introduction“, S. lxxviii. Mack zufolge handelt es sich hier um einen verfehlten Vergleich, weil sich die Gedichte in ihrem Duktus und ihrer Methode grundlegend unterscheiden (vgl. ebd., S. lxxxviii f.). Zu Popes Bewunderung für Dryden vgl. etwa Morris, Alexander Pope. The Genius of Sense, S. 3–6. 19 Zu den Beziehungen zwischen dem Essay on Man und Creation vgl. vor allem: Solomon, The Rape of the Text, S. 43–54; ders., Sir Richard Blackmore, S. 177–180. Mack hat in seiner Pope-Biographie Blackmores Creation als ein Gedicht genannt, das ein ähnliches Ziel wie Popes Essay verfolgt, sich aber einer weniger überzeugenden Form bedient habe. Vgl. Mack, Alexander Pope. A Life, S. 524.

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Funktionalisierungen des Lehrgedichts, die Pope kannte und die seine Wahrnehmung dieser Gattung und ihrer Möglichkeiten mit bestimmt haben könnte. Sie sind daher im Rahmen dieser Untersuchung auch unabhängig von ihrer Bedeutung für Pope von Interesse, da schon an ihnen ansatzweise deutlich wird, dass in der englischen Literatur um 1700 das Lehrgedicht in vielfältigen Ausprägungen und Kombinationen mit anderen Gattungen vertreten war. Aus diesen Gründen seien die genannten drei Gedichte und ihre Bezüge zur Lehrgedichtstradition im Folgenden etwas näher betrachtet. 1.1.1 John Wilmot, Earl of Rochester: A Satyr against Reason and Mankind Rochesters Gedicht, das 225 überwiegend paargereimte Verse umfasst, erschien zuerst 1679 in einem anonymen Flugblatt und dann erneut 1680 in der Sammlung Poems on several occasions.20 Sein Sprecher fällt ein vernichtendes Urteil über die menschliche Spezies. Er wirft den Menschen vor allem vor, zu Unrecht stolz auf die menschliche Vernunft zu sein, die zutiefst unvollkommen sei, den Menschen meist in die Irre führe und unglücklich mache. Der Stolz der Menschen aber treibe sie dazu, nach Witz oder Weisheit zu streben, die beide gleich wertlos seien. Ferner seien die Menschen rastlos, von Angst getrieben, bösartig und treulos gegenüber den Mitmenschen. Rochesters Satire weist einige inhaltliche Ähnlichkeiten zur achten Satire Boileaus auf,21 die schon Lesern im 18. Jahrhundert auffielen und von manchen als Beleg gewertet wurden, das Gedicht Boileaus habe Rochester als Vorbild gedient. In der jüngeren Forschung sind dagegen verstärkt die Unterschiede zwischen den Gedichten hervorgehoben worden.22 Welche Rolle auch immer Boileaus achter Satire bei der Entstehung von Rochesters Satire gespielt haben mag: Ein Vergleich der Gedichte lässt aufschlussreiche Ähnlichkeiten und Unterschiede auch in formaler Hinsicht hervortreten. Boileaus wie Rochesters Satire weisen eine Nähe zu philosophischen Lehrgedichten auf, die sich nicht nur dem Inhalt verdankt, sondern vor allem den gedichtinternen Kommunikationssituationen sowie dem großen Anteil argumentativer Sprechhandlungen. In Boileaus Satire wendet sich der Sprecher an einen Theologen der Sorbonne, der im Laufe des Gedichts immer wieder

20 Das Gedicht wird hier zitiert nach der Ausgabe: John Wilmot, The Poems of John Wilmot, Earl of Rochester. Keith Walker (Hrsg.), Oxford [u. a.] 1984, S. 91–97. Zur Publikationsgeschichte des Gedichts vgl. ebd., S. 281 f. Zu der komplizierten Editionsgeschichte der Gedichte Rochesters vgl. Keith Walker, „Introduction“, in: ebd., S. ix–xx, vor allem S. xii–xv. 21 Vgl. Boileau, Satires, in: Ders., Œuvres complètes. Introduction par Antoine Adam. Textes établis et annotés par Françoise Escal. Paris 1966, S. 7–99, die achte Satire auf S. 41–48. 22 Vgl. für einen gründlichen inhaltlichen Vergleich der Gedichte Boileaus und Rochesters: Marianne Thormählen, Rochester. The Poems in Context, Cambridge [u. a.] 1993, S. 184–189.

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kurze Einwände oder Fragen formuliert; gelegentlich antizipiert der Sprecher auch seine Einwände. Rochester hat diese Kommunikationssituation in auffälliger Weise abgewandelt: Seine Satire kommt zunächst als eine monologische Rede daher, bis es nach etwas mehr als vierzig Versen heißt: „But now methinks some formal Band, and Beard, | Takes me to task, come on Sir I’m prepar’d.“ (46 f.) Die Verse 48 bis 71 geben die kritische Antwort dieses Geistlichen auf die vorangegangenen Auslassungen des Sprechers wieder. Dann ergreift der Sprecher wieder das Wort, und von dem Geistlichen ist bis zum Ende des Gedichts nichts mehr zu hören. Während Boileau also eine Satire mit durchgehend dialogischem Charakter bietet, in der freilich der Sprecher deutlich dominiert und der Adressat oft bloß als Stichwortgeber fungiert, hat Rochester die Redeanteile von Sprecher und Adressat zu Blöcken zusammengefasst.23 Diese übersichtliche Sonderung lässt nicht nur die quantitative Dominanz der Rede des Sprechers deutlich hervortreten, sie dient Rochester auch dazu, eine partielle Übereinstimmung zwischen den Gesprächspartnern zu markieren und so die entscheidende Differenz klar herauszuarbeiten. Die Eingangstirade des Sprechers richtet sich nicht nur gegen die menschliche Vernunft und den Vernunftstolz, sondern auch gegen „wit“ und „wits“, und als der Geistliche das Wort ergreift, bekennt er zunächst, dass auch er den ‚Witz‘ zutiefst verabscheut und insofern der Polemik des Sprechers bis zu einem gewissen Punkt zustimmen kann; er meint aber, dass der Sprecher entschieden zu weit gehe, wenn er auch die Vernunft selbst angreift. Als der Sprecher wieder das Wort übernimmt, ignoriert er die partielle Übereinstimmung in Sachen „wit“ und bekräftigt stattdessen die Differenz zwischen dem Gesprächspartner und ihm. Er fertigt dessen Lob der menschlichen Vernunft als Ansammlung erbaulicher Klischees ab und stellt klar, dass er genau diese Vernunft verachtet: „[. . .] ’tis this very reason I despise“. Doch etwas später führt er eine Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Vernunft oder wahrem und falschem Vernunftgebrauch ein und legt dar, dass er nur den falschen Gebrauch der Vernunft attackiert. Dieser falsche Vernunftgebrauch ist aber, so betont er mehrfach, gerade derjenige, den der Geistliche anpreist. Thus, whilst against false reas’ning I inveigh, I own right Reason, which I wou’d obey:

[98 f.]

23 Vgl. auch Dustin H. Griffin, Satires against Man. The Poems of Rochester, Berkeley [u. a.] 1973, S. 205.

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My Reason is my Friend, yours is a Cheat; [. . .] ’Tis not true Reason I despise but yours.

[106–111]

Im Anschluss an diese Passage räumt der Sprecher ein, dass er seine ursprüngliche Position modifiziert oder präzisiert habe, indem er erklärt, dass er zwar die – richtig verstandene – Vernunft rehabilitiert habe, mit Bezug auf den Menschen aber seine Ansicht nicht ändern werde: „Thus I think Reason righted, but for Man, | I’le nere recant defend him if you can.“ (112 f.) Das Gedicht inszeniert somit eine Auseinandersetzung, die zwar von Seiten des Sprechers in sehr aggressiver, teilweise schroff beleidigender Art geführt wird, die aber dennoch eine sachliche und argumentative Dimension hat, eine Gegenüberstellung von Meinungen und Begründungen bietet und in ihrem Verlauf zur Präzisierung der ursprünglichen These des Sprechers führt. Als eine Satire mit Zügen eines philosophischen Gedichts konnte Rochesters Satire von den Zeitgenossen aber nicht nur wegen dieses argumentativen, ansatzweise disputationsartigen Charakters wahrgenommen werden, sondern auch aufgrund inhaltlicher Aspekte: Das vom Sprecher vertretene Menschenbild wurde vermutlich von vielen Lesern mit der Philosophie von Hobbes in Verbindung gebracht. Die Mehrzahl der Forscher nimmt an, dass sich im Gedicht tatsächlich Rochesters Hobbes-Rezeption niederschlägt, wobei umstritten ist, wie diese Rezeption präzise zu beschreiben ist, ob Rochester also Hobbes folgen wollte und wie groß die Übereinstimmungen zwischen ihren Deutungen der menschlichen Natur wirklich sind.24 Doch unabhängig hiervon kann man festhalten, dass Rochester zumindest von einigen Zeitgenossen als Anhänger des ‚Hobbism‘ gesehen wurde25 und dass dieser Umstand auch die Rezeption der Satire beeinflusst haben könnte. 1.1.2 John Dryden: Religio Laici Während Rochesters Satyr against Reason and Mankind sich gewissermaßen von der Seite der Satire aus dem philosophischen Lehrgedicht annähert, vollzieht John Drydens Religio Laici eine solche Annäherung von der Seite der Epistel aus. Das Gedicht, dessen Titel vollständig Religio Laici or A Layman’s Faith

24 Für eine knappe Darstellung einiger Forschungspositionen vgl. Thormählen, Rochester, S. 174; für Thormählens eigene Einschätzung der Beziehung zu Hobbes vgl. ebd., S. 174–179. Vgl. auch Griffin, Satires against Man, S. 168–173. 25 Vgl. ebd., S. 15; dort auch der Hinweis auf relevante Quellen.

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lautet, erschien zuerst 1682.26 Wie Dryden in seiner Vorrede erläuterte, war es als eine Epistel an einen mit ihm befreundeten jungen Gentleman konzipiert, der soeben unter dem Titel A Critical History of the Old Testament seine Übersetzung eines Buchs des „learned Father Simon“ veröffentlicht hatte. Bei dem Gentleman handelte es sich um Henry Dickinson, bei dem übersetzten Buch um die Histoire Critique du Vieux Testament (1678) des französischen Priesters Richard Simon.27 Darin verfolgte Simon zunächst eine geläufige Strategie der katholischen Kontroverstheologie:28 Er suchte Korruptionen in der textuellen Überlieferung des Alten Testaments nachzuweisen, um das protestantische Schriftprinzip zu attackieren und zu zeigen, dass nur die Tradition der Kirche das richtige Verständnis der Bibel ermöglichte. Aber Simon kritisierte darüber hinaus auch den Umgang einiger Kirchenväter mit der Heiligen Schrift, gestand also auch der kirchlichen Tradition nur eine bedingte Autorität zu. Wegen dieser häresieverdächtigen Position wurde es gleich beim ersten Erscheinen von Bischof Bossuet verboten, so dass zunächst nur wenige Exemplare verbreitet wurden. Mit Blick auf Drydens Hinweis, dass das Gedicht eine Epistel an den Übersetzer von Simons Werk darstelle, ist es auffällig, dass dieser Adressat erst nach mehr als 200 Versen erstmals angesprochen wird. Das insgesamt 456 Verse umfassende Gedicht zerfällt inhaltlich in zwei klar getrennte Teile, die auch jeweils eine spezifische Kommunikationssituation aufbauen. Die ersten 223 Verse sind in erster Linie einer Auseinandersetzung mit dem Deismus gewidmet und werden durch die gliedernden Marginalien auch deutlich als solche ausgewiesen.29 Die erste Antwort des Sprechers auf den Deisten ist auf einen polemischen,

26 Das Gedicht wird hier zitiert nach: John Dryden, The Poems of John Dryden. Paul Hammond (Hrsg.). [5 Bände.] Band II: 1682–1685, London/New York 1995, S. 81–134. 27 Zu Richard Simons Buch und den von ihm ausgelösten Diskussionen sowie zum weiteren theologischen Kontext vgl. die Einleitung Hammonds in seiner Edition sowie: Phillip Harth, Contexts of Dryden’s Thought, Chicago [u. a.] 1968; Gerard Reedy, S.J., The Bible and Reason. Anglicans and Scripture in Late Seventeenth-Century England, Philadelphia 1985, S. 104–113 (zu Simons Buch und den Reaktionen anglikanischer Theologen), 114–118 (zu Drydens Stellungnahme zu Simon in Religio Laici). Zu Religio Laici und den theologischen Kontroversen im Hintergrund des Gedichts vgl. auch Philip Connell, Secular Chains. Poetry and the Politics of Religion from Milton to Pope, Oxford 2016, S. 124–126. 28 Vgl. hierzu und zum Folgenden Christopher Voigt, „Richard Simon (1638–1712)“, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hrsg.), Klassiker der Theologie. Zweiter Band: Von Richard Simon bis Karl Rahner, München 2005, S. 26–36, hier S. 28–31. Vgl. auch die knappe Zusammenfassung der zentralen Thesen von Simons Histoire Critique du Vieux Testament bei Reedy, The Bible and Reason, S. 104–106. 29 Die Marginalie neben Vers 42 lautet „System of deism“, und der folgende Abschnitt zitiert einen namenlosen „deist“ (42), der seine zentralen Überzeugungen und ihre Gründe vorträgt. Es folgen eine kritische Antwort mit der Überschrift „Of revealed religion“ (ab 62), ein Einwand

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aggressiven Ton gestimmt: „Vain, wretched creature, how art thou misled | To think thy wit these godlike notions bred“ (64 f.), so heißt es zu Beginn dieses Abschnitts. Die zweite Antwort, die Reaktion auf eine „Objection of the deist“ (Marginalie zu 167), beharrt zwar auf der Verfehltheit der deistischen Position, ist aber zurückhaltender formuliert und beginnt mit dem Zugeständnis, dass der Deist einen heiklen Punkt aufgespürt habe: „Of all objections this indeed is chief | To startle reason, stagger frail belief.“ (184 f.) Erst nach dieser Auseinandersetzung mit dem Deisten, etwa in der Mitte des Gedichts, wendet sich der Sprecher an den Übersetzer von Simons Buch, wobei er die Zäsur in seinem Gedankengang deutlich markiert: Seine bisher entwickelten Gedanken, so der Sprecher, seien angeregt worden von jenem Buch, das der Angesprochene übersetzt habe. Nachdem er den Adressaten für seine Arbeit gelobt hat, beginnt der Sprecher mit der Erörterung einiger Fragen, die das kontroverse Werk Simons aufgeworfen hat. Eine zentrale Frage lautet, was aus den von Simon festgestellten Korruptionen des biblischen Textes folgt, eine andere Frage, wer in bibelexegetischen Diskussionen die höchste Autorität besitzt und welchen Rang dabei insbesondere ‚die Tradition‘ einnimmt. Auch diese Gedichthälfte hat größtenteils dialogischen und argumentativen Charakter, wie wiederum schon die Marginalien hervorheben; sie lauten etwa: „Of the infallibility of tradition in general“ (276), „Objection in behalf of tradition, urged by Father Simon“ (306), „Answer to the objection“ (358). So klar das Gedicht in zwei große Sinnabschnitte gegliedert ist, tritt der überwölbende thematische Zusammenhang doch deutlich hervor: Die Auseinandersetzung mit dem Deisten kreist wesentlich um die Frage, welche Autorität die Vernunft in Angelegenheiten der Religion beanspruchen kann. Nachdem der Sprecher hierbei auf der Wichtigkeit der Offenbarung insistiert hat, wendet er sich in der zweiten Hälfte einigen Problemen zu, die sich beim Rekurs auf die Offenbarung ergeben. In dem Gedicht insgesamt bahnt er sich, wie man in der Forschung resümiert hat, einen Mittelweg zwischen den angesprochenen Positionen, „a careful via media between the excessive rationalism of the ‚Deist‘, Simon’s defence of Catholic tradition, and the schismatic danger of Protestant ‚private Spirit‘ (42, 215)“.30 Neben der Gestaltung der gedichtinternen Kommunikationssituationen ist im Rahmen dieser gattungsgeschichtlichen Untersuchung von besonderem Interesse, was für eine Art der Wissensvermittlung Dryden in Religio Laici praktiziert. In

des Deisten („Objection of the deist“, ab 167) und eine Antwort auf den Einwand („The objection answered“, ab 184). 30 Connell, Secular Chains, S. 124.

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dieser Hinsicht verdient der ambivalente Status Beachtung, den der Gedichtsprecher den von ihm entwickelten Gedanken zuweist. Einerseits beteiligt der Sprecher sich gewissermaßen an theologischen und religionsphilosophischen Kontroversen, an der Auseinandersetzung zwischen ‚orthodoxen‘ Theologen und Deisten sowie an Debatten um bibelexegetische Fragen. Dabei ist der Sprecher bemüht, die von ihm bezogenen Positionen sorgfältig zu begründen, wie sich vor allem anhand der methodischen Abfolge von Einwänden und Antworten auf die Einwände zeigt. Diese Argumentation scheint mit dem Erheben eines Wissensanspruchs verbunden zu sein, mit dem Anspruch, die Deisten sowie die Verfechter einer uneingeschränkten Autorität der Kirche in exegetischen Fragen müssten dem Sprecher zustimmen oder neue Einwände vorlegen. Andererseits aber schließt das Gedicht mit Versen, die die vorangegangenen Darlegungen nicht als einen Beitrag zu einer Kontroverse und nicht als Aufstellen eines Wissensanspruchs erscheinen lassen, sondern als ein Bekenntnis oder als Mitteilung persönlicher Meinungen: „Thus have I made my own opinions clear, | Yet neither praise expect, nor censure fear“ (451). Dieser ambivalente Status, den der Sprecher seinen Darlegungen gibt, dürfte zumindest zum Teil dem Umstand geschuldet sein, dass die behandelten Fragen theologischer Natur sind und der Sprecher in diesem Bereich zwar ein Äußerungsrecht, aber nur eine eingeschränkte Kompetenz beansprucht. Die selbstbewusste Berufung auf dieses Recht und der bescheidene Hinweis auf die geringe Fähigkeit und die Autorität der Kirche werden von Dryden in nur vier Versen zusammengedrängt und so unmittelbar miteinander konfrontiert: Shall I speak plain, and in a nation free Assume an honest layman’s liberty? I think (according to my little skill, To my own mother church submitting still) That many have been saved, and many may, Who never heard this question brought into play.

[316–321]

Diese Verse sowie der Titel Religio Laici sind von einigen Interpreten zur Grundlage einer Deutung des Gedichts als eines Bekenntnisgedichts gemacht worden, in dem der Autor Dryden seine privaten religiösen Überzeugungen offenlege oder sie auch erst in einer Selbsterforschung zu ergründen suche.31 Plausibler erscheint die These, dass Dryden in dem Gedicht durchaus theologische Positionen verfechten wollte, von deren Richtigkeit er überzeugt war, und dass die Gestaltung der Sprecherinstanz in Passagen wie der gerade zitierten als rhetorisches Verfahren zu verstehen ist, als Aufbau eines dem Gegenstand 31 Vgl. zu solchen Deutungen Harth, Contexts of Dryden’s Thought, S. 38.

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angemessenen ethos.32 Mit Blick auf die Geschichte des Lehrgedichts verdient es aber festgehalten zu werden, dass Dryden die Form eines Gedichts nutzte, um einen Sprecher etwas vortragen zu lassen, was sich zwischen religiösem Bekenntnis und theologischer Erörterung bewegt. Dryden hat seinem Gedicht eine lange Vorrede vorangestellt, die sich fast ausschließlich mit theologischen und kirchenpolitischen Gegenständen befasst und erst ganz am Ende auf die poetische Form des folgenden Textes eingeht. Dieser Abschnitt ist zwar kurz, aber prägnant formuliert und mit Blick auf die Geschichte des Lehrgedichts von einiger Bedeutung, da seine pointierten Aussagen über den Stil, der einem „Poem, design’d purely for Instruction“, angemessen sei, zwar traditionelle Konzepte aufgreifen, aber doch originelle Züge besitzen. Dabei weisen Drydens Aussagen – wie in manchen Hinsichten die Struktur seines Gedichts – eine gewisse Ambivalenz auf; auch aus diesem Grund seien sie vollständig zitiert: It remains that I acquaint the Reader, that the Verses were written for an ingenious young Gentleman my Friend; upon his Translation of The Critical History of the Old Testament, compos’d by the learned Father Simon: The Verses therefore are address’d to the Translatour of that Work, and the style of them is, what it ought to be, Epistolary. If any one be so lamentable a Critique as to require the Smoothness, the Numbers and the Turn of Heroick Poetry in this Poem; I must tell him, that if he has not read Horace, I have studied him, and hope the style of his Epistles is not ill imitated here. The Expressions of a Poem, design’d purely for Instruction, ought to be Plain and Natural, and yet Majestick: for here the Poet is presum’d to be a kind of Law-giver, and those three qualities which I have nam’d are proper to the Legislative style. The Florid, Elevated and Figurative way is for the Passions; for Love and Hatred, Fear and Anger, are begotten in the Soul by shewing their Objects out of their true proportion; either greater than the Life, or less; but Instruction is to be given by shewing them what they naturally are. A Man is to be cheated into Passion, but to be reason’d into Truth. [„The Preface“, S. 105 f.]

Dass Dichter die Rolle von Gesetzgebern einnehmen dürfen, ist eine traditionsreiche Vorstellung.33 Etwas überraschend kann es aber wirken, dass Dryden diese ‚legislative‘ Funktion im Rahmen eines Gedichts ausüben will, für dessen Form er sich ausdrücklich auf die Tradition der horazischen Epistel beruft: Die Episteln des Horaz wurden zwar als Gedichte mit ernsthaften, moralischen Themen und philosophischem Anspruch gesehen, aber doch auch als Gedichte, die eine private Kommunikation unter Freunden oder guten Bekannten inszenierten, die moralische Themen vor allem in der Anwendung auf persönliche und

32 So die These Harths; vgl. ebd., S. 44–46. 33 Vgl. dazu, im Ausgang von dieser Dryden-Stelle: Ebd., S. 42.

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alltägliche Fragen diskutierten und sich eines mittleren, ungezwungenen Konversationstons bedienten. So entsprach es auch einer gängigen Sicht auf die horazischen Episteln, wenn Dryden ihren Stil als „plain“ und „natural“ charakterisierte; das Attribut „majestick“ hingegen war für sie vermutlich weniger gebräuchlich.34 Die zitierte Passage aus der Vorrede in Verbindung mit dem Gedicht selbst gibt zu der Vermutung Anlass, dass Dryden in Gedichtform seine Überlegungen zum Deismus sowie zu den von Simons Bibelstudien aufgeworfenen Fragen darlegen wollte und dass er nach einer anerkannten Gattung suchte, in deren Rahmen er dies tun konnte. Als die am ehesten geeignete Gattung erschien ihm die horazische Epistel. Sein Gedicht weicht aber mit der explizit markierten, methodisch geordneten, fast disputationsförmigen Struktur des Gedankengangs deutlich vom Muster der horazischen Episteln ab, wie auch seine Charakterisierung dieser Episteln in der Vorrede originelle Akzentsetzungen aufweist. Die Annahme, dass Dryden in Religio Laici die für sein neuartiges Vorhaben am ehesten geeignete Gattung wählte und sie nach seinen Bedürfnissen modifizierte, kann zugegebenermaßen nicht mehr als eine relativ schwach begründete Vermutung sein. Sie erhält aber zusätzliche Plausibilität dadurch, dass Dryden einige Jahre später mit The Hind and the Panther (1687) ein weiteres Gedicht über theologische Kontroversen verfasste, in dem die originelle Umformung traditioneller Gattungen – in diesem Fall Fabel und Tierallegorie – offen zutage liegt.35 1.1.3 Richard Blackmore: Creation Sir Richard Blackmores umfangreiches Gedicht Creation erschien zuerst 1712; sein vollständiger Titel lautet: Creation. A Philosophical Poem. Demonstrating the Existence and Providence of a God. In Seven Books.36 Es findet in der 34 Vgl. zu dem in dieser Passage umrissenen Stilideal und seiner möglichen Bedeutung für Albrecht von Haller: Wolfgang Proß, „Haller und die Aufklärung“, in: Hubert Steinke/Urs Boschung/Wolfgang Proß (Hrsg.), Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche, Göttingen 2008, S. 415–458, hier S. 437 f. 35 Zu Drydens originellem Umgang mit Gattungstraditionen in The Hind and the Panther vgl. Margaret Anne Doody, The Daring Muse. Augustan Poetry Reconsidered, Cambridge [u. a.] 1985, S. 77–80. 36 Da mir die erste Auflage nicht zugänglich war, lege ich im Folgenden die dritte zugrunde: Sir Richard Blackmore, Creation. A Philosophical Poem. Demonstrating the Existence and Providence of a God. Third edition, London 1715. Zitate werden durch Angabe des Buchs und der Seitenzahl nachgewiesen. – Zur Biographie Blackmores vgl. Solomon, Sir Richard Blackmore. Blackmore war ein erfolgreicher Londoner Arzt, der 1697 vom König zu einem seiner Leibärzte erhoben wurde. Bei seinem dichterischen Schaffen bestand seine erklärte Hauptabsicht darin, der christlichen Religion und der Moral zu dienen. Zu diesem Zweck griff er vorzugsweise auf

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neueren Forschung nur wenig Beachtung, war aber zu Blackmores Lebzeiten sehr erfolgreich und erhielt bis zum Ende des Jahrhunderts mehrere Neuauflagen.37 In historischer Sicht ist es von besonderem Interesse, da es gleich in mehreren literarischen Entwicklungen des frühen 18. Jahrhunderts eine prominente Stellung einnimmt: Es ist ein physikotheologisches Gedicht, das in systematischer Weise zeitgenössisches naturwissenschaftliches Wissen aufgreift und für einen Beweis der Existenz Gottes nutzt. Creation ist ferner ein antilukrezisches Gedicht, das sich in vielen Hinsichten an De rerum natura als formalem Modell orientiert und in diesem Rahmen die Lehren Lukrez’ und Epikurs frontal angreift.38 Schließlich diente Blackmores Werk auch Ulrich Broich als Kronzeuge für die These einer Ablösung des Epos durch das Lehrgedicht,39 während es von David Morris als wichtiges Beispiel für die Bemühungen um ‚das religiöse Erhabene‘ um 1700 angeführt wurde.40 Blackmores philosophisches Gedicht umfasst sieben Bücher von jeweils etwa 700 Versen in heroic couplets, also in paargereimten, jambischen Zehnsilbern. Das Gedicht insgesamt weist eine klare Gliederung auf: In den Büchern I und II sowie VI und VII sucht Blackmore die Existenz Gottes und der göttlichen Vorsehung zu beweisen, indem er physikotheologische Argumente entwickelt. Die ersten zwei Bücher widmen sich der Erde, der Beschaffenheit von Land und Meer, den Bewegungen der Himmelskörper sowie dem Wind und anderen Erscheinungen der Luft; die letzten zwei Bücher wenden sich dem Menschen und den Tieren zu. Zwischen diesen physikotheologischen Partien ist ein Mittelteil von drei Büchern platziert, in dem Blackmore atheistische Lehren kritisiert. Besonders ausführlich setzt er sich mit der Naturphilosophie

die ernsten und in der Gattungshierarchie hochstehenden Dichtungsformen zurück und trat zunächst mit zwei Heldenepen über König Arthur hervor. 37 Ins Deutsche übersetzt wurde es allerdings erst 1764. So jedenfalls die Auskunft bei: Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste [. . .]. Neue vermehrte zweyte Auflage. Dritter Theil. Leipzig 1793, S. 198 (Art. „Lehrgedicht“). Sulzer bezeichnet Creation hier als „unstreitig, eines der bessern, frühern englischen Lehrgedichte“. Friedrich von Hagedorn erwähnt Blackmore in einem Brief an Johann Arnold Ebert vom 14.2.1753; vgl. Friedrich von Hagedorn, Briefe. Horst Gronemeyer (Hrsg.). Bd. 1: Text. Berlin/New York 1997, S. 348–350, hier S. 349. 38 Zu Creation im Kontext der englischen Lukrez-Rezeption vgl. Charles Trawick Harrison, „The Ancient Atomists and English Literature of the Seventeenth Century“, in: Harvard Studies in Classical Philology, 45/1934, S. 1–79, hier S. 54–56; Wolfgang Bernard Fleischmann, Lucretius and English Literature 1680–1740, Paris 1964, S. 228–234; Thomas Franklin Mayo, Epicurus in England (1650–1725), [o.O.] 1934, S. 206–209. 39 Vgl. Broich, „Das Lehrgedicht als Teil der epischen Tradition“, S. 157, 160. 40 Vgl. David B. Morris, The Religious Sublime. Christian Poetry and Critical Tradition in 18thCentury England, Lexington 1972, S. 84.

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Epikurs und Lukrez’ auseinander, so etwa in Buch IV mit dem Atomismus. In Buch V sucht er aber auch die aristotelische Lehre von der Ewigkeit der Welt zu widerlegen. Blackmores positive Beweisführung in den Büchern I, II, VI und VII sowie seine Kritik anderer Lehren in den mittleren Büchern bedienen sich jeweils eines charakteristischen Argumentationsverfahrens, das mit großer Einheitlichkeit durchgehalten wird. In den Büchern I, II, VI und VII schreitet Blackmore methodisch verschiedene Bereiche der Natur ab und führt dem Leser eine Vielzahl von Phänomenen vor Augen, um ihn auf Eigenschaften hinzuweisen, die Blackmore mit einigen stets wiederkehrenden Begriffen bezeichnet: „Order“, „Wisdom“, „Design“, „Skill“, „Use“. Charakteristisch für diese Teile des Gedichts ist ein Gestus des Zeigens und Vergegenwärtigens; die Erörterung eines neuen Phänomenbereichs wird regelmäßig mit der Aufforderung: „See“ oder „See next“ eingeleitet.41 Der Sprecher nimmt dabei allerdings nicht die gewissermaßen realistische Perspektive eines an einem Punkt in Raum und Zeit situierten Individuums ein, sondern einen übermenschlichen Standpunkt, von dem aus er sowohl kosmische Weiten als auch die Feinheiten des menschlichen Körpers präsentieren kann. Blackmore zieht dabei keineswegs immer sofort den Schluss, dass die beschriebenen Phänomene durch einen Gott geschaffen worden sein müssen; in vielen Fällen referiert er zunächst alternative Erklärungen, um sie zu widerlegen und schließlich festzustellen, dass nur die theistische Erklärung bleibe.42 Dieser Modus der argumentativen Auseinandersetzung tritt in den mittleren Büchern des Gedichts ganz in den Vordergrund. Hier referiert Blackmore ausführlich Theorien Epikurs, Lukrezens und anderer Philosophen, um sie kritisch zu prüfen und zu verwerfen. Keine dieser Theorien wird von Blackmore einfach in Bausch und Bogen verdammt; er kritisiert stets konkrete einzelne Thesen oder Argumentationen und vollzieht seine Widerlegung oft in mehreren Schritten, indem er zunächst eine Grundannahme angreift und sie dann gleichwohl seinen Gegnern konzediert, um zu zeigen, dass sie selbst unter dieser Voraussetzung ihre zentralen Thesen nicht begründen können.43

41 Vgl. einige charakteristische Formulierungen aus dem ersten Buch: „See how the Earth has gain’d that very Place [. . .]“ (S. 6); „See how sublime th’uplifted Mountains rise [. . .] “ (S. 20); „See, how the rip’ning Fruits the Gardens crown [. . .]“ (ebd.); „Now, see, with how much Art the Parts are made [. . .] “ (S. 21); „See, how the Streams advancing to the Main [. . .]“ (S. 27). 42 So kritisiert Blackmore etwa verschiedene Erklärungen für die Salzhaltigkeit des Meeres (S. 29 f.) und für die Gezeiten (S. 31 f.). 43 Vgl. S. 16: „Grant, that by mutual Opposition [. . .]; Does it not all Mechanic Heads confound [. . .]?“; S. 32: „Grant that the Deep this foreign Sovereign owns [. . .]. Say, by what Force [. . .]?“

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Sein charakteristisches Gepräge erhält Creation durch die Verbindung des naturwissenschaftlichen Inhalts und der argumentativen Textstrukturen mit einem hohen, erhabenen Stil, der unter anderem auf motivischen Anleihen beim Heldenepos beruht. Bevor Blackmore Creation verfasste, war er mit zwei Epen über König Arthur hervorgetreten, die bei der Kritik nur wenig Anerkennung erhielten und von der dichterischen Partei der wits ausgiebig verspottet wurden.44 Seine Umsetzung des hohen Stils in Creation sollte bei den Zeitgenossen weit erfolgreicher sein. Die angestrebte Stilhöhe und die als Modell dienende poetische Tradition werden gleich im Proömium des ersten Buchs durch topische Formulierungen markiert, die teils auf Lukrez und Vergil, teils auf Milton anspielen. Blackmore erteilt zunächst den höfisch-kriegerischen Themen seiner Epen, aber auch den Themen von Liebesidyllen und Hirtendichtung eine Absage: No more of Courts, of Triumphs, or of Arms, No more of Valour’s Force, or Beauty’s Charms; The Themes of Vulgar Lays, with just Disdain, I leave unsung, the Flocks, the am’rous Swain, The Pleasures of the Land, and Terrors of the Main. How Abject, how Inglorious ’tis to lye Groveling in Dust and Darkness, when on high Empires immense and rolling Worlds of Light To range their Heav’nly Scenes the Muse invite? I meditate to Soar above the Skies, To Heights unknown, thro’ Ways untry’d, to rise: I would th’Eternal from his Works assert, And sing the Wonders of Creating Art.

[I, S. 3 f.]

Besonderen Signalwert hat hier die Ankündigung des Sprechers, sich in die Höhe, über die Himmel hinaus schwingen zu wollen („I meditate to Soar above the Skies“). Diese Formulierung ruft eine illustre literarische Tradition auf 45 und

44 Blackmore hatte die dichterischen Vertreter des wit selbst in seinen Vorreden herausgefordert, indem er die Immoralität der führenden englischen Dichter der Zeit beklagte. Die Parodien und Spottverse, mit denen die wits auf diesen Angriff reagierten, wurden von ihm wiederum mit satirischen Versen beantwortet, so dass sich die Auseinandersetzung über einen längeren Zeitraum erstreckte und Blackmore als einen Gegner der wits notorisch machte. Vgl. zu diesen Querelen: Solomon, Sir Richard Blackmore, S. 65–103; Richard C. Boys, Sir Richard Blackmore and the Wits. A Study of „Commendatory Verses on the Author of the Two Arthurs and the Satyr against Wit“ (1700), New York 1969 [zuerst 1949]. 45 Zur Geschichte des Elevationstopos vgl. Karl Pestalozzi, Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik, Berlin 1970.

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deutet auch den Anspruch auf außerordentliches, die normalen menschlichen Fähigkeiten überbietendes Wissen an – einen Anspruch, den der Sprecher im Folgenden allerdings nicht mithilfe der Inspiration, sondern mithilfe der Wissenschaft einzulösen sucht. Wie der argumentative Duktus, so wird auch der hohe Stil in den ‚konstruktiven‘ und den ‚destruktiven‘ Teilen des Gedichts auf je spezifische Weise verwirklicht. In den Büchern, die der physikotheologischen Beweisführung gewidmet sind, zeigt sich Blackmores Sprecher häufig bemüht, die überwältigende Größe seines Gegenstands hervorzuheben. So präsentiert er die behandelten Naturbereiche gern als Szenerien von immenser Ausdehnung, in denen sich dem Betrachter grandiose Schauspiele darbieten: See, thro’ this vast extended Theater Of Skill Divine what shining Marks appear: [. . .] Th’expanded Spheres amazing to the Sight, Magnificent with Stars and Globes of Light; The Glorious Orbs, which Heav’n’s bright Host compose, Th’imprison’d Sea, [. . .] And the wide Regions of the Land, proclaim The Pow’r Divine, that rais’d the mighty Frame.

[I, S. 4 f.]

In den Teilen des Gedichts, die der kritischen Erörterung der atheistischen Theorien gewidmet sind, sucht Blackmore den hohen Stil des heroischen Epos dadurch zu erreichen, dass er die philosophische Diskussion als eine große Schlacht in Szene setzt, das Frevelhafte und Gefährliche des Atheismus herausstellt und entsprechend aggressiv auf diese Herausforderung antwortet. In einer Passage, die am Anfang der Auseinandersetzung mit Lukrez und Epikur steht, bedient er sich besonders exzessiv einer militärischen Metaphorik: Now let us, as ’tis just, in turn prepare To stand the Foe, and wage defensive War. Lucretius first, a mighty Hero, springs Into the Field, and his own Triumph sings. He brings, to make us from our Ground retire, The Reas’ners Weapons, and the Poet’s Fire. The tuneful Sophist thus his Battel forms, Our Bullwarks thus in polish’d Armor storms.

[III, S. 76]

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Die Passagen, die sich solcher kriegerischen Metaphern bedienen, machen zwar insgesamt nur etwa fünfzig Verse aus,46 mit denen die mehrere hundert Verse umfassende Auseinandersetzung mit den atheistischen Lehren interpunktiert werden. Doch ein aggressiver Duktus prägt auch größere Strecken der Argumentation. Er kommt zum Ausdruck unter anderem in einigen direkten Anreden der bekämpften Atheisten, aber auf indirekte Weise auch in den Epitheta, die den kritisierten Philosophen gegeben werden: Diese Epitheta unterstreichen häufig die Berühmtheit dieser Gegner, während Blackmores Sprecher sich anschickt, ihre Theorien und Hypothesen als verfehlt, und teilweise geradezu als lächerlich, zu entlarven.47 In den finalen Abschnitten des siebten Buchs behauptet der Sprecher seinen Triumph und wendet sich nochmals an die besiegten Atheisten, die ihren Irrtum nicht zugeben wollen, um sie an das jenseitige Gericht zu erinnern, wo sie eine furchtbare Strafe erwarte.48 Zu beachten ist, dass die lukrezischen Lehren zwar eines der Hauptobjekte der Kritik in Creation sind, dass aber der hohe Stil und der kämpferischaggressive Duktus als Imitation der Form des lukrezischen Gedichts – und nicht nur als Anleihen beim Heldenepos – verstanden werden konnten. De rerum natura wurde auch in der englischen Rezeption vielfach als ein Beispiel für den sublimen Stil aufgefasst, und John Dryden hatte in der Vorrede zu seiner Teilübersetzung des Gedichts auch einen herrischen und selbstsicheren Ton als charakteristischen Zug des lukrezischen Sprechers herausgestellt.49 Blackmore bietet in Creation eine argumentative Auseinandersetzung mit verschiedenen atheistischen Lehren, wie Dryden in Religio Laici eine argumentative Konfrontation mit dem Deismus entwickelte. Doch während Dryden für diesen

46 Vgl. etwa in Buch IV die Verse: „Let us no longer missive Weapons throw, | But close the Fight, and grapple with the Foe: | [. . .].“ (Blackmore, Creation, S. 114) 47 Vgl. etwa S. 14: „Admir’d Cartesius, let the Curious know, | If your Magnetic Atoms [. . .]“; S. 152: „Let us the wise Positions now survey | Of Aristotle’s School, [. . .]“; S. 155: „Now give us leave to ask, great Stagyrite, [. . .]“; S. 134 (an Lukrez gerichtet): „Now give us leave, great Poet, to demand [. . .].“ 48 Vgl. S. 232 (Book VII): „Still, vanquish’d Atheists, will you keep the Field, | And hard in Error still refuse to yield? | See, all your broken Arms lye spread around, | And ignominious Rout deforms the Ground.“ 49 Vgl. John Dryden, „Preface to Sylvae“, in: The Poems of John Dryden. Paul Hammond (Hrsg.). Band II: 1682–1685, London/New York 1995, S. 234–258, hier S. 246: „If I am not mistaken, the distinguishing character of Lucretius (I mean of his soul and genius) is a certain kind of noble pride, and positive assertion of his opinions. He is everywhere confident of his own reason, and assuming an absolute command not only over his vulgar reader but even his patron Memmius. For he is always bidding him attend, as if he had the rod over him, and using a magisterial authority while he instructs him.“

1 Paradigma und Sonderfall: Alexander Popes An Essay on Man (1733/1734)

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Zweck die Form der Epistel und eine zwar ernsthafte, aber schlichte Sprache als angemessen ansah, lieferte Blackmore mit Creation ein Beispiel dafür, wie die philosophische Widerlegung des Atheismus in einer dem Epos verwandten Großform und im erhabenen Stil vollzogen werden konnte. Während seine Epen über König Arthur von den Kritikern kaum günstig aufgenommen wurden, wurde Creation emphatisches Lob zuteil. Addison erwähnte das Gedicht an besonders ehrenvoller Stelle, am Ende eines seiner Spectator-Essays über Paradise Lost, wo er es den Lesern als „one of the most useful and noble Productions in our English Verse“ empfahl.50 Als Pope in seiner 1727 erschienenen Satire Peri Bathous, Or the Art of Sinking in Poetry systematisch die Kennzeichen eines misslungenen erhabenen Stils auflistete, entnahm er seine Beispielzitate großenteils Werken Blackmores, doch keines dieser Beispiele stammte aus Creation. 1.1.4 Resümee In der englischen Literatur um 1700 wurde die traditionelle Gattung des Lehrgedichts auf unterschiedliche Weisen produktiv aufgegriffen und mit diversen Schreibweisen und Zügen anderer Gattungen verknüpft. Blackmores Creation repräsentiert nur eine dieser Varianten. Als eine weitere Spielart wäre das georgische Lehrgedicht zu nennen, wie es besonders erfolgreich etwa von John Philips in Cyder (1708) realisiert wurde. Neben solchen Gedichten, die sich an den Lehrgedichten Lukrez’ und Vergils als Modellen orientieren, finden sich Gedichte wie Drydens Religio Laici und Rochesters Satyr against Reason and Mankind, die zwar eindeutig der Gattung Epistel bzw. Satire zuzurechnen sind, die sich aber hinsichtlich ihres Inhalts wie ihrer Struktur dem philosophischen Lehrgedicht nähern. Was diese zwei Gedichte miteinander und mit Blackmores Creation verbindet, ist die Dominanz oder zumindest Prominenz argumentativer Strukturen, die in allen Fällen mit der Gestaltung konfrontativer oder agonaler Kommunikationssituationen innerhalb des Gedichts verbunden ist. Die Argumentationen wie auch die gedichtinternen Kommunikationssituationen werden in den drei Gedichten allerdings auf sehr unterschiedliche Weisen ausgeformt. Gerade diese Diversität der Sprechweisen, die nicht zuletzt durch die verschiedenen Abstufungen an Aggressivität oder Konzilianz differenziert sind, ist auch mit Blick auf Popes Essay on Man von Interesse, in dem ein besonders breites Spektrum von Modi der Auseinandersetzung entfaltet wird. Den untersuchten Texten Drydens und Blackmores ist ferner gemeinsam, dass es sich um

50 Vgl. [Joseph Addison], „No. 339. Saturday, March 29, 1712“, in: The Spectator. Donald F. Bond (Hrsg.). Bd. 2. Oxford 1965, S. 254–261, hier S. 261. Es handelt sich um einen Essay aus der Serie, in der Addison Miltons Paradise Lost analysiert.

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Gedichte handelt, mit denen ihre Autoren zu aktuellen religiösen und moralphilosophischen Kontroversen Stellung bezogen. Falls man Rochesters Satyr auch als eine Antwort auf die Philosophie Hobbes’ deutet, weist es auch in dieser Hinsicht eine Ähnlichkeit mit den Gedichten Drydens und Blackmores auf. Diese Texte lieferten somit Beispiele dafür, wie das Lehrgedicht und verwandte Gattungen für die Intervention in theologische und philosophische Kontroversen genutzt werden konnten. Auch unter diesem Gesichtspunkt könnten sie für Pope Referenztexte gewesen sein, an die er im Essay on Man einerseits anschloss, von denen er sich andererseits abgrenzte.

1.2 Die Stellung des Essay on Man in Popes Autorbiographie Die ersten drei Episteln von An Essay on Man erschienen einzeln und anonym im Februar, März und Mai des Jahres 1733, die vierte Epistel erschien im Januar 1734.51 Im April 1734 wurden sie wiederum anonym zusammen als Buch veröffentlicht. Als diese Gesamtausgabe herauskam, war die Verfasserschaft Popes allerdings weitgehend bekannt,52 und eine auffällige Änderung gegenüber den Einzelpublikationen bestätigte vermutlich für viele Leser zusätzlich, dass Pope der Verfasser war: Bei der ersten Veröffentlichung hieß der Adressat, der im ersten Vers der ersten Epistel angesprochen wird, noch „LÆLIUS“53; in der Gesamtausgabe von 1734 wurde daraus „ST. JOHN“, und die Titelseite nannte „Henry St. John, Lord Bolingbroke“ als Adressaten der vier Episteln. Popes Freundschaft mit Bolingbroke war allgemein bekannt. Ein Jahr später machte Pope selbst seine Verfasserschaft öffentlich, als er eine Sammlung seiner Werke herausbrachte, deren zweiter Band den Essay on Man enthielt. Als Pope den Essay on Man publizierte, war er seit längerem eine feste Größe in der literarischen Szene Englands, ein vielfach gefeierter, aber auch heftig angefeindeter Autor.54 So polarisiert die Urteile über sein Werk und seine Person waren, dürfte man David Morris im Wesentlichen zustimmen können, wenn er schreibt: „No one expected Pope to write An Essay on Man. Not his

51 Vgl. Miriam Leranbaum, Alexander Pope’s ‚Opus Magnum‘ 1729–1744, Oxford 1977, S. 6 f. Auch die folgenden Ausführungen zur Publikationsgeschichte des Essay on Man stützen sich vor allem auf diese Studie; vgl. hierzu ebd., S. 6–37, vor allem S. 6 f. und 31 f. Vgl. ferner: Nuttall, Pope’s ‚Essay on Man‘, S. 46–48. 52 Leranbaum, Alexander Pope’s ‚Opus Magnum‘, S. 7. 53 Vgl. den Stellenkommentar in der Ausgabe Macks (TE III.i, S. 11, Kommentar zu I, 1). 54 Vgl. knapp: Nuttall, Pope’s ‚Essay on Man‘, S. 6.

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friends. [. . .]. And certainly not his enemies [. . .].“55 Tatsächlich geht aus den Rezeptionszeugnissen deutlich hervor, dass Popes literarische Gegner ihm ein solches Werk nicht zugetraut und dass Freunde wie Swift es nicht von ihm erwartet hatten. Pope wollte offenbar eine möglichst unvoreingenommene Rezeption des Gedichts sicherstellen und ließ die vier Episteln nicht nur anonym, sondern auch bei einem Verleger erscheinen, der noch keinen seiner Texte publiziert hatte. Die erste Epistel wurde sogleich positiv, teilweise enthusiastisch aufgenommen, doch kaum jemand scheint Pope für den Autor gehalten zu haben.56 Zwei der erklärten Gegner Popes innerhalb der literarischen Szene priesen das Gedicht öffentlich in den höchsten Tönen.57 Es scheinen mehrere Eigenschaften gewesen zu sein, die für die zeitgenössischen Leser in den Episteln des Essay on Man hervorstachen und die mit ihrem Bild des Autors Pope nicht vereinbar waren. Der Essay on Man war offensichtlich ein ernsthaftes Werk mit hohem philosophischem Anspruch; die erste Epistel bekannte sich gleich eingangs zu der Absicht, eine Rechtfertigung Gottes gegenüber den Menschen zu liefern („But vindicate the ways of God to Man“; I, 16), schien mithin die Sache der Religion gegen Atheisten und Freigeister zu verfechten; schließlich nahm man in dem Gedicht einen hohen Stil wahr, der ebenfalls schon durch diese Milton-Allusion im Eingang angekündigt und etabliert wurde. Pope aber war Anfang der 1730er Jahre bekannt als Verfasser des Essay on Criticism, des komischen Epos The Rape of the Lock und des deskriptiven oder ‚topographischen‘ Gedichts Windsor Forest. Ferner kannte man ihn als Autor der heroischen Epistel Eloisa to Abelard und der gegen das Heer von ‚Schreiberlingen‘ gerichteten Satire The Dunciad sowie als Übersetzer Homers. Keines dieser Werke ließ offenbar für die Zeitgenossen erwarten, dass Pope ein ernsthaftes philosophisch-religiöses Gedicht im hohen Stil verfassen würde. „I confess I did never imagine you were so deep in Morals“, so schrieb Swift an Pope, nachdem seine Verfasserschaft bekannt geworden war.58 Pope betrachtete den Essay on Man offenbar selbst als Teil einer neuen Ausrichtung seines literarischen Schaffens, und er trug Sorge dafür, dass das

55 Vgl. Morris, Alexander Pope. The Genius of Sense, S. 152. 56 Vgl. Maynard Mack, Alexander Pope. A Life, New Haven/London 1985, S. 522 f. Im Frühjahr 1733 schrieb Pope in Briefen, dass der Essay on Man verschiedenen bekannten Geistlichen zugeschrieben worden sei (vgl. ebd., S. 522). 57 Vgl. ebd., S. 522 f. Bei den Kritikern handelte es sich um Leonard Welsted und Bezaleel Morrice, die in den vorangegangenen Jahren Popes Werke heftig attackiert hatten. 58 Jonathan Swift an Alexander Pope, Brief vom 1. November 1734, in: Corr. III, S. 438–440, hier S. 439.

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Gedicht auch so wahrgenommen wurde, indem er etwa einen Hinweis auf diesen Wandel in die Schlusspassage der vierten Epistel aufnahm.59 Diese Umorientierung hatte mehrere Facetten und scheint auch von mehreren Motiven Popes bestimmt gewesen zu sein. Grob lassen sich zwei Aspekte unterscheiden. Zum einen wählte Pope im Essay on Man eine Form und eine Thematik, die mit einem höheren Prestige besetzt waren als die Gattungen und Themen seiner früheren Werke; insbesondere hob sich der Essay in dieser Hinsicht deutlich von den Satiren ab, mit denen Pope zuletzt hervorgetreten war. Es spricht vieles für die Vermutung, dass Pope hiermit seine öffentliche Persona als Autor neu zu modellieren suchte. Signifikant ist in diesem Zusammenhang, dass er etwa in derselben Zeit auch mit der Konzeption eines Epos begann, das Brutus, den legendären Gründer Britanniens, zum Helden haben sollte.60 Auch diesen nie vollendeten Plan kann man als Indiz dafür sehen, dass Pope durch die Kultivierung hochrangiger Gattungen seiner Autor-Persona eine höhere Dignität zu geben und der Gefahr zu entkommen suchte, dass er nur mit Produkten dichterischen Witzes und mit Satiren gegen unwürdige Widersacher im Gedächtnis bleiben könnte. Eben diese Gefahr stellte ihm sein Freund Francis Atterbury in einem Brief von 1729, vermutlich nach der Lektüre der ersten Fassung der Dunciad, eindringlich vor Augen.61 Auch wenn kaum festzustellen ist, welchen Eindruck diese Ermahnung auf Pope machte, lassen seine in den folgenden Jahren verfassten Werke zumindest die Deutung zu, dass er ihr zu entsprechen suchte.62 Doch die Neuorientierung, die Pope mit dem Essay on Man und anderen Texten derselben Zeit vollzog, hat noch einen anderen Aspekt. Diese Gedichte unterschieden sich von Popes früheren Werken nicht nur durch die prestigeträchtigen Formen und Themen, sondern auch durch einen höheren Grad an politischem und gesellschaftlichem Engagement.63 Insofern dieses Engagement

59 Die vierte Epistel schließt mit einer Apostrophe an Bolingbroke, in der Popes Sprecher diesen als „my guide, philosopher, and friend“ (IV, 390) bezeichnet und erklärt, von ihm zu einer neuen Zweckbestimmung seines Dichtens angeregt worden zu sein (IV, 391 f.). 60 Vgl. zu diesem Projekt: Leranbaum, Alexander Pope’s ‚Opus Magnum‘, S. 155–174. 61 Atterbury ermahnte Pope, sein Talent nicht auf die Auseinandersetzung mit „little Men, and little things“ zu verschwenden, sondern für Werke zu nutzen, die die Gegenwart wie die Zukunft belehren und ihrem Verfasser zu bleibendem Ruhm verhelfen könnten. Pope möge auch bedenken, dass seine fragile Gesundheit ihm hierfür womöglich nicht mehr viel Zeit ließ. Vgl. Francis Atterbury an Alexander Pope, Brief vom 20. November 1729, in: Corr. III, S. 76–78, hier S. 76 f.; das Zitat auf S. 77. 62 Atterbury starb 1732, vor der Veröffentlichung des Essay on Man, so dass sich nichts darüber sagen lässt, ob Pope mit diesem Werk seinen Erwartungen entsprach. 63 Vgl. hierzu: Bertrand A. Goldgar, Walpole and the Wits. The Relation of Politics to Literature, 1722–1742, Lincoln/London 1976, S. 122–133. Dieser Abschnitt, der sich auf die Jahre 1730

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sich in konkreten Bezugnahmen auf die aktuelle politische Situation in England manifestierte, positionierte Pope sich auf Seiten der Opposition gegen die Regierung Robert Walpoles. Im Essay on Man ist die politische Thematik zwar gewiss nicht dominant und kaum mit Attacken auf einzelne Personen oder Anspielungen auf bestimmte Konflikte verbunden, wie sie sich in den zur selben Zeit veröffentlichten Episteln und Satiren Popes finden. Doch der Essay bietet in der dritten Epistel auch eine ausführliche Erörterung von Entstehung und Grundlagen der menschlichen Gesellschaft, und diese Darlegungen besaßen für Pope wahrscheinlich auch Relevanz für aktuelle Debatten um politische und gesellschaftliche Fragen. Ferner ist in diesem Zusammenhang wichtig, dass der Essay on Man seit der 1734 erschienenen Buchausgabe an Bolingbroke adressiert war, der nicht nur auf der Titelseite genannt, sondern auch im Eingangs- und im Schlussteil des Essay angeredet und als ‚Freund‘ apostrophiert wird. Autor und Sprecher des Gedichts präsentieren sich somit als Freund eines führenden Oppositionspolitikers, der erst 1725 aus der Verbannung nach England zurückgekehrt war und Anfang der 1730er Jahre energisch auf einen Sturz der Walpole-Regierung hinarbeitete.64 Bolingbroke dürfte auch einen beträchtlichen, in seiner genauen Natur und Tragweite allerdings nicht leicht zu bemessenden Einfluss auf Popes Entwicklung zu einem offen regierungskritischen Autor gehabt haben. Wichtig ist im Rahmen dieser Arbeit der folgende Punkt: Die Eigenschaften des Essay on Man, die diesem Gedicht für viele der ersten Rezipienten einen hohen Rang verliehen und so die Reputation des Autors Pope steigern konnten, verdankten sich der Adaption einer bestimmten Variante des Lehrgedichts. Die Qualitäten, die in den ersten Reaktionen gerühmt wurden, sind großenteils identisch mit den Tugenden, die man an Blackmores Creation gepriesen hatte: eine ernste, anspruchsvolle philosophische Thematik, die Verteidigung von Religion und Moral gegen die Freigeister, ein erhabener Stil.

bis 1734 bezieht, trägt die Überschrift „Pope’s Deepening Commitment“. – Auf eine Wende dieser Art ließ Pope in der bereits erwähnten Schlussapostrophe des Essay on Man seinen Sprecher anspielen; vgl. IV, 391 f.: „[. . .] I turn’d the tuneful art | From sounds to things, from fancy to the heart [. . .]“. Indem Pope suggeriert, seiner früheren Dichtung habe es ganz an ethischen oder politischen Zielen gefehlt, übertreibt er allerdings das Ausmaß seiner Neuorientierung. Auch sein früheres Gedicht Windsor Forest (1713) etwa besaß einen politischen Gehalt von aktueller Bedeutung. Vgl. dazu: Pat Rogers, Pope and the destiny of the Stuarts. History, politics, and mythology in the age of Queen Anne, Oxford 2005; Heinz-Joachim Müllenbrock, Whigs kontra Tories. Studien zum Einfluß der Politik auf die englische Literatur des frühen 18. Jahrhunderts, Heidelberg 1974, S. 93–141. 64 Vgl. zu den politischen Implikationen der Nennung Bolingbrokes als Adressat: Goldgar, Walpole and the Wits, S. 131 f.

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Blackmores Gedicht und seine Rezeption hatten gezeigt, dass ein philosophisches Gedicht, das im lukrezischen Stil die lukrezischen Lehren bekämpfte, dem Autor ein ähnliches Prestige verleihen konnte wie ein traditionelles Epos, und dieses Beispiel dürfte für Popes Konzeption des Essay eine Rolle gespielt haben. Aber das anti-lukrezische Gedicht epischen Ausmaßes ist nicht das einzige Modell, das Pope im Essay aufgriff, wie auch das Streben nach einer Aufwertung der eigenen Autor-Persona nicht als der alleinige oder dominierende Impetus dieses Werks gelten kann.

1.3 Das Projekt der Ethic Epistles Popes Essay on Man ist nicht nur insofern ein besonders komplexer Text, als er auf verschiedene Varianten des Lehrgedichts zurückgreift. Zur Komplexität des Essay gehört auch, dass er von Pope einerseits als ein komponiertes Ensemble aus vier Episteln, andererseits aber auch als Teil eines größeren Werks vorgestellt wurde, also gewissermaßen als ein nur relativ selbstständiges Gebilde. Als er im April 1734 die vier Episteln erstmals zusammen als Buch veröffentlichte, stellte er ihnen einen einleitenden Text mit der Überschrift „The Design“ voran, in dem er dem Leser mitteilte, dass die vier Episteln nur den Anfangsteil eines größeren Werks darstellten, welches eine Reihe von „pieces on Human Life and Manners“ enthalten sollte. Der hier vorgelegte Anfangsteil biete nur einen skizzenhaften Grundriss dieser Thematik, der in den folgenden Briefen noch auszufüllen und um die Einzelheiten zu ergänzen sei. Der erste Absatz dieser Vorbemerkung lautet wie folgt: Having proposed to write some pieces on Human Life and Manners, such as (to use my lord Bacon’s expression) come home to Men’s Business and Bosoms, I thought it more satisfactory to begin with considering Man in the abstract, his Nature and his State: since, to prove any moral duty, to enforce any moral precept, or to examine the perfection or imperfection of any creature whatsoever, it is necessary first to know what condition and relation it is placed in, and what is the proper end and purpose of its being. [„The Design“, S. 7]

Im letzten Absatz kommt Pope auf die Stellung des Essay on Man innerhalb des größeren Werks zurück. Der Essay on Man biete nur „a general Map of MAN“; die Einzelheiten seien erst in den folgenden Teilen ausführlicher darzustellen („The Design“, S. 8). Von den Themen, die in diesen folgenden Teilen behandelt werden sollten, konnten sich zumindest einige Leser der Ausgabe von 1734 einen Eindruck bilden, denn Teil dieser Ausgabe enthielt auch eine Seite mit der Überschrift „Index to the Ethic Epistles“, die ein Schema des von Pope offenbar

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geplanten Gesamtwerks bot.65 Dieser „Index“ enthielt zwei Spalten. Die linke Spalte trug die Überschrift „The First Book. Of the Nature and State of Man“ und enthielt darunter die Titel der vier Episteln des Essay on Man. Die Überschrift der rechten Spalte lautete „The Second Book. Of the Use of Things“. Darunter stehen einige Themen oder Titel, denen teilweise wiederum Unterthemen zugeordnet sind; ein Thema lautet „Of the Limits of Human Reason“ (mit den Unterpunkten „Of the Use of Learning“ und „Of the Use of Wit“), ein anderes „Of the Principles and Use of Civil and Ecclesiastical Polity“ (mit dem Unterpunkt „Of the Use of Education“). Die typographische Anordnung dieser Themen lässt es nicht eindeutig erscheinen, ob die Unterpunkte jeweils in einzelnen Episteln behandelt werden sollten; je nachdem, wie es sich damit verhielt, sollte das zweite Buch vier bis neun Episteln enthalten. Pope ließ die Exemplare der Ausgabe von 1734, die den „Index to the Ethic Epistles“ enthielten, wieder zurückziehen, was darauf hindeuten mag, dass er sich nicht öffentlich auf diesen detaillierten Plan festlegen wollte. Daran, dass der Essay on Man den ersten Teil eines größeren Werks darstellte, hielt er aber fest. Als er 1735 eine Ausgabe seiner Werke herausbrachte, gab er darin den Essay on Man die Überschrift „Ethic Epistles, The First Book“. Es folgte eine weitere Abteilung „Ethic Epistles, The Second Book“, die in den zuerst (im April) erschienenen Folio- und Quarto-Ausgaben noch sieben Episteln, in der im Juli herausgekommenen Oktavausgabe dann vier Episteln enthielt.66 Bei dieser Gruppierung der Oktavausgabe blieb Pope auch später. Bei den vier Episteln, die er als das zweite Buch der Ethic Epistles präsentierte, handelte es sich um die Episteln an Cobham, an ‚eine Lady‘, an Bathurst und Burlington, die teilweise schon vor der ersten Epistel des Essay on Man, teilweise parallel zu den vier Episteln desselben veröffentlicht worden waren.67 In der Pope-Forschung hat sich als Sammeltitel für diese vier Episteln der Titel Moral Essays durchgesetzt, der nicht von Pope stammt, sondern von William Warburton, dem Herausgeber der ersten posthum erschienenen Werkausgabe. Die enge Verbindung zwischen dem Essay on Man und diesen vier Episteln markierte Pope nicht allein durch die Überschriften „Ethic Epistles, The First Book“ und „Ethic Epistles, The Second Book“;

65 Vgl. zu diesem „Index“: Leranbaum, Alexander Pope’s ‚Opus Magnum‘, S. 27–31; ein Transkript dort auf S. 28. Vgl. auch Nuttall, Pope’s ‚Essay on Man‘, S. 46 f.; dort findet sich auch ein Transkript, das allerdings die Aufteilung in zwei Spalten nicht wiedergibt (vgl. ebd.). 66 Vgl. Leranbaum, Alexander Pope’s ‚Opus Magnum‘, S. 36 f. Ein weiterer Unterschied zwischen den Folio- und Quarto-Ausgaben einerseits, der Oktavausgabe andererseits ist, dass der Essay on Man in der letzteren erstmals eine große Zahl von Fußnoten enthielt, die dann auch in späteren Editionen beibehalten wurden (vgl. ebd., S. 7). 67 Vgl. ebd., S. 8.

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darüber hinaus versah er den Essay on Man und die Episteln des zweiten Buchs mit einigen Fußnoten, die Querverweise auf Texte des jeweils anderen Buchs der Ethic Epistles enthielten.68 Dass Pope den Essay on Man als Teil eines größeren Werks mit dem Titel Ethic Epistles publizierte, ist in mehreren Hinsichten von Interesse. Dieser Umstand zeigt etwa, dass die verbreitete Auffassung, der Essay on Man sei in erster Linie eine Auseinandersetzung mit dem Theodizee-Problem oder ein Beitrag zur Theodizee-Debatte,69 zumindest problematisch ist. Das Theodizee-Problem nimmt zwar ohne Zweifel einen wichtigen Platz im Essay on Man ein, doch dieser Text insgesamt wurde von Pope eben als Anfangsteil eines Werks präsentiert, das im Titel ausdrücklich als ein Beitrag zur Ethik ausgewiesen wurde und das zudem offenbar einen Schwerpunkt auf konkrete und praktische Dimensionen der Ethik legen sollte.70 Die Frage, wie Pope die Beziehung zwischen dem Essay on Man und dem zweiten Buch der Ethic Epistles verstand, soll weiter unten mit Bezug auf die Epistel an Bathurst näher erörtert werden. Hier ist zunächst ein anderer Gesichtspunkt hervorzuheben, unter dem die Zugehörigkeit des Essay on Man zum größeren Ensemble der Ethic Epistles von Interesse ist, ein gattungsgeschichtlicher Gesichtspunkt: Pope stellte schon im Titel heraus, dass der Essay on Man und die Ethic Epistles insgesamt aus Episteln bestanden, und er deutete zugleich an, dass diese Episteln eine größere, geordnete Ganzheit, ein ‚System‘, bilden sollten. In einem Brief an Swift von 1729 erwähnte Pope, dass er ein umfangreiches Werk plane, das er als „a system of Ethics in the Horatian way“

68 Vgl. für einen Überblick über diese Querverweise in Fußnoten: Ebd., S. 31–37. Zu einigen dieser Querverweise und zu inhaltlichen Beziehungen zwischen dem Essay on Man und dem zweiten Buch der Ethic Epistles vgl. auch: Nuttall, Pope’s ‚Essay on Man‘, S. 48. 69 Vgl. stellvertretend Peter Walmsley, „Alexander Pope“, in: Alan Charles Kors (Hrsg.), Encyclopedia of the Enlightenment, Vol. 3: Mably–Ruysch, Oxford 2003, S. 327–329, hier S. 328: „The Essay is, first and foremost, an exercise in theodicy [. . .].“ 70 Dieser Anspruch, eine Theodizee zu liefern, wird etwa in den Vordergrund gestellt bei: Nuttall, Pope’s ‚Essay on Man‘. Vgl. etwa ebd., S. 57 und 62. Nuttall gibt der TheodizeeProblematik auch dadurch eine zentrale Stellung, dass er auf die eingehende Analyse des Essay on Man ein Schlusskapitel mit der Überschrift „Coda: The End of Theodicy“ folgen lässt (vgl. ebd., S. 195–219), das sich dem Umgang mit dem Theodizee-Problem bei Vergil, William King und Samuel Johnson widmet. Dagegen haben andere Interpreten eingewandt, dass Pope in der Vorrede („The Design“) den Essay on Man ausdrücklich als ersten Teil eines ethischen Systems präsentiert habe. Vgl. Solomon, The Rape of the Text, S. 38. Maynard Mack hat schon in der Einleitung zu seiner Edition des An Essay on Man den philosophischen Gehalt des Gedichts als teils dem Bereich der Theodizee, teils dem der Ethik zugehörig beschrieben; vgl. Mack, „Introduction“, S. xxxii–xlvii.

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umschrieb.71 Diese Rede von einem ‚System‘ hat in Verbindung mit der Gattung Epistel etwas Überraschendes: Zu den traditionellen Merkmalen der Epistel, auch in dem für Popes Zeit gültigen Gattungsverständnis, gehörte gerade, dass sie Überlegungen zu moralischen und anderen Fragen in betont unvollständiger und unsystematischer Weise behandeln durfte oder sogar zu behandeln hatte. Der Duktus der Erörterung sollte schließlich zumindest annähernd mit der Fiktion vereinbar sein, dass sie im Rahmen eines privaten Briefs entwickelt wurde. Eine Zusammenstellung von Episteln, die ein ‚System‘ ergeben soll, erscheint insofern als ein hybrides Gebilde oder als ein Mittelding zwischen Epistel und philosophischer Abhandlung.

1.4 Die Philosophie des Essay on Man: ‚Zwischen den Extremen hindurchsteuern‘ In der Vorrede stellte Pope den Essay on Man jedoch nicht nur als vorbereitenden Teil eines größeren Systems dar, sondern auch als ein Werk mit einem eigenen Programm. Diese Zielsetzungen, wie er sie hier erläuterte, definierten sich wesentlich durch die Positionierung gegenüber zeitgenössischen Kontroversen. Die Gebiete, mit denen sich der Essay befasste, bezeichnete Pope in der Vorrede als die ‚Wissenschaft der menschlichen Natur‘ sowie als die Theorie der Moral. In diesen Bereichen habe es in der letzten Zeit heftige, aber wenig fruchtbare ‚Dispute‘ gegeben. Pope sagt hier nichts Näheres darüber, welche Debatten er meint, doch es fällt nicht schwer, im Gedichttext Themen und Fragestellungen zu identifizieren, die in den Jahrzehnten vor Erscheinen des Essay Gegenstand ausgedehnter Kontroversen gewesen waren. Das sogenannte Theodizee-Problem ist nur eines dieser Themen. Zu bedenken ist dabei, dass dieses Problem nicht nur in den berühmten Schriften von Bayle, Shaftesbury, Leibniz und William King,72 sondern auch in den seit 1692 jährlich veranstalteten Boyle Lectures mehrfach zum Thema gemacht und in vielen weniger bekannten Schriften behandelt worden war.73 Ferner 71 Vgl. Alexander Pope an Jonathan Swift, Brief vom 28.11.1729, in: Corr. III, S. 79–81, hier S. 81. 72 Für einen Überblick vgl. Luca Fonnesu, „The Problem of Theodicy“, in: Knud Haakonssen (Hrsg.), The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy. [Two volumes.] Vol. II, Cambridge [u. a.] 2006, S. 749–778. 73 Zu den Boyle Lectures vgl. Ernst Feil, Religio. Vierter Band: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 210–224; John Redwood, Reason, Ridicule and Religion. The Age of Enlightenment in England 1660–1750, London 1976, S. 103–108. – Viele der Vorlesungen wurden schon bald nach ihrem öffentlichen Vortrag gedruckt. Im Jahr 1737 veröffentlichte Gilbert Burnet eine Zusammenfassung einer größeren

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greifen die Episteln des Essay an verschiedenen Stellen Gedanken und Probleme auf, die zeitgenössische Leser an Theorien von Hobbes und Mandeville erinnert haben dürften und somit an Theorien, die eine kaum übersehbare Vielzahl von Streitschriften provoziert hatten.74 Pope rechnete offenbar mit Lesern, die mit den Debatten der vorangegangenen Jahre und Jahrzehnte vertraut waren, und sein Essay sollte in seiner Beziehung zu ihnen wahrgenommen werden.75 Wie er sich gegenüber den Debatten positionieren wollte, deutet der folgende Abschnitt der Vorrede an: The science of Human Nature is, like all other sciences, reduced to a few clear points: There are not many certain truths in this world. It is therefore in the Anatomy of the Mind as in that of the Body; more good will accrue to mankind by attending to the large, open, and perceptible parts, than by studying too much such finer nerves and vessels, the conformations and uses of which will for ever escape our observation. The disputes are all upon these last, and, I will venture to say, they have less sharpened the wits than the hearts of men against each other, and have diminished the practice, more than advanced the theory, of Morality. If I could flatter myself that this Essay has any merit, it is in steering betwixt the extremes of doctrines seemingly opposite, in passing over terms utterly unintelligible, and in forming a temperate yet not inconsistent, and a short yet not imperfect system of Ethics. [„The Design“, S. 7]

Die Streitigkeiten haben laut Pope die Feindseligkeit der Beteiligten verschärft, aber kaum neue Erkenntnisse hervorgebracht. Für diese nachteilige Wirkung der Kontroversen scheint er insbesondere die Konzentration auf obskure Detailfragen verantwortlich zu machen. Jedenfalls legen seine Bemerkungen nahe, dass er die Fragen nach der menschlichen Natur und der Moral auf eine Art und Weise diskutieren möchte, die dem menschlichen Miteinander, der „practice [. . .] of morality“, förderlich ist, die also geeignet ist, die Aggressivität der gegnerischen Parteien abzubauen. Die erklärte Absicht, ein ‚kurzes‘ und ‚gemäßigtes‘ System liefern zu wollen, passt ebenfalls zu diesem vorrangigen Interesse an der ‚practice of morality‘. Dass das System ein gemäßigtes sein soll, bedeutet konkret, dass Pope zwischen den Extremen von „doctrines seemingly

Zahl von Vorlesungen dieser Reihe: Vgl. Gilbert Burnet, A Defence of Natural and Revealed Religion: Being an Abridgment of the Sermons Preached at the Lecture founded by The Honorable Robert Boyle, Esq.; by Dr. Bentley [. . .]. In Four Volumes. With a General Index. London 1737. 74 Zur zeitgenössischen Diskussion um Mandevilles Bienenfabel vgl. etwa die Quellensammlung: J. Martin Stafford (Hrsg.), Private Vices, Publick Benefits? The Contemporary Reception of Bernard Mandeville, Solihull 1997. Zu den kritischen Reaktionen auf Hobbes vgl. etwa: Samuel I. Mintz, The Hunting of Leviathan. Seventeenth-century reactions to the materialism and moral philosophy of Thomas Hobbes, Cambridge 1962. 75 Das betont auch White, Pope and the Context of Controversy, S. 1–18.

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opposite“ hindurchsteuern will.76 Wenn Pope ferner sagt, dass er unverständliche Begriffe ebenso wie die Zergliederung subtiler Spezialprobleme vermeiden will, so deutet er damit indirekt auch an, dass die schädliche Wirkung der bisherigen Dispute auch mit der Form, in der sie geführt wurden, zusammenhängen könnte und dass er folglich eine andere Form wählen will. Auf diesen Punkt ist unten im Kapitel 5 zurückzukommen. Popes Essay on Man ist in der Forschung nicht selten als ein Werk betrachtet worden, das eine Summa von weithin geteilten Grundüberzeugungen der Aufklärungsepoche biete. Diese Auffassung dürfte dadurch begünstigt worden sein, dass die Bezugnahmen auf zeitgenössische philosophische Diskussionen in dem Gedicht so offensichtlich sind. In der Vorrede aber bezeichnet Pope es nicht als seine Absicht, eine solche Zusammenstellung unstrittiger Überzeugungen zu bieten, und die Signatur der Epoche bildet in seiner Darstellung weniger der Durchbruch eines neuen – aufklärerischen – Weltbildes als die Zunahme feindseliger und kontraproduktiver Dispute. Seine erklärte Absicht zielt darauf, zwischen gegnerischen Positionen zu vermitteln und so einen gemeinsamen Grund zu errichten, auf dem sich die verfeindeten Parteien treffen können. Einige Forscher nehmen an, dass für den Essay als Ganzes eine bestimmte Konstellation solcher extremen Positionen den Bezugspunkt bilde, dass Pope sich etwa in allen vier Episteln zwischen stoischen und epikureischen Lehren oder zwischen der „egoistic theory of Hobbes and Mandeville“ und der „benevolistic theory of Shaftesbury and Hutcheson“ bewege.77 Bestimmte philosophische Systeme gehören tatsächlich in mehreren Teilen oder sogar durchgehend zum Referenzrahmen; doch insgesamt orientiert sich Popes Verfahrensweise in erster Linie nicht an großen philosophisch-theologischen Schulen oder Lagern, sondern an den speziellen Positionen, die zu den im Essay erörterten Fragen formuliert worden sind. Dabei ist es ein auffälliges Merkmal seines Vorgehens, dass er keine Vertreter der jeweils diskutierten Positionen mit Namen nennt;78 es ist anzunehmen, dass auch diese Entpersonalisierung zu einer Entschärfung der Konflikte beitragen sollte. 76 Diese Formulierung weist eine vermutlich beabsichtigte und für Pope bezeichnende Zweideutigkeit auf: Sie besagt einerseits, dass Pope einen mittleren Weg zwischen gegensätzlichen Extrempositionen suchen, andererseits aber auch, dass er den Gegensatz zwischen diesen Positionen als einen nur scheinbaren erweisen will. 77 Vgl. Mack, „Introduction“, S. xl. 78 Das hat Erskine-Hill mit Blick auf die dritte Epistel hervorgehoben und als einen Unterschied gegenüber den Schriften Bolingbrokes genannt; vgl. Howard Erskine-Hill, „Pope on the origins of society“, in: G. S. Rousseau/Pat Rogers (Hrsg.), The Enduring Legacy. Alexander Pope tercentenary essays, Cambridge [u. a.] 1988, S. 79–93, hier S. 91 f. Es gilt aber ebenso für die anderen Episteln.

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Die folgende Analyse soll einige der zentralen philosophischen Gedankengänge des Essay interpretieren und untersuchen, wie sie sich gegenüber zeitgenössischen Diskussionen positionieren; insbesondere soll herausgearbeitet werden, inwiefern Pope ‚zwischen gegensätzlichen Extremen hindurchsteuert‘. Dabei unterscheide ich vier thematisch definierte Diskussionen, auf die sich der Essay besonders ausdrücklich bezieht. Ihre bestimmenden Fragen sind erstens die nach der Rechtfertigung Gottes oder dem Ursprung des Übels; zweitens die nach der Motivation menschlichen Handelns und insbesondere moralischen Handelns; drittens die nach den Grundlagen der Gesellschaft; viertens die nach der Größe oder Niedrigkeit des Menschen. Ein Teil dieser Fragen wird jeweils nur oder vorwiegend in einer Epistel erörtert, andere werden im Laufe des Essay immer wieder ansgesprochen. 1.4.1 Die Rechtfertigung Gottes Im Proömium der ersten Epistel erklärt der Sprecher seine Absicht, gemeinsam mit Lord Bolingbroke den Menschen und seinen Ort in der Welt zu untersuchen und dabei ‚Gottes Wege gegenüber den Menschen zu rechtfertigen‘: „But vindicate the ways of God to Man“ (I, 16). Dieser prominent am Ende des Eingangsabschnitts platzierte Vers variiert offenkundig eine Formulierung aus dem Eingang von John Miltons Paradise Lost. An die Stelle von Miltons „justify“ setzt Pope mit „vindicate“ ein Wort, das im zeitgenössischen theologischen und philosophischen Schrifftum gebräuchlich war, um Verteidigungen Gottes oder der Vorsehung angesichts des Übels in der Welt zu bezeichnen.79 Diese Verteidigungen Gottes richteten sich zum einen gegen neuzeitliche Anhänger von Epikur und Lukrez, die wie der Verfasser von De rerum natura aus den Unvollkommenheiten der Welt schlossen, dass sie nicht von einem Gott geschaffen sein konnte; zum anderen gegen Pierre Bayle, dessen Position häufig als eine Erneuerung des Manichäismus verstanden wurde.80 Man unterschied in den apologetischen Schriften zwei Methoden der Rechtfertigung: die apriorische, die von Annahmen über die Weisheit, Güte und Macht Gottes ausging und aus ihnen Schlüsse über die

79 Vgl. etwa John Clarke, An Enquiry into the Cause and Origin of Evil, London 1720, „The Preface“ (unpag.). Für weitere Beispiele vgl. Solomon, The Rape of the Text, S. 40–43. 80 Vgl. Clarke, An Enquiry into the Cause and Origin of Evil, S. 6–24. Zu der ersten der zwei Positionen, die Clarke als ‚atheistisch‘ bezeichnet und niederträchtigen Personen zuschreibt, vgl. ebd., S. 6–13, speziell zu Lukrez S. 7; zu der zweiten Position, die nach Clarke zwar absurd, aber bescheidener und weniger bösartig als die andere ist, vgl. ebd., S. 13–24, zu Bayle als Vertreter des Manichäismus vor allem S. 18.

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Beschaffenheit der Welt ableitete, und die aposteriorische, die aus empirischen Fakten Schlüsse über den Schöpfer der Welt zog.81 In Popes Essay steht das Thema der Rechtfertigung Gottes vor allem in der ersten Epistel ausdrücklich im Zentrum. Unmittelbar auf das Proömium folgen Aussagen des Sprechers über die Reichweite der menschlichen Erkenntnis, die auch Implikationen im Hinblick auf die Methode der Rechtfertigung Gottes haben (vgl. I, 17–20). Er vertritt hier die Auffassung, dass bei allem Nachdenken über Gott und den Menschen von dem auszugehen sei, was der Mensch aus der Erfahrung über „his station here“ (I, 19) wisse. Der Sprecher scheint ferner auch ein analogisches Schließen von diesen Erfahrungen auf größere, empirisch nicht zugängliche Zusammenhänge als legitim anzusehen, ohne sich dabei aber präzise festzulegen. Von den zwei in der zeitgenössischen Apologetik unterschiedenen Methoden der Rechtfertigung Gottes ist es jedenfalls die empirische, aposteriorische Methode (oder eine Variante derselben), für die sich der Sprecher entscheidet.82 Auch die rhetorische Gestaltung der Passage akzentuiert vor allem die Kritik an jenen Denkern, die sich ein über die normale Wahrnehmung hinausreichendes Wissen anmaßen. Die Verse, in denen der Sprecher sich sarkastisch von diesen vorgeblichen Sehern distanziert (vgl. I, 23–28), dürften auf eine der berühmten Lobreden auf Epikur bei Lukrez anspielen.83 Mit seiner Festlegung auf eine empirische Vorgehensweise schließt der Sprecher aber nach zeitgenössischem Verständnis auch Rekurse auf die Offenbarung sowie apriorische Argumentationen, wie sie von Verteidigern des Christentums verwendet wurden, aus.

81 Vgl. ebd., „The Preface“ (unpag.). 82 Solomon zufolge lehnten Pope und Bolingbroke beide die apriorische Methode der rationalistischen Philosophie ab und bekundeten eine Nähe zur empiristischen Erkenntnistheorie Lockes; vgl. Solomon, The Rape of the Text, S. 71 f. Solomon zitiert hier auch eine sarkastische Äußerung Bolingbrokes über Leibniz. Die lange Zeit verbreitete Auffassung, Popes Essay on Man orientiere sich wesentlich an Leibniz, wurde von Maynard Mack in der Einleitung zu seiner maßgeblichen Ausgabe des Essay on Man (1950) in wenigen Sätzen abgehandelt und verworfen; vgl. Maynard Mack, „Introduction“, in: Alexander Pope, An Essay on Man. Maynard Mack (Hrsg.). In: TE III.i, S. xi–lxxx, hier S. xxvii. Dass die Rechtfertigung des Übels bei Pope keinerlei Gedanken enthalte, die spezifisch für Leibniz’ Theorie sind, ist auch bereits die These von Cecil A. Moore, „Did Leibniz Influence Pope’s Essay?“, in: The Journal of English and Germanic Philology, 16/1917, 1, S. 84–102. 83 Vgl. Lukrez, De rerum natura, I.62–79, v. a. die Verse 72–74 („[. . .] et extra | processit longe flammantia moenia mundi | atque omne immensum peragravit mente animoque [. . .]“). Dass die Verse bei Pope auf dieses lukrezische Lob Epikurs anspielen, wird angenommen bei Mack, Alexander Pope. A Life, S. 525. Popes Sprecher, so Mack, distanziere sich von dem Glauben an visionäre Erkenntnisformen, wie sie Lukrez dem Epikur zuschreibt, und beziehe dagegen eine empiristische Position.

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Ob die Argumentationsweise des Sprechers im gesamten Essay dieser methodischen Selbstverortung vom Beginn der ersten Epistel entspricht, ist in der Forschung umstritten. Über weite Strecken der ersten Epistel aber befinden sich seine Ausführungen recht offensichtlich im Einklang mit den eingangs aufgestellten methodischen Vorgaben.84 Der Sprecher setzt sich hier mit einem namenlosen Gesprächspartner auseinander, der die Unvollkommenheiten der menschlichen Natur beklagt und Gott einen Vorwurf daraus macht, dass er den Menschen nicht mit mehr Fähigkeiten ausgestattet habe. Popes Sprecher kritisiert diese Haltung auf verschiedene Weisen: Mal weist er darauf hin, dass die Behauptungen über die Unvollkommenheiten der menschlichen Natur auf Annahmen beruhen, deren Begründung die menschlichen Fähigkeiten übersteigt (vgl. I, 17–68); mal sucht er Widersprüche zwischen verschiedenen Aspekten der kritisierten Einstellung aufzudecken (vgl. I, 131–160, 173–176). Diese immanente Kritik der aufgerufenen Positionen flankiert der Sprecher mit eigenen positiven Aussagen dazu, wie die Ordnung der Welt beschaffen ist, oder genauer: dazu, welche Auffassung von dieser Ordnung man sich zu Eigen machen sollte (vgl. I, 77–112, 207–280). Auch hierbei hält sich der Sprecher insofern an die annoncierte Methode, als er die christlichen Lehren vom Sündenfall85 oder von der Erlösung durch Jesus nicht erwähnt. Dass den Mensch nach dem Tode ein neues Leben im Jenseits erwarte, wird von Popes Sprecher als ein heilsamer und somit wertvoller Glaube angesehen, der nicht widerlegt sei, für den der Mensch aber auch keinerlei Gewissheit habe (vgl. I, 91–112). Joseph Spence hat eine Äußerung Popes überliefert, in der er den Grund dafür nannte, dass im Essay weder vom Sündenfall noch von der Unsterblichkeit der Seele die Rede ist: Beide, so Pope, lagen außerhalb des Themenbereichs des Essay, welcher

84 Die Auffassung, dass Popes Sprecher die anfangs formulierten Aussagen über die Grenzen der menschlichen Erkenntnisfähigkeit in der ganzen ersten Epistel berücksichtige und sich stets an der Empirie als Grundlage orientiere, wird auch vertreten bei: William Bowman Piper, „Pope’s Vindication“, in: Philological Quarterly, 67/1988, 3, S. 303–321. 85 Crousaz wandte gegen einen Abschnitt der ersten Epistel ein, dass er zwar vage formuliert sei, aber zumindest als Leugnung des Sündenfalls verstanden werden könnte. Vgl. Jean-Pierre de Crousaz, Commentaire sur la traduction en vers de M. l’Abbé Du Resnel, de l’Essai de M. Pope sur l’homme, Genf 1738, S. 42 f. – Einige neuere Interpreten haben die Ansicht vertreten, dass Pope auf den Sündenfall anspiele und ihn indirekt doch in seine Deutung des Menschen und der Welt integriere. Vgl. für eine Auseinandersetzung mit diesen Interpretationen: Douglas Canfield, „The Fate of the Fall in Pope’s Essay on Man“, in: The Eighteenth Century, 23/1982, 2, S. 134–150. Canfield selbst will zeigen, dass Pope tatsächlich auf den Sündenfall anspiele und ihn als Metapher ‚retten‘ wolle (vgl. ebd., S. 150).

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eben den Menschen in seinem gegenwärtigen Zustand untersuchen sollte, nicht in seiner Vergangenheit oder Zukunft.86 Die Gedichtteile, in denen Popes Sprecher nach Ansicht einiger Interpreten gegen seine Selbstverpflichtung zur empirischen Argumentation verstößt, sind zunächst jene Partien der ersten Epistel, in denen er sich auf die Lehre von der chain of being (vgl. I, 207–246) und auf das historisch eng mit ihr verbundene ‚Prinzip der Fülle‘ (vgl. I, 43–46) bezieht. Dabei gebraucht der Sprecher auch einmal die Wendung vom ‚besten der möglichen Systeme‘, das die ‚unendliche Weisheit schaffen müsse‘ (I, 43 f.).87 Damit scheint er nun metaphysische Doktrinen zu affirmieren und somit gegen das selbstauferlegte Gebot zur empiriegestützten Argumentation zu verstoßen. Doch auch hier liegt bei näherem Hinsehen zumindest kein so eindeutiger Widerspruch vor, wie manche Interpreten gemeint haben, denn die Lehre von der ‚besten Welt‘ ebenso wie das Prinzip der Fülle und die Lehre von der Kette der Wesen werden von Popes Sprecher nur mit bezeichnenden Vorbehalten vertreten. Die Annahme, diese Welt sei die beste der möglichen, wird in der ersten Epistel nur in der folgenden Passage explizit aufgegriffen: Of Systems possible, if ’tis confest That Wisdom infinite must form the best, Where all must full or not coherent be, And all that rises, rise in due degree; Then, in the scale of reasoning life, ’tis plain, There must be, somewhere, such a rank as Man; And all the question (wrangle e’er so long), Is only this, if God has placed him wrong?

[I, 43–50]

Die Annahme, Gott müsse von allen möglichen Weltordnungen die beste realisieren, wird hier in einen Konditionalsatz eingebettet („if ’tis confest“),88 der

86 Vgl. Joseph Spence, Observations, Anecdotes, and Characters of Books and Men. Collected from Conversation. James Osborne (Hrsg.). [2 Bde.] Bd. 1, Oxford 1966, S. 136 (Äußerung datiert auf Februar 1743). 87 Zu diesen Konzepten und ihrer Geschichte vgl. immer noch: Arthur O. Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea, New York 1960 [zuerst 1936]; zu Pope dort S. 196–226. Vgl. auch William F. Bynum, „The Great Chain of Being after Forty Years: An Appraisal“, in: History of Science, 13/1975, 1, S. 1–28. 88 Die Wichtigkeit des „if“ in dieser Passage wird betont bei: Solomon, The Rape of the Text, S. 92, 109; Priestley, „Pope and the Great Chain of Being“, S. 217 f.; Mack, Alexander Pope. A Life, S. 527. Etwas andere Akzente setzt Macks Kommentar in der Twickenham Edition; vgl. seinen Kommentar zu I, 43–50 in TE III.i, S. 18 f. White hingegen meint, dass das „if“ nicht weiter relevant sei und dass Pope die hier formulierten Annahmen offenkundig für wahr, und zwar a priori wahr, betrachte; vgl. White, Pope and the Context of Controversy, S. 19. Ähnlich

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mit dem gewählten Verb noch eine zusätzliche Einschränkung enthält: Diese Annahme wird als eine präsentiert, zu der man sich allenfalls ‚bekennen‘ könnte, nicht als eine, die man beweisen könnte.89 Bei der Lehre von der Kette der Wesen gilt es zu bedenken, dass ihre Ursprünge zwar in der platonischen und neuplatonischen Metaphysik liegen, dass sie aber in der Sicht der Philosophie des 18. Jahrhunderts auch über eine eindrucksvolle empirische Stützung verfügte.90 Für John Locke wie für Bolingbroke zeigte die Erfahrung, dass es eine kontinuierliche Stufenfolge von Lebewesen gab, die von einfachsten Tieren bis zum Menschen reichte, und diese Beobachtungen zusammen mit der Macht und Weisheit des Schöpfers stifteten Gründe für die Annahme, dass die Stufen zwischen dem Menschen und Gott durch weitere, für den Menschen nicht wahrnehmbare Wesen gefüllt war.91 Auch im Essay on Man wird die Vorstellung von der Kette der Wesen vom Sprecher unter Berufung auf die Empirie, nicht auf eine apriorische Begründung eingeführt.92 Die berühmte Passage in der ersten Epistel, in der die „[v]ast chain of being“ angerufen wird (I, 237), beginnt mit einer Aufforderung zum Sehen: „See, thro’ this air, this ocean, and this earth, | All matter quick, and bursting into birth.“ (I, 233 f.)93 Die Aussage über die

Leopold Damrosch, Jr., The Imaginative World of Alexander Pope, Berkeley [u. a.] 1987, S. 174. Damrosch behauptet sogar: „The entire poem, in fact, is a series of deductions from these axioms, whose plausibility is never subjected to scrutiny.“ (Ebd.) Kritisch zu der Deutung Whites und Damroschs: Solomon, The Rape of the Text, S. 92. – Eine ähnliche Lesart wie White und Damrosch vertrat schon Warburton, dem zufolge Pope die Aussage über die beste Welt als eine „self-evident Proposition“ angesehen habe. In seinem Zitat der Stelle lässt er den „if“Satz weg. Vgl. [William] Warburton, A Critical and Philosophical Commentary on Mr. Pope’s Essay on Man. London 1742, S. 5. 89 Zu „confest“ vgl. auch F. E. L. Priestley, „Pope and the Great Chain of Being“, in: Millar MacLure/F. W. Watt (Hrsg.), Essays in English Literature from the Renaissance to the Victorian Age. Presented to A. S. P. Woodhouse 1964, Toronto 1964, S. 213–228, hier S. 218. 90 Zur Lehre von der ‚chain of being‘ in der empirischen Naturforschung und Philosophie des 18. Jahrhunderts vgl. knapp Peter J. Bowler, Evolution. The History of an Idea. Third edition, completely revised and expanded, Berkeley [u. a.] 2003, S. 62–66. Vgl. auch Laura Duprey, „L’idée de chaîne des êtres, de Leibniz à Charles Bonnet“, in: Dix-huitième siècle, 43/2011, 1, S. 617–637. 91 Vgl. Lovejoy, The Chain of Being, S. 183–207, zu Locke S. 184, zu Bolingbroke S. 191 f. 92 Dass die in der ersten Epistel zu findenden Aussagen über die chain of being im Verhältnis zur traditionellen Form dieser Lehre, wie sie etwa auch William Kings De Origine Mali bietet, in diesem Sinne eine reduzierte und bescheidenere Version der Lehre bieten, wird hervorgehoben und näher ausgeführt bei Priestley, „Pope and the Great Chain of Being“. 93 Auf die große Bedeutung der visuellen Wahrnehmung im Essay on Man, die sich unter anderem in zahlreichen Aufforderungen wie „See [. . .]“ zeige, hat Patricia Spacks hingewiesen. Vgl. Patricia Meyer Spacks, An Argument of Images. The Poetry of Alexander Pope, Cambridge (Mass.) 1971, S. 41–83, besonders S. 60–72.

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Abschnitte der Stufenleiter, die sich der menschlichen Wahrnehmung entziehen, wird ausdrücklich als Vermutung präsentiert: „Above, how high progressive life may go!“ (I, 235) Dass der Sprecher an dieser Stelle seine Annahmen über Teile der Weltordnung, die dem Menschen nicht empirisch zugänglich sind, nur als Vermutungen formuliert, ist charakteristisch für seine Argumentationsweise insgesamt. Diese Zurückhaltung unterscheidet ihn von prominenten Vertretern einer aposteriorischen Rechtfertigung Gottes, etwa von Protagonisten der Physikotheologie.94 Während etwa Blackmore schon im Untertitel seines physikotheologischen Lehrgedichts Creation den Anspruch formulierte, die Existenz und providentielle Fürsorge Gottes beweisen zu können („A Philosophical Poem. Demonstrating the Existence and Providence of a God“), vermeidet Popes Sprecher generell starke epistemische Ausdrücke wie ‚demonstration‘ oder ‚refutation‘ und bedient sich in der Regel besonders vorsichtiger Formulierungen, wann immer er Fragen der umfassenden Weltordnung anspricht, die den für den Menschen empirisch zugänglichen Bereich verlassen. Auch hinsichtlich der Frage nach dem Weiterleben des Menschen nach dem Tode bezieht Popes Sprecher in gewissem Sinne eine mittlere Position (vgl. I, 91–112). Er hebt die Hoffnung auf ein solches Weiterleben als einen wesentlichen und wertvollen Aspekt der menschlichen Natur hervor, vermeidet es also, im Anschluss etwa an Lukrez diesen Glauben als illusionär anzuprangern. Aber während die Apologeten der Religion typischerweise versuchten, das Weiterleben nach dem Tode zu beweisen – so etwa Francis Gastrell in seiner Schrift A Moral Proof of the Certainty of a Future State (1725) –,95 bezeichnet Popes Sprecher das jenseitige Fortleben ausdrücklich als Gegenstand von Hoffnung, nicht von Wissen, und behauptet nicht, dieses Weiterleben beweisen zu können; seine Formulierungen lassen so die Möglichkeit offen, dass es sich bei dieser Hoffnung nur um eine wohltätige Illusion handelt.96 Andererseits findet sich im Essay ein Satz, der einen ungemein starken epistemischen Anspruch auszudrücken scheint und der für viele Interpreten zugleich Popes Antwort auf das Problem des Übels resümiert, nämlich der

94 Dies herausgestellt zu haben, ist ein Verdienst der Studie Solomons; vgl. Solomon, The Rape of the Text, S. 78–88, etwa S. 78: „Pope’s ridicule of Leibnizian ‚platonizing‘ should not suggest that he is more sympathetic to the pretended a posteriori reasoning of physicotheology.“ 95 Vgl. [Francis Gastrell], A Moral Proof of the Certainty of a Future State, London 1725. 96 Vgl. Solomon, The Rape of the Text, S. 94 f. Solomon kritisiert hier Interpreten, die in den Passagen über die Jenseitshoffnung eine Unentschiedenheit Popes zu erkennen glaubten, der sich nicht klar darüber geworden sei, ob er dieser Hoffnung frommen Beifall spenden oder sie verspotten wolle.

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vieldiskutierte Satz „‚Whatever IS, is RIGHT.‘“ Die erste Epistel schließt mit den Versen: „[. . .] | And, spite of Pride, in erring Reason’s spite, | One truth is clear, ‚Whatever IS, is RIGHT.‘“ (I, 293 f.) Der Satz ‚Whatever is, is right‘ wurde und wird häufig isoliert diskutiert. Die Art und Weise, wie er im Schlussvers der ersten Epistel mit Anführungszeichen abgesetzt wird, mag zu einer solchen isolierten Betrachtung einladen; aber es gilt zu beachten, dass er in einen längeren Satz integriert ist, der wiederum eine Reihe von Aussagen abschließt. Doch zunächst zu dem Satz ‚Whatever is, is right‘ selbst. Einige zeitgenössische Leser, darunter auch Albrecht von Haller, verstanden ihn als die Behauptung, dass es überhaupt kein Übel gebe.97 Da im Essay on Man an vielen Stellen Laster erwähnt und verurteilt werden (vgl. etwa II, 197–202, 217–220; IV, 277–308), ist eine solche Deutung kaum plausibel.98 Eher ist mit einem neueren Interpreten zu konstatieren: „That the poet who wrote ‚Whatever IS, is RIGHT‘ spent so much of his life criticizing wrongs should prompt one to consider what the phrase can and cannot mean.“99 Versucht man also zu klären, was der Satz dann bedeuten könnte, so verdient ein Punkt Beachtung, auf den Lessing und Mendelssohn in ihrer 1755 veröffentlichten Schrift Pope ein Metaphysiker! aufmerksam gemacht haben: Der Satz wurde zwar häufig übersetzt als ‚Alles, was ist, ist gut‘ oder – so auch in der Preisfrage

97 William Ayre veröffentlichte schon 1734 eine Epistel mit dem Titel Truth, die er im Untertitel als Antwort auf die erste Epistel von Popes Essay on Man auswies. In seinem Gedicht zitierte Ayre den Satz ‚Whatever is, is right‘, um dann fortzufahren: „Then Right are all the Paths which Men have trod, | This makes a Demon Right as well as God; | [. . .] If Holiness is Right, why so is Sin: [. . .].“ [William] Ayre, Truth. A Counterpart to Mr. Pope’s Esay [sic] on Man. Epistle the First, London 1734, S. 2. – Zu Hallers Kommentar vgl.: Albrecht von Haller, Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst. [Hrsg. Johann Georg Heinzmann] [2 Bde.] Bern 1787. Photomechanische Reproduktion: Frankfurt a.M. 1971, Bd. II, S. 197. Die Notiz wird vom Herausgeber auf 1746 datiert. 98 Hallers Kommentar drückt denn auch nicht nur Ablehnung, sondern auch Befremden aus, da für ihn nicht nachvollziehbar ist, wie Pope einerseits Satiren verfassen und andererseits die Existenz des moralischen Übels bestreiten kann: „Pope in seinem Versuche über den Menschen, verdeckt unter angenehmen Blumen ein gefährliches Gift. [. . .] [D]er allgemeine Satz: Daß alles was ist, gut sey, streitet sowohl mit der Vernunft als mit der Offenbarung. Sollte der satyrische Pope kein moralisches Uebel kennen? und ist denn das moralische Uebel etwas wünschenswürdiges und gutes?“ (Haller, Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst, Bd. II, S. 197) 99 John Sitter, „Eighteenth-Century Ecological Poetry and Ecotheology“, in: Religion & Literature, 40/2008, 1, S. 11–37, hier S. 28.

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der Preußischen Akademie der Wissenschaften – als ‚Tout est bien‘,100 aber Pope hatte eben nicht ‚Whatever is, is good‘ geschrieben, sondern ‚Whatever is, is right‘.101 Das Wort ‚right‘ dürfte weniger als ‚gut‘ oder ‚bien‘ das Verständnis nahelegen, dass alles, was ist, vom Menschen als angenehm oder erfreulich erfahren werden könne. Aber was genau das Wort ‚right‘ besagen soll, wird in der Gedichtstelle nicht erläutert und ist somit deutungsbedürftig.102 Um die Bedeutung des isolierten Satzes zu erhellen, ist ferner auf Quellen hingewiesen worden, denen Pope ihn entnommen haben könnte; das kann auch als naheliegend erscheinen, weil der Satz im Gedicht selbst in Anführungszeichen gesetzt wird.103 Mack verweist in seinem Kommentar zu dem Vers auf zwei Bibelstellen sowie auf Passagen in Werken Miltons und Drydens, deren Wortlaut mehr oder weniger deutliche Ähnlichkeiten zu dem Vers Popes aufweist. Ferner hat man Stellen bei Platon, Augustinus, William King und Shaftesbury angeführt.104 Schon die Vielzahl und Heterogenität der in Frage kommenden Quellen lässt es allerdings fraglich erscheinen, ob man mit ihrer Hilfe die Bedeutung des Satzes im Essay besser bestimmen kann. Beachtung verdient aber, dass Pope selbst in einem Brief den Satz „whatever Is, is Right“ als einen Ausspruch des Sokrates zitierte.105 Dabei könnte er sich 100 Die Preisaufgabe der Akademie begann mit dem Satz: „On demande l’examen du système de POPE, contenu dans la proposition: Tout est bien. [. . .].“ Vgl. Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bd. I, 1, S. 404. 101 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing/Moses Mendelssohn, Pope ein Metaphysiker!. In: Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3, S. 614–650, hier S. 629 f. 102 Lessing und Mendelssohn schreiben dazu: „Recht ist alles, weil alles, und das Übel selbst, in der Allgemeinheit der Gesetze, die der Gegenstand des göttlichen Willens waren, gegründet ist.“ (Lessing/Mendelssohn, Pope ein Metaphysiker!, S. 629) – Nach Baasner hat die Übersetzung als „gut“ die folgende Konsequenz: „So klang die deistische Feststellung von der Unverrückbarkeit der Naturgesetze plötzlich wie ein leibnizianisches Bekenntnis.“ (Baasner, „Alexander Popes Essay on Man in deutschen Übersetzungen“, S. 191; vgl. auch ebd., S. 211, zu dem „deistischen Minimalismus Popes“.) 103 Dies betonen Solomon, The Rape of the Text, S. 72; Tom Jones, „Argumentative Emphases in Pope’s An Essay on Man“, in: Joanna Fowler/Allan Ingram (Hrsg.), Voice and Context in Eighteenth-Century Verse. Order in Variety, London 2015, S. 47–63, hier S. 55 f. 104 Vgl. hierzu ausführlich Hellwig, Alles ist gut, S. 54–94. Laut Sandra Richter handelt es sich bei dem „so wirkungsmächtigen wie problematischen Satz ‚Whatever is, is right‘ [. . .] um eine Anspielung auf die Bekenntnisse des Augustinus“ (Richter, Lob des Optimismus, S. 36). Gemeint ist eine Stelle (vgl. ebd., S. 164, Anm. 15), auf die auch Hellwig hinweist; vgl. Hellwig, Alles ist gut, S. 60. 105 Vgl. Alexander Pope an den Earl of Orrery, Brief vom 10. Dezember 1740. In: Corr IV, S. 303 f., hier S. 304: „Adieu my Lord; whatever Is, is Right. It was the Saying of Socrates, and the firm Faith of My Lord, Your truly faithfull and obliged Servant, A. Pope.“ In den direkt vorangehenden Sätzen hat Pope dem Adressaten berichtet, dass ein gemeinsamer Bekannter schwer krank sei, und

100

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auf eine Stelle in der Apologie bezogen haben, in der Sokrates über seine Verurteilung sagt: „I suppose that these things must be regarded as fated, – and I think that they are well.“106 Der Zusammenhang, in dem der Satz am Ende der ersten Epistel steht, liefert Hinweise nicht nur zur Frage nach der Bedeutung von „right“, sondern auch zu der Frage, was für einen Status der Schlusssatz besitzt: also zu der Frage, ob er als Konklusion eines Arguments präsentiert wird und somit als eine Behauptung, die im Gedicht begründet werden soll. Die Schlusspassage der Epistel lautet: Cease then, nor ORDER Imperfection name: Our proper bliss depends on what we blame. Know thy own point: This kind, this due degree Of blindness, weakness, Heav’n bestows on thee. Submit – In this, or any other sphere, Secure to be as blest as thou canst bear: Safe in the hand of one disposing Pow’r, Or in the natal, or the mortal hour. All Nature is but Art, unknown to thee; All Chance, Direction, which thou canst not see; All Discord, Harmony, not understood; All partial Evil, universal Good: And, spite of Pride, in erring Reason’s spite, One truth is clear, ‚Whatever IS, is RIGHT.‘

[I, 281–294]

Zu Beginn des Abschnitts fordert der Sprecher den Adressaten mit einer Reihe von Imperativen zu einer bestimmten Haltung auf, einer Haltung des SichErgebens, der Demut und Bescheidenheit („Cease then [. . .] Know thy own point [. . .] Submit [. . .]“). Diese Aufforderungen kann man als Indiz dafür werten, dass der Sprecher nicht den Anspruch erheben will, seine Aussagen über die Ordnung der Welt zwingend beweisen zu können. In den folgenden Versen stellt er dann allerdings Behauptungen über diese Weltordnung auf, während er zugleich auf ihrer Undurchschaubarkeit insistiert: Der Sprecher bezeichnet die Kunstfertigkeit hinter der Natur dem Menschen als unbekannt, die Richtung hinter dem Zufall als unsichtbar und die Harmonie hinter der Zwietracht als unverstanden. Sofern er sich selbst zu den Menschen mit ihren begrenzten Erkenntnisfähigkeiten zählt, haben diese Aussagen somit den Charakter von

seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, dass die (an den Pocken erkrankten) Kinder des Adressaten bald genesen mögen (vgl. ebd.). Auf diesen Brief wird hingewiesen in Macks Anmerkungen in der Twickenham Edition und bei Solomon, The Rape of the Text, S. 72, 154 f. 106 Der Hinweis auf diese Stelle ebd., S. 72.

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Paradoxen.107 Manche Interpreten meinen, dass Pope sich hier eines Selbstwiderspruchs schuldig macht, dass er Behauptungen einer Art aufstellen wolle, die er selbst zugleich als für den Menschen unmöglich kennzeichne;108 ferner ist die Ansicht vertreten worden, dass Pope oder sein Sprecher für sich eine übermenschliche, quasi-göttliche Erkenntnisfähigkeit beanspruche.109 Plausibler erscheint die Annahme, dass der Sprecher hier dazu auffordern will, auf die Richtigkeit dieser Sätze zu vertrauen oder entgegen allem Anschein an sie zu glauben.110 Nachdem der Sprecher zunächst die Harmonie und Ordnung des Ganzen als eine für den Menschen unerkennbare bezeichnet hat, muss es dann allerdings provozierend wirken, wenn er im letzten Vers die Behauptung „‚Whatever IS, is RIGHT‘“ als eine Wahrheit, und zwar eine ‚klare‘ Wahrheit bezeichnet. Zugleich wird diese Wahrheit aber ausdrücklich nicht nur dem Stolz, sondern auch der Vernunft „zum Trotz gesprochen“, wie Michelsen hervorgehoben hat:111 „And, spite of

107 Vgl. zu dem Gebrauch von Paradoxen hier und im Essay insgesamt: Morris, Alexander Pope. The Genius of Sense, S. 167–178; zum Ende der ersten Epistel ebd., S. 170 f. Morris deutet die Paradoxe notabene als ein von Pope bewusst eingesetztes Mittel, nicht als Widersprüche, die ihm unterlaufen wären. 108 Vgl. Nuttall, Pope’s Essay on Man, S. 76. 109 Vgl. etwa Simon Varey, „Rhetoric and An Essay on Man“, in: Howard Erskine-Hill/Anne Smith (Hrsg.), The Art of Alexander Pope, London 1979, S. 132–143, hier S. 139. – Hellwig behauptet mit Blick auf den Essay insgesamt, dass Popes Sprecher „sich zwischen einer übergeordneten göttlichen Perspektive, aus der heraus er vorgibt, die sinnvolle Ordnung des Ganzen überschauen zu können, und einer begrenzten menschlichen Perspektive bewegt.“ (Hellwig, Alles ist gut, S. 49) Vgl. auch Ulrike Draesner, „‚Truth angular and splintered‘ – Die Subversion der Rede in der Reflexion über den Menschen. Bemerkungen zu Alexander Popes Essay on Man“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N. F. 42/1992, S. 275–303, hier S. 289–293. 110 Etwa in diesem Sinne: Priestley, „Pope and the Great Chain of Being“, S. 219; Peter Michelsen, „Ist alles gut? Pope, Mendelssohn und Lessing (Zur Schrift ‚Pope ein Metaphysiker!‘)“, in: Ders., Der unruhige Bürger. Studien zu Lessing und zur Literatur des 18. Jahrhunderts, Würzburg 1990, S. 43–69, hier S. 62 f. Nach Michelsen ist es geradezu „der springende Punkt“ im Essay on Man, dass Pope seinen Versuch „zunächst deutlich als ein Unternehmen der Theodizee zu erkennen“ gibt, dass er aber „die Unmöglichkeit“ dieses Unternehmens „voraussetzt“, das Bemühen um eine Lösung der gestellten Aufgabe ablehnt und den Menschen immer wieder „leidenschaftlich[]“ dazu auffordert, „auf eine rational-argumentative Behandlung der TheodizeeFrage zu verzichten.“ (Ebd., S. 60) 111 Michelsen, „Ist alles gut?“, S. 63. Dass der Satz ‚Whatever is, is right‘ hier ausdrücklich in eine bestimmte Richtung gesprochen und somit adressiert wird, ist im Übrigen auch unabhängig von der Frage, welcher epistemische Anspruch mit ihm erhoben wird, von Interesse. Die rhetorische Strategie von Voltaires Gedicht über das Erdbeben von Lissabon beruht zum großen Teil darauf, dass das zu prüfende ‚Axiom‘ ‚Tout est bien‘ als ein Satz aufgefasst wird, der von den Philosophen gegenüber den Erdbebenopfern deklamiert wird. Am Ende der ersten Epistel des Essay on Man hingegen wird der Satz ‚Whatever is, is right‘ dem Stolz und der

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Pride, in erring Reason’s spite, [. . .]“. Diese Wahrheit wird somit nicht als eine präsentiert, deren Wahrsein der Mensch mithilfe seiner Vernunft nachweisen könnte, sondern als eine, die er schlicht akzeptieren solle. Die apodiktische Formulierung des Satzes mag dem Sprecher dazu dienen, die Einstellung, zu der er auffordert, gleichsam performativ vorzuführen.112 Die Haltung, die der Sprecher damit ausdrückt, erscheint als eine Mischung aus Vertrauen und resignativer Ergebenheit in das Schicksal, nicht als eine im gängigen Sinne optimistische. Als ein Indiz dafür, dass auch dieser Schlussvers weniger eine Behauptung als beweisbar und bewiesen aufstellen als vielmehr eine Haltung ausdrücken soll, kann man vielleicht auch ein Detail in Popes Manuskript deuten. Auf der Seite des Manuskripts, die den Schlussabsatz der ersten Epistel enthält, hat Pope unten eine Bitte des Vaterunsers notiert: „Thy will be done, in Earth as it is in Heaven.“113 Über Popes Verständnis des Satzes könnten schließlich auch die Briefe Aufschluss geben, in denen er ihn verwendet. Einmal zitiert er diesen Satz, nachdem er festgestellt hat, dass der Mensch, wie Gott ihn geschaffen hat, keine Glückseligkeit erlaube;114 in einem anderen Brief drückt er seine Trauer über den Tod seines Freundes John Gay aus und erklärt dann, sich keine Sorgen darüber zu machen, was ihn nach seinem eigenen Tod erwarte, denn: „whatever is, is right“.115 Diese Quellen sprechen zusätzlich dafür, dass der Satz im Verständnis Popes nicht die Existenz des Übels verneinte, sondern eine resigniert-vertrauensvolle Haltung angesichts des Leids ausdrückte. Die Absicht der Rechtfertigung Gottes ist zwar in der ersten Epistel besonders prominent, bleibt aber, wie im Proömium angekündigt, auch in den folgenden drei Episteln als Fluchtpunkt der Ausführungen erhalten. Obwohl Popes Sprecher

Vernunft des Menschen entgegengesetzt, nicht etwa an leidende und Trost suchende Menschen gerichtet. 112 So hat Spacks mit Bezug auf den ganzen Essay, aber auch speziell im Hinblick auf den Schluss der ersten Epistel die Ansicht vertreten: „The argument, for all its surface assurance, dramatizes the speaker’s struggle to accept.“ (Spacks, An Argument of Images, S. 45) 113 Vgl. die Reproduktion und das Transkript des sogenannten Pierpont Morgan Library Manuscript in: Maynard Mack (Hrsg.), The Last and Greatest Art. Some Unpublished Poetical Manuscripts of Alexander Pope. Transcribed and edited by Maynard Mack, Newark [u. a.] 1984, S. 226 f. 114 Vgl. Alexander Pope an den Earl of Orrery, Brief vom 10. Dezember 1740. In: Corr IV, S. 303 f., hier S. 304: „May every such Near, such Remoter Tye of Affection, be managed so gently by Providence, as to touch you with the soft, not gall you with the severe, Sensations; tho in the disposition of this System, God has been pleas’d (no doubt for good Ends, tho to us unseen) to unite them, too closely for the tender frame of human Happiness. Adieu my Lord; whatever Is, is Right.“ 115 Vgl. Alexander Pope an Jonathan Swift, Brief vom 20. April 1733. In: Corr III, S. 365 f., hier S. 365.

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die ‚hinter‘ Zufall, Zwietracht und Leid liegende harmonische Ordnung am Ende der ersten Epistel als unerkennbar bezeichnet, scheint er in den folgenden Episteln mehrfach zu versuchen, diese Güte der Weltordnung zu beweisen. So führt er Beispiele dafür an, wie Laster positive Folgen nach sich ziehen oder Krankheiten und Schwächen einen positiven Zweck erfüllen (vgl. II, 231–260). Ferner bietet er eine allgemein formulierte Erklärung für die Existenz von Übeln in der von einem gütigen Gott eingerichteten Welt an, indem er darauf hinweist, dass Gott die Welt mithilfe allgemeiner Gesetzmäßigkeiten geordnet habe; diese allgemeinen Gesetze sind gut (oder können gut sein), auch wenn einzelne Ereignisse, in denen sie sich manifestieren, schlecht sind (vgl. I, 145 f.; IV, 35 f.). Man mag hier eine Spannung oder sogar einen Widerspruch in den Gedankengängen des Essay sehen. Aber es ist keineswegs sicher, dass Pope diese Gründe, die sein Sprecher für die Überzeugung vom durchgängigen Wirken der gütigen Vorsehung anführte, als zwingende Gründe präsentieren wollte und somit seinen eigenen Aussagen über die Unerkennbarkeit der guten providentiellen Ordnung widersprach. Die Funktion dieser Darlegungen könnte für ihn auch darin bestanden haben, anschauliche Beispiele dafür zu geben, dass auch die Übel ein Teil einer guten Gesamtordnung sein können, also kein vernichtender Einwand gegen die Annahme einer solchen Ordnung sind. Pope mag angenommen haben, dass ohne solche konkreten Beispiele der Glaube an die gute Einrichtung des Ganzen zu abstrakt gewesen wären. Beachtung verdient in diesem Zusammenhang, dass auch William King, der die Verteidigung Gottes mithilfe einer apriorischen Argumentation unternahm, gleichwohl für einige konkrete Erfahrungstatsachen nachzuweisen suchte, dass sie mit der Annahme eines gütigen Gottes vereinbar seien. Für diese Teile seiner Darlegungen wurde er von seinem Übersetzer Edmond Law nachdrücklich gelobt, weil solche auf konkrete Erfahrungen gerichteten Argumentationen eine stärkere persuasive Kraft hätten als rein abstrakte Argumentationen, so unwiderleglich diese auch sein mochten.116 Mit Blick auf Popes Essay liegt angesichts des agonalen Charakters großer Teile des Textes ferner die Vermutung nahe, dass die Hinweise auf die sinnvolle Funktion vieler Übel dem menschlichen Vernunftstolz als Provokation entgegengehalten werden sollen.117 Um zusammenzufassen: Charakteristisch für die in Popes Essay vorgetragene Rechtfertigung Gottes erscheinen zunächst die empiriegestützte Argumentation sowie der Verzicht auf den Anspruch, zwingende Beweise für die Notwendigkeit aller Übel oder dafür, dass der Mensch in der besten aller Welten lebe, vorlegen

116 Vgl. Edmond Law, „The Translator’s Preface“, in: William King, An Essay on the Origin of Evil. Translated from the Latin, with large Notes [. . .]. London 1731, S. iii–x, hier S. vi–vii. 117 Vgl. Michelsen, „Ist alles gut?“, S. 62.

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zu können. Der Satz ‚Whatever is, is right‘, der vor allem bei isolierter Zitierung wie der Ausdruck eines enormen Wissens- und Gewissheitsanspruchs wirken kann, fungiert im Gedicht eben nicht als Formulierung einer beweisbaren Lehre, sondern als Ausdruck einer Einstellung, zu der der Adressat mit allem Nachdruck aufgefordert wird. Diese Einstellung ist eine des Vertrauens und der Ergebenheit oder Resignation, nicht eine im geläufigen Sinne optimistische. Weshalb Pope dieser Haltung des Vertrauens auf Gott oder die Vorsehung eine so große Wichtigkeit zusprach, wird erst im Kontext des gesamten Essay und der anderen Ethic Epistles deutlich; die noch zu analysierende Epistel To Bathurst ist in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich. 1.4.2 Die Antriebe menschlichen Handelns und die Moral In der zweiten Epistel („Of the Nature and State of Man, with respect to Himself, as an Individual“) wendet sich der Sprecher dem Thema zu, das er in einem Vers, der bald sprichwörtlich und im 18. Jahrhundert immer wieder zitiert wurde, als das dem Menschen eigentlich angemessene Forschungsfeld bezeichnet, nämlich dem Thema der menschlichen Natur selbst: „The proper study of Mankind is Man.“ (II, 2) Diesem Gegenstand widmen sich letztlich alle und insbesondere die letzten drei Episteln des Essay; die zweite, die den Menschen als Individuum betrachten soll, befasst sich vor allem mit der Frage nach den Triebfedern und Bestimmungsgründen menschlichen Handelns und dabei wiederum besonders eingehend mit der Frage nach den psychischen Grundlagen tugendhaften und lasterhaften Handelns. Die menschliche Natur, so der Sprecher relativ früh in der Epistel, wird von den ‚Prinzipien‘ der Vernunft und der Selbstliebe beherrscht (II, 53 f.); die Leidenschaften können als Modifikationen der Selbstliebe aufgefasst werden (II, 93). Der größte Teil der Epistel erörtert das Wesen von Vernunft und Leidenschaften sowie das Verhältnis, in dem sie zueinander und zu Tugenden und Lastern stehen. Damit erörtert die zweite Epistel einen Fragenkomplex, der in den Jahrzehnten um 1700 der Gegenstand ausgedehnter und kontrovers geführter Debatten war. Eine der vieldiskutierten Fragen, die Popes Sprecher aufgreift, lautet, ob der Mensch ein primär von der Vernunft geleitetes Wesen, ein animal rationale, sei oder vielmehr in erster Linie von den Leidenschaften geleitet werde. Ebenfalls umstritten war die Frage, wie die Leidenschaften – und damit gegebenenfalls auch ihre Dominanz in der menschlichen Psyche – in moralischer Hinsicht zu bewerten seien.118 Diese ‚moralpsychologischen‘ Diskussionen über die psychische 118 Vgl. für eine knappe Darstellung der auf die Leidenschaften bezogenen Streitfragen und der wichtigsten Positionen, die als Hintergrund für die zweite Epistel des Essay gesehen

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Basis guten Handelns waren aufs engste verknüpft mit den im engeren Sinne moralphilosophischen Fragen danach, was das Kriterium für die Bewertung von Handlungen als gut oder tugendhaft ist, sowie danach, was die Geltung moralischer Normen begründet.119 Eine Frage, die für die englischsprachigen Debatten dieser Zeit charakteristisch ist, ist die mit dem Begriff des ‚moral sense‘ verbundene Frage, ob der Mensch über einen inneren Sinn zur Unterscheidung des moralisch Richtigen und Falschen verfügt. Die Positionen innerhalb dieser Diskussionen lassen sich nicht leicht zu klar abgegrenzten ‚Lagern‘ ordnen, weil die Antworten auf die genannten Fragen in vielfältigen Varianten formuliert und unterschiedlich kombiniert wurden. In der Philosophiegeschichtsschreibung sind zur Strukturierung der Debatten denn auch verschiedene Gegensätze verwendet worden, die sich teils an der Selbstbeschreibung der historischen Diskutanten orientieren, teils eher an Unterscheidungen der neueren ethischen Diskussion.120 Ein Gegensatz, der schon bei englischen und schottischen Philosophen des frühen 18. Jahrhunderts als wichtig hervorgehoben wurde, ist der zwischen ‚rationalistischen‘ und ‚sentimentalistischen‘ Moralkonzeptionen: also zwischen der Lehre, dass Moral und Tugend auf der Vernunft basieren, und der Auffassung, dass sie ihre Grundlage in Gefühlen und in einem spezifischen Moralsinn (moral sense) haben.121 Ein

werden können: Bertrand A. Goldgar, „Pope’s Theory of the Passions: The Background of Epistle II of the Essay on Man“, in: Philological Quarterly, 41/1962, 4, S. 730–743, hier vor allem S. 731–733. Ferner White, The Context of Controversy, S. 126–143. Zu der Konzeption der Leidenschaften, die in der zweiten Epistel und im Essay insgesamt entfaltet wird, vgl. ferner Rebecca Ferguson, The Unbalanced Mind. Pope and the Rule of Passion, Brighton 1986, S. 64–94. 119 Vgl. Stephen Darwall, „Norm and Normativity“, in: Haakonssen (Hrsg.), The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy. Bd. II, S. 987–1025, zu der Verschränkung der psychologischen Fragen (nach den Motiven moralischen Handelns) mit den normativen Fragen (nach der Grundlage von Normativität) explizit etwa S. 990 f. Für eingehende Rekonstruktionen relevanter philosophischer Positionen zur Beziehung zwischen moralischen Pflichten und Motiven vgl. ders., The British Moralists and the Internal ‚Ought‘: 1640–1740, Cambridge 1995. Vgl. ferner David Fate Norton/Manfred Kuehn, „The Foundations of Morality“, in: Haakonssen (Hrsg.), The Cambridge History of Eighteenth-Century Philosophy. Bd. II, S. 939–986. Zur Beziehung zwischen anthropologischen und ethischen Theorien bei den einschlägigen Philosophen vgl. auch Wolfgang H. Schrader, Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung. Der Wandel der moral-sense-Theorie von Shaftesbury bis Hume, Hamburg 1984. 120 Eine in der jüngeren Ethik geläufige Unterscheidung, auf die man hier rekurriert hat, ist die zwischen Pflichtethik und Tugendethik; der ersten Richtung ist dabei die naturrechtliche Tradition der Ethik zugeordnet worden (Hobbes, Locke), der zweiten die von Shaftesbury zu Hutcheson führende Linie. Vgl. Darwall, „Norm and Normativity“, S. 993, 999 f. 121 Vgl. etwa die folgenden Überblicksartikel: Maria Rosa Antognazza, „Rationalism“, in: Roger Crisp (Hrsg.), The Oxford Handbook of the History of Ethics, Oxford 2013, S. 312–336;

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weiterer Gegensatz, der schon von den Zeitgenossen als markant angesehen wurde, war derjenige zwischen Autoren, die den Menschen als ein von Natur aus rein egoistisches Lebewesen sahen, und denjenigen, die auch benevolente, selbstlose Antriebe als Bestandteil der menschlichen Natur auffassten.122 Diese letzte Position wurde nicht nur von Shaftesbury, Hutcheson und anderen Vertretern der sogenannten ‚moral sense‘-Schule vertreten, sondern auch von der theologischen Richtung der Latitudinarier. Hier ergeben sich weitere Komplikationen, denn Shaftesburys Philosophie weicht in anderen Punkten wiederum erheblich von den Lehren dieser Theologen ab und wurde von nicht wenigen Geistlichen als eine Form des Atheismus kritisiert – also in eine Reihe mit der Philosophie von Hobbes gestellt, die Shaftesbury so entschieden bekämpfte. Auf Kritik von theologischer Seite stieß dabei insbesondere Shaftesburys Auffassung, dass die Tugend ihren Lohn in sich selbst hat und dass Handlungen, die um einer Belohnung willen oder aus Angst vor Strafe unternommen werden, keine tugendhaften Handlungen sind.123 Dabei distanzierte Shaftesbury sich auch von der christlichen Doktrin von jenseitigen Belohnungen und Strafen, während viele Theologen diese Lehre als unverzichtbaren Teil einer christlichen Ethik ansahen, also Hoffnung auf Lohn und Furcht vor Strafe weiterhin als respektable Motive moralischen Handelns betrachteten.124 Welche dieser Gegensätze und Differenzierungen von Pope wahrgenommen und für wichtig gehalten wurden, lässt sich nicht vorab entscheiden. Im Folgenden ist zu zeigen, wie sich die Aussagen des Sprechers in seinem Essay zu diesen Kontroversen verhalten und inwiefern sie sich zu einem ‚mittleren‘ Kurs zusammenfügen. In der zweiten Epistel erklärt der Sprecher, die menschliche Natur werde von zwei Prinzipien regiert, von Vernunft und Selbstliebe. Seine Ausführungen zu diesen zwei Prinzipien und ihrem Verhältnis zueinander formulieren ein erstes Bündel von Annahmen, das hinsichtlich seiner Positionierung im zeitgenössischen Debattenfeld untersucht werden kann. Die Selbstliebe wird hier als die

Philip Stratton-Lake, „Rational Intuitionism“, in: ebd., S. 337–357; Julia Driver, „Moral Sense and Sentimentalism“, in: ebd., S. 358–376. 122 Dieser Gegensatz wird etwa betont bei Goldgar, „Pope’s Theory of the Passions“, S. 731–733. 123 Vgl. für eine differenzierte Rekonstruktion von Shaftesburys Auffassungen über natürliche gute Anlagen des Menschen: Isabel Rivers, Reason, Grace, and Sentiment. A Study of the Language of Religion and Ethics in England, 1660–1780. Vol. II: Shaftesbury to Hume, Cambridge 2000, S. 120–132; zu Shaftesburys Kritik an Morallehren, die sich auf die Doktrin göttlicher Belohnungen und Strafen stützen, vgl. ebd., S. 135–138. 124 Vgl. dazu ebd., S. 136 f.; Bliss, „‚Night Thoughts‘ and Christian Apologetics“, S. 44.

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Instanz bestimmt, die alles menschliche Handeln antreibt, während die Vernunft lediglich eine lenkende und mäßigende Funktion ausübt. Selbstliebe und Vernunft seien nicht als Gegner zu verstehen, sondern vielmehr durch ein gemeinsames Ziel verbunden: Beide streben nach „pleasure“ und der Vermeidung von Schmerz: „Self-love and Reason to one end aspire, | Pain their aversion, Pleasure their desire“ (II, 87 f.). Die Leidenschaften könnten als „Modes of Selflove“ bezeichnet werden (II, 93). In seiner ersten Charakterisierung von Selbstliebe und Vernunft hebt der Sprecher zwar die Unverzichtbarkeit beider Instanzen sowie ihr Zusammenwirken beim einzelnen Menschen hervor und kritisiert ausdrücklich jene Gelehrten, die sie zu Feinden erklären; aber als markant konnten hier für zeitgenössische Leser dennoch vor allem die Aussagen erscheinen, die die Schwäche der Vernunft gegenüber der Selbstliebe betonen und die Letztere als die treibende Kraft aller menschlichen Handlungen bezeichnen. Hinsichtlich der Schwäche der Vernunft vertritt der Sprecher damit eine Auffassung, die unter anderem mit Montaigne und allgemein einer ‚anti-rationalistischen Psychologie‘ verbunden wurde.125 Mit seiner Aussagen über die Selbstliebe als Triebfeder allen Handelns scheint er ferner das ‚egoistische‘ Menschenbild zu übernehmen, das mit Hobbes und Mandeville sowie mit La Rochefoucauld assoziiert war.126 Die Aussage, alle Leidenschaften könnten als „Modes of Self-love“ bezeichnet werden (II, 93), verstärkt diesen Eindruck ebenso wie die Rede von Lust und Schmerzvermeidung als dem gemeinsamen Ziel von Vernunft und Selbstliebe (II, 87 f.), die zeitgenössische Leser auch an die Philosophie Lockes erinnern konnte.127 Eine ähnliche Auffassung von den Triebfedern des menschlichen Handelns findet sich allerdings – wenn auch mit anderen Akzentsetzungen und Folgerungen – auch bei Geistlichen verschiedener konfessioneller Richtungen, die eine am Konzept der Erbsünde orientierte Anthropologie entwarfen.128

125 Vgl. Goldgar, „Pope’s Theory of the Passions“, S. 734. 126 Vgl. White, The Context of Controversy, S. 75; Goldgar, „Pope’s Theory of the Passions“, S. 731 f. 127 Zu der ‚egoistischen‘ Tendenz von Lockes Anthropologie und der ‚hedonistischen‘ Dimension seiner Ethik vgl. etwa John W. Yolton, „Locke’s Man“, in: Journal of the History of Ideas, 62/2001, 4, S. 665–683, hier S. 679 zu der Annahme einer angeborenen Tendenz „to seek pleasure and avoid pain“; Jürgen Sprute, „John Lockes Konzeption der Ethik“, in: Studia leibnitiana, 17/1985, 2, S. 127–142. Vgl. zu Lockes Ethik auch Schneewind, The Invention of Autonomy, S. 141–159, für die hier relevanten Punkte v. a. S. 143–145, 151. 128 Goldgar nennt als Beispiele den Calvinisten Richard Baxter, den Jansenisten Pierre Nicole sowie Jacques Abbadie (mit seinem Werk L’art de se connoître soi-même), der sich nicht leicht einer Strömung zuordnen lässt. Vgl. Goldgar, „Pope’s Theory of the Passions“, S. 732.

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Von den Lehren der genannten Autoren, die ihrerseits keineswegs eine homogene Gruppe bilden, weichen die Darlegungen des Sprechers über Selbstliebe und Leidenschaften aber auch in wichtigen Punkten ab. So betont er gleich zu Beginn des einschlägigen Abschnitts, dass die Selbstliebe nicht pauschal als schlecht, die Vernunft als gut zu bewerten sei; vielmehr könnten beide sich auf förderliche wie schädliche Weise äußern (II, 55–58). Diese allgemein formulierte These wird später unter anderem in einer Passage über die Leidenschaften konkretisiert, die zu zeigen unternimmt, dass die Leidenschaften vielfältige Gestalten annehmen und ebenso Tugenden wie Laster hervorbringen können (II, 174–194). Diese Vorstellung von der Plastizität und moralischen Polyvalenz der Leidenschaften äußert sich auch in der Theorie von der „ruling passion“, die im Zentrum eines längeren Abschnitts steht und für Pope offenbar große Bedeutung besaß.129 Laut dieser Theorie gibt es in jedem Menschen eine beherrschende Leidenschaft, die im Laufe des Lebens viele verschiedene Formen annimmt und sich dabei wie alle Leidenschaften zum moralisch Guten oder Bösen entwickeln kann (vgl. II, 123–202).130 Wie Popes Sprecher diese psychologische Konzeption im Einzelnen konkretisiert und plausibel zu machen versucht, bleibt noch genauer zu untersuchen. Festhalten kann man aber bereits, dass er sich mit der Annahme, auch Tugenden gingen aus der Selbstliebe als Quelle hervor, von einem ethischen Rigorismus abgrenzt, wie er sowohl traditionelle Ausprägungen einer christlichen Anthropologie als auch die Philosophie Mandevilles kennzeichnet.131 Zugleich rückt diese Annahme die Position des Essay in die Nähe von prominenten

129 Zu Konzepten der moralistischen und moralphilosophischen Literatur, die Pope in seinen Darlegungen zur ‚ruling passion‘ aufgegriffen haben könnte, vgl. Goldgar, „Pope’s Theory of the Passions“, S. 739–743. Maynard Mack hatte einst die Vermutung geäußert, dass Popes Konzeption der ‚ruling passion‘ Ausführungen bei Montaigne oder Bacon verpflichtet sein könnte; vgl. Mack, „Introduction“, S. xxxvi f. sowie seine Anmerkung zu II, 131 f. Überzeugende Einwände gegen diese Vermutung finden sich bei Bernhard Fabian, „Popes Konzeption der ‚Ruling Passion‘: Eine Quellenuntersuchung“, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen, 110/1959, S. 290–301. 130 Warburton vertrat in seinem Kommentar die Ansicht, dass Pope auch in diesem Abschnitt über die ‚ruling passion‘ zwischen gegensätzlichen Theorien zu vermitteln suche, nämlich zwischen Mandevilles Theorie von der Nützlichkeit der Laster und der traditionellen Lehre von der göttlichen Providenz. Pope greife hier nur den vernünftigen Aspekt aus dem insgesamt absurden System Mandevilles heraus, wie er auch aus dem entgegengesetzten, aufs Ganze gesehen ebenfalls abwegigen System Shaftesburys nur den akzeptablen Teil übernehme. Damit biete Pope in dieser Epistel „an Instance of his steering [. . .] between Doctrines seemingly opposite“. Warburton, A Critical and Philosophical Commentary, S. 18. 131 Zum Rigorismus Mandevilles vgl. F. B. Kaye, „Introduction“, in: Bernard Mandeville, The Fable of the Bees: Or, Private Vices, Publick Benefits. With a Commentary Critical, Historical,

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Theoretikern des Naturrechts seit dem späten 17. Jahrhundert, die – vereinfacht gesagt – die Selbstliebe durch den Gedanken aufgewertet hatten, dass die vernünftige Selbstliebe den Menschen nach einem friedlichen Zusammenleben mit den Mitmenschen streben lasse.132 Wenn die Antriebe des Handelns immer aus den Leidenschaften stammen, die letztlich Modifikationen der Selbstliebe sind, also auch tugendhafte Antriebe auf Ausformungen der Selbstliebe beruhen, so stellt sich die Frage nach den Faktoren, die aus der Selbstliebe entweder tugendhafte oder lasterhafte Neigungen hervorgehen lassen. An einer Stelle heißt es, dass die Vernunft böse in gute Neigungen verwandeln könne („Reason the byass turns to good from ill“; II, 197). Damit bliebe aber immer noch die Frage nach dem modus operandi, auf den sich die Vernunft bei der moralisch wünschenswerten Steuerung der Leidenschaften stützt. Eine Antwort bietet innerhalb der zweiten Epistel am ehesten eine Passage, der zufolge die Vernunft beim Zähmen und Lenken der Leidenschaften von „[a]ttention, habit and experience“ unterstützt werde (II, 79). Der Gedanke, dass wiederholte Erfahrungen und Habitualisierung für die Formung des moralischen Charakters des Individuums entscheidend sind, wird im Essay an vielen Stellen variiert. Wenn Popes Sprecher der Gewohnheit (‚habit‘) eine wichtige Rolle bei der Erziehung zum moralischen Handeln zuschreibt, so rekurriert er auf ein Konzept, das in der Ethik des Aristoteles, aber auch in Lockes Überlegungen zur moralischen Erziehung einen prominenten Platz einnimmt.133

and Explanatory by F. B. Kaye. [2 Bände.] Bd. 1. Oxford 1966 [1924], S. xvii–cxlvi, hier S. xlvii f., cxx–cxxv. 132 Vgl. hierzu Vollhardt, Selbstliebe und Geselligkeit. Zu der zweiten Epistel des Essay on Man vgl. ebd., S. 269–275. 133 Vgl. J[ohn] A. Passmore, „The Malleability of Man in Eighteenth-Century Thought“, in: Earl R. Wasserman (Hrsg.), Aspects of the Eighteenth-Century, Baltimore 1965, S. 21–46. Die Locke-Deutung Passmores wird in einigen Aspekten kritisiert und ergänzt bei Alex Neill, „Locke on Habituation, Autonomy, and Education“, in: Journal of the History of Philosophy, 27/1989, 2, S. 225–245. Neill weist darauf hin, dass es in Lockes einschlägigen Schriften nicht nur um moralische Erziehung (die Passmore ins Zentrum stellt), sondern auch um epistemische Erziehung geht und dass bei Passmore nicht deutlich werde, wie Locke seine Konzeption der richtigen Erziehung mit seinem Ideal der Autonomie vereinbare. Insofern Lockes Theorie als Hintergrund für Popes Essay on Man in Frage kommt, dürften jedoch vor allem die bei Passmore rekonstruierten Aspekte relevant sein. – Der Begriff der Gewohnheit spielt auch in den moralphilosophischen Theorien Joseph Butlers und David Humes eine wichtige Rolle, deren einschlägige Überlegungen allerdings erst nach dem Essay erschienen. Vgl. John P. Wright, „Butler and Hume on Habit and Moral Character“, in: M. A. Stewart/John P. Wright (Hrsg.), Hume and Hume’s Connexions, University Park 1995, S. 105–118.

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Konkretere Auskünfte dazu, wie sich die Formung der in der Selbstliebe wurzelnden Antriebe des Menschen vollzieht und welche Rolle dabei Erfahrung und Gewohnheit spielen, finden sich in den folgenden zwei Episteln des Essay, insbesondere in der dritten Epistel, die in die These mündet, wahre Selbstliebe und Gemeinschaftssinn seien dasselbe („Self-love and Social be the same“; III, 318). Bevor die Analyse sich diesen Abschnitten zuwendet, sei aber noch eine Passage der zweiten Epistel in den Blick genommen, die sich auf die in der englischsprachigen Philosophie der Zeit Popes ausgiebig diskutierte Frage beziehen lässt, ob der Mensch über einen angeborenen ‚moralischen Sinn‘ (moral sense) verfüge. Der Sprecher scheint diese Frage zu bejahen, versieht seine Antwort aber mit einem bezeichnenden Vorbehalt. In der ‚chaotischen‘ Beschaffenheit des Menschen, so heißt es zunächst, seien Tugend und Laster oft auf so komplizierte Weise vermischt, dass die Grenzlinie zwischen ihnen kaum zu erkennen sei. Daraus folge aber keineswegs, dass es Tugend und Laster nicht gebe, wie ja auch die Existenz zahlloser Graustufen nicht den Schluss erlaube, dass es Schwarz und Weiß nicht gebe (vgl. II, 211–214). Dann verweist der Sprecher auf ein menschliches ‚Organ‘, für das der Unterschied zwischen Tugend und Laster offenkundig ist, nämlich das ‚Herz‘: „Ask your own heart, and nothing is so plain; [. . .].“ (II, 215) Das ‚Herz‘ dürfte hier für eine angeborene und wesentlich gefühlsbasierte Fähigkeit zur Unterscheidung von Tugend und Laster stehen, und so sprechen auch die folgenden Verse von einer natürlichen Abscheu, die das Laster im Menschen hervorrufe. Der natürliche Sinn für Moralität scheint mit einem ästhetischen Empfinden verbunden zu sein, da er das Laster als hässlich, als ein abschreckendes ‚Monster‘ erscheinen lässt. Doch nachdem der Sprecher auf so emphatische Weise die Sicherheit dieses moralischen Wahrnehmungsvermögens wie die Stärke der damit gekoppelten Emotionen betont hat, folgt im nächsten Verspaar abrupt die Einschränkung, dass der Hass auf das Laster durch Gewöhnung abgeschwächt und sogar in sein Gegenteil verwandelt werden kann: Vice is a monster of so frightful mien, As, to be hated, needs but to be seen; Yet seen too oft, familiar with her face, We first endure, then pity, then embrace.

[II, 217–220]134

134 Es verdient Beachtung, dass die Begegnung mit dem Laster hier in eine Metaphorik des Sehens gekleidet wird („needs but to be seen; | Yet seen too oft“), denn der Sprecher des Essay richtet an seinen Gesprächspartner immer wieder die Aufforderung, etwas Bestimmtes zu sehen oder zu betrachten (vgl. Spacks, An Argument of Images, S. 60–72). Auch am Anfang der dritten Epistel, wo der Sprecher von einer Erörterung der törichten und niedrigen Seiten des

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Angesichts dieser Passage, in der auch die rhetorischen Mittel der Akzentverstärkung sorgfältig auf die gegenläufigen Aussagen verteilt sind, ist es schwer zu sagen, ob in der Position des Sprechers die Übereinstimmung mit den moral sense-Theoretikern oder die Abgrenzung von ihnen wichtiger ist. In jedem Fall kann man festhalten, dass auch hier, wie schon in den Ausführungen zur konkreten Ausformung der Leidenschaften eines Menschen, die entscheidende Rolle von Wiederholung und Gewohnheit betont wird. Der Gedanke, dass die Ausbildung tugendhafter Dispositionen auf häufig wiederholten Handlungen und Erfahrungen und auf der Entwicklung von Gewohnheiten beruhe, wird – wie bereits angedeutet – auch in Passagen der dritten und vierten Epistel variiert. Die detaillierteste Darstellung eines solchen Prozesses bietet der Abschnitt der dritten Epistel, der die emotionalen und moralischen Bindungen zwischen Eltern und Kindern behandelt und zu zeigen versucht, wie hier Liebe und Selbstliebe, Wohlwollen und Eigeninteresse, Dankbarkeit und Erwartung einander abwechseln, zusammenwirken und sich gegenseitig stabilisieren (vgl. III, 131–146). Die ganze dritte Epistel ist von Vergleichen zwischen Mensch und Tieren durchzogen, in denen der Sprecher die Leistungen von tierischen Instinkten und menschlicher Vernunft gegeneinander abwägt, auf Ähnlichkeiten zwischen tierischen und menschlichen Gemeinschaften hinweist und auf dieser Grundlage Besonderheiten der menschlichen Natur herausstellt. Eine dieser Besonderheiten – die allerdings auf einem graduellen, nicht absoluten Unterschied basiert – bestehe darin, dass bei den Menschen die Kinder besonders lange auf die Hilfe der Eltern angewiesen seien. Diese lange Zeit der Pflege lasse besonders intensive emotionale Bindungen zwischen Eltern und Kindern entstehen: „A longer care Man’s helpless kind demands; | That longer care contracts more lasting bands“ (III, 131 f.). Damit greift Popes Sprecher einen im frühen 18. Jahrhundert verbreiteten Gedanken auf,135 der sich sowohl in Richard Cumberlands Treatise of the Laws of Nature als auch in Shaftesburys Moralists findet, also bei Autoren, die in ihren ethischen Theorien im Übrigen durchaus unterschiedliche, teilweise konträre Positionen vertraten.136 Menschen zu den wertvollen, nämlich liebenden und altruistischen Seiten übergeht, weist er seinen Adressaten mit dem Imperativ „Look“ auf die Ordnung der Natur hin (III, 7–26). 135 Vgl. zu der Verbreitung dieses Gedankens im 18. Jahrhundert Arthur O. Lovejoy, „The Length of Human Infancy in Eighteenth-Century Thought“, in: The Journal of Philosophy, 19/ 1922, S. 381–385. Lovejoy verweist hier auf Passagen in Schriften Lockes und Bolingbrokes, die diesen Gedanken variieren (ebd., S. 382 f.). 136 Vgl. Richard Cumberland, A Treatise of the Laws of Nature. Made English from the Latin by John Maxwell. London 1727, S. 132, 156 f.; Shaftesbury, The Moralists, a Philosophical Rhapsody, Being a Recital of Certain Conversations on Natural and Moral Subjects, in: Ders., Characteristics, S. 231–338, hier S. 283, 287 (Part II, Section 4). Zu Shaftesburys Aneignung dieses

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Die Entwicklung liebevoller Beziehungen zwischen Eltern und Kindern nun wird in einer Passage geschildert, die in mehrfacher Hinsicht von Interesse ist. Auch in diesem Abschnitt taucht zweimal das Wort ‚Gewohnheit‘ oder eine Abwandlung desselben auf („new habits“, „habitual“). Die mithilfe der Gewohnheit befestigten Bindungen werden hier der natürlichen Liebe zur Seite gestellt, ebenso wie die gezielte ‚Wahl‘ der spontan entflammenden Sympathie. Doch der Aussagengehalt und die durch Anaphern und Parallelismen geprägte rhetorische Gestaltung der Passage präsentieren das Verhältnis von Interesse und Vernunft einerseits, natürlichen Gefühlen andererseits nicht als eines von Gegensatz und Konflikt, sondern als eines der Kooperation und gegenseitigen Durchdringung: With choice we fix, with sympathy we burn; Each virtue in each passion takes its turn; And still new needs, new helps, new habits rise, That graft benevolence on charities. Still as one brood, and as another rose, These nat’ral love maintained, habitual those: [. . .]

[III, 135–140]

Die Bedürftigkeit des einzelnen Menschen veranlasst seine Eltern und später seine Kinder zu hilfreichen Handlungen, die durch Liebe, aber auch durch die Erwartung von reziproken Hilfeleistungen motiviert sind. Dieses liebevolle und hilfreiche Handeln entwickelt sich zur Gewohnheit und bringt so die Disposition der „benevolence“ hervor. Die zitierte Beschreibung der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern bietet auch ein weiteres Beispiel dafür, dass die von Popes Sprecher entwickelten Gedanken zwischen gegensätzlichen Positionen der zeitgenössischen Philosophie ‚hindurchsteuern‘. Die Liebe von Eltern zu ihren Kindern diente Hutcheson als Beleg dafür, dass zur Natur des Menschen – entgegen der Ansicht Mandevilles – auch wohlwollende Antriebe gehören.137 Die Passage der dritten Epistel stellt die Liebe zwischen Eltern und Kindern tatsächlich als etwas Natürliches und Wertvolles dar, schreibt dieser Liebe aber auch eine egoistische Komponente zu, ohne sie auf diese zu reduzieren. Was zunächst wie ein fauler Kompromissvorschlag erscheinen mag, mit dem der Sprecher beiden Kontrahenten zugleich

Gedankens und der Nähe, die seine Moralpsychologie in diesem Punkt zu Cumberland aufweist, vgl. Rivers, Reason, Grace, and Sentiment, Vol. II: Shaftesbury to Hume, S. 123. 137 Vgl. [Francis Hutcheson], An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue; In Two Treatises. The Third Edition. Corrected. London 1729, S. 159–161, 218 f. Vgl. hierzu Patricia Sheridan, „Parental Affection and Self-Interest: Mandeville, Hutcheson, and the Question of Natural Benevolence“, in: History of Philosophy Quarterly, 24/2007, 4, S. 377–392.

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Recht gibt, dürfte letztlich eher als ein Einwand gegen die ‚puristische‘ und strikt dichotomische Denkweise zu verstehen sein, in der sich die Egoismus- und die Benevolenz-Partei treffen. Das heißt, die zitierte Passage dürfte auf die These zielen, dass in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern spontane Liebe und genuines Wohlwollen so eng mit der Sorge um das eigene Wohlergehen verwachsen sind, dass ein Auseinanderdividieren dieser Einstellungen in rein egoistische und rein uneigennützige Teile müßig ist. Die hier untersuchten Gedanken der zweiten und dritten Epistel konstitutieren im Wesentlichen die Position, die Popes Sprecher zur Frage nach der Motivation moralischen Handelns bezieht.138 Indirekt wird diese Frage auch in der vierten Epistel angesprochen, deren zentrales Thema das Glück oder die Glückseligkeit des Menschen ist („Of the Nature and State of Man, with respect to Happiness“), doch diese Epistel fügt den Darlegungen der zwei vorigen mit Blick auf das Motivationsproblem kaum etwas gänzlich Neues hinzu, sondern gestaltet einzelne Aspekte weiter aus. Die Hauptthese der Epistel besagt, dass nur die Tugend dem Menschen Glückseligkeit zu schenken vermag, während äußere Güter wie Reichtum, Macht und Ruhm dies nicht können. Dass diese Güter im Hinblick auf das menschliche Glück nichtig seien, wird in einem langen Abschnitt anhand zahlreicher Exempel begründet (IV, 167–308). Diese Lehre der Epistel hat einen weitgehend traditionellen, wenig spezifisch wirkenden Charakter, doch man kann vermuten, dass Pope auch hier zwischen entgegengesetzten Lehren

138 Bernhard Fabian hat die in der zweiten und der dritten Epistel skizzierte Anthropologie als eine „Newtonische Anthropologie“ gedeutet; es sei Popes Absicht gewesen, auf der Grundlage der neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ein zeitgemäßes Menschenbild zu entwerfen und so Makrokosmos und Mikrokosmos zu verknüpfen. Vgl. Bernhard Fabian, „Newtonische Anthropologie: Alexander Popes Essay on Man“, in: Bernhard Fabian/Wilhelm Schmidt-Biggemann/Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Deutschlands kulturelle Entfaltung. Die Neubestimmung des Menschen, München 1980, S. 117–133. Fabian beruft sich dabei u. a. auf eine Passage, in der „Self-love and Social“ (III, 318) mit zwei Arten der Planetenbewegung (Drehung um sich selbst und Kreisen um die Sonne) parallelisiert werden. Aber weder diese Verse noch die anderen von Fabian angeführten Stellen scheinen mir die These zu stützen, Pope habe die Newton’sche Physik als Grundlage seiner Anthropologie aufgefasst. Wo Pope im Essay on Man seine zentralen Annahmen über Selbstliebe, Vernunft und Sozialität des Menschen einführt, beruft er sich nicht auf diese physikalischen Theorien; Analogien der genannten Art werden nachträglich hinzugefügt und mögen für Pope die Funktion erfüllen, die psychologischen Theorien zusätzlich zu plausibilisieren. Diese psychologischen Theorien selbst, für die Mack im Übrigen diverse mögliche Quellen in der antiken und neuzeitlichen Literatur identifiziert hat, bedurften für Pope aber wahrscheinlich nicht der Absicherung durch die Naturwissenschaften. Hätte er diesen eine so hohe Autorität geben wollen, wäre es zudem kaum nachvollziehbar, weshalb er zu Beginn der zweiten Epistel den Wert naturwissenschaftlicher Forschung so nachdrücklich relativiert (vgl. II, 19–52).

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vermitteln wollte.139 Auf der einen Seite distanziert sich Popes Sprecher von Formen des Hedonismus, die das Glück an sinnliche Genüsse binden, aber auch von einer Ethik des Ruhms. Auf der anderen Seite distanziert er sich aber auch von christlichen Lehren, die das Glück des Menschen an die Befolgung der Gebote Gottes knüpfen und es mit jenseitigen Belohnungen identifizieren. Eine solche Auffassung formulierte etwa Edward Young in seiner 1728 veröffentlichten Predigt mit dem Titel A Vindication of Providence: or, A True Estimate of Human Life, einer Predigt zu dem Bibelvers Kolosser 3, 2: „Set your Affections on Things above, and not on Things on the Earth.“140 Im Gegensatz zu Young fordert Popes Sprecher den Menschen nicht dazu auf, sein Trachten allein auf himmlische Güter zu richten und seine Zuneigung ausschließlich Gott zu schenken. Stattdessen stellt er die Tugend und insbesondere die Tugenden der Liebe zum Mitmenschen in den Vordergrund und erklärt sie zur Grundlage des Glücks. In den letzten Abschnitten der vierten Epistel schließlich evoziert der Sprecher in einem emphatischen, teilweise fast hymnischen Duktus die Entwicklung eines tugendhaften Menschen, die mit der Selbstliebe beginnt und sich über die Liebe zu Familienmitgliedern und Freunden zur Liebe der Menschheit erweitert.141 Der psychologische Mechanismus, der dieser allmählichen Ausweitung 139 Obwohl die zentralen Gedanken dieser vierten Epistel recht traditionell wirken, regte sie eine große Zahl von Nachahmungen an und provozierte auch einige kritische Entgegnungen; vgl. Overton, The Eighteenth-Century British Verse Epistle, S. 116 f. Overton analysiert eine größere Zahl dieser Versepisteln über das Thema des Glücks; vgl. ebd., S. 116–132. 140 Vgl. E[dward] Young, A Vindication of Providence: or, A True Estimate of Human Life. Discourse I, London 1728. Young hat diese Predigt wesentlich als eine Auseinandersetzung mit der Frage nach dem wahren Glück konzipiert. Er legt ausführlich dar, dass die irdischen Güter, von denen sich die Menschen Glück versprechen, alle nichtig seien, um schließlich zu verkünden, dass der Mensch nur durch die Liebe zu Gott glücklich werden könne. Vgl. ebd., S. 63 f.: „God is the Substance of all Happiness; which it is impossible we should partake, but through a Communication of our Affections with him. [. . .]. Set your Affections on Things above and not on Things on the Earth. That is, Love God.“ 141 Vgl. IV, 361–372: „God loves from whole to parts: but human soul | Must rise from individual to the whole. | Self-love but serves the virtuous mind to wake, | As the small pebble stirs the peaceful lake; | The centre moved, a circle straight succeeds, | Another still, and still another spreads; | Friend, parent, neighbour, first it will embrace, | His country next, and next all human race; | Wide and more wide, th’o’erflowings of the mind | Take every creature in, of every kind; | Earth smiles around, with boundless bounty blest, | And Heaven beholds its image in his breast.“ – Nuttall deutet diese Passage wie folgt: „Pope [. . .] suggests that selflove naturally expands into benevolence, through an involuntary extension of the notion of the self to include more and more of the surrounding world.“ (Nuttall, Pope’s ‚Essay on Man‘, S. 111) Eine Konsequenz sei, dass moralische Ermahnungen für Pope eigentlich sinnlos sein müssten: „Virtue grows like an oak-tree, and no one tells an oak-tree how to grow.“ (Ebd.) Unter anderem aufgrund dieser Passage charakterisiert Nuttall die Ethik Popes als ein

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der Liebe zugrunde liegt, wird hier nicht mehr näher erläutert, doch die Annahme liegt nahe, dass die Passage die einschlägigen Ausführungen der vorangehenden Teile des Essay voraussetzt: also die Darlegungen der zweiten Epistel über die Beziehung zwischen Selbstliebe und Tugend sowie die der dritten Epistel über die Erweiterung von Selbstliebe zu sozialer Liebe. Die vierte Epistel hat diese moralpsychologischen Ausführungen noch um den Gedanken ergänzt, dass tugendhaftes Handeln den Menschen glücklich macht. Dieser Gedanke lässt die Annahme, dass ein Handeln im Sinne der Nächstenliebe habitualisiert werden kann, zusätzlich plausibel erscheinen. Die Position, die Popes Sprecher im Essay zum Thema der moralischen Motivation bezieht, wird außer durch die bisher rekonstruierten Konzepte und Überlegungen auch durch die Abwesenheit bestimmter Begriffe und Theorien definiert, die in der zeitgenössischen Debatte eine große Rolle spielten. Gemeint sind zum einen die Begriffe der Pflicht und der Verpflichung (‚duty‘, ‚obligation‘), zum anderen die Lehre von jenseitigen Belohnungen und Strafen. Der Begriff der moralischen Pflichten erhält in den vier Episteln des Essay nirgends eine prominente Position.142 Das ist in gewisser Hinsicht überraschend, denn in der Vorrede rechtfertigt Pope seine ausführlichen Darlegungen über das Wesen des Menschen im Allgemeinen gerade damit, dass sie zur Herleitung moralischer Pflichten notwendig seien („to prove any moral duty“; vgl. „The Design“, S. 7). In den Episteln selbst aber lauten die zentralen moralischen Begriffe ‚Tugend‘, ‚Liebe‘ und ‚Benevolenz‘. Bemerkenswert ist auch, dass Popes Sprecher sich nicht zu jenseitigen Belohnungen und Strafen äußert,143 denn diese Lehre und die Frage nach ihrer moralphilosophischen Relevanz spielten in den zeitgenössischen Diskussionen eine prominente Rolle. Für Locke etwa ist es allein der Gedanke an die jenseitigen Sanktionen, der den moralischen Gesetzen eine motivierende Kraft verleiht.144

„massively naturalistic scheme“ (ebd.). Aber die Metapher der sich konzentrisch ausdehnenden Kreise ist eben eine Metapher, und sie muss keineswegs so verstanden werden, dass sich die Erweiterung und Verwandlung der Selbstliebe von selbst, unwillkürlich und naturgesetzlich vollziehe. Eine plausiblere Deutung des metaphorischen Bildes vom See bietet Spacks, An Argument of Images, S. 3. Spacks stellt die Passage hier in eine Reihe mit Abschnitten aus anderen Gedichten Popes, in denen das menschliche Leben metaphorisch mit einem Fluss oder anderen Gewässern gleichgesetzt wird (vgl. ebd., S. 2–4). 142 Auch Vollhardt stellt fest, dass Pope zwar, „wie Thomasius, die als formungsfähig gedachte Affektnatur des Menschen den Instituten von Rat und Herrschaft überantwortet“, ohne aber „mit einer vergleichbaren Konsequenz“ wie die Schüler des Thomasius „die normativen Ebenen des Handelns zu beschreiben“. (Vollhardt, Selbstliebe und Geselligkeit, S. 273) 143 So auch White, Pope and the Context of Controversy, S. 101 f., 125. 144 Vgl. Darwall, The British Moralists and the Internal ‚Ought‘, S. 36–44.

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Der Sprecher in Blackmores Creation verweist die Anhänger atheistischer Lehren drohend auf die Qualen, die sie nach dem Tod erwarten,145 und Blackmore kritisierte in einer Sammlung von Essays ausführlich jene neueren Schriftsteller als naiv, die bei der moralischen Erziehung des Publikums auf die abschreckende Warnung vor jenseitigen Strafen verzichten zu können meinten.146 Dass Popes Sprecher im Essay on Man nichts über göttliche Strafen und Belohnungen im Jenseits sagt, kann zunächst als Konsequenz der erkenntnistheoretischen und methodischen Position verstanden werden, die er zu Beginn der ersten Epistel bezieht.147 Bei Shaftesbury findet sich auch die Auffassung, Furcht vor Strafen sei ein minderwertiger, unwürdiger oder niederträchtiger Antrieb des Handelns.148 Popes Sprecher schließt sich dieser Ansicht nirgends explizit an; für zeitgenössische Leser allerdings mag die Abwesenheit des Konzepts jenseitiger Belohnungen und Strafen ein Indiz dafür gewesen sein, dass Pope sich der Partei Shaftesburys anschloss. Wie lässt sich nun die im Essay entwickelte Sicht auf das Thema der moralischen Motivation abschließend charakterisieren und in der zeitgenössischen Debattenlandschaft verorten? Bei diesem Thema ist besonders deutlich, so kann zunächst festgehalten werden, dass Popes Sprecher sich zwischen gegensätzlichen Extremen hindurchzubewegen sucht. Wenn er die Selbstliebe als treibende Kraft allen Handelns betrachtet und Vergnügen und Schmerzvermeidung zum gemeinsamen Ziel von Vernunft und Selbstliebe erklärt, so übernimmt er Positionen, die im frühen 18. Jahrhundert teils mit Hobbes oder Mandeville, teils mit Locke identifiziert wurden und für eine skeptische, pessimistische oder menschenfeindliche Auffassung von der menschlichen Natur standen. Andererseits lobt der Sprecher emphatisch die Tugenden der Nächstenliebe und Benevolenz, betrachtet also ein von ihnen bestimmtes Handeln als möglich und schreibt der menschlichen Fähigkeit zur Nächstenliebe ein außerordentliches Erweiterungspotential zu. Damit scheint er Shaftesbury und Theoretikern des ‚moral sense‘ nahezustehen, die sich explizit gegen Hobbes und Locke wandten. Eine Nähe zu Shaftesbury ergibt sich auch dadurch, dass Popes Sprecher dem Konzept der Pflicht keine prominente Position gibt und jenseitige Belohnungen und Strafen als Antriebe für moralisches Handeln gänzlich unerwähnt lässt.

145 Vgl. Blackmore, Creation, S. 232 f. (Book VII). 146 Vgl. Sir Richard Blackmore, „The Preface“, in: Ders.: Essays upon Several Subjects [1716]. Nachdruck der Ausgabe London 1716. Hildesheim/New York 1976, S. iii–lvii, hier S xxxii–xlviii, v. a. xli f. 147 So White, Pope and the Context of Controversy, S. 125: Da Pope sich nicht auf die Offenbarung stützen wolle, könne er nicht mit jenseitigen Strafen argumentieren. 148 Vgl. zu den diesbezüglichen Auffassungen Shaftesburys im Einzelnen Rivers, Reason, Grace, and Sentiment, Vol. II: Shaftesbury to Hume, S. 135–138.

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Was in Popes Essay zwischen diesen gegensätzlichen Positionen vermittelt, ist zweierlei. Erstens weist der Sprecher auf die Beziehung zwischen Eltern und Kindern als auf eine Form der natürlichen Liebe und Zuneigung hin, bei der die egoistischen oder interessierten Züge so eng mit spontaner Liebe und Wohlwollen verschränkt sind, dass sich die Reduktion auf eine der zwei Seiten verbietet. Zweitens beschreibt er die Leidenschaften als plastisch und formbar; formen und erziehen lassen sie sich mithilfe von Erfahrungen und dem Erwerb von Gewohnheiten. Zur Befestigung tugendhafter Dispositionen dürfte in Popes Sicht schließlich auch der vertrauensvolle Glaube an eine wohlwollende Vorsehung beitragen; dieser Gedanke wird im Essay on Man zumindest angedeutet und in der Epistel To Bathurst deutlich artikuliert. 1.4.3 Der Ursprung von Staat und Gesellschaft Ein großer Teil der dritten Epistel („Of the Nature and State of Man, with respect to Society“) entwirft eine Deutung der Geschichte von Staat und Gesellschaft, die mit dem Naturzustand beginnt und die Entstehung und Entwicklung von Herrschaft nachzeichnet. Mit Blick auf diesen Teil liegt wieder die Vermutung nahe, dass Pope einen mittleren Weg zwischen gegnerischen Positionen der zeitgenössischen Debatten beschreiten wollte. Als eine deutliche Markierung dieser Bezugnahme auf aktuelle Diskussionen dürfte bereits die hervorgehobene Verwendung der Ausdrücke „NATURE’S STATE“ (III, 147) und „[t]he state of nature“ (III, 148) gewirkt haben, die sich zu Beginn des betreffenden Abschnitts findet. Besonders einflussreiche Protagonisten dieser Debatten im englischen Bereich waren Robert Filmer mit seinem Werk Patriarcha (1680) sowie die unter anderem gegen Filmer gerichteten Theorien John Lockes und Thomas Hobbes’, in denen das Konzept eines ursprünglichen Gesellschaftsvertrags eine zentrale Rolle spielte.149 Für Pope dürften ferner gerade mit Blick auf dieses Thema auch die Theorien Bolingbrokes einen wichtigen Referenzpunkt dargestellt haben.150 In den Ausführungen der dritten Epistel finden sich auch tatsächlich

149 Für knappe Darstellungen der Debatten im Hintergrund und für Deutungen der dritten Epistel in diesem Kontext vgl. vor allem: Erskine-Hill, „Pope on the origins of society“; Kurt Otten, „‚A Well-Mix’d State‘. Die Ordnung der Welt und der Gesellschaft in Popes Lehrgedicht ‚An Essay on Man‘“, in: Hans Gerd Rötzer/Herbert Walz (Hrsg.), Europäische Lehrdichtung. Festschrift für Walter Naumann zum 70. Geburtstag, Darmstadt 1991, S. 174–195; HeinzJoachim Müllenbrock, Popes Gesellschaftslehre in „An Essay on Man“: Eine Untersuchung der dritten Epistel, Göttingen 1977. 150 Müllenbrock hat in der zitierten Studie zu zeigen versucht, dass die Behandlung der Themen der Ursprünge der Gesellschaft und der politischen Ordnung in allen wesentlichen Punkten der politischen Philosophie Bolingbrokes entspreche und dass Pope aller Wahrscheinlichkeit

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viele Elemente, die sich als Bezugnahmen auf diese diversen Theorien deuten lassen; zugleich weisen sie Parallelen zu antiken Kulturentstehungstheorien etwa bei Lukrez, Vitruvius und Cicero auf.151 Der Naturzustand erscheint in der dritten Epistel als gekennzeichnet durch ein friedliches Zusammenleben von Mensch und Tier152 und durch eine natürliche Religiosität, die ohne Priestertum und blutige Rituale auskommt und dem angebeteten Gott allein das Attribut „Universal Care“ zuschreibt (III, 159). Die Darstellung der Beziehung zwischen Mensch und Tier im Naturzustand greift auf antike Schilderungen eines goldenen Zeitalters zurück und kann zugleich als Einspruch gegen Hobbes’ Konzeption des Naturzustandes gesehen werden. Auf den Naturzustand folgt bei Pope allerdings zunächst nicht ein katastrophischer Fall, sondern eine zivilisatorische Entwicklung, die auf der menschlichen Nachahmung tierischer Instinkttätigkeiten beruht und mit einer allmählichen und harmonischen Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung einhergeht: Danach betrachteten die Menschen im Naturzustand den Vater als selbstverständliche Autorität innerhalb der Familie; als die menschlichen Gemeinschaften größer wurden, gestanden sie eine solche Vaterstellung einzelnen Individuen zu (III, 199–240). Diese Deutung der Ursprünge legitimer Herrschaft entspricht im Wesentlichen einer Form des Patriarchalismus, allerdings nicht der älteren Variante Filmers, sondern der stark modifizierten Version, die Bolingbroke vertrat und die er wohl vor allem als Gegenentwurf zur kontraktualistischen Theorie Lockes konzipierte.153 Auch in Popes dritter Epistel hat man es als eine Distanzierung von Locke gewertet, dass in der Darstellung des Naturzustandes zentrale Begriffe Lockes wie

nach die entscheidenden Anregungen von ihm empfing; vgl. ebd., v. a. S. 15 f., 29. Ähnlich die Einschätzung von Hammond, Pope and Bolingbroke, S. 85–91. Auch Erskine-Hill sieht weitreichende Parallelen zwischen der dritten Epistel und den Positionen Bolingbrokes, hält es aber nicht für ausgemacht, dass sie auf eine Übernahme der Ideen Bolingbrokes durch Pope zurückzuführen sind; vgl. Erskine-Hill, „Pope on the origins of society“, S. 91. 151 Vgl. ebd., S. 88. 152 Mehrere Interpreten haben darauf hingewiesen, dass im Essay on Man auffällig häufig Beziehungen zwischen Menschen und Tieren geschildert werden und dass die menschliche Unterdrückung oder Misshandlung von Tieren mit Grausamkeit und Machtmissbrauch unter Menschen parallelisiert wird. Vgl. Sitter, „Eighteenth-Century Ecological Poetry and Ecotheology“, zum Essay on Man S. 25–29, hier v. a. 27 f.; Judith N. Shklar: „Poetry and the Political Imagination in Pope’s An Essay on Man“, in: Dies.: Political Thought and Political Thinkers. Stanley Hoffmann (Hrsg.). Chicago/London 1998, S. 193–205. 153 Vgl., mit unterschiedlichen Akzentsetzungen: Erskine-Hill, „Pope on the origins of society“, S. 89 f.; Müllenbrock, Popes Gesellschaftslehre, S. 21–24. Müllenbrock sieht hier eine weitreichende Übereinstimmung mit Bolingbroke, Erskine-Hill vor allem eine Vermittlung zwischen Positionen Filmers und Lockes.

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Gleichheit und Unabhängigkeit kaum eine Rolle spielen.154 Doch die geschichtliche Entwicklung, die in der dritten Epistel geschildert wird, enthält auch etwas wie einen Vertragsschluss (III, 209 f.). Damit nimmt Pope einen Grundgedanken der Theorien Hobbes’ und Lockes in seine Erörterung auf, ohne ihm allerdings eine sehr prominente Stellung zu geben.155 Die folgenden Passagen der Epistel enthalten wiederum Formulierungen, die als suggestive Anspielungen auf aktuelle Theorien gedeutet werden können, dabei aber nicht eindeutig in eine bestimmte Richtung weisen. Diese Passagen schildern, wie die richtige, naturgemäße Herrschaftsform durch das Erstarken von aggressiven Neigungen und Angst zerstört und durch eine Tyrannei ersetzt wurde, während zugleich der Aberglauben den rechten Glauben verdrängte. Schließlich aber seien die willkürlichen Alleinherrschaften beendet worden, und zwar letztlich durch das Wirken der Selbstliebe, die die Menschen dazu antrieb, sich gegen die Unterdrückung zu wehren und ihre Könige durch Gesetze zu binden. So wurden „[t]he faith and moral, Nature gave before“ (III, 286), wiederhergestellt („restore“, III, 285) und die Machtverhältnisse so geordnet, dass die miteinander streitenden Interessen das harmonische Ganze eines „well-mix’d State“ (III, 294) ergaben. In den wenigen Versen, die diesen ‚gemischten Staat‘ skizzieren, hat ein Interpret einen „leisen Anklang an Lockesche Vorstellungen von harscher Interessendivergenz“ gesehen,156 während ein anderer sie als Anspielung auf eine Theorie des Locke-Kritikers Bolingbroke, nämlich auf seine Theorie der „balance of powers“ gedeutet hat.157 Ein dritter Interpret schließlich legt in seiner Deutung der Passage den Akzent nicht auf den schlussendlich errichteten „well-mix’d State“, sondern auf die Erzählung vom Aufstieg und Fall der Tyrannei: Eine Funktion dieses „usurpation myth“, den Pope hier seinem Mythos vom Ursprung der Gesellschaft hinzufüge, bestehe in der Rechtfertigung umfassender gesellschaftlicher Reformen.158 Diese Fragen dazu, auf welche Theorien einzelne Formulierungen aus dem Schlussteil der Epistel anspielen könnten, müssen hier nicht weiter verfolgt werden. Festzuhalten ist aber das grundsätzliche Ergebnis, dass Popes Sprecher vor allem eine Variante des Patriarchalismus vertritt, aber auch Elemente der kontraktualistischen Gegenposition in seine Darlegungen aufnimmt. Diese

154 Vgl. ebd., S. 19. 155 Vgl. Erskine-Hill, „Pope on the origins of society“, S. 89 f; Müllenbrock, Popes Gesellschaftslehre, S. 26. 156 Ebd., S. 28. 157 Otten, „‚A Well-Mix’d State‘“, S. 193 f. 158 Erskine-Hill, „Pope on the origins of society“, S. 92 f., die Formulierung „usurpation myth“ auf S. 92.

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Kombination unterschiedlicher Theorietraditionen ist auf unterschiedliche Weisen gedeutet worden: Müllenbrock zufolge war Pope eigentlich ein Anhänger der Theorien Bolingbrokes, machte aber aus Opportunitätsgründen auch der Partei Lockes Zugeständnisse.159 Erskine-Hill dagegen sieht die Anklänge an Vertragstheorien nicht als taktisch motivierte Abschwächungen, sondern als Teil von Popes Versuch, einen ‚mittleren Weg‘ zwischen den Extremen der Debatte zu finden.160 Zu der Position, die Pope seinen Sprecher innerhalb der philosophischen Debatte beziehen ließ, gehört schließlich auch die im Schlussabschnitt der Epistel formulierte Distanzierung von spezialisierten philosophischen wie theologischen Kontroversen. Hier erklärt der Sprecher den Streit um „Forms of Government“ wie den um „Modes of Faith“ für eine Angelegenheit der Narren und Eiferer; die eigentliche Aufgabe der Menschen bestehe im Üben tätiger Nächstenliebe: „all Mankind’s concern is Charity“ (II, 303–310). Der Vers dürfte im Übrigen auch als pointierte Antwort auf einen Passus aus Drydens Religio Laici gemeint sein: Dort hatte Drydens Sprecher die Unterwerfung der ‚privaten Vernunft‘ unter die Autorität der Kirche in bestimmten theologischen Streitfällen für gerechtfertigt erklärt und dies so begründet: „For points obscure are of small use to learn: | But Common quiet is Mankind’s concern.“161 Popes Sprecher dagegen lehnt in der zitierten Passage auch Kontroversen um theologische und staatstheoretische Spezialfragen ab, kontrastiert sie aber nicht mit der Sorge um Ruhe und Ordnung, sondern mit praktischer Nächstenliebe. Dieses liebevolle und fürsorgliche Handeln, so deutet der Sprecher damit auch an, kann im Rahmen verschiedenartiger Regierungsformen wie auch in Verbindung mit unterschiedlichen Ausprägungen des Glaubens realisiert werden. Ein ähnliches Bekenntnis zum Primat des Handelns im Sinne der „Charity“ prägt auch den Umgang des Sprechers mit einem weiteren kontroversen philosophischen Thema, dem der dignitas hominis. 1.4.4 Die Würde des Menschen Die Vorwürfe gegen die Vorsehung, die Popes Sprecher abzuwehren sucht, werden von ihm als Ausdruck von Stolz verurteilt, als eine Selbstüberhebung des Menschen. Die Rechtfertigung der göttlichen Vorsehung ist daher im Essay eng verknüpft mit dem Bestreben, dem Menschen die richtige Einschätzung seines

159 Vgl. Müllenbrock, Popes Gesellschaftslehre, S. 16, 25 f. 160 Vgl. Erskine-Hill, „Pope on the origins of society“, S. 92. 161 Dryden, Religio Laici, Verse 449 f. Vgl. zu dieser Passage bei Dryden und den kirchenpolitischen Debatten, auf die sie sich beziehen könnte: Connell, Secular Chains, S. 125 f.

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Werts zu vermitteln. Damit greift Popes Gedicht die traditionsreiche Frage nach der dignitas hominis auf,162 die auch in der englischen Literatur und Philosophie des frühen 18. Jahrhunderts kontrovers diskutiert wurde. Mandeville etwa beschrieb den Gegensatz zwischen Shaftesburys und seiner Philosophie als einen Dissens, der sich unter anderem in ihren Auffassungen über die „Dignity“ der Natur des Menschen äußerte.163 David Hume äußerte in seinem Essay Of the Dignity of Human Nature (1741) den Eindruck, diese Frage habe vom Beginn der Welt bis zum gegenwärtigen Tag die Philosophen, Dichter und Geistlichen in zwei feindliche Lager gespalten.164 Seine Charakterisierung der gegensätzlichen Antworten könnte auf die Positionen Shaftesburys und Mandevilles anspielen.165 Im Essay on Man wird die Frage nach Größe oder Niedrigkeit des Menschen in der Anfangspassage der zweiten Epistel explizit als Thema eingeführt. Diese Passage schildert den Menschen als ein mittleres, gemischtes und tief widersprüchliches Wesen und mündet in die Feststellung, der Mensch sei „[t]he glory, jest, and riddle of the world“ (II. 18). In jeder der folgenden drei Episteln kommen sowohl die „glory“- als auch die „jest“-Seite des Menschen zur Geltung, aber die Gewichtungen verändern sich in entscheidendem Maße. Kurz gesagt, erscheint der Sprecher bis zum Ende der zweiten Epistel vor allem darauf bedacht, dem Menschen seine Schwächen und Mängel vor Augen zu führen und seine eingebildete Größe als illusionär zu entzaubern, bevor er in der dritten und vierten

162 Zur Geschichte dieses Themas von der Antike bis zur frühen Neuzeit vgl. etwa Hans Jörg Sandkühler, Menschenwürde und Menschenrechte. Über die Verletzbarkeit und den Schutz der Menschen, Freiburg/München 2014, S. 53–105; Panajotis Kondylis, [Art.] „Würde. II.–VIII.“, in: GG 7, S. 645–677. Als einflussreiche frühneuzeitliche Kritiker emphatischer Konzeptionen der menschlichen Würde gelten vor allem Montaigne und Pascal; vgl. etwa Sandkühler, Menschenwürde, S. 93–96. Zu Montaignes einschlägigen Überlegungen und ihrem Verhältnis zur Tradition vgl. Hugo Friedrich, Montaigne. 3. Aufl. Mit einem Nachwort von Frank-Rutger Hausmann. Tübingen/Basel 1993 [1. Aufl. 1949], S. 114–131. Dass die Kritik an menschlicher Selbstüberschätzung im Essay on Man der Kritik an Vernunftstolz und Anthropozentrismus bei Montaigne nahestehe, wird u. a. vertreten von Solomon, The Rape of the Text, S. 93–95. Zu Popes Bewunderung für Montaigne vgl. etwa Mack, Alexander Pope. A Life, S. 82–84. 163 Vgl. Bernard Mandeville, The Fable of the Bees: or, Private Vices, Publick Benefits. F. B. Kaye (Hrsg.) [Zwei Bände.] Reprint der Ausgabe von 1924. Oxford 1966, Bd. 1, S. 323–325, v. a. S. 324. 164 Vgl. [David Hume], „Of the Dignity of Human Nature“, in: Ders., Essays, Moral and Political. Edinburgh 1741, S. 161–171. 165 Vgl. ebd., S. 161 f. Dass Hume hier auf Shaftesbury einerseits, auf Mandeville sowie auf La Rochefoucauld oder Rochester andererseits anspielen könnte, meint auch James A. Harris, Hume. An Intellectual Biography, Cambridge 2015, S. 163.

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Epistel nach und nach diejenigen Seiten der menschlichen Natur offenlegt, die ihre wahre Größe ausmachen.166 Wo der Sprecher in der zweiten Epistel die menschlichen Leidenschaften und die Rolle der Vernunft diskutiert, schlägt er sich zwar nicht auf die Seite jener menschenfeindlichen Philosophen, die den Menschen zu einem Spielball rein egoistischer Leidenschaften machen, legt aber den Akzent doch eher auf die „jest“- als auf die „glory“-Seite des Menschen. Vor allem der Schlussteil der Epistel formuliert eine ernüchternde Sicht auf das menschliche Leben, das die Menschen dank Alter und Krankheit schließlich gerne verlassen, und auf die Wünsche und Bestrebungen der Menschen, denen großenteils etwas Kindisches, Illusionäres oder Unsinniges anhaftet (vgl. II, 261–294).167 Es sind insbesondere diese Teile der zweiten Epistel, auf die sich die von White und Tierney aufgestellte These stützen kann, dass Popes Essay in der Tradition der ‚Satiren auf die Menschheit‘ stehe, die prominent etwa durch Rochesters Satyr upon Reason and Mankind verkörpert wurde.168 Beachtung verdient dabei, dass als Illustrationen für die törichten und lächerlichen Züge des Menschen hier stets Personen dienen, die in Isolierung gezeigt werden: „See the blind beggar dance, the cripple sing [. . .]“ (II, 267); „Behold the child, [. . .]“ (II, 275). Die dritte Epistel, die Wesen und Stellung des Menschen mit Bezug auf die Gesellschaft behandelt, setzt die Akzente in der Bewertung des Menschen anders. Zwar erhält auch hier der menschliche Stolz immer wieder Dämpfer, doch große Teile der Epistel entwerfen ein günstigeres Bild vom Menschen. Die positiven Züge, die dabei an ihm hervorgehoben werden, bestehen in Liebe und tätiger Fürsorge für die Mitmenschen wie für andere Lebewesen. So wird zu Beginn der Epistel ausdrücklich eine Eigenschaft benannt, die den Menschen über die Tiere erhebe; dabei handelt es sich aber nicht um seine Vernunft oder Willensfreiheit, sondern um seine Fähigkeit und Bereitschaft, für Tiere zu sorgen, sie zu schonen und zu pflegen: Grant that the pow’rful still the weak controul, Be Man the Wit and Tyrant of the whole: Nature that Tyrant checks; he only knows, And helps, another creature’s wants and woes.

[III, 49–52]

166 Vgl. dazu auch Mack, „Introduction“, S. xxxix f. und lx–lxiii. 167 Deutungen dieser Passage mit sehr unterschiedlichen Akzentsetzungen bei Spacks, An Argument of Images, S. 46 f.; Nuttall, Pope’s ‚Essay on Man‘, S. 100 f. 168 Vgl. White/Tierney, „‚An Essay on Man‘ and the Tradition of Satires on Mankind“.

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Der Sprecher des Essay greift hier in einem spezifischen Zusammenhang ein Thema auf, das Pope am Herzen lag und von ihm in verschiedenen Texten angesprochen wurde, besonders explizit etwa in seinem 1713 erschienenen GuardianEssay „Against Barbarity to Animals“.169 Auch in seinem deskriptiv-didaktischen Gedicht Windsor Forest hatte er ein sehr kritisches Licht auf den Brauch der Jagd fallen lassen.170 In der zitierten Passage scheint der Sprecher nun den Menschen als wesentlich von altruistischen Neigungen bestimmt darzustellen und damit den Ausführungen der zweiten Epistel über die Selbstliebe als menschlichen Grundantrieb zu widersprechen. So legt er im Folgenden denn auch Wert darauf, die menschliche Fürsorge für die Tiere nicht als Ausdruck reiner Güte erscheinen zu lassen, sondern zumindest teilweise auf Varianten eigennütziger Antriebe zurückzuführen.171 Die positiv hervorgehobenen Verhaltensweisen dienen teils dem „Int’rest“ (III, 59) des Menschen, teils seinem Vergnügen, teils seinem Stolz; sie wurzeln also letztlich in der durch ‚reason‘ und ‚self-love‘ bestimmten Natur des Menschen. Damit vermeidet die Passage einen offensichtlichen Bruch mit der in der zweiten Epistel entworfenen Anthropologie und Psychologie. Doch die Stoßrichtung der Passage ist keine eindeutig entlarvende oder reduktionistische: Auf die nüchterne Freilegung der Motive des fürsorglichen Handelns folgt nicht ein Fazit, das den unheilbaren Egoismus des Menschen hervorkehrte, sondern die Feststellung, dass die Wirkung dieses Handelns ‚segensvoll‘ seien („blessing“). Einen ähnlichen Akzent wie die Anfangspassage der dritten Epistel setzt ihr Schlussabschnitt: Hier betont der Sprecher am Ende seiner Erörterung der Ursprünge von Staatlichkeit und Herrschaft, dass das Handeln aus Nächstenliebe von größerer Wichtigkeit sei als Differenzen in Fragen der Regierungsoder Glaubenslehren:

169 Vgl. Alexander Pope, „Against Barbarity to Animals“ [1713], in: Ders., The Prose Works. Newly collected and edited by Norman Ault. Vol. I. The Earlier Works, 1711–1720. Oxford 1936, S. 107–114. 170 Vgl. hierzu sowie zu dem erwähnten Guardian-Essay und zu Popes Einstellung gegenüber Tieren insgesamt Marjorie Nicolson/G. S. Rousseau, „This Long Disease, My Life“. Alexander Pope and the Sciences, Princeton (N.J.) 1968, S. 93–109 (Kapitel „Animalitarianism“). Zu Veränderungen der Einstellungen gegenüber Tieren im relevanten Zeitraum vgl. die materialreiche Studie von Keith Thomas, Man and the Natural World. A History of the Modern Sensibility, New York 1983. 171 Vgl. III, 57–60: „Man cares for all: to birds he gives his woods, | To beasts his pastures, and to fish his floods; | For some his Int’rest prompts him to provide, | For more his pleasure, yet for more his pride“.

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For Forms of Government let fools contest; Whate’er is best administer’d is best: For Modes of Faith, let graceless zealots fight; His can’t be wrong whose life is in the right: In Faith and Hope the world will disagree, But all Mankind’s concern is Charity: All must be false that thwart this One great End, And all of God, that bless Mankind or mend.

[III, 303–310]

In der vierten Epistel schließlich verweist der Sprecher mehrfach mit emphatisch lobenden Worten auf Menschen oder Menschentypen, die von Liebe zu ihren Mitmenschen erfüllt sind (vgl. IV, 189–192; auch 248). Die ausführlichste Schilderung dieses Menschentyps findet sich am Ende der Epistel, direkt vor der abschließenden Anrede Bolingbrokes; sie bildet somit das Ziel der vom Sprecher unternommenen Wanderung durch „this scene of Man“. Der Mensch, dessen Bild hier entworfen wird, zeichnet sich durch eine grenzenlose, alle Lebewesen einschließende Güte aus und erscheint damit als Ebenbild Gottes; zugleich insistiert die Passage darauf, dass auch diese Liebe aus einer allmählichen Ausweitung der „Self-love“ hervorgeht. Popes Sprecher bezieht mithin zu den Kontroversen um die Größe oder Niedrigkeit des Menschen Stellung, indem er bestimmte Versionen der Lehre von der Größe und der Sonderstellung des Menschen dezidiert verwirft, eine andere Version aber affirmiert. Abgelehnt werden emphatische Vorstellungen von der menschlichen Vernunft als einer Eigenschaft, die die Größe und Einzigartigkeit des Menschen begründe, sowie generell anthropozentrische Lehren, die den Menschen als Mittelpunkt der Schöpfung darstellen. Dagegen legt der Sprecher seinem Adressaten die Auffassung nahe, die Besonderheit des Menschen gründe sich auf seine Fähigkeit, für andere Lebewesen zu sorgen, und seine Größe verwirkliche er durch ein Handeln im Sinne von Liebe, „Charity“ (IV, 360) oder „Benevolence“ (IV, 358) und durch die fortschreitende Kultivierung und Ausweitung diese Anlagen. 1.4.5 Zur zeitgenössischen Rezeption Die in der Vorrede des Essay proklamierte Absicht, einen gedanklichen Weg zwischen gegensätzlichen Extremen der philosophischen Kontroversen hindurch zu bahnen, erscheint in der Tat als leitend für große Teile der vier Episteln. Wie die Analyse zeigen wollte, lassen sich mehrere vieldiskutierte Probleme identifizieren, zu denen Popes Sprecher im Essay on Man Stellung bezieht, wobei er auf verschiedene Weisen zwischen gegnerischen Positionen vermittelt. Die zeitgenössische Rezeption des Essay on Man wurde allerdings in erheblichem Maße von Deutungen beherrscht, die den philosophischen Gehalt von

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Popes Gedicht als Parteinahme für ein bestimmtes System auffassten. Schon 1737 vertrat Jean-Pierre Crousaz in seinem Examen de l’Essay de Monsieur Pope sur l’homme die Auffassung, Pope habe sich dem ‚absurden‘ System Leibniz’ angeschlossen und propagiere eine Form des Fatalismus, wobei er sich in einigen Teilen des Gedichts allerdings selbst widerspreche.172 Das Aufsehen, das diese mit dem Vorwurf des Atheismus verbundene Deutung erregte, dürfte wesentlich zur Dominanz einer Rezeptionsweise beigetragen haben, die den Essay on Man einem der aktuell diskutierten Systeme und damit einem Lager innerhalb der Kontroversen zuordneten. Gleichwohl gibt es auch einzelne Zeugnisse dafür, dass Popes Streben nach einer Vermittlung zwischen gegensätzlichen philosophischen Positionen wahrgenommen wurde. William Warburton etwa deutete in dem Kommentar zum Essay on Man, mit dem er das Gedicht gegen die Vorwürfe von Crousaz zu verteidigen suchte, Popes Ausführungen über die ‚ruling passion‘ in der zweiten Epistel als „an Instance of his steering [. . .] between Doctrines seemingly opposite“.173 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ferner die Sicht auf den Essay on Man, die Lord Hervey, spätestens seit den frühen 1730er Jahren ein erbitterter Gegner Popes,174 in einem 1742 veröffentlichten Pamphlet ausdrückte. Hervey unterzog Popes Gedichte hier einer vernichtenden Kritik und verschonte auch den Essay on Man nicht, der von ihm als ein weiteres Zeugnis der fehlenden Urteils- wie Erfindungskraft Popes dargestellt wurde. Um sich für dieses philosophische Werk zu rüsten, habe der Dichter alle erdenklichen Bücher verschiedener Autoren über die von ihm behandelten Themen gelesen, und wann immer ihn eine Passage besonders beeindruckt habe, habe er sie in harmonische Verse übersetzt. Das Ergebnis sei ein ‚Haufen poetischer Widersprüche‘, ein gedankliches Wirrwarr sondergleichen: [. . .] he has jumbled together my Ld Shaftesbury, Montagne, Lord Herbert, Mandeville, and fifty & caeteras; till from these fine uniform Originals drawing only some incongruous Scraps, his whole Work is nothing but a Heap of poetical Contradictions, and a jarring Series of Doctrines, Principles, Opinions and Sentiments, diametrically opposite to each other; [. . .].175

172 Vgl. Crousaz, Examen de l’Essay de monsieur Pope sur l’Homme. Zu Crousaz’ Kritik am Essay on Man vgl. Mack, „Introduction“, S. xix f.; Nuttall, Pope’s Essay on Man, S. 179–183; Solomon, The Rape of the Text, S. 11–13, 16–18. 173 Warburton, A Critical and Philosophical Commentary, S. 18. 174 Zum persönlichen Verhältnis zwischen Pope und Lord Hervey und den gegenseitigen publizistischen Attacken vgl. Mack, Alexander Pope. A Life, S. 557–559, 607–609. 175 Lord Hervey, A Letter to Mr. C–b–r [. . .], 1742, S. 14–16, zitiert nach: John Barnard (Hrsg.), Alexander Pope. The Critical Heritage, London/Boston 1973, S. 316.

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Im folgenden Satz bezeichnet Lord Hervey den Essay als ein „Hodge-Podge Mess of Philosophy“. Diese Urteile sind offenkundig durch die polemische Absicht der Schrift bestimmt, nicht durch das Bemühen um eine ausgewogene oder gar wohlwollende Deutung; dazu passt es auch, dass Hervey die deklarierte Zielsetzung Popes, ‚zwischen den Extremen scheinbar gegensätzlicher Doktrinen hindurchzusteuern‘, nicht einmal erwähnt. Doch wenn er in Popes Gedicht punktuelle Übereinstimmungen nicht nur mit Shaftesbury, sondern auch mit Lord Herbert of Cherbury, Montaigne und Mandeville ausmacht, so kommt er damit Popes Intentionen vermutlich immer noch näher als jene Urteile, die den Gehalt nur als eine Adaption der Lehren Shaftesburys oder Leibniz’ darstellen. Festzuhalten ist mit Blick auf zeitgenössische Deutungen der philosophischen Positionen des Essay on Man schließlich ein allgemeinerer Punkt: Ob sie in Popes Gedicht nun einen eindeutigen Anschluss an ein bestimmtes System oder eine Verbindung verschiedener Theorien sahen, die frühen Rezipienten betrachteten das Gedicht jedenfalls meist als eines, das eine bestimmte philosophische Position artikulieren und damit innerhalb der laufenden Diskussionen Stellung beziehen wollte – nicht als eines, das ein innerhalb der Philosophie unstrittiges System auf möglichst attraktive Weise einkleiden und ihm so zu weiterer Verbreitung verhelfen sollte.

1.5 Poetik und Form des Essay on Man 1.5.1 Einleitende Überlegungen Der obige Abschnitt der Untersuchung hat die philosophischen Positionen des Essay on Man zu bestimmen versucht und dabei weitgehend die sprachliche – rhetorische, stilistische und metrische – Gestaltung des Gedichts außer Acht gelassen. Ein solches Vorgehen erscheint als ein vorläufiger Untersuchungsschritt legitim, da es eben Popes erklärte Absicht war, ‚zwischen den Extremen scheinbar gegensätzlicher Doktrinen hindurchzusteuern‘: Mit diesem Satz seiner Vorrede forderte Pope die Leser geradezu auf, die Darlegungen des Essay zu Aussagen zusammenzufassen, die zu Debatten in der zeitgenössischen Philosophie in Beziehung gesetzt werden konnten.176 In einem nächsten Schritt gilt es jedoch die Frage zu stellen, welche Funktion die sprachliche Gestaltung des

176 Dies gilt es gegenüber Forschern zu betonen, die ein Vorgehen, das dem Essay on Man philosophische Positionen zu entnehmen versucht, als dem Text grundsätzlich unangemessen verwerfen. Vgl. Draesner, „‚Truth angular and splintered‘“, S. 275 f.; Stephen Copley/David Fairer, „An Essay on Man and the polite reader“, in: David Fairer (Hrsg.), Pope. New Contexts, London [u. a.] 1990, S. 205–224, hier S. 207 f.

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Gedichts erbringt. Dabei empfiehlt es sich, die Hinweise zu beachten, die Pope in seiner Vorrede sowie in meta-poetischen Passagen des Essay selbst gibt. Man kann diese Hinweise, die der Form oder einzelnen Aspekten der Form des Gedichts eine Funktion zuweisen, zu drei Punkten zusammenfassen. Erstens erklärt Pope in der Vorrede, er hätte die wesentlichen Zwecke seines Essay auch in einem Prosatext erreichen können; er habe aber Verse und sogar gereimte Verse verwendet, weil sie dem Inhalt mehr Nachdruck und Einprägsamkeit verleihen und ihm zudem konzisere Formulierungen erlaubt hätten (vgl. „The Design“, S. 7 f.). Diese Zwecke sind allerdings so allgemein formuliert, dass es unbefriedigend erscheint, sie allen spezifischen formalen Eigenschaften des Essay als alleinige Funktionen zuzuschreiben. In der Schlusspassage des Essay findet sich aber – zweitens – ein Deutungsangebot, das etwas konkretere Merkmale der Form berücksichtigt: Der Sprecher erklärt dort, er habe sich in seinen Versen von Ernsthaftigkeit zu Munterkeit, von Lebhaftigkeit zu Strenge bewegt, während er einerseits „Man’s low passions“, andererseits „their glorious ends“ erörtert habe (IV, 373–382, Zitat 376). Dass der Essay on Man, wie es dieser Passus behauptet, vielfältige Sprechweisen verwendet und mal einen ernsten oder feierlichen, mal einen ironischen oder spielerischen Duktus aufweist, dürfte eine der Aussagen über die Form des Textes sein, über die in der Forschung noch am ehesten Konsens besteht. Die Schlusspassage der vierten Epistel legt nun nahe, dass diese Variation im Ton den gegensätzlichen Seiten der menschlichen Natur korrespondieren soll, denen sich der Essay nach und nach zuwendet. In der Schlusspassage der vierten Epistel charakterisiert der Sprecher die Haltung, um die er sich bemüht habe, auch als „[i]ntent to reason, or polite to please“ (IV, 382). Dieser Vers kann zusammen mit anderen Gedichtstellen und Aussagen aus der Vorrede – drittens – als Hinweis darauf gelesen werden, dass die formale Gestaltung des Essay auch auf den Begriff der politeness zu beziehen ist, der im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert zu einem ‚Schlüsselbegriff‘ in der englischen Kultur avancierte und besonders einflussreiche Ausformungen in den Schriften Shaftesburys und Addisons erhielt.177 Der 177 Popes Einstellung zum Wert der politeness ist zuerst von Tom Woodman eingehender untersucht worden. Er hat die These aufgestellt, dass Popes Frühwerk diesem Ideal in hohem Maße verpflichtet gewesen sei, dass er sich aber später – etwa in der Entstehungszeit des Essay on Man – zunehmend von ihm distanziert habe. Vgl. Tom Woodman, „Pope and the Polite“, in: Essays in Criticism, 28/1978, 1, S. 19–37. Woodman stützt sich dabei fast ausschließlich auf explizite Bezugnahmen auf dieses Ideal, also etwa auf Verwendungen des Wortes „polite“ in Popes Gedichten, fragt aber nicht danach, wie sich der Anschluss an das Ideal oder die Distanzierung von ihm in der sprachlichen Faktur der Gedichte niedergeschlagen hat. Dieses Desiderats haben sich für den Essay on Man Stephen Copley und David Fairer angenommen; ihr Aufsatz sucht zu zeigen, dass Pope in der Vorrede zwar beim Leser die Erwartung

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Ausdruck ‚politeness‘, so Lawrence E. Klein, wurde im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert in einer Vielzahl von Kontexten gebraucht und mit einem Spektrum von Bedeutungen versehen.178 Generell kann man aber festhalten, dass der Begriff der ‚politeness‘ eng mit Vorstellungen von ‚gentlemanliness‘ assoziiert war, also ein Ideal bezeichnete, das einer sozialen Elite mit aristokratischer Prägung zugeordnet war. Die Aneignung des Begriffs in Periodika, die auf ein breiteres Publikum zielten, schloss aber das Bestreben ein, dieses Ideal auch für weitere Bevölkerungsschichten leitend und zugänglich zu machen. Der Bedeutungskern des politeness-Ideals enthielt nach Klein die Verbindung von drei Komponenten: politeness bezeichnete ein Verhalten in der Gesellschaft, das der Norm des Angenehmen oder des Gefallens gehorchte und das diese gefallende Wirkung durch die Beherrschung bestimmter Formen zu erzielen suchte.179 Konstitutiv für das Ideal war damit auch, dass es ethische und ästhetische Richtlinien miteinander verschränkte oder aufeinander abzustimmen suchte, indem es eine Kultivierung von Kommunikationsformen in den Dienst einer Verbesserung des sozialen Miteinanders stellte. In der genaueren Bestimmung der Formen, die für eine Kommunikation im Zeichen der politeness kennzeichnend waren, setzten die einflussreichen Verfechter dieses Ideals unterschiedliche Akzente. Shaftesbury charakterisierte in seinem einschlägigen Essay Sensus communis die wünschenswerte Art der Konversation vor allem anhand der Abgrenzung von Formen der Belehrung oder Zurechtweisung, die durch gravitätische Steifheit und Förmlichkeit sowie durch autoritäre Strenge geprägt waren; er trat dafür ein, auch in Unterhaltungen über substanzielle Fragen von Moral und Religion den Gebrauch von Scherz, Spott und Ironie zuzulassen und zu unterstützen. Persönliche Beleidigungen und Kränkungen waren in dieser idealen Konversation zwar zu vermeiden, nicht aber alle Formen des Agonalen: „A free conference is a close fight“, so Shaftesbury.180

eines Gedichts nach den Regeln der politeness wecke, dass er diese Erwartung dann aber gezielt enttäusche. Vgl. Copley/Fairer, „An Essay on Man and the polite reader“; für die zentrale These v. a. S. 209, 217–222. Dabei berücksichtigen Copley und Fairer nur relativ wenig Aspekte der formalen Gestaltung des Essay; zudem stützen sie sich, wie mir scheint, auf ein vereinfachtes Verständnis des politeness-Ideals. 178 Vgl., auch zum Folgenden: Lawrence E. Klein, Shaftesbury and the culture of politeness. Moral discourse and cultural politics in early eighteenth-century England, Cambridge [u. a.] 1994, S. 3. 179 Vgl. ebd., S. 4. 180 Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury, Sensus Communis, an Essay on the Freedom of Wit and Humour in a Letter to a Friend, in: Ders., Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. Lawrence E. Klein (Hrsg.), Cambridge 1999, S. 29–69, hier S. 34 (Part I, Section 4).

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‚Politeness‘ verdankt sich in seinen Augen einer Freiheit zu offener Kritik und zum Widerspruch: „All politeness is owing to liberty. We polish one another, and rub off our corners and rough sides by a sort of amicable collision.“181 Die Autoren und Herausgeber der Wochenschriften stellten in ihren Konkretisierungen des ‚politeness‘-Ideals meist andere Qualitäten in den Vordergrund: Wichtig waren in diesem Kontext vor allem die Tugenden der Variation und Kürze sowie die Pflege eines mittleren Stils, der rhetorische Artifizialität, steife Förmlichkeit und komplizierte Terminologie vermied, ohne aber in einen derben oder plumpen Slang abzugleiten.182 Hinweise darauf, dass das Ideal der politeness für die Form des Essay on Man wichtig war, bieten einige – oben bereits zitierte – Sätze der Vorrede „The Design“ sowie Passagen des Gedichts selbst. In der Vorrede, so Copley und Fairer, stellt Pope das Programm des Essay als eines vor, das sich im Einklang mit dem „educative project of polite literature“ befinde. Pope verpflichte sich nämlich dazu, in einer zwanglosen Sprache allgemeinverständliche, nicht-spezialistische Erklärungen des „universal design“ zu bieten.183 Damit beziehen sich die Interpreten offenbar auf Popes Versicherung, er wolle obskure Begriffe („terms utterly unintelligible“) sowie subtil differenzierende Analysen von Spezialproblemen vermeiden. Doch mit Blick auf das Ideal der politeness scheint mir ein anderer Aspekt dieser programmatischen Aussagen noch wichtiger zu sein als das Bekenntnis zur Norm der Verständlichkeit: Pope deutet an, dass verschiedene Stile, Methoden und Argumentationsweisen sich hinsichtlich ihres moralischen Werts unterscheiden, insofern sie mehr oder weniger geeignet sind, Streitlust und doktrinären Eifer zu erregen. Die Dispute um die menschliche Natur, so Pope, betreffen sämtlich nur obskure Detailfragen, und sie haben ‚eher die Praxis der Moral zurückgeworfen als ihre Theorie vorangebracht‘.184 Auch in einer Passage der zweiten Epistel wird ein Zusammenhang zwischen dem Streben nach subtilen Unterscheidungen und Streitlust angedeutet, wenn es in der Erörterung von

181 Ebd., S. 31 (Part I, Section 2). 182 Vgl. Lawrence E. Klein, „Making Philosophy Worldly in the London Periodical about 1700“, in: Joseph Marino/Melinda W. Schlitt (Hrsg.), Perspectives on Early Modern and Modern Intellectual History. Essays in Honor of Nancy S. Struever, Rochester (NY) 2001, S. 401–418, hier vor allem S. 410–413. 183 „[T]he poem which follows, he [i. e. Pope; O.K.] says, will provide transparent, accessible, non-specialised and comprehensible explanations of the universal design, and will set out an ethical system in a familiar and easy manner [. . .].“ (Copley/Fairer, „An Essay on Man and the polite reader“, S. 205.) 184 Vgl. den Satz aus der oben bereits zitierten Passage: „The disputes [. . .] have less sharpened the wits than the hearts of men against each other, and have diminished the practice, more than advanced the theory, of Morality.“ („The Design“, S. 7)

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Vernunft und Selbstliebe heißt: „Let subtle schoolmen teach these friends to fight, | More studious to divide than to unite“ (II, 81 f.). In der dritten Epistel schließlich grenzt sich der Sprecher einmal von „graceless zealots“ ab (III, 305). Pope scheint mithin dem Vermeiden von subtilen Distinktionen und spezialistischen Diskussionen sowie der Tugend der ‚grace‘ die Fähigkeit zuzuschreiben, Kontroversen vor der Eskalation zu bewahren oder ein Abgleiten sachlicher Debatten in feindselige Streitigkeiten zu verhindern. Diese Stellen aus der Vorrede und dem Gedicht selbst kann man als Anschluss an das Ideal der politeness verstehen, da sie die Überzeugung oder Hoffnung ausdrücken, die Kultivierung eines bestimmten Formideals in der (tatsächlichen oder literarisch stilisierten) Konversation werde sich förderlich auf den sozialen Umgang insgesamt auswirken und moralisch wertvolle Effekte zeitigen. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass einige charakteristische Stilzüge des Essay sich tatsächlich als eine eigenständige Umsetzung des politenessIdeals deuten lassen. Das heißt aber nicht, dass dieses Ideal einen Schlüssel bereitstellte, mit dem allen markanten Eigenschaften der Form eine Funktion zugeschrieben werden könnte. Die Gestaltung der gedichtinternen Kommunikationssituationen, die hier besonders ausführlich analysiert werden soll, scheint sich in wesentlichen Hinsichten an einem Konzept der politeness zu orientieren – und dabei eher an der Version Shaftesburys als an derjenigen Addisons und Steeles –, doch einige Aspekte dieser Kommunikation zwischen Sprecher und Adressat verweisen weniger auf dieses Ideal als auf die oben untersuchten Annahmen über moralische Motivation, die im Gedicht selbst skizziert werden: Die Art und Weise, wie der Sprecher mit dem Adressaten ‚umgeht‘, konkretisiert in gewissem Maße seine Position, der zufolge das moralische Handeln nicht ausschließlich und vielleicht auch nicht primär von den richtigen Einsichten oder Überzeugungen abhängt. Neben der Inszenierung der gedichtinternen Kommunikationssituationen nimmt die folgende Analyse zwei speziellere Aspekte der Form des Gedichts in den Blick: zum einen die ‚virtuosen‘ Reformulierungen von Argumenten, die den Lesern aus den zeitgenössischen Debatten vermutlich gut vertraut waren, zum anderen die Inhaltsangaben, mit denen Pope die vier Episteln ausstattete. Betrachtet man diese formalen Eigenschaften des Essay zusammen, so zeigt sich in ihnen auch eine der Spannungen oder Ambivalenzen, die in Popes komplexen Absichten enthalten waren, nämlich die Spannung zwischen dem Vorhaben, innerhalb der philosophischen Debatten eine bestimmte Position zu beziehen, und dem Bestreben, kein ‚eigentliches‘ philosophisches Werk zu liefern und sich von der üblichen Form philosophischer Kontroversen zu distanzieren.

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1.5.2 Die gedichtinternen Kommunikationssituationen Wie in der Einleitung ausgeführt wurde, gehört die explizite Ausgestaltung einer gedichtinternen Kommunikationssituation zu den konstitutiven Merkmalen des traditionellen Lehrgedichts. Auch in Popes Essay on Man werden interne Adressaten ausdrücklich genannt, und die Kommunikation zwischen ihnen und dem Sprecher wird auf elaborierte Weise in Szene gesetzt. Die vier Episteln des Essay on Man sind, wie schon die Titelseite des Werks anzeigt, an Bolingbroke adressiert. In dem Gedicht wird er allerdings nur selten ausdrücklich angesprochen, nämlich im Proömium der ersten und in der Coda der vierten Epistel; daneben findet sich in der vierten Epistel ein weiteres Mal die Anrede „my Lord“ (IV, 240). Weit häufiger wendet sich der Sprecher an einen namenlosen Gesprächspartner, der meist als Anhänger verfehlter Meinungen und Haltungen auftritt.185 Über weite Strecken lässt sich dieser namenlose Gesprächspartner eindeutig von Bolingbroke unterscheiden; erst in der vierten Epistel ist es bei einigen Anreden nicht ganz klar, ob ihr Adressat Bolingbroke oder der namenlose Gesprächspartner ist. Im Folgenden soll zunächst der Umgang des Sprechers mit seinem namenlosen Gesprächspartner untersucht werden. Im Anschluss daran kann in der Analyse der Rolle Bolingbrokes auch gezeigt werden, weshalb einige Anreden in der vierten Epistel sich nicht eindeutig einem der zwei Adressaten zuordnen lassen. 1.5.2.1 Die namenlosen Diskussionspartner Eines der auffälligsten Merkmale des Essay on Man, das dementsprechend häufig hervorgehoben wird, besteht in der Vielfalt an Stilebenen, ‚Tonlagen‘ oder Sprechweisen, zwischen denen Popes Sprecher wechselt.186 Dass er sich im Laufe des Gedichts „From grave to gay, from lively to severe“ (IV. 380) bewegt habe, ist innerhalb der Selbstdeutung des Schlussteils vermutlich die Aussage des Sprechers, die am unmittelbarsten als angemessen erscheint. Diese Variation im Ton zeigt sich auch und besonders deutlich in der Art und Weise, wie der Sprecher die namenlosen Adressaten anspricht, die er kritisiert und auf den richtigen Weg zu führen unternimmt. Die Figur des anonymen, als Vertreter sowohl ‚des Menschen‘ wie auch bestimmter Meinungen auftretenden Gesprächspartners wird in der ersten Epistel auf signifikante Weise eingeführt. Nach dem Proömium, in dem der Sprecher sich respektvoll-freundschaftlich an Lord Bolingbroke („my St. John!“) wendet, beginnt er seine Erörterungen damit, dass er die Begrenztheit der menschlichen

185 Vgl. Varey, „Rhetoric and An Essay on Man“, S. 133 f. 186 Vgl. etwa Rogers, The Major Satires of Alexander Pope, S. 51 f.

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Erkenntnisfähigkeiten hervorhebt. Dann ruft er unvermittelt aus: „Presumptuous Man!“ Es ist unverkennbar, dass der Sprecher hier nicht zu Bolingbroke spricht, da die Anrede einem Gattungsrepräsentanten („Man“) gilt und zudem einen Ton anschlägt, der in deutlichem Kontrast zu dem freundschaftlich-höflichen Tonfall des Proömiums steht. Ähnlich schroffe Zurechtweisungen des anonymen Gattungsvertreters finden sich noch mehrfach im Essay. Diese Passage vom Anfang der ersten Epistel sei daher stellvertretend etwas genauer untersucht: Presumptuous Man! the reason wouldst thou find, Why form’d so weak, so little, and so blind! First, if thou canst, the harder reason guess, Why form’d no weaker, blinder, and no less!

[I, 35–38]

Die Verse, die diesem Abschnitt direkt vorausgehen, spielen deutlich auf eine Passage aus dem Buch Hiob an, auf die zurechtweisenden Worte, die Gott aus dem Sturm zu Hiob spricht (Hiob 38–39). Die Anrede „Presumptuous Man“ kann daher ebenfalls zunächst an diese und vergleichbare Stellen der Bibel erinnern. Zugleich lassen diese Anrede und der folgende Satz an eine Predigt denken.187 Dichterische Aneignungen dieser aggressiven Anredeform konnte Pope sowohl in Drydens Religio Laici als auch in Blackmores Creation finden.188 In einer Predigt Joseph Butlers hingegen, die sich thematisch mit der ersten Epistel von Popes Essay berührt, findet sich keine Anrede der Leser oder Hörer, die dem aggressiv-zurechtweisenden Ton der Verse Drydens, Blackmores oder Popes auch nur nahe käme.189 Die Formulierung, mit der Popes Sprecher sich an seinen Gesprächspartner wendet, ist also auch im Vergleich mit dem Stil bedeutender Predigten seiner Zeit eine außergewöhnlich schroffe. Zugleich ist es eine Formulierung, die in Verbindung mit der Hiob-Allusion den Anspruch auf eine enorme Autorität auszudrücken scheint. Eben diese harsche, einschüchternde und autoritative

187 So auch Helen Vendler, Poets Thinking. Pope, Whitman, Dickinson, Yeats, Cambridge (MA)/London 2004, S. 13 f. 188 In Drydens Religio Laici finden sich die folgenden Anreden des kritisierten Deisten: „Vain, wretched Creature, how art thou misled | To think thy Wit these God-like Notions bred!“ (V. 64 f.) Ferner V. 93: „Dar’st thou, poor Worm, offend Infinity?“. Bei Blackmore werden die Atheisten als „[d]egenerate Minds“ beschimpft (Blackmore, Creation, S. 236). 189 Vgl. Joseph Butler, Fifteen Sermons Preached at the Rolls Chapel Upon the Following Subjects. [. . .], London 1726, S. 293–312 („Upon the Ignorance of Man“). Butler verwendet in dieser Predigt wiederholt das Pronomen „we“, betont also, dass seine Ausführungen über die menschliche Unwissenheit für ihn ebenso gelten wie für seine Zuhörer. Auf diesen Unterschied zur ersten Epistel von Popes Essay weist auch Solomon hin; vgl. Solomon, The Rape of the Text, S. 100.

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Redeweise wird aber bei Pope gleich im folgenden Verspaar ironisch unterlaufen. Schon mit der Aufforderung „the harder reason guess“ verlässt der Sprecher die hohe Stilebene des vorigen Verspaars und wählt einen weniger gewichtigen und weniger aggressiven Tonfall. Im folgenden Vers dreht er die dem Adressaten zugeschriebene Frage gewissermaßen um und variiert dabei leicht die Reihenfolge innerhalb des Trikolons: Aus „Why form’d so weak, so little, and so blind“ wird „Why form’d no weaker, blinder, and no less“. Damit lenkt er die Aufmerksamkeit vor allem auf die witzige und elegante Form dieser „mirror-question“.190 Wie ist es zu deuten, dass Pope seinen Sprecher für einen Moment den Gestus des zornigen Strafpredigers annehmen lässt, um diesen dann gleich wieder spielerisch zu relativieren?191 Der Sprecher schlüpft zwar momentweise in die Rolle des Predigers und scheint auch seine Autorität zu beanspruchen, markiert das aber gleich darauf als eine kurzzeitig übernommene Rolle.192 Es ist dabei

190 Von einer „mirror-question“ spricht hier Vendler, Poets Thinking, S. 13. Ein ‚echter‘ Prediger hingegen, so Vendler, würde die dem angeredeten „Presumptuous Man“ zugeschriebene Frage etwa so beantworten: „‚So that thou wouldst learn thy dependence on thy Maker‘“. (Ebd.) 191 Eine vergleichbare Stelle findet sich am Anfang der dritten Epistel. Hier wird der Gesprächspartner mit „thou fool“ angeredet, aber die Schroffheit der Anrede wird wieder durch einen witzigen Effekt in der folgenden Frage gemildert und relativiert: „Has God, thou fool! work’d solely for thy good, | Thy joy, thy pastime, thy attire, thy food?“ (III, 27 f.) Nach der Aufzählung von „joy“, „pastime“ und „attire“ erzeugt das schlichte „food“ am Ende den Effekt einer Antiklimax. Zudem weist die viergliedrige Aufzählung eine auffällige symmetrische Strukturierung auf: Am Anfang und am Ende stehen die einsilbigen Substantive, die zwei längeren Ausdrücke in der Mitte werden durch eine Assonanz verknüpft. Diese ‚artistische‘ Qualität des Verses sowie die Antiklimax mit „thy food“ können kaum dazu dienen, die demütigende Anrede „thou fool!“ zu verstärken; eher nehmen sie die strenge Haltung des Predigers, die diese Anrede evoziert hat, wieder zurück. – Vergleichbar mit diesen Stellen ist auch eine Passage aus der zweiten Epistel, in der der Sprecher zuerst als „wond’rous creature“ (II, 19) angesprochen wird; am Ende einer Reihe ironischer Aufforderungen heißt es: „Then drop into thyself, and be a fool!“ (II, 30) Kurz darauf folgt eine weitere Serie von Aufforderungen, die sich wiederum auf die Einstellung gegenüber den Wissenschaften bezieht, nun aber frei von ironischen und spöttischen Formulierungen ist (vgl. II, 43–52). 192 Vendler deutet die Wirkung der Passage so: „As soon as the torsion of the mirror-question (one improbable in homily) is created, surface becomes emphasized at least equally with content, and an element of farce, inconsistent with true homily, is produced.“ (Vendler, Poets Thinking, S. 14) Sie betrachtet diese Verse als ein Beispiel für die den gesamten Essay prägende Neigung Popes, etablierte Sprechweisen zu ‚miniaturisieren‘ und zu parodieren. Diese Beschreibung des Verfahrens ist ebenso überzeugend wie die Annahme einer parodistischen Absicht; aber es scheint mir wichtig zu sein, dass Pope hier nicht irgendeine Redeweise imitiert, sondern einen bestimmten Modus der Belehrung und Ermahnung.

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kaum eindeutig auszumachen, als wie weitreichend diese Distanzierung und Relativierung zu verstehen ist, inwiefern also trotz der witzigen Ironisierung etwas von dem kurzzeitig evozierten Modell der Predigt ‚bleiben‘ soll: Die Bezugnahme auf dieses Modell könnte immer noch die Funktion erfüllen, auf den Ernst der Thematik hinzuweisen. Jedenfalls macht der Sprecher aber deutlich, dass er diesen Modus der Anrede als einen von mehreren beherrscht und sowohl einsetzen als auch parodieren kann. Dies mag man auch als Popes Art deuten, das Ideal der politeness im Sinne Shaftesburys umzusetzen: Er lässt seinen Sprecher nicht die von Shaftesbury verschmähte Redeweise der „gravity“ einfach vermeiden, sondern zwischen einem gravitätischen und einem spielerischen Ton wechseln. Die eben untersuchte Passage ist auch ein Beispiel dafür, wie der Sprecher die dem anonymen Gesprächspartner zugeschriebene Position kurzerhand als absurd oder als Symptom einer anmaßenden Haltung abfertigt. An anderen Stellen hingegen lässt sich der Sprecher auf einen Dialog ein, zitiert Behauptungen oder Fragen des Adressaten und reagiert mit Argumenten oder Einwänden auf sie. Auch die Gestaltung dieser dialogischen Partien weist große Variationen auf. In der ersten Epistel fällt eine dieser Partien auf, weil der Sprecher den Adressaten seine Position besonders ausführlich formulieren lässt und sich beim Kritisieren dieser Position einer auf den ersten Blick verwirrenden, indirekten Strategie bedient.193 Die Position, die der Gesprächspartner vertritt, ist die des Anthropozentrismus, der zufolge alle geschaffenen Dinge den Zweck haben, dem Menschen als dem Gipfel der Schöpfung zu dienen. Der Sprecher kritisiert diese Überzeugung hier nicht direkt als eine Form der Anmaßung, sondern fragt zurück, ob zerstörerische Übel wie Erdbeben und Vulkanausbrüche nicht erhebliche Abweichungen von dieser auf den Menschen zugeschnittenen Naturordnung darstellen. Die Antwort des Adressaten kann auf den Leser zunächst irritierend wirken, weil er nun etwas behauptet, was der Sprecher selbst andernorts vertritt: Die Natur funktioniere eben nach allgemeinen Gesetzen, die gelegentlich auch solche Unglücke hervorbringen; außerdem sei nichts Geschaffenes vollkommen. Damit hat der Sprecher seinen Gesprächspartner dort, wo er ihn haben wollte, und fragt zurück: Wieso sollte dann ausgerechnet der Mensch vollkommen geschaffen sein? Und weshalb sollten moralische Übel wie das Auftreten von Tyrannen ein Argument gegen die Güte der Schöpfung sein, wenn natürliche Übel wie Erdbeben das nicht sind? Am Ende dieses Dialogs zeigt sich somit, dass die Strategie des Sprechers darauf zielte, eine Inkonsistenz innerhalb der Überzeugungen seines Gesprächspartners freizulegen.

193 Vgl. zu dieser Passage etwa: Nuttall, Pope’s ‚Essay on Man‘, S. 71–73.

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Mit diesem Dialog aus der ersten Epistel ist ein Abschnitt aus der vierten Epistel vergleichbar, in dem der Sprecher zwar nicht einen Widerspruch, aber doch einen Defekt in der Einstellung seines Gegenübers aufzudecken sucht.194 In der betreffenden Passage wird der Sprecher durch seinen Gesprächspartner mit dem Einwand konfrontiert, dass die Tugendhaften in dieser Welt häufig darben müssen (IV, 149 f.). Der Sprecher kritisiert zwar gleich zu Beginn die Vorstellung, Tugend müsse durch äußere Güter belohnt werden, lässt sich dann aber scheinbar auf diese Forderung ein und fragt seinen Gesprächspartner, ob er zufrieden wäre, wenn gute Menschen durch Reichtum belohnt wären. Die Reaktionen des Gesprächspartners zeigen, was der Sprecher offenbar von Beginn an erwartet hat: Keine Menge äußerer Güter könnte ihn zufriedenstellen, weil von Gott immer noch mehr verlangt werden könnte. Der Dialog führt somit zu einem ähnlichen Ergebnis wie der oben zitierte aus der ersten Epistel, ist aber stilistisch ganz anders gestaltet: ‚But sometimes virtue starves, while vice is fed.‘ What then? Is the reward of virtue bread? [. . .] The good man may be weak, be indolent, Nor is his claim to plenty, but content. But grant him riches, your demand is over? ‚No – shall the good want health, the good want power?‘ Add health, and power, and every earthly thing; ‚Why bounded power? why private? why no king?‘ Nay, why external for internal given? Why is not Man a God, and earth a heaven?

[IV, 149–162]

Die zitierten Einwürfe und Fragen des Adressaten sind meist sehr kurz und die Reaktionen des Sprechers prompt und direkt; die Abfolge von Rede und Gegenrede nimmt gelegentlich fast den Charakter einer Stichomythie an. Der Sprecher kritisiert die Positionen seines Gegenübers zwar sehr explizit, teilweise auch sarkastisch, aber ohne den Gestus der Überlegenheit oder Herablassung, den er in der ersten Epistel – wenn auch immer nur für einzelne Verse – gegenüber dem Wortführer des Stolzes einnimmt. Der Schlagabtausch aus der vierten Epistel scheint gewissermaßen auf Augenhöhe geführt zu werden. Dies ist einer der Gründe, weshalb man bei diesem Dialog und bei einigen anderen Stellen der vierten Epistel den Adressaten auch mit Bolingbroke identifizieren kann.

194 Zu der in der vierten Epistel gestalteten internen Kommunikationssituation vgl. die differenzierte Analyse bei Overton, The Eighteenth-Century British Verse Epistle, S. 122–124.

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II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte

Aber der Sprecher wendet sich nicht nur dort an seinen Gesprächspartner, wo er dessen Ansichten wiedergibt und kritisiert. Darüber hinaus spricht er seinen Adressaten sehr häufig mit Imperativen an.195 An diesen Stellen sucht er nicht die Auffassungen des Gesprächspartners als anmaßend oder widersprüchlich zu entlarven, sondern ihn zu einer anderen Haltung zu bewegen. Einen großen Teil dieser Imperative kann man zu zwei Gruppen zusammenfassen: Erstens finden sich sehr viele Aufforderungen zum Sehen, zur Betrachtung bestimmter Phänomene. Am häufigsten gebraucht der Sprecher den Ausdruck „See“ („See, thro’ this air, this ocean, and this earth, | All matter quick, and bursting into birth“; I. 233 f.),196 daneben aber gelegentlich auch „Mark“ (I. 209), „Lo!“ (I. 99), „Behold“ (II, 275) oder „Look“ (III, 7; IV, 217). Dabei handelt es sich bei den Gegenständen oder Sachverhalten, die der Adressat ‚sehen‘ soll, nur zum Teil um Objekte, die tatsächlich betrachtet werden können, zum Teil auch um psychische Vorgänge, abstrakte Sachverhalte oder um historische Ereignisse.197 Aber wenngleich die Imperative „See“ nicht immer wörtlich verstanden werden können, dürften sie stets einen Anspruch auf empirische Überprüfbarkeit ausdrücken. Zweitens formuliert der Sprecher die Schlussfolgerungen, die der Adressat aus den dargebotenen Sachverhalten und Argumenten ziehen soll, häufig in Imperativen. Dass es sich um Konsequenzen aus den vorher präsentierten Überlegungen handelt, wird dabei mehrfach mithilfe des Worts „then“ hervorgehoben: „Then say not Man’s imperfect, Heav’n in fault; | Say rather, Man’s as perfect as he ought“ (I, 69 f.); „Know then this truth (enough for Man to know) | ‘Virtue alone is Happiness below.’“ (IV, 309 f.).198 Auch wenn fast alle diese Imperative nicht an Bolingbroke, sondern an den namenlosen Gesprächspartner gerichtet sind, kann man sie – insbesondere die Aufforderungen zum Sehen – als eine Weiterführung der im Proömium etablierten Metapher vom Spaziergang durch „this scene of Man“ (I, 5) deuten. Der Sprecher führt seinen Gesprächspartner gewissermaßen durch diese Landschaft,

195 Vgl. dazu auch knapp: Varey, „Rhetoric and An Essay on Man“, S. 133. 196 Vgl. auch: II, 187, 267, 271, 273, 293; III, 9, 13, 15, 16, 169; IV, 99, 100, 101. Vgl. zur Häufigkeit solcher Aufforderungen und zur Wichtigkeit des visuell Wahrnehmbaren im Essay on Man auch Spacks, An Argument of Images, S. 60–72. 197 Um psychische Vorgänge geht es etwa in II, 187: „See anger, zeal and fortitude supply“; um ein Abstraktum in IV, 217 („Look next on Greatness; say where Greatness lies?“); um historische Vorgänge in IV, 99–101: „See FALKLAND dies, the virtuous and the just! | See god-like TURENNE [. . .]“. 198 Vgl. auch: I, 91, 281. – Als einen weiteren Typ von Imperativen könnte man das gelegentlich auftauchende „let“ ansehen, mit dem der Sprecher den Adressaten auffordert, bestimmte Lehrmeinungen oder Streitigkeiten zu ignorieren: „Let subtle schoolmen teach these friends to fight [. . .]“ (II, 81); „In lazy Apathy let Stoics boast [. . .]“ (II, 101).

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macht ihn auf eine Vielzahl von Phänomenen aufmerksam und erklärt ihm, welche Konsequenzen er aus diesen Wahrnehmungen ziehen sollte. In diese Deutung fügen sich auch die Anfangsverse der dritten Epistel ein, in denen der Sprecher durch das Pronomen „we“ und das Verb „rest“ die Vorstellung von einer mit dem Adressaten gemeinsam unternommenen Wanderung evoziert: „HERE then we rest: ‚The Universal Cause | ‚Acts to one end, but acts by various laws.‘“ (III, 1 f.) Die lange Reihe der Imperative, die sich durch den gesamten Essay zieht, ist besonders aufschlussreich im Hinblick auf die Frage, welches Ziel der Sprecher verfolgt, welche Art der Belehrung er beabsichtigt. Die vielen Aufforderungen zur Betrachtung bestimmter Phänomene zeigen zwar, dass der Sprecher sich in seiner Belehrung auf eine empirische Basis zu stützen beansprucht. Die Imperative, mit denen er den Adressaten zum Ziehen von Konsequenzen auffordert, geben aber in vielen Fällen auch zu erkennen, dass der Sprecher nicht meint, die beobachtbaren Phänomene allein könnten bestimmte Schlussfolgerungen erzwingen. Solche zwingenden Qualitäten schreibt etwa der Sprecher in Blackmores Creation den Naturerscheinungen zu, die er vor den Lesern und den im Gedicht angesprochenen Freigeistern Revue passieren lässt: Die Schönheit, Regelmäßigkeit und Kunstfertigkeit dieser Erscheinungen, so Blackmores Sprecher, kann nur durch die Annahme eines weisen und allmächtigen Schöpfergottes erklärt werden. Popes Sprecher hingegen weist zwar auch an entscheidenden Stellen auf Naturphänomene hin, aber sie scheinen für ihn nicht zwangsläufig bestimmte Schlüsse zu fordern, sondern eher bestimmte Einstellungen nahezulegen und zu fördern. Denn die Imperative des Sprechers offenbaren auch, dass die Konsequenzen, zu denen er den Adressaten bewegen will, nicht allein im Für-WahrHalten diverser Lehrmeinungen bestehen. Der Adressat soll insbesondere auch zu Einstellungen wie Hoffnung, Vertrauen und Demut gebracht werden. So heißt es in der ersten Epistel einmal: „Hope humbly then; with trembling pinions soar; | Wait the great teacher Death, and God adore!“ (I, 91 f.)199 Der Umgang des Sprechers mit seinem namenlosen Gesprächspartner lässt sich also zum Teil als am Ideal der politeness orientiert deuten, wobei Pope dieses Ideal allerdings auf eine eigenwillige Weise umsetzt, die sich etwa von der durch die Wochenschriften repräsentierten Version von politeness deutlich unterscheidet: Pope lässt seinen Sprecher nicht konsistent einen mittleren Stil verwenden, der von Gravität und Scherz, Förmlichkeit und Derbheit gleich weit entfernt ist; stattdessen wechselt der Sprecher zwischen kontrastierenden

199 Vgl. auch die Imperative im Schlussabsatz der ersten Epistel, auf die oben schon hingewiesen wurde: „Cease then, nor Order imperfection name: | Our proper bliss depends on what we blame“ (I. 281 f.)

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Anredeformen und lässt sie sich gegenseitig relativieren. Andere Aspekte der Beziehung des Sprechers zu seinem namenlosen Adressaten lassen sich hingegen zu den Auffassungen über die Motivation moralischen Handelns in Beziehung setzen, die im Essay selbst skizziert wird: Der Sprecher will seinen Adressaten nicht nur dazu bewegen, bestimmte Gedankengänge nachzuvollziehen und sich bestimmte Überzeugungen anzueignen, sondern gewissermaßen eine Transformation des ‚ganzen Menschen‘ herbeiführen, die bestimmte sinnliche Wahrnehmungen und Gefühle voraussetzt und Einstellungen wie Hoffnung, Vertrauen und Ergebenheit umfasst. 1.5.2.2 Bolingbroke Als der Sprecher am Ende der vierten Epistel Bolingbroke wieder direkt anspricht, sagt er über ihn: „Thou wert my guide, philosopher and friend“ (IV, 390). Der Sprecher stellt Bolingbroke hier also nicht als jemanden dar, den er über irgendetwas belehrt hätte, sondern eher als einen Mann, von dem er selbst belehrt worden sei und der als spiritus rector des poetisch-philosophischen Unternehmens fungiert habe. Im Proömium der ersten Epistel wird Bolingbroke zwar nicht als geistiger Mentor apostrophiert, aber noch weniger als ein ‚Schüler‘ des Sprechers. Die Metapher, in die der Sprecher hier das Vorhaben des Essay kleidet, ist die eines von Bolingbroke und ihm gemeinsamen unternommenen Spaziergangs oder Jagdausflugs durch die ‚Scene of Man‘. Doch damit ist die Beziehung zwischen dem Sprecher und dem Adressaten Bolingbroke noch nicht vollständig beschrieben. Bolingbroke erscheint zwar im Proömium der ersten Epistel nicht als jemand, der vom Sprecher belehrt, aber doch als jemand, der von ihm ‚geweckt‘ werden muss: „AWAKE, my ST. JOHN! leave all meaner things | To low ambition and the pride of Kings.“ (I, 1 f.) Der Imperativ „Awake“ ist, so legt es die folgende Aufforderung „leave all meaner things“ nahe, metaphorisch zu verstehen und besagt hier, dass Bolingbroke sich vom Streben nach geringfügigen, unwichtigen Gütern habe gefangen nehmen und betäuben lassen.200 Was diese ‚gemeinen Dinge‘ sind, wird nicht ausdrücklich gesagt, doch die Formulierung „pride of Kings“, die auf provozierende Weise durch den Reim mit „meaner things“ gleichgesetzt wird, lässt am ehesten an politische Ambitionen denken. Für Popes zeitgenössische Leser dürften sich Bezüge zum realen Lord Bolingbroke aufgedrängt haben, der in seiner wechselvollen Karriere nicht nur Königin Anna und kurzzeitig Georg I. gedient, sondern sich zeitweilig auch dem Thronprätendenten (James Francis Edward Stuart) angeschlossen hatte und nun als einer der Anführer der Opposition auf einen Sturz des Premierministers 200 Ähnlich zu der Aufforderung in I, 1 f.: Morris, Alexander Pope. The Genius of Sense, S. 159.

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Walpole hinarbeitete. Pope schrieb Ende 1734 in einem Brief an Swift, er habe Bolingbroke am Anfang seines Essay einen ‚warnenden Hinweis‘ gegeben, den dieser leider bisher nicht befolgt habe.201 Im Kontext dieser Briefäußerung wird deutlich, dass Pope Bolingbroke dazu bewegen wollte, seine philosophischen Überlegungen zu Papier zu bringen und zu veröffentlichen. In vergleichbarer Weise stellt der Sprecher im Gedichteingang den ‚niedrigen Ambitionen‘ und dem ‚Stolz der Könige‘ die Erforschung des Menschen gegenüber. Nach dieser Anrede im Proömium der ersten Epistel wird Bolingbroke erst zu Beginn der vierten Epistel, die das Wesen des Glücks („Happiness“) diskutiert, namentlich angesprochen (vgl. IV, 18). Auch innerhalb dieser Erörterungen findet sich einmal die Anrede „my Lord“ (IV, 240). Dies mag die Überzeugung des Sprechers ausdrücken, dass seine Gedanken über das Glück in besonderem Maße die Aufmerksamkeit Bolingbrokes verdienen, weil er Gefahr läuft, sein Glück am falschen Ort zu suchen. Allerdings äußert der Sprecher diese Befürchtung keineswegs direkt; vielmehr spricht er Bolingbroke zu Beginn als jemanden an, der mit dem Glück gesegnet sei, auf das Monarchen verzichten müssen.202 Später fügt er die Anrede „(my Lord)“ in Verse ein, die die Nichtigkeit des Ruhms verkünden.203 Berücksichtigt man aber, dass der Sprecher Bolingbroke am Anfang der ersten Epistel ‚wecken‘ und aus der Fixierung auf niedere Güter („meaner things“) befreien will, so kann man aus diesen Stellen der vierten Epistel implizite Ermahnungen an Bolingbroke heraushören, sein Glück nicht von Ruhm oder politischer Macht zu erhoffen, sondern zu erkennen, dass die Quellen des wahren Glücks ihm auch in seinem jetzigen Zustand – als ein ämterloser, beargwöhnter, in seinen Handlungsmöglichkeiten stark eingeschränkter Politiker – zugänglich sind.204

201 Vgl. Alexander Pope an Jonathan Swift, Brief vom 19.12.1734, in: Corr. III, S. 444 f., hier S. 445: „Lord B. is voluminous, but he is voluminous only to destroy volumes. I shall not live, I fear, to see that work printed, he is so taken up still (in spite of the monitory Hint given in the first line of my Essay) with particular Men, that he neglects mankind, and is still a creature of this world, not of the Universe [. . .].“ 202 Vgl. IV, 15–18: „Fixed to no spot is happiness sincere, | ’Tis nowhere to be found, or everywhere, | ’Tis never to be bought, but always free, | And fled from monarchs, ST JOHN! dwells with thee.“ 203 Vgl. IV, 237–240: „What’s Fame? a fancy’d life in other’s breath, | A thing beyond us, ev’n before our death. | Just what you hear, you have, and what’s unknown | The same (my Lord) if Tully’s or your own.“ 204 Vgl. zu der Beziehung zwischen dem Sprecher und Bolingbroke in der vierten Epistel auch: Piper, „The Conversational Poetry of Pope“, S. 512–515. Piper zufolge muss der Sprecher in dieser Epistel entdecken, dass Bolingbroke sich nicht als glücklich wahrnimmt und also seine, des Sprechers, Ansichten über das Glück nicht teilt. Dass für Piper diese

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II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte

Der Sprecher des Essay on Man beansprucht somit gegenüber Bolingbroke nie die Position eines Lehrers, übernimmt aber in der ersten und der vierten Epistel momentweise die Rolle eines freundschaftlichen Mahners. Dass die relativ spärlichen direkten Anreden Bolingbrokes damit nicht überinterpretiert sind, lässt sich vor allem durch den Hinweis auf andere Episteln Popes erhärten, in denen er eine vergleichbare Beziehung zwischen Sprecher und Adressat expliziter und elaborierter ausgestaltet.205 Zu ihnen gehören auch (mindestens) zwei der Episteln, die für Pope zusammen mit dem Essay on Man ein umfassendes Werk zur Ethik bilden sollten, nämlich die Episteln To Bathurst und To Cobham.206 Charakteristisch für die in diesen Episteln gestalteten Kommunikationssituationen ist, dass Sprecher und Adressat durch ein freundschaftliches oder zumindest respektvolles Verhältnis verbunden, aber dennoch über eine substanzielle Frage unterschiedlicher Meinung sind und dass der Sprecher den Adressaten zu einer Meinungsänderung zu bewegen sucht, ohne die Freundschaft zu gefährden. Ansatzweise kann man eine solche Kommunikationssituation auch im Essay on Man, vor allem in der vierten Epistel, verwirklicht finden. 1.5.3 Virtuose Reformulierungen bekannter Gedanken Dass der Essay durch eine Vielfalt von Stilebenen und Sprechweisen gekennzeichnet ist, wurde oben bereits erwähnt und anhand des Verhältnisses zwischen dem Sprecher und seinen Adressaten auch exemplarisch gezeigt. Um Variation scheint sich Pope aber auch insofern zu bemühen, als er mehrfach Gedanken, die seinen Lesern aus dem zeitgenössischen Schrifttum geläufig gewesen sein dürften, eine originelle und dabei meist offen auf die Demonstration von Virtuosität angelegte Form gibt.207 Mit dem zugegebenermaßen unscharfen Ausdruck ‚virtuos‘ soll hier ein Stil charakterisiert werden, der etwa durch die gehäufte und betonte Verwendung rhetorischer Figuren, ungewöhnliche Wortwahl oder eine auffällige

Unzufriedenheit Bolingbrokes, die in meinen Augen nur indirekt angedeutet wird, offen zutage tritt, liegt daran, dass er den Gesprächspartner, auf dessen skeptische Einwürfe der Sprecher antwortet (vgl. etwa IV, 131 f., 149, 199, 218), mit Bolingbroke gleichsetzt. Mir scheint, dass das zumindest nicht eindeutig ist und dass diese Einwürfe ebenso gut von dem namenlosen Gesprächspartner stammen könnten, mit dem Popes Sprecher sich in den ersten drei Episteln auseinandergesetzt hat. 205 Vgl. dazu Piper, „The Conversational Poetry of Pope“. 206 Zur Epistel To Cobham unter diesem Gesichtspunkt vgl. John E. Sitter, „The Argument of Pope’s Epistle to Cobham“, in: Studies in English Literature, 1500–1900, 17/1977, 3, S. 435–449. 207 Für diese Partien, die Annahmen oder Argumente mit topischem Charakter formulieren, lässt sich somit auch sagen, dass sie dem Ideal des „What oft was said, but ne’er so well expressed“ aus Popes Essay on Criticism verpflichtet sind.

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Handhabung von Metrum und Rhythmus gekennzeichnet ist und dabei auf witzige Effekte oder auf Pointen angelegt zu sein scheint. Beispiele für diese virtuose Reformulierung bekannter Gedanken bieten die Sequenz aus der ersten Epistel, die den häufig zitierten Vers „Die of a rose in aromatic pain“ enthält, sowie der ebenso berühmte Eingangsabschnitt der zweiten Epistel. Der erste dieser Abschnitte bietet die Antwort des Sprechers auf die vom namenlosen Gesprächspartner vorgebrachte Klage, dass der Mensch nur unvollkommene Sinnesorgane besitze. Diese Beschwerde wird auch in Richard Bentleys Beitrag zu den Boyle Lectures und in James Thomsons The Seasons (1726–1730) aufgegriffen und zurückgewiesen, und der Sprecher in Popes Essay verwendet in der Kritik dieser Klage dasselbe Argument wie Bentley und Thomson: Der Mensch würde die Empfindungen, die ihm schärfere Sinnesorgane verschafften, gar nicht ertragen oder jedenfalls als schmerzhaft wahrnehmen.208 Bei Pope wird dieser Gedanke in eine Form gekleidet, die eine symmetrische Gliederung der Verssequenz mit lexikalischer Variation und inhaltlicher Zuspitzung verknüpft: The bliss of Man (could Pride that blessing find) Is not to act or think beyond mankind; No pow’rs of body or of soul to share, But what his nature and his state can bear. Why has not Man a microscopic eye? For this plain reason, Man is not a Fly. Say what the use, were finer optics giv’n, T’inspect a mite, not comprehend the heav’n? Or touch, if tremblingly alive all o’er, To smart and agonize at ev’ry pore? Or quick effluvia darting thro’ the brain, Die of a rose in aromatic pain? If nature thunder’d in his op’ning ears, And stunn’d him with the music of the spheres, How would he wish that Heav’n had left him still The whisp’ring Zephyr, and the purling rill? Who finds not Providence all good and wise, Alike in what it gives, and what denies?

[I, 189–206]

208 Zur Verbreitung dieses Gedankens in der zeitgenössischen theologischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Literatur vgl. den Kommentar Macks zu I, 193–206. In Thomsons The Seasons finden sich entsprechende Aussagen in der Spring-Fassung von 1728 (Verse 161–168) und in Summer (Verse 313–317). Vgl. James Thomson, The Seasons. James Sambrook (Hrsg.). Oxford 1981, S. 11, 74.

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Die Passage209 beginnt mit vier Versen, die das zentrale Argument in klarer Sprache formulieren – der Mensch ist genau mit den körperlichen und geistigen Fähigkeiten ausgestattet, die er braucht und die ihm nützen können –, und sie schließt mit einer rhetorischen Frage, die in ähnlich schlichter Sprache den bekannten Schluss mit Bezug auf die göttliche Vorsehung nahe legt. Diese vergleichsweise geradlinigen Formulierungen dienen aber als Rahmen für eine viergliedrige Beispielreihe, deren sprachliche Gestaltung offenkundig weniger auf argumentative Effizienz als auf eine Kombination von Witz und Brillanz und damit auf das Vergnügen des Lesers abzielt. Charakteristisch für diese Passage ist unter anderem der Wechsel zwischen kurzen angelsächsischen Wörtern („Fly“, „mite“, „touch“, „pore“) und mehrsilbigen Wörtern lateinischen Ursprungs, von denen einige einen besonders gesuchten oder szientifischen Anstrich haben („microscopic“, „agonize“, „effluvia“, „aromatic“). Die Antwort „For this plain reason, Man is not a Fly“ hat aufgrund der Verbindung von pedantischernsthafter Form und trivialem Gehalt einen komischen, der Vers „Die of a rose in aromatic pain“ mit seinem doppelten Oxymoron einen verblüffenden Effekt. Assonanzen („thunder’d“ / „stunn’d“) und Lautmalereien („whisp’ring Zephyr“) unterstützen die Behauptungen auf der lautlichen Ebene. Im Gegensatz zu diesen Aspekten der Form fällt die symmetrische Strukturierung der Passage vermutlich erst bei der wiederholten Lektüre auf: Der Abschnitt behandelt vier menschliche Sinne und verwendet auf sie jeweils vier, zwei, zwei und wieder vier Verse.210 Ein weiteres Beispiel für eine solche virtuose Reformulierung vertrauter Gedanken bietet die Eingangspassage der zweiten Epistel (vgl. II, 3–18). Genau genommen sind es zwei bekannte, geradezu topische Gedanken, die hier variiert werden: zum einen die Vorstellung, dass der Mensch auf der Stufenleiter der Wesen in der Mitte zwischen Tieren und Engeln platziert ist, zum anderen der Gedanke, dass der Mensch ein zutiefst widersprüchliches Wesen sei. Der auffälligste formale Zug dieser Passage besteht in der Aneinanderreihung antithetischer Aussagen über den Menschen, die dem Abschnitt ein einheitliches Gepräge gibt, dabei aber in der grammatischen Formung der Antithesen so viele Variationen enthält, dass kaum der Eindruck des Monotonen oder Statischen entstehen kann. Ferner ist diese Passage durch eine besonders kalkuliert wirkende Verwendung der Mittelzäsur gekennzeichnet. Zu Beginn des Abschnitts soll eine

209 Vgl. die Analyse bei Vendler, Poets Thinking, S. 14–16, der ich in mehreren Punkten folge. 210 Gesichtssinn: V. 193–196; Tastsinn: 197 f.; Geruch: 199 f.; Gehör: 201–204. Vgl. zu dieser quantitativen Aufteilung auch: Vendler, Poets Thinking, S. 15. Dass Pope vier, aber nicht alle fünf Sinne behandelt, gehört für Vendler zum „parodic rewriting of philosophical ‚ideas‘“ (ebd., S. 14).

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ungewöhnlich harte, durch ein Semikolon markierte Zäsur offenbar das In-derMitte-Hängen des Menschen klanglich exemplifizieren: „He hangs between; in doubt to act, or rest, [. . .]“ (II, 7). In den Versen 12 bis 17 dann rückt die Zäsur innerhalb des zehnsilbigen Verses immer weiter nach vorn211; den dadurch entstehenden rhythmischen Effekt kann man als eine Beschleunigung beschreiben, die das ‚Schwindelerregende‘ der Widersprüche im Menschen illustriert. Der Schlussvers des Abschnitts bietet eine Pointe sowohl für die Sequenz der Antithesen als auch für die Verschiebung der Zäsur, denn dieser Vers nennt erstmals nicht nur zwei, sondern drei Prädikate für den Menschen und enthält damit auch zwei gleich starke Zäsuren: „The glory, jest, and riddle of the world!“ (II, 18) 1.5.4 Die Inhaltszusammenfassung und ihr Verhältnis zum Gedicht Als Pope im April 1734 erstmals die vier Episteln des Essay on Man zusammen veröffentlichte, stellte er ihnen eine Inhaltszusammenfassung mit der Überschrift „Contents“ voran. Sie resümiert den Inhalt jeder Epistel in kurzen Aussagesätzen oder Nominalphrasen, auf die jeweils Versangaben folgen. Im Lichte dessen, was die Analyse bisher als kennzeichnend für die Gestaltung des Gedichts herausgearbeitet hat, kann Popes Hinzufügung dieser Zusammenfassungen überraschend erscheinen, da sie für den Leser den Eindruck nahelgen, der Gehalt des Essay lasse sich annähernd verlustfrei in einer solchen Paraphrase erfassen.212 In den Episteln selbst hingegen wird die Variation von Stilebenen und Redeweisen so deutlich hervorgehoben, dass man kaum den Eindruck bekommt, sie sei nur eine ablösbare Einkleidung des Gedankengangs. Noch wichtiger ist, dass, wie oben dargelegt wurde, die an den anonymen Adressaten gerichteten Imperative des Sprechers vielfach Aufforderungen zum Sehen, aber auch zum Hoffen, zum Vertrauen, zur Einübung in Demut sind. Schließlich scheinen sowohl einige Sätze aus der Vorrede wie auch einige meta-poetische Passagen des Gedichts die dem politeness-Ideal affine Überzeugung auszudrücken, dass die kultivierte Form bei der Erörterung moralischer Fragen eine wesentliche Rolle zu spielen hat. Alle diese Eigenschaften des Gedichts lassen den Versuch problematisch erscheinen, die Inhalte der Episteln in einigen Thesen zu resümieren.

211 Verse II, 12–13: Zäsur nach der siebten Silbe; Verse II, 14–15: nach der sechsten Silbe; II, 16: nach der fünften Silbe; II, 17: nach der vierten Silbe. – Vgl. auch die Analyse bei: Vendler, Poets Thinking, S. 31 f. 212 Vgl. James McLaverty, Pope, Print and Meaning, Oxford 2001, S. 119: „The more subtle the poem, the greater the demands it makes on the reader, the more difficult the task of summary. The problem for Pope is that the contents may have fostered a misreading of the poem itself.“

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Berücksichtigt man hingegen Popes erklärte Absicht, zwischen den Extremen gegensätzlicher Doktrinen ‚hindurchzusteuern‘, so wirkt die Entscheidung für die Inhaltsangaben eher plausibel. Um dieses Vorhaben umzusetzen, musste der Essay auch Positionen beziehen, die als mittlerer Kurs oder Vermittlung zwischen solchen Gegensätzen identifizierbar waren, und wie die Analyse oben zu zeigen versucht hat, lassen sich den Episteln solche Positionen auch durchaus entnehmen. Auch mit dem Vorhaben, ein großes philosophisches Gedicht zu bieten, war die Hinzufügung der Inhaltsangabe für die zeitgenössischen Leser vermutlich vereinbar: James McLaverty hat darauf hingewiesen, dass eine 1713 erschienene Lukrez-Edition, von der Pope ein Exemplar besaß, vom Herausgeber mit solchen Inhaltszusammenfassungen versehen wurde, die ebenfalls aus kurzen Aussagesätzen oder Themen mit Versangaben bestanden.213 Dass die Inhaltsangaben sich in manchen Hinsichten schlüssig in Popes Gesamtprojekt einfügen, in anderen Hinsichten als potentiell irreführend erscheinen, verweist auf die Spannungen, die für dieses Gesamtprojekt konstitutiv waren. Auf diese Ambivalenzen wird auch im Resümee zu diesem Teil zurückzukommen sein. Zunächst ist eine weitere Facette des Projekts noch näher zu betrachten: die Tatsache, dass der Essay on Man von Pope in das größere Werk der Ethic Epistles integriert wurde.

1.6 Zum zweiten Buch der Ethic Epistles: Die Epistel To Bathurst Im Folgenden soll die oben gestellte Frage nach dem Verhältnis des Essay on Man zum zweiten Buch der Ethic Epistles wieder aufgegriffen und für eine dieser Episteln eingehender erörtert werden. Die Untersuchung konzentriert sich auf die Epistel To Bathurst, weil sie eine besonders aufschlussreiche Beziehung zum Essay aufweist und einige seiner Ziele und Argumentationen besser zu verstehen hilft.214 Das bedeutet allerdings auch, dass die Befunde zu dieser Epistel nur zum Teil verallgemeinert und auf das ganze zweite Buch der Ethic Epistles bezogen werden können. Die Differenzen zwischen dem zweiten Buch der Ethic Epistles (bzw. den Moral Essays) und dem Essay on Man sind Pat Rogers zufolge so augenfällig, dass kaum nachzuvollziehen sei, weshalb sie für Pope so eng zusammengehörten:

213 McLaverty zufolge war das Vorbild für Popes Inhaltsangabe „almost certainly Michael Maittaire’s edition of Lucretius, De Rerum Natura (1713)“ (McLaverty, Pope, Print and Meaning, S. 118). 214 Der Text wird zitiert nach: Alexander Pope, Epistle III. To Allen Lord Bathurst. In: TE III.ii, S. 83–125. Zitate werden durch Angabe der Verszahl im Haupttext nachgewiesen.

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It comes as a surprise that the four Moral Essays belong to the same scheme and indeed appear to have almost coalesced in Pope’s mind with the Essay on Man. They seem to us much better examples of his mature skill. They give us not abstract speculation (apart from the first half of the Epistle to Cobham) but lively pictures of humanity in action. Pope has moved from dogma and theory to the world of men and events, where he is always at his strongest.215

Für Rogers bewegt sich An Essay on Man allein in der Sphäre abstrakter Theorie, während sich das zweite Buch der Ethic Epistles der konkreten Welt menschlicher Individuen und ihrer Handlungen und Erfahrungen zuwende. Ob man sich den von Rogers formulierten Wertungen anschließen muss, kann hier dahingestellt bleiben, doch seine allgemeine Beschreibung eines hervorstechenden Unterschieds zwischen den zwei Texten ist als solche überzeugend. Im Folgenden ist daher unter anderem zu präzisieren, inwiefern die Ethic Epistles und insbesondere die Epistel an Bathurst „lively pictures of humanity in action“ bieten. Unerwähnt lässt Rogers in dem obigen Zitat, dass zumindest eine inhaltliche Verbindung zwischen dem Essay on Man und den Ethic Epistles offen zutage liegt und von Pope auch deutlich markiert wurde: Mehrere Episteln des zweiten Buchs beziehen sich auf das Konzept der ‚ruling passion‘, das in der zweiten Epistel des Essay on Man vorgestellt wird, und wenden es auf die Analyse von realen oder fiktiven Personen an. Diese inhaltlichen Verbindungen hat Miriam Leranbaum in ihrer Studie über Popes Opus magnum (so der Titel, den Pope in einem Brief für das geplante Werk zur Ethik gebrauchte) systematisch erfasst und teilweise auch eingehender analysiert.216 Doch das Konzept der ‚ruling passion‘ ist in erster Linie ein psychologisches Konzept. Da im Zentrum der Ethic Epistles offensichtlich die Ethik stehen sollte, ergibt sich die Frage, ob es auch einen inhaltlichen Nexus zwischen den im engeren Sinne ethischen Gedankengängen des zweiten Buchs der Ethic Epistles und dem Essay on Man gibt. Für die Epistel an Bathurst lässt sich tatsächlich ein solcher Nexus aufzeigen, der zudem auch für die Deutung des Essay instruktiv ist. Verschiedene Interpreten haben die Ansicht vertreten, dass Popes zentrale Interessen im Essay in erster Linie der Ethik, nicht dem Theodizee-Problem als solchem oder anderen philosophischtheologischen Fragen gelten, dass er aber mithilfe der Diskussion der TheodizeeFrage eine Grundlage für die Ethik schaffen wolle.217 In mehreren Fällen bleibt dabei unklar, um was für eine Art von ‚Grundlegung‘ es den Interpreten zufolge

215 Pat Rogers, An Introduction to Pope, London 1975, S. 67. 216 Vgl. Leranbaum, Alexander Pope’s ‘Opus Magnum’, S. 64–130. 217 Vgl. Hellwig, Alles ist gut, S. 53 f.; Damrosch, The Imaginative World of Alexander Pope, S. 161 f.

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geht; andere Forscher haben ausdrücklich die Ansicht vertreten, dass Pope moralische Normen setzen und begründen wollte und dass er zu diesem Zweck das Modell der chain of being herangezogen habe.218 Die Epistel an Bathurst, so soll im Folgenden gezeigt werden, legt die Vermutung nahe, dass die ethische Relevanz, die Pope dem im Essay on Man evozierten ‚Weltbild‘ zusprach, eine andere war und dass es ihm weniger um eine Begründung von Normen als um die Frage nach den motivationalen Grundlagen der Moral ging. 1.6.1 Falscher und richtiger Gebrauch des Reichtums Der unter dem Kurztitel Epistle to Bathurst oder einfach To Bathurst bekannte Text erschien zuerst im Januar 1733, also kurz vor der ersten Epistel des Essay on Man.219 Der vollständige Titel lautete Of the Use of Riches, an Epistle to the Right Honorable Allen Lord Bathurst. In der 1735 erschienenen Gesamtausgabe seiner Werke machte Pope den Text zu „Epistle III“ des zweiten Buchs seiner „Ethic Epistles“, deren erstes Buch der Essay on Man bildete. Bei einer Rekonstruktion des Gedankengangs der Epistle to Bathurst ist es hilfreich, zwei Ebenen oder Stränge zu unterscheiden. Zum einen bietet die Epistel eine Erörterung des im Titel benannten Themas: „Of the Use of Riches“. Diese Erörterung ist teils deskriptiv orientiert, widmet sich also dem Gebrauch, den Menschen tatsächlich von ihren Besitztümern machen; zugleich ist sie evaluativ und präskriptiv ausgerichtet, verbindet also die Betrachtung des faktischen Verhaltens der Menschen mit Wertungen und mit Aussagen darüber, worin der richtige Umgang mit Reichtümern besteht. Zum anderen präsentiert die Epistel eine Auseinandersetzung zwischen dem Sprecher und seinem Adressaten Bathurst, und den Ausgangspunkt dieser Auseinandersetzung bildet eine Frage, die zwar mit den Fragen nach dem tatsächlichen und dem richtigen Gebrauch von Reichtümern zusammenhängt, aber dennoch von ihnen distinkt ist. Die Analyse wendet sich im Folgenden zunächst dem ersten, dann dem zweiten der unterschiedenen Stränge

218 Vgl. Kramnick, Bolingbroke and His Circle, S. 221; Müllenbrock, Popes Gesellschaftslehre, etwa S. 17. 219 Zur Publikationsgeschichte der Epistle to Bathurst vgl. die „Note on the Text“ des Herausgebers in: Pope, Epistles to Several Persons [= TE III.ii], hrsg. von F. W. Bateson, S. 76. – Kompliziert wird die Druckgeschichte der Epistel an Bathurst durch die Abweichungen, die die 1744 posthum erschienene Neuausgabe der „Ethic Epistles“ enthielt. Pope hatte diese Ausgabe selbst noch vorbereitet, war dabei aber von Warburton unterstützt worden. Die in dieser so genannten „‘death bed’ edition“ von 1744 enthaltene Version der Epistle to Bathurst enthält eine Reihe von Änderungen, die sich wahrscheinlich Eingriffen Warburtons verdanken und die von Bateson daher in seiner Edition wieder rückgängig gemacht wurden (vgl. Bateson, „Note on the Text“, S. 76–80).

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zu. Anhand des ersten Strangs, der Diskussion um den richtigen und falschen Umgang mit Reichtümern, kann exemplarisch untersucht werden, wie die Epistel an Bathurst und das zweite Buch der Ethic Epistles überhaupt das vorführen, was Rogers „lively pictures of humanity in action“ genannt hat. Der zweite Strang, die Auseinandersetzung zwischen dem Sprecher und Bathurst, ist dagegen von besonderem Interesse im Hinblick auf die Beziehung der Epistel zum Essay on Man. Darüber hinaus bietet diese Auseinandersetzung ein instruktives Beispiel dafür, wie Pope in seinen späteren Episteln die gedichtinterne Kommunikationssituation inszeniert. Die Grundzüge der Antwort, die die Epistel auf die allgemeine Frage nach dem rechten Umgang mit Reichtümern gibt, lassen sich recht einfach zusammenfassen, da die Antwort in einigen Passagen explizit formuliert wird: Der Sprecher der Epistel verurteilt die entgegengesetzten Extreme des Geizes und der Verschwendung und propagiert stattdessen einen Mittelweg. Diese mittlere Haltung wird von Personen verkörpert, die ihren Besitz auf maßvolle Weise zu genießen verstehen und die ihn benutzen, um das Wohl der Allgemeinheit zu fördern und den Schwachen der Gesellschaft zu helfen. Diese allgemeinen Lehren über den wahren und falschen Gebrauch von Reichtümern haben offenkundig einen weitgehend traditionellen Charakter. Wasserman hat die These plausibel gemacht, dass Pope sich in dieser Epistel wie auch in der Epistel To Burlington, die ebenfalls den Titel „Of the Use of Riches“ trägt, an den Ausführungen über Großzügigkeit und Freigebigkeit in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik orientierte.220 Originelle oder jedenfalls spezifische Züge erhält die Diskussion des Oberthemas „Of the Use of Riches“ durch die vom Sprecher angeführten Exempel für die richtigen und falschen Umgangsweisen mit Reichtum. Bei diesen Exempeln handelt es sich großenteils um reale Zeitgenossen Popes, die vom Sprecher auch mit ihrem echten Namen angeführt werden. In vielen Fällen liefern Fußnoten detaillierte Informationen zu diesen Personen, die ihre Eignung als Exempel für die jeweils in Rede stehende Einstellung beglaubigen. Einige Beispielfiguren tragen zwar erfundene Namen, waren aber als Anspielungen auf reale Personen erkennbar.221 Der Sprecher beschließt seine Ausführungen mit

220 Vgl. Wasserman, „A Critical Reading“, S. 36–39. – Wasserman verweist hier auch auf eine schon von Mack zitierte Notiz in einem der Manuskripte zum Essay on Man, in der Pope festhält, für Aristoteles stelle die Mitte zwischen entgegengesetzten Leidenschaften eine Tugend dar, während die Extreme Laster seien. Vgl. ebd., S. 36 mit Anm. 87; TE III.i (Essay on Man), S. 69, Anmerkung des Herausgebers zu den Versen II, 117 f. 221 Von der Figur „Old Cotta“ (179) nehmen Interpreten an, dass sie auf Sir John Cutler verweisen sollte, der an anderen Stellen in der Epistel auch namentlich genannt wird (vgl. 315–334).

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der Geschichte von einem Mann namens Balaam, der als fiktive Figur vorgestellt wird. Auch hier gibt es Indizien dafür, dass Pope diese Figur nach dem Vorbild realer Personen gezeichnet hat, und da es sich um bekannte Personen handelte, ist zumindest nicht auszuschließen, dass diese Ähnlichkeiten auch für Popes zeitgenössische Leser erkennbar waren.222 Howard Erskine-Hill hat in seiner grundlegenden Studie The Social Milieu of Alexander Pope gezeigt, dass Pope eingehende Recherchen betrieben hat, um Informationen über die in der Epistel an Bathurst und anderen Episteln erwähnten Personen zu sammeln.223 Ein auffälliges Muster innerhalb der Reihe von Exempeln ergibt sich daraus, dass als Beispiele für verwerfliche Haltungen mehrfach Personen aus der neuen Londoner Finanzwelt dienen, während als Verkörperung des richtigen Umgangs mit Geld und Besitz vor allem Angehörige des hohen oder auch niederen Adels fungieren, die auf ihren Landsitzen eine traditionelle patriarchalische Ordnung aufrechterhalten. Mithilfe der Exempla etabliert Pope einen Kontrast zwischen der Londoner City und ihren neuen Geschäfts- und Finanzpraktiken224 auf der einen Seite und der traditionellen sozialen und ökonomischen Ordnung, die durch den Landadel realisiert und aufrechterhalten wurde, auf der anderen Seite.225 Zu den Beispielen für Geiz oder für einen anderweitig verwerflichen Umgang mit Reichtümern gehören etwa einer der Gründer der Bank of England226 sowie Personen, die in aufsehenerregende Skandale verwickelt waren. Mehrfach wird John Blunt erwähnt, einer der Direktoren der South Sea Company, deren betrügerische Praktiken 1720 zahlreiche Anleger um ihr Geld gebracht hatten.227 Der in Vers 102 genannte Denis Bond war an der Charitable Corporation beteiligt, die laut ihrer Satzung eigentlich den Bedürftigen in

222 Vgl. Erskine-Hill, The Social Milieu, S. 263 f. 223 Vgl. ebd., passim. 224 Zu den Neuerungen im englischen Finanzwesen seit dem späten 17. Jahrhundert vgl. weiterhin das Standardwerk von P. G. M. Dickson, The Financial Revolution in England. A Study in the Development of Public Credit 1688–1756. Reprint with new introduction. Aldershot 1993 [zuerst 1967]. 225 Vgl. Erskine-Hill, The Social Milieu, S. 259; Edwards, This Dark Estate, S. 51. 226 Mit dem in Vers 103 erwähnten „Sir Gilbert“ ist, wie Popes Anmerkung erläutert, Sir Gilbert Heathcote gemeint, einer der Gründer der Bank of England. 227 Zum Skandal der South Sea Bubble vgl. weiterhin Dickson, The Financial Revolution, S. 90–156; aus der neueren Forschung v. a. Helen J. Paul, The South Sea Bubble. An Economic History of its Origins and Consequences, London/New York 2011. Zu den zahlreichen literarischen Reaktionen auf den Skandal vgl. Silke Stratmann, Myths of Speculation. The South Sea Bubble and 18th-century English Literature, München 2000; eine knappe Darstellung der Geschichte der South Sea Company ebd., S. 32–44. Teile der Untersuchung bereits in dies., ‚South Sea’s at best a mighty BUBBLE‘. The literization of a national trauma, Trier 1996.

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London kleine Geldsummen gegen geringe Zinsen leihen sollte, stattdessen aber reichen Kunden in der City große Geldsummen gegen hohe Zinsen geliehen hatte; dieser Betrug war 1732/1733 aufgedeckt worden.228 Die wichtigsten Fakten zu diesen Skandalen teilt Pope in den Anmerkungen mit. Ein Vergehen, das in der Darstellung dieser Beispiele wie auch bei anderen Negativexempeln hervorgehoben wird, besteht in der Weigerung, übernommene Verpflichtungen oder traditionelle Verantwortlichkeiten für die Mitmenschen wahrzunehmen.229 Als positive Gegenbeispiele treten zuerst die Lords Bathurst und Oxford auf, die der Sprecher für ihren maßvollen Umgang mit ihrem Besitz, für ihre Unterstützung der Armen und Schwachen sowie ihre Förderung von Künstlern und Gelehrten lobt (vgl. 219–248). Am ausführlichsten und emphatischsten aber wird John Kyrle, der „MAN of ROSS“ (250), gepriesen, ein landbesitzender Gentleman aus der Provinz, der sein bescheidenes Vermögen auf vielfältige Weisen zum Nutzen der Bevölkerung in seiner Region einsetzt. Die ihm gewidmete Passage würdigt nicht nur Kyrles materielle Unterstützung seiner Mitmenschen, etwa die regelmäßige Verteilung von Essen, die mit einer auf Christus anspielenden Formulierung beschrieben wird, sondern auch seine zugleich an praktischen und ästhetischen Maßstäben orientierte Gestaltung der Natur.230 John Kyrle und die anderen in der Epistel erwähnten Personen wurden hier als Beispiele oder Exempel bezeichnet, und diese Funktion erfüllen sie in der Tat im Rahmen des Gedankenganges. Dennoch ist die Rede von ‚Beispielen‘ mit einem Vorbehalt zu versehen: Die Porträts der Figuren werden zum Teil ausführlich entwickelt und erhalten so ein beträchtliches Eigengewicht; zudem handelt es sich fast ausschließlich um reale Personen der Gegenwart Popes oder der jüngsten Vergangenheit oder um erfundene Figuren, die mit Zügen von Zeitgenossen ausgestattet werden. Daher ist der Eindruck kaum zu vermeiden – und war wahrscheinlich auch für Popes zeitgenössische Leser nicht zu vermeiden –, dass diese Figuren nicht nur als Illustrationen allgemeiner Gedanken dienten, sondern auch selbst mit zum zentralen Gegenstand der Epistel gehören. Die Epistel To Bathurst stellt somit nicht nur eine Reflexion über das 228 Vgl. Dickson, The Financial Revolution, S. 155; zu Denis Bond ebd., S. 188. Zu Parallelen zwischen den Vorgängen um die South Sea Company und die Charitable Corporation vgl. ebd., S. 155: „The collapse of the Charitable Corporation, indeed, reproduced many of the features of the South Sea Bubble: incriminating acts by directors, the flight abroad of company servants who knew too much, a parliamentary committee of inquiry, ejection of director M.P.s from the House of Commons, an Act for relief of the sufferers.“ 229 Vgl. Erskine-Hill, The Social Milieu, S. 257. 230 Die Verse 253–260 verweisen auf Kyrles Baumpflanzungen, auf die Konstruktion einer Wasserversorgung für den Ort Ross sowie auf den Bau eines Spazierwegs mit Plätzen zum Ausruhen. Vgl. zu den Fakten im Hintergrund: Ebd., S. 27–31.

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‚zeitlose‘ Thema des rechten Umgangs mit Reichtum dar, in dem zeitgenössische Beispiele zur Illustration herangezogen werden; sie ist auch lesbar als Popes Kommentar zu sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklungen im England seiner Zeit. Die stilistische Gestaltung der Charakterporträts und der mit ihnen verknüpften Reflexionen kann hier nur in summarischer Weise beschrieben werden. Wie der Essay on Man und andere Gedichte Popes, so ist auch die Epistel To Bathurst durch eine häufige Modulation der Stilebene und des Tons geprägt. Die Sprechweise erscheint in den Porträts teilweise als auf die beschriebenen Personen abgestimmt und erfüllt damit auch eine charakterisierende Funktion. Die Passage über Kyrle bedient sich einer gehobenen, oft feierlichen Diktion, während die Erzählung von Sir Balaam einige saloppe, grobe oder phrasenhafte Formulierungen enthält, mit denen der Sprecher – wie die eingestreute wörtliche Rede Balaams erkennen lässt – die Redeweise der dargestellten Person imitiert.231 Wie aus einem Brief Popes hervorgeht, war er ferner bemüht, die Aussagekraft der Charakterporträts durch ein Arrangement derselben zu steigern, das Kontraste und andere Beziehungen zwischen ihnen hervortreten lässt.232 In der Forschung sind plausible Vorschläge dazu formuliert worden, welche Beziehungen des Kontrasts und der Abstufung durch die Reihenfolge der negativen Exempel und die Platzierung des Kyrle-Porträts in der Mitte der Epistel deutlich gemacht werden sollten.233 Eine kalkulierte Anordnung von Beispielen findet man aber auch innerhalb einer kurzen Passage, die zugleich weitere charakteristische Merkmale der Form der Epistel illustriert. Sie steht im Rahmen einer Erörterung des Geizes und befasst sich konkret mit der Frage, weshalb die Geizigen die Armen nicht unterstützen: Perhaps you think the Poor might have their part? Bond damns the Poor, and hates them from his heart: The grave Sir Gilbert holds it for a rule, That ‚every man in want is knave or fool‘: ‚God cannot love (says Blunt, with tearless eyes) ‚The wretch he starves‘ – and piously denies: But the good Bishop, with a meeker air, Admits, and leaves them, Providence’s care.

[101–108]

231 Vgl. Spacks, Reading Eighteenth-Century Poetry, S. 61 f. 232 Vgl. Alexander Pope an Jacob Tonson Sr., Brief vom 7.6.1732, in: Corr. III, S. 290 f., hier S. 290. 233 Vgl. Erskine-Hill, The Social Milieu, S. 309.

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Die Passage nennt vier Personen, die den Armen ihre Hilfe verweigern und diese Verweigerung – wenn man der Anordnung in diesen Versen folgt – mit immer subtileren Begründungen versehen. Bond begründet dieses Verhalten gar nicht, sondern handelt aus offenem Hass; Sir Gilbert verweist zur Rechtfertigung darauf, dass alle Armen Schurken oder Narren sind; Blunt führt letztlich dieselbe Rechtfertigung an, aber mit einer religiösen Unterfütterung, die durch die Prädestinationslehre bereitgestellt wird; der ‚gute Bischof‘ schließlich befürwortet im Gegensatz zu den drei anderen Figuren eine Unterstützung der Armen, überlässt diese Aufgabe aber Gott. Neben der kalkulierten Anordnung der Beispiele fallen an der Passage die knappen, prägnanten Charakterisierungen auf, die mit indirekten Bewertungen einhergehen und zum Teil durch Alliterationen und Assonanzen zusätzlich hervorgehoben werden („hates them from his heart“, „tearless eyes“, „piously denies“, „with a meeker air“).234 Die Passage weist somit hinsichtlich ihrer stilistischen Gestaltungsprinzipien gewisse Ähnlichkeiten mit jenen Abschnitten aus dem Essay on Man auf, die oben als Beispiele für die ‚virtuose‘ Formulierung bekannter Gedanken angeführt wurden. In der hier interessierenden Passage und in der Epistel an Bathurst insgesamt stehen diese Stilzüge aber nicht im Dienst einer möglichst glanzvollen Variation vertrauter Inhalte, sondern im Dienst der satirischen und zeitkritischen Intentionen der Epistel. 1.6.2 Dissens unter Freunden: Die Auseinandersetzung mit Bathurst Die allgemeine Erörterung des richtigen Umgangs mit Reichtum, die zugleich eine kritische Stellungnahme zu zeitgenössischen Verhältnissen in England ist, wird in der Epistel verwoben mit einer Auseinandersetzung zwischen dem Sprecher und seinem Adressaten Bathurst. Gleich zu Beginn des Briefs konstatiert der Sprecher eine Meinungsverschiedenheit zwischen ihnen: Who shall decide, when Doctors disagree, And soundest Casuists doubt, like you and me? You hold the word, from Jove to Momus giv’n, That Man was made the standing jest of Heav’n; And Gold but sent to keep the fools in play, For some to heap, and some to throw away. But I, who think more highly of our kind, (And surely, Heav’n and I are of a mind) Opine, that Nature, as in duty bound, Deep hid the shining mischief under ground:

234 Vgl. zu diesen Formulierungen und ihrer Funktion auch: Spacks, Reading EighteenthCentury Poetry, S. 82 f.

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But when by Man’s audacious labour won, Flam’d forth his rival to, its Sire, the Sun, Then careful Heav’n supply’d two sorts of Men, To squander these, and those to hide agen. Like Doctors thus, when much dispute has past, We find our tenets just the same at last.

[1–16]

Der Dissens, den der Sprecher hier resümiert und der auch durch lange Gespräche („much dispute“, 15) nicht beseitigt werden konnte, betrifft nicht direkt das durch den Untertitel bezeichnet Thema „Of the Use of Riches“, sondern vor allem Fragen des Menschenbildes und der Religion. Die divergierenden Einstellung zum Gold und seinem Gebrauch, die hier zugleich knapp vorgestellt werden, erscheinen als Konsequenzen dieser umfassenderen Ansichten. Die Haltung, die dem Adressaten in den Eingangsversen zugeschrieben wird, ist eine zynische: Bathurst denkt diesen Versen zufolge niedrig vom Menschen wie von Gott und sieht im Gold ein Mittel des Himmels, um den Menschen zu einem Narren zu reduzieren und in ein Spiel zu verwickeln, das seiner Unterhaltung dient.235 Der Sprecher dagegen bekennt sich erstens zu einem freundlicheren Menschenbild („I, who think more highly of our kind“, 7), zweitens zum Glauben an einen fürsorglich handelnden ‚Himmel‘ („careful Heav’n“, 13) Aber während der Sprecher diesen Dissens beschreibt und den Kontrast zwischen ihren Einstellungen deutlich herausstellt, rückt er ihn zugleich durch die ironischen Vergleiche mit „Doctors“ und „Casuists“ in eine Distanz, in der er nicht als eine Bedrohung für das persönliche Verhältnis zwischen den zwei Gesprächspartnern erscheinen kann. Die Wendung „when Doctors disagree“ lässt an Dispute zwischen scholastischen Theologen denken, die in der aristokratischen Sphäre, in der sich Bathurst und in gewissem Maße Pope bewegten, vor allem als ein abschreckendes Beispiel für sinnlose, aber hartnäckig und verbissen geführte Gelehrtendiskussionen galten. Wasserman hat darauf hingewiesen, dass die Formel ‚Doctors disagree‘ oder ‚Doctors differ‘ in Popes Zeit zu einer stehenden Wendung geworden war, mit der man Meinungsverschiedenheiten ironisch einen ernsthaften, würdevollen Anstrich – „a mock-serious air“ – gab.236 Darüber hinaus mag der Ausdruck „Doctors“ hier aber auch bereits als Hinweis

235 Wasserman zufolge ähnelt die Philosophie, die Bathurst hier zugeschrieben wird, derjenigen römischer Satiriker wie Plautus, die meinen, die Menschen seien von den Göttern zu ihrer Belustigung geschaffen worden. Vgl. Earl R. Wasserman, „A Critical Reading“, in: Pope’s Epistle to Bathurst. A Critical Reading with An Edition of the Manuscripts. Earl R. Wasserman (Hrsg.), Baltimore 1960, S. 11–57, zur Eingangspassage v. a. S. 18–22. 236 Ebd., S. 18.

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darauf dienen, dass der Dissens zwischen Bathurst und dem Sprecher tatsächlich eine theologische Dimension hat.237 Nachdem der Sprecher die strittigen Punkte benannt hat, schafft er eine konsensuelle Basis für die weitere Auseinandersetzung und zählt einige Annahmen über Geld und Reichtum auf, über die Bathurst und er einer Meinung sind (15–20). Die Ausformulierung dieser Annahmen mündet in eine allgemeinere Erörterung über ökonomische Fragen, und der Konflikt zwischen Bathurst und dem Sprecher tritt in den Hintergrund. Erst etwa fünfzig Verse später wendet sich der Sprecher erneut an seinen Gesprächspartner, der mit einer knappen Bemerkung antwortet.238 Doch zu einer eigentlichen Wende oder einem Fortschritt innerhalb des Gesprächs kommt es erst nach weiteren, etwa siebzig Verse umfassenden Ausführungen des Sprechers. Er sucht zunächst darzulegen, dass Reichtümer dem Menschen zwar „meat, clothes, and fire“ (80) bieten können, aber auch nicht mehr. So gelangt der Sprecher zu der Frage nach den Motiven, die gierige oder geizige Menschen antreiben; in einer Revue verschiedener Exempel kommentiert er schließlich auch das Beispiel John Blunts, des Direktors der South Sea Company. In einer ironischen Apostrophe an Blunt zeigt er sich überzeugt, dass dieser nicht von der Gier nach Luxus oder sozialem Aufstieg angetrieben wurde, sondern von einem religiös unterfütterten Patriotismus; er habe den Parteienstreit beenden und Eintracht herstellen wollen, indem er beide Seiten kaufte. An dieser Stelle folgt der Zwischenruf eines nüchternen, weisen Mannes („a sober sage“), der mit Bathurst zu identifizieren sein dürfte: „‚All this is madness‘“ (153). Hierauf antwortet der Sprecher, solche Motive seien vielleicht töricht, aber noch törichter sei es, gar keine Motive oder Ziele zu verfolgen: „For tho’ such motives Folly you may call, | The Folly’s greater to have none at all.“ (159 f.) Dies scheint als impliziter Vorwurf gegen den ‚prinzipienlosen‘ Bathurst gerichtet zu sein, und der Sprecher verkündet ihm denn auch gleich darauf eine ‚Wahrheit‘, die in eben jener Auffassung von der Providenz besteht, zu der er sich schon zu Beginn der Epistel bekannt hat.

237 Vgl. ebd., S. 19. 238 Nachdem der Sprecher die Bestechung als eine allgegenwärtige Praxis geschildert hat, die durch die Einführung des Papiergelds noch erleichtert worden sei, stellt er die Frage: „Since then, my Lord, on such a World we fall, | What say you? ‚Say? Why take it, Gold and all.‘“ (79 f.) Bathurst gibt eine zynische Antwort, die zu der ihm eingangs zugeschriebenen Philosophie passt. Er scheint die Haltung einzunehmen, dass der Einzelne in dieser dem Zufall überlassenen Welt nichts Besseres tun könne, als sich selbst zu bereichern. Erst später in der Epistel wird sich herausstellen, dass Bathursts Handeln nicht dieser abgebrühten Pose entspricht.

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II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte

Damit hat der Sprecher für dieses schon eingangs von ihm vertretene Welt- und Menschenbild eine Begründung angedeutet, die für Bathurst grundsätzlich akzeptabel ist: Die Handlungsmotivationen, die diesem Weltbild entspringen, bewahren demnach den Menschen vor der Auslieferung an Leidenschaften, die in ihrer Irrationalität selbst auf den abgeklärten Bathurst abschreckend wirken. Allerdings wird in dieser Passage nur bedingt deutlich, wie die Überzeugungen, Motive oder Ziele, mit denen der Einzelne seinem Handeln eine Richtung geben soll, mit dem Providenzglauben zusammenhängen. Und fünfzig Verse weiter in der Epistel gewinnt man den Eindruck, dass der Sprecher seiner gerade erteilten Belehrung die Grundlage entzieht, denn nachdem er die gegensätzlichen Extreme von Verschwendung und Geiz beschrieben und verurteilt hat, lobt er Bathurst selbst als eine vorbildliche Verkörperung des richtigen, die Mitte zwischen diesen Extremen wahrenden Umgangs mit Besitz: The Sense to value Riches, with the Art T’enjoy them, and the Virtue to impart, Not meanly, nor ambitiously pursu’d, [. . .] Oh teach us, Bathurst! yet unspoil’d by wealth! That secret rare, between th’extremes to move Of mad Good-nature, and of mean Self-love.

[219–228]

Bathurst wird als jemand gelobt, der den Menschen die rechte Einstellung zum Besitz ‚lehren‘ könnte („Oh teach us, Bathurst“). Diese direkte Anrede Bathursts bekräftigt somit wieder die freundschaftlich-respektvolle Einstellung des Sprechers zum Adressaten, droht aber seine bisherige Argumentation zu unterminieren: Offensichtlich haben das zynische Weltbild oder die Prinzipienlosigkeit Bathursts ihn nicht daran gehindert, tugendhaft zu leben. Es scheint also doch nicht auf solche Überzeugungen und die ihnen entsprechenden Motivationen anzukommen. Doch entscheidend sind in der obigen Passage die Worte, die den Halbvers direkt nach der emphatischen Anrede „Oh teach us, Bathurst“ füllen: „yet unspoil’d by wealth“. Damit deutet der Sprecher an, dass Bathurst zwar bisher tugendhaft mit seinem Besitz umgegangen ist, aber gegen die Versuchungen, die größerer Reichtum mit sich brächte, unzureichend gewappnet ist.239 An diesem Punkt setzt die Geschichte von Balaam an, mit der die Epistel schließt. Sie ist von der Anrede an Bathurst zwar durch den Abstand von mehr als

239 Vgl. auch Wasserman, „A Critical Reading“, S. 41.

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hundert Versen getrennt und wird vom Sprecher auch nicht explizit auf Bathurst bezogen, entwickelt aber ausdrücklich einen mit der Formulierung „yet unspoil’d by wealth“ angedeuteten Gedanken, insofern sie nämlich vorführt, wie plötzlicher Reichtum einen tugendhaften – oder scheinbar tugendhaften – Mann verderben kann. Balaam wird als ein „plain good man“ (342) eingeführt, der in der Londoner City lebt, unter anderem an der Börse tätig ist und ein bescheidenes und frommes Leben führt. Allerdings erscheinen seine Tugend und Frömmigkeit von vornherein als suspekt: Wenn er als „[r]eligious, punctual, frugal, and so forth“ (343) charakterisiert wird, so deutet die nivellierende Aufzählung in Verbindung mit dem lässigen „and so forth“ an, dass dieses Bündel von Eigenschaften eine typisierte soziale Rolle bildet, die von Balaam erwartungsgerecht ausgefüllt wird. Sein Alltag wird durch wenige Verse umrissen, die den äußerlichen, rituellen, fast mechanischen Charakter von Balaams Frömmigkeit aufscheinen lassen und zugleich andeuten, dass sich hinter dieser Fassade nackter Egoismus verbergen könnte: One solid dish his week-day meal affords, An added pudding solemnized the Lord’s: Constant at church, and Change; his gains were sure, His givings rare, save farthings to the poor.

[345–348]

In dem durch Alliteration hervorgehobenen Halbvers „Constant at church, and Change“ verdichtet sich gewissermaßen die Skepsis gegenüber dieser deutlich nach puritanischem Modell gezeichneten Lebensweise, in deren disziplinierter Regelmäßigkeit religiöse und finanzwirtschaftliche Praktiken sich reibungslos abwechseln und gegenseitig stützen. Diese ‚Heiligkeit‘ Balaams, so heißt es weiter, reizte den Teufel, der aber in modernen Zeiten die Menschen nicht mehr durch Armut in Versuchung führe (wie noch Hiob), sondern durch Reichtum (349–352); damit ist die Verbindung zu Bathurst, der „yet unspoil’d by wealth“ (226) sei, deutlich markiert. Als Balaam schlagartig zu Reichtum gelangt, erweist er sich als wehrlos gegen diese Verführung, sein Lebensstil nimmt bald ausschweifende Züge an. Wichtig ist, dass sich auch sein religiöses Weltbild wandelt: Behold Sir Balaam, now a man of spirit, Ascribes his gettings to his parts and merit; What late he called a blessing, now was wit, And God’s good Providence, a lucky hit.

[375–378]

Balaams neue Geisteshaltung koppelt die Überzeugung, das materielle Wohlergehen des Einzelnen verdanke sich seinen persönlichen Fähigkeiten, mit der Annahme, die Welt werde nicht von der göttlichen Vorsehung, sondern vom

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II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte

Zufall regiert. Die Formulierung „a lucky hit“ rückt die Einstellung des gewandelten Balaam in die Nähe der Philosophie Epikurs und Lukrez’ sowie jener Denker, die als ihre modernen Nachfolger gesehen wurden (wie etwa Hobbes), denn sie wurde häufig von Kritikern des Epikureismus gebraucht, wenn sie seine atomistische Naturphilosophie als abwegig zu diskreditieren suchten: Dieser Philosophie zufolge, so die Kritik, seien alle Instanzen von Ordnung und Regelmäßigkeit, die in der Natur zu beobachten sind, nur das Resultat von „a lucky hit“.240 Auch Blackmore verwendet in Creation diese Formulierung, um die Philosophie Epikurs zu verspotten.241 Wie diese Lehre von der Herrschaft des Zufalls mit dem Glauben an die ausschlaggebende Rolle der persönlichen Fertigkeiten zusammenhängt, ist nicht offensichtlich; die Geschichte von Balaam aber legt nahe, dass es hier einen Nexus gibt, und soll damit vermutlich auch suggerieren, dass die gegen den Providenzglauben gerichtete Zufallsphilosophie typischerweise eine Allianz mit rücksichtslosem Egoismus eingeht. Die Epistel To Bathurst schließt abrupt mit der Darstellung des abschreckenden Todes Balaams, der wegen betrügerischer Machenschaften hingerichtet wird: „The Devil and the King divide the Prize, | And sad Sir Balaam curses God and dies“ (401 f.), so das letzte Verspaar. Der Adressat Bathurst wird nicht noch einmal angesprochen; wenn der Sprecher die Geschichte Balaams direkt auf Bathurst applizierte, wäre das mit den Konventionen eines freundschaftlichen Gesprächs auch kaum vereinbar. Doch die zentralen Lehren der BalaamGeschichte und ihre Relevanz mit Blick auf Bathurst kann man erschließen: Balaams ursprüngliche Tugend hatte kein zureichendes Fundament und war der Versuchung durch den Reichtum nicht gewachsen.242 Etwas Ähnliches könnte für Bathurst gelten, so sehr seine Weltsicht sich auch von der Balaams unterscheidet. Was ein zuverlässiges Fundament der Tugend ausmacht, wird in der Epistel nur teilweise deutlich. Offensichtlich ist, dass ein Vertrauen in die göttliche Vorsehung dazugehört, insbesondere ein Vertrauen darauf, dass auch alle Wechselfälle im ökonomischen Bereich letztlich von der Vorsehung bestimmt werden. Angedeutet wird ferner, dass dieser Providenzglaube mit emotionalen

240 Vgl. Erskine-Hill, The Social Milieu, S. 264. Vgl. auch ders., „The Lucky Hit in Commerce and Creation“, in: Notes and Queries, N.S. 14/1967, 11, S. 407 f. 241 In Buch IV von Creation heißt es: „Let Atomes once the Form of Letters take | By Chance, and let those huddled Letters make | A finish’d Poem by a lucky Hit, | Such as the Grecian, or the Mantuan writ; | Then we’ll embrace the Doctrines you advance, | And yield the World’s fair Poem made by Chance.“ (Blackmore, Creation, S. 137 f.) 242 So die überzeugende Deutung von Erskine-Hill, The Social Milieu of Alexander Pope, S. 265. Vgl. ähnlich über die mangelhaften Fundamente der Tugend Balaams: Edwards, This Dark Estate, S. 60.

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Haltungen verbunden und in einem die ganze Person durchdringenden Habitus verwurzelt sein sollte. Als der gleichsam natürliche, ursprüngliche Ort einer solchen Haltung erscheint das mit der Großstadt kontrastierte Land, das durch die Nähe zur Natur und durch eine patriarchalische Ordnung gekennzeichnet ist. Für das Verständnis des Essay on Man ist die Epistel To Bathurst vor allem aus dem Grund aufschlussreich, dass hier deutlich gemacht wird, worin die Relevanz (oder zumindest ein wesentlicher Teil der Relevanz) des Providenzglaubens besteht, der im Essay on Man ausführlich entwickelt wird: Die Epistel an Bathurst insistiert vor allem auf dem moralischen Wert oder der moralischen Nützlichkeit dieses Glaubens, auf seiner Fähigkeit, moralisches Handeln im Sinne der „Charity“-Norm motivational zu stabilisieren. Auf der anderen Seite wird mit Blick auf die tendenziell atheistische Weltsicht Bathursts sowie auf die wohl dem Puritanismus verpflichtete Religiosität Balaams nahegelegt, dass sie sich zwar nicht notwendig in Lastern äußern, sondern mit tugendhaftem Leben vereinbar sind, dass sie aber bei Schicksalsschlägen anfälliger sind als der rechte Providenzglauben und leichter in egoistische Haltungen umschlagen. Über Lessings Nathan der Weise hat man geschrieben, dass die Haltung der „Gottergebenheit“ dort als „Zynismusprophylaxe“ entworfen und empfohlen werde;243 mit diesem Ausdruck kann auch der Wert, der in Popes Epistel To Bathurst dem Vorsehungsglauben zugeschrieben wird, charakterisiert werden. 1.6.3 Das Verhältnis der Epistel zum Essay on Man Die Analyse der Epistel To Bathurst sollte zum einen exemplarisch zeigen, dass die Ethic Epistles des zweiten Buchs – wie Pat Rogers es formuliert hat – ‚lebendige Bilder menschlichen Handelns‘ bieten und sich hierin von den abstrakten Räsonnements des Essay on Man unterscheiden: Die Epistel an Bathurst behandelt unter moralischen Gesichtspunkten Fragen des praktischen Lebens, konkret Fragen nach dem rechten Umgang mit Besitz und Reichtum, und sie verbindet diese ethische Diskussion mit einer Kommentierung zeitgenössischer ökonomischer, sozialer und politischer Zustände in England. Diese Auseinandersetzung mit aktuellen Verhältnissen schließt Bezugnahmen auf reale Personen ein und besitzt eine kritische Stoßrichtung gegen die Regierung Walpoles.244 Was die 243 Karl-Josef Kuschel, Vom Streit zum Wettstreit der Religionen. Lessing und die Herausforderung des Islam, Düsseldorf 1998, S. 325; vgl. auch ebd., S. 337. 244 Vgl. dazu etwa Wasserman, „A Critical Reading“, S. 54 f.; Erskine-Hill, The Social Milieu, S. 261, 264; Goldgar, Walpole and the Wits, S. 126. Walpole hatte nach dem ‚Platzen‘ der South Sea-Blase einige der führenden Politiker, die mutmaßlich an den Machenschaften der South Sea Company beteiligt gewesen waren und nun der Korruption bezichtigt wurden, unterstützt und so den Ruf eines ‚Screenmaster General‘ erworben. Dieses Verhalten Walpoles war zumindest einer

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formale Gestaltung der Epistel angeht, so verwendet sie besonders viel Sorgfalt auf eine zugleich konzise und nuancierte Charakterisierung der als Beispiele angeführten Personen. Die Inszenierung der gedichtinternen Kommunikation zwischen Sprecher und Adressat weist ebenfalls gegenüber dem Essay on Man spezifische Züge auf, auch wenn das ‚Gespräch‘ mit Bolingbroke im Essay andeutungsweise Parallelen zu dem Gespräch mit Bathurst erkennen lässt. Charakteristisch für die Epistel an Bathurst ist, dass der Sprecher gleich zu Beginn explizit einen zwischen dem Adressaten und ihm bestehenden Dissens konstatiert und im Verlauf der Epistel versucht, Bathurst zur Änderung seines Standpunkts zu bewegen. Dabei erscheint er aber bemüht darum, das freundschaftlich-respektvolle Verhältnis zwischen den Gesprächspartnern nicht zu zerstören, indem er etwa gleich zu Beginn die Relevanz ihrer Meinungsverschiedenheit scherzhaft herunterspielt. Dass er im Folgenden seine Argumente gegen die Haltung Bathursts meist nur indirekt vorbringt und direkte Ermahnungen weitestgehend vermeidet, ist zum Teil als höfliche Taktik erklärbar, zum Teil aber auch dem Umstand geschuldet, dass schlichte Ermahnungen im Hinblick auf das ambivalente moralische Profil Bathursts offensichtlich deplatziert wären: Bathurst bekennt sich zwar zu einem trostlosen Welt- und Menschenbild und gibt sich in seinen Äußerungen als zynischer Egoist, handelt aber nicht als ein solcher. Der Adressat Bathurst erhält damit im Gedicht selbst eine erheblich größere Komplexität zugesprochen als etwa die namenlosen Deisten oder Freidenker, die in Drydens Religio Laici oder in der ersten Epistel des Essay on Man kritisiert werden. So sehr sich die Epistel an Bathurst inhaltlich und formal vom Essay on Man unterscheidet, bestand für Pope zwischen ihnen doch ein enger Zusammenhang. Einige inhaltliche Beziehungen liegen auf der Hand und werden von Pope auch durch Anmerkungen hervorgehoben: So bezieht sich der Sprecher in der Epistel an Bathurst einmal auf das Konzept der „ruling passion“, und auch seine Ausführungen über die göttliche Providenz greifen offensichtlich ein zentrales Thema des Essay auf. Diese Bezüge zum Essay betreffen aber nur untergeordnete Punkte des Gedankengangs der Epistel, und es stellt sich die Frage, ob auch ihre zentralen Argumentationen solche Verbindungen aufweisen. Kramnick hat die wesentliche Verbindung darin gesehen, dass die Kritik an den Vertretern der neuen Finanzwelt in der Epistle to Bathurst ein Konzept der richtigen Gesellschaftsordnung voraussetze, das Pope aus der Lehre von

verbreiteten Wahrnehmung zufolge strategisch begründet und durch die Sorge um den eigenen politischen Aufstieg motiviert. Vgl. Stratmann, Myths of Speculation, S. 42 f.; dies., ‚South Sea’s at best a mighty BUBBLE‘, S. 33 f.; Paul, The South Sea Bubble, S. 88–90.

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der chain of being herleite: Die neuen Finanzleute werden demnach von Pope verurteilt, weil sie ihren angestammten sozialen Rang verlassen und aufsteigen wollen und damit die soziale Ordnung gefährden.245 Diese Deutung scheint mir wenig plausibel zu sein und zudem eine wesentliche Beziehung zwischen den Texten unberücksichtigt zu lassen. Erstens werden die Finanzleute in der Epistel nicht wegen ihres sozialen Aufsteigens kritisiert, sondern wegen ihres Mangels an Nächstenliebe und sozialer Verantwortung.246 Zweitens gibt es keine Hinweise darauf, dass Pope meinte, diese moralische Kritik auf ein Konzept wie die chain of being stützen zu müssen. Die betreffenden Passagen der Epistel legen es darauf an, die Hartherzigkeit der reichen Finanzleute, ihre Indifferenz gegen oder ihren offenen Hass auf die Bedürftigen, möglichst grell herauszustellen; aber dass dieser Hass und diese Hartherzigkeit etwas Schlechtes sind, „Charity“ aber etwas Gutes ist, scheint mir der Sprecher als selbstverständlich vorauszusetzen. Drittens und vor allem gibt es eine andere, von Kramnick nicht beachtete Beziehung zwischen den Texten: Die Epistle to Bathurst sucht plausibel zu machen, dass nur ein Vertrauen auf die gütige Vorsehung geeignet ist, eine Disposition zur tätigen Nächstenliebe aufrechtzuhalten, während sowohl die zynische Vorstellung vom Menschen als einem Spielzeug boshafter Götter als auch der Glaube an einen unerbittlichen calvinistischen Gott hierzu nicht in der Lage sind. Diese Einwände gegen Kramnicks Deutung, die speziell die Epistle to Bathurst betreffen, lassen sich auch auf das vom Essay on Man aufgeworfene Interpretationsproblem beziehen, welche Beziehung zwischen der Theodizeeoder Providenz-Thematik einerseits, der ethischen Thematik andererseits besteht. Damrosch scheint mir die von Pope vorgenommene Gewichtung der Themen und Zielsetzungen im Großen und Ganzen treffend zu charakterisieren, wenn er schreibt:

245 Vgl. Kramnick, Bolingbroke and His Circle, S. 221. 246 Kramnicks Annahme, für Pope seien soziale Aufsteiger als solche suspekt gewesen, entbehrt nicht nur einer Textgrundlage in der Epistel an Bathurst, sondern steht auch im Widerspruch zu der Tatsache, dass Pope den aus einfachen Verhältnissen stammenden Ralph Allen, der als Unternehmer zu einem der reichsten Männer Englands aufstieg, bewunderte und dieser Bewunderung im Epilogue to the Satires (V. 135 f.) Ausdruck verlieh. Zu Allens Bedeutung für Pope vgl. Erskine-Hill, The Social Milieu, S. 204–240. Die von verschiedenen Interpreten variierte Auffassung, Pope nutze das Modell der chain of being als metaphysische Rechtfertigung der bestehenden sozialen Hierarchien, wird auch zurückgewiesen bei Solomon, The Rape of the Text, S. 170 f.

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At the deepest level, Pope’s religious yearnings are for ethical harmony rather than dogmatic certainty, and the Essay on Man is an attempt to establish just as much belief as will adequately ground ethics.247

Die Frage ist aber, wie die Formulierung ‚to ground ethics‘ zu verstehen ist. Es könnte gemeint sein, dass Pope aus den religiösen und metaphysischen Lehren von der Providenz und der chain of being moralische Normen ableiten will. Aber Herleitungen dieser Art werden im Essay on Man kaum einmal explizit realisiert; Pope gibt sich hier nicht viel mehr Mühe als in der Epistel an Bathurst, um die Geltung der zentralen Norm der „Charity“ zu begründen. Die Epistel an Bathurst zeigt aber, dass die Vorstellung von der göttlichen Providenz für ihn insofern ethisch relevant war, als sie die Disposition zum Handeln im Sinne der Nächstenliebe stabilisieren konnte. Die ‚Fundierung‘ der Ethik, um die es im Essay geht, ist insofern vor allem eine motivationale Fundierung des moralischen Handelns. Zu dieser Deutung passt auch der oben entwickelte Befund, dass der Sprecher in vielen Teilen des Essay – insbesondere auch in der ersten Epistel, wo es um die Ordnung des Universums geht – nicht ein unumstößliches Gebäude aus Axiomen, Beweisen und Schlussfolgerungen zu errichten versucht, sondern über weite Strecken darauf zielt, seinen Adressaten zu einer bestimmten Haltung zu bewegen.

1.7 Resümee Was für eine Art von Belehrung oder Wissensvermittlung strebte Pope im Essay on Man an? Dem Werk wurde von Zeitgenossen wie späteren Interpreten häufig die Absicht zugeschrieben, ein philosophisches System – etwa dasjenige Leibniz’ oder Shaftesburys – in eine möglichst angenehme Form zu bringen und diesem System so zu größerer Verbreitung zu verhelfen. So schrieb etwa Breitinger in seiner Critische[n] Dichtkunst: Ich bin [. . .] versichert, daß das philosophische Gedicht des Engelländischen Poeten Pope von dem Menschen die neu-erfundenen Lehrsätze und Wahrheiten des Hrn. von Leibnitz weit allgemeiner und beliebter machen werde, als alle die systematischen Beweise davon, die bißher ans Licht gekommen sind.248

Dieses Kapitel sollte zeigen, dass eine solche Deutung die Ziele Popes in wesentlichen Hinsichten verfehlt. Insofern das Gedicht philosophische Konzepte und Theorien vermitteln sollte, bestand Popes Absicht nicht darin, irgendein

247 Damrosch, The Imaginative World of Alexander Pope, S. 161 f. 248 Breitinger, Critische Dichtkunst, 1. Bd., S. 9.

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vorliegendes System in Verse zu bringen, sondern darin, einen Mittelkurs zwischen verschiedenen, gegensätzlichen oder scheinbar gegensätzlichen Lehren erst zu bahnen. Zudem deutet vieles im Gedicht darauf hin, dass die Wirkung, die Pope beim Leser im Idealfall hervorrufen wollte, nicht in der Akzeptanz theoretischer Ideen („Lehrsätze und Wahrheiten“) aufging, sondern auf die Einnahme einer komplexen, den ‚ganzen Menschen‘ einbeziehenden Haltung hinauslief, zu der neben einer gedanklichen Basis auch Einstellungen wie Hoffnung und Demut, Nächstenliebe und eine Empfänglichkeit für die Schönheit der Natur gehörten. Wie die Wirkung, auf die das Gedicht zielte, eine spezifische und komplexe war, so waren auch die Funktionen, die Pope der poetischen Form des Essay zuwies und an denen er die rhetorische Gestaltung des Textes ausrichtete, von komplexer Art. Die Variation der Stilebene und des Sprechduktus sollte sich den gegensätzlichen Aspekten des Themas – also der menschlichen Natur – anpassen, vielleicht auch dem ‚Hindurchsteuern‘ durch gegensätzliche Doktrinen korrespondieren. Zugleich nutzte Pope die gedichtinterne Kommunikationssituation zwischen Sprecher und Adressaten, um vielfältige Modi der Belehrung und Zurechtweisung, des Streitens und Argumentierens vorzuführen und sie sich auf diese Weise gegenseitig relativieren zu lassen. Diesen Aspekt der formalen Gestaltung wie auch einige andere kann man als Popes eigenständige Umsetzung des Kommunikationsideals der politeness deuten. In jedem Fall scheint gerade die Präsentation der gedichtinternen Kommunikationssituation von der in der Vorrede angedeuteten Annahme geleitet zu sein, dass Erörterungen der Moral und der menschlichen Natur, die einen förderlichen Effekt auf „the practice of morality“ haben wollen, sich auch einer bestimmten Form bedienen müssen. Andere Aspekte der rhetorischen Gestaltung des Essay lassen sich auf Popes Annahmen über die Motive moralischen Handelns beziehen, so etwa die vielfältigen Aufforderungen, die der Sprecher an den Adressaten richtet. Gleichsam auf lokaler Ebene, in einzelnen Passagen, scheint es schließlich Popes Bestreben zu sein, Gedanken und Argumente, die seinen Lesern mutmaßlich gut vertraut waren, auf sprachlich glanzvolle Weise zu variieren. Bei der Umsetzung seiner Absichten nutzte Pope vielfältige Ressourcen, die die Tradition des Lehrgedichts bereitstellte. Als Grundbaustein der Form des Essay kann man die horazische Epistel betrachten, doch Pope arrangierte die vier Episteln zu einer thematisch geordneten Sequenz, die ansatzweise den ‚systematischen‘ Aufbau eines lukrezischen Lehrgedichts nachbildete, wie er auch Blackmores Creation kennzeichnet. Auch das Spektrum der von ihm verwendeten Sprechweisen und Anredeformen umfasst sowohl mit Lukrez als auch mit der horazischen Epistel assoziierte Redemodi – mit Popes eigenen Ausdrücken gesagt, „the grave march of Lucretius“ ebenso wie „the gayeties of

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Horace“.249 Pope griff ferner Verwendungsweisen des didaktischen Gedichts auf, für die unter anderem Dryden und Blackmore Beispiele geliefert hatten: Wie Blackmore in Creation, so entwirft auch Pope im Essay on Man etwas wie ein umfassendes ‚Weltbild‘, wobei er aber eine entschiedene Gewichtsverlagerung vornimmt, die in der Differenz zwischen den Gedichttiteln einen adäquaten Ausdruck findet. Zugleich bezieht Pope mit dem Essay on Man Stellung zu aktuellen philosophisch-theologischen Kontroversen, wie es auch Dryden mit Religio Laici getan hatte. Wo er dabei den Theorien von Philosophen wie Hobbes und Mandeville einen Tribut entrichtet und sich ihrer skeptischen Sicht auf den Menschen bis zu einem gewissen Punkt anschließt, da wird sein Essay streckenweise zu einer ‚Satire upon Reason and Mankind‘, für die Rochesters berüchtigtes Gedicht ein Modell geliefert haben dürfte. Die vielfältigen Absichten, die Pope mit dem Essay verfolgte, machen ihn auch zu einem von Spannungen und Ambivalenzen geprägten Werk. Pope wollte mit dem Essay zwar gewissermaßen in philosophische Diskussionen intervenieren und selbst eine Position innerhalb der Debatten beziehen; er erleichterte sogar die Rezeption des Gedichts als eines philosophischen Werks, indem er ihm die Inhaltszusammenfassungen voranstellte. Zugleich wollte er in dem Essay aber Philosophie auf eine nicht-philosophische oder jedenfalls nicht auf eine traditionelle philosophische Weise betreiben, so dass eine primär an Thesen, Argumenten und Begriffen interessierte Rezeption dem Werk – und zwar auch den philosophischen Zielsetzungen – nur bedingt angemessen war. Eine weitere Spannung resultierte daraus, dass der Essay on Man einerseits als ein abgeschlossenes Werk präsentiert wurde und als solches ein Gedicht mit einer weitestgehend allgemeinen philosophischen Thematik war, andererseits aber als einleitender Teil eines größeren Werks fungieren sollte, das sich konkreten Fragen des praktischen Lebens widmete und auch eingehend zu zeitgenössischen politischen, kulturellen und ökonomischen Entwicklungen in England Stellung bezog. Auf der Ebene des self-fashioning oder der Imagepolitik des Autors schließlich ergab sich eine Ambivalenz dadurch, dass Pope sich mit dem Essay on Man zwar als ernsthafter, den hohen Ton beherrschender philosophischer Dichter beweisen, aber zugleich eine Distanz gegenüber der Philosophie wahren und an seiner Identität als Dichter festhalten wollte. Als ein Paradigma des aufklärerischen Lehrgedichts kann der Essay on Man nur in einem bestimmten Sinne gelten. Nur wenige Lehrgedichte der Epoche suchen Bezugnahmen auf so viele und unterschiedliche Gattungstraditionen zu

249 Vgl. Alexander Pope an Jonathan Swift, Brief vom 15.9.1734, in: Corr. III, S. 431–434, hier S. 433.

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verbinden. Das Strukturmodell der Ethic Epistles, in dem auf ein erstes Buch mit einem relativ geschlossenen Quartett von Episteln ein zweites mit jeweils selbstständigen Texten folgt, scheint kaum Nachahmer gefunden zu haben, auch weil dieses Textensemble vielfach nicht als solches wahrgenommen wurde. Mit der strukturellen Besonderheit dieses Textensembles ist eine Zielsetzung verbunden, die ebenfalls kaum Pendants in anderen Lehrgedichten der Epoche besitzt: eine Zielsetzung, die eine Erörterung allgemeiner, ‚universeller‘ philosophischer Fragen mit konkreten Stellungnahmen zu nationalen und lokalen Vorgängen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft verbindet. Andererseits vereint der Essay on Man in seiner komplexen und spannungsvollen Anlage verschiedene formale Modelle und Zielsetzungen, von denen einzelne jeweils für eine größere Zahl von Lehrgedichten des 18. Jahrhunderts charakteristisch sind. In diesem eingeschränkten oder präzisierten Sinne kann man ihn tatsächlich als „das große europäische Musterstück aufgeklärter Lehrdichtung“ bezeichnen.250

2 Deutschsprachige Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte: Zwischen Kanzel und Kaffeehaus In einer Rezension von 1751 schrieb Lessing: „Unseres Wissens hat sich die Epoche des gereinigten Geschmacks unter den Deutschen mit vortrefflichen Lehrgedichten angefangen.“251 Lessing nennt hier keine Namen, aber andere Äußerungen aus seiner Feder berechtigen zu der Vermutung, dass er vor allem an Albrecht von Haller, Friedrich von Hagedorn und Abraham Gotthelf Kästner, außerdem vielleicht an Barthold Heinrich Brockes dachte.252 Jedenfalls etabliert Lessing hier einen Zusammenhang zwischen der Gattung des Lehrgedichts und der ‚Reinigung‘ des Geschmacks in der deutschen Dichtung. Ähnliche Einschätzungen werden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch von anderen Autoren formuliert: Zu Beginn des Jahrhunderts habe sich eine Reinigung oder Wiederbelebung der deutschen Dichtung vollzogen, und einen entscheidenden Anteil an diesem Vorgang hatten Haller und Hagedorn, und zwar nicht zuletzt mit ihren Lehrgedichten.

250 Alt, Aufklärung, S. 144. 251 Gotthold Ephraim Lessing, „[Rez. zu:] Kristian Benjamin Schubert, Lehrgedichte. Breslau 1751“ (1751), in: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. Wilfried Barner [u. a.]. Bd. 2: Werke 1751–1753. Hrsg. von Jürgen Stenzel. Frankfurt a.M. 1998, S. 201 f., hier S. 201. 252 Zu Lessings Bewunderung für Hallers Lehrgedichte vgl. Karl S. Guthke, „Haller und Lessing: Einsames Zwiegespräch“, in: Ders., Literarisches Leben im achtzehnten Jahrhundert in Deutschland und in der Schweiz, Bern/München 1975, S. 118–152, 376–379 (Anm.), S. 119 f.

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II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte

In der neueren Forschung spricht man mit Bezug auf das frühe 18. Jahrhundert zwar nicht mehr von einer ‚Reinigung‘ des Geschmacks oder einer Wiederbelebung der deutschen Dichtung, nimmt aber doch einen tiefgreifenden Wandel an, und es ist weitgehend unstrittig, dass dieser Umbruch auch einen wesentlichen Hintergrund für die Hinwendung zum Lehrgedicht in der ersten Jahrhunderthälfte bildet.253 Der umfassende Umbruch in der Zeit um 1700 manifestierte sich bekanntlich unter anderem in der zunehmenden Kritik an den Stilidealen der vorangegangenen Jahrzehnte, insbesondere an der sogenannten Zweiten Schlesischen Schule, und in der Distanzierung von der massenhaften Praxis der Kasualpoesie. Die kritischen Urteile über die Dichtung von Lohenstein, Hoffmannswaldau und ihrer Schule beriefen sich häufig auf die Begriffe von Natur und Vernunft; die Gelegenheitsdichtung wurde wegen ihrer inhaltlichen Trivialität und Monotonie abgelehnt. Diese Abwertung großer Teile der literarischen Produktion der jüngsten Vergangenheit wurde begleitet von Klagen darüber, dass die deutsche Dichtung im Verhältnis zur englischen und französischen Dichtung zurückgeblieben sei. Der etwa 1730 einsetzende Aufstieg des Lehrgedichts zu einer der besonders intensiv gepflegten Dichtungsgattungen wurde dadurch begünstigt, dass diese Gattung die Forderungen nach einer Orientierung an Natur und Vernunft sowie nach hohem Anspruch besonders gut erfüllen konnte. Die folgenden Analysen zu deutschsprachigen Lehrgedichten der Jahre zwischen etwa 1730 und 1750 knüpfen an diese Forschungspositionen an und übernehmen von ihnen die grundlegende Annahme, dass die Pflege des Lehrgedichts in diesem Zeitraum wesentlich durch das Streben nach einer Niveausteigerung der deutschen Dichtung mit bedingt wurde. Haller etwa hat seine eigene Hinwendung zum Lehrgedicht ganz ausdrücklich in diesen Zusammenhang gestellt. Aber gegen eine häufig vertretene Sichtweise soll hier betont werden, dass Haller und andere Verfasser von Lehrgedichten die Aufwertung der Dichtung nicht durch die veranschaulichende Wiedergabe naturwissenschaftlicher oder philosophischer Theorien erreichen wollten. Eine solche Verwendung von Gedichten zum Zwecke der Popularisierung mag als ein naheliegendes Mittel zur Reputationssteigerung der Poesie erscheinen, und es finden sich zweifellos Lehrgedichte, die dieser Absicht verpflichtet sind. Den Lehrgedichten Hallers wie auch jenen Friedrich von Hagedorns, also besonders einflussreichen Vertretern der Gattung, wird eine solche Deutung aber nicht gerecht. Haller wie auch Hagedorn nutzten die Form des Lehrgedichts vielmehr für eigenständige Stellungnahmen innerhalb der zeitgenössischen philosophischen Diskussion.

253 Vgl., auch zum Folgenden: Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 5/II: Frühaufklärung, S. 11–46; Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 10–19.

2 Deutschsprachige Lehrgedichte

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Gibt es somit zwischen den leitenden Absichten der Lehrgedichte Hallers und Hagedorns wichtige Gemeinsamkeiten, so weisen sie in formaler wie inhaltlicher Hinsicht auch beträchtliche Unterschiede auf. Am Beispiel ihrer Lehrgedichte lässt sich also zeigen, dass es unter den deutschsprachigen Dichtern durchaus divergierende Vorstellungen darüber gab, wie die ‚reformierte‘, anspruchsvolle, an Natur und Vernunft orientierte Dichtung aussehen sollte, und dass sich diese Divergenzen auch innerhalb der Gattung des Lehrgedichts manifestierten. Andersherum formuliert: Die konkrete Gestalt, die die Lehrgedichte Hallers und Hagedorns annahmen, lässt sich nur in geringem Maße durch das erwähnte allgemeine Reformstreben verständlich machen. Diese spezifischen Ausformungen sind vielmehr wesentlich durch die jeweiligen ethischen und religiösen Überzeugungen dieser Autoren oder auch durch soziale Kontexte ihres Dichtens beeinflusst.

2.1 Albrecht von Haller Es besteht ein Konsens darüber, dass die Lehrgedichte Albrecht von Hallers in der Entwicklung dieser Gattung im 18. Jahrhundert einen herausragenden Platz einnehmen.254 Für die große Anregungswirkung, die diese Gedichte auf andere Autoren ausübten, sowie für die Reputation, die sie bis zum Ende des Jahrhunderts und darüber hinaus genossen, gibt es eine Fülle von Belegen, die von der Forschung gründlich aufgearbeitet worden sind.255 Autoren von Lehrgedichten beriefen sich in der Zeit zwischen 1730 und 1770 vielfach auf das Vorbild Hallers, und in theoretischen Erörterungen der Gattung wurden seine Gedichte häufig als besonders gelungene Muster herangezogen. Dass andere Lehrdichter häufig auf Haller verwiesen, sagt allerdings noch kaum etwas darüber aus, in welchem Maße ihre Gedichte auch tatsächlich in inhaltlicher oder struktureller Hinsicht den Gedichten Hallers ähneln und als Abwandlungen eines von ihnen etablierten Modells erscheinen. Siegrist hat die These vertreten, dass dies in hohem Maße der Fall sei:

254 Jäger etwa bezeichnet Brockes und Haller als „[d]ie beiden bedeutendsten Didaktiker des ersten Jahrhundertdrittels“ (Jäger, „Lehrdichtung“, S. 506). Vgl. auch Jørgensen/Bohnen/ Øhrgaard, Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik 1740–1789, S. 220 f. 255 Zur Rezeption des Haller’schen Werks im 18. Jahrhundert vgl. Kempf, Albrecht von Hallers Ruhm als Dichter; speziell zur Rezeption der Lehrgedichte in der Epoche der Aufklärung ebd., S. 30–35.

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II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte

Der Typus des aufklärerischen Lehrgedichtes steht mit der 2. Auflage von Hallers Versuch (1734) so ausgeprägt vor uns, daß die weitere ‚Entwicklung‘ eigentlich nur noch eine Variation der von Haller geschaffenen Form darstellt.256

In anderen Darstellungen erscheint Hallers Form des Lehrgedichts eher als eine einflussreiche Variante neben anderen, die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts von Brockes, Hagedorn und weniger prominenten Autoren entwickelt wurden.257 Die folgenden Untersuchungen werden plausibel zu machen suchen, dass Hallers Lehrgedichte nicht sinnvoll als Realisierungen des Grundtyps des aufklärerischen Lehrgedichts, der von den späteren Gedichten nur noch variiert worden wäre, aufgefasst werden können. Die zitierte These Siegrists erscheint schon deshalb als problematisch, weil unter den deutschsprachigen Lehrgedichten der Zeit zwischen 1730 und 1760 auch Beispiele für die ‚Großform‘ des Lehrgedichts sind, also Gedichte, die in mehrere Bücher unterteilt sind, mehrere tausend Verse umfassen und eine annähernd ‚systematische‘ Philosophie entfalten (so Wielands Die Natur der Dinge) oder philosophische Theorienkomplexe methodisch ausbreiten (so Lichtwers Das Recht der Vernunft). Hallers Ueber den Ursprung des Uebels, sein umfangreichstes Lehrgedicht, enthält dagegen ‚nur‘ etwa sechshundert Verse. Fachwissenschaftliche Lehrgedichte, die wie dasjenige Lichtwers ausdrücklich wissenschaftliche oder philosophische Theorien wiedergeben wollen, finden sich in Hallers Œuvre gar nicht. Aber selbst bei Lehrgedichten von Autoren wie Hagedorn, die hinsichtlich des Umfangs und der Thematik eher denjenigen Hallers ähneln, spricht manches dagegen, sie als Variationen eines von ihm geschaffenen Typus zu beschreiben, da sie hinsichtlich ihrer Bauformen, ihrer stilistischen und argumentativen Gestaltung und ihrer Inhalte vielfach eigenständige Züge aufweisen. Dieses Teilkapitel soll zunächst die spezifischen Eigenschaften der Lehrgedichte Hallers herausarbeiten und damit auch eine Grundlage für den Vergleich mit den Gedichten anderer Autoren wie Hagedorn schaffen. Mit Blick auf Haller ist auch von besonderem Interesse, dass er mit seinen Lehrgedichten ausdrücklich eine neuartige, in der deutschen Dichtung noch nicht etablierte Dichtungsweise einführen wollte. Es gilt daher zu untersuchen, was genau für ihn diese neue Dichtungsweise ausmachte und wie sie sich zur Tradition des Lehrgedichts verhält. Ferner suchen die folgenden Analysen zu klären, durch welche Kontexte die spezifischen inhaltlichen und strukturellen Züge der Lehrgedichte

256 Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 245. Vgl. ähnlich auch ebd., S. 248. 257 Vgl. etwa Jäger, „Lehrdichtung“; Albertsen, Das Lehrgedicht, dort zu Haller v. a. S. 208–216, 223–239.

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Hallers besonders geprägt wurden: in welchem Maße sie also durch dichtungstheoretische Annahmen, durch naturwissenschaftliche Konzepte oder durch ethische und religiöse Positionen bestimmt wurden. 2.1.1 Hallers Versuch Schweizerischer Gedichte Haller hat bekanntlich nur einen Gedichtband veröffentlicht. Er erschien zuerst 1732 anonym in Bern unter dem Titel: Versuch Schweizerischer Gedichten.258 1734 publizierte Haller eine erweiterte und revidierte Ausgabe, nun unter dem Titel Dr. Ders. Versuch Von Schweizerischen Gedichten. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten veröffentlichte Haller immer wieder überarbeitete und ergänzte Ausgaben der Gedichtsammlung; die letzte von ihm autorisierte Ausgabe, die elfte, erschien 1777. In der ersten Auflage umfasste der Versuch zehn Gedichte. Unter ihnen waren drei, die später häufig oder fast durchgehend als Lehrgedichte eingeordnet wurden: Die Alpen, Gedanken über Vernunfft / Aberglauben und Unglauben sowie Falschheit menschlicher Tugenden.259 In der zweiten Auflage fügte Haller unter anderem das Gedicht Ueber den Ursprung des Uebels hinzu, das man später oft als sein bedeutendstes Lehrgedicht betrachtet hat. Von der dritten Auflage (1743) an schließlich enthielt der Band auch das Unvollkommene[] Gedicht über die Ewigkeit, das ebenfalls häufig als Lehrgedicht eingeordnet wurde. Hallers Versuch war eine „bunte Sammlung“, eine Zusammenstellung formal wie thematisch heterogener Gedichte.260 Doch das Motto auf dem Titelblatt legte für die Leser die Vermutung nahe, dass in dem Band insgesamt eine Tendenz zur Satire dominieren würde, denn das Motto stammt von Juvenal.261 Dazu passte es, dass Haller in der Vorrede des Bandes darauf hinwies, dass „einige Stellen gewisser Stücken vielen hart ankommen“ könnten, und diese Stellen mit dem jugendlichen Alter entschuldigte, in dem er die Gedichte

258 Vgl. [Albrecht von Haller], Versuch Schweizerischer Gedichten, Bern 1732. – Für die folgenden Bemerkungen zur Publikationsgeschichte vgl. Eric Achermann, „Dichtung“, in: Steinke/Boschung/Proß (Hrsg.), Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche, S. 121–155, hier S. 121. 259 Ferner enthielt der Band die folgenden Gedichte: Morgen-Gedanken (S. 28–30); Ueber die Ehre. Als Herr D. Giller den Doctor–Hut annahme (S. 34–45); Verdorbene Sitten (S. 88–100); Ueber die Tugend. Sapphische Ode an Herrn Hofraht Drollinger (S. 101–103). 260 Achermann, „Dichtung“, S. 121. Diese „formale und thematische Heterogenität“ war, wie auch Achermann bemerkt, in der zweiten Auflage noch ausgeprägter als in der ersten (ebd.). 261 Das Motto lautet: „Stulta est Clementia, cum tot ubique | Vatibus occurras, perituræ parcere Chartæ.“ Vgl. [Haller], Versuch Schweizerischer Gedichten (1732), Titelblatt; Vgl. Juvenal, Satiren, I.1, V. 17 f. Eine Übersetzung des Mottos lautet: ‚Wenn du überall so vielen Dichtern begegnest, wäre es törichtes Mitleid, das vergängliche Papier zu schonen.‘

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verfasst habe.262 In dieser Vorrede deutete er ferner an, dass die Gedichte nicht nur aufgrund solcher Angriffe auf Zeitgenossen, sondern auch aufgrund ihrer Äußerungen über den Glauben Anstoß erregen konnten; er versicherte daher, „daß Er wider den geoffenbahrten Glauben weder Zweiffel noch Vorurtheil jemahls gehabt“ und dass die kritischen Äußerungen sich nur auf „den falschen Glauben“ beziehen.263 Motto und Vorrede wecken also die Erwartung, dass die Gedichte satirische Kritik an der Gesellschaft üben und in Religionsfragen heterodoxe oder zumindest der Heterodoxie verdächtige Standpunkte vertreten werden. Es ist nicht schwer, in den Gedichten selbst die Tendenzen auszumachen, auf die diese Paratexte vorbereiten, und Haller erregte mit dem Band denn auch den Unmut einflussreicher Berner Bürger. Orthodoxe Theologen beschuldigten ihn der Freigeisterei, und konservative Patrizier nahmen ihm die scharfe Kritik an den politischen Zuständen in Bern übel.264 Dass Haller selbst die satirischen und zeitkritischen Züge der Gedichte auf diese Weise hervorhob, ist auch mit Blick auf seine Lehrgedichte von Interesse, denn mehrere dieser Gedichte enthalten ausgedehnte Passagen, die in oft satirischer Weise zeitgenössische Sitten, Denkweisen und Moden kritisieren. Hallers Hinwendung zur Lehrdichtung oder zur philosophischen Dichtung, die im Folgenden näher zu untersuchen ist, geschieht somit wesentlich unter dem Vorzeichen einer satirisch-zeitkritischen Orientierung, die er auch in ‚rein‘ satirischen Gedichten zum Ausdruck bringt. 2.1.2 Welche Gedichte Hallers sind Lehrgedichte? Auf die Frage, welche Gedichte Hallers als Lehrgedichte zu bezeichnen sind, findet sich weder in der jüngeren Forschung noch in der zeitgenössischen Rezeption eine einhellig geteilte Antwort. Bei einigen Gedichten war und ist weitestgehend unstrittig, dass sie dazugehören, bei einigen anderen, dass sie nicht dazugehören. Aber es bleiben einige Gedichte, die im 18. Jahrhundert wie in neueren Darstellungen unterschiedlich klassifiziert werden. Es lohnt sich, einen Blick auf die vorgeschlagenen Einordnungen zu werfen, da die zu beobachtenden Divergenzen ein Licht auf Hallers Praxis des didaktischen Dichtens werfen. Das Gedicht, über dessen Zugehörigkeit zur Gattung des Lehrgedichts die größte Einigkeit besteht, ist Ueber den Ursprung des Uebels. Auch die Gedichte

262 [Haller], Versuch Schweizerischer Gedichten (1732), „Vorbericht“ (unpag.). 263 Ebd. 264 Vgl. Achermann, „Dichtung“, S. 127; Kempf, Albrecht von Hallers Ruhm als Dichter, S. 5 f.; Ludwig Hirzel, „Hallers Leben und Dichtungen“, in: Haller/Hirzel, S. III–DXXXVI, hier S. CXV–CXVIII.

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Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben sowie Falschheit menschlicher Tugenden werden meist als Lehrgedichte bezeichnet, vereinzelt aber auch als Satiren.265 Diese drei Gedichte sind auch diejenigen, die dem in dieser Arbeit zugrunde gelegten Begriff des Lehrgedichts am genauesten entsprechen. Die Alpen galt im 18. Jahrhundert meist als ein beschreibendes Gedicht, wobei man diese Gedichtart allerdings als mit dem Lehrgedicht verwandt ansah.266 Auch in der neueren Forschung wird das Gedicht mal als beschreibendes Gedicht, mal als Lehrgedicht oder auch als Naturgedicht eingeordnet.267 Hallers Unvollkommenes Gedicht an die Ewigkeit wurde und wird vielfach als Lehrgedicht rubriziert, gelegentlich aber auch als Ode.268 Die fünf bisher genannten Gedichte dürften diejenigen sein, die heute noch am bekanntesten sind.269 Im 18. und frühen 19. Jahrhundert waren einige andere Gedichte Hallers noch ebenso geläufig wie die erwähnten, und einige von ihnen wurden gelegentlich auch als Lehrgedichte bezeichnet. Das gilt für die Gedichte Ueber die Ehre und Die verdorbenen Sitten270 sowie für ein Antwortgedicht Hallers auf ein Gedicht Bodmers. Zu der Frage, welche dieser Gedichte Haller selbst als Lehrgedichte ansah, lassen sich – vor allem mit Blick auf die variabel eingeordneten – kaum präzisere

265 Vgl. Barbara Mahlmann-Bauer, „Albrecht von Haller, Satiriker auf den Spuren Voltaires und Swifts“, in: Jean-Daniel Candaux [u. a.] (Hrsg.), Albrecht von Haller zum 300. Geburtstag, Zürich 2008, S. 7–43, hier S. 7, 19–27. 266 Eschenburg rubriziert Die Alpen als ein Beispiel für „beschreibende Poesie“ (vgl. Johann Joachim Eschenburg, Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften. Zur Grundlage bei Vorlesungen. Neue, umgearbeitete Ausgabe, Berlin/Stettin 1789, S. 136; zur „beschreibende[n] Poesie“ dort S. 133–136). Die „beschreibende Poesie, als besondre Gattung betrachtet“, ist ihm zufolge allerdings mit dem Lehrgedicht „sehr verwandt“ (ebd., S. 133). – Als beschreibendes Gedicht wird Die Alpen auch eingeordnet bei Friedrich Bouterwek, Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts. Eilfter Band. Göttingen 1819, S. 54. 267 Als „Natur- und Lehrgedicht“ wird Die Alpen bezeichnet bei Wilfried Barner, „Hallers Dichtung“, in: Elsner/Rupke (Hrsg.), Albrecht von Haller im Göttingen der Aufklärung, S. 381–418, hier S. 400. Für Barner gehört das Alpengedicht zu einem anderen „Gedichttypus“ als „die ‚philosophischen‘ Gedichte“ (ebd.). 268 Für eine Einordnung als Ode plädieren (gegen die häufigere Bezeichnung als Lehrgedicht): Richter, Literatur und Naturwissenschaft, S. 103–105; Albertsen, Das Lehrgedicht, S. 236. 269 Die Reclam-Ausgabe mit Gedichten Hallers, die Adalbert Elschenbroich 1965 herausgegeben hat, enthält die genannten fünf Gedichte sowie die Trauer-Ode, beim Absterben seiner geliebten Mariane. 270 Bouterwek schreibt in seiner Literaturgeschichte: „Einige der didaktischen Gedichte Haller’s werden gewöhnlich zu den Satyren gezählt, unter andern die Rügen des Lasters und der Thorheit unter dem Titel Die verdorbenen Sitten.“ (Bouterwek, Geschichte der Poesie und Beredsamkeit, 11. Band, S. 57) Bouterwek zählt Die verdorbenen Sitten also zu den didaktischen Gedichten oder hält so eine Zuordnung zumindest für vertretbar.

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Vermutungen begründen. Haller scheint seine Gedichte, soweit sich seine brieflichen und anderen Äußerungen überblicken lassen, zunächst nicht als Lehrgedichte bezeichnet zu haben. In der vierten Auflage seines Gedichtbandes erklärte er ausdrücklich, er habe mit zweien seiner Gedichte, nämlich mit Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben und Falschheit menschlicher Tugenden, zeigen wollen, dass man auch in deutscher Sprache philosophische Gedichte schreiben könne, oder genauer: „daß die deutsche Sprache keinen Anteil an dem Mangel Philosophischer Dichter hätte“.271 Auf diese Selbstaussage und auf die Frage, was Haller unter philosophischer Dichtung verstand, wird später zurückzukommen sein. Den Ausdruck „Lehrgedichte“ gebrauchte Haller mit Blick auf seine eigenen Gedichte in dem 1772 verfassten Brief an den Freiherrn von Gemmingen, in dem er Hagedorn und sich selbst verglich.272 Doch er sagt dort nicht, welche seiner Gedichte er zu den Lehrgedichten zählte. Dass die generischen Einordnungen der Gedichte Hallers in der Forschung die oben skizzierten Divergenzen aufweisen, könnte auf Unterschiede zwischen den vorausgesetzten Gattungsbegriffen zurückzuführen sein. Da die zugrunde gelegten Definitionen häufig nicht explizit gemacht werden, lässt sich dies kaum überprüfen. Die unterschiedlichen Einordnungen könnten aber auch darauf verweisen, dass Haller in einigen Gedichten das Muster des Lehrgedichts relativ ‚rein‘ verwirklicht hat, während er es in anderen Gedichten mit anderen Gattungen wie dem beschreibenden Gedicht, der Satire oder der Ode kombiniert hat, so dass diese Gedichte sich weniger eindeutig klassifizieren lassen. Diese Vermutung lässt sich durch eine Analyse der Gedichte tatsächlich im Großen und Ganzen bestätigen. Um dies zu zeigen, soll im Folgenden zunächst das – zugespitzt gesagt – ‚Grundmodell‘ der Haller’schen Lehrgedichte herausgearbeitet werden. 2.1.3 Das Grundmodell: Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben (1732) Unter den Gedichten Hallers, die oft oder durchgehend als Lehrgedichte eingeordnet wurden, erlangten drei schon im 18. Jahrhundert besonderen Ruhm: Die

271 Albrecht Haller, Versuch Schweizerischer Gedichte. Vierte, vermehrte und veränderte Aufl. Göttingen 1748, S. 53 (Vorbemerkung zu Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben). 272 Vgl. Albrecht von Haller, „Schreiben an den Herrn Regierungs-Präsidenten Freyherrn von Gemmingen in Stuttgart über die Vergleichung zwischen Hagedorns und Hallers Gedichten“, in: [Ders.], Sammlung kleiner Hallerischer Schriften. Zweite, verbesserte und vermehrte Aufl. [Drei Bände.] Dritter Theil. Bern 1772, S. 335–352, hier S. 342. Dieser Brief ist unter der Überschrift „Vergleichung zwischen Hagedorns und Hallers Gedichten“ abgedruckt in: Haller/Hirzel, S. 397–406; Hallers Hinweis auf seine „Lehrgedichte[]“ hier S. 400.

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Alpen, Ueber den Ursprung des Uebels und Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit. Hier soll gleichwohl an erster Stelle und am ausführlichsten nicht eines dieser Gedichte analysiert werden, sondern das Gedicht Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben: ein Gedicht, das schon in der ersten Auflage von Hallers Gedichtband enthalten war, und eines der zwei Gedichte (neben Falschheit menschlicher Tugenden), die von Haller selbst später als seine ersten Versuche in der Form des philosophischen Gedichts präsentiert wurden. Diese zwei Gedichte sind nicht nur die frühesten philosophischen Gedichte Hallers; es lässt sich auch zeigen, dass sie ein Grundmuster realisieren, das in Ueber den Ursprung des Uebels und Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit variiert wird. Das Gedicht enthielt zunächst 392, ab der vierten Auflage 388 Alexandrinerverse und ist in Abschnitte von ungleicher Länge unterteilt.273 In der Überschrift wird Hallers Basler Freund Stähelin als Adressat genannt; im Gedicht selbst wird Stähelin mehrfach angeredet. Auch wenn Haller später selbstkritisch andeutete, dass es dem „Grund-Riß“ des Gedichts an Deutlichkeit fehle,274 ist zumindest eine grobe Gliederung gut zu erkennen,275 denn in Vers 111 beginnt der Sprecher mit der Erörterung von zwei Arten des Glaubens („Zwey Glauben“, 111), die unschwer mit den im Titel genannten Einstellungen von „Aberglauben“ und

273 Die vier später gestrichenen Verse folgen auf V. 64 und lauten: „Noch der ohn Eigennuz des Staates Wohl begehrt | Der hat noch halb gelebt, und ist des Wesens wehrt. | Du aber Pöbel sag und sag es ohn erröhten | Zu allem, was du thust, ist eine Seel vonnöhten?“ (Haller, Versuch, 2. Aufl. 1734, S. 56) – Ich zitiere das Gedicht im Folgenden nach der vierten Auflage, damit die Versangaben sich problemlos mit denen in anderen Untersuchungen, die in der Regel nach der vierten oder einer späteren Auflage zitieren, vergleichen lassen. 274 In der Vorbemerkung zu dem Gedicht Falschheit menschlicher Tugenden erklärte Haller, der „Grund-Riß“ dieses Gedichts sei „stärker“, aber die „Verse“ seien „schwächer“ als in dem Gedicht Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben. 275 Adolf Frey hat geurteilt, es handle sich bei dem Gedicht „mehr um eine Folge prachtvoller Monologe über das Thema [. . .] als um eine strenggegliederte Bearbeitung desselben“ (Ad[olf] Frey, „Einleitung“, in: Haller und Salis-Seewis. Auswahl. Hrsg. A[dolf] Frey. Berlin/Stuttgart [o.J.], S. III–XLVIII, hier S. XXXV); zustimmend zitiert wird diese Einschätzung bei: Siegrist, Albrecht von Haller, S. 28. Widersprochen hat dieser Ansicht Menhennet, der trotz der begrenzten oder auch nur scheinbaren Ungeordnetheit eine deutliche Dreiteilung des Gedichts ausmacht; vgl. Menhennet, „Haller’s ‚Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben‘“, S. 96 (für die Rede von einer „surface untidiness“ des Gedichts), 99 (für die Kritik an Frey), 99–104 (für die Analyse der triadischen Struktur). Dass auch Menhennet noch die Ungeordnetheit des Gedichts übertreibe, meint Mahlmann-Bauer, „Albrecht von Haller, Satiriker auf den Spuren Voltaires und Swifts“, S. 23 (Anm. 40). Stefanie Arend zufolge weist das Gedicht „einen klaren Aufbau auf, eine nach rhetorischen Gesichtspunkten durchgefeilte compositio.“ (Stefanie Arend, „Systemlosigkeit mit System? Zur Stoakritik in Albrecht von Hallers ‚Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben‘“, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 23/2013, S. 19–34, hier S. 26)

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„Unglauben“ identifiziert werden können. Von dieser Diskussion des Aberglaubens und des Unglaubens ist der Schlussteil des Gedichts wiederum deutlich abgesetzt. Es liegt daher nahe, das Gedicht als in drei Teile untergliedert aufzufassen, von denen der mittlere und längste Teil eine Erörterung von Aberglauben und Unglauben bietet und somit auch als das inhaltliche Zentrum des Gedichts gelten kann.276 Im ersten Teil führt der Sprecher zu seinem zentralen Thema hin, indem er allgemein verbreitete Formen der Unvernunft beschreibt und beklagt:277 Gerade die ‚dümmsten Toren‘ maßen sich demnach Urteile über die schwierigsten Fragen an und verfechten besonders aggressiv ihre Überzeugungen. Durch diese ‚Toren‘ wird der Sprecher zu dem bitteren Ausruf veranlasst, dass die Menschen ‚nie‘ ihre Vernunft gebrauchen, bevor er diese Aussage durch eine Unterscheidung präzisiert: Die Menschen hätten durchaus sehr erfolgreich das Reich der Natur erforscht und technische Erfindungen hervorgebracht (27–56), aber sie gebrauchen ihre Vernunft nicht, um sich selbst zu erforschen und über die richtige Art des Lebens nachzudenken (57–64). Diese Diagnose konkretisiert der

276 Die Begriffstrias im Titel „Vernunft, Aberglauben und Unglauben“ kann die Vermutung nahelegen, dass diese Abschnitte oder zumindest einer von ihnen die „Vernunft“ behandelt. So nimmt Mahlmann-Bauer an, dass den drei Begriffen des Titels jeweils ein Gedichtabschnitt zugeordnet sei, dass diese Abschnitte allerdings nicht klar voneinander abgegrenzt und zudem ungleichen Umfangs seien; vgl. Mahlmann-Bauer, „Albrecht von Haller, Satiriker auf den Spuren Voltaires und Swifts“, S. 23. Sie untergliedert das Gedicht wie folgt: V. 1 bis 110/111: Würdigung wissenschaftlicher Fortschritte und menschlichen Erkenntnisstrebens; 111–221: Aberglauben; 222–268: Religionskritik des Freigeistes; 269–389: Gefährdung und Selbstbegrenzung des weisen Gottsuchers. Der erste Gedichtteil (V. 1 bis 110) wäre demnach der Vernunft zugeordnet. Doch es scheint mir nicht richtig zu sein, dass dieser Teil eine „Würdigung wissenschaftlicher Fortschritte und menschlichen Erkenntnisstrebens“ bietet; diese Würdigung wird von vornherein als eine Konzession markiert, auf die dann ab Vers 57 die zentrale Behauptung folgt, dass die Menschen bei ihrer Naturforschung die eigentlich wichtigen Fragen gerade vernachlässigen, die Vernunft also falsch gebrauchen. – Es ist denkbar, dass die drei Begriffe im Titel nicht als auf einer Ebene liegend zu verstehen sind; „Vernunft“ könnte nicht im Sinne von ‚Vernünftigkeit‘ und somit als Gegenbegriff zu „Aberglauben“ und „Unglauben“ gemeint sein, sondern als Bezeichnung für ein Vermögen, das richtig oder falsch verwendet werden kann und von den Anhängern des Aberglaubens und Unglaubens eben falsch verwendet wird. Dass die Vernunft dennoch eigens genannt wird, könnte darauf verweisen, dass dieses Vermögen in dem Gedicht auch unabhängig von den zwei Verfehlungen des Aberglaubens und Unglaubens diskutiert wird, nämlich im Hinblick auf seine Reichweiten und Grenzen. 277 Der erste Abschnitt wirkt zumindest auf den ersten Blick nicht allzu stringent; Hallers Einschätzung vom schwachen ‚Grund-Riss‘ mag unter anderem auf diesen Gedichtteil gezielt haben. Menhennet bewertet den ersten Teil als „the most complicated of the three main stages of the poem“ (Menhennet, „Haller’s ‚Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben‘“, S. 101).

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Sprecher, indem er den als repräsentativ ausgegebenen Lebenslauf eines Menschen schildert, der in jeder Lebensphase durch andere Neigungen oder Leidenschaften vom Nachdenken über die eigentlich wichtigen Fragen abgehalten wird (65–92). Dennoch machen sich alle Menschen bestimmte Meinungen über diese Fragen zu eigen. Mit dieser Feststellung beginnt der Mittelteil des Gedichts; er wird durch eine explizit gliedernde Formulierung der Art eingeleitet, wie sie für die traditionelle Form des Lehrgedichts charakteristisch ist:278 Zwey Glauben hat die Welt hierinn sich längst erwählet, Da jeder viel verspricht, und jeder weit verfehlet. Dem einen dienet itzt das menschliche Geschlecht, Der Erdkreiß ist sein Reich, und wer drauf wohnt, sein Knecht.

[111–114]

Der Mittelteil ist einer Erörterung dieser „[z]wey Glauben“ gewidmet. Bei ihnen handelt es sich offenbar um die im Gedichttitel genannten Einstellungen von „Aberglauben“ und „Unglauben“; der Ausdruck „Aberglauben“ taucht im Abschnitt über den ersten dieser Glauben auch tatsächlich auf (160). Der Übergang von der Diskussion des ersten zur Erörterung des zweiten Glaubens wird explizit markiert durch die Verse: „In stiller Heimlichkeit, umzielt mit engen Schranken | Herrscht eine zweyte Lehr [. . .].“ (223 f.) Der Sprecher charakterisiert diese Glauben als zwei gegensätzliche und gleichermaßen verfehlte Arten, mit den Fragen von Moral und Religion umzugehen. Die Anhänger des ersten Glaubens verzichten ganz auf das eigene Nachdenken über diese Fragen und glauben das, was ihnen von Autoritäten – vor allem kirchlichen Autoritäten – vorgeschrieben wird. Die Anhänger des zweiten Glaubens hingegen verlassen sich allein auf ihren eigenen Verstand, gebrauchen ihn aber in exzessiver Weise; sie überschreiten beim Nachdenken über diese Fragen die dem menschlichen Verstand gesetzten Grenzen und gelangen so dazu, die Existenz Gottes und der Vorsehung zu leugnen und irrige Auffassungen über das Wesen des Menschen, der Seele und der Tugend zu entwickeln.279 Während der Beginn des Mittelteils und der Übergang von der Erörterung des Aberglaubens zu der des Unglaubens deutlich markiert werden, ist das Ende des Mittelteils weniger eindeutig gekennzeichnet. Zwei Stellen kommen hierfür in Frage, doch am plausibelsten erscheint es, ein Verspaar als Beginn des Schlussteils aufzufassen, das für sich steht und in dem erstmals wieder Stähelin angeredet wird: „Und Du, o Stähelin! was hast du dir erwählt? | Da Glauben uns betriegt, 278 Vgl. Haye, Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter, S. 173–184. 279 Vgl. auch Rémi, „Religion und Theologie“, S. 203.

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und Zweifel immer quält.“ (305 f.) In diesem Schlussabschnitt stellt der Sprecher den im Mittelteil erörterten verfehlten Haltungen den richtigen Vernunftgebrauch gegenüber, umreißt die darauf gegründete Lebenseinstellung des wahren Weisen und bekräftigt in einer abschließenden Anrede Stähelins seinen Vorsatz, zusammen mit ihm ein Leben im Zeichen dieser „Weisheit“ (369) zu führen.280 2.1.3.1 Sprechhandlungen: philosophische Erörterung, moralische Kritik und existenzielle Klage Eine Art Grundmuster der Haller’schen Lehrgedichte wird durch Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben vor allem insofern realisiert, als dieses Gedicht Sprechhandlungen verbindet, die für das Korpus der didaktischen Gedichte Hallers insgesamt charakteristisch sind und die in den einzelnen Gedichte in verschiedenen Gewichtungen kombiniert werden. Mit einer groben Differenzierung lassen sich in Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben drei solche Sprechhandlungen unterscheiden, die formelhaft als philosophische Erörterung, moralische Kritik und existenzielle Klage bezeichnet werden können. Erstens erörtert der Sprecher philosophische Probleme: Er wirft Fragen auf, formuliert Thesen und sucht sie zu begründen; zu dieser Erörterung philosophischer Fragen gehört auch das Aufstellen von Unterscheidungen sowie das Vorschlagen von Erklärungen. Die Gegenstände der Erörterung bilden in diesem Gedicht menschliche Denk- und Verhaltensweisen, und sie werden vom Sprecher nicht allein in sachlich-distanzierter Weise analysiert, sondern – zweitens – auch kritisiert, und zwar wesentlich aus moralischer Perspektive kritisiert; diese Kritik nimmt häufig satirische oder polemische Züge an. Drittens schließlich drückt der Sprecher wiederholt Klagen aus. An einigen Stellen klagt er über die Verbreitung der von ihm analysierten und kritisierten Verfehlungen und Laster; diese Kundgaben von Schmerz und Empörung sind also eng mit der kritischen und satirischen Redehaltung verbunden oder könnten sogar als Bestandteile derselben aufgefasst

280 In diesem an Stähelin gerichteten Schlussabschnitt finden sich auch die Verse: „Uns ist die Seelen-Ruh und ein gesundes Blut, | Was Zeno nur gesucht, des Lebens wahres Gut“ (377 f.). Sie bilden den entscheidenden Ausgangspunkt für die Interpretation Arends, der zufolge das zentrale Anliegen des Gedichts in einer Kritik der antiken Stoa bestehe; diese Kritik sei aber nicht überzeugend, denn das am Ende evozierte Lebensideal trage eminent stoische Züge (vgl. Arend, „Systemlosigkeit mit System?“). Diese Deutung scheint mir nur bedingt überzeugend. Es mag durchaus sein, dass der kritische Seitenhieb gegen Zeno auf ein reduziertes Bild der Stoa bei Haller schließen lässt, und der Hinweis auf solche Reduktionen in der StoaRezeption ist zweifellos wichtig. Doch für die These, die Kritik an der Stoa sei die zentrale Absicht oder auch nur eine der primären Absichten des Gedichts, bietet der Text meines Erachtens keine Grundlage.

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werden. Aber gelegentlich deutet der Sprecher auch eine Klage an, die nicht dem Fehlverhalten von Personen, sondern Aspekten der conditio humana selbst gilt, etwa den Beschränkungen, die dem menschlichen Verstand inhärent sind. Im Folgenden ist zu zeigen, wie diese drei Sprechhandlungen im Gedicht miteinander verknüpft werden. Schon die Anfangspassage des Gedichts verbindet die polemische Beschreibung einer verfehlten Haltung mit der Formulierung philosophischer Probleme und lässt in einigen Versen auch schon andeutungsweise eine Klage über die Beschränkungen der menschlichen Vernunft vernehmen: Woher, o Stähelin! kömt doch die Zuversicht, Womit der tümmste Thor von hohen Sachen spricht? Du weist’s, Betrug und Tand umringt die reine Wahrheit, Verfälscht ihr ewig Licht, und hemmet ihre Klarheit: Der Weise braucht umsonst, geführt von der Natur Das Bleymaaß in der Hand, und die Vernunft zur Schnur. Im weiten Labyrinth wahrscheinlicher Begriffen Kan auch der klügste sich in fremde Bahn vertieffen, Und wann sein sichrer Schritt sich nie vom Pfad vergißt, So sieht er doch am End, daß er am Anfang ist. Der Pöbel hat sich nie zu denken unterwunden, Er sucht die Wahrheit nicht, und hat sie doch gefunden. [. . .]

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[1–12]

Das Gedicht beginnt mit einer Frage, die auf die Erklärung für einen bestimmten Sachverhalt zielt und diesen Sachverhalt selbst – dass ‚der schwächste Geist‘ zuversichtlich von ‚hohen Dingen‘ spricht – als gegeben vorausgesetzt. Die Frage ist also sehr wahrscheinlich nicht als eine rhetorische Frage zu verstehen281; der Sprecher wird im Folgenden noch ausführlich darlegen, woher diese „Zuversicht“ rührt, mit der gerade die „schwächste[n] Geist[er]“ von „hohen Dingen“ sprechen. Die in der Anfangspassage direkt folgenden Verse allerdings geben keine Antwort auf diese Frage, sondern bringen einen neuen Gedanken, dessen Verbindung zu der Eingangsfrage zunächst nicht offensichtlich ist: Nun geht es um die Hindernisse, die ein Erkennen der „reine[n] Wahrheit“ erschweren, und zwar nicht nur für ‚schwache Geister‘ erschweren, sondern für jedermann, auch für den „Weise[n]“ und sogar für den „Klügste[n]“.282 Diese Hindernisse bestehen 281 Dies gegen Josef Helbling, Albrecht von Haller als Dichter, Bern 1970, S. 22. 282 Der gedanklicher Sprung zwischen der Eingangsfrage in den Versen 1–2 und den in Vers 3 mit „Du weist’s“ beginnenden Aussagen könnte ein Beispiel für jene ‚unerwarteten Sprünge‘ sein, die Haller später zu den intendierten, willentlich eingesetzten Mitteln seiner

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zunächst in ‚scheinbaren Begriffen‘, die zu Fehlern führen können; aber selbst derjenige, der solche Fehler vermeidet und auf dem sicheren Pfad bleibt, muss am Ende einsehen, dass er sich im Kreis bewegt hat; das scheint auf intrinsische Grenzen der menschlichen Vernunft zu verweisen. Dem angestrengten, aber am Ende doch erfolglosen Wahrheitsstreben des Weisen wird ab Vers 11 dann die Haltung des „Pöbels“ gegenübergestellt, der mit den eingangs genannten ‚schwachen Geistern‘ in etwa identisch zu sein scheint; er unterzieht sich nicht der Mühe des Denkens, behauptet aber umso nachdrücklicher, im Besitze der Wahrheit zu sein. Diese aus Denkfaulheit und Stolz gemischte Haltung wird in den folgenden Versen noch weiter beschrieben und heftig kritisiert. Zunächst sei näher analysiert, wie in diesem Eingangsabschnitt der Duktus einer philosophischen Erörterung realisiert wird. Entscheidend ist hierfür, dass die ersten zehn Verse mit einer expliziten Frage aufwarten und zudem implizit weitere Fragen nahelegen. Explizit wird nach den Gründen oder Ursachen dafür gefragt, dass schwache Geister sich so selbstsicher über die höchsten Gegenstände äußern. Implizit wird die Frage aufgeworfen, ob sich die Grenzen der menschlichen Vernunft näher bestimmen lassen: wo der sichere Pfad verläuft und was die Vernunft überhaupt vermag (wenn sie sich nicht immer und bei allen Fragen im Kreis bewegt). Auf die erste Frage gibt der weitere Verlauf des ersten, vor der Erörterung von Aberglauben und Unglauben platzierten Gedichtteils eine Antwort; verantwortlich für das Verhalten der ‚schwachen Geister‘ oder des Pöbels ist demnach vor allem ihr Stolz (107; vgl. auch 309), der sie daran hindert, sich ihre Unwissenheit einzugestehen. Die Frage danach, wo die Schranken des menschlichen Erkenntnisvermögens liegen, wird im Schlussteil des Gedichts wieder aufgegriffen und beantwortet: Die Vernunft kann durch das Studium der Natur zu der Erkenntnis gelangen, dass es einen Gott geben muss; Fragen über das Wie und Warum seiner Erschaffung der Welt hingegen übersteigen die Möglichkeiten der menschlichen Vernunft, ebenso wie Fragen über das Wesen der menschlichen Seele (313–324). Die Eingangsfrage des Gedichts, die auf die Ursachen für die stolze Zuversicht der schwachen Geister, also auf eine Erklärung zielt, ist repräsentativ für

philosophischen Gedichte zählte. Der Leser kann sich aber einen gedanklichen Zusammenhang erschließen: Man kann den Zusammenhang schlicht darin sehen, dass dem anmaßenden Toren ab Vers 3 das Wissen um die Schwierigkeiten der Wahrheitsfindung als Kontrast gegenübergestellt wird. Die Aussagen ab Vers 3 könnten aber auch die Funktion haben, die Frage der ersten zwei Verse zu rechtfertigen: Die Schwierigkeiten der Erkenntnis, die jemandem wie Stähelin bewusst sind, können es umso befremdlicher und erklärungsbedürftiger erscheinen lassen, dass „der tümmste Thor“ so selbstsicher „von hohen Sachen spricht“.

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die Zielsetzung der philosophischen Erörterungen des Gedichts insgesamt, in denen es wesentlich darum geht, Erklärungen für bestimmte verfehlte Denkund Verhaltensweisen zu liefern. Dieser explanatorische Anspruch zeigt sich auch am Übergang zwischen dem ersten und dem mittleren Gedichtteil, also in der Passage, die die Erörterung von Aberglauben und Unglauben einleitet: Doch weil es schändlich ist auch nicht zu reden wissen, Hat der verwegne Mensch auch hier urtheilen müssen, Und hat weil die Vernunft ihn nur zu zweifeln lehrt, Sich selbst geoffenbahrt, und seinen Traum verehrt. Zwey Glauben hat die Welt hierinn sich längst erwählet, Da jeder viel verspricht und jeder weit verfehlet.

[107–112]

Der deiktische Ausdruck „hier“ verweist auf einen Fragenbereich, der in den vorangegangenen Versen umschrieben wird. Auf diesen Bereich beziehen sich, wie das Wort „hierinn“ anzeigt, die zwei gleichermaßen verfehlten Arten des ‚Glaubens‘, die im Folgenden behandelt werden. Die Aussagen über ‚den verwegenen Menschen‘ und seinen Fehler scheinen die Wurzel benennen zu sollen, aus der beide Arten des verfehlten Glaubens hervorgehen; mit dem Wort „weil“ wird deutlich der explanatorische Anspruch markiert. In der elften Auflage hat Haller diese Verse noch geändert; dort heißt es statt „Doch weil es schändlich ist auch nicht zu reden wissen“ nunmehr: „Doch weil der Stolz sich schämt, wenn wir nicht alles wissen“. Damit wird die Eigenschaft auf den Begriff gemacht, die es dem Menschen ‚schändlich‘ erscheinen lässt, wenn er über etwas nichts zu sagen weiß. In dem Mittelteil, der ausführlichen Darstellung von „Aberglauben“ und „Unglauben“, überlagern sich die Sprechhaltungen der philosophischen Erörterung und der moralischen Kritik. Die zwei Unterabschnitte dieses Teils beginnen jeweils mit einer knappen begrifflichen Charakterisierung des behandelten „Glaubens“, die auch als Definition verstanden werden kann. Über den ersten Glauben, den Aberglauben, heißt es: Wer diesen Glauben wählt, hat die Vernunft verschworen, Dem Denken abgesagt, sein Eigenthum verlohren, [. . .].

[119 f.]

Die „zweyte Lehr“ wird in einer ähnlich allgemeinen Formulierung vorgestellt: Ihr [scil. der ‚zweyten Lehr‘] folget, wer allein auf eigne Weißheit baut, Die klügern insgeheim, und Thoren überlaut.

[225 f.]

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Diese allgemeinen Bestimmungen werden in beiden Fällen zunächst noch amplifiziert, bevor dann jeweils eine Reihe von Beispielen für den jeweiligen Glauben oder für Spielarten desselben präsentiert wird. Als Beispiele fungieren typisierte Denk- und Handlungsweisen,283 aber auch historisch oder geographisch-kulturell spezifizierte Personen, Gruppen und Ereignisse.284 Diese Beispielreihen enthalten auch erzählende Partien, die die Entstehung dieser verfehlten Haltungen bei Individuen oder Völkern schildern, eine breit ausgeführte allegorische Veranschaulichung des Aberglaubens, seiner Ursachen und Konsequenzen, sowie schließlich Verurteilungen des Sprechers. Einerseits lässt die Darstellung dieses Mittelteils kaum einen Zweifel daran zu, dass hier eine Analyse von Aberglauben und Unglauben beabsichtigt ist. Dieser Anspruch tritt schon in den definitionsartigen Bestimmungen der zwei Haltungen zutage, aber auch in den Beispielreihen. Hier unternimmt es der Sprecher, den gemeinsamen Kern verschiedener Verhaltens- und Denkweisen freizulegen und ein wiederkehrendes Muster in verschiedenen historischen Vorgängen nachzuweisen. Zudem sucht er in mehreren Fällen auch die Genese bestimmter Ausprägungen des Aberglaubens oder Unglaubens nachzuvollziehen und damit Erklärungen zu liefern. Andererseits werden schon die allgemeinen Charakterisierungen der zwei Glauben, aber erst recht die Beispiele so gut wie durchgehend im Duktus der Anklage vorgetragen. Vor allem die verschiedenen Spielarten des Aberglaubens geißelt der Sprecher als Ergebnis von Stolz, Betrug, Wahn und Furcht, aber vor allem als Quelle blutiger Grausamkeiten. Auch die Ausrufe „Erschrecklich Ungeheu’r!“ und „Entsetzlicher Betrug!“ bringen die Empörung und Abscheu des Sprechers zum Ausdruck. Der Abschnitt über den Aberglauben mündet schließlich in einen Vers, der in der Fußnote als Übersetzung des berühmten Lukrez-Verses „Tantum religio potuit suadere malorum“ ausgewiesen wird: „Was böses ist geschehn, das nicht ein Priester that.“285 Die Kritik des Unglaubens wird weit weniger drastisch, aber doch klar und ausdrücklich formuliert.

283 Vgl. etwa: „Ein aufgebrachter Fürst taucht seine Sieges-Fahnen | In Kessel voll vom Blut getreuer Unterthanen, | Die nicht geglaubt was er, und gern zum Tode gehen, | Für einen Wörter-Streit, wovon sie nichts verstehn.“ (215–218) 284 Vgl.: „Kein Thier ist so verhaßt, kein Scheusal so veracht, | Dem nicht ein Volk gedient, und Bilder sind gemacht. | Den trägt hier ein Altar, der dort am Galgen hänget, | Das heisse Persen ehrt die Sonne, die es sänget, | Das tumme Memphis sucht in Sumpf den Crododill, | Und räuchert einem Gott, der es verschlingen will, | Noch töller als hernach, da es die GartenBetter | Zu heil’gen Tempeln macht’, und düngte seine Götter: [. . .].“ (189–196) 285 In der Fußnote heißt es allerdings: „Quantum Religio potuit suadere malorum, Lucret.“ (Haller, Versuch, 4. Aufl. 1748, S. 63)

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Die Kritik des Sprechers äußert sich, wie gesagt, besonders massiv in seiner Darstellung von Beispielen für den Aberglauben, und es verdient Beachtung, was für Beispiele Haller hier seinen Sprecher anführen lässt: Die Exempelreihe weist bei näherem Hinsehen eine konfessionelle, nämlich anti-katholische Schlagseite auf.286 Barbara Mahlmann-Bauer hat darauf hingewiesen, dass die Schilderung eines Exempels, nämlich der Ermordung des französischen Königs Heinrich III. durch den Dominikanermönch Jacques Clément, sich an Voltaires Darstellung dieses Ereignisses in seiner Henriade anlehne, einem Werk, das Haller in einer seiner für den Privatgebrauch verfertigten Rezensionen ausdrücklich lobte.287 „Hallers Beispielsammlung menschlichen Irr- und Aberglaubens“ erweise sich als „stillschweigend von der Henriade inspiriert“.288 Angesichts dieser Beschaffenheit der angeführten Fälle von Aberglauben und Unglauben ist die Bezeichnung als ‚Beispiele‘ leicht irreführend oder zumindest nicht selbstverständlich. Diese Redeweise schreibt dem Gedicht eine hierarchische Ordnung zu, in der die allgemeinen Thesen das Entscheidende und die konkreten historischen Erscheinungsformen die – prinzipiell austauschbaren – Belege oder Illustrationen sind. Aber es könnte durchaus zu Hallers Intentionen gehört haben, genau diese Erscheinungen zu kritisieren: also Zwangskonversionen, religiös motivierte Kriege, die Verehrung von Attentätern als Märtyrern (vgl. 207–222). Diese Phänomene erklärend auf ihre psychischen Ursachen zurückzuführen und sie mit anderen Erscheinungsformen des Aberglaubens in eine

286 Vgl. Thomas Kaufmann, „Über Hallers Religion. Ein Versuch“, in: Elsner/Rupke (Hrsg.), Albrecht von Haller im Göttingen der Aufklärung, S. 307–380, hier S. 326 f. 287 Vgl. Mahlmann-Bauer, „Albrecht von Haller, Satiriker auf den Spuren Voltaires und Swifts“, S. 26 f. Die Verse Hallers, die laut seiner Anmerkung u. a. auf Clément zielen, lauten: „Wie manchem hohen Haupte | Hat eines Heil’gen Arm den Stahl ins Herz gedrückt | Den itzt ein Volk verehrt, und auf Altären schmückt?“ (212 f.) In Voltaires Henriade wird im fünften Gesang geschildert, wie Clément seinen Dolch ‚mit wütender Gewalt in die Seite Heinrichs versenkt‘; vgl. Voltaire, La Henriade. Edition critique par O. R. Taylor. Deuxième édition entièrement revue et mise à jour. In: OCV. Bd. 2, Genf 1970; der fünfte Gesang auf S. 469–486, die Ermordung Heinrichs III. auf S. 482. Die Erzählung Voltaires hebt dabei durchgehend die religiösen Motive des ‚fanatisierten‘ Clément hervor, der sich nach seiner Tat stolz und glücklich töten lässt. Ferner können nach Mahlmann-Bauer Hallers Verse über die „GlaubensZweytracht“ (219) durch die allegorische Figur der „Discorde“ in Voltaires Epos angeregt sein. Zu Hallers lobendem Kommentar zur Henriade vgl. Mahlmann-Bauer, „Albrecht von Haller, Satiriker auf den Spuren Voltaires und Swifts“, S. 8 f., 26 f. Eine gekürzte Wiedergabe des Kommentars bei [Albrecht von Haller], Hallers Literaturkritik. Karl S. Guthke (Hrsg.), Tübingen 1970, S. 26 f. Mahlmann-Bauer zieht auch Teile von Hallers Text heran, die in der gekürzten Wiedergabe nicht enthalten sind. 288 Mahlmann-Bauer, „Albrecht von Haller, Satiriker auf den Spuren Voltaires und Swifts“, S. 27.

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Reihe zu stellen, mag für Haller ein Mittel der Kritik an diesen Phänomenen gewesen sein. Wenn also die im Gedicht angeführten Erscheinungsformen von Aberglauben und Unglauben hier als Beispiele bezeichnet werden, so soll damit nur etwas über die Art ihrer textstrukturellen Einbettung gesagt werden, nichts hingegen über ihre relative Wichtigkeit im Verhältnis zu den allgemeineren Aussagen über Aberglauben und Unglauben. Um auf die Verbindung von philosophischer Erörterung und moralischer Kritik im Gedicht zurückzukommen: Es ließe sich dafür argumentieren, dass diese Verbindung nicht immer glatt aufgeht, insofern nämlich die Kritik sich gelegentlich gegen Züge der vorgestellten Beispiele richtet, die nicht den Wesensmerkmalen von Aberglauben oder Unglauben entsprechen. So wird im Abschnitt über den Aberglauben auf Glaubenssysteme verwiesen, deren Herrschaft auf List und Betrug – genauer: auf Priesterbetrug – beruhe. Aber je mehr der Sprecher hier die Listigkeit und Herrschsucht der Priester anprangert, desto mehr erscheinen ihre Gläubigen als betrogene Opfer anstatt als Menschen, die freiwillig auf den Gebrauch ihres Verstandes verzichten, wie es in der ersten Kennzeichnung des Aberglaubens heißt. Auch ein Charakter, der als Verkörperung einer Form des Unglaubens fungiert, wird in einer Weise beschrieben, die nicht ganz zur Definition des Unglaubens passt.289 Solche kleinen Unstimmigkeiten mag man darauf zurückführen, dass Haller einerseits eine Analyse und Systematisierung verbreiteter Denkweisen liefern wollte, andererseits aber in seine Diskussion ganz bestimmte, ihm als besonders kritikwürdig erscheinende Phänomene aufnehmen wollte. Die Interpretation hat sich bisher darauf konzentriert, die Verknüpfung von philosophischer Erörterung mit moralischer Kritik, Satire und Polemik aufzuzeigen. Neben diesen Komponenten finden sich in dem Gedicht aber gelegentlich auch Beispiele für den Ausdruck von Verunsicherung oder Verzweiflung angesichts der Einrichtung der conditio humana. Die ausführlichste Passage dieser Art ist in der Erörterung des Unglaubens enthalten, die der Sprecher auf seine Analyse und Verurteilung des Aberglaubens folgen lässt. In diesem Gedichtteil, der weit kürzer als der Teil über den Aberglauben ist, führt der

289 Gemeint ist der Charakter des „weiche[n] Aristipp“ (261); er leugne die Existenz oder zumindest die Herrschaft Gottes, „Nicht weil zum Zweifel ihn Vernunft und Gründe leiten, | Nur weil Gott, wann er herrscht, ihm Straffen muß bereiten.“ Was Aristipp antreibt, sind also die Gier nach sinnlichen Genüssen und der Wunsch, sich diesen Genüssen ungestraft hingeben zu können. Aber in der allgemeinen Kennzeichnung des Unglaubens hieß es, dieser Lehre folge, „wer allein auf eigne Weißheit baut“; inwiefern dies für Aristipp gilt, wird nicht deutlich. Hallers Sprecher scheint hier die zunächst gegebene Definition des Unglaubens stillschweigend durch eine andere ersetzt zu haben, nach der Unglauben durch eine – wie auch immer motivierte – Leugnung Gottes oder eines herrschenden Gottes definiert ist.

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Sprecher zwei Hauptarten des Unglaubens an. Die eine wird durch die Menschen repräsentiert, die die Existenz Gottes leugnen, weil sie sich dann ungehemmt ihren Begierden hingeben können. Die zweite Art wird durch Weise verkörpert, die keineswegs durch sinnliche Begierden, sondern durch Wahrheitsdrang getrieben werden, die aber nicht die dem menschlichen Verstand gesetzten Grenzen respektieren, sondern ihr Fragen und Zweifeln in allen Bereichen immer fortsetzen und so schließlich auch die Existenz Gottes bezweifeln. Wenngleich nun der Sprecher deutlich macht, dass diese Weisen von Stolz geleitet wurden, es an Demut haben fehlen lassen und folglich, falls sie unter der resultierenden Verunsicherung leiden, daran selbst schuld sind, lässt er ihr Schicksal auch als ein beinahe tragisches und bemitleidenswertes erscheinen: Ein Weiser, (†) der vielleicht mit rühmlichem Verdruß Des Glaubens Schwächen sieht und bessers suchen muß, Haßt alles Vorurtheil und sucht aus wahren Gründen Beym Licht von der Vernunft sich in sich selbst zu finden: Im Anfang führet ihn sein forschender Verstand, Nah zu der Wesen Grund, und weit vom Menschen-Tand; Biß wann er izt entfernt von irrdischen Begriffen, Im weiten Ocean der Gottheit wagt zu schiffen, Vernunft der Leitstern fehlt, und er aus Menschheit irrt, Ein falsches Licht ihn führt und seinen Lauf verwirrt, Er selbst im trüben Tag den nur ein Irrwisch heitert, Sich nach den Klippen lenkt, und endlich plötzlich scheitert: Der arme Weise sinkt im Schlamm des Zweifels ein, Er kennt sich selbst nicht mehr, meint, alles seye Schein, [. . .]

[269–282]

Der Sprecher setzt hier die wertenden Akzente mit auffälliger Differenziertheit, indem er einerseits die ursprünglichen Antriebe des Weisen lobt, andererseits hervorhebt, dass dieser Weise in einem bestimmtem Moment „aus Menschheit irrt“, nämlich sich in einen Bereich „wagt“, dem die menschliche Vernunft nicht gewachsen ist. Aber auch in den Versen, die die selbstverschuldeten Nöte des Forschers schildern, wird dieser noch mit einer Wendung bezeichnet, die das Mitgefühl des Sprechers auszudrücken scheint: „Der arme Weise sinkt im Schlamm des Zweifels ein [. . .]“. Kürzere Schilderungen von ernsthaften Wahrheitssuchern, die ähnliche Wertungen bieten, finden sich in den bereits zitierten Eingangsversen des Gedichts (5–10) sowie am Ende des Anfangsteils (103–106).290

290 Am Ende des Einleitungsabschnitts stellt der Sprecher der überwiegenden Zahl der Menschen, die sich nie um Selbsterkenntnis bemühe, den selteneren Fall des aufrichtigen

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Es sind zugegebenermaßen nur relativ kurze Passagen, in denen der analysierende oder kritisierende Gestus durch einen Ausdruck von Klage und Mitgefühl verdrängt wird. Diese Passagen fallen besonders dann auf, wenn man das Gedicht im Zusammenhang mit den anderen Lehrgedichten Hallers liest; denn in einigen dieser Gedichte erhält der Ausdruck von Gefühlen oder Stimmungen wie Angst, Unsicherheit und Verzweiflung erheblich breiteren Raum als in Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben. 2.1.3.2 Kommunikationsmodelle: Brief und Mahnpredigt Zu den Merkmalen des traditionellen Lehrgedichts, die in Popes An Essay on Man aufgegriffen und offenbar sehr bewusst ausgestaltet werden, gehört die explizit realisierte gedichtinterne Kommunikationssituation. Auch in Hallers Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben richten sich die Ausführungen des Sprechers an ausdrücklich erwähnte Adressaten,291 und ähnlich wie in Popes Essay gibt es neben einem namentlich genannten ‚Hauptadressaten‘, dem der Sprecher in Freundschaft verbunden ist, eine namenlose Gruppe von Menschen, die vor allem als Träger verfehlter Überzeugungen und Einstellungen angesprochen werden. Die namentlichen Anreden des Baseler Professors Benedict Stähelin finden sich ganz zu Beginn sowie im Schlussteil des Gedichts; sie geben dem Gedicht insgesamt einen epistelähnlichen Charakter. Anreden einer namenlosen Menge stehen sowohl im Anfangs- wie im Mittelteil des Gedichts und sind wie in diesem Verspaar stets mit einem Tadel oder einer Zurechtweisung verbunden: „Wohl-angebrachte Müh! gelehrte Sterbliche! | Euch selbst mißkennet ihr, sonst alles wißt ihr eh!“

Selbsterforschers gegenüber: „Und wer aus steiffem Sinn mit Schwermuht wohl bewehret, | Sein forschend Denken ganz in diese Tieffen kehret, | Kriegt oft vor wahres Licht, und immer helle Luft, | Nur Würmer in den Kopf, und Dolchen in die Brust.“ (103–106) 291 In der Forschung haben die im Gedicht gebrauchten Anredeformen und die mit ihnen evozierten Kommunikationssituationen nur wenig Beachtung gefunden. Menhennet hat knapp darauf hingewiesen, dass das Gedicht sich der ‚klassischen‘ Form der Epistel bediene (vgl. Menhennet, „Haller’s ‚Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben‘“, S. 105: „[. . .] the classical Epistle is the form adopted [. . .]“), aber nicht weiter analysiert, wie das Verhältnis zwischen dem Sprecher und dem Adressaten Stähelin gestaltet wird. Differenzierter äußert sich Jörg Wesche über die verwendeten Anredeformen; ihm zufolge „spiel[t]“ das Gedicht „auffällig häufig mit wechselnden Adressierungen“: „Neben der Anrede seines Baseler Professors Benedict Stähelin, dem Haller den Text gewidmet hat, stehen unvermittelt Formen der Selbstanrede sowie immer wieder die generische Apostrophierung des Menschen selbst.“ (Jörg Wesche, „‚Unselig Mittel-Ding von Engeln und von Vieh!‘ Mensch und Tier in der Lyrik der Frühaufklärung“, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 23/2013, S. 35–46, hier S. 41)

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(57 f.)292 Diese Anreden lassen sich nur schwer der Tradition der Epistel zurechnen; sie verleihen dem Gedicht vielmehr stellenweise Züge einer Predigt. Zunächst seien die Anreden an Stähelin und damit Hallers Gebrauch des Briefmodells näher analysiert. Zu fragen ist dabei unter anderem, ob und, falls ja, in welcher Weise der Adressat in dem Gedicht vom Sprecher belehrt wird. In den ersten Versen wird Stähelin als jemand angesprochen, der über ein ähnliches Wissen und Problembewusstsein wie der Sprecher verfügt: „Du weißts, Betrug und Tand umringt die reine Wahrheit, | Verfälscht ihr ewig Licht und dämpfet ihre Klarheit!“ (3 f.) Gegen Ende des Gedichts, nach der kritischen Analyse der Haltungen von Unvernunft und Aberglauben, scheint der Sprecher einmal Ungewissheit darüber auszudrücken, welcher Position Stähelin zuneigt: „Und du, mein Stähelin! was hast du dir erwählt, | Da Glauben oft verführt und Zweifeln immer quält?“ (305 f.) Doch diese Frage dürfte weniger eine echte Ungewissheit des Sprechers über die Haltung seines Freundes als vielmehr ein ‚tua res agitur‘ ausdrücken. Der folgende Schlussabschnitt des Gedichts macht deutlich, dass der Sprecher in Stähelin einen Freund und Geistesverwandten sieht. Der Sprecher breitet gegenüber dem Adressaten Stähelin also ausführlich Gedanken zu philosophischen Fragen aus, obwohl er annimmt, dass sie über diese Fragen bereits einer Meinung sind. Daraus folgt aber nicht, dass die an Stähelin adressierten Darlegungen gewissermaßen über den Kopf des Angeredeten hinweg gesprochen werden: Als ihren Zweck kann man die Vergewisserung und Bekräftigung von Ansichten betrachten, über die der Sprecher von Beginn an eine weitgehende Übereinstimmung zwischen sich und dem Angeredeten voraussetzt, denen er im Gedicht aber einen Grad der Ordnung, Begründetheit und Anschaulichkeit gibt, den sie im Bewusstsein Stähelins (und womöglich auch in seinem eigenen Bewusstsein) zuvor vielleicht nicht besaßen. Diese erneute Bekräftigung der Überzeugungen über den rechten Verstandesgebrauch und das weise Leben soll es Stähelin wie dem Sprecher ermöglichen, weiterhin ein Leben gemäß diesen Grundsätzen zu führen; so könnte jedenfalls der Umstand gedeutet werden, dass der Sprecher am Ende eben diese Absichten ausdrückt. Innerhalb der epistelförmigen Anrede an Stähelin, die die Rahmensituation des Gedichts bildet, wendet sich der Sprecher an eine Menge von fehlgeleiteten Menschen, um sie zurechtzuweisen, zu ermahnen und regelrecht anzuklagen (vgl. 17 f., 57 f., 289 f.). Diese Menschen müssen erst davon überzeugt werden, dass sie auf dem Irrweg sind, dass sie einem verfehlten Glauben anhängen.

292 Vgl. auch 17 f.: „Unselig Mittel-Ding von Engeln und von Vieh! | Du prahlst mit der Vernunft und du gebrauchst sie nie [. . .]“; 289 f.: „Unseliges Geschlecht, das nichts aus Gründen tut! | Dein Wissen ist Betrug und Tand dein höchstes Gut.“

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Weshalb sie als Adressaten der ausführlichen kritischen Darstellung von Aberglauben und Unglauben fungieren, liegt insofern weit offener zutage als die Funktion, die diese Darstellung für den Adressaten Stähelin erfüllen soll. Die Anreden an Stähelin lassen sich, wie in der Forschung geschehen, als Rückgriff auf die Gattung der Epistel deuten. Die Apostrophen an die Menge der Fehlgeleiteten hingegen ähneln Anredeformen, die für die Predigt charakteristisch sind. An Predigten erinnern diese Anreden nicht allein, weil sie sich an größere Menschengruppen richten, sondern vor allem, weil sie mit Sprechhandlungen verbunden sind, die für Predigten – oder zumindest für bestimmte Predigtarten – charakteristisch sind: mit Sprechhandlungen der Ermahnung und Zurechtweisung, die zumindest implizit auch einen Aufruf zur Umkehr enthalten. Es spricht manches für die Vermutung, dass die Nähe der genannten Passagen zum Redegestus der Predigt keine bloß zufällige formale Ähnlichkeit ist, sondern daher rührt, dass Haller sich beim Verfassen des Gedichts unter anderem am Modell der Predigt orientierte. Für die Predigtpraxis in der reformierten Kirche der Schweiz war generell eine Konzentration auf die sittliche Erziehung und auf praktische Fragen des täglichen Lebens kennzeichnend.293 Im Bern des frühen 18. Jahrhunderts wurden aus Frankreich importierte Luxuserscheinungen, auf die Haller in einigen seiner Gedichte kritisch anspielt, auch von der Kanzel aus scharf verurteilt.294 In welchem Maße die zitierten Anredeformen aus Hallers Gedicht tatsächlich spezifische Züge der zeitgenössischen Predigtsprache – im Unterschied von anderen Formen der öffentlichen Rede – aufweisen, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Erst recht muss und kann offen gelassen werden, ob diese Anredeformen in Hallers Gedicht tatsächlich durch Predigten angeregt wurden. Zu fragen ist aber, wie das Nebeneinander der zwei Kommunikationssituationen zu deuten ist. Die Passagen, in denen der Sprecher sich an die ‚verirrten Sterblichen‘ wendet, geben dem Gedicht den Charakter einer öffentlichen Rede mit zurechtweisendem und mahnendem Impetus. Die an Stähelin gerichteten Rahmenabschnitte hingegen rekurrieren auf das Modell einer Epistel an einen Freund und Gleichgesinnten. Stähelin bekommt vom Sprecher nichts zu hören, was einer Kritik oder Ermahnung ähnelt, bleibt also strikt von den anderen Adressaten getrennt; die Welt, in der sich der Sprecher bewegt, scheint eine kleine Schar von Weisen zu enthalten, die von zahlreichen Lasterhaften oder Verirrten umgeben, aber auch klar geschieden sind. Somit weist das Nebeneinander dieser Anredeformen keine unklaren

293 Zur reformierten Predigt im 17. Jahrhundert vgl. Werner Schütz, Geschichte der christlichen Predigt, Berlin [u. a.] 1972, S. 129–136; Françoise Chevalier, Prêcher sous l’Édit de Nantes: la prédication réformée au XVIIe siècle en France, Genf 1994. 294 Vgl. Richard Feller, Geschichte Berns. III: Glaubenskämpfe und Aufklärung 1653 bis 1790, Bern 1955, S. 714.

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Grauzonen oder gar Widersprüche auf. Eine gewisse Unentschiedenheit oder Spannung ergibt sich allerdings aus dem Lebensideal, zu dem sich der Sprecher in der Schlusspassage gegenüber Stähelin bekennt: Während er hier den Wunsch ausdrückt, abseits und zurückgezogen vom unvernünftigen Treiben der Welt mit seinem Freund Stähelin das stille und maßvolle Leben eines Weisen zu führen, nimmt er über weite Strecken des Gedichts doch die Rolle des öffentlichen Redners ein, der Irrlehren bloßstellen und bekämpfen, die Menschen wegen ihrer Laster tadeln und sie zur Umkehr bewegen will. 2.1.3.3 Selbstständiges Philosophieren oder Verbreitung vorgegebener Theorien? Nach den gedichtinternen Kommunikationssituationen sind nun Aspekte der äußeren Kommunikationssituation des Gedichts zu betrachten. Die Wirkungsabsichten Hallers bei diesem Gedicht dürften, allgemein gesprochen, den auch vom Sprecher ausgedrückten Absichten entsprechen: Diejenigen Leser, deren Glaubenseinstellungen bereits dem im Gedicht propagierten Mittelweg entsprachen, wollte Haller vermutlich in ihrer Haltung bestärken, während er zugleich die kritiklosen Verfechter religiöser Dogmen auf der einen und Freigeister und radikale Skeptiker auf der anderen Seite angreifen wollte, indem er ihnen den unwürdigen oder schädlichen Charakter ihrer Einstellungen vor Augen führte. Im Hinblick auf die Leitfragen dieser Untersuchung ist von besonderem Interesse, ob Haller mit diesem Gedicht bereits vorliegende Theorien aufgriff und zu verbreiten suchte. Festzuhalten ist zunächst, dass Haller in dem Gedicht keine solche Absicht ausdrücklich zu erkennen gibt, also seinen Sprecher nicht Autoritäten nennen lässt, auf die er sich in seiner Kritik an Freigeistern oder an den Verfechtern des Aberglaubens beruft. Allerdings können die Gedankengänge des Gedichts auch kaum durchgehend als originäre Erfindungen Hallers gelten, und es ist auch nicht anzunehmen, dass er diesen Anspruch erhob. Die Kritik von Aberglauben und Freigeisterei gehören bekanntlich zu den zentralen Anliegen der Frühaufklärung.295 Dabei wurden Aberglauben und Atheismus bei Christian Thomasius und – häufig im Anschluss an ihn – bei mehreren Autoren der folgenden Jahrzehnte als entgegengesetzte Abweichungen von der ‚Mittelstraße‘ des rechten Glaubens beschrieben.296 Besonders systematisch wurde dieser Gedanke von dem Jenaer Theologen Johann Franz Budde in seiner 1716 veröffentlichten Abhandlung Theses theologicae de atheismo et superstitione ausgearbeitet, die im 295 Vgl. zur Aberglaubenskritik der deutschen Frühaufklärung Martin Pott, Aufklärung und Aberglaube. Die deutsche Frühaufklärung im Spiegel ihrer Aberglaubenskritik, Tübingen 1992. 296 Vgl. dazu Pott, Aufklärung und Aberglaube, S. 153–191 (Kap. III.3: Atheismus und Aberglaube: Modelle der Mittelstraße).

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folgenden Jahr als Lehr-Sätze Von der Atheisterey und dem Aberglauben übersetzt wurde.297 Wenn Haller in seinem Gedicht Aberglauben und Unglauben gegenüberstellt und sie auf einen unterlassenen oder zu weit getriebenen Vernunftgebrauch zurückführt, greift er also ein in der Philosophie und Theologie der Zeit etabliertes Modell auf. Auch in seinen Schilderungen konkreter Formen des Aberglaubens kann man Ähnlichkeiten zu anderen Verurteilungen von religiösem Fanatismus und blutigen Konflikten zwischen den Konfessionen entdecken, die sich im Schrifttum der Jahrzehnte um 1700 finden.298 Wenn der Sprecher die Fortschritte in der Naturwissenschaft mit der unzureichenden Selbsterkenntnis der Menschen kontrastiert oder auch die Begrenztheit der wissenschaftlichen Erkenntnisse hervorhebt, so variiert er jeweils traditionsreiche Gedanken. Das Argument, mit dem er schließlich die Existenz Gottes als gewiss auszuweisen sucht, entspricht der grundlegenden Argumentationsweise der Physikotheologie. Obwohl Haller also vielfach verbreitete Gedanken und Argumentationen aufgreift, kann man sein Gedicht nicht einfach als Reproduktion vorgegebener Theorien beschreiben – ebenso wenig, wie man etwa Buddes Abhandlung aufgrund ihrer partiellen Übereinstimmungen mit Gedanken des Thomasius oder auch John Tolands als bloße Wiedergabe ihrer Theorien einordnen kann. Haller wandelte die Konzeption von Aberglauben und Unglauben als gegensätzlichen Abweichungen von der rechten Mittelstraße auf eigenständige Weise ab und versah seine Kritik an diesen Verfehlungen mit spezifischen Akzenten. Zu ihnen gehört etwa die These des Sprechers, dass der Stolz als Quelle sowohl des Aberglaubens als auch des Unglaubens anzusehen sei. Budde hingegen führte den Atheismus auf die natürliche Verderbnis des Menschen und auf den Ehrgeiz zurück, den Aberglauben hingegen wiederum auf die natürliche Verderbnis sowie auf eine unbotmäßige „Einbildungs-Krafft, welche die Beherrschung der Vernunfft nicht leiden will“.299 Dass bei Haller die Haltungen des freigeistigen Libertins und die des an allem zweifelnden Wissenschaftlers als Ausprägungen derselben „Lehr“ (224) vorgestellt werden, dürfte ebenfalls eine Besonderheit des Gedichts oder jedenfalls 297 Vgl. Johann Franz Buddeus, Theses theologicae de atheismo et superstitione. Variis observationibus illustratae et in usum recitationum academicarum editae, Jena 1716; Ders., LehrSätze Von der Atheisterey und dem Aberglauben. Mit gelehrten Anmerckungen erläutert, und zum Behueff seiner Auditorum in lateinischer Sprache herausgegeben [. . .] durch Theognostvm Evsebivm, Der wahren Weißheit und Gottseeligkeit Beflissenem. Jena 1717. Zu dieser Abhandlung vgl. Pott, Aufklärung und Aberglaube, S. 171–182. 298 Tonelli hat auf einschlägige Passagen bei Spinoza, Toland, Bayle und Shaftesbury sowie bei Montaigne hingewiesen, die ihm zufolge gedankliche und motivische Parallelen zu Hallers Gedicht bieten: vgl. Tonelli, Poesia e pensiero in Albrecht von Haller, S. 48 f. 299 Vgl. Buddeus, Lehr-Sätze Von der Atheisterey und dem Aberglauben, S. 277 f. (über die Ursachen des Atheismus) und S. 696 (Ursachen des Aberglaubens), Zitat S. 696.

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nicht die Reproduktion einer gängigen Auffassung sein. Ferner sind in diesem Zusammenhang die satirischen Aspekte des Gedichts von besonderer Bedeutung: Auch wenn die allgemeine Charakterisierung des Aberglaubens sowie einige angeführte Exempel für denselben traditionell sein mögen, so ist es doch die spezifische Entscheidung Hallers, als Beispiele für den Aberglauben unter anderem die katholischen Verschwörer und Attentäter Garnet und Clement sowie ihre Verehrung in der katholischen Kirche anzuführen. Die Art der Wissensvermittlung, um die es Haller ging, kann also nicht als eine veranschaulichende Wiedergabe und Verbreitung vorgegebener Theorien charakterisiert werden. Eher handelt es sich um eine eigenständige Adaption, Kombination und Weiterführung von verbreiteten Themen und Gedanken, die verbunden wird mit der ebenso eigenständigen Applikation allgemeiner ethischer Positionen (etwa der Verurteilung religiös motivierter Gewalt) auf konkrete historische Vorgänge. 2.1.4 Variationen des Grundmodells Der folgende Überblick über weitere Gedichte Hallers gliedert sich in zwei Teile, die jeweils einen eigenen Zweck verfolgen. Zunächst sollen knapp die übrigen Gedichte aus Hallers Œuvre, die unstrittig als Lehrgedichte einzuordnen sind, charakterisiert werden. Dabei ist zu zeigen, dass diese Gedichte als Variationen des durch Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben repräsentierten Modells gelten können, insofern sie ebenfalls philosophische Reflexionen, moralische Kritik und den Ausdruck bedrängender Zweifel miteinander verbinden, wobei sie diese Komponenten unterschiedlich gewichten. Im Anschluss daran sollen Gedichte Hallers in den Blick genommen werden, die seinen philosophischen Gedichten ähneln, ohne ganz ihrem Grundmodell zu entsprechen; einige dieser Gedichte sind in der Forschung gelegentlich als Lehrgedichte bezeichnet worden, aber anders als im Falle von Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben oder Ueber den Ursprung des Uebels sind diese Einordnungen umstritten. Diese Ausführungen sollen zeigen, dass Haller einerseits mit einigen Gedichten ein einigermaßen fest umrissenes Modell des philosophischen Lehrgedichts aufstellte, aber zugleich das ‚philosophische Dichten‘ als eine Schreibweise handhabte und mit Gedichttypen wie dem beschreibenden Gedicht, der Ode oder dem Kasualgedicht verband. Das Gedicht Falschheit menschlicher Tugenden300 ging laut Hallers Vorbemerkung wie Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben aus einer Wette mit Stähelin und anderen Basler Freunden hervor, stellt also zusammen 300 Vgl. Haller, Versuch, 4. Aufl. 1748, S. 74–89.

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mit dem eben analysierten Gedicht seinen ersten Versuch auf dem Feld der philosophischen Dichtung dar. Dieses Gedicht verbindet wiederum scharfe moralische Kritik mit abstrakten Reflexionen, enthält aber kaum Passagen, in denen der Sprecher seinem Leiden an der conditio humana Ausdruck verleiht. Der größte Teil des Gedichts ist der Erläuterung und Begründung der im Titel umrissenen These gewidmet, und mit dieser klaren Fokussierung hängt es zusammen, dass seine Disposition und gedankliche Struktur insgesamt transparenter sind als in Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben. Die Titelthese ist hier nicht im Sinne des bekannten Aphorismus La Rochefoucaulds gemeint, also als die These, alle Tugenden seien nur verkleidete Laster. Der Sprecher will vielmehr zeigen, dass viele der oft gerühmten und nachgeahmten Tugenden in Wahrheit keine Tugenden seien. Die Beispiele für diese falschen Tugenden werden vom Sprecher ähnlich wie die Beispiele für Aberglauben und Unglauben im oben untersuchten Gedicht in kritischer Weise beschrieben und verurteilt.301 Dabei fällt wiederum auf, dass Haller als Exempel für falsche Tugenden vorzugsweise Personen, Praktiken und Lehren der katholischen Kirche verwendet. Diese ‚engagierte‘, dezidiert polemische Dimension des Gedankengangs verbindet Haller aber wieder mit Zügen, die das Gedicht einer philosophischen Erörterung annähern. Dieser räsonierende Charakter manifestiert sich unter anderem, ähnlich wie in Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben, in explizit vorgenommenen Unterscheidungen,302 ferner im Bemühen um Erklärungen für beschriebene Phänomene303 und um Begründungen der formulierten Thesen. Solche argumentativen Textstrukturen erhalten in diesem Gedicht besonders viel Raum, da der Sprecher bei der Erörterung vermeintlicher Tugenden meist

301 Die falschen Annahmen über die moralische Vorbildlichkeit bestimmter Handlungen werden im Gedicht auch als Beispiel für „Vorurtheil[e]“ (40; vgl. auch 107, 112) aufgefasst, wobei die Wirkung von Vorurteilen mit der von gefärbten Gläsern verglichen wird (105–110). Für eine Einordnung dieser Passage in den aufklärerischen Vorurteilsdiskurs vgl. Rainer Godel, Vorurteil – Anthropologie – Literatur. Der Vorurteilsdiskurs als Modus der Selbstaufklärung im 18. Jahrhundert, Tübingen 2007, S. 248–250. 302 So kritisiert der Sprecher im Eingangsteil die Neigung der Menschen, bewunderte Personen zu makellosen Helden zu verklären, und weist darauf hin, dass auch diese Personen Fehler und Schwächen haben. Im Übergang zum Mittelteil unterscheidet der Sprecher dann von dieser Unvollkommenheit der vermeintlich perfekten Helden einen anderen Sachverhalt, dem er sich im Folgenden zuwendet: eben den Sachverhalt, dass auch die tugendhaften Seiten der Helden vielfach nur scheinbare Tugenden sind. 303 Bevor der Sprecher Beispiele für falsche Tugendbegriffe vorstellt, skizziert er eine Erklärung für die häufigen Fehlurteile: Zwischen Tugenden und Lastern liege eine fließende, schwer zu erkennende Grenze, und die Mehrzahl der Menschen beurteile Taten anderer Personen nur nach der Außenseite (vgl. 83–110).

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auch explizit zu begründen sucht, weshalb es sich dabei in Wahrheit nicht um Tugenden handle.304 Falschheit menschlicher Tugenden trägt wie Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben den Untertitel „An den Herrn Prof. Stähelin“; doch anders als in diesem Gedicht wird Stähelin in dem Gedicht über die falschen Tugenden nur zweimal direkt angesprochen (28, 116), ohne dass diese Anrede dort eine erkennbare Funktion erfüllte. Ansonsten richtet der Sprecher seine Ausführungen, wo er einen Adressaten benennt, an die Menge der „Sterbliche[n]“ (7), die „Menschen“ (39), und diese Adressierung entspricht dem Duktus der Straf- oder Mahnpredigt, der das Gedicht über weite Strecken prägt. Im Schlussteil des Gedichts wendet der Sprecher sich schließlich direkt an Gott, dem der „inn’re Zug“ (338) des Gewissens zu verdanken sei, der den Menschen die Unterscheidung wahrer von falschen Tugenden erlaube. Dass die Adressierung an Stähelin in diesem Gedicht den Gedankengängen noch weit mehr als in Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben äußerlich bleibt und kaum eine inhaltliche Funktion besitzt, mag darauf hindeuten, dass Haller mit ihr vor allem die Rolle Stähelins als Anreger der zwei Gedichte würdigen wollte. Es ist jedenfalls nicht zu erkennen, dass Haller hier die Kommunikationssituation der Epistel in einer ähnlichen Weise zu einem tragenden Strukturelement der Gedichte gemacht hätte wie Pope in vielen seiner Versepisteln. In dem Gedicht Ueber den Ursprung des Uebels, das erstmals in der zweiten Auflage von Hallers Gedichtband erschien, wird denn auch weder im Untertitel noch im Text selbst eine Person als Adressat genannt.305 Dieses Gedicht kann als das ambitionierteste philosophische Gedicht Hallers gelten und in manchen Hinsichten auch als dasjenige, das diesen Gedichttyp am ‚reinsten‘ verwirklicht. Unter

304 Ein Beispiel für eine solche Argumentation bietet eine Passage, in der der Sprecher einen von seinen Feinden zu Tode gefolterten Indianer mit zum Katholizismus bekehrten Japanern, die wegen ihres Glaubens hingerichtet und daraufhin als Märtyrer verehrt wurden, vergleicht (vgl. 117–158). Der Sprecher vertritt hier die Auffassung, dass der Indianer ‚mehr tue‘ und heldenhafter sterbe als der „der Bekehrte“ (147). Die entscheidenden Prämissen, auf die er sich dabei stützt, werden ausdrücklich formuliert: Wie wertvoll oder bewunderungswürdig ein Tod ist, hängt von der Ursache dieses Todes ab („Des Todes Ursach ist das Maß von seinem Werte“; 148); nur wer unschuldig in den Tod geht, verdient es, für seine Tapferkeit angesichts verehrt zu werden („in der Unschuld nur verehr ich die Geduld“; 158). Andere Verse des Abschnitts legen dar, dass der zum Christentum bekehrte Japaner im Gegensatz zu dem Indianer Schuld auf sich geladen habe. Im Übrigen unterstützt dieses Exempel auch die zu Beginn des Mittelteils formulierte Behauptung, dass der „Pöbel“ sich in seinen Bewertungen von Taten meist an den äußeren Eigenschaften der Handlungen orientiert, aber nicht nach ihren Zwecken und inneren Triebfedern fragt und so immer wieder falsche Urteile fällt (vgl. 83–110). 305 Vgl. Haller, Versuch, 4. Aufl. 1748, S. 129–155.

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den philosophischen Gedichten Hallers ist es dasjenige mit dem am stärksten systematischen, traktathaften Aufbau, der auch durch die Untergliederung in drei Bücher verdeutlicht wird: Im ersten Buch formuliert der Sprecher die Frage, die er zu beantworten gedenkt, die folgenden zwei Bücher entwickeln diese Antwort. Doch auch wenn sich das Gedicht in stärkerem Maße als andere Gedichte dem Duktus einer Abhandlung nähert, enthält es zugleich ein polemisches Moment sowie Passagen, in denen der Sprecher als Klagender auftritt. Diese Haltungen prägen vor allem das erste Buch, das zur eigentlichen Erörterung des Theodizee-Problems hinführt. Zunächst wird der Sprecher erschüttert durch den Gedanken, dass in der Welt, deren Schönheit er von einer Anhöhe bewundert hat, so viel Böses zu finden ist. Doch diese Erschütterung reicht nicht, um ihn zu einer philosophischen Untersuchung des Ursprungs dieses Übels zu veranlassen; er ruft sich in Erinnerung, dass Gott vom Menschen tugendhaftes Handeln, nicht metaphysische Erkenntnisse fordert, und kann sich selbst offenbar auf diese Weise beruhigen. Erst als ihm die Freigeister in den Sinn kommen, die die Übel in der Welt auf gotteslästerliche Weise erklären, entschließt sich der Sprecher zu seiner eigenen Erörterung des Problems.306 Endet das erste Buch also mit einer Kampfansage an die Verleumder Gottes, so richtet der Sprecher gegen Ende des dritten Buchs an Gott selbst die verzweifelte Frage, wie sich seine „Huld“ mit der „Qual“ der Menschen vertrage. Auf die Verse, in denen der Sprecher auf so direkte Weise seiner Ratlosigkeit und seinem Leiden Ausdruck verleiht, folgt aber – ähnlich wie schon im ersten Buch – sofort eine Selbstkorrektur; der Sprecher bekennt sich zu der Überzeugung, dass Gottes Wege für die Menschen unergründlich sind, dass die Menschen aber genügend Zeichen der göttlichen Huld besitzen. Angesichts der Intensität, mit der im frühen 18. Jahrhundert das TheodizeeProblem diskutiert wurde, drängt sich in besonderem Maße die Frage auf, ob Haller in Ueber den Ursprung des Uebels eine vorgegebene philosophische Theorie zugrunde legte. Diese Frage beschäftigt die Forschung denn auch seit langem, wobei vor allem das Verhältnis des Gedichts zu den Theorien Leibniz’ und Shaftesburys diskutiert wurde.307 Es ist wiederholt festgestellt worden, dass die 306 Vgl. auch Achermann, „Dichtung“, S. 137. Achermann weist ferner darauf hin, dass die Erörterungen des zweiten Buchs eine weitere Rechtfertigung für die „forschende Erkenntnis auch in höchsten Dingen“ liefern, nämlich mit der Vorstellung, dass „Erkenntnis gottgewollt“ sei (ebd.). Diese Vorstellung wird in den Versen 57 f. des zweiten Buchs formuliert. 307 Die These eines maßgeblichen Leibniz-Einflusses wurde etwa vertreten von Hirzel, „Hallers Leben und Dichtungen“, S. CXXX–CXXXIV. Dass Haller sich stärker an Shaftesbury als an Leibniz orientiert habe, behauptet dagegen: Georg Bondi, Das Verhältnis von Hallers philosophischen Gedichten zur Philosophie seiner Zeit. Diss. masch. Leipzig 1891, S. 30–39. Kritisch zu den Thesen Bondis: Howard Mumford Jones, „Albrecht von Haller and English Philosophy“, in: PMLA, 40/1925, 1, S. 103–127. Im Zeichen einer Abwendung von der Einflussforschung wird

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Schilderung der Erschaffung der Welt im Zweiten Buch stark an Leibniz erinnere,308 während das Dritte Buch mit seinen Darstellungen des Falls und des menschlichen Leidens sowie mit der abschließenden Unterwerfung unter die unergründlichen Ratschlüsse Gottes weniger gut mit den Positionen der Essais de théodicée vereinbar sei.309 Dieser Unterschied zwischen den Gedichtteilen ist als Widersprüchlichkeit oder als Indiz für Hallers Unentschiedenheit gedeutet worden,310 aber auch als Ausdruck einer gezielt problematisierenden Absicht Hallers, der hier „Sittengeschichte und Philosophie“ miteinander konfrontiere und „die eine zur Richterin der anderen“311 ernenne. Die damit umrissenen Interpretationsprobleme können an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Als allgemeines Ergebnis der Forschungsdiskussion lässt sich aber festhalten, dass

die Frage für müßig erklärt bei Eduard Stäuble, Albrecht von Haller: ‚Über den Ursprung des Übels‘, Zürich 1953, S. 173. 308 Vgl. Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 5/II: Frühaufklärung, S. 149; Richter, S. 529 f. Vgl. auch Tonelli, Poesia e pensiero, S. 76. Nach Tonelli entwickelt Haller in dem Gedicht Gedanken, die der Antwort Leibniz’ auf das Theodizee-Problem entsprechen, stuft sie aber zu bloßen Hypothesen herab (vgl. ebd.). Auf eine mit Blick auf Hallers Haltung zu Leibniz’ Essais de théodicée aufschlussreiche Quelle hat Guthke hingewiesen, nämlich auf eine kurze Besprechung der Schrift, die sich unter Hallers Judicia, seinen für private Zwecke verfassten Urteilen über Werke der älteren und neueren Literatur, findet. Zu diesen Judicia vgl. Guthke, „Zur Religionsphilosophie des jungen Albrecht von Haller“; die Notiz zu Leibniz’ Essais de théodicée wird wiedergegeben ebd., S. 148 f. Haller hebt hier als eine Besonderheit von Leibniz’ Argumentation hervor, dass er die auf die Menge der moralischen und physischen Übel gestützten Einwände so weit wie möglich abzuschwächen versuche; doch diese Darlegungen, so Haller, können die Verfasstheit der Welt nur sanfter erscheinen lassen, aber nicht rechtfertigen: „Raisons trez bonnes dans leur genre, mais qui ne font qu’adoucir la condition de l’Univers sans la justifier“ (ebd., S. 149). Was Haller ausdrücklich lobt, sind Leibniz’ Erläuterungen der „Idées du contingent, du possible, du certain, du necessaire“ (ebd.), also modallogischer Begriffe, und seine Kritik an der unzulänglichen Verwendung dieser Begriffe bei anderen Autoren. Diese Notiz bietet ein Indiz dafür, dass Haller das Spezifische von Leibniz’ Schrift in argumentativen Strategien wie den hiermit skizzierten sieht, nicht schon in der allgemeinen Annahme, Gott habe die beste der möglichen Welten geschaffen. 309 Vgl. Richter, „Metahistorische Aspekte“, S. 530 f.; Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 5/II: Frühaufklärung, S. 150 f. Kemper schreibt über das Ende des Gedichts, letztlich „dien[e] hier das Denkgebäude der Leibnizschen Theodizee [. . .] doch nur der Rechtfertigung des unverfügbaren calvinistischen Gottes, dessen Gnade der Mensch nicht sicher sein kann“ (ebd., S. 151). Ähnlich heißt es bei Alt, Hallers Gedicht gerate hier „in letzter Konsequenz wieder an die lutherische Vorstellung vom Deus absconditus“ (Alt, Aufklärung, S. 147). Tonelli zufolge übernimmt Haller, wenn er seinen Gedichtsprecher am Ende die Verborgenheit der Wege Gottes akzeptieren lässt, die Position Bayles (vgl. Tonelli, Poesia e pensiero, S. 76). 310 Vgl. Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 5/II: Frühaufklärung, S. 150 f., Alt, Aufklärung, S. 146 f. 311 Richter, „Metahistorische Aspekte“, S. 533.

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Hallers Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Ursprung des Übels – wie kaum anders zu erwarten ist – diverse Parallelen zu zeitgenössischen sowie älteren Erörterungen dieses Themas aufweist, die rezipierten Gedanken aber in eigenständiger Weise zusammenführt und modifiziert.312 Die drei bisher behandelten Gedichte Hallers sind diejenigen, die er selbst ausdrücklich als philosophische Gedichte konzipierte, die in der Rezeption besonders häufig als Lehrgedichte eingeordnet werden und die auch er selbst wahrscheinlich an erster Stelle im Sinn hatte, wenn er später von seinen eigenen Lehrgedichten sprach. Diese Gedichte weisen, so sollte gezeigt werden, ein gemeinsames Grundmodell auf, das vor allem durch die philosophische Thematik und durch die Sprechhaltungen von Erörterung, Polemik und Klage definiert wird. Einige weitere Gedichte Hallers kombinieren dieses Modell oder Teile davon mit Elementen anderer Gedichtarten wie Ode, beschreibendes Gedicht oder Kasualgedicht. Die Alpen nimmt aufgrund der ausgedehnten Naturbeschreibungen wie auch aufgrund der speziellen Strophenform eine Sonderstellung im Korpus der Haller’schen Gedichte ein, ist aber zugleich durch substanzielle Gemeinsamkeiten mit seinen philosophischen Gedichten verknüpft.313 Die zentralen Aussagen des Gedichts sind moralische und gesellschaftskritische. So breit und sorgfältig die Alpenlandschaft und die Lebensweise der Alpenbewohner geschildert werden, sind diese Beschreibungen doch kein Selbstzweck, sondern den moralischen und kritischen Zielsetzungen funktional untergeordnet.314 Die Rahmenpartien, in denen diese moralischen Lehren explizit formuliert werden, zeigen einen ähnlichen Duktus wie große Teile von Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben oder Falschheit menschlicher Tugenden: Der Sprecher wendet sich direkt an die „Sterbliche[n]“ (1), insbesondere an „[v]erblendte Sterbliche“ (441) und an „Elende“ (451), um sie wie

312 Achermann hat darauf hingewiesen, dass Hallers Gedicht mit der Auffassung von menschlicher Erkenntnis als gottgewollt auch einen Gedanken übernehme, der „bis in das Anfangsstadium des christlichen Theodizee-Denkens zurückreicht“, nämlich bis zu Laktanz und Augustinus (Achermann, „Dichtung“, S. 137 f., Zitat 138). Wie Vollhardt gezeigt hat, integriert Haller auch eine knappe Zusammenfassung gängiger naturrechtlicher Theorien in seine Erörterung des Theodizee-Problems (vgl. Vollhardt, Selbstliebe und Geselligkeit, S. 275–278). 313 Vgl. Haller, Versuch, 4. Aufl. 1748, S. 29–52. Das Gedicht ist in Strophen zu je zehn Alexandrinerversen im Reimschema ababcdcdee verfasst. Wie Haller selbst in der Vorbemerkung erläuterte, wollte er in jeder Strophe einen eigenen Vorwurf behandeln, wobei „die Stärke der Gedanken in der Strophen allemahl gegen das Ende steigen“ sollte (ebd., S. 29). Häufig enthalten die zwei Schlussverse eine „Sentenz allgemeinerer moralischer Bedeutung“ (Achermann, „Dichtung“, S. 134; vgl. zur Strophenform des Gedichts auch ebd., S. 130–132). 314 Vgl. auch Achermann, „Dichtung“, S. 135.

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ein Mahnprediger für ihren verfehlten Lebenswandel zu tadeln und zur Umkehr aufzufordern. Die Gesellschaftskritik in Die Alpen richtet sich allgemein gegen lasterhafte Lebensweisen in den Städten und Palästen, nicht ausdrücklich gegen Verhältnisse in der Schweiz oder speziell in Bern; doch dass die Alpenbewohner als Beispiele für Tugend fungierten, musste es naheliegend erscheinen lassen, die Kritik auch oder in erster Linie auf die Schweizer Städte zu beziehen.315 So verstanden, berührte sich das Alpengedicht eng mit zwei satirischen Gedichten in Hallers Band, die ausdrücklich die Zustände in Bern ins Visier nahmen: Verdorbene Sitten und Der Mann nach der Welt.316 Das erste dieser Gedichte weist zugleich auch gewisse Ähnlichkeiten mit Hallers philosophischen Gedichten auf, da es die Gesellschaftskritik mit knappen allgemeinen Ausführungen über Tugenden und Laster flankiert. Der Sprecher beklagt, dass die Tugenden, die in der goldenen Zeit seines Vaterlandes geherrscht haben, fast gänzlich verschwunden seien, und illustriert diesen Befund anhand einer Reihe von Charakteren, die gegenwärtig verbreitete Laster oder Schwächen exemplifizieren. Dabei handelt es sich um sehr verschiedenartige Fehler,317 und anders als in den philosophischen Lehrgedichten versucht der Sprecher kaum, die tieferen Motive oder Ursachen hinter den kritisierten Einstellungen und Verhaltensweisen freizulegen oder sie als Ausformungen eines Grundübels darzustellen. Eine gewisse Nähe zu Hallers philosophischen Gedichten erzeugt aber ein abschließender Passus, in dem der Sprecher positiv die Eigenschaften formuliert, die haben sollte, wer „[. . .] sich dem Staat zu dienen hat bestimmt | Und nach der Gottheit Stell auf Tugend-Staffeln klimmt“ (189 f.). Verdorbene Sitten liegt gewissermaßen an der Grenze zwischen Hallers philosophischen Gedichten und der reinen Satire, vielleicht auch schon jenseits dieser Grenze. Sein Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit bewegt sich auf einer anderen, wenn man so will, auf der gegenüberliegenden Grenze der philosophischen Gedichte. Es wurde von Haller selbst zeitweilig als „Ode“

315 Vgl. zu der Gesellschaftskritik in Die Alpen und den Berner Verhältnissen, auf die sie sich beziehen lässt: John Van Cleve, „Social Commentary in Haller’s ‚Die Alpen‘“, in: Monatshefte, 72/1980, 4, S. 379–388, zu den Verhältnissen in Bern S. 379–381. 316 Vgl. Haller, Versuch, 4. Aufl. 1748, S. 97–109 (Verdorbene Sitten), 120–127 (Der Mann nach der Welt). 317 Die beschriebenen Charaktere verkörpern etwa ein stolzes Auftreten, das Gedankenarmut verbergen soll, eine Fixierung auf Mode und Pariser Luxusartikel, Vetternwirtschaft in der Politik, ein stures Festhalten an den alten, rauhen Sitten, die Verachtung der Schweizer Freiheiten, einen freundschaftlichen Umgang mit Freigeistern und ein indifferentes Gutheißen aller Glaubensrichtungen.

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bezeichnet318 und unterscheidet sich formal deutlich vom Kernbestand seiner philosophischen oder Lehrgedichte: Es bedient sich nur in den ersten zehn Versen des Alexandriners (wobei dieser im zehnten Vers bereits um zwei Hebungen verkürzt ist), während die verbleibenden gut hundert Verse in der freien Form des Madrigalverses gehalten sind. Im Inhalt und im Sprachduktus ist das Gedicht über die Ewigkeit gleichwohl den Lehrgedichten Hallers eng verwandt, realisiert allerdings von den drei grundlegenden Sprechhandlungen, die oben als charakteristisch für diese vorgestellt wurden, nur zwei: Moralische Kritik oder Satire hat in diesem Gedicht keinen Platz; seine Struktur ist in erster Linie durch die Haltung der Klage bestimmt, und die vom Sprecher artikulierte Trauer und Verzweiflung liefern Ausgangspunkte für philosophische Erörterungen. Der Sprecher ruft sich zunächst den Tod seines Freundes ins Bewusstsein, der in der Fiktion des Gedichts nur wenige Stunden zurückliegt. Er macht sich bewusst, dass für ihn selbst bald der Moment kommen könnte, wo der Tod „[a]uf ewig [s]eine Augen schliessen“ könnte, und dieser Gedanke setzt eine ausgedehnte Reflexion über das Wesen der „Ewigkeit“ oder „Unendlichkeit“ in Gang, die der Sprecher über etwa fünfzig Verse auch direkt anredet. Schließlich wendet er sich Gott zu und vergewissert sich, dass dieser „des Alles Grund“ sei, um dann in einem weiteren Reflexionsabschnitt seine, des Sprechers, eigene Hinfälligkeit zu bedenken. Dabei nähern sich sowohl die Gedanken über die Ewigkeit als auch die über die Fragilität und Abhängigkeit des Menschen dem Duktus einer philosophischen Erörterung an, und in beiden Abschnitten rekurriert Haller auf zeitgenössische wissenschaftliche Theorien. Die Reflexionen über die Unendlichkeit nehmen aktuelle Theorien und Spekulationen der Astronomie auf, insbesondere Überlegungen über die Mehrheit der (bewohnten) Welten.319 In die Gedanken über die Gebrechlichkeit des menschlichen Lebens hat Haller Beobachtungen und Theorien der Anatomie und der Zeugungslehre integriert.320 Einige Gedichte Hallers bauen in die Grundstruktur des Kasualgedichts philosophische Erörterungen ein und verschränken so Elemente des Gelegenheitsund des Lehrgedichts. Beispiele hierfür finden sich sowohl unter den vor 1729, also vor den ersten philosophischen Gedichten entstandenen Texten als auch unter den späteren. Ein frühes Beispiel ist das Gedicht Ueber die Ehre, dessen

318 Haller, Versuch, 4. Aufl. 1748, S. 223 (Vorbemerkung zu Unvollkommnes Gedicht über die Ewigkeit). Das Gedicht selbst ebd., S. 223–228. 319 Vgl. dazu: Karl S. Guthke, „Der Sinn der Frage ohne Antwort. Zu Hallers Ode über die Ewigkeit“, in: Karl Richter (Hrsg.), Gedichte und Interpretationen. Band 2: Aufklärung und Sturm und Drang, Stuttgart 1999 [zuerst 1983], S. 72–86, vor allem 75 f. 320 Vgl. ebd., S. 82.

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Anlass im Untertitel mitgeteilt wird: Als Herr D. Giller den Doctor-Hut annahme.321 Das von Haller auf 1728 datierte, schon in der ersten Auflage der Sammlung enthaltene Gedicht gehört heute nicht mehr zu seinen bekannteren Texten, wurde aber im 18. Jahrhundert und darüber hinaus sehr geschätzt und oft in eine Reihe mit seinen kanonischen Lehrgedichten gestellt.322 In vierzig Strophen zu je sechs Versen sucht der Sprecher zu zeigen, dass die Ehre kein erstrebenswertes Gut sei, und lobt den Adressaten Giller dafür, dass er „von Ehrgeiz und von Neid“ frei sei.323 Von den ‚eigentlichen‘ philosophischen Gedichten Hallers unterscheidet sich Ueber die Ehre durch das Metrum (vierhebige Jamben), durch die schlichtere Disposition und durch die noch weniger ausgeprägte ‚Körnigkeit‘ der Sprache. Andere Grenzfälle zwischen Kasual- und Lehrgedicht haben einen stärker persönlichen Charakter: so das kurze, zuerst 1748 gedruckte, aber wohl schon 1734 entstandene Gedicht Gedanken bei einer Begebenheit, das Haller nach seiner gescheiterten Bewerbung um eine Arztstelle an einem Berner Spital schrieb,324 vor allem aber das nach dem Tod seiner ersten Ehefrau Mariane verfasste Gedicht Antwort an Herrn Johann Jacob Bodmer, mit dem Haller auf Bodmers Elegie Auf das Absterben der Mariane replizierte.325 Der Sprecher von Hallers Gedicht schildert eingehend seinen von Trauer und Verzweiflung bestimmten Zustand und berichtet schließlich, wie einst, als er in der Nacht „[m]it Gram und Ungedult im leeren Bette rang“, die „Vernunft“ sein „Herz, das allen Trost verwarf“, gescholten habe.326 Die folgende Rede der Vernunft umfasst 45 Verse, an die sich nur noch ein einziger Vers anschließt:

321 Vgl. Haller, Versuch, 1. Aufl., 1732, S. 34–45; Ders., Versuch, 2. Aufl., 1734, S. 25–35. 322 Vgl. für Belege: Kempf, Albrecht von Hallers Ruhm als Dichter, S. 97. 323 Haller, Versuch, 1. Aufl., 1732, S. 44 f., Zitat S. 45. 324 Für das Gedicht vgl. Haller, Versuch, 4. Aufl., 1748, S. 128. Das Gedicht enthält nur vier vierzeilige Strophen. Der Sprecher redet sich selbst beziehungsweise seinen eigenen „Sinn“ an und ermahnt sich, trotz des Misserfolgs vergnügt zu bleiben, seine Wertschätzung des „Mittelstand[es]“ und die Verachtung für „des Glückes eitle Gaben“ zu befestigen und dem „Schicksal“ zu vertrauen (ebd.). – Über dieses Gedicht hat Wilfried Barner bemerkt, es „markier[e] mit schöner Deutlichkeit einen Übergang [scil. zu den philosophischen Gedichten] von der Kasualpoesie her“ (Barner, „Hallers Dichtung“, S. 401). 325 Vgl. Haller, Versuch, 4. Aufl. 1748, S. 198–205. Auch Bodmers Gedicht wurde in Hallers Band abgedruckt; vgl. ebd., S. 190–197 („Auf das Absterben der Mariane. von Herrn J. Jacob Bodmern“). Bodmer vergleicht in seinem Gedicht die Trauer, die ihn selbst nach dem Tod seines Sohnes erfüllt habe, mit dem Schmerz Hallers und fordert diesen zur Rückkehr aus Göttingen in die Schweiz auf. Haller orientiert sich in seiner Antwort zunächst eng an Bodmers Gedicht, geht auf den Vergleich zwischen ihren Leiderfahrungen ein – um für sich selbst den größeren Schmerz zu reklamieren – und begründet seinen Entschluss zum Bleiben in Göttingen. 326 Haller, Versuch, 4. Aufl. 1748, S. 203.

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„Dieß sagte die Vernunft, o Freund soll ich sie hören?“327 Dieser Schlussteil des Gedichts wurde von Johann Jakob Engel in seiner Schrift Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten aus deutschen Mustern entwickelt (1783) als Beispiel für das Lehrgedicht zitiert und eingehend analysiert.328 Abschließend seien die wichtigsten Befunde dieses Überblicks resümiert: Die Gedichte Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben, Falschheit menschlicher Tugenden und Ueber den Ursprung des Uebels können als der Kernbestand der Haller’schen Lehrgedichte angesehen werden. Dies sind die Gedichte, mit denen er ausdrücklich Proben philosophischer Dichtung geben wollte, und vermutlich auch die Gedichte, an die er in erster Linie dachte, als er im Brief an Gemmingen von seinen „Lehrgedichten“ sprach.329 Um diesen Kernbestand herum lagern sich eine ganze Reihe von Gedichten, die Strukturelemente der philosophischen Gedichte übernehmen und mit Eigenschaften anderer Gedichtarten kombinieren. Man mag aus diesen Beobachtungen folgern, dass Haller in seiner dichterischen Praxis keinen großen Wert auf die klare Trennung verschiedener Gedichtarten legte. Es spricht aber auch manches dafür, dass es für Haller nicht nur das philosophische Gedicht als einen Gedichttyp gab, sondern auch philosophisches Dichten als eine Dichtungsweise oder Schreibweise, die mit verschiedenen etablierten Gedichttypen verbunden werden konnte. Etwa in diesem Sinne wurden das Eigentümliche der Haller’schen Dichtung sowie ihre innovatorischen Verdienste um die deutsche Dichtung in der Artikelserie Kurze Geschichte der deutschen Dichtkunst beschrieben, die 1768 im Hannoverischen Magazin erschien und von Christoph Daniel Ebeling verfasst worden war. Haller wird dort als der Dichter genannt, mit dem „die letzte Zeit unsrer guten Dichter“ begonnen habe.330 Über seine Verdienste heißt es:

327 Ebd., S. 205. 328 Vgl. [Johann Jacob Engel], Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten aus deutschen Mustern entwickelt. Erster Theil, Berlin/Stettin 1783, S. 91–96. – Dass Engel seine Überlegungen zum Lehrgedicht unter anderem im Ausgang von diesem Gedicht entwickelt, nimmt Kempf als Beleg dafür, dass Engel „von einem sehr weitgefaßten Begriff von Lehrdichtung ausgeht“, denn das Antwortgedicht an Bodmer zähle „auf Grund der persönlich-unmittelbaren Selbstaussprache zu Hallers ‚lyrischsten‘ Stücken“. (Kempf, Albrecht von Hallers Ruhm als Dichter, S. 97) – Vgl. zu dem Antwortgedicht an Bodmer auch Helbling, Albrecht von Haller als Dichter, S. 106–108. 329 Haller, „Schreiben an den Herrn Regierungs-Präsidenten Freyherrn von Gemmingen“, S. 342. 330 Zu der Artikelreihe Kurze Geschichte der deutschen Dichtkunst vgl. Gordon McNett Stewart, The Literary Contributions of Christoph Daniel Ebeling, Amsterdam 1978, S. 49–82; zur Verfasserschaft vgl. ebd., S. 51 f. Zu der Artikelreihe vgl. auch Klaus Weimar, Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Paderborn 2003, S. 127–131.

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Vor ihm hatte es in diesem Jahrhunderte noch keiner gewagt, philosophische Gegenstände poetisch zu behandeln, oder wenn es einer gewagt hatte, so fehlte ihm die Stärke und Kühnheit des Ausdrucks, die nachdrückliche Kürze, die Kraft der Figuren, die große Gelehrsamkeit, und der philosophische Geist, mit dem Haller sang, er mogte nun die Natur besingen, die ihn in majestätischer Rauhigkeit umgab, oder er mogte lehren, oder mit der Geißel der Satyre die Laster und Thorheiten der Menschen verfolgen.331

Ebeling deutet hier das ‚Singen mit philosophischem Geist‘ als eine Weise des Dichtens, die von Haller auf verschiedene Gegenstände angewendet und in unterschiedlichen Gedichtgattungen kultiviert wurde. 2.1.5 Hallers Hinwendung zur philosophischen Dichtung und sein Dichtungsbegriff Hallers Lehrgedichte wurden von Zeitgenossen als eine bedeutende Innovation gewürdigt, nach Ausbrechen des Literaturstreits zwischen Leipzig und Zürich freilich auch von einer Partei als ein in stilistischer Hinsicht fataler Irrweg verurteilt. Als Haller 1748 in der vierten Auflage seines Gedichtbands einige Gedichte mit Vorreden ausstattete, bestätigte er ausdrücklich, dass er mit Gedichten wie Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben etwas Neues hatte unternehmen wollen. Seine Aussagen über die Art und die Motivation des von ihm beabsichtigen Neuansatzes passen zu den oben entwickelten Befunden über die Grundstrukturen seiner Lehrgedichte und über die fließenden Übergänge zwischen den Lehrgedichten und Gedichten anderer Gattungen in seinem Œuvre: Haller wollte weniger für das Lehrgedicht als eine scharf umrissene Gattung denn für eine bestimmte Art des Dichtens werben, die prinzipiell in verschiedenen Gattungen realisiert werden konnte. Über die Entstehung der Gedichte Gedanken über Vernunft und Aberglauben und Unglauben und Falschheit menschlicher Tugenden, die schon in der ersten Auflage des Bandes enthalten waren, äußerte Haller sich ab der vierten Auflage in Vorbemerkungen zu den Gedichten.332 Demnach hätten während seines Aufenthalts in Basel Benedikt Stähelin und andere Freunde ihm gegenüber die englische Dichtung gerühmt und ihr „das Unvermögen der deutschen Dichtkunst“ gegenübergestellt. Er, Haller, habe die wettähnliche Herausforderung angenommen und in zwei „nach dem Englischen Geschmacke eingerichteten Gedichte[n]“ zu

331 [Christoph Daniel Ebeling/Michael Huber], „Fortsetzung der Geschichte der deutschen Dichtkunst“, in: Hannoverisches Magazin, 23tes Stück, 18. März 1768, Spp. 353–384, hier Sp. 354. 332 Vgl. Albrecht Haller, Versuch Schweizerischer Gedichte. Vierte, vermehrte und veränderte Aufl. Göttingen 1748, S. 53 (Vorbemerkung zu Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben), S. 74 (Vorbemerkung zu Falschheit menschlicher Tugenden).

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zeigen versucht, „daß die deutsche Sprache keinen Anteil an dem Mangel Philosophischer Dichter hätte“.333 In der „Vorrede“ zur vierten Auflage des Gedichtbands beschrieb Haller seine Motive bei der Abfassung der Gedichte in ähnlicher Weise: Nach meinen Reisen, und hauptsächlich zu Basel, befiel mich die poetische Krankheit wieder, nachdem ich mehrere Jahre nichts mehr von dieser Art gewagt hatte. [. . .] Ich hatte indessen die Englischen Dichter mir bekannter gemacht, und von denselben die Liebe zum Denken, und den Vorzug der schweren Dichtkunst angenommen. Die philosophischen Dichter, deren Grösse ich bewunderte, verdrangen bald bey mir das geblähte und aufgedunsene Wesen deß Lohensteins, der auf Metaphoren, wie auf leichten Blasen schwimmt. Hierauf entstund bey mir die neue Art zu Dichten, die so vielen Deutschen zu Misfallen das Unglük gehabt hat, die ich aber so wenig bereue, daß ich wünschen möchte, noch viel mehr Gedanken in viel mindre Zeilen gebracht zu haben. Nach meinem Begriffe, muß man die Aufmerksamkeit deß Lesers niemahls abnehmen lassen. Dieses geschieht ohnfehlbar auf eine mechanische Weise, so bald man ihm einige lähre Zeilen vorlegt, wobey er nichts zu denken findet. Ein Dichter muß Bilder, lebhaffte Figuren, kurze Sprüche, starke Züge, und unerwartete Anmerkungen auf einander häuffen, oder gewärtig seyn, daß man ihn weglegt.334

Zu den Gedichten, in denen er diese „neue Art zu Dichten“ verwirklichte, rechnete Haller selbst offenbar unter anderem Gedanken und Falschheit. In der Vorbemerkung zu Ueber den Ursprung des Uebels weist Haller darauf hin, sein „Entwurf“ in diesem Gedicht sei „ganz allgemein und philosophisch“ gewesen. Es gilt also zu klären, was Haller unter ‚philosophischen Dichtern‘ oder ‚philosophischen Gedichten‘ verstand. Leider ist nicht bekannt, welche englischen Gedichte es waren, die er selbst und seine Freunde in Basel bewunderten und als Vorbilder ansahen. Um Popes Essay on Man konnte es sich dabei aus chronologischen Gründen nicht handeln.335 Zu den Gedichten, die man in der

333 Ebd., S. 53. 334 Ebd., S. 6 f. („Vorrede“). Vgl. auch Albrecht von Haller, „Vorrede“ [zur vierten Auflage], in: Haller/Hirzel, S. 248–251, Zitat S. 248 f. 335 Die ersten zwei Auflagen von Hallers Versuch erschienen, wie erwähnt, 1732 beziehungsweise 1734. Die vier Episteln des Essay on Man erschienen zunächst einzeln zwischen Februar 1733 und Januar 1734; die erste Ausgabe mit allen vier Episteln kam im April 1734 heraus (vgl. Leranbaum, Alexander Pope’s ‚Opus Magnum‘ 1729–1744, S. 6). Für die Gedichte in der ersten Auflage kommt ein Einfluss des Essay on Man also eindeutig nicht in Frage. Bei den in der zweiten Auflage hinzugefügten Gedichten dagegen ist so ein Einfluss nicht prinzipiell ausgeschlossen, und in dem Gedicht Ueber den Ursprung des Uebels, das zu diesen Gedichten gehörte, hat man einen solchen Einfluss nachzuweisen gesucht. Aber Karl Guthke hat gute Gründe für die Annahme vorgelegt, dass Hallers Gedicht schon im Februar oder März 1733 abgeschlossen war, so dass auch hier eine Einwirkung von Popes Essay höchst unwahrscheinlich ist. Vgl. Karl S. Guthke, „‚Unselig Mittelding von Engeln und von Vieh‘. Haller, Pope und ‚Über

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Forschung ins Spiel gebracht hat, gehören John Drydens Religio Laici (1682) und The Hind and the Panther (1687),336 Edward Youngs The Love of Fame (1725 bis 1728), Popes The Dunciad (1. Fassung 1728) sowie James Thomsons The Seasons (1726 bis 1730).337 Ferner ist darauf hingewiesen worden, dass Hallers Gedicht Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben thematische Berührungspunkte zu Matthew Priors Solomon on the Vanity of the World (1718) aufweist.338 Es erscheint auch denkbar, dass Haller und seine Freunde unter anderem Sir Richard Blackmores Creation im Auge hatten, ein Gedicht, das die Bezeichnung „A Philosophical Poem“ im Titel trug und das auch aufgrund der physikotheologischen Argumentation Hallers Interesse wecken konnte. Die genannten Gedichte bilden eine in formaler wie inhaltlicher Hinsicht sehr heterogene Gruppe. Um zu klären, was Haller mit ‚philosophischen Gedichten‘ meinte, sind daher vor allem seine einschlägigen Äußerungen zu befragen. Sie deuten an, dass diese Gedichtart für Haller vor allem durch die Verbindung von Gedankenreichtum mit einem komprimierten und von Ausschmückungen und artifiziellen Metaphern freien Stil definiert war. Was die inhaltliche Seite angeht, so erscheint die Vermutung naheliegend, dass philosophische Gedichte für Haller nicht irgendwelche Gedanken präsentierten, sondern Gedanken zu Themen, die üblicherweise in der Philosophie verhandelt wurden. Der gedrängte Stil, um den er sich bemühte, definierte sich für ihn offenbar nicht zuletzt durch die Abgrenzung von der Lohenstein’schen Schreibart. Ob philosophische Gedichte in Hallers Augen noch durch weitere Merkmale definiert waren, ist schwer auszumachen. So sind die englischen Gedichte, die man als mögliche Vorbilder angeführt hat, Gedichte von sehr

den Ursprung des Übels‘“, in: Ders., Die Entdeckung des Ich. Studien zur Literatur, Tübingen/ Basel 1993, S. 102–107. Vgl. auch: Mahlmann-Bauer, „Albrecht von Haller, Satiriker auf den Spuren Voltaires und Swifts“, S. 37. 336 Vgl. Wolfgang Proß, „Haller und die Aufklärung“, in: Steinke/Boschung/Proß (Hrsg.), Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche, S. 415–458, hier S. 437 f., 449 f. – In Eric Achermanns Beitrag zu demselben Sammelband heißt es: „In Frage kommt wohl das ganze Spektrum der didaktischen Poesie von Wentworth Dillon, dem vierten Earl of Roscommon (1630–1685), über Joseph Addison (1672–1719) bis zu Alexander Pope sowie die Tradition religiös-empfindsamer Dichtung von John Milton (1608–1674) bis Edward Young (1683–1765).“ (Achermann, „Dichtung“, S. 150, Anm. 24) 337 Für den Hinweis auf die Gedichte Youngs und Thomsons als mögliche Anreger vgl.: Mahlmann-Bauer, „Albrecht von Haller, Satiriker auf den Spuren Voltaires und Swifts“, S. 37. Allerdings ist für Mahlmann-Bauer die satirische Prosa Jonathan Swifts, insbesondere sein Tale of a tub, als eine wichtigere Anregungsquelle anzusehen (vgl. ebd., S. 37 f.) 338 Vgl. Tonelli, Poesia e pensiero in Albrecht von Haller, S. 41, 44 f., 54.

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unterschiedlicher Länge: Ihr Umfang variiert zwischen wenigen hundert und mehreren tausend Versen. Was Hallers Motive für die Hinwendung zur philosophischen Dichtung angeht, so nennt die zitierte Vorbemerkung mit der Wette zwischen ihm und seinen Basler Freunden zunächst einen rein äußerlichen Anlass und verweist auf seinen Dichterehrgeiz und einen gleichsam sportlichen Antrieb. Aber Hallers Akzeptieren dieser Wette kann auch als Indiz dafür gelten, dass er der Sicht seiner Basler Freunde auf den aktuellen Zustand der deutschen Dichtung im Wesentlichen zustimmte. Die Ansicht, dass die deutsche Dichtung sich in den Jahren nach 1700 in einer schlechten Verfassung befand und hinter der englischen und französischen Dichtung zurückgeblieben war, war bekanntlich in jener Zeit unter deutschsprachigen Gelehrten verbreitet.339 Auch Haller betrachtete die deutsche Dichtung offenbar als reformbedürftig, hielt sie aber im Gegensatz zu seinen Freunden grundsätzlich für fähig, mit den Leistungen der englischen Dichtung gleichzuziehen. Wenn Haller unter ‚philosophischen Gedichten‘ das eben Beschriebene verstand und bei seinen Bemühungen um philosophische Gedichte in deutscher Sprache von den eben skizzierten Motiven geleitet war: Was bedeutet das im Hinblick auf das Verhältnis seiner Gedichte zur Gattung des Lehrgedichts? Dass Haller selbst für seine Gedichte zunächst nicht den Ausdruck ‚Lehrgedicht‘ verwendete, ist beachtenswert, macht die Frage aber noch nicht obsolet. Wie oben gezeigt wurde, weisen seine philosophischen Gedichte auf formaler, struktureller und inhaltlicher Ebene wesentliche Merkmale der Gattung Lehrgedicht – wie sie in dieser Arbeit verstanden wird – auf, und man kann vermuten, dass die englischen philosophischen Gedichte, von denen er sich inspirieren ließ, ebenfalls Grundzüge dieses Schreibmusters enthielten. Diese Gemeinsamkeiten bleiben bestehen, auch wenn Haller den durch diese Eigenschaften konstituierten Gedichttyp zunächst eher als philosophisches Gedicht denn als Lehrgedicht bezeichnete. Entscheidend ist aber das Folgende: Die philosophische Art des Dichtens, die Haller mit seinen Gedichten in der deutschen Literatur heimisch machen wollte, war für ihn in erster Linie durch einen ‚gedankenschweren‘ Inhalt und einen dem brevitas-Ideal verpflichteten Stil definiert, nicht aber durch eine spezifische Funktion. Darüber, welchen Zwecken die philosophische Dichtung dienen sollte, äußerte sich Haller in den Vorreden zu den zwei aus der Basler Wette hervorgegangenen Gedichten nicht. Er weist diesen philosophischen Gedichten also auch nicht die Aufgabe zu, die in der Forschung häufig als die zentrale Aufgabe des aufklärerischen Lehrgedichts betrachtet wurde:

339 Vgl. etwa Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 5/II: Frühaufklärung, S. 11–46.

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die Aufgabe, philosophische und wissenschaftliche Erkenntnisse popularisierend zu verbreiten. Ob philosophische Dichter, wie Haller sie verstand, in ihren Gedichten die vorliegenden Theorien von Philosophen in Verse kleiden oder auf eigene Faust philosophieren sollten, geht aus den zitierten Vorreden nicht hervor. Hallers spätere Äußerungen über die Motivationen hinter seinen philosophischen Gedichten werfen also einige Fragen auf, so etwa die Frage, in welchem Verhältnis die philosophischen Gedichte ihm zufolge zur Philosophie standen. Ferner ist zu bedenken, dass es im frühen 18. Jahrhundert verschiedene Vorschläge für eine Reform der deutschen Dichtung gab, die sie von dem ‚Lohenstein’schen Schwulst‘ reinigen und aus den Niederungen der massenhaft verfertigten Kasualdichtung erheben sollte. Man kann daher fragen, weshalb Haller gerade den Weg der philosophischen, schweren und gedrängten Dichtungsweise wählte.340 Um diese Fragen zu klären, sollen im Folgenden einschlägige dichtungstheoretische Äußerungen Hallers näher untersucht werden. Für Hallers Sicht auf den Wert und die Aufgaben der Dichtung im Allgemeinen ist vor allem die Vorrede aufschlussreich, die er für einen 1749 erschienenen Gedichtband seines Freundes Werlhof verfasste.341 Er lobt diese Gedichte dafür, dass sie alle Qualitäten aufweisen, die man von Werken der Poesie erwarten kann, und ordnet diese Qualitäten dabei in einer aufsteigenden Reihe an. Auf dem untersten Rang befinden sich Eigenschaften, die Haller unter dem Begriff der ‚äußerlichen Richtigkeit‘ zusammenfasst; dazu gehören die „Reinigkeit der Sprache, die Flüssigkeit deß Sylbenmaasses und der Wortfügung, die richtige

340 Immerhin begnügte Haller sich nicht damit, seinen Basler Freunden in zwei Gedichten die Tauglichkeit der deutschen Sprache zur philosophischen Dichtung zu beweisen, sondern schrieb danach das noch ambitioniertere Gedicht Ueber den Ursprung des Uebels und weitere Gedichte mit philosophischen Zügen. 341 Hallers Vorrede wurde von ihm erneut veröffentlicht als: „Vorrede zu den Werlhofischen Gedichten“ in: [Albrecht von Haller], Sammlung Kleiner Hallerischer Schrifften, Bern 1756, S. 161–172; nach dieser Ausgabe wird der Text hier zitiert. Die Vorrede ist ferner abgedruckt in: Haller/Hirzel, S. 390–396. – Haller hat seine dichtungstheoretischen Überzeugungen nur selten ausführlich und im Zusammenhang formuliert. Seine systematischsten Äußerungen dazu dürften sich in seinen Vorreden zu den Auflagen seines eigenen Gedichtbandes sowie zu den Gedichten Werlhofs finden. Bemerkungen zu einzelnen dichtungstheoretischen Fragen sind ferner selbstverständlich in großer Zahl in den Rezensionen zu finden, die Haller von 1745 bis 1777 in den Göttinger Gelehrten Anzeigen veröffentlichte. Zu dieser Aktivität als Literaturkritiker vgl.: Claudia Profos, „Literaturkritik“, in: Steinke/Boschung/Proß (Hrsg.), Albrecht von Haller, S. 182–198; Karl S. Guthke, Haller und die Literatur, Göttingen 1962, v. a. S. 85–153. – Da es mir vor allem um die Auffassungen des frühen Haller geht, berücksichtige ich im Folgenden in erster Linie die genannten Vorreden.

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Wahl der Reime“.342 Wenngleich Haller den hiermit verbundenen Fragen – etwa nach den geeigneten Reimen – einige Aufmerksamkeit schenkt, bleiben für ihn Gedichte, die lediglich diese Qualitäten aufweisen, doch noch sehr „mittelmäßig“.343 Diese ‚äußeren Schönheiten‘ sollen vielmehr „nur zierliche Kleider der wahren Schönheit“ sein.344 Während die äußeren Schönheiten nur auf den Verstand wirken, affiziert die wahre Schönheit das „Hertz deß Lesers“, sie ist fähig, „zu gefallen, und zu rühren“.345 Mit dem Rühren nennt Haller hier eine Wirkung der Dichtung, auf die er auch in vielen anderen Äußerungen besonderes Gewicht legte. Die Fähigkeit der Dichtung, auf das Herz der Leser einzuwirken und sie zu rühren, gab ihr in seinen Augen einen hohen Wert. Den Hintergrund dieser Wertschätzung bildet seine Überzeugung, dass der Verstand keinen oder nur einen geringen Einfluss auf das Herz und den Willen des Menschen habe; das aber bedeutete für ihn konkret auch, dass das theoretische Akzeptieren der Glaubenswahrheiten allein nicht das Herz eines Menschen von ‚Kälte‘ gegenüber Gott oder von sündigen Wünschen befreien konnte.346 Die poetische Sprache aber zeichnet sich für Haller dadurch aus, dass sie rühren und das Herz beeinflussen kann. Die konkreten Eigenschaften, die ihr dies erlauben, werden von Haller nicht näher definiert, sondern durch eine Aufzählung umrissen; es handelt sich vor allem um eine Verbindung von gedanklichen Qualitäten (präzise Unterscheidungen, das Wesen der Dinge treffende Adjektive) mit etwas, was Haller als „Feuer deß Ausdruckes“ beschreibt.347 Diese spezifischen Eigenschaften der poetischen Sprache, die sie zur rührenden Wirkung auf das Herz des Lesers befähigen, stellen Haller zufolge Mittel dar, die sowohl zu guten wie zu schlechten Zwecken genutzt werden können,

342 Haller, „Vorrede zu den Werlhofischen Gedichten“, S. 167. 343 Ebd., S. 168. 344 Ebd., S. 169. 345 Ebd., S. 168. 346 Vgl. Achermann, „Dichtung“, S. 126, 130, 133; Richard Toellner, Albrecht von Haller. Über die Einheit im Denken des letzten Universalgelehrten, Wiesbaden 1971, S. 42, 44 f. 347 „Wahre und gründliche Gedancken, wohl ausgefundene Aehnlichkeiten verschiedener Begriffe, scharff unterschiedene unähnlichkeiten [sic] ähnlicher Ideen, kurze und dennoch das Wesen der Dinge abmahlende Beywörter, wohlständige Vorstellungen würcklicher zärtlicher Leidenschafften, alles dieses sind Schönheiten, die auch ohne die Zierde deß Schalles und der Sprache gefallen, aber die sich der Vollkommenheit nähern, wenn dieser äussere Schmuck sie begleitet. Ich finde diese Vereinigung beyder Vorzüge nicht nur deßwegen schön, weil Wohlklang, Reinigkeit und Richtigkeit Eigenschafften guter Gedichte sind, sondern auch deßwegen, weil es sehr schwer, und folglich sehr ungemein ist, wenn ein Dichter sie mit der Stärcke der Gedancken, und dem Feuer deß Ausdruckes verbindet.“ (Haller, „Vorrede zu den Werlhofischen Gedichten“, S. 169)

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deren Macht dem Dichter somit auch eine besondere Verantwortung gibt. So hebt er in seiner Vorrede schließlich auch hervor, der größte Vorzug der Gedichte Werlhofs bestehe für ihn darin, dass der Dichter die bisher aufgezählten Qualitäten in den Dienst von „Tugend“ und „Gottesfurcht“ gestellt habe.348 Haller nennt im Folgenden drei weitere Beispiele für diese vorbildliche Funktionalisierung intellektueller und künstlerischer Vorzüge: Newton, der „die Offenbarung aus der Natur vertheidigt“, Fénelon, der „die Tugend mit dem Reize der Beredsamkeit angenehm macht“, und schließlich Racine, der „die Religion mit den herrlichsten Farben der Poesie ausschmücket“.349 Damit spielt Haller offenkundig auf Louis Racines 1742 erschienenes Lehrgedicht La Religion an.350 Lehrgedichte und Gedichte im Allgemeinen erscheinen Haller demnach als besonders lobenswert, wenn sie sich in den Dienst von Tugend und Religion stellen; dass die Gedichte hier tatsächlich wertvolle und spezifische Dienste erbringen können, ergibt sich aus der besonderen Wirkungsmacht der poetischen Sprache. In welchem Verhältnis aber philosophische Lehrgedichte zur Philosophie stehen, lässt sich diesen Ausführungen nicht entnehmen. Seine Ansichten hierzu erläuterte Haller vor allem in zwei Texten, in denen er auf kritische Urteile über bestimmte seiner Gedichte reagierte. Die Kritik zielte in beiden Fällen darauf, dass Hallers Gedichte bei der Affirmation einer bestimmten Position nicht alle relevanten Begründungen anführte. So enthielt gleich die zweite Auflage seiner Gedichtsammlung eine „Schuz-Schrift wegen einigen meiner Schriften“, in der Haller den Vorwurf zurückwies, er habe in seiner Behandlung bestimmter Themen die auf die Offenbarung rekurrierenden Argumente unterschlagen: Ein Dichter wählet einen gewissen Vorwurf / nicht eine vollständige Abhandlung davon zu machen / sondern einige besondere Gedanken darüber anzubringen; Also soll es ihm frey stehen / so weit zu gehen / als er will / und stille zu stehen / wo es ihm gefält. Er hat sich nicht verbunden alles zu sagen / also soll man vom Ausgebliebenen nicht schliessen / dass er es verachte. Dieser Einwurf könnte einem Weltweisen gemacht werden / aber nicht einem Dichter. Haben doch viele Schulweisen und andre / die von der Gottheit gehandelt / sich in die Schlüsse der Vernunft eingeschränket. Warum soll ein Dichter / wann er das gleiche thut / angeklagt werden die Offenbahrung auszuschliessen. Diese Klage ist so hart / daß man billich die äusserste Uberweisung [sic] erwarten sollte / eh daß man jemand damit angriffe.351

348 Ebd., S. 170. 349 Ebd. S. 170 f. 350 Vgl. Louis Racine, La Religion, Poëme, Paris 1742. 351 Albrecht Haller, „Schuz-Schrift wegen einigen meiner Schriften“, in: Ders., Versuch Von Schweizerischen Gedichten. 2. Aufl. 1734, S. 111–114, hier S. 111 f. Der Text wird auch wiedergegeben bei: Haller/Hirzel, S. 370–372.

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Haller reklamiert hier nachdrücklich spezifische Lizenzen für philosophische Gedichte, grenzt sie also entschieden von philosophischen Abhandlungen ab. Die Differenz besteht dieser Äußerung zufolge darin, dass der Dichter im Gegensatz zu Weltweisen nicht zur Vollständigkeit verpflichtet ist, sondern das Recht hat, nur so viele Argumente zu einem „Vorwurf“ auszubreiten, wie „es ihm gefält“. Diese Bemerkung aus der „Schuz-Schrift“ bestimmt die Eigenart des dichterischen Umgangs mit philosophischen Themen vor allem auf negative Weise, nämlich durch das Insistieren darauf, dass philosophische Gedichte nicht zur Vollständigkeit verpflichtet sind. Eine positive Charakterisierung ihrer Aufgabe und Leistung findet sich in der Vorrede zum Gedicht Ueber den Ursprung des Uebels. Dort antwortet Haller auf einen Einwand gegen dieses Gedicht, der dem in der „Schuz-Schrift“ zurückgewiesenen Einwand sehr ähnelt, hier allerdings von einem Freund Hallers stammt: Ich unterzog mich dieser Arbeit aus Hochachtung für einen Freund, der die Früchte seiner reiffen Tugend nunmehr in der Ewigkeit genießt. Das Ende gefiel ihm am wenigsten. Er sahe es für zu kurz, zu abgebrochen und unvollständig an. Es können in der That noch bessre Ursachen für die Mängel der Welt gesagt werden. Aber ein Dichter ist kein Weltweiser, er mahlt, und rührt, und erweiset nicht. Ich habe also dieses Gedicht unverändert beybehalten, ob ich wohl bey gewissen Stellen hätte wünschen mögen, daß ich die gleichen Dinge deutlicher und fliessender hätte sagen können.352

„[E]in Dichter ist kein Weltweiser, er mahlt, und rührt, und erweiset nicht“: In dieser vielzitierten Aussage benennt Haller zwei Leistungen von Gedichten, die er auch an anderen Stellen, wo er nicht speziell von philosophischen Gedichten sprach, als genuine Fähigkeiten der Dichtung hervorgehoben hat. Das poetische Malen, das Haller selbst am ausgiebigsten im Gedicht Die Alpen praktizierte, wurde von ihm auch noch nach der Lektüre von Lessings Laokoon verteidigt.353 Dass das Rühren für Haller eine zentrale Leistung der Dichtung allgemein ausmachte, wurde bereits erwähnt; wie das Zitat zeigt, sollen für ihn auch philosophische Gedichte wie Ueber den Ursprung des Uebels eine solche Wirkung anstreben. Doch Hallers kategorische Aussage, dass ein Dichter ‚nicht erweise‘, ist erläuterungsbedürftig. Wenn damit gemeint wäre, dass Dichter nach Haller überhaupt nicht Begründungen anführen oder Erklärungen für Sachverhalte vorschlagen sollen, so stünde dies im Widerspruch nicht nur zu den oben zitierten Ausführungen aus der „Schuz-Schrift“ und zu seiner poetischen Praxis, sondern auch zu den direkt benachbarten Aussagen aus derselben Vorrede: Hallers Eingeständnis, dass er in seinem Gedicht „noch bessre Ursachen für 352 Haller, Versuch, 4. Aufl. 1748, S. 129 f. (Vorbemerkung zu Ueber den Ursprung des Uebels). 353 Zu Lessings Kritik an der deskriptiven Poesie vgl. Buch, Ut Pictura Poesis, S. 46–54.

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die Mängel der Welt“ hätte anführen können, impliziert ja, dass er dort zumindest eine Ursache oder einige Ursachen angegeben hat – was sich durch den Gedichttext auch leicht bestätigen lässt. Haller scheint hier also entweder das Wort ‚erweisen‘ im Sinne von ‚vollständig, unter Beibringung aller verfügbaren Gründe, begründen‘ zu benutzen oder aber mit seiner zugespitzten Formulierung etwas wie das Folgende zu meinen: ‚Dem Dichter geht es primär um das Malen und Rühren – und danach sollte sein Gedicht auch beurteilt werden –, und wo er etwas erweist, ist auch dies dem vorrangigen Zweck untergeordnet.‘ Um ein Zwischenresümee zu ziehen: Wenn Dichter in ihren Gedichten philosophische Themen behandeln, so präsentieren sie dabei nach Haller nicht Gedanken und Argumentationen einer besonderen Art, sondern solche Gedanken und Argumentationen, wie sie auch in philosophischen Abhandlungen zu finden sind. Dichter sind aber im Gegensatz zu Philosophen nicht zu einer erschöpfenden Behandlung ihrer Themen verpflichtet. Sie können und sollen frei bestimmen, wie ausführlich und detailliert sie ihr Thema behandeln und welche und wie viele der Argumente, die die zeitgenössische Philosophie oder Theologie bereitstellt, sie in das Gedicht aufnehmen. Während im späteren 18. Jahrhundert einige Dichtungstheoretiker genauer festzulegen suchten, welche Arten von Beweisen oder Argumenten in Lehrgedichten zu verwenden seien, nimmt Haller hier keine grundsätzliche Einschränkung vor. Die zuletzt untersuchte Bemerkung aus Hallers Vorrede zu Ueber den Ursprung des Uebels („Ein Dichter ist kein Weltweiser, er malt, und rühret, und erweiset nicht“) ist in der Forschung gelegentlich als Beleg dafür interpretiert worden, dass Haller der poetischen Behandlung philosophischer Themen einen spezifischen Erkenntniswert zuschreibe: dass die Poesie für ihn „ein besonderer Modus der sprachlichen Welterfassung“ sei, dass sie „eine Mehrdeutigkeit und Ambivalenz“ besitze, „die der Vielschichtigkeit bestimmter intellektueller Problemgehalte angemessener sein kann als die systematische Ordnung der vernünftigen Deduktion“.354 Solche Interpretationen scheinen mir die knappe Aussage aus der Vorrede zu überfordern, in der etwa von Mehrdeutigkeit und Ambivalenz gar nicht die Rede ist. Wenn dabei in den betreffenden Deutungen gesagt wird, dass die Möglichkeiten der Poesie sich für Haller nicht „in illustrativen Darstellungsformen zum Zweck der Versinnlichung abstrakter Lehrgehalte [erschöpfen]“,355 so

354 Alt, Aufklärung, S. 144. Vgl. ferner Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 5/II: Frühaufklärung, S. 151 f.; Guthke, Haller und die Literatur, S. 20, 91. Guthke beruft sich allerdings für seine Auffassung, dass „die Dichtung für Haller persönlich einen eigenen Zugang zur Wirklichkeit besitzt“ (ebd., S. 20), nicht ausdrücklich auf den zitierten Satz aus der Vorbemerkung zu Ueber den Ursprung des Uebels. 355 Alt, Aufklärung, S. 144.

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stimme ich dieser negativen Aussage nachdrücklich zu. Aber als Alternative zu der bloß illustrativen Funktion der Poesie bleibt nicht allein eine spezifische Erkenntnisleistung, mit der sie „dem jeweils darzustellenden Sachverhalt neue Sinndimensionen erschließt“.356 Eine solche Disjunktion lässt gerade jene Leistung aus, die Haller explizit der Dichtung zuschreibt, nämlich das Rühren. Das Rühren ist schließlich nicht als ein bloßes Veranschaulichen zu verstehen, sondern als eine Einwirkung auf das Herz und damit auf dasjenige Organ, das entscheidend den Willen des Menschen bestimmt. Die Dichtung kann und soll nach Haller ‚abstrakte Lehrgehalte‘ so darbieten, dass sie auf das menschliche Herz wirken. Die hier analysierten dichtungstheoretischen Äußerungen Hallers geben Aufschluss darüber, was er als die Aufgabe seiner philosophischen Gedichte ansah und was für ihn generell die wichtigsten Kriterien bei der Bewertung von dichterischen Werken waren. Dass er in der Vorrede zu Werlhofs Gedichten die Herrschaft von Tugend und Gottesfurcht als höchste Qualität hervorhebt, stimmt zusammen mit den inhaltlichen Schwerpunkten seiner eigenen Lehrgedichte, in denen moralische und religiöse Themen über weite Strecken dominieren. Was allerdings die besondere poetische Faktur der Haller’schen Lehrgedichte angeht, also etwa die Gestaltung der Sprecherrolle oder die Verbindung von philosophischer Erörterung, moralischer Kritik und ‚existenzieller‘ Klage, so lassen sie sich kaum schlüssig auf die rekonstruierten dichtungstheoretischen Annahmen Hallers beziehen; hierzu sind diese Annahmen insgesamt zu allgemeiner Natur. Fragt man nach anderen Kontexten, die diese Machart der Gedichte mit bedingt haben könnten, so liegt es nahe, Hallers ethische und religiöse Überzeugungen in den Blick zu nehmen. Da Haller sich aber wesentlich als Naturforscher verstand und man in der Forschung seiner naturwissenschaftlichen Prägung auch einen erheblichen Einfluss auf seine Dichtung zugeschrieben hat, wende ich mich zunächst der Bedeutung der Naturwissenschaften für seine Lehrgedichte zu. 2.1.6 Die Rolle der Naturwissenschaften in den Gedichten Als Haller seinen Gedichtband veröffentlichte, hatte er medizinische und naturwissenschaftliche Studien an den Universitäten von Tübingen, Leyden, Paris

356 Vgl. Alt, Aufklärung, S. 144: „In der Erkenntnis [scil. Hallers; O.K.], dass der Akt der Poesis nicht als Prozess reiner Übersetzung von Vernunftlehren in gebundene Sprache zu verstehen sei, sondern seinerseits dem jeweils darzustellenden Sachverhalt neue Sinndimensionen erschließt, bekundet sich bereits ein überraschend modernes Wissen über die Ausdruckspotenz spezifisch literarischer Diskurstechniken.“

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und Basel absolviert357 und war intensiv mit Forschungen in verschiedenen Bereichen befasst, insbesondere in Anatomie, Physiologie und Botanik. Daher hätte man erwarten können, dass er seine Lehrgedichte oder philosophischen Gedichte auch zur Erörterung von Fragen der Naturforschung oder zur Verbreitung neu gewonnener Erkenntnisse nutzte. Aber dies ist nur in sehr eingeschränktem Maße der Fall. Gerade mit Blick auf Hallers exzeptionelle wissenschaftliche Kenntnisse gilt es hervorzuheben, dass keines seiner Lehrgedichte als ein naturwissenschaftliches Lehrgedicht bezeichnet werden kann. Die Strophen des Alpengedichts, die die Pflanzenwelt des Gebirges schildern, kommen dieser Untergattung noch am nächsten; aber dabei handelt es sich eben nur um eine überschaubare Anzahl von Strophen innerhalb eines umfangreichen Gedichts, dessen vorrangige Intentionen, wie oben dargelegt, moralischer und gesellschaftskritischer Art sind. Gleichwohl sind die Naturwissenschaften auf verschiedene Weisen in Hallers Lehrgedichten präsent, und die Bezugnahmen auf sie sind zahlreich genug, um eine eigene Betrachtung zu rechtfertigen. Generell ist aber zu betonen, dass die Referenzen auf Naturforschung im Allgemeinen oder auf einzelne ihrer Ergebnisse stets einen Zweck innerhalb einer größeren Argumentation erfüllen, deren Fluchtpunkt durchgehend in Aussagen über Moral oder Religion besteht. So verwendet Haller in Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben wie in Ueber den Ursprung des Uebels Erkenntnisse über die außermenschliche Natur beziehungsweise über den menschlichen Körper im Rahmen einer physikotheologischen Argumentation. Auf diese Erkenntnisse beruft sich jeweils der Sprecher, um den quälenden Zweifeln an der Existenz oder der Güte Gottes etwas Gewisses entgegenzustellen. Ferner finden sich in Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben und in Falschheit menschlicher Tugenden Passagen, die das Tun von Naturforschern und ihre Erfolge schildern; aber dabei geht es dem Sprecher jeweils darum, vor einer Überschätzung dieser Forschungen und ihrer Ergebnisse zu warnen.358 Wieder eine andere Funktion erfüllen die naturwissenschaftlichen Referenzen im Unvollkommenen Gedicht über die

357 Zu Hallers Studien an diesen Universitäten vgl. Boschung, „Lebenslauf“, S. 19–31; Hirzel, „Hallers Leben und Dichtungen“, S. XII–LI. 358 In Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben relativiert der Sprecher den Wert dieser Erkenntnisse, indem er der Erforschung der Natur die Selbsterforschung des Menschen als eine weit wichtigere Aufgabe gegenüberstellt, der sich die Menschen aber meist entziehen (vgl. V. 27–64). In Falschheit menschlicher Tugenden hebt der Sprecher hervor, dass die Naturforscher auch auf ihrem eigenen Gebiet viele grundlegende Fragen nicht beantworten können und so immer wieder nur zur Einsicht in die Begrenztheit ihres Wissens kommen (vgl. V. 255–292).

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Ewigkeit: Der Sprecher, durch den plötzlichen Tod seines jungen Freundes erschüttert, intensiviert diesen Zustand noch, indem er sich naturwissenschaftliche Beobachtungen und Theorien in Erinnerung ruft, die den Menschen als ein unbedeutendes und radikal fremdbestimmtes Wesen innerhalb eines unermesslichen Kosmos erscheinen lassen. Diese Befunde lassen Zweifel an der vor allem von Karl Richter in seiner einflussreichen Studie Literatur und Naturwissenschaft359 vertretenen These aufkommen, die zukunftsweisenden Neuerungen der Lehrgedichte Hallers seien in entscheidender Weise durch seine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Naturwissenschaft – nicht nur, aber in besonderem Maße Newtons – bedingt: „Hallers Durchbruch zu einer neuen Weise des Dichtens“, so Richter, „vollzieht“ sich „im Umkreis seiner Auseinandersetzung mit Newton“.360 Die in den folgenden Jahren entstandene Dichtung Hallers setze „in ihren Inhalten wie ihren Formentwicklungen, nicht grundsätzlich anders als im Falle Goethes, den Kontakt zur Wissenschaft voraus.“361 Die These, dass Inhalte und Formen der Gedichte Hallers durch den Kontakt zur Wissenschaft geprägt seien, konkretisiert und belegt Richter vor allem durch Analysen der Gedichte Die Alpen und Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit.362 In den Naturbeschreibungen des Alpengedichts macht er unter anderem auf die differenzierte Berücksichtigung der Farben aufmerksam, die durch Hallers Rezeption der Newton’schen Optik mit ermöglicht worden sei. Aber auch für das in den Gedichten entworfene Menschenbild sowie für die Konzeption und Erörterung der moralischen und religiösen Probleme, die in ihnen behandelt werden, sei der Einfluss der Naturwissenschaften wichtig. Richter hat überzeugende Beispiele dafür präsentiert, wie Hallers formale Gestaltung des Alpengedichts auf naturwissenschaftliche Beobachtungen und Theorien rekurriert und wie die Gedankengänge der Gedichte auf diese Forschungen Bezug nehmen. Doch die übergeordneten Thesen seines HallerKapitels werden durch diese Analysen nicht hinreichend begründet; sie schreiben den Naturwissenschaften eine Bedeutung für die Formen und Inhalte der Haller’schen Lehrgedichte zu, die sich in diesem Maße nicht nachweisen lässt. Insbesondere die These, dass Hallers neue, philosophische Art des Dichtens wesentlich durch die Rezeption der Naturwissenschaften, etwa der Arbeiten Newtons, bedingt gewesen sei, scheint mir nicht überzeugend. Mit der Feststellung, Hallers „Durchbruch“ zu seiner neuen Art der Dichtung habe sich „im 359 Vgl. Richter, Literatur und Naturwissenschaft, S. 57–111. 360 Ebd., S. 66. 361 Vgl. ebd., S. 59. 362 Vgl. zu Die Alpen: ebd., S. 69–84, 93–98; zu Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit: ebd., S. 84–93, 98–103.

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Umkreis seiner Auseinandersetzung mit Newton“ vollzogen, wird lediglich eine zeitliche Koinzidenz notiert. Entscheidend für Richters Argumentation sind freilich die Befunde seiner Gedichtanalysen. Hier gilt es zu betonen, dass die zwei Gedichte, auf die er sich hauptsächlich stützt, also Die Alpen und das Gedicht über die Ewigkeit, nicht zum Kernbestand der Haller’schen Lehrgedichte zählen, sondern Grenzfälle zwischen Lehrgedicht und beschreibendem Gedicht beziehungsweise Ode darstellen. In den Gedichten dieses Kernbestands nun kommen, wie oben dargestellt, durchaus auch naturwissenschaftliche Beobachtungen sowie die Naturforschung selbst als Gegenstände vor, aber sie sind aufs Ganze gesehen keineswegs dominant und erfüllen fast immer eine Funktion innerhalb von Argumentationen, die letztlich auf moralische oder religiöse Aussagen zielen.363 Richters These, dass auch das Menschenbild dieser Lehrgedichte im engeren Sinne sowie die in ihnen erörterten Probleme in wesentlichem Maße durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse geprägt seien, wird von ihm in dieser allgemeinen Form nicht plausibel gemacht. 2.1.7 Ethische und religiöse Positionen Hallers Die vorherrschenden Themen in Hallers Lehrgedichten entstammen, wie gesehen, den Bereichen der Ethik und der Theologie oder der Religion. Dass die Gedichte in inhaltlicher Hinsicht von den ethischen und religiösen Positionen Hallers geprägt sind, ist daher eine triviale Feststellung. Im Folgenden soll aber die Vermutung plausibel gemacht werden, dass auch wesentliche strukturelle und formale Eigenschaften der Gedichte von diesen Positionen mit bedingt wurden. So hat Achermann bereits darauf hingewiesen, dass Hallers Kritik am Lohenstein’schen Stil, die vor allem auf den „Überfluss an Wortpracht“ zielte, sich „reibungslos“ in seine „sittliche[n] Wertvorstellungen“ fügte, nämlich mit seiner Überzeugung zusammenstimmte, der „Verfall vaterländischer Sitte“ sei „einer höfischen, aus Frankreich importierten Prunksucht“ anzulasten.364 Diesen Gedanken weiterführend, kann man Hallers Bemühung um eine gedrängte, schwere, den Leser fordernde Dichtungsweise als eine stilistische Präferenz deuten, die durch ethische und anthropologische Überzeugungen begünstigt wurde.365 Im Folgenden sollen nun Aspekte der Lehrgedichte in den Vordergrund gestellt werden, die oben als 363 Da Naturbeschreibungen in ihnen kaum oder nur am Rande vorkommen, kann ihre Form auch gar nicht in derselben Weise wie im Alpengedicht durch Theorien etwa der Optik mitbedingt sein. 364 Achermann, „Dichtung“, S. 127. 365 In einem Aufsatz von 1751 schreibt Haller, dass der Mensch ‚von Natur aus faul‘ ist und dass seine Neigung, sich seinen natürlichen Trieben zu überlassen, in der Regel ein moralisch verwerfliches Verhalten hervorbringt. (Vgl. Haller, „Vorrede Zum Ersten Theil Der Allgemeinen

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charakteristisch herausgestellt wurden, also die Gestaltung der Sprecherrolle und vor allem die Verbindung von philosophischer Erörterung, moralischer Kritik und existenzieller Klage. Es ist zu zeigen, inwiefern diese Züge der Gedichte in den Kontext der ethischen und religiösen Einstellungen Hallers eingeordnet werden können. Als maßgeblich für Hallers Verhältnis zur Religion hat man schon seit dem späten 18. Jahrhundert häufig einen Konflikt zwischen Vernunft und Glauben, zwischen wissenschaftlicher Rationalität und christlichem Dogma angesehen. Gegen diese Sichtweise sind in der Forschung überzeugende Relativierungen und Einwände vorgebracht worden.366 Mit Blick auf die längsten Abschnitte seines Lebens gibt es kaum Gründe für die Annahme, Haller habe sich vom christlichen Glauben entfernt.367 Doch dass Haller in jungen Jahren, und zwar gerade in der Entstehungszeit seiner wichtigsten Gedichte, mit intellektuellen Zweifeln an der Wahrheit des Glaubens kämpfte, wird auch von Forschern eingeräumt, die im Übrigen die Auffassung vom Konflikt zwischen Vernunft und Glauben als Zentralproblem des Haller’schen Lebens ablehnen.368 Eine

Historie der Natur“ [1751], in: ders., Sammlung Kleiner Hallerischer Schriften, S. 55–88, hier S. 60 f. Bei diesem Text handelt es sich um Hallers Vorrede zur deutschen Übersetzung von Buffons Naturgeschichte; die Vorrede wurde auch veröffentlicht unter dem Titel „Vom Nutzen der Hypothesen“ in: Haller, Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst. Johann Georg Heinzmann [Hrsg.]. Bd. 2, S. 95–118.) Dies könnte für Haller zugunsten einer Dichtungsweise gesprochen haben, die den Leser zum Arbeiten nötigt und das freie Schweifen von Einbildungskraft oder Gefühlen verhindert. Vgl. auch die oben bereits zitierten Sätze aus der Vorrede zur vierten Auflage von Hallers Gedichtband: „Nach meinem Begriffe, muß man die Aufmerksamkeit deß Lesers niemahls abnehmen lassen. Dieses geschieht ohnfehlbar auf eine mechanische Weise, so bald man ihm einige lähre Zeilen vorlegt, wobey er nichts zu denken findet. Ein Dichter muß Bilder, lebhaffte Figuren, kurze Sprüche, starke Züge, und unerwartete Anmerkungen auf einander häuffen, oder gewärtig seyn, daß man ihn weglegt.“ (Haller, Versuch Schweizerischer Gedichte. 4. Aufl. 1748, S. 6 f. [„Vorrede“]. Auch in: Haller/Hirzel, S. 249.) 366 Die Kritik an diesem Topos der Haller-Rezeption bildet ein zentrales Anliegen von: Toellner, Albrecht von Haller. 367 Vgl. Kaufmann, „Über Hallers Religion“. 368 Vgl. ebd., S. 317: „In den Jahren 1732/33, kurz nach der Publikation seiner Gedichte, äußerte Haller Baillod gegenüber einerseits rationale Zweifel an der Wahrheit der christlichen Religion und erwog andererseits zugleich, der eitlen Welt um seines Seelenheils willen den Rücken zu kehren und sich ‚nach dem Vorbild mancher Mystiker ganz in Gott zu versenken‘.“ (Zitat im Zitat aus: P. Wernle, Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert, Band 2, S. 236) Kaufmann betont aber in erster Linie, dass Haller in seinem „konfessionskulturellen Herkunftsmilieu“, dem „deutschschweizerischen Reformiertentum“, fest verwurzelt war und ihm lebenslang die Treue hielt (S. 327). Seine „religiösen Anschauungen“ (ebd.) hätten sich im Laufe seines Lebens zwar gewiss verändert, diese Entwicklung sei allerdings nicht leicht zu

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entscheidende intellektuelle Bestärkung in seinem Glauben empfing Haller dann offenbar durch die Abhandlung Discourse concerning the Resurrection of Jesus Christ des englischen Mathematikers Humphrey Ditton, die er 1732 las.369 Man kann diese mutmaßliche Glaubenskrise des jungen Haller als einen biographischen Hintergrund ansehen, der sich in den Gedichten – auf vermittelte und stilisierte Weise – in dem Nebeneinander von philosophischen Erörterungen und existenziellen Klagen niedergeschlagen hat. Etwa in diesem Sinne sind die Artikulationen von Zweifeln und Verzweiflung in Ueber den Ursprung des Uebels und Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit auch nicht selten gedeutet worden. Was aber in solchen Deutungen kaum berücksichtigt wird und was sich kaum zu der Glaubenskrise in Beziehung setzen lässt, ist die ausgedehnte und nachdrückliche moralische Kritik an zeitgenössischen Denk- und Handlungsweisen, die in den Gedichten ausgebreitet wird. Diese Dimension der Lehrgedichte und ihre Verbindung mit philosophischer Reflexion und existenzieller Klage lassen sich aber angemessener verstehen, wenn andere Aspekte des Haller’schen Verständnisses von Religion und Ethik in die Betrachtung einbezogen werden. Für Hallers religiöses Profil ist charakteristisch, dass die Religion für ihn einerseits eine persönliche und gewissermaßen ‚innerliche‘ Seite, andererseits eine öffentliche, gesellschaftliche und politische Bedeutung besaß und dass beide Dimensionen für ihn gleichermaßen wichtig waren. Zu der persönlichen Seite gehörte für ihn offenbar, dass der Einzelne selbstständig die tradierten religiösen Lehren prüfen und sich mithilfe seines Verstandes ein Überzeugungssystem bilden sollte. Neben dieser theoretischen Auseinandersetzung umfasste die persönliche und individuelle Dimension der Religion für Haller aber auch die kritische Prüfung des eigenen Handelns und Wollens, die stets wiederholte Bewusstmachung des eigenen Unwerts und der Erlösungsbedürftigkeit, damit auch das, was Haller vermutlich als ein Ringen um Gnade beschrieben hätte.370 Doch Haller sah in der Religion ausdrücklich nicht allein eine private Angelegenheit des Einzelnen,

rekonstruieren und scheine zumindest keinen „Pendelschlag der Extreme“ aufzuweisen (vgl. ebd., S. 327–329, Zitat S. 329). Vgl. auch Rémi, „Religion und Theologie“, S. 203: „Trotz solcher kritischer Untertöne [wie im Gedicht Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben] bemüht sich Haller, seine eigene Glaubenshaltung zu festigen, indem er sich mit religionskritischen wie apologetischen Texten aufmerksam auseinandersetzt.“ 369 Auf die Wichtigkeit dieser Schrift für Haller hat zunächst Toellner aufmerksam gemacht; vgl. Toellner, Albrecht von Haller, S. 119 (Anm. 386). Vgl. auch Rémi, „Religion und Theologie“, S. 203 f.; Kaufmann, „Über Hallers Religion“, S. 327–329. 370 Von diesem Aspekt der Religiosität Hallers zeugen jene privaten Aufzeichnungen, die Johann Georg Heinzmann nach seinem Tod unter dem Titel „Fragmente Religioser Empfindungen“ veröffentlicht und als Auszüge aus Hallers „Tagebuch“ präsentiert hat. Vgl. Haller, Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst. Johann Georg

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sondern war von ihrer Wichtigkeit für die gesellschaftliche Ordnung überzeugt.371 Diese Wichtigkeit bestand für ihn auch darin, dass die Vertreter der Kirche die Wahrung von Tugend und Recht beförderten. Die Freigeisterei, etwa in Gestalt materialistischer Theorien, die die Unsterblichkeit der Seele bestritten, drohte die Grundlagen der Gesellschaft zu zerstören und musste schon aus diesem Grund bekämpft werden; diese Überzeugung scheint Haller schon vor der Abfassung seiner ersten Lehrgedichte gewonnen zu haben.372 Wie sich diese Aspekte des Haller’schen Religionsverständnisses zueinander verhalten, ob sie also konsistent miteinander vereinbar sind, muss an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Innerhalb der Überlegungen Hallers zur Ethik aber bringt der hohe Wert, den er der gesellschaftlichen Ordnung und dem Wohlergehen des Staats zuschreibt, eine kaum zu übersehende Ambivalenz mit sich. Dasselbe gilt für den Wert, den er – in manchen Texten – dem Fortschritt der Wissenschaften beimisst. Sein Bekenntnis zu diesen Werten steht weitgehend unvermittelt neben dem Lob von moralischen Qualitäten wie der Demut, die er in einem Aufsatz von 1732 als den einzigen Weg zur Tugend pries.373 Um der Tugend näher zu kommen, so schrieb er da, solle der Mensch sich „nicht auf seiner glänzenden Seite allein [betrachten], sondern oft an denen, die er sich selbst verbirget.“374 Neben dieser Bewusstmachung der eigenen Fehler und Schwächen könne aber auch die Beschäftigung mit der Wissenschaft zur Demut verhelfen: In Gelehrtheit und Wissenschaften, die uns zu demühtigen eher gemacht sind als aufzublasen, betrachte man, wie alle Stüke unsers Wissens so fehlhaft und so unvollkommen sind und wie wenig man von dem wisse, was Menschen wissen können. Wie stammelt und zweifelt nicht ein Neuton? Und wie lange bist du noch kein Neuton, der so wenig ist.375

Eine Spannung oder Ambivalenz entsteht in Hallers ethischen Überlegungen nun nicht einfach dadurch, dass er andernorts das Gedeihen von Staat und

Heinzmann (Hrsg.). Bd. 2, S. 219–319. Zu diesen Aufzeichnungen vgl. Toellner, Albrecht von Haller, S. 121–127. 371 Vgl. Kaufmann, „Über Hallers Religion“, S. 334–340; Rémi, „Religion und Theologie“, S. 205–208. 372 Vgl. Kaufmann, „Über Hallers Religion“, S. 337, Anm. 137: Kaufmann verweist hier auf einen um 1728 verfassten Tagebucheintrag, der sich auf Hallers Englandreise bezieht. Eine „Verschärfung des Tons und eine Intensivierung der entsprechenden Aktivitäten“, also der Kritik an der Freigeisterei, scheint nach Kaufmann „im Zusammenhang mit der Widmung La Mettries [. . .], also seit 1747, eingetreten zu sein“ (ebd.). 373 Vgl. Haller, „Versuch eines Patriotischen Blättleins“ (1732), in: Haller/Hirzel, S. 367–370; beim Wiederabdruck gab Haller diesem Aufsatz den Titel „Von den Vortheilen der Demuth“. 374 Ebd., S. 369. 375 Ebd., S. 370.

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Gemeinwesen sowie den Fortschritt der Wissenschaften als hohe Werte bezeichnet. Sie entsteht aber dadurch, dass er es manchmal als legitim und wichtig bezeichnet, um der Förderung dieser Güter willen die Selbstliebe, den Ehrgeiz oder die Neugier der Menschen anzustacheln. Mit Blick auf die Förderung der Wissenschaften formuliert Haller dies besonders deutlich in einem Aufsatz von 1751: Hier bezeichnet er es als einen glücklichen Umstand, dass die Europäer – im Gegensatz zu den ‚wilden Völkern‘ – über Triebfedern wie Ehrbegierde und Neugier verfügen, mit deren Hilfe man sie aus der Trägheit und Faulheit, zu der alle Menschen von Natur aus neigen, aufschrecken und zu den Mühen der Arbeit und Wahrheitssuche motivieren könne.376 Damit wertet Haller hier gerade solche Antriebe als nützlich auf, die er andernorts als Quellen von Lastern und Unglück herabsetzt und die einer Förderung von Tugenden wie Demut keineswegs dienlich sein dürften. Doch es geht im vorliegenden Zusammenhang nicht darum, Hallers Gedanken zur Ethik auf ihre Stimmigkeit hin zu prüfen, sondern darum, sie zu Struktur und Form seiner Lehrgedichte in Beziehung zu setzen. Die knappe Rekonstruktion ethischer und religiöser Standpunkte Hallers sollte einen Kontext entfalten, in den insbesondere das für die Gedichte charakteristische Nebeneinander von moralischer Kritik und klagenden Reflexionen auf die Hinfälligkeit der conditio humana eingeordnet werden kann. Die satirischen, verfehltes Denken und Handeln anprangernden Passagen, so ließe sich argumentieren, bringen auch Hallers Vorstellung von der öffentlichen Rolle der Religion als Wächterin über Moral und soziale Ordnung zum Ausdruck. Die Kritik und die Ermahnungen, die hier formuliert werden, zielen dabei zumindest teilweise auf Triebfedern wie Ehrgefühl, Stolz und Scham. Die Gedichtteile hingegen, in denen der Sprecher sich die Gebrechlichkeit und vielfältige Begrenztheit des menschlichen Lebens zum Bewusstsein bringt, führen eine existenzielle Selbstreflexion des Einzelnen vor, wie sie Haller zufolge für die Erziehung zur Demut und damit zur Tugend entscheidend war. 2.1.8 Resümee Haller wollte eine Dichtungsweise in die deutsche Literatur einführen, die für ihn durch englische Gedichte repräsentiert wurde und die er als ‚philosophische‘ und ‚schwere‘ Art des Dichtens bezeichnete. Konstitutiv für diese philosophische Dichtungsart waren für ihn vor allem ein gedanklich anspruchsvoller Inhalt und ein ‚körniger‘, gedrängter Stil. Haller realisierte diese Dichtungsweise unter anderem in einigen Gedichten, die aufgrund ihrer Strukturen und Inhalte als Lehrgedichte

376 Vgl. Haller, „Vorrede Zum Ersten Theil Der Allgemeinen Historie der Natur“ [1751], in: ders., Sammlung Kleiner Hallerischer Schriften, S. 60 f.

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eingeordnet werden können: Sie behandeln allgemeine philosophische Fragen, besitzen meist eine klare und explizit markierte gedankliche Ordnung und lassen Sprecherfiguren auftreten, die ausdrücklich kontroverse Fragen erörtern oder ihre Adressaten belehren, zurechtweisen oder auch in ihren Auffassungen bestärken wollen. Charakteristisch für Hallers Lehrgedichte ist dabei die Verbindung von drei Sprechhandlungen, die hier als philosophische Erörterung, moralische Kritik und als existenzielle Klage bezeichnet und beschrieben wurden. Haller praktizierte seine philosophische, gedankenreiche und gedrängte Dichtungsweise ferner in einer Reihe von Gedichten, die Elemente des Lehrgedichts und anderer Gattungen wie Ode, Satire, beschreibendem Gedicht oder Gelegenheitsgedicht kombinieren. Auch diese Gedichte sind durch die genannten drei Sprechhandlungen geprägt, die allerdings in unterschiedlichen Gewichtungen auftreten. Haller stellt nachträglich seine Absicht, deutsche Beispiele des philosophischen Gedichts zu schaffen, ausdrücklich in den Kontext von Bemühungen, die deutsche Dichtung auf ein höheres Niveau zu heben und ihren Rückstand gegenüber der ausländischen, etwa englischen Dichtung zu verringern: Er habe zeigen wollen, dass philosophische Gedichte auch in deutscher Sprache möglich sind. Das Ziel, die Befähigung der deutschen Sprache für philosophische Dichtung zu demonstrieren, ließ allerdings für den konkreten Inhalt der Gedichte noch einen beträchtlichen Spielraum: Haller hätte sowohl über Erkenntnisse der zeitgenössischen Naturforschung wie über Fragen der Moral, des Naturrechts oder der Religion sprechen können. Ebenso wenig war durch diese allgemeine Absicht festgelegt, ob die philosophischen Gedichte fertig vorliegende Theorien in Versform wiedergeben oder aber selbstständige Gedankengänge entwickeln sollten. Innerhalb des Spektrums denkbarer Themen setzen Hallers Gedichte klare Schwerpunkte: Sie widmen sich an erster Stelle ethischen und religiösen Fragen, darunter auch solchen, die Gegenstand zeitgenössischer philosophischer und theologischer Kontroversen waren. Die Argumentationen der Gedichte rekurrieren dabei immer wieder auch auf Erkenntnisse der Naturforschung, und Haller gibt diesen Bezugnahmen häufig eine Präzision, die offenkundig von seiner eigenen Tätigkeit als Wissenschaftler profitiert; doch naturwissenschaftliche Themen stehen in keinem Gedicht im Zentrum. Was die Frage nach dem vorgegebenen oder originären Charakter der Gedichtinhalte angeht, so greift Haller vielfach Begriffe und Annahmen der zeitgenössischen Philosophie, Theologie und Naturforschung auf, modifiziert sie gegebenenfalls und fügt sie in eigenständige Gedankengänge ein. Gedichte, die sich als Wiedergabe der Theorien eines bestimmten Philosophen präsentieren, finden sich bei ihm nicht.

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Dass Haller sich in seinen philosophischen Gedichten auf moralische und religiöse Themen konzentrierte, dürfte zunächst auf die Überzeugung zurückzuführen sein, dass diese Themen von hervorragender Wichtigkeit und somit auch für eine Aufwertung der Dichtung besonders geeignet seien. Er bekannte sich später ausdrücklich zu der Überzeugung, dass Gedichte dann das höchste Lob verdienen, wenn sie sprachlich-formale und intellektuelle Qualitäten in den Dienst von Tugend und Religion stellen. Ferner vertrat Haller die Ansicht, dass Gedichte gerade in der Behandlung solcher Themen das spezifische Wirkungspotential der Dichtung zur Geltung bringen konnten, nämlich ihre Fähigkeit, das ‚Herz‘ der Leser zu affizieren und sie zu ‚rühren‘. Die Absicht des Rührens ist, wie Haller selbst erläuterte, auch bestimmend für auffällige formale Eigenschaften seiner Lehrgedichte, insbesondere für einige Züge, die im Rahmen des Literaturstreits zwischen Leipzig und Zürich zum Gegenstand heftiger Kontroversen wurden und auch in der Forschung schon häufiger beschrieben wurden: so etwa für die Gedrängtheit der Formulierungen und die ungewöhnlichen, ‚starken‘ Metaphern. Die Aspekte der Gedichtstruktur, die hier besonders hervorgehoben wurden, also insbesondere die Verbindung von philosophischer Erörterung, moralischer Kritik und existenzieller Klage, können hingegen nur bedingt auf diese allgemeine Wirkungsabsicht des Rührens zurückgeführt werden. Sie lassen sich aber erhellend zu den ethischen und religiösen Einstellungen und Überzeugungen Hallers in Beziehung setzen: Charakteristisch für Hallers Profil erscheint in dieser Hinsicht, dass er einerseits die Ordnung und das Gedeihen des Gemeinwesens sowie den Fortschritt von Wissenschaft und Technik als hohe Werte achtete, die zur Beförderung dieser Werte dienlichen Antriebe des Menschen als nützlich respektierte und auch selbst nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch wirksam sein wollte – dass er andererseits aber das Leben des Einzelnen nur dann als tugendhaft und gottgefällig ansah, wenn es von Ehrgeiz frei und von einem demütigen Bewusstsein der Hinfälligkeit der conditio humana und der persönlichen Erlösungsbedürftigkeit durchdrungen war. Die philosophischen Erörterungen, moralischen Ermahnungen und Verurteilungen sowie die existenziellen Klagen in den Lehrgedichten Hallers können als stilisierte Artikulationen dieser religiösen und ethischen Einstellungen gedeutet werden.

2.2 Friedrich von Hagedorn Friedrich von Hagedorns Hinwendung zur Gattung des Lehrgedichts scheint ähnlich wie bei Haller zumindest teilweise auf die Anregung durch englische Lehrgedichte zurückzuführen sein. Doch trotz der möglicherweise gemeinsamen

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Vorbilder und trotz thematischer Berührungspunkte unterscheiden sich Hagedorns Lehrgedichte in wesentlichen Hinsichten von denjenigen Hallers. Haller hat in seinem Vergleich zwischen Hagedorn und sich selbst auf Unterschiede zwischen ihren Gedichten hingewiesen und sie auf ihre verschiedenartigen Temperamente zurückgeführt: Er selbst habe schon immer zu Ernst und Schwermut geneigt, während Hagedorn mit einem fröhlicheren Naturell begabt gewesen sei.377 Diese Fremd- und die Selbstcharakterisierung mögen nun zutreffend gewesen sein oder nicht – in jedem Fall ist es fraglich, ob die spezifischen Züge der Lehrgedichte Hagedorns sich auf diese Weise befriedigend erklären lassen. Diese Eigenheiten, so soll im Folgenden deutlich werden, werden verständlicher, wenn man sie im Zusammenhang mit Hagedorns ethischen Vorstellungen betrachtet. Die Analysen suchen also die schon häufiger bemerkten Unterschiede zwischen Hallers und Hagedorns Lehrgedichten präziser zu beschreiben, als dies in der Forschung bisher getan wurde, und sie zudem nicht auf charakterliche Veranlagungen zurückzuführen, sondern auf ethische und anthropologische Konzepte. So soll anhand von Haller und Hagedorn auch die These plausibel gemacht werden, dass die Lehrgedichte der Aufklärung nicht ein einheitliches neues Welt- und Menschenbild zu vermitteln suchten, sondern differierende anthropologische und ethische Ansätze der aufklärerischen Philosophie aufgriffen und selbstständig weiterentwickelten. Auch formale und strukturelle Unterschiede zwischen den Lehrgedichten sind in wesentlichem Maße durch Differenzen zwischen diesen philosophischen Ansätzen bedingt. Als Lehrgedichte werden innerhalb des Hagedorn’schen Œuvres üblicherweise die Gedichte betrachtet, die er zuerst 1750 und in der zweiten Auflage 1753 unter dem Titel Moralische Gedichte veröffentlichte.378 Aus Hagedorns „Vorbericht“ geht hervor, dass der Titel sich nur auf die ersten neun Gedichte der Sammlung beziehen sollte, denen er eine größere Zahl von Fabeln und Verserzählungen zur Seite stellte. Die neun ‚Moralischen Gedichte‘ waren alle bereits zuvor veröffentlicht worden, worauf Hagedorn im Vorbericht und im Inhaltsverzeichnis selbst hinwies. In der zweiten Auflage der Moralischen Gedichte von 1753 kam als zehntes Gedicht der ersten Abteilung des Bandes das umfangreiche Gedicht Horaz hinzu. Als Eschenburg 1800 eine Ausgabe der Werke Hagedorns veranstaltete, richtete er eine Rubrik „Lehrgedichte“ ein, die diese zehn Gedichte

377 Vgl. Haller, „Vergleichung zwischen Hagedorns und Hallers Gedichten“ [1772], S. 400 f. 378 Vgl. Friedrich von Hagedorn, Moralische Gedichte, Hamburg 1750; ders., Moralische Gedichte. Zweyte, vermehrte Ausgabe. Hamburg 1753. – Hagedorns Gedichte werden im Folgenden, sofern nicht anders vermerkt, nach der zweiten Auflage (1753) zitiert, und zwar durch Angabe der Seitenzahl im Haupttext.

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enthielt,379 und dieser Klassifikation scheint die Forschung meist zu folgen.380 Ob Hagedorn selbst alle diese zehn Gedichte als Lehrgedichte auffasste, ist ungewiss. In einer der Vorreden bezeichnete er die Gedichte Die Glückseligkeit und Die Freundschaft als Lehrgedichte.381 Beide Gedichte sind in Alexandrinern verfasst, ebenso wie Wünsche, aus einem Schreiben an einen Freund, Schreiben an einen Freund, Der Schwätzer und Horaz. Die Gedichte Der Weise und Der Gelehrte hingegen sind zwar thematisch mit den eben genannten verwandt, aber in Versen mit fünfhebigen Jamben verfasst, die zu sechszeiligen Strophen geordnet sind. Der Schwätzer ist zwar ein Alexandrinergedicht, wird aber von Hagedorn ausdrücklich als Variation auf eine Satire des Horaz präsentiert (und zusammen mit derselben abgedruckt), wäre also eher als Satire einzuordnen. Sowohl inhaltlich als auch formal weichen schließlich die ersten zwei Gedichte der Gruppe von Gedichten wie Die Glückseligkeit ab: Das erste Gedicht ist eine freie Übersetzung von Alexander Popes Universal Prayer (Allgemeines Gebeth nach dem Pope), die sich achthebiger Trochäen bedient, das zweite ein in vierhebigen Jamben geschriebenes Gedicht mit dem Titel Schriftmäßige Betrachtungen über einige

379 Vgl. Friedrich von Hagedorn, Poetische Werke. Mit seiner Lebensbeschreibung und Charakteristik und mit Auszügen seines Briefwechsels begleitet von Johann Joachim Eschenburg. Fünf Theile. Erster Theil: Lehrgedichte und Epigrammen. Hamburg 1800, S. XLIII (Inhaltsverzeichnis). Die Rubrik „Lehrgedichte“ in der Ausgabe von Eschenburg enthält die ersten zehn Gedichte aus der zweiten Auflage der Moralischen Gedichte (1753), in derselben Reihenfolge wie in dieser Ausgabe. 380 Vgl. Ulrich, Studien zur Geschichte des deutschen Lehrgedichts, S. 130; Karl Epting, Der Stil in den lyrischen und didaktischen Gedichten Friedrich von Hagedorns. Ein Beitrag zur Stilgeschichte der Aufklärungszeit, Stuttgart 1929, etwa S. 84 (mit Anm. 294). Obwohl Epting im Titel und in der Arbeit selbst von den „lyrischen und didaktischen Gedichten“ Hagedorns oder auch von seinen „Lehrgedichten“ (ebd., S. 284) spricht, sagt er nirgends ausdrücklich, welche Gedichte für ihn Lehrgedichte sind. Auch Vontobel lässt in seinem Abschnitt zu Hagedorn eine solche Erläuterung vermissen; vgl. Vontobel, Von Brockes bis Herder, S. 81–95. Er beschränkt sich hier aber faktisch auf die Gedichte Die Glückseligkeit, Die Freundschaft, Schreiben an einen Freund und Horaz und geht ferner auf einige Fabeln ein. – Zu Hagedorns Lehrgedichten vgl. ferner Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/II: Frühaufklärung, S. 178–180; zu Hagedorn insgesamt dort S. 176–187. Zu Hagedorns Dichtung umfassend vgl. ferner v. a. die zwei neueren Monographien: Steffen Martus, Friedrich von Hagedorn – Konstellationen der Aufklärung, Berlin/New York 1999; Reinhold Münster, Friedrich von Hagedorn, Dichter und Philosoph der fröhlichen Aufklärung, München 1999. Martus und Münster ziehen beide auch Hagedorns Lehrgedichte heran, untersuchen sie aber kaum unter einem gattungsgeschichtlichen Gesichtspunkt. 381 Vgl. Friedrich von Hagedorn, „Schreiben an einen Freund“, in: Ders., Moralische Gedichte. Zweyte, vermehrte Ausgabe. Hamburg 1753, S. XI–XXXII, hier S. XXIV.

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Eigenschaften Gottes.382 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich – wie die meisten Forschungsbeiträge zu Hagedorns Lehrgedichten – auf die von Hagedorn selbst als Lehrgedichte bezeichneten Texte, also Die Glückseligkeit und Die Freundschaft, sowie auf die ihnen formal sehr ähnlichen (Wünsche, aus einem Schreiben an einen Freund, Schreiben an einen Freund, Horaz). Auch Der Weise und Der Gelehrte werden trotz des abweichenden Versmaßes berücksichtigt. 2.2.1 Hagedorns Ethik Zwischen Hagedorns und Hallers moralphilosophischen Lehrgedichten gibt es einen vordergründigen Unterschied, der zu grundsätzlichen Differenzen führt: In Hagedorns Gedichten nimmt die Darstellung vorbildlicher Gestalten und einer als richtig oder sogar ideal ausgewiesenen Lebensweise einen erheblich größeren Raum ein als bei Haller. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht bereits, dass in den Überschriften der einschlägigen Lehrgedichte Hallers von falschen Tugenden, von Unglauben und Aberglauben die Rede ist, während einige von Hagedorns wichtigsten Lehrgedichten die Titel Die Glückseligkeit, Die Freundschaft und Der Weise tragen. Diese zunächst eher äußerlichen Unterschiede sind insofern signifikant, als Haller sich in seinen Gedichten tatsächlich eingehend mit der Analyse und der Anprangerung von Lastern und Torheiten befasst, während bei Hagedorn neben der kritischen Darstellung verfehlter Denkund Lebensweisen auch ausführliche Erörterungen der Fragen stehen, was ein glückseliges Leben ausmacht und wie es zu erreichen ist. Genauer gesagt: Hagedorns Gedichte erörtern diese Fragen nicht nur, sie präsentieren sich, wie noch zu zeigen ist, auch selbst als stilisierte Umsetzung einiger dieser Grundsätze für ein weises und glückliches Leben. Die Unterschiede zwischen Hallers und Hagedorns ethischen Vorstellungen dürfen allerdings auch nicht übertrieben werden. Betrachtet man zunächst Hagedorns Konzeptionen von Glückseligkeit und Weisheit, die zum Zentrum seiner Ethik gehören, so kann man beträchtliche Übereinstimmungen mit Auffassungen Hallers entdecken. Der Weise ist nach Hagedorn stets bemüht, seinen Mitmenschen und insbesondere den Bedrängten zu helfen und dem Gemeinwohl zu dienen.383 Seine Selbstliebe bleibt in den Grenzen 382 Albertsen meint, diese zwei Gedichte sowie das auf sie folgende Gedicht Der Weise seien „als Oden zu verstehen“ (Albertsen, Das Lehrgedicht, S. 245); auf diesen „lyrischen Auftakt folgen die eigentlichen Lehrgedichte“ (ebd., S. 246). Der Gelehrte sei wiederum eine „satirischmoralische Ode“ (ebd., S. 247). 383 Zu den natürlichen Pflichten des Menschen gehört es, wie ein Passus aus Die Glückseligkeit (S. 18–38) deutlich macht, leidenden und bedürftigen Mitmenschen zu helfen und „Bedrängten beyzustehn“.

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des rechten, von der Natur vorgezeichneten Maßes und wird von der Liebe zu den Nächsten komplettiert.384 Diese am Wohl der Mitmenschen ausgerichtete Lebensweise ist den Lehrgedichten Hagedorns zufolge auch die Grundlage des wahren Glücks. Diese Auffassungen vom rechten Leben und Handeln finden sich in zumindest ähnlicher Weise bei Haller und bei vielen anderen Autoren der frühen Aufklärung. Die Formulierungen dieser Vorstellungen bei Hagedorn weisen einige spezifische Züge auf, die sich so bei Haller nicht finden, die aber zumindest auf den ersten Blick nicht von substanziellen Differenzen zeugen. So verwendet Hagedorn in den Erläuterungen von Weisheit und Glück, die er in seinem Gedicht Die Glückseligkeit präsentiert, Wolff’sche Begriffe wie die der Vollkommenheit und der natürlichen Pflichten,385 die bei Haller weniger prominent sind. Doch er zeigt sich in den Lehrgedichten auch als Eklektiker, der sich bei diversen philosophischen Traditionen bedient und in verschiedenen Texten unterschiedliche Facetten seiner Ideale von Glückseligkeit und Weisheit hervorhebt. Zu den Tugenden des Weisen im Sinne Hagedorns, der in Gedichte wie Der Weise oder Horaz profiliert wird, gehören auch Genügsamkeit, ein maßvolles Genießen sinnlicher Freuden, ein stetes Vergnügtsein und die damit einhergehende Gleichgültigkeit gegenüber Gütern wie Ruhm, Macht und Reichtum. Dieses Idealbild des Weisen verbindet damit solche Momente, die man primär mit der stoischen Ethik, und solche, die man eher mit der epikureischen Ethik assoziiert.386 Wenn in Hagedorns Lehrgedichten der maßvolle Genuss von Sinnesfreuden gepriesen wird, so stellt das nicht einen entschiedenen Gegensatz zu den Lehrgedichten Hallers und den in ihnen entwickelten ethischen Vorstellungen dar, sondern eher eine Akzentverschiebung. In Hallers Lehrgedichten nimmt ein solches Lob des maßvollen Genusses zwar keinen breiten Raum ein, wird aber

384 In dem Gedicht Die Freundschaft (S. 61–86) legt der Sprecher noch ausführlicher und unter Rekurs auf philosophische Fachbegriffe dar, dass sowohl die weise Liebe zu uns selbst als auch das Bestreben, das Glück der Mitmenschen zu erhöhen, zu unseren Pflichten gehören und dass der tätige Einsatz für das Wohlergehen der anderen sowohl „der Seele Reiz“ als auch „unser Glück“ vergrößert (S. 68). 385 Vgl. im Gedicht Die Glückseligkeit den Abschnitt, der ausdrücklich „Weisheit“ und „Glück“ zu definieren sucht (S. 20); die Erläuterung des Glücks rekurriert auf den Begriff der „Vollenkommenheit“ und auf das Konzept der „natürlichen und wesentlichen Pflichten“ (ebd.). Zu den Wolff’schen Begriffen in dieser Passage vgl. auch Ulrich, Studien zur Geschichte des deutschen Lehrgedichts, S. 132. 386 Vgl. auch die von Kemper vorgenommene Einordnung: „Das Ideal des stoischen und epikureischen Weisen ist ein Hauptthema von Hagedorns insgesamt 10 ‚Moralischen Gedichten‘.“ (Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/II: Frühaufklärung, S. 178)

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zumindest gelegentlich angedeutet.387 Ein bedeutenderer Unterschied ergibt sich daraus, dass der Weise bei Hagedorn gelegentlich auch als ein Mensch dargestellt wird, der sich diesem Genuss in der ländlichen Einsamkeit widmet und dort, fernab von der Gesellschaft, seinen Geist und seine Empfänglichkeit für die Freuden von Natur und Kunst weiterbildet. Während ältere Untersuchungen dieses Lob des einsamen Lebens auf dem Land als unproblematisch mit den Bekenntnissen zu sozialen Pflichten und Tugenden vereinbar betrachtet haben,388 hat Steffen Martus die Spannung zwischen den Momenten der Geselligkeit und der Einsamkeit, der Sorge um das Gemeinwohl und der ‚Selbstsorge‘ in den Gedichten Hagedorns betont.389 Einen echten Widerspruch dürfte man hier zwar kaum entdecken können, da der Genuss der ländlichen Einsamkeit bei Hagedorn kaum einmal als etwas erscheint, das das gesamte Leben des Weisen ausmacht oder die Zuwendung zu den Mitmenschen aus anderen Gründen ausschlösse. Aber von einem unvermittelten Nebeneinander verschiedener moralischer Ideale kann man durchaus sprechen: Die Freude an den Schönheiten der Natur sowie die Pflege von Einsamkeit und Muße, wie sie in Hagedorns Gedichten gefeiert werden, dienen dem Genuss des Weisen sowie seiner Selbstvervollkommnung, haben also keinen gesellschaftlichen Nutzen. Zudem werden sie als ein Vergnügen präsentiert, das nur einige Kenner überhaupt zu schätzen wissen: Die ‚einfältigen‘ Menschen, so heißt es im Gedicht Horaz, haben zu grobe Sinne, um die Schönheit von Tälern und Höhen sowie den Gesang der Nachtigall zu genießen (S. 105),390 und ‚Toren‘ könnten die Stille und Einsamkeit nicht ertragen, weil sie keine eigene geistige Substanz haben und „Aemter und Geschäfte“ als Antrieb brauchen, wie eine „Wand-Uhr“ ihr „Gewicht“ braucht (S. 109). „Ein Weiser“ hingegen ist „auch in der Stille, groß“; er wird in der Einsamkeit „Herr seiner Zeit und König seiner Stunden“ (S. 109).

387 Vgl. etwa die Darstellung des Lebens der Alpenbewohner in Die Alpen (Verse 71 bis 170) und die Schlusspassage der Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben (Verse 377 bis 386); Haller, Versuch, 4. Aufl. 1748, S. 33–37, 69 f. 388 Vgl. vor allem Ulrich, Studien zur Geschichte des deutschen Lehrgedichts, S. 139. Ulrich zufolge gibt es bei Hagedorn zwar ein „Glück der Innerlichkeit“, doch stehe es in einem „ständigen Wechselbezug zum anderen Menschen“; die „von ihm so oft berufene Einsamkeit“ diene dem Dichter nur als „vorübergehendes Refugium“ (ebd.). Nach Ulrich unterscheidet dies Hagedorns Konzeption des Weisen und seiner Wertschätzung der Einsamkeit von den Ausformungen dieser Themen bei Opitz; der Weise bei Opitz wolle sich tatsächlich „aus den diesseitigen Verhaftungen“ lösen und in einem „weltabgewandten Beisichselbstsein“ Ruhe finden (ebd.). 389 Vgl. Martus, Friedrich von Hagedorn, etwa S. 190 (dort bezogen auf Hagedorns Freundschaftskonzeption). 390 Vgl. dazu auch, allerdings in einer tendenziös eingefärbten Darstellung: Vontobel, Von Brockes bis Herder, S. 85.

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Das Nebeneinander verschiedener Ideale, die teils eher gesellschafts-, teils eher selbstbezogen sind, kann man ansatzweise auch in Hagedorns Verwendung des Freiheitsbegriffs erkennen. Die häufigen emphatischen Anrufungen der Freiheit391 sind in der Forschung schon mehrfach als eine Besonderheit der Gedichte Hagedorns registriert worden.392 In einigen Fällen geht es um die Freiheit, die denjenigen auszeichnet, der sich von seinen Leidenschaften und Wünschen nicht beherrschen lässt.393 Gelegentlich scheint aber auch konkret die Freiheit von Dienstpflichten gemeint zu sein; darauf deutet etwa der Ausdruck „dienstfrey“ (S. 110) hin, der in dem Gedicht Horaz begegnet. In Der Weise schließlich erhält die Freiheit, die dort in einer ganzen Strophe sehnsüchtig angerufen wird, auch politische und ökonomische Dimension, denn diese Apostrophe folgt direkt auf einen Abschnitt, in dem die „Neigung echter Britten“ als „edel“ gerühmt wird (S. 15), und sie setzt ein mit dem Vers: „O Freiheit! dort, nur dort ist deine Wonne“ (ebd.). Die „Britten“ werden in der ihnen gewidmeten Strophe aus mehreren Gründen gelobt: Sie streben wirtschaftlichen Gewinn nicht als Selbstzweck an, sondern verwenden ihn zur Förderung der Wissenschaften; sie kultivieren dabei eine Meritokratie, in der „Verdienste[]“ und „Fleiß“ belohnt werden; der „Fleiß“ wird bei ihnen von „Macht und Freiheit“ geschützt.394 391 Vgl. etwa Die Wünsche (S. 41). 392 Vgl. Münster, Friedrich von Hagedorn, v. a. S. 320–322; Ulrich, Studien zur Geschichte des deutschen Lehrgedichts, S. 138 f.; Vontobel, Von Brockes bis Herder, v. a. S. 81, ferner 84, 90 f.; Kurt Wölfel, „Hagedorn, Friedrich von“, in: NDB, Bd. 7, S. 466 f. 393 So etwa in einigen Versen aus dem Gedicht Horaz (S. 119). Dasselbe Freiheitsverständnis findet sich Alfons Klein zufolge auch bei Horaz; vgl. zu der Passage des Hagedorn-Gedichts und dem Horaz-Bezug: Alfons Klein, „Die Lust, den Alten nachzustreben“. Produktive Rezeption der Antike in der Dichtung Friedrich von Hagedorns, St. Ingbert 1990, S. 256. Vgl. zum Freiheitsbegriff Hagedorns auch Ulrich, Studien zur Geschichte des deutschen Lehrgedichts, S. 138 f.: Bei einigen Versen aus dem Schreiben an einen Freund könne man fast „glauben, Hagedorns bürgerliches Denken treibe [. . .] weiter zu einer konkreten politischen Verselbständigung, die eine Lösung vom ständischen System fordert.“ (Ebd., S. 138) Hier könnten, so Ulrich weiter, Hagedorns Bekanntschaft mit der republikanischen Verfassung Hamburgs sowie mit den Verhältnissen in England wichtig sein. Letztlich gelte jedoch: „Die eigentliche Wirkung der Freiheit geht aber doch mehr nach innen auf den Menschen. Die erkenntnismäßige Befreiung von den Neigungen und Trieben, die widervernünftig sind, bildet die Tugenden aus, die die innere Freiheit des Menschen bewirken. Freiheit ist die moralische Autonomie der bürgerlichen Lebenshaltung, die sich polemisch gegen die Immoralität der Hofgesellschaft stellt, sich aber noch nicht in politische Aktivität umsetzt.“ (Ebd., S. 138 f.) 394 Die Deutung Britanniens als eines Landes der Freiheit gehört zum Grundbestand der Anglophilie, wie sie sich in der deutschsprachigen Literatur und Publizistik des 18. Jahrhunderts manifestierte. Vgl. Michael Maurer, Aufklärung und Anglophilie in Deutschland, Göttingen/Zürich 1987, S. 64–67. Zu Hagedorn als einem Beispiel für die in Hamburg besonders früh auftretende Anglophilie vgl. ebd., S. 42.

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Ein wichtiger Unterschied zwischen Hagedorns und Hallers ethischen Vorstellungen betrifft die Frage nach den Ursprüngen tugendhaften und untugendhaften Verhaltens. In dieser Frage bezieht eines von Hagedorns Gedichten dezidiert die Position Christian Wolffs, der zufolge untugendhaftes Verhalten letztlich auf mangelnder Einsicht, also auf Fehlleistungen des Verstandes beruhe.395 In Hagedorns Gedicht Schreiben an einen Freund heißt es, dass „Bosheit“, „Stolz, Aberglaube, Zorn, Bewundrung, Geiz u. Neid“ alle auf „Unwissenheit“ oder auf „Wahn und Unverstande“ beruhen.396 Andere thematisch einschlägige Gedichtpassagen lassen sich allerdings kaum als Formulierungen dieser, wenn man so will, ‚rationalistischen‘ oder ‚intellektualistischen‘ Position einordnen, denn dort erscheint tugendhaftes Handeln als abhängig nicht von richtigen Erkenntnissen, sondern von einem bestimmten „Geschmack“ und einer Art des Schönheitssinns.397 So heißt es wiederum im Schreiben an einen Freund, dem auch die eben zitierte, ‚Wolffianische‘ Passage entnommen ist, gleich zu Beginn: „Sie [i. e. meine Seele; O.K.] wünscht sich nicht gelehrt, und schöpft aus nahen Gründen | Den glücklichen Geschmack, die Tugend schön zu finden“ (S. 43). In Die Freundschaft führt der Sprecher aus, die natürlichen Pflichten des Menschen seien „verknüpf[t]“ mit den „Bewegungsgründen, | In andern, wie in uns, das Gute schön zu finden, | Dem Schönen hold zu seyn.“ (S. 68) Hier wird das Gute und Tugendhafte nachdrücklich mit dem Schönen gekoppelt und beinahe identifiziert, und die Achtung des Guten und Schönen stützt sich einerseits auf ‚Gründe‘, andererseits auf einen ‚glücklichen Geschmack‘. Damit deuten diese Gedichtpassagen eine Sicht auf die Ursprünge moralischen Handelns an, die im frühen 18. Jahrhundert vor allem mit

395 Es ist bekannt, dass Hagedorn während seiner Studienzeit in Jena von der Wolff’schen Philosophie tief beeindruckt war, aber es ist in der Forschung auch darauf hingewiesen worden, dass er sich später von dieser Philosophie distanzierte. Vgl. Münster, Friedrich von Hagedorn, S. 81–87. 396 Vgl. Hagedorn, Schreiben an einen Freund, in: in: Moralische Gedichte, 2. Aufl. 1753, S. 42–60, hier S. 47. – Vgl. auch die Verse aus dem Gedicht Wünsche, aus einem Schreiben an einen Freund (ebd., S. 39–41): „Freund, sei mit mir bedacht, die Kenntnis zu vergrößern, | Die unsern Neigungen die beste Richtschnur gibt, | Sonst wirst du den Verstand und nicht das Herz verbessern, | Das oft den Witz verwirrt und nur den Irrtum liebt.“ (Ebd., S. 40) Als entscheidend wird hier die Verbesserung des Herzen, nicht die des Verstandes dargestellt; aber zur Verbesserung des Herzen ist eine „Kenntnis“ nötig, die den „Neigungen“ die richtige „Richtschnur“ gibt. 397 Dies wäre relativierend gegen Vontobel einzuwenden, bei dem es heißt: „Seine [i. e. Hagedorns; O.K.] Moral ist ganz und gar intellektualistisch. Er glaubt, dass nur der Weise, der Wissende, zu leben, zu handeln, zu geniessen verstehe.“ (Vontobel, Von Brockes bis Herder, S. 85)

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Shaftesbury assoziiert wurde. Wie eine Fußnote zu Die Freundschaft anzeigt, war Hagedorn zu jener Zeit mit dem Werk Shaftesburys bereits vertraut.398 Die psychischen Ursprünge tugendhaften und lasterhaften Handelns scheint Hagedorn somit mal eher in den Leistungen und Fehlleistungen des Verstandes, mal eher in einer Empfänglichkeit für Schönheit und damit auch für den Reiz der Tugend verortet zu haben. Wenngleich er somit nicht eindeutig einem philosophischen ‚Lager‘ zugeordnet werden kann, ist seine Position doch klar von derjenigen Hallers zu unterscheiden: Auch für Haller können Laster in einem mangelhaften Verstandesgebrauch wurzeln, wie seine Darstellung des Aberglaubens in Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben zeigt. Aber verstandesmäßige Einsicht reicht in seiner Sicht nicht aus, um tugendhaftes Verhalten hervorzubringen, denn das Herz des Menschen, das weitgehend seinen Willen bestimme, wird nicht vom Verstand kontrolliert. Für Haller besteht das drängende Problem somit vor allem darin, wie man auf das Herz des Menschen einwirkt. Neben dem Ansporn durch Exempel, der auch für Hagedorn ein wichtiges Mittel der moralischen Erziehung ist, betrachtet Haller auch die Einschüchterung durch Hinweise auf das jenseitige Gericht als unverzichtbar,399 die in Hagedorns Gedichten so gut wie keine Rolle spielt. Von einer Instanz des Geschmacks oder einer Sensibilität für Schönheit, die zugleich eine Empfänglichkeit für Tugend wäre, ist bei Haller, anders als bei Hagedorn, keine Rede. Ein weiterer spezifischer Zug von Hagedorns Konzeption des Weisen, der ihn von Haller, aber tendenziell auch von der Philosophie Wolffs trennt, besteht in der Wertschätzung des Zweifels, die in einigen seiner Gedichte explizit gemacht wird. So deutet Hagedorn verschiedentlich an, dass zum Weisen auch eine Tendenz zum Zweifel gehöre. Das Gedicht Montagne rühmt den Autor der Essais unter anderem als „lehrreich zweifelhaft“ (S. 321), und im Schreiben an

398 Zur Frage nach dem Einfluss Shaftesburys auf Hagedorn vgl. Münster, Friedrich von Hagedorn, S. 285–289; dort auch eine knappe Auseinandersetzung mit älteren Forschungsmeinungen. Münster zufolge steht Hagedorn dem englischen Philosophen etwa hinsichtlich des „Eudämoniebegriff[s]“ (ebd., S. 285) nahe: „Auch Hagedorn postuliert die Identität von Schönheit und Gutheit, die die Stimme der Natur und das Herz dem Menschen nahelegen.“ (Ebd.) Belege dafür, dass Hagedorn diese Position so explizit vertreten habe, liefert Münster aber nicht. Zur Rezeption Shaftesburys in der deutschen Aufklärung vgl. umfassend Mark-Georg Dehrmann, Das „Orakel der Deisten“. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, Göttingen 2008. Hagedorn wird von Dehrmann allerdings zu den Autoren der Früfaufklärung gerechnet, deren „marginale[] Rezeptionsbelege“ eine „eingehendere Behandlung“ nicht rechtfertigen (ebd., S. 16 f., Zitat S. 16). 399 Vgl. etwa die Schlussverse des Gedichts Falschheit menschlicher Tugenden, die eine jenseitige Strafe für Laster und Untaten als gewiss verkünden: Haller, Versuch, 4. Aufl. 1748, S. 89.

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einen Freund wird abschließend ein Idealbild des „wirklich groß[en]“ Menschen entworfen, der sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass er „zwar Beweise schätzt, doch auch den Zweifel ehrt“ (S. 59 f.). Haller dagegen betont zwar sowohl den Wert der kritischen Infragestellung von überkommenen Ansichten als auch die Begrenztheit des menschlichen Verstandes, deren sich der Weise demütig bewusst sei. Doch ein Lob des Zweifels, das so allgemein formuliert wäre wie in den zitierten Gedichten Hagedorns, findet sich bei ihm nicht. Der generalisierte, nicht methodisch eingedämmte Zweifel, wie er in seinen Augen die zeitgenössischen Ausprägungen des Pyrrhonismus kennzeichnete, war für Haller ein Übel, das er entschieden bekämpfte.400 Auch Hagedorn wollte vermutlich kaum einem radikalen Skeptizismus das Wort reden; seine Lehrgedichte selbst etwa formulieren genug Lehren, die durchaus nicht als zweifelhaft dargestellt werden und deren Richtigkeit für Hagedorn auch weitgehend erwiesen gewesen sein dürfte. So zieht er nirgends in Betracht, dass Reichtum und Macht vielleicht doch wahre Glückseligkeit verschaffen können. Aber die zitierten Gedichtstellen zeigen doch, dass er dem Zweifel und dem Bewusstsein der Ungewissheit der eigenen Überzeugungen einen höheren Wert beilegte, als Haller dies tat. Und wenn Hagedorn seine Bewunderung für Montaigne erklärt und diesen als „lehrreich zweifelhaft“ würdigt, so kann man darin auch eine indirekte Distanzierung von der systematischen, deduktiv verfahrenden und auf Gewissheit zielenden Philosophie eines Wolff sehen. Ambivalenzen zeigen sich in Hagedorns Ethik auch, wenn man sie soziologisch zu verorten sucht. In Wolfgang Ulrichs Studie zum deutschen Lehrgedicht des 17. und 18. Jahrhunderts heißt es über Hagedorn, er „bekenn[e]“ sich, „obwohl selbst adlig, [. . .] ausdrücklich zum Bürgertum“,401 und auch die von ihm vertretenen Tugend- und Weisheitskonzepte trügen eindeutig bürgerliche Züge.402 Dagegen haben neuere Studien hervorgehoben, dass in Hagedorns Gedichten

400 Vgl. zu Hallers Vorrede zu dem Werk Prüfung der Secte die an allem zweifelt (1751) und den Kontexten dieser Publikation vor allem Sandra Richter, Reformierte Morallehren und deutsche Literatur von Jean Barbeyrac bis Christoph Martin Wieland, Tübingen 2002, S. 171–184. 401 Ulrich, Studien zur Geschichte des deutschen Lehrgedichts, S. 131. 402 Vgl. ebd., vor allem S. 134–139. – Anke-Marie Lohmeier hat eine Passage über das Landleben im Gedicht Horaz, die den Landmann ausdrücklich dem „Mittelstande“ zurechnet, als Beispiel für die „implizit sozialen Zuordnungen“ zitiert, die sich „in den Landlebengedichten des 18. Jahrhunderts sehr viel häufiger [finden] als im 17. Jahrhundert“ (Anke-Marie Lohmeier, Beatus ille. Studien zum ‚Lob des Landlebens‘ in der Literatur des absolutistischen Zeitalters, Tübingen 1981, S. 423). Man könne vermuten, dass hier „Landleben eine ‚soziale Metapher‘ für eine ‚mittelständische‘ (bürgerliche?) Bildungsschicht darstellt, daß im Bilde des poetischen Landlebens Lebensideale und -normen dieser Schicht vorgeführt und – dies vor allem – lobpreisend idealisiert werden.“ (Ebd., S. 424)

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auch bestimmte als typisch gekennzeichnete Ausprägungen bürgerlichen Handelns und Denkens scharf kritisiert werden, insbesondere das verabsolutierte Profitstreben und die ‚asketische‘ Verdrängung von Muße und Genuss durch unablässiges Arbeiten, die oft mit ebenso maßloser Prunksucht oder Völlerei gepaart sei.403 Die von Hagedorn propagierte Lebenshaltung hingegen orientiere sich in wesentlichen Hinsichten an traditionellen aristokratischen Modellen.404 2.2.2 Der Dichter als Menschenfreund, Tugendlehrer und Ratgeber Haller gibt unter anderem in den Vorreden zu seinen eigenen Gedichten sowie zu den Gedichten seines Freundes Werlhof Auskunft darüber, was er als die Aufgaben der Dichtung im Allgemeinen und philosophischer Lehrgedichte im Besonderen ansieht. Hagedorns Vorreden enthalten ebenfalls einige Hinweise zu seinen diesbezüglichen Positionen, widmen sich aber zu einem beträchtlichen Teil dem spezielleren Zweck, seine Praxis der Anmerkungen oder Noten zu rechtfertigen. Dafür finden sich aber in seinen Gedichten selbst, insbesondere in dem langen Gedicht Horaz, einige Passagen, die für die Frage nach Hagedorns Wirkungsabsichten und zugrunde liegenden dichtungstheoretischen Annahmen aufschlussreich sind. Im Gedicht Horaz entwirft der Sprecher zum einen ausführlich ein Lebensideal, das durch die oben erwähnten Begriffe von Glückseligkeit und Freiheit geprägt ist, zum anderen auch ein Ideal des Dichters als Weisheits- und Tugendlehrer. Sowohl die vorbildliche Lebensweise als auch das mustergültige Dichten sieht der Sprecher durch Horaz verkörpert.405 Die Passage, in der Horaz als Dichter gewürdigt wird, gehört zum Schlussteil des Gedichts. Sie beginnt mit einer direkten Anrede des römischen Dichters, der im gesamten Gedicht als Adressat fungiert, und entwickelt im Ausgang von seinem Beispiel eine grundsätzlicher formulierte Schilderung des vorbildlichen Poeten.406 Das Dichten dieses

403 Vgl. vor allem: Heinz Hillmann, „Friedrich von Hagedorn oder bürgerliche Aufklärung und adeliger Geist“, in: Inge Stephan/Hans-Gerd Winter (Hrsg.), Hamburg im Zeitalter der Aufklärung, Berlin/Hamburg 1989, S. 185–211, hier vor allem S. 188–195. Vgl. ferner Münster, Friedrich von Hagedorn, S. 304 f. 404 Vgl. Hillmann, „Friedrich von Hagedorn oder bürgerliche Aufklärung und adeliger Geist“, S. 197–206. Martus äußert sich grundsätzlich zustimmend zu dem Ansatz der Studie Hillmanns, hält ihn aber „im Detail“ für „präzisierbar“; Martus, Friedrich von Hagedorn, S. 16 (Anm. 67). 405 Zu Horaz als Vorbildfigur in Episteln des 18. Jahrhunderts vgl. Motsch, Die poetische Epistel, S. 78–81. 406 Vgl. Hagedorn, Horaz, in: Moralische Gedichte, 2. Aufl. 1753, S. 105–126, hier S. 122. Zu dieser Passage vgl. auch: Vontobel, Von Brockes bis Herder, S. 90 f.

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Poeten soll der „Welt zur Lust, zum Dienst und Unterrichte“ gereichen, wobei die erzieherische Dimension mehrere Facetten besitzt.407 Zunächst strebt der hier evozierte „Poet“ danach, das „Ohr“ seiner Leser für sprachlichen Wohllaut empfänglich zu machen, um dann auch das Herz durch „freundliche Gewalt“ zu formen und die rauhen Sitten zu „milder[n]“. Zugleich belehrt der Dichter durch „treuen Rat“ oder „weise[n] Rat“, indem er etwa „[d]er Tugend Reiz“ vor Augen führt und vorbildliche „Exempel“ darstellt, aber auch „Vorurteile hassen“ lehrt. Schließlich geht es dem Dichter darum, „Zufriedenheit“ zu vermitteln, denn „sie allein nennt jede Fügung gut“. Zu dieser Zufriedenheitslehre gehört auch, dass der Dichter, ob er sich nun „im Palast“ oder „in beschilften Häusern“ aufhält, „keine Zeit“ als „gülden oder eisern“ betrachtet (S. 124). Die Charakterisierung der erzieherischen Leistung des Poeten in dieser Passage steht im Einklang mit den oben herausgearbeiteten Annahmen Hagedorns über die Ursprünge moralischen Handelns und gibt einigen von ihnen eine konkretere Gestalt. Wenn Hagedorn eine Wirkung der Poesie darin sieht, dass sie die ‚rauhen Sitten‘ mildert, die Menschen zivilisiert und ihnen eine auch moralisch wertvolle Empfänglichkeit für die Schönheit vermittelt, so greift er damit einen älteren Topos auf 408 und gibt ihm andeutungsweise eine neuartige, an die Philosophie Shaftesburys erinnernde Wendung. Aber die erzieherische Leistung des Poeten hat der Gedichtpassage zufolge auch eine intellektuelle, verstandesmäßige Seite: Sie umfasst auch das Erteilen von „Rat“ und die Kritik an „Vorurteile[n]“ sowie die Zurückweisung hyperbolischer oder einseitiger Bewertungen eines Zeitalters als ‚golden‘ oder ‚eisern‘. Der hier analysierten Passage aus Horaz kann man einige kurze, aber aufschlussreiche Verse aus dem Schreiben an einen Freund zur Seite stellen, in denen Hagedorn ebenfalls einen Poeten als Lehrer auftreten lässt. In diesem Gedicht zitiert der Sprecher als einen Beleg dafür, dass Macht und Herrscherwürden nicht erstrebenswert seien, eine längere Rede des Königs Hiero. Wie Hagedorn in einer Fußnote erläutert, entnimmt er diese Rede einer Schrift Xenophons, in der Hiero, der Herrscher von Syrakus, und der Dichter Simonides

407 Hagedorn, Horaz, in: Moralische Gedichte, 2. Aufl. 1753, S. 122. Die Passage weist auch Parallelen zur Auffassung vom „gesellschaftlichen Nutzen des Dichters“ auf, die Horaz in seiner Epistel an Augustus entwickelt; so jedenfalls Klein, „Die Lust, den Alten nachzustreben“, S. 254 f., Zitat S. 254. 408 Dieser Gedanke findet sich etwa auch bei: Boileau, L’Art poétique, in: ders., Œuvres complètes. Introduction par Antoine Adam. Textes établies et annotés par Françoise Escal. Paris 1966, S. 155–185, hier S. 183 f. (Chant IV, v. 133–172).

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einen Dialog führen.409 Im ersten Teil dieses Dialogs klagt Hiero, dass er seit Antritt seines Königsamts viel weniger Freuden als in seinem früheren Dasein als Privatmann genieße; insbesondere müsse ein König auf das größte Vergnügen des Lebens verzichten, auf einen Freund, dem er sich anvertrauen könnte. Im zweiten Teil belehrt Simonides ihn darüber, wie er zu regieren habe, um von allen Menschen geliebt zu werden. Auf diesen zweiten Teil des Dialogs wird bei Hagedorn nur knapp angespielt: So spricht ein Hiero, den Unruh und Verdacht Im Sitze der Gewalt erbarmenswürdig macht. Ihn lehrt Simonides, was seinem Reich vonnöthen, Ihm selbst ersprießlich ist; allein wer glaubt Poeten?

[Schreiben an einen Freund, S. 59]

Gerade weil die Bemerkung über Simonides nicht weiter ausgeführt werden und für den folgenden Gedankengang im Gedicht keine Funktion haben, ist es auffällig, dass Hagedorn diesen Hinweis auf Simonides und seine ‚Belehrung‘ des Königs in das Gedicht eingefügt hat. Weshalb ihm die Figur des Simonides aus dem Dialog wichtig war, deutet die rhetorische Frage „allein wer glaubt Poeten?“ an: Mit ihr gibt Hagedorn zu verstehen, dass man gut daran täte, Poeten als Lehrer in moralischen und auch politischen Fragen ernst zu nehmen. In der oben betrachteten Passage aus Horaz taucht gleich zweimal der Ausdruck „Rat“ auf, und auch Simonides übernimmt in dem Gespräch mit Hiero die Rolle eines Ratgebers. Diese Gedichte lassen so vermuten, dass die Funktion des moralischen Ratgebers für Hagedorn eine besonders angemessene für den Dichter ist. Was in den Schilderungen des vorbildlichen poetischen Lehrens bei Hagedorn hingegen nicht vorkommt, ist ein Dichter, der als tadelnder und mahnender Prediger oder Satiriker einer Menge von verirrten, törichten oder lasterhaften Menschen gegenübertritt und sie zurechtweist. Wie es diese poetologischen Gedichtabschnitte erwarten lassen, entsprechen die Redehaltungen und Sprechweisen in Hagedorns Lehrgedichten eher dem Modell des Ratgebers und des Gesprächs als dem des zornigen, mahnenden Predigers. Im Folgenden sind diese Sprechweisen der Hagedorn’schen Lehrgedichte näher zu untersuchen.

409 Hagedorn verweist in der Anmerkung auf die französische Übersetzung des Dialogs, der seine Wiedergabe folge, sowie auf drei historiographische Werke und einen Essay Montaignes, die von Hiero handeln. Bei der von ihm verwendeten Übersetzung handelt es sich um: Portrait de la Condition des Rois, Dialogue de Xenophon Intitulé Hieron, Traduit en François par M. Coste, Amsterdam 1745.

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2.2.3 Zur Form der Gedichte Den Ton der Lehrgedichte Hagedorns hat Hans-Georg Kemper als einen „vergnügliche[n], abschweifend-anekdotische[n] Plauderton“410 charakterisiert. Die Orientierung am Modell eines zwanglosen Gesprächs prägt diese Gedichte in der Tat über weite Strecken, und sie manifestiert sich unter anderem im häufig digressiven Verlauf der Gedankengänge. Im Folgenden soll diese allgemeine Beschreibung noch präzisiert werden, bevor mit der Integration von Charakterporträts sowie dem ungewöhnlich massiven Einsatz von Anmerkungen zwei speziellere Aspekte in den Blick kommen. 2.2.3.1 Die Disposition: ‚nachlässiger‘ Gesprächsduktus Im Schreiben an einen Freund und in dem Gedicht Wünsche, aus einem Schreiben an einen Freund will der Sprecher dem Adressaten seine Wünsche, Neigungen und Überzeugungen mitteilen; die Gedichte Der Weise, Die Glückseligkeit und Die Freundschaft widmen sich den im Titel genannten Werten oder Idealvorstellungen. Keines der Gedichte aber hat eine Fragestellung zum Ausgangspunkt, kaum eines – mit der Ausnahme von Die Glückseligkeit – sucht über längere Strecken des Gedankengangs eine These zu begründen. Der meist sehr offenen Definition der Themen entspricht es, dass die Disposition der Gedichte überwiegend durch eine locker gefügte Aneinanderreihung von Gedanken geprägt ist. Johann Jakob Dusch meinte, dass die moralischen Gedichte Hagedorns häufig gedankliche Sprünge enthielten, die er als Mangel wertete.411 Aber auch wenn Hagedorn selbst sich in Briefen gelegentlich das Talent zum strengen Beweisen absprach, dürfte dieser Aufbau der Gedichte in erster Linie als

410 Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/II: Frühaufklärung, S. 179. 411 [Johann Jakob Dusch], Briefe zur Bildung des Geschmacks. An einen jungen Herrn von Stande. Dritter Theil. Leipzig/Breslau: Johann Ernst Meyer 1767, S. 18: „So oft ich seine [i. e. Hagedorns; O.K.] moralischen Gedichte gelesen habe, ist es mir vorgekommen, als wenn er zuweilen, wenn sich ihm, auch zu unbequemer Zeit, ein starker Gedanke, eine kühne, treffende Gesinnung oder Satyre anbiethet, sich nicht überwinden konnte, sie abzuweisen; und daher nicht ganz selten einen Absprung thut, von dem er denn nicht anders, als durch einen Zurücksprung wieder in seinen Pfad kommen kann.“ Diese Bemerkung findet sich im Rahmen einer Analyse von Hagedorns Die Glückseligkeit. Es gilt zu betonen, dass Dusch dieses Gedicht trotz der beanstandeten Sprunghaftigkeit insgesamt sehr positiv bewertet: Das Gedicht sei „voll großer, und starker Gedanken, voll edler, und kühner Gesinnungen, voll seltener Bemerkungen, wohlgewählter Erläuterungen aus der Natur, und Geschichte, und meisterhaften Züge, wenn der Dichter Charactere zeichnet.“

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ein absichtsvoll kalkulierter zu verstehen sein, der den Eindruck eines zwanglosen Gesprächs oder einer freien Selbstaussprache hervorrufen soll.412 Als ein elementares Baumuster, das mehrere Lehrgedichte Hagedorns prägt, kann man die Sukzession von Darstellungen positiver und negativer Exempelfiguren sehen: Evokationen eines Weisen und seines glücklichen Lebens wechseln sich ab mit Schilderungen von Geizigen, Ruhmsüchtigen oder Mächtigen, die häufig die nachteiligen Seiten ihrer Lebensweise hervorkehren und somit auch eine argumentative Funktion erfüllen. Dieses einfache Grundmuster wird von Hagedorn aber vielfältig variiert.413 Die ersten vier Strophen des Gedichts Der Weise stellen zuerst einen gewinnsüchtigen Kaufmann, dann einen Weisen vor und charakterisieren die geistige Haltung und das Glück dieses Weisen anhand einer direkten Kontrastierung mit der Gier, der Bosheit und den Sorgen des Kaufmanns. Das Gedicht Die Glückseligkeit bestimmt zuerst in abstrakten Begriffen das Wesen von Glückseligkeit und Weisheit, feiert in emphatischen Worten die Tugenden des Weisen und lässt dann nacheinander drei Figuren auftreten, die Torheiten, Irrtümer oder Laster exemplifizieren und so als Gegenbilder zum Weisen dienen. Anschließend fasst der Sprecher die Lehren, die sich anhand dieser Beispiele illustrieren lassen, zusammen und veranschaulicht sie anhand einer Fabel.414 Das Schreiben an einen 412 Auch Siegrist wendet gegen Duschs Beschreibung (und Kritik) der „unbekümmerte[n] Schreibweise Hagedorns“ ein, dass diese Schreibweise „doch wohl eher eine künstlich beabsichtigte war“ (Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 159). 413 Epting hingegen meint, dass der Aufbau der Lehrgedichte Hagedorns einem einheitlichen Schema folgt, das – wie der Stil der Gedichte insgesamt – der „rationalistischen Denk- und Erlebnisweise“ entspreche (Epting, Der Stil in den lyrischen und didaktischen Gedichten Friedrich von Hagedorns, S. 76). In den Lehrgedichten werden Epting zufolge stets einige „fertige Begriffe [. . .] mit einem fertigen Oberbegriff in vergleichende Beziehung gesetzt.“ (Ebd., S. 77) Dadurch entstehe eine „Vielheit der Teile“, die aber „ihre Einheit im Oberbegriff“ finde, was dem Leibnizschen Begriff von Schönheit (‚Einigkeit in der Vielheit‘) entspreche (ebd.). Epting bietet keinerlei konkretisierende Belege für diese allgemeine Beschreibung des Aufbaus, und es dürfte auch schwierig sein, solche Belege zu finden. Ohne dass der Zusammenhang mit dieser allgemeinen Charakterisierung ganz klar wäre, führt Epting ferner aus, die „poetische Variation der Begriffe“ werde bei Hagedorn durch die folgenden Mittel geleistet: „Aufzählung, synonymer Parallelismus, Antithese und Paradigma“ (ebd.). Dass diese Stilmittel in Hagedorns Lehrgedichten häufig vorkommen, kann Epting tatsächlich nachweisen (vgl. ebd., S. 77–84). Doch es handelt sich hier um rhetorische Figuren oder andere Stilmittel, die gewissermaßen die Mikrostrukturen der Gedichte betreffen; die Frage, was für Aussageverkettungen, komplexe Sprachhandlungen oder ‚Vertextungsmuster‘ es in Hagedorns Lehrgedichten gebe, bleibt dabei gänzlich offen. 414 Zum Aufbau von Die Glückseligkeit vgl. auch die gegliederte Inhaltsangabe bei: Epting, Der Stil in den lyrischen und didaktischen Gedichten Friedrich von Hagedorns, S. 139 f. – Siegrist hält die Inhaltsangabe Eptings irrtümlicherweise für ein von Hagedorn selbst angelegtes

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Freund scheint zunächst einer ähnlichen Ordnung zu folgen: Der Sprecher schildert in den ersten etwa sechzig Versen unter Verweis auf das Vorbild Horaz das glückliche Leben des Weisen, um ihm dann die Mühen und Gefahren gegenüberzustellen, die das Dasein eines Herrschers prägen. Diese Darstellung des Herrscheramts und seiner Nachteile scheint zunächst also bloß eine Kontrastfunktion zu erfüllen, doch sie erstreckt sich fast bis zum Ende des 250 Verse umfassenden Gedichts; nur die letzten zwölf Verse bieten ein Resümee des Sprechers. Die Ausführungen über Königen und Fürsten füllen etwa 160 Verse des Gedichts und umfassen unter anderem die Gegenüberstellung schlechter und guter Herrscher (Augustus und Trajan), allgemeine Aussagen über die Pflichten von Herrschern, ein Lob auf „Braunschweigs CARL, den jede Tugend rühret, | Der nur beglücken will, der väterlich regieret“ (S. 55),415 sowie eine ausführliche, wörtlich zitierte Klage des Herrschers Hiero über die Nachteile seines Amts (S. 56–59). Darauf, dass das Gedicht sich diesem politischen Themenkomplex so eingehend widmen wird, bereitet in den ersten sechzig Versen nichts vor. Der Aufbau der Gedankengänge in Hagedorns Lehrgedichten scheint von dem Bestreben geleitet zu sein, einen Eindruck von Ungezwungenheit und Freiheit, vielleicht auch von eleganter Nachlässigkeit416 zu erzeugen. Ein solcher Duktus ist insbesondere für die Gedichte angemessen, die sich als Schreiben an Freunde präsentieren. Zugleich dürfte Hagedorns Strukturierung seiner Gedichte auch der traditionellen Forderung nach Abwechslung verpflichtet sein. Dabei wollte Hagedorn offenbar sowohl innerhalb der einzelnen Lehrgedichte als auch mit Blick auf das Verhältnis der Gedichte zueinander für ein ausreichendes Maß an Variation sorgen. So haben die Eingangspartien der langen Lehrgedichte ganz unterschiedlichen Charakter: Die Glückseligkeit setzt mit einer prägnant formulierten Behauptung ein, die bereits den Titelbegriff enthält („Es ist das wahre Glück an keinen Stand gebunden“) und die im Folgenden amplifiziert und begründet wird; im Schreiben an einen Freund verweist der Sprecher in wenigen scherzhaften Versen, die aber jeweils mit langen Anmerkungen unterfüttert werden, auf Neuigkeiten aus der Welt der Wissenschaft, um dann seinen Freund anzusprechen und das Anliegen seines Briefs zu

Dispositionsschema: vgl. Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 159. Das Schema stammt aber eindeutig von Epting; die Seiten der Hagedorn-Ausgabe, auf die Epting und, ihm folgend, Siegrist verweisen, enthalten nicht das Schema, sondern das Gedicht. 415 Gemeint ist offenbar Karl I. von Braunschweig-Wolfenbüttel (1713–1780, Herzog von 1735 bis 1773). Vgl. zu dieser Passage Martus, Friedrich von Hagedorn, S. 48. 416 Montaigne wird in dem nach ihm benannten Gedicht Hagedorns als „[n]achläßig schön“ (S. 321) gerühmt.

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erläutern, das von diesen wissenschaftlichen Themen ganz unabhängig ist; Die Freundschaft schließlich beginnt mit der Nacherzählung einer Episode aus der Odyssee. Innerhalb der Gedichte erzeugt Hagedorn unter anderem dadurch inhaltliche und stilistische Abwechslung, dass er Charakterporträts, eine Fabel oder die wörtliche Rede einer Figur einfügt. Daneben betrachtete er auch die zahlreichen und umfangreichen Anmerkungen seiner Lehrgedichte, auf die später noch einzugehen ist, als ein Mittel der Abwechslung.417 Die Momente der Zwanglosigkeit, der geringen Stringenz sowie der unterhaltsamen Abwechslung kann man zu der von Kemper verwendeten Charakterisierung bündeln, dass Hagedorn in den Gedichten einen „vergnügliche[n], abschweifend-anekdotische[n] Plauderton“418 kultiviere. Dabei soll mit dem Ausdruck ‚Plauderton‘ hier aber auch angedeutet werden, dass Hagedorn sich in den Lehrgedichten an den Normen einer Gesprächskultur orientiert, wie sie in zahlreichen Handbüchern fixiert und diskutiert und in Institutionen wie Salon und Kaffeehaus verwirklicht wurden. Hagedorn besuchte während seines Englandaufenthalts regelmäßig Londoner Kaffeehäuser und war in Hamburg Stammgast im Dresserschen Kaffeehaus.419 Dass Hagedorn nicht nur ein implizites oder ‚stummes Wissen‘ um Konversationsnormen, sondern ausdrückliche Vorstellungen vom rechten Gesprächsverhalten besaß, deutet vor allem seine auf einer horazischen Vorlage basierende Satire Der Schwätzer an.420 Wenn sich die Gedichte also in ihrer Disposition an Idealen des kultivierten Gesprächs orientieren, könnte man erwarten, dass sie auch in ihren internen Kommunikationssituationen dialogische Elemente aufweisen. Doch das ist, wie im Folgenden zu zeigen ist, nur in geringem Maße der Fall. 2.2.3.2 Gedichtinterne Kommunikationssituationen In mehreren Lehrgedichten Hagedorns treten weder die Sprecher- noch die Adressatenfigur explizit hervor, wird also keine interne Kommunikationssituation deutlich profiliert; das gilt für die Gedichte Der Weise und Die Glückseligkeit. Die Gedichte Wünsche, aus einem Schreiben an einen Freund und Schreiben an einen Freund markieren hingegen schon im Titel die Kommunikationssituation,

417 Hagedorn, „Schreiben an einen Freund“, in: Moralische Gedichte. 2. Aufl. 1753, S. XV f. 418 Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/II: Frühaufklärung, S. 179. 419 Vgl. Münster, Friedrich von Hagedorn, S. 171; Martus, Friedrich von Hagedorn, S. 220 f. 420 Vgl. Münster, Friedrich von Hagedorn, S. 172 f. – Wenn in den Hamburger geselligen Kreisen, in denen Hagedorn verkehrte, ein „Vielredner zum Schweigen“ gebracht werden musste, wurde „notfalls [. . .] ein ‚Schwätzer‘ engagiert“ (Martus, Friedrich von Hagedorn, S. 221). Vgl. auch ebd. (Anm. 177) zum Schwätzer als einer topischen Negativfigur in den Konversationslehren.

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die im Gedicht fingiert wird, nämlich die eines Briefs an einen Freund. In Horaz schließlich redet der Sprecher schon im ersten Vers den römischen Dichter direkt an. In den als Briefe an Freunde gestalteten Gedichten nimmt der Sprecher, wie zu erwarten, nicht die Rolle eines Lehrers ein, äußert also nicht die Absicht, dem Adressaten Wissen über einen allgemeinen Gegenstand mitzuteilen. Aber die Sprecher fungieren hier auch kaum einmal als Ratgeber. Nur in einer Strophe der Wünsche, aus einem Schreiben an einen Freund erteilt der Sprecher dem angeredeten Freund in imperativischer Form einen Rat und unterstützt denselben sogar mit einer Warnung421; die anderen Gedichtstrophen verwendet er ausschließlich darauf, seine schon in der Überschrift angekündigten „Wünsche“ an das Leben auszubreiten. Im Schreiben an einen Freund formuliert er das Anliegen seines Briefs auf ähnliche Weise. Nachdem der Sprecher leicht ironisch einige Fragen und Unternehmungen aufgezählt hat, die gerade die „gelehrte Welt“ in Atem halten, erklärt er, ein bescheideneres Ziel zu verfolgen: Da die gelehrte Welt itzt recht geschäfftig ist, [. . .]: So ist es mir genug, an Dich, mein Freund, zu schreiben, Genug, nur mir und Dir nicht unbekannt zu bleiben, Und, wann ein stolzer Fleiß erhabne Lehrer übt, Dir, müßig, zu gestehn, was meine Seele liebt. [Schreiben an einen Freund; S. 42 f.]

Dem Sprecher geht es demnach auch hier vor allem darum, seine Neigungen, Vorlieben und Überzeugungen mitzuteilen. Der Empfänger des Schreibens wird so implizit als jemand charakterisiert, dem der Sprecher oder Briefschreiber vertraut, dem er sein Inneres zu offenbaren bereit ist; darüber hinaus wird dieser Adressat aber kaum näher profiliert, und das an ihn gerichtete Schreiben dient nicht dem Zweck – wie dies für einige Episteln des Horaz gilt –, auf Fragen des Briefempfängers zu antworten oder auf seine Schwierigkeiten und Beschwerden einzugehen. Dass Hagedorn für mehrere Lehrgedichte die Kommunikationssituation eines Briefs an einen Freund wählt, steht im Einklang mit dem Lob der Freundschaft und der Geselligkeit, das in mehreren seiner Gedichte angestimmt wird; es passt auch zu der vor allem im Horaz-Gedicht entworfenen Konzeption des Dichters als Erzieher, insofern diese vom Dichter geleistete Erziehung nicht auf schulmeisterlichem Unterricht oder Mahnpredigten, sondern auf freundlichem

421 „Freund, sey mit mir bedacht, die Kenntnis zu vergrößern, | Die unsern Neigungen die beste Richtschnur gibt, | Sonst wirst du den Verstand und nicht das Herz verbessern, | Das oft den Witz verwirrt und nur den Irrtum liebt.“ (Wünsche, aus einem Schreiben an einen Freund, S. 40)

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Rat, Aufmunterung und Beistand beruhen soll. Gerade mit Blick auf diese Konzeption des Dichters sowie auf Hagedorns emphatisches Lob von Freundschaft und Geselligkeit kann es überraschen, dass einige seiner längeren Lehrgedichte die interne Kommunikationssituation gar nicht explizit konturieren und dass in den als Briefe an Freunde präsentierten Gedichten die Adressaten nur eine marginale Rolle spielen. Diese sparsame Ausgestaltung des Adressatenbezugs erscheint auch deshalb als bemerkenswert, weil Hagedorn damit vom Vorbild der horazischen Episteln wie auch von den Episteln Popes abweicht. Hinsichtlich der in ihnen entworfenen Kommunikationssituationen haben die Lehrgedichte Hagedorns gewissermaßen einen weniger gesprächsartigen Charakter, als man erwarten könnte.422 Fragt man danach, wie diese geringe Profilierung der gedichtinternen Adressaten zu deuten ist, so könnten zwei Punkte relevant sein. Zum einen wäre zu überlegen, ob die Gestaltung der Kommunikationssituationen in Hagedorns Lehrgedichten sich nicht nur an Episteln wie jenen des Horaz orientiert, sondern auch am Werk eines anderen von Hagedorn bewunderten Autors, nämlich Montaignes.423 Wenn der Sprecher im Schreiben an einen Freund erklärt, er wolle nur mitteilen, ‚was seine Seele liebt‘, so entspricht dies ungefähr dem Gestus der zwanglosen und um den Adressaten wenig bekümmerten Selbstkundgabe, wie sie viele Texte der Essais prägt. Dass Hagedorn diesen Zug der Texte Montaignes wahrgenommen und besonders geschätzt hat, geht unter anderem aus einem Brief an Bodmer von 1750 hervor.424 Zum anderen ist hier von Interesse, dass das von Hagedorn in seinen Gedichten entworfene Verständnis von Freundschaft, wie Martus resümiert hat, „in komplizierter Weise zwischen einem geselligen und einem einsamen Individuum [laviert]“: „Seine Poesie der

422 Allerdings finden sich auch bei anderen deutschen Autoren dieser Zeit Episteln ohne eine „ausgeprägte Briefstruktur“; so Motsch, Die poetische Epistel, S. 83. 423 Zu Hagedorns Montaigne-Rezeption vgl. knapp: Münster, Friedrich von Hagedorn, S. 275 f. – Die deutsche Montaigne-Rezeption im 18. Jahrhundert ist noch nicht befriedigend erforscht. Einige Hinweise bei Heinrich Küntzel, Essay und Aufklärung. Zum Ursprung einer originellen deutschen Prosa im 18. Jahrhundert, München 1969. Zur Montaigne-Rezeption bei Wieland vgl. nun Dieter Martin, „Wieland und Montaigne“, in: Wieland-Studien, 10/2017, S. 205–218. 424 Vgl. Friedrich von Hagedorn an Johann Jacob Bodmer, Brief vom 24.9.1750, in: Friedrich von Hagedorn, Briefe. Horst Gronemeyer (Hrsg.). Bd. 1: Text. Berlin/New York 1997, S. 302 f., hier S. 302: „Von mir selbst habe ich diesem langen Briefe nichts hinzuzufügen. Der Herr Schultheiß wird ihnen mich hinlänglich abgeschildert haben. Ich habe mich ihm gezeigt, wie ich bin; und es fällt mir schwer, mich anders zu zeigen. Dem Montagne bin ich wenigstens darinnen ähnlich, ob ich gleich in diesem Jahrhunderte es nicht für rathsam erachte, so oft und so viel von mir zu reden, als er gethan hat: wofür ich ihm aber sehr danke.“

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Freundschaft ist das Experimentierfeld für Formen der Fremd- und der Selbstbezüglichkeit.“425 Diese Auffassung Hagedorns wiederum könne durch Montaignes Überlegungen zur Freundschaft beeinflusst sein.426 Zu dem Streben nach Selbstvervollkommnung, das für Hagedorn den Weisen kennzeichnet, gehören für ihn offenbar auch die Selbsterforschung und eine freie Artikulation der verschiedenen Facetten der Person, die zunächst einmal keinen darüber hinausgehenden, etwa belehrenden oder informierenden, Zweck verfolgt. Der Wert der Kommunikation unter Freunden besteht für Hagedorn unter anderem darin, dass sie einen Raum für diese Exploration und Offenlegung des Selbst schafft. Einige seiner Lehrgedichte, die sich als ‚Schreiben an Freunde‘ ausgeben, sollen vermutlich nicht zuletzt diese Möglichkeit der freundschaftlichen Kommunikation gestalten, also die Möglichkeit der freien Selbstaussprache. Weiter unten ist zu zeigen, dass auch Hagedorns ungewöhnlich ausgiebige Verwendung von Anmerkungen in seinen Gedichten auf diese Wertschätzung der freien Selbstaussprache bezogen werden kann. Zunächst ist aber noch ein anderes Verfahren der Gedichte in den Blick zu nehmen. 2.2.3.3 Die Integration von Charakteren Moralische Charaktere, die zur Exemplifikation von Tugenden und Lastern eingesetzt werden, sind ein gängiges Mittel in deutschen Lehrgedichten der Aufklärung427 wie auch in den Moralischen Wochenschriften und anderen Prosatexten derselben Zeit.428 Wie in den Moralischen Wochenschriften exemplifizieren die Charaktere in Hagedorns Gedichten meist ein einzelnes Laster, gelegentlich in Verbindung mit einem bestimmten sozialen Stand.429 In den Gedankengang des Gedichts Die Glückseligkeit hat Hagedorn drei Charaktere integriert, die verfehlten Vorstellungen vom Glück anhängen und damit Kontraste 425 Martus, Friedrich von Hagedorn, S. 190. – Zu den im Gedicht Die Freundschaft erörterten Konzeptionen der Freundschaft insgesamt vgl. ebd., S. 177–222. 426 Zu Montaignes Freundschaftskonzeption bemerkt Martus, eines ihrer zentralen Charakteristika sei „die Konstruktion der Freundschaft als Selbstbeziehung“ (Martus, Friedrich von Hagedorn, S. 181). Vgl. auch ebd., S. 182: „Der Weise internalisiert den Freund, so daß der andere nicht mehr als Person, sondern bloß noch in der Figur der Selbstreflexivität auftritt. Aus diesem Grund kann Montaigne nicht nur die Freundschaft feiern, sondern auch die Einsamkeit empfehlen.“ 427 Vgl. Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 140–142. 428 Zu den Charakteren in den Moralischen Wochenschriften vgl. Ute Schneider, Der moralische Charakter. Ein Mittel aufklärerischer Menschendarstellung in den frühen deutschen Wochenschriften, Stuttgart 1976. 429 Vgl. zur Repräsentation von Ständen, Berufen, Tugenden und Lastern durch Charaktere in den Wochenschriften: Ebd., S. 110–147.

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zum Weisen bilden: Ein „gelehrter Geist“ widmet sich ganz den Wissenschaften, insbesondere der Astronomie, und „schätzt“ sich nur „glücklich“, wenn er „scharf beweist“, „hohe Sachen“ wie etwa die Planetenbahnen studiert und „berühmten Männern“ wie Kopernikus nacheifert (S. 22 f.). Gryphin dagegen ist ausschließlich an einer Vermehrung seines Reichtums interessiert (S. 25 f.); Fatill schließlich ist ein Bürger, der den Lebensstil der „Großen“ (S. 29) nachahmt und durch die prachtvolle Ausstattung seines Hauses, durch Förderung der Künste und die Bewirtung seiner Gäste mit exotischen Speisen die Bewunderung seiner Mitmenschen zu erringen versucht (S. 29–31). Diese drei Figuren repräsentieren damit Haltungen, deren Kritik Hagedorn offenbar besonders wichtig war: eine selbstzweckhaft kultivierte Gelehrtheit, die nicht im Dienst des Gemeinwohls oder des guten Lebens des Einzelnen steht430; egoistische Raffgier; schließlich das Streben nach äußerlichen Auszeichnungen und nach der Bewunderung der Mitmenschen. Das Gedicht Horaz lässt eine ganze Galerie von – meist nur in zwei bis vier Versen vorgestellten – Charakteren auftreten, von denen viele als Varianten der in Die Glückseligkeit vorgeführten Typen erscheinen. An der Reihe von Charakteren in Die Glückseligkeit ist nun bemerkenswert, wie Hagedorn die Übergänge zwischen den Porträts gestaltet hat. Auf die Vorstellung des Charakters, die entweder diesen selbst zu Wort kommen lässt oder vom Sprecher übernommen wird, folgt jeweils ein Abschnitt, in dem der Sprecher die Verfehlungen der Figur benennt. Wenn der Sprecher dann zur Präsentation des nächsten Charakters übergeht, lässt er diesen auf die eben formulierten moralischen Maximen Bezug nehmen und sich brüsten, diese Maximen zu befolgen. Schon das erste Porträt der Reihe, das des Gelehrten, beginnt damit, dass der „gelehrte[] Geist“ den zuvor vom Sprecher formulierten Gedanken beipflichtet: Die siegende Gewalt, die Gabe, reich zu seyn, Was Sinnen lockt und übt, hat nicht der Mensch allein. Das kann, in mancher Art, auch im Vergnügen bringen: Doch was unsterblich ist, folgt billig bessern Dingen. Ich, ich weiß dieses längst, denkt ein gelehrter Geist, Der nie sich glücklich schätzt, als wenn er scharf beweist: [. . .].

[Die Glückseligkeit; S. 22]

430 Zur Kritik der Gelehrten bei Hagedorn vgl. Carlos Spoerhase, „‚Danckbarkeit‘ / ‚Undanckbarkeit‘. Über die Gelehrtenkritik der Brüder Christian Ludwig und Friedrich von Hagedorn“, in: Johann Anselm Steiger/Sandra Richter (Hrsg.), Hamburg. Eine Metropolregion zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung, Berlin 2012, S. 303–314.

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An diesem Gelehrten kritisiert der Sprecher im Folgenden vor allem die Nutzlosigkeit des von ihm angehäuften Wissens. Im Anschluss daran tritt Gryphin, der Geizige, auf, stimmt dem Sprecher zu und behauptet, diese Lehre schon zu befolgen, da er sich ganz dem „Rechnen“ als der einzigen fruchtbaren „Wissenschaft“ verschrieben habe.431 Gryphin wird im folgenden Abschnitt vom Sprecher ausführlich für seinen Egoismus getadelt, für die Vernachlässigung seiner Pflichten gegenüber den Mitmenschen, denen er seinen Reichtum nicht zu Gute kommen lässt. Der letzte Charakter der Reihe, Fatill, wird als jemand eingeführt, der diese Ermahnungen des Sprechers scheinbar beherzigt, insofern er nämlich, um „Großen nachzuahmen, | Reichsgräflich kauft und baut“ und aufwändige Gastmahle veranstaltet. Diese Technik der Verknüpfung von Charakterporträts, die Hagedorn ähnlich auch im Gedicht Die Freundschaft verwendete (S. 63), lässt sich zum einen auf ein Bestreben nach einem zugleich zwanglos und elegant wirkenden Gedichtaufbau zurückführen. Hagedorn vermeidet so eine schlichte Aneinanderreihung von Lastern und die Laster exemplifizierenden Charakteren.432 Zum anderen kann man der beschriebenen Verbindung der Charakterporträts aber auch einen inhaltlichen Sinn zuschreiben: Hagedorn deutet damit an, dass Personen, deren Lebensweise derjenigen des Gelehrten, Gryphins oder Fatills entspricht, sich scheinbar auf moralische Werte und Richtlinien berufen können (und womöglich wirklich berufen), die auch der Sprecher für richtig hält. Doch in Wahrheit werden diese moralischen Prinzipien von diesen Personen missverstanden, vielleicht auch nur heuchlerisch und unaufrichtig befolgt: Dass der Mensch nicht in erster Linie nach Reichtum und sinnlichen Genüssen, sondern nach Besserem streben soll, bedeutet nicht, dass er sich ausschließlich der Wissenschaft und vorzugsweise praxisfernen Forschungen wie der Suche nach neuen Sternen widmen sollte. Die Forderung, dass das angestrebte Wissen einen praktischen Nutzen haben sollte, ist aber nicht so zu verstehen, dass man sich ganz auf das Rechnen verlegen und es zur persönlichen Bereicherung einsetzen sollte. Die Verwendung von Reichtum zum Wohl der Mitmenschen schließlich ist etwas anderes, als mit aufwändigen

431 „Ja freylich! schreyt Gryphin: das Rechnen ausgenommen, | Kann keine Wissenschaft und kein Erkenntniß frommen.“ (S. 25) 432 Dabei ist es in der Tradition des Lehrgedichts keineswegs generell verpönt, eine methodische Anordnung von Gedankenschritten als eine solche transparent zu machen. Wenn Hagedorn den Eindruck eines solchen methodischen Vorgehens zu vermeiden sucht, so dürfte dies darauf schließen lassen, dass er in seinen Lehrgedichten ein bestimmtes, mit der Gattung nicht notwendig verbundenes Stilideal pflegen wollte, zu dem ein ungezwungener, ‚nachlässiger‘, plaudernder Duktus gehörte.

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Häusern und verschwenderischen Festessen die Bewunderung der Großen zu heischen. Die originelle Art und Weise, wie Hagedorn die moralischen Charaktere in den Gedankengang von Die Glückseligkeit integriert, bringt somit auch eine Annahme zum Ausdruck, auf deren Bedeutung für seine Ethik oben hingewiesen wurde: die Annahme, dass lasterhaftes Verhalten auf mangelnder Einsicht beruht, auf „Unwissenheit“ oder „Wahn und Unverstand“, wie es im Schreiben an einen Freund heißt. 2.2.3.4 Die Anmerkungen Hagedorn hat seine Lehrgedichte mit zahlreichen, teils sehr umfangreichen Anmerkungen ausgestattet. Auch seine Fabeln, Verserzählungen und epigrammatischen Gedichte sind häufig mit Anmerkungen versehen. Anmerkungen finden sich auch in den Lehrgedichten Hallers und wurden nicht grundsätzlich als etwas gesehen, was der poetischen Qualität der Gedichte schadete.433 Aber die Anmerkungen in Hagedorns Gedichten sind ungleich zahlreicher und umfangreicher als die in den Gedichten Hallers oder Kästners, und diese quantitative Ausdehnung wurde auch von den Zeitgenossen als auffällig und nicht unproblematisch gesehen.434 Davon zeugt nicht zuletzt der Umstand, dass Hagedorns Vorreden zu den zwei Auflagen seiner Moralischen Gedichte sich fast ausschließlich einer Rechtfertigung der Anmerkungen widmen.435

433 Vgl. Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 140. 434 Siegrist behauptet, dass Hagedorns „auf großer Belesenheit basierende Anmerkungen als vorbildlich angesehen wurden“ (Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 140), ohne dafür einen Beleg zu liefern. Falls das richtig wäre, stellte sich die Frage, weshalb Hagedorn die Anmerkungen dann so ausführlich verteidigte. 435 Vgl. Hagedorn, „Vorrede“, in: Moralische Gedichte. 2. Aufl. 1753, S. III–X; ders., „Schreiben an einen Freund“, in: ebd., S. XI–XXXII. Der „Vorbericht“ war bereits in der ersten Auflage von 1750 enthalten. Vgl. zu Hagedorns Apologie der Anmerkungen auch die weitgehend referierenden Ausführungen bei: Klein, „Die Lust, den Alten nachzustreben“, S. 116–125. Evelyn Eckstein hat Hagedorns Noten ein eigenes Kapitel ihrer monographischen Studie über Fußnoten in der Literatur gewidmet. Ihre Überlegungen zur Deutung der Anmerkungen und ihrer Funktion können aber nur bedingt überzeugen. Ihre Ausführungen reihen verschiedene Einzelbeobachtungen aneinander und suchen diese in der These zu bündeln, Hagedorn halte an der alten Forderung nach einer Verbindung von prodesse und delectare fest (vgl. Eckstein, Fußnoten, S. 93), trage dabei aber auch den „aufklärerischen Bildungszielen“ Rechnung (ebd., S. 91), indem er nicht nur antike Autoren anführe, sondern auch aus Zeitschriften zitiere und naturwissenschaftliche Forschungsresultate mitteile. Doch dieser Versuch, auf zeitgemäße Weise gelehrtes Wissen in die Dichtung zu integrieren und so die Ziele des prodesse und des delectare zu verbinden, sei Hagedorn letztlich nicht geglückt: Seine Anmerkungen, so Eckstein, „erscheinen [. . .] – gerade wenn sie neue naturwissenschaftliche Kenntnisse einbeziehen wollen – doch eher als überflüssiger Ballast.“ (Ebd., S. 91 f.) Es dürfte durchaus sinnvoll

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Diese Apologie zeigt auch, welches der entscheidende Vorwurf war, dem sich ein so ausgiebiger Gebrauch von Noten aussetzte: Hagedorn teilt mit, man habe seine Noten als eine Zurschaustellung von Gelehrsamkeit gedeutet und kritisiert, also als einen ‚Rückfall‘ in die gelehrte Dichtung älteren Zuschnitts. Hagedorn rechtfertigte seine Anmerkungen mit einer Vielzahl von Gründen. Er habe in diesen Anmerkungen einige seiner Verse erläutert, um Fehldeutungen vorzubeugen; er wolle sich in manchen Fällen gegen den Vorwurf eines Plagiats schützen, indem er die Autoren und Stellen angibt, auf die er sich bezieht; für die Gelehrten unter den Lesern können die Anmerkungen nützlich sein, da sie häufig Kleinigkeiten betreffen, die diesen Gelehrten zu Recht unbekannt sind; für „Unstudirte“ aber, die etwas lernen wollen, sind viele der Anmerkungen erst recht nützlich, nämlich lehrreich. Im Übrigen hätten die Anmerkungen großenteils ihren Ursprung in Hagedorns besonderer Lektürepraxis: Er pflege sich beim Lesen Notizen zu machen, da er um sein schlechtes Gedächtnis wisse; aus diesen Notizen sei ein kleiner Kommentar erwachsen, und auf den Rat von Freunden hin habe er diese Notizen beim Druck der Gedichte nicht unterdrückt.436 Eine weitere Rechtfertigung sei hier vollständig zitiert, auch weil sie sich speziell auf die Lehrgedichte bezieht: Wenn man Lehrgedichte schreiben, Wahrheiten oder Wahrscheinlichkeiten poetisch und etwa so vortragen will, wie ich einige, z.E. von der Glückseligkeit und von der Freundschaft, abgehandelt zu haben wünsche; so ist es, wie mich deucht, nicht genug, daß wir, in einer stillen, aufmerksamen und wiederholten Unterredung mit uns selbst, unsre

sein, Hagedorns Lehrgedichte und auch seine Notenpraxis auf die Formel vom aut prodesse aut delectare zu beziehen. Doch Ecksteins Deutung der Gedichte Hagedorns und ihrer Anmerkungen erscheint nicht zuletzt deshalb als unbefriedigend, weil sie zu enge (und zum Teil gar nicht explizierte) Begriffe vom Erfreuen einerseits, vom Nützen andererseits voraussetzt. Eine treffende oder zumindest anregende Bemerkung dazu, um was für eine Art des nützlichen Vergnügens es Hagedorn hier gegangen sein könnte, findet sich hingegen bei Michael Bernays, „Zur Lehre von den Citaten und Noten“ [1892], in: ders., Schriften zur Kritik und Litteraturgeschichte. Bd. 4: Zur neueren und neuesten Litteraturgeschichte. II. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Georg Witkowski. Berlin 1899, S. 253–347, zu Hagedorn S. 338–340. Bernays charakterisiert den Duktus der Noten Hagedorns als „behagliche Geschwätzigkeit“ (Bernays, „Zur Lehre von den Citaten und Noten“, S. 340), meint dies aber in lobendem Sinne; mit Blick auf Hagedorns Verteidigung der Anmerkungen bemerkt er: „Hagedorn hat Recht, seinen Noten eine so lebhafte Fürsprache zu widmen. Wie unterrichtend und wie anziehend weiß er in ihnen zu plaudern!“ (ebd., S. 340) Die Ausdrücke „plaudern“ und „Geschwätzigkeit“ evozieren die Vorstellung eines kultiviert-zwanglosen Gesprächs, und diese Vorstellung lässt sich auf literarische Muster und soziale Kontexte beziehen, die für Hagedorns Dichtung in der Tat relevant gewesen sein könnten. 436 Vgl. Hagedorn, „Schreiben an einen Freund“, in: Moralische Gedichte. 2. Aufl. 1753, S. XI–XXXII, hier S. XXII f., XXVI f.

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eignen Begriffe bestimmen. Ein Dichter macht nicht immer die beste Figur, wenn er das Ansehen haben will, daß er die Gesundheit und Stärke seiner Einfälle nur seinen Kräften zu danken hat, und sie gleichsam mit seinem eigenen Witze nähret. Es gereichet auch zu seinem Wachstum und zu seiner Reife, daß er weiß, was vor ihm über die Lehren, die er entwirft, gedacht, und welche Bildung solchen Gedanken gegeben worden.437

Dass Hagedorn so viele unterschiedliche Argumente anführt, dürfte auch damit zu tun haben, dass die Anmerkungen selbst verschiedenen Zwecken dienten. Es scheint jedenfalls kaum möglich, die nach Umfang und Inhalt sehr vielgestaltigen Anmerkungen auf eine Funktion festzulegen. Hagedorn nutzt die Anmerkungen zunächst häufig, um auf die Verse anderer, meist antiker Autoren zu verweisen, die er in seinem Gedicht an der jeweiligen Stelle übersetzt, variiert oder paraphrasiert hat.438 Dies ist eine zeitgenössisch geläufige, nicht für Hagedorn spezifische Verwendung von Anmerkungen; allerdings ist sie bei ihm in Verbindung mit einer bestimmten Auffassung vom Sinn und Wert der Nachahmung anderer Autoren zu sehen, die er in seinen Vorreden skizziert hat.439 Eine andere, ebenfalls konventionelle Funktion der Anmerkungen besteht darin, im Gedicht enthaltene Hinweise auf historische Ereignisse oder auf wissenschaftliche Entdeckungen oder Theorien mit näheren Erläuterungen und mit Quellenangaben zu unterfüttern.440 Mit diesem Gebrauch von Anmerkungen treibt Hagedorn einmal, in den oben bereits erwähnten Anfangsversen des Schreibens an einen Freund, ein ironisches Spiel. In den ersten sechs Versen zählt der Sprecher diverse Aktivitäten auf, denen sich aktuell „die gelehrte Welt“ widme, und diese knappen und leicht scherzhaften Beschreibungen der gelehrten Projekte werden in insgesamt fünf Anmerkungen erläutert und mit Quellenangaben versehen, die die betreffenden Verse an Umfang um ein Mehrfaches übertreffen: Da die gelehrte Welt itzt recht geschäfftig ist, Castel die Töne färbt1 u. Körber Seelen mißt,2 Klim, nach dem Lucian,3 belebte Bäum entdecket, Wann Hellmund4 Zeichen merkt und Jachins Kenner schrecket,

437 Hagedorn, „Schreiben an einen Freund“, in: Moralische Gedichte. 2. Aufl. 1753, S. XXIV. 438 In besonders großer Zahl finden sich solche Anmerkungen im Gedicht Horaz (S. 105–126). 439 Vgl. Hagedorn, „Vorbericht“, in: Moralische Gedichte. 2. Aufl. 1753, S. III–X, hier S. III: „Die hinzugefügten Fabeln und Erzehlungen bestehen aus eigenen und nachgeahmten. Diesen habe ich, in Ansehung ihrer Muster, mehr Aehnlichkeit als Gleichheit zu geben gesucht. [. . .] Man sollte nachahmen, wie Boileau und La = Fontaine nachgeahmet haben. Jener pflegte davon zu sagen: Cela ne s’appelle pas imiter; c’est joûter contre son original.“ Vgl. auch: Ders., „Schreiben an einen Freund“, in: ebd., S. XVII–XX. 440 Vgl. etwa die Anmerkungen 1 bis 3 zum Gedicht Der Weise (S. 16) und die Anmerkungen 2, 3, 5 und 6 in Die Glückseligkeit (S. 18, 22).

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Und jener offenbart, wie Kunst und Traum und Nacht Uns bald zu Königen, bald zu Poeten macht:5 So ist es mir genug, an Dich, mein Freund, zu schreiben, [. . .]. [Schreiben an einen Freund; S. 42 f.]

Diese Beschreibungen der gelehrten Bemühungen lassen diese zwar als originell und reizvoll, aber nur bedingt als ernsthaft und nützlich erscheinen, und der Sprecher distanziert sich denn ja auch unbekümmert von diesem Treiben, um an seinen Freund zu schreiben und sich der Selbsterkundung und Selbstaussprache zu widmen. Andererseits werden die so ironisch behandelten gelehrten Aktivitäten aber durch ausführliche Anmerkungen mit sorgfältigen Literaturangaben gewürdigt und insofern durchaus ernst genommen. Gedichttext und Anmerkungen etablieren hier gewissermaßen zwei Register oder Sprechebenen, die zunächst einmal gleichberechtigt erscheinen und deren Koexistenz auf derselben Buchseite dem Leser und Interpreten verschiedene Verhältnisbestimmungen und Hierarchisierungen erlaubt. Andere Anmerkungen haben den Charakter unterhaltsamer Digressionen. Sie haben kaum eine erkennbare Funktion für den Gedankengang des Gedichts im betreffenden Abschnitt, sondern nehmen ein Detail dieses Gedankengangs zum Anlass, um eine kurze Geschichte zu erzählen, wertende Kommentare zu einer Person zu geben oder einen Nebengedanken zu entwickeln. Eine Anmerkung im Gedicht Die Glückseligkeit etwa gibt knapp eine amüsante Episode aus Cervantes’ Don Quijote wieder, an der Sancho Pansa und Doctor Peter Rezio von Aguero beteiligt sind. Einen zusätzlichen Reiz erhält die Anmerkung dadurch, dass die zuletzt genannte Figur, die auch im Gedichttext als „Rezio“ erwähnt wird, in der Anmerkung zunächst wie eine reale Person vorgestellt wird, bevor sie schließlich in die „Geschichte der Statthalterschaft des Sancho“ eingeordnet wird; das Ende der Anmerkung verweist ausdrücklich auf ein Kapitel der „Geschichte des Don Quixote von Mancha“ (S. 32, Anm. 16). In einer seiner Vorreden rechtfertigt Hagedorn diese Anmerkung mit dem Hinweis auf ihren sachlichen Informationswert: „Gelehrte Leser“ müssten den „Doctor Peter Rezio von Aguero aus Tirteafuera“ nicht kennen, weil solche „Kleinigkeiten“ ihre „philosophische Aufmerksamkeit“ auch gar nicht „verdienen“; folglich sei eine erklärende Anmerkung sinnvoll.441 Ob diese abwertende Äußerung über den Roman von Cervantes nun ernst gemeint sein mag oder nicht, Hagedorns Rechtfertigung dürfte in jedem Fall nur die halbe Wahrheit sein: Die Erwähnung von Rezio im Gedicht mag eine erläuternde Anmerkung notwendig

441 Hagedorn, „Schreiben an einen Freund“, in: Moralische Gedichte (2. Aufl. 1753), S. XXVIII.

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gemacht haben, aber diese Erwähnung selbst erscheint im Gedichtzusammenhang als durchaus verzichtbar, da sie dem Gedankengang an dieser Stelle nichts hinzufügt. Daher liegt die Vermutung nahe, dass Hagedorn die Erwähnung Rezios mitsamt der Anmerkung integriert hat, weil die Episode mit Rezio und Sancho Pansa amüsant ist und somit eine vergnügliche Abwechslung in das Gedicht bringt. Ein weiteres Beispiel für eine solche amüsante Digression bietet die Anmerkung zum Abt von Saint-Cyran, die sich ebenfalls im Gedicht Die Glückseligkeit findet; hier ist die unterhaltsame Qualität der Note allerdings mit einer sarkastischen Spitze gegen die behandelte Person verbunden.442 In einigen Anmerkungen schließlich gibt Hagedorn unterschiedliche Meinungen zu bestimmten Fragen wieder oder verweist auf die Ansicht eines Autors und auf die gegen sie gerichtete Kritik eines anderen Autors. Dabei stellt er diese intellektuellen Auseinandersetzungen als sachliche Diskussionen, nicht als aggressiv geführte Konflikte dar und vermeidet auch selbst, wenn er zu der betreffenden Frage Stellung bezieht, polemische Frontstellungen. So referiert er in einer Anmerkung zum Gedicht Die Freundschaft die These Shaftesburys, dass das Christentum die persönliche Freundschaft und die Vaterlandsliebe nicht zu den „höchsten Pflichten“ zähle, „welchen eine unendliche Belohnung verheissen wird: ohne Zweifel, damit wir solche Tugenden ohne alle Eigennützigkeit ausüben mögen“ (S. 78 f., Anm. 24). Direkt danach heißt es in der Anmerkung: „Eine bündige Untersuchung dieser so irrigen Gedanken findet sich in Fosters zweyten geistlichen Rede über Röm. V.7. welche, in der im Jahre 1732 herausgekommenen Sammlung einiger seiner schönen Predigten, die dritte ist.“ Dass Hagedorn die These Shaftesburys als „irrig[]“ verwirft und sich der Kritik dieser These durch den englischen Baptistenprediger James Foster

442 Die Passage aus Die Glückseligkeit, in der Saint-Cyran erwähnt wird, übt Kritik an bigotten „Heiligen, die stolze Demut krümmt“, etwa an religiösen Gruppen, deren Mitglieder sich nur gegenüber den anderen „Brüdern“ der „Zunft“ wohltätig erweisen (S. 27 f.). Von einer solchen „Zunft“ sagt der Sprecher auch, dass sie „in allem, was geschiehet, | So schlau, als Saint = Cyran, den Finger Gottes siehet“ (S. 28). Eine Anmerkung gibt nähere Informationen zum „Abbé de St. Cyran“ (S. 28, Anm. 14) und verweist dabei auf verschiedene Quellen, in denen er erwähnt wird. Diese Erläuterungen heben vor allem die Bekanntheit des Abts hervor und können den kritischen Kontext, in dem das Gedicht ihn auftreten lässt, fast vergessen lassen, zumal schließlich sogar vermerkt wird, die Briefe des Abts seien von der Marquise de Sévigné „angepriesen“ worden. Doch am Ende der Anmerkung heißt es, anhand der von Bouhours mitgeteilten Auszüge aus Briefen des Abts könne man sich ein Urteil darüber bilden, „mit wie vielem Recht dieser Abt von sich gestanden: J’ai le coeur meilleur que le cerveau.“ (Ebd.) Vgl. zu der Gedichtpassage auch: Martus, Friedrich von Hagedorn, S. 206.

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anschließt,443 wirkt überraschend, nachdem er die These so ausführlich wiedergegeben hat und ihren Urheber als den „berühmte[n] Graf Schaftesbury“ eingeführt hat. Zudem kann man sich fragen, weshalb er nicht einmal andeutungsweise Fosters Gründe für seine Zurückweisung der Shaftesbury-These wiedergibt, obwohl er sie doch offenbar für triftig und wichtig hält.444 Die Anmerkung scheint so nicht allein darauf angelegt zu sein, in der Auseinandersetzung eine der Positionen zu unterstützen und die andere abzuwerten; sie stimmt zwar der Auffassung Fosters zu, bezeugt aber zugleich Respekt gegenüber Shaftesbury und Interesse an seiner These. Zugleich kann man in dieser Anmerkung eine Wertschätzung dieser Diskussion als solcher und allgemeiner eine Wertschätzung kritisch, aber zivilisiert geführter Debatten.

443 Zu Shaftesburys Reflexion über die Stellung des Christentums zur Freundschaft und zu Fosters Entgegnung vgl. auch: Wolfdietrich Rasch, Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des deutschen 18. Jahrhunderts. Vom Ausgang des Barock bis zu Klopstock, Halle 1936, S. 71–74. Rasch verweist hier (ebd., S. 74) auch auf eine weitere kritische Erwiderung auf Shaftesbury: J. F. W. Jerusalem, Sammlung einiger Predigten, Bd. II, Braunschweig 1756, S. 5. – Zu Foster vgl. Christoph Bultmann, „Was ist ein theologischer Klassiker? Anmerkungen zu Johann Joachim Spaldings Über die Nutzbarkeit des Predigtamtes und deren Beförderung“, in: Ders., Bibelrezeption in der Aufklärung, Tübingen 2012, S. 13–40, hier S. 17–21. Foster verfasste zwar eine vielbeachtete Gegenschrift zu Matthew Tindals Christianity as old as the creation (1730), vertrat aber keineswegs eine konservative theologische Richtung, sondern eine stark vernunftbetonte, auf die Vereinbarkeit von Vernunft und Offenbarung setzende Position, die ihn von der anglikanischen Kirche distanzierte und ihm den Respekt abweichender Strömungen in England und das Interesse der deutschen Neologen einbrachte. Zu Fosters Kritik an Tindal und ihrer Rezeption in Deutschland, wo sie 1741 zusammen mit einer Übersetzung von Tindals Buch erschien, vgl. neben Bultmanns Aufsatz knapp: Christopher Voigt, Der englische Deismus in Deutschland. Eine Studie zur Rezeption englisch-deistischer Literatur in deutschen Zeitschriften und Kompendien des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2003, S. 100–106. 444 Bei einem Blick in die genannte Predigt zeigt sich allerdings, dass Hagedorn ihre Grundgedanken nicht ohne weiteres in seine eigenen Reflexionen über die Freundschaft hätte integrieren können: Denn Foster hält Shaftesbury entgegen, dass die besondere, persönliche Freundschaft nur dann etwas Gutes sei, wenn sie mit der allgemeinen Menschenliebe verbunden ist oder aus ihr entspringt, ansonsten aber auch sehr unvernünftige und schädliche Gestalten annehmen könne. (Vgl. Jacob Foster, Heilige Reden über Wichtige Glaubens- und Lebens-Lehren. Nebst einer Vorrede Georg Heinrich Ribows. Aus dem Englischen ins HochTeutsche übersetzet von August Titteln. Göttingen/Jena 1739, die betreffende Predigt auf S. 41–63, hierzu v. a. S. 52 f.) Wenngleich Hagedorns Gedicht mit Fosters Predigt darin übereinstimmt, dass Freundschaft sich auf die Tugendhaftigkeit, nicht bloß die Ähnlichkeit stützen solle, werden die Akzente in ihnen doch sehr unterschiedlich gesetzt: Bei Hagedorn liegt das Hauptgewicht auf dem Lob der Freundschaft, bei Foster auf einer Warnung vor einer vorbehaltlosen Bejahung und schwärmerischen Verklärung der persönlichen Freundschaft.

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Ähnlichkeiten mit dieser Anmerkung zu Shaftesbury und Foster besitzt die in demselben Gedicht (Die Freundschaft) direkt auf sie folgende Note. Am Ende eines Verses, in dem von „[d]er Herzen Einigkeit, die sich auf Wahrheit gründet“, die Rede ist, steht ein Verweis auf eine Anmerkung, in der Hagedorn die von William Wollaston in The Nature of Religion Delineat’d formulierte Definition der moralischen Tugend wiedergibt: Wollaston habe „sehr sinnreich die moralische Tugend durch SIGNIFICANCY of Truth in Actions, oder eine Bedeutlichkeit der Wahrheit in den Handlungen“ erläutert (S. 79 f., Anm. 25). Hagedorn gibt ferner an, welche Übersetzung der Abhandlung Wollastons er hier zugrunde legt, und erwähnt zudem, dass Hutcheson in dieser Definition Wollastons „eine nicht geringe Zweydeutigkeit finden will“; auch diese Information versieht er mit einer Quellenangabe (S. 80, Anm. 25). Hagedorn verweist hier also wiederum am Ende der Note auf eine kritische Stellungnahme zur Position eines Autors, die er zunächst zustimmend zu referieren scheint. Anders als im Falle der Kritik Fosters an Shaftesbury beschränkt Hagedorn sich hier darauf, die Kritik Hutchesons an Wollaston zu erwähnen, ohne eine der zwei Positionen als ‚irrig‘ zu bewerten. Offenbar betrachtete er Hutchesons Kritik als erwägenswert, die kritisierte Tugendkonzeption Wollastons deswegen aber noch nicht als abwegig; immerhin legt die Note in Verbindung mit dem Gedichttext nahe, dass Hagedorns Auffassung von Freundschaft dieser Konzeption Wollastons nahestehe. Auch in dieser Anmerkung eröffnet Hagedorn mithin den Blick auf eine Diskussion um moralphilosophische Fragen, die kritischen, aber nicht polemischen Charakter hat, und auch hier liegt die Vermutung nahe, dass er diese Auseinandersetzung als solche für wertvoll ansah.445 Ein Teil der Anmerkungen zu Hagedorns Lehrgedichten bietet also Informationen, die zum Verständnis der Gedichtverse hilfreich sind; andere Anmerkungen dienen der unterhaltsamen Abwechslung; wieder andere konfrontieren unterschiedliche Ansichten zu bestimmten Fragen miteinander und integrieren so Beispiele einer aufklärerischen Diskussions- und Streitkultur in die Gedichte. Es ist mithin kaum möglich, Hagedorns Anmerkungen auf eine bestimmte Funktion festzulegen. Doch unter den Rechtfertigungen, die er selbst in seinen apologetischen Vorreden anführt, verdient eine besondere Beachtung, da sie auf besonders viele und unterschiedliche Anmerkungen anwendbar ist: In der längeren Vorrede, die Hagedorn für die zweite Auflage der Moralische[n]

445 Vgl. zu den Hinweisen auf Wollaston und Hutcheson in der Anmerkung und zu der Frage, wie sie sich in Hagedorns Reflexionen über Freundschaft einfügen: Martus, Friedrich von Hagedorn, S. 185–187. Wie Martus überzeugend darlegt, ist es fraglich, ob Hagedorn „die Tragweite der Differenzen zwischen den Positionen [scil. Wollastons und Hutchesons; O.K.] deutlich ist.“ (Ebd., S. 187, Anm. 60)

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Gedichte verfasste, erwähnt er gleich an zwei Stellen seine seit vielen Jahren gepflegte Gewohnheit, sich beim Lesen Notizen zu machen, diese zu sammeln und um eigene Gedanken zu ergänzen.446 Hagedorn betont, dass er diese „kleinen Nachrichten“ nur für sich selbst aufgeschrieben habe, dass sie zunächst keinem besonderen Zweck, auch nicht der Stoffsammlung für eigene Werke dienten und dass die Sammlung dieser Notizen auf ungeplante Weise und wie von selbst gewachsen sei: „Aus diesen kleinen Nachrichten, die ich sehr unvollständig und nur für mich selbst entwerfe, ist folgends der kleine Commentarius, ich weiß kaum wie, erwachsen.“447 Später bediente er sich beim Verfassen seiner Gedichte dieses Reservoirs an Exzerpten und eigenen Gedanken,448 und schließlich habe ihn „das Anrathen erfahrner Freunde“ veranlasst, die kleinen ‚Nachrichten‘ „nicht zu unterdrucken, und ohne Bedenken unter [s]eine Gedichte zu setzen.“449 Damit präsentiert Hagedorn seine Anmerkungen als einen organisch gewachsenen Niederschlag seiner Lektüren und der von den Lektüren angeregten Reflexionen. Hält man sich an diese von Hagedorn selbst angebotene Lesart der Anmerkungen, so dienen sie also einem ähnlichen Zweck wie die von den Sprechern einiger Lehrgedichte entfalteten Überlegungen, nämlich der Selbstaussprache: Hagedorn deutet durch die Hinweise zur Genese der Anmerkungen an, dass er in diesen Anmerkungen etwas von sich selbst und seiner Leserbiographie mitteile, wie der Sprecher im Schreiben an einen Freund eingangs erklärt, er wolle dem Adressaten mitteilen, „was [s]eine Seele liebt“. Eine solche Deutung der Anmerkungen ließe sich nun kaum plausibel umsetzen, wenn diese ausschließlich unpersönliche Informationen, etwa Quellenangaben zu Aussagen des Gedichts, enthielten. Da die Noten aber auch längere Digressionen vielfältiger Art bieten, darunter amüsante Episoden und Hinweise auf philosophische Debatten, können sie als ein Medium der indirekten Selbstaussprache – und Selbstdarstellung – Hagedorns aufgefasst werden. 2.3 Resümee Hagedorns Lehrgedichte konzentrieren sich ähnlich wie mehrere Lehrgedichte Hallers auf ethische Themen, vermeiden aber im Gegensatz zu diesen theologisch-metaphysische Fragen wie das Theodizee-Problem. Eine Ähnlichkeit ergibt

446 Vgl. Hagedorn, „Schreiben an einen Freund“, in: Moralische Gedichte (2. Aufl. 1753), S. XXII f., XXVI f. 447 Ebd., S. XXVI f. 448 Vgl. ebd., S. XXIII, XXVII. 449 Ebd., S. XXVII.

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sich wiederum daraus, dass auch Hagedorns Lehrgedichte nicht scharf von anderen Gattungen abgegrenzt sind: Einige der von ihm unter dem Titel Moralische Gedichte versammelten Texte erscheinen als Mischformen zwischen Lehrgedicht und Satire oder Lehrgedicht und Ode. Wie bei Haller, so gibt es auch bei Hagedorn keine Indizien dafür, dass es ihm um die Pflege und Propagierung des Lehrgedichts im Allgemeinen als einer Gattung, die auch Gedichte zu naturwissenschaftlichen oder technischen Gegenständen umfasst, zu tun gewesen wäre. Dass er seine Lehrgedichte zusammen mit Grenzfällen dieser Gattung als ‚moralische Gedichte‘ begriff und publizierte, fügt sich in diesen Befund ein. Hinsichtlich der formalen und strukturellen Gestaltung unterscheiden sich Hagedorns ethische Lehrgedichte in beträchtlichem Maße von denen Hallers; diese Differenzen lassen sich großenteils auf Unterschiede zwischen ihren ethischen und anthropologischen Grundannahmen zurückführen. So zeigen sich Hagedorns Gedichte in der Gestaltung der Sprecherfiguren, aber auch in der Integration von Beispielen, als geprägt von der Annahme, dass die Motivation moralischen Handelns teils auf vernünftiger Einsicht, teils auf einem ‚Geschmack‘ an der Tugend beruht. Ferner bekennen sich einige seiner Gedichte in programmatischen Passagen zum Modell des Dichters als eines freundschaftlichen Ratgebers, also zu einem vor allem durch die Episteln des Horaz repräsentierten Modell, an dem sich auch die Versepisteln Popes orientieren. Allerdings setzen Hagedorns Lehrgedichte dieses Modell weit weniger konsequent um als die Ethic Epistles Popes. Stattdessen scheinen sie in mehreren Hinsichten eher dem Muster von Montaignes Essays verpflichtet zu sein, insofern sie sich als zwanglos-nachlässige Selbstaussprache eines Ich präsentieren. Dabei fordert Hagedorn in seinen Vorreden ausdrücklich dazu auf, die umfangreichen Anmerkungen auch als vermittelte Selbstdarstellung des Autors – und nicht nur eines fiktiven Gedichtsprechers – zu deuten. Siegrist hat das Selbstverständnis der deutschen Lehrdichter der Aufklärung wie folgt beschrieben: Dem Philosophen obliegt die Sicherung der Wahrheiten, dem Dichter deren ansprechende und nachdrückliche Gestaltung. [. . .] Deren Neuheit bzw. Bekanntheit spielt dabei zunächst keine Rolle: das aufklärerische Lehrgedicht ist zutiefst eklektisch; da es von seiner Funktion her bestimmt wird, die Vermittlung seine Hauptaufgabe darstellt, sind es gerade die bewährten und bewahrheiteten Lehren, deren es sich annimmt.450

Siegrist zufolge liegt dieser „Typus des aufklärerischen Lehrgedichtes“ schon mit der zweiten Auflage von Hallers Gedichtsammlung im Wesentlichen fertig ausgebildet vor.451 Doch diese Deutung erscheint mit Bezug auf Hallers wie auf

450 Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 54. 451 Ebd., S. 245.

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Hagedorns Lehrgedichte als fragwürdig. Keines ihrer hier untersuchten Lehrgedichte präsentiert sich als ein Text, in dem die von Philosophen oder Wissenschaftlern ‚gesicherten‘ Theorien nur noch zwecks weiterer Verbreitung ‚ansprechend und nachdrücklich gestaltet‘ werden sollen, und für keines der Gedichte lässt sich zeigen, dass es – ohne das explizit zu machen – faktisch eine solche Wiedergabe ‚fertiger‘ Theorien liefert. Zwar ziehen sowohl Haller als auch Hagedorn in ihren philosophischen Lehrgedichten zahlreiche Konzepte und Theoreme der zeitgenössischen Philosophie und Wissenschaft heran, doch sie integrieren dieselben in Gedankengänge, die aufgrund ihrer Großstruktur oder aufgrund einzelner Elemente als in hohem Maße eigenständig gelten müssen. Die moralphilosophischen und theologischen Fragen, denen sich die Gedichte widmen, wurden in der Aufklärungsphilosophie kontrovers diskutiert, und Haller und Hagedorn nutzen die Gedichte dementsprechend häufig zu dem Zweck, innerhalb des von diesen Debatten aufgespannten Raums eine Position zu beziehen oder unter Rekurs auf verschiedene Theorien eine selbstständige Antwort auf die erörterten Fragen zu bilden. Dass die Gedichte einen ‚eklektischen‘ Charakter haben, lässt sich daher vielfach bestätigen; nicht aber, dass sie sich gerade der „bewährten und bewahrheiteten Lehren“ annehmen. Von fachwissenschaftlichen Lehrgedichten wie Magnus Gottfried Lichtwers Das Recht der Vernunft (1758) oder Gottfried Ephraim Scheibels Die Witterungen (1752) unterscheiden sich die hier behandelten Gedichte daher nicht nur durch ihren erheblich schmaleren Umfang. Lichtwer erklärt in der Vorrede zu dem Gedicht ausdrücklich, dass er die „die wichtigsten Wahrheiten des Rechts der Natur und der Sittenlehre“ vortragen und sich dabei „nach den Begriffen“ Christian Wolffs richten will: Ich habe mich unterfangen, die wichtigsten Wahrheiten des Rechts der Natur und der Sittenlehre in der Sprache der Dichter vorzutragen. [. . .] Erhabnere und nützlichere Gegenstände kann der Poet niemals wählen; zumal, nachdem sie durch die unwiderleglichen Grundsätze der scharfsinnigsten Weltweisen in ihr völliges Licht gesetzt sind. Die Hauptlehren des natürlichen Rechtes habe ich nach den Begriffen des Freyherrn von Wolf vorzustellen mich bemühet.452

Vergleichbare Absichtsbekundungen finden sich, wie erwähnt, bei Haller und Hagedorn nicht, und es gibt keinen erkennbaren Grund dafür, ihren Gedichten dennoch eine solche Zielsetzung zuzuschreiben.

452 M[agnus] G[ottfried] Lichtwer, Das Recht der Vernunft, in fünf Büchern, Leipzig 1758, „Vorrede“ (unpag.).

3 Voltaire: Deistische Frömmigkeit und Verteidigung des Menschen

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Neben der Frage nach der intendierten Art der Belehrung oder Wissensvermittlung sind für diese Untersuchung auch die Fragen nach spezifischen textuellen Verfahren sowie nach den für die Textstrukturen maßgeblichen Kontexten leitend. So hat dieses Kapitel im Anschluss an die vorliegende Forschung die für Hallers und Hagedorns Lehrgedichte kennzeichnenden Strukturen und Verfahren präziser zu bestimmen gesucht, also etwa den bereits häufiger konstatierten ‚fragenden‘ oder ‚grüblerischen‘ Charakter der Haller’schen Gedichte und den ebenfalls bereits vermerkten ‚Plauderton‘ der Lehrgedichte Hagedorns differenzierter beschrieben. Zudem sollten die Analysen die Vermutung plausibel machen, dass diese charakteristischen Textstrukturen im wesentlichen Maße durch moralphilosophische und anthropologische Grundannahmen Hallers wie Hagedorns bedingt sind – womit auch gesagt sein soll, dass sie nicht auf Vorgaben der zeitgenössischen Dichtungstheorie zurückzuführen sind. Auf die Behandlung des Lehrgedichts in der deutschsprachigen Dichtungstheorie des frühen 18. Jahrhunderts wird weiter unten zurückzukommen sein.

3 Voltaire: Deistische Frömmigkeit und Verteidigung des Menschen 3.1 Versepistel und philosophisches Lehrgedicht bei Voltaire In einem Aufsatz über Voltaires Gedicht Le Mondain schreibt Nicholas Cronk: The French Enlightenment is essentially argued in prose, and it is often suggested that true philosophical poetry revives only at the end of the century with Romanticism. Certainly Voltaire is alone among the major philosophes in his desire to create an Enlightenment discourse in verse [. . .].453

Die letztere Behauptung dürfte, wenn man den Kreis der „major philosophes“ nicht sehr eng ziehen will, mit einer kleinen Einschränkung zu versehen sein. Immerhin verfasste Helvétius ein umfangreiches philosophisches Gedicht mit dem Titel Le Bonheur (1772) und Jean-François Saint-Lambert, der im 18. Jahrhundert einige Bekanntheit als aufklärerischer Schriftsteller genoss, ein ähnlich ausgedehntes deskriptiv-philosophisches und zeitgenössisch sehr erfolgreiches Gedicht mit dem Titel Les Saisons (1769).454 Sie erschienen allerdings um einiges 453 Nicholas Cronk, „The epicurean spirit: champagne and the defence of poetry in Voltaire’s Le Mondain“, in: Studies on Voltaire and the eighteenth century, 371/1999, S. 53–80, Zitat S. 60. 454 Vgl. zu diesen Gedichten: Guitton, Jacques Delille (1738–1813) et le poème de la nature en France de 1750 à 1820, S. 201–211, 221–232.

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später als die bedeutenden philosophischen Gedichte Voltaires, und zumindest das Gedicht von Helvétius wurde offensichtlich nicht zuletzt durch das Vorbild Voltaires angeregt, der zudem während der langjährigen Entstehung als Ratgeber fungierte.455 Dem Kern der Aussage Cronks ist mithin unbedingt zuzustimmen: Kein anderer der französischen philosophes bediente sich so häufig und über einen so langen Zeitraum hinweg wie Voltaire der Form des Gedichts, um philosophische Gedanken zu präsentieren. Will man diese Besonderheit Voltaires besser verstehen oder zumindest historisch einordnen, so gilt es zunächst, den Gattungscharakter seiner einschlägigen Gedichte näher zu bestimmen. Cronk spricht in der zitierten Passage und an anderen Stellen desselben Aufsatzes von „philosophical poetry“ oder „philosophical poem“ und vermeidet die Rede von didaktischen Gedichten. Dasselbe gilt für andere Forscher und auch für Voltaire selbst. Das Attribut „didactique“ wird in der Forschung allerdings, wie auch gelegentlich bei Voltaire, zur Bezeichnung bestimmter Texteigenschaften verwendet, und zwar eindeutig negativer Eigenschaften.456 Es dürfte daher auch die pejorative Besetzung der Ausdrücke „didactique“ und „poème didactique“ sein, die viele Forscher – aber nicht alle – davon abhält, sie für Voltaires philosophische Gedichte zu verwenden. Doch wenn der Ausdruck ‚Lehrgedicht‘ in dem für diese Untersuchung leitenden Sinne, also ohne abwertende Bedeutung, gebraucht wird, so sind zumindest zwei Gedichte Voltaires relativ eindeutig als Lehrgedichte einzuordnen, nämlich die Discours en vers sur l’homme und das Poème sur la loi naturelle. Einige weitere Gedichte lassen sich als Grenzfälle oder Mischformen beschreiben. Eine Gattungstradition, die für Voltaires Praxis des Lehrgedichts besonders wichtig ist, ist die der Versepistel, wie sie besonders prominent von Horaz und Boileau repräsentiert wurde; beide Autoren, insbesondere Horaz, zählten zu den erklärten dichterischen Vorbildern Voltaires.457 Eines seiner frühesten Gedichte mit dezidiert philosophischem Inhalt ist die berühmt-berüchtigte Épître à Uranie (1722), die unter anderem Albrecht von Haller zu einer kritischen Entgegnung provozierte.458 Die Discours en vers sur l’homme und das

455 Vgl. ebd., S. 202–204. 456 Vgl. etwa Menant, La Chute d’Icare, S. 347, wo es über den ersten von Voltaires Discours en vers sur l’homme heißt: „Tant que les vers se contentent de présenter un discours arrangé d’avance, ils se traînent dans la médiocrité didactique [. . .].“ 457 Zu Horaz und Boileau als Vorbildern Voltaires vgl. Wade, The Intellectual Development of Voltaire, S. 23–32, 34–37. 458 Vgl. Voltaire, Épître à Uranie. Critical edition by H. T. Mason. In: OCV 1B, S. 463–502. Für Hallers Reaktion vgl. Albrecht von Haller, „Ueber die bekannte Lettre à Uranie“ [1733], in: Haller/Hirzel, S. 372–374.

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Poème sur la loi naturelle beziehen sich ebenfalls auf die Tradition der Epistel; sie sind jeweils aus mehreren – sieben beziehungsweise vier – einzelnen Gedichten oder Teilen zusammengesetzt, die jeweils etwa den Umfang einer Epistel haben und die zudem eine ähnliche interne Kommunikationssituation aufweisen wie Episteln. Mit dieser Art der Komposition dürfte Voltaire sich am Muster von Popes Essay on Man orientiert haben, der von ihm früh rezipiert wurde und ihm über Jahrzehnte hinweg immer wieder als Referenzpunkt für seine philosophischen Reflexionen wie für die formale Gestaltung seiner Gedichte diente.459 Für einige Gedichte Voltaires, die als philosophische Lehrgedichte eingeordnet werden können oder zumindest an der Grenze dieser Gattung liegen, sind aber auch andere Traditionen als die Epistel wichtig: Das Gedicht Le Mondain verweist auf die Praxis der poésie fugitive, wie sie sich im Frankreich des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts herausgebildet hatte, während sich im späteren Poème sur le désastre de Lisbonne Strukturen des Trauergedichts mit solchen des philosophischen Lehrgedichts überlagern. Das folgende Kapitel analysiert eingehender die zwei Gedichte Voltaires, die besonders deutlich Züge des Lehrgedichts tragen, also die Discours en vers sur l’homme und das Poème sur la loi naturelle. Um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass in Voltaires Œuvre – wie auch bei Haller – die Lehrgedichte nicht scharf von anderen Gattungen geschieden sind, sollen auch Le Mondain und das Gedicht über das Erdbeben von Lissabon knapp untersucht werden. Die Analysen konzentrieren sich, wie es den Leitfragen der Studie entspricht, zum einen auf die Art der Wissensvermittlung, für die Voltaire die Lehrgedichte nutzt, zum anderen auf die Formen und Verfahren, deren er sich dabei bedient. Dabei soll hier vor allem die Vielfalt der Redeweisen oder Tonlagen sowie der Sprecherrollen herausgestellt werden, die das Korpus der Voltaire’schen Lehrgedichte bietet. Indem das Kapitel die Gedichte in der Reihenfolge ihrer Publikation behandelt, kann es auch ansatzweise eine Entwicklung in Voltaires Umgang mit der Form des Lehrgedichts skizzieren.

459 Zu Voltaires Verhältnis zu Pope und insbesondere seiner Rezeption des Essay on Man vgl. Zanconato, La dispute du fatalisme, S. 423–497 (Kap. VI: „Voltaire et Pope“); George R. Havens, „Voltaire and Alexander Pope“, in: John Pappas (Hrsg.), Essays on Diderot and the Enlightenment in Honor of Otis Fellows, Genf 1974, S. 124–150; Ahmad Gunny, „Pope’s satirical impact on Voltaire“, in: Revue de littérature comparée, 49/1975, 1, S. 92–102. Zu Voltaires Randnotizen in einer Ausgabe des Essay on Man: George R. Havens, „Voltaire’s marginal comments upon Pope’s Essay on Man“, in: MLN, 43/1928, 7, S. 429–439. Zu den Deutungsproblemen, die diese Randnotizen aufwerfen: Nicholas Cronk, „Sur la difficulté de lire les marginalia de Voltaire: l’exemple de Pope“, in: Revue Voltaire, 10/2010, S. 179–190.

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3.2 Le Mondain und Défense du Mondain Das Gedicht Le Mondain entstand im September 1736 während Voltaires Aufenthalt in Cirey460 und damit in einer Zeit, in der er sich intensiv mit Popes Essay on Man befasste. In der Forschung hat man daher die Vermutung geäußert, dass Popes Gedicht nicht nur für die in derselben Zeit begonnenen Discours en vers sur l’homme, sondern auch für Le Mondain als Anregung gedient haben könnte.461 Le Mondain war von Voltaire nicht für die Publikation vorgesehen; er schickte das Gedicht an einen Freund in Paris, der es in einem Kreis ausgewählter weiterer Freunde zirkulieren lassen sollte. Ein unglücklicher Zufall – der Tod eines dieser Freunde – sowie die Missgunst einiger Personen, denen das Manuskript in die Hände fiel, sorgten dafür, dass das Gedicht weitere Verbreitung fand. Es löste einen Skandal aus, der Voltaire zur Flucht nach Holland veranlasste, wo er Ende 1736 oder Anfang 1737 das Gedicht Défense du Mondain schrieb. Le Mondain ist in generischer Hinsicht ein Grenzfall, wie Voltaire in einigen der ersten Ausgaben selbst in einer Anmerkung zu Beginn des Gedichts andeutete: „Cette pièce est de 1736. C’est un badinage, dont le fonds est très-philosophique et très-utile; son utilité se trouve expliquée dans la pièce suivante.“462 Die Ausdrücke ‚badinage‘ und ‚pièce badine‘ wurden im frühen 18. Jahrhundert für Texte der poésie fugitive verwendet.463 Für die poésie fugitive insgesamt war zwar ein philosophischer Gehalt nicht typisch, doch es gab seit dem 17. Jahrhundert einen Strang innerhalb dieser Dichtungstradition, für den philosophische oder politische Inhalte in Verbindung mit einer autoritätskritischen, subversiven Tendenz kennzeichnend waren.464 Ob Voltaire an diese Strömung innerhalb der poésie fugitive anknüpfen wollte, ist schwer auszumachen. Die philosophischen Züge von Le Mondain mögen auch, wie man vorgeschlagen hat, auf die Anregung durch Popes

460 Das Gedicht wird zitiert nach folgender Ausgabe: Voltaire, Le Mondain. Critical edition by H. T. Mason. In: OCV 16, Oxford 2003, S. 269–313; der Text von Le Mondain befindet sich ebd., S. 295–303, der von Défense du Mondain ebd., S. 304–309. Zur Entstehung der Gedichte vgl. H. T. Mason, „Introduction [to: Voltaire, Le Mondain]“, in: ebd., S. 273–294, hier S. 273–278, 281 f. 461 Vgl. Cronk, „The epicurean spirit“, S. 60 f. Cronk betrachtet den Einfluss von Popes Essay sogar als offensichtlich: „The Discours en vers sur l’homme quite obviously show the influence of Pope’s poem [scil. An Essay on Man; O.K.], but so too does Le Mondain.“ (Ebd., S. 61) 462 Voltaire, Le Mondain, S. 295. 463 Vgl. Nicole Masson, La poésie fugitive au XVIIIe siècle, Paris 2002, S. 17 f. 464 Vgl. ebd., S. 175–185 (Kapitel „Subversion et censure: Des pamphlets en vers“).

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Essay on Man zurückzuführen sein.465 Zugleich ist Voltaires Gedicht durch eine komplexe Bezugnahme auf Traditionen der Satire bestimmt.466 Angesichts des Inhalts von Le Mondain liegt es auf der Hand, weshalb Voltaire den Text eigentlich nicht drucken lassen wollte. Das 128 Verse umfassende, in gereimten Zehnsilblern467 abgefasste Gedicht feiert in hymnischen Tönen das Leben eines „honnête homme“ (12, 63) im zeitgenössischen Paris, ein Leben, das sich in elegant eingerichteten Salons voller erlesener Luxusgegenstände abspielt und das dem Genuss von Kunstwerken, Liebesaffären und raffinierten Soupers gewidmet ist. Dieses Leben, so erklärt der Sprecher, zieht er sowohl dem goldenen Zeitalter als auch dem Leben Adams und Evas im Garten Eden vor (vgl. 1–4), und er begründet diese Präferenz, indem er darlegt, wie hässlich und unangenehm das Dasein im Garten Eden aufgrund des Fehlens aller Errungenschaften der Zivilisation gewesen sein muss. Adam und Eva selbst müssen dem Sprecher zufolge ein sehr unansehnliches Äußeres gehabt haben, da sie sich weder die Haare noch die Fingernägel schneiden konnten, und so sei auch die körperliche Liebe zwischen ihnen kein Vergnügen, sondern nur die Stillung eines animalischen Bedürfnisses gewesen. Das so oft verteufelte ‚Eiserne Zeitalter‘ hingegen, in dem er selbst lebt, ist ganz nach dem Geschmack des Sprechers und lässt keinen seiner Wünsche unbefriedigt. Gelehrte Theologen wie Huet und Calmet, so die Schlussverse des Gedichts, hätten sich ihre Suche nach dem Ort des Paradieses sparen können: „Le Paradis terrestre est où je suis.“ (128) Oder, wie es in der ersten Fassung noch hieß: „Le Paradis terrestre est à Paris.“ In dem ebenfalls 128 Verse umfassenden Folgegedicht Défense du Mondain berichtet der Sprecher, dass er vor kurzem bei einem Abendessen neben einem Geistlichen habe sitzen müssen. Dieser habe ihm erklärt, er – der Sprecher – werde zweifellos einmal in der Hölle schmoren, und zwar wegen des Gedichts, in dem er lästerliche Dinge über Adam und Eva gesagt und den Luxus gepriesen habe. Der Sprecher weist den Geistlichen darauf hin, dass dieser gerade edlen Wein und Kaffee aus kostbaren Gefäßen zu sich nehme, klärt ihn über die Herkunft dieser Dinge auf und entwickelt aus diesen Erläuterungen das

465 Vgl. Cronk, „The epicurean spirit“, S. 60, 62. Cronk betrachtet den Essay on Man hier als ‚philosophisches Gedicht‘, vermeidet also die Rede vom didaktischen Gedicht oder Lehrgedicht. 466 Vgl. Ulrich Schulz-Buschhaus, „Voltaires Mondain oder die Satire der Satire“, in: Sebastian Neumeister (Hrsg.), Frühaufklärung, München 1994, S. 425–467. 467 Zum Status des Zehnsilblers in der französischen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts und zu Voltaires möglichen Motiven für die Wahl dieses Metrums vgl. Cronk, „The epicurean spirit“, S. 62–64.

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Argument, dass der Luxus für das wirtschaftliche Gedeihen großer Staaten wertvoll und sogar unverzichtbar sei. Er lobt Colbert dafür, dass er diese Zusammenhänge begriffen und die französische Wirtschaft entsprechend eingerichtet habe, und stellt schließlich König Salomon, der höchste Weisheit mit dem aufwändigsten Luxus verbunden habe, als einen vorbildlichen Herrscher dar. Der Geistliche, so der Sprecher abschließend, habe seinen Ausführungen kaum widersprochen, aber viel gelacht und viel getrunken, und alle anderen Anwesenden hätten sich von seinem „discours“ gut unterhalten gefühlt. Le Mondain und Défense du Mondain bieten ebenso explizite wie provozierende Stellungnahmen zu einer der großen Kontroversen in der Ethik und politischen Philosophie des 18. Jahrhunderts, der Debatte um den Luxus.468 Diese Diskussion ist denn auch seit der grundlegenden Studie von André Morize469 der Kontext gewesen, in dem die Gedichte vorzugsweise situiert wurden. Die Kritik des Luxus, die im Frankreich des frühen 18. Jahrhunderts die größte Wirkung entfaltete, war die von Fénelon in seinem Roman Les aventures de Télémaque (1699) entwickelte. Die prominentesten Verteidigungen des Luxus stammten von Mandeville, dessen Fable of the Bees zwar erst 1740 ins Französische übersetzt wurde, aber bereits in den 1720ern in Journalen ausführlich besprochen wurde,470 von Montesquieu sowie von Jean-François Melon, der 1734 seinen Essai politique sur le commerce veröffentlichte.471 Der Sprecher in Voltaires Le Mondain bekennt sich gleich zu Beginn des Gedichts vorbehaltlos zur Liebe des Luxus: „J’aime le luxe, et même la mollesse“ (9). Eigentliche Argumentationen zur Verteidigung des Luxus oder zur Widerlegung der Luxuskritiker präsentiert der Sprecher kaum. Er verweist darauf, dass die Luxusbedürfnisse einen lebhaften Handelsverkehr in Gang halten, der zu Austausch und Kommunikation zwischen den Bewohnern verschiedener Erdteile führe (vgl. 22–29). Anstatt allerdings die angedeuteten Gedanken über die nützlichen Wirkungen des Luxus weiter auszuführen, fasst er seine Überzeugung zu einem geschliffenen Paradoxon zusammen, indem er von „[l]e superflu, chose très nécessaire“ spricht (22). Der Gegensatz zwischen notwendigen und überflüssigen Dingen war ein Kernelement in der traditionellen 468 Zu dieser Debatte vgl. István Hont, „The early Enlightenment debate on commerce and luxury“, in: Mark Goldie/Robert Wokler (Hrsg.), The Cambridge History of Eighteenth-Century Political Thought, Cambridge 2006, S. 379–418. 469 Vgl. André Morize, L’apologie du luxe au XVIIIe siècle et ‚Le Mondain‘ de Voltaire, Genf 1970 [zuerst Paris 1909]. 470 Vgl., mit detaillierten Nachweisen und kurzen Inhaltsangaben: Morize, L’apologie du luxe, S. 78–80. 471 Vgl. [Jean François Melon], Essai politique sur le commerce, [o.O.] 1734. Zu Melon vgl. Hont, „The early Enlightenment debate on commerce and luxury“, S. 409–412; Morize, L’apologie du luxe, S. 111–129.

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Kritik am Luxus und auch bei Fénelon; Voltaires Sprecher greift diese gängige Opposition auf und subvertiert sie zugleich. Auch wenn Voltaire die These von der Notwendigkeit des Überflüssigen kaum argumentativ entfaltet, ist unzweideutig klar, auf welche Seite er sich in der Kontroverse schlägt. Am Ende des Gedichts benennt er schließlich auch noch – wenn auch periphrastisch – die Person, deren Auffassungen er kritisieren will, nämlich eben Fénelon: Or, maintenant, Monsieur du Télémaque, Vantez-nous bien votre petite Itaque, Votre Salente et ces murs malheureux Où vos Crétois, tristement vertueux, Pauvres d’effet et riches d’abstinence Manquent de tout pour avoir l’abondance : J’admire fort votre stile flatteur Et votre prose, encor qu’un peu traînante ; Mais, mon Ami, je consens de grand cœur D’être fessé dans vos murs de Salente Si je vais là pour chercher mon bonheur.

[112–122]

Salentum ist eine Stadt, die Mentor in Fénelons Télémaque zu einer vorbildlichen Stadt reformiert, und diese Reformen schließen ein rigoroses Verbot von Luxusgütern ein. Obwohl die Referenzen auf die Luxusdebatte in Le Mondain somit deutlich markiert sind und die Positionierung auf der Seite der Luxusverteidiger eindeutig ist, findet sich in dem Gedicht kaum eine eingehendere Auseinandersetzung mit den spezielleren Thesen und den Argumenten, die in der Debatte vorgebracht worden waren. Unter anderem aus diesem Grund hat Cronk dafür plädiert, Le Mondain nicht ausschließlich im Kontext der Luxuskontroverse zu lesen und die inhaltlichen wie formalen Differenzen zwischen diesem Gedicht und der Défense du Mondain nicht zu übersehen.472 Die Défense beziehe sich weit ausführlicher und ausschließlicher auf die Luxusdebatte, sei aber als eine hastig geschriebene Apologie auch weniger komplex und formal ausgereift als das erste Gedicht.473 Für Le Mondain aber könnte, so Cronk, eine weitere Debatte als Kontext ähnlich wichtig wie die Luxusdiskussion sein, nämlich die dichtungstheoretische Diskussion um Legitimität und Wert des Verses, die in Frankreich in den ersten Dekaden des 18. Jahrhunderts mit großer Intensität geführt wurde.474 Das stärkste

472 Vgl. Cronk, „The epicurean spirit“, v. a. S. 55–58. 473 Vgl. ebd., S. 58. 474 Vgl. ebd., S. 69–71; Menant, La Chute d’Icare; Roger Mercier, „La querelle de la poésie au début du XVIIIe siècle“, in: Revue des sciences humaines, 133/1969, S. 19–46. Zum Folgenden vgl. Cronk, „The epicurean spirit“, v. a. S. 69–76.

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II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte

Argument für die Relevanz dieser Diskussion ist dasjenige, das sich auf die oben zitierte Apostrophe an Fénelon stützt, der dort als „Monsieur du Télémaque“ angesprochen wird und ein ironisch qualifiziertes ‚Lob‘ für seinen „stile flatteur“ und seine „prose“ erhält. Fénelon nahm in der ‚querelle des vers‘ eine ungewöhnliche Position ein: Er war grundsätzlich auf der Seite der ‚Alten‘, während die Verskritiker zur Partei der ‚Modernen‘ gehörten, und bestritt nicht prinzipiell die Legitimität des Verses; aber in seinen Augen mussten Dichtungen in französischer Sprache, die den strengen Regeln der französischen Versifikation folgten, fast zwangsläufig einen Mangel an Klarheit in Kauf nehmen. Fénelon und sein berühmter Roman waren aber auch deshalb für den Streit um Vers und Prosa wichtig, weil Les aventures du Télémaque von Kritikern des Verses als Beweis dafür angeführt wurde, dass die wesentlichen Qualitäten der Verssprache auch in Prosa realisiert werden konnten. Voltaire exponierte sich in mehreren Texten der 1730er Jahre als einer der entschiedensten Fürsprecher des Verses. Wenn er dann in einem Gedicht von 1736 Fénelon ein ironisches Kompliment für seine – wiewohl ‚etwas schwerfällige‘ – Prosa machte, so dürfte diese Bemerkung von vielen zeitgenössischen Lesern auch als Anspielung auf die ‚querelle des vers‘ verstanden worden sein. Wenn die Verbindung zu diesem Kontext einmal etabliert ist, so liegt es nahe, das gesamte Gedicht auch als eine Stellungnahme zu dieser Debatte aufzufassen: Dass Voltaire ein Bekenntnis zum Luxus und eine Polemik gegen die Verehrer von Mythen des Goldenen Zeitalters in Verse kleidete, könnte auch dazu gedient haben, die Leistungsfähigkeit der Poesie unter Beweis zu stellen. Während bei Le Mondain somit vermutet werden kann, dass das Gedicht Referenzen auf zwei ganz unterschiedliche Kontroversen der ersten Jahrhunderthälfte enthält und sie in der Anrede an Fénelon verschränkt, stellt sich die Défense, wie auch Cronk notiert hat, eindeutig und so gut wie ausschließlich in den Zusammenhang der Luxusdebatte. Doch die Gedichte unterscheiden sich nicht nur dadurch, dass die Défense stärker auf einen einzelnen Kontext ausgerichtet ist und der expliziten Erörterung des Luxusthemas weit mehr Raum gibt. Der Gedankengang der Défense schließt weit weniger konsistent an den von Le Mondain an, als es der Titel vermuten lässt.475 Zunächst ist festzuhalten, dass

475 In der Forschung ist der Grad an Konvergenz oder Divergenz zwischen den zwei Gedichten unterschiedlich beurteilt worden. Wade betont vor allem die Differenz zwischen Le Mondain, das für ihn in erster Linie ein freimütiger Ausdruck der Freude am eleganten Leben ist, und der Défense, in der Voltaire angesichts der heftigen Reaktionen auf sein Gedicht eine ökonomisch argumentierende Rechtfertigung nachgeliefert habe, von deren Inhalt das erste Gedicht noch kaum etwas ahnen lasse. Vgl. Wade, The Intellectual Development of Voltaire, S. 355–357. Ich stimme dieser Deutung im Wesentlichen zu und suche sie im Folgenden noch

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die Défense ohnehin nur einen Teil dessen zu verteidigen unternimmt, was an dem ersten Gedicht als skandalös wahrgenommen wurde, nämlich das offensive Bekenntnis zum luxuriösen Leben. Was hingegen die anstößigen Bemerkungen über das unerfreuliche Leben Adams und Evas im Garten Eden betrifft, so ist kaum zu sehen, wie Voltaire sie etwa gegenüber Klerikern hätte verteidigen sollen, und das Gedicht enthält denn auch keinerlei Ansätze zur Rechtfertigung dieser Partie von Le Mondain (die Voltaire im Übrigen in späteren Ausgaben leicht abmilderte). Vor allem aber gilt es zu betonen, dass der Luxus im zweiten Gedicht aus einer Perspektive gelobt wird, die im ersten Gedicht allenfalls in einigen Versen eingenommen wird, aber keineswegs dominiert. Der Sprecher der Défense zeigt sich als jemand, der am Wohl des Staates und der Gesamtheit interessiert ist, und sucht zu zeigen, dass der Luxus zur Förderung des Gesamtwohls beiträgt und sogar notwendig ist. Der Sprecher in Le Mondain hingegen tritt fast ausschließlich als ein Einzelner auf, dem es um sein persönliches Glück zu tun ist.476 Voltaire verlagerte in dem zweiten Gedicht also gegenüber dem ersten die argumentative Stoßrichtung und nutzte die Antwort auf seine Kritiker, um sich dezidiert innerhalb der philosophischen Diskussion um den Luxus zu positionieren. Es ist bezeichnend für ihn, dass er sich hierfür wiederum der Form des Gedichts bediente.

3.3 Discours en vers sur l’homme Die Discours en vers sur l’homme enthalten in den letzten von Voltaire autorisierten Ausgaben sieben Discours, die jeweils zwischen 120 und 200 Verse umfassen.477 Die Gedichte entstanden vermutlich seit Herbst 1736 und wurden ab 1738 einzeln, anonym und ohne den übergeordneten Titel Discours en vers sur

zusätzlich zu erhärten. Mason schließt sich Wade grundsätzlich an, sieht aber eine etwas größere Kontinuität zwischen den Gedichten, insbesondere aufgrund der Frontstellung gegen die Verteidiger der Austerität; vgl. Mason, „Introduction [to: Voltaire, Le Mondain]“, S. 282 f. Schulz-Buschhaus hingegen stellt zwar ebenfalls fest, dass die Défense im Vergleich zum Mondain ein „spezieller ökonomisch argumentierendes Erweiterungs- und Verteidigungsgedicht“ sei, deutet aber dennoch letztlich beide Gedichte als Artikulation einer einheitlichen Position. Vgl. Schulz-Buschhaus, „Voltaires Mondain oder die Satire der Satire“, Zitat S. 426; zur Deutung der zwei Gedichte als einer Einheit ebd., v. a. S. 449 f. 476 Vgl. auch Mason, „Introduction [to: Voltaire, Le Mondain]“, S. 283. 477 Voltaires Text wird zitiert nach der Ausgabe: Voltaire, Discours en vers sur l’homme. Critical edition by Haydn T. Mason. In: OCV 17, S. 389–535 (Text auf S. 453–530). In den Nachweisen bezeichnet die römische Zahl den Discours, die arabische den Vers.

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l’homme veröffentlicht.478 Die ersten drei erschienen zunächst unter dem Titel Epîtres sur le bonheur. Die Gedichtsammlung Recueil de pièces fugitives en prose et en vers, die Voltaire Ende 1739 unter seinem Namen publizierte, versammelte die ersten sechs Discours erstmals unter dem Titel Discours en vers sur l’homme,479 doch sie wurde von den Pariser Autoritäten unterdrückt. Alle sieben Discours erschienen schließlich 1742 unter dem genannten Titel im fünften Band von Voltaires Œuvres mêlées. 3.3.1 Mit Pope gegen Pascal Die Discours en vers sur l’homme sind ein weit umfangreicherer Text als Le Mondain und lassen sich als Ganzes weniger eindeutig zu einer bestimmten Debatte in Beziehung setzen. Die Gedichtsequenz, so Voltaire in einer frühen Phase der Entstehung, sollte „une espèce de système de morale“ entwickeln,480 und auch der fertige Text zeigt sich wesentlich geprägt von dieser ‚systematischen‘ Absicht, insofern nämlich Voltaire in den sieben Teilen Fragen abhandelt, die ihm zufolge für die Moralphilosophie besonders wichtig waren. Doch für seine Erörterung der einzelnen Fragen sind gleichwohl Bezugnahmen auf bestimmte andere Texte und Positionen fast durchgehend von Bedeutung. Der wichtigste Referenztext ist offenkundig Popes An Essay on Man, zu dem Voltaires Text sich überwiegend, aber nicht ausschließlich zustimmend verhält. Ferner bezieht sich Voltaire in mehreren Discours kritisch auf Pascal und die von ihm vertretenen jansenistischen Lehren; indirekt dürfte Voltaires Kritik dabei auch auf Louis Racine und sein Lehrgedicht La Grâce (1722) zielen. Als Voltaire seinem Gedichtzyklus 1739 den Titel Discours en vers sur l’homme gab, lud er die zeitgenössischen Leser dazu ein, die Gedichte zu Popes Essay on Man in Beziehung zu setzen, der um 1740 in Frankreich ein Gegenstand lebhafter Diskussionen war. 1736 erschien Silhouettes Prosaübersetzung des Essay. 1737 veröffentlichte Crousaz seine erste kritische Auseinandersetzung mit diesem Werk Popes und Du Resnel seine Versübersetzung, der Crousaz wiederum 1738 seinen Commentaire sur la traduction en vers de Mr. l’Abbé Du Resnel, de l’Essai de M. Pope sur l’homme folgen ließ. Alle diese Publikationen wurden in Zeitschriften intensiv besprochen. Voltaire hatte Popes Essay schon bald nach dem Erscheinen in England erhalten, gelesen und in diversen

478 Vgl. zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte: Haydn T. Mason, „Introduction [to: Voltaire, Discours en vers sur l’homme]“, in: OCV 17, S. 391–451, hier S. 391–403, 426–449. Auch die folgenden Angaben stützen sich auf diese Einleitung Masons. 479 Vgl. Voltaire, Recueil de poésies fugitives en prose et en vers, Paris 1740, S. 39–77. 480 Voltaire an Friedrich II. von Preußen, Brief vom 23.1.1738 (Best. 1371).

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Briefen kommentiert.481 Auch Madame du Châtelet, mit der Voltaire bis 1738 in Cirey weilte, beschäftigte sich eingehend mit Popes Lehrgedicht.482 Es spricht vieles dafür, dass Voltaire durch Popes Essay zu den Gedichten angeregt wurde, die er später Discours en vers sur l’homme nannte, dass er also mit diesem Titel die Beziehung zu einem Text markierte, der tatsächlich in der Entstehung der Gedichte eine wichtige Rolle gespielt hatte. Voltaires in Briefen formulierte Urteile über Popes Essay fallen in der Zeit nach seiner ersten Lektüre des Textes überwiegend zustimmend aus.483 Popes Gedicht enthalte zwar viele dunkle Stellen und unklare Begriffsverwendungen, und die in der vierten Epistel vorgestellte Theorie des Glücks leide an einem eklatanten Fehler, da sie die Bedeutung der Liebe unterschlage. Aber in erster Linie erkennt Voltaire Übereinstimmungen zwischen der Philosophie des Essay und seinen eigenen Auffassungen: So charakterisiert er Popes Text in einem Brief als eine Paraphrase seiner eigenen Remarques sur Pascal, die den 25. Brief der Lettres philosophiques gebildet hatten. Besonders auffällig erscheint ihm am Essay, dass die Doktrin der Erbsünde mit keinem Wort erwähnt werde. In dieser Hinsicht, so notiert Voltaire, sei Popes Gedicht noch kühner und unorthodoxer als sein ‚Anti-Pascal‘. Mit Blick auf die weitere Entwicklung von Voltaires Einstellung zum Essay ist bemerkenswert, dass der Halbvers „Whatever is, is RIGHT“ bei ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf Kritik stößt. Mit diesen brieflichen Urteilen über Popes Essay stimmt es zusammen, dass Voltaires Discours en vers sur l’homme eine Reihe gedanklicher Parallelen zu Popes Gedicht aufweist, die intendiert gewesen sein dürften. Die dezidierten Abweichungen haben demgegenüber meist den Charakter von Akzentverschiebungen oder Ergänzungen. Voltaires Sprecher verweist denn auch an zwei Stellen namentlich auf Pope; in beiden Passagen ist implizit deutlich, dass es um Pope als Autor des Essay on Man geht, beide Erwähnungen sind wohlwollend, und die zweite bringt explizite Zustimmung zum Ausdruck. Im dritten Discours, der den Titel „De l’envie“ trägt, nennt der Sprecher als ein Beispiel für böswillige Verleumdungen die Angriffe auf Pope, die ihn als gotteslästerlichen Verbrecher hinstellen – und dies nur aus dem Grund, so der Sprecher sarkastisch, dass Pope zu behaupten wage, dass Gott alle Menschen liebe und dass alles gut

481 Vgl. Mason, „Introduction [to: Voltaire, Discours en vers sur l’homme]“, S. 391–394; Havens, „Voltaire and Alexander Pope“, S. 133–137. 482 Vgl. Havens, „Voltaire and Alexander Pope“, S. 134, 137. 483 Vgl. zum Folgenden die Darstellungen relevanter Briefäußerungen bei Mason, „Introduction [to: Voltaire, Discours en vers sur l’homme]“, S. 392–394; Havens, „Voltaire and Alexander Pope“, S. 133–137; Knapp, The Fortunes of Pope’s Essay on man in 18th century France, S. 81–85.

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sei (vgl. III, 87–90). Zu Beginn des sechsten Discours, „De la nature de l’homme“, nennt Voltaires Sprecher zunächst Boileau und Pascal als zwei Autoren, die den Menschen zum Gegenstand der Satire gemacht hätten, um ihnen dann Pope und ‚den großen Leibniz‘ gegenüberzustellen, die den Menschen nicht verleumden, sondern eine weise, gemäßigte Position einnehmen: Pope et le grand Leibnitz, moins enclins à médire, Semblent dans leurs écrits prendre un sage milieu; Ils descendent à l’homme, ils s’élèvent à Dieu.

[VI, 7–10]

Der sechste Discours enthält auch eine der besonders deutlichen Parallelen zu Popes Essay on Man. Der Großteil dieses Gedichtteils widmet sich einer Kritik an der Vorstellung, der Mensch sei der Mittelpunkt und Zweck der Schöpfung. Eben diese Vorstellung wird auch bei Pope, vor allem in der ersten Epistel, ausführlich kritisiert. In der dritten Epistel des Essay on Man wird diese anthropozentrische Haltung noch einmal kurz zitiert und durch die Konfrontation mit einer Mastgans lächerlich gemacht, die sich ebenso für den Zweck der Schöpfung halten könnte. Dasselbe satirische Verfahren findet sich in breiterer Ausführung im sechsten Discours bei Voltaire: Hier wird eine angeblich einem chinesischen Buch entnommene Fabel erzählt, in der nacheinander Mäuse, Enten, Schafe, Menschen und Engel auftreten, die sich alle für den Zweck der Schöpfung halten und schließlich von Gott belehrt werden, dass sie alle für ihn geschaffen seien und er das einzige Zentrum der Schöpfung sei (vgl. VI, 39–98). Eine große gedankliche Nähe zu Popes Essay on Man kennzeichnet auch den ersten Discours („De l’égalité des conditions“), der die These vertritt, dass das Glück den Menschen aller Stände gleichermaßen zugänglich sei. Ein ganz ähnlicher Gedanke steht im Zentrum der vierten Epistel des Essay on Man: Das Glück beruhe nicht auf Reichtum, Macht oder Ruhm, sondern auf Tugend. Hinsichtlich der konkreten Ausformulierung wie der Begründung der These gibt es durchaus signifikante Unterschiede zwischen den Texten, doch es ist nicht klar, ob Voltaire diese Differenzen wahrgenommen und bewusst andere Akzente als Pope gesetzt hat. Im vierten Discours („De la modération en tout“) betont Voltaires Sprecher die Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis, wie es auch Popes Sprecher in der zweiten Epistel des Essay tut. Der fünfte Discours bei Voltaire verteidigt die Eigenliebe und die Leidenschaften als notwendig und wertvoll und entwickelt damit ähnliche Gedanken wie die zweite Epistel des Essay on Man. Der später hinzugefügte siebte Discours, „De la vraie vertu“, identifiziert das Wesen der Tugend mit dem hilfreichen Wirken für die Mitmenschen, mit „bienfaisance“ (VII, 121). Auch hier ergibt sich eine Parallele zum Essay on Man, wo „charity“ und „benevolence“ als Grundzüge tugendhaften Handelns herausgestellt werden.

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Der zweite und der dritte Discours hingegen behandeln mit der Freiheit sowie dem Neid Themen, die im Essay on Man keine ähnlich prominente Stellung erhalten. Dass Voltaire dem Neid einen eigenen Discours widmet, mag man mit persönlichen Erfahrungen erklären, die für ihn die Ubiquität und verderbliche Macht von Neid und Verleumdung offenbarten.484 Er nutzt diesen Discours denn auch für scharfe Attacken auf zwei seiner ‚Feinde‘ in der literarischen Szene Frankreichs.485 Die ausführliche Behandlung der Willensfreiheit im zweiten Discours hingegen dürfte auch in den Kontext der Debatte um Popes Essay on Man zu stellen sein. Einer der Hauptvorwürfe, die Jean-Pierre de Crousaz gegen Pope erhoben hatte, besagte eben, dass das philosophische System des Essay dem Menschen keinerlei Willens- oder Handlungsfreiheit zuschreibe, sondern alle Ereignisse und auch alle menschlichen Handlungen als notwendige Folgen der Einrichtung des Universums darstelle.486 Voltaire dürfte diesen Vorwurf gegen Pope nicht für berechtigt gehalten haben; er selbst war in den 1730er Jahren ein entschiedener Verfechter der Lehre vom freien Willen, kritisierte in seinen Briefen aber nirgends den Essay on Man wegen seiner Position zu dieser Frage. Er könnte aber durchaus der Ansicht gewesen sein, dass Popes Gedicht in dieser Hinsicht zu Missverständnissen Anlass gab, sich also nicht hinreichend klar über die Freiheit des Menschen äußerte. Voltaire selbst jedenfalls legte Wert darauf, gleich im zweiten Discours ein unzweideutiges Bekenntnis abzulegen. Die Lehre dieses Discours lautet, dass Freiheit darin besteht, handeln zu können, wie man will; über diese Freiheit verfüge der Mensch, auch wenn sie zeitweilig durch den Einfluss von Krankheiten oder heftigen Affekten eingeschränkt werden kann (vgl. II, 27–126).487 Voltaires Discours en vers sur l’homme enthalten somit eine Reihe von Parallelen zu und zustimmenden Bezugnahmen auf Popes Essay on Man, setzen aber auch einige vom Essay abweichende Akzente, etwa mit Blick auf das Problem der Freiheit. Trotz dieser Differenzierungen im Einzelnen gibt es Hinweise darauf, dass die deutlich markierte Referenz auf den Essay von Voltaire als eine vorwiegend affirmative gemeint war und dass sie eine über die einzelnen Parallelen hinausgehende, übergeordnete Funktion besaß. In diesem Zusammenhang sind die kritischen Bezugnahmen auf Pascal in den Gedichten von

484 Vgl. Mason, „Introduction [to: Voltaire, Discours en vers sur l’homme]“, S. 409 f. 485 Bei diesen ‚Feinden‘ handelt es sich um Jules Desfontaines und Jean-Baptiste Rousseau, die in den Versen III, 91–106 bzw. III, 45–54 attackiert werden. 486 Vgl. Crousaz, Examen de l’Essay de monsieur Pope sur l’Homme, S. 15–26. 487 Der zweite Discours behandelt die Frage der menschlichen Freiheit damit sehr ähnlich wie Voltaires kurz zuvor entstandener Traité de métaphysique. Vgl. Mason, „Introduction [to: Voltaire, Discours en vers sur l’homme]“, S. 408 f.

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besonderem Interesse. Zu Beginn des fünften Discours wendet der Sprecher sich kritisch gegen einen „rêveur fanatique“, der in einem Entwurf noch mit dem Namen „Blaise“ versehen und in den ersten Editionen mit der Initiale „P.“ verknüpft wurde.488 Die Vorwürfe, die hier gegen den ‚fanatischen Träumer‘ erhoben werden, ähneln einigen der Anklagepunkte, die Voltaire im 25. Brief seiner Lettres philosophiques (1734) formuliert hatte.489 Dass Voltaire in diesen Jahren wiederholt Pascal zur Zielscheibe seiner Angriffe machte, hatte verschiedene Gründe.490 Zunächst vertrat Pascal ein Menschenbild, eine Gottesvorstellung und eine Konzeption des Verhältnisses von Vernunft und Glauben, die Voltaire zutiefst ablehnte. Aber noch wichtiger dürfte für ihn die Rolle gewesen sein, die Pascal in zeitgenössischen religiösen Bewegungen und Konflikten spielte. Er betrachtete die Pensées als Kampfschrift einer Sekte und Pascal als den ‚Patriarchen des jansenistischen Fanatismus‘. Pascal spielte eine wichtige Rolle als Autorität im Streit um die sogenannten Konvulsionäre und die von ihnen angeblich erfahrenen Wunderheilungen.491 Die Jansenisten, die die Authentizität dieser Wunder anerkannt wissen wollten, beriefen sich dabei unter anderem auf Pascal und seine Auffassungen von Wundern. Schließlich spricht vieles für die Annahme, dass Voltaire mit der Kritik an Pascal auch Louis Racine treffen wollte, der in seinem Lehrgedicht La Grâce jansenistische Positionen vertreten hatte.492 Voltaire reagierte auf Racines umfangreiches Gedicht mit einem kurzen kritischen Gedicht, das in einer Zeitschrift publiziert wurde und große Ähnlichkeiten mit der gegen Pascal gerichteten Passage aus den späteren Discours en vers sur l’homme aufweist.493 In dem kurzen Gedichte lobte Voltaire – mit gewissen Vorbehalten – den Stil von La Grâce, protestierte aber

488 Vgl. die Anmerkungen der Herausgeber zu den Versen V, 1–11. 489 Vgl. Voltaire, Lettres philosophiques. Édition critique avec une introduction et un commentaire par Gustav Lanson. Nouveau tirage revu et complété par André M. Rousseau. [2 Bände] Bd. 2. Paris 1964, S. 184–226. 490 Vgl. zum Folgenden die minutiöse Rekonstruktion zeitgenössischer Diskussionen und Konflikte bei: Antony McKenna, De Pascal à Voltaire. Le rôle des Pensées de Pascal dans l’histoire des idées entre 1670 et 1734. Bd. II. Oxford 1990, S. 860–881. 491 Vgl. zu diesen Vorgängen im größeren Zusammenhang der religionspolitischen Konflikte in Frankreich: Dale K. Van Kley, The Religious Origins of the French Revolution. From Calvin to the Civil Constitution, 1560–1791, New Haven/London 1996, S. 97–100. 492 Vgl. [Louis Racine], Poëme sur La Grace, Paris 1722. 493 Zu den Beziehungen zwischen Voltaire und Racine vgl. Haydn Mason, „Voltaire and Louis Racine“, in: Voltaire and his World. Essays presented in honor of W.H. Barber, Oxford 1985, S. 101–116. Voltaire und Racine unterhielten um 1720 noch freundschaftliche Beziehungen, die sich unter anderem aufgrund von Racines Gedicht La Grâce abkühlten und sich später zu einer Gegnerschaft wandelten.

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gegen die jansenistischen Lehren.494 Racine begreife Gott als einen Tyrannen, der den Menschen versklave und seinen Dienst erzwinge; er, Voltaire, wolle Gott als Vater ansehen, dem er die freiwillige Verehrung eines Sohns entgegenbringen könne. In den Discours en vers sur l’homme finden sich im fünften und siebten Discours vergleichbare Zurückweisungen religiöser Doktrinen, die dem Jansenismus verpflichtet sind oder nahestehen. Wie Voltaires weitgehend zustimmende Bezugnahmen auf Popes Essay on Man und seine kritische Wendung gegen Pascal und Louis Racine miteinander verbunden sind, deutet etwa seine briefliche Äußerung an, in der er eine Übereinstimmung zwischen Popes Essay und seinen eigenen Bemerkungen über Pascals Pensées konstatiert. Voltaire interpretierte den Essay on Man in diesen Jahren offenbar als eine Kritik an jener Spielart einer religiös begründeten Menschenfeindlichkeit, die für ihn in besonders extremer und gefährlicher Weise durch den Jansenismus und seinen Fürsprecher Pascal verkörpert wurde. Was er diesem Gottes- und Menschenbild entgegensetzen wollte, war kein Atheismus, sondern eine Variante des Deismus, die durch eine freundlichere Sicht auf den Menschen und den Glauben an einen liebenden Gott gekennzeichnet war.495 3.3.2 Formprinzipien: Abwechslung, Heiterkeit, persönlicher Ton In Briefen, die Voltaire während der Entstehung der Discours en vers sur l’homme schrieb, wies er selbst auf inhaltliche Nähen dieser Gedichte zu Popes Essay on Man hin, erklärte aber zugleich die Absicht, sich im Stil von Pope abzugrenzen. Der Essay on Man leidet ihm zufolge unter einem trockenen didaktischen Ton und einer Mischung aus abstrakten Räsonnements und gewaltsamen Vergleichen.496 An welchem Stilideal er selbst sich orientieren will, deutet er in einem anderen Brief an, wenn er fragt:

494 Vgl. Mason, „Voltaire and Louis Racine“, S. 102; Geo[rge] B. Watts, „Voltaire’s verses against Louis Racine’s De la Grâce“, in: MLN, 40/1925, S. 189 f. 495 Im Eingang des 25. Briefs der Lettres philosophiques hatte Voltaire die Absicht seiner Bemerkungen über Pascal so formuliert: „J’ose prendre le parti de l’humanité contre ce misantrope sublime [. . .].“ (Voltaire, Lettres philosophiques, Bd. 2, S. 185) – Zu Voltaires religiösen Überzeugungen immer noch maßgeblich: René Pomeau, La religion de Voltaire. Nouvelle éd. revue et mise à jour. Paris 1969. Pomeaus These, dass Voltaire Anhänger einer Variante des Deismus war, hat in der Forschung breite Zustimmung gefunden. Vgl. dazu David Beeson/Nicholas Cronk, „Voltaire: philosopher or philosophe?“, in: Nicholas Cronk (Hrsg.), The Cambridge Companion to Voltaire, Cambridge 2009, S. 47–64, hier S. 48–50. Zu Voltaires Remarques sur Pascal vgl. Pomeau, La religion de Voltaire, S. 233–238. Pomeau übernimmt hier die gelegentlich für diesen Text gebrauchte Bezeichnung Anti-Pascal (ebd., S. 233). 496 Vgl. Voltaire an Jean Baptiste Nicolas Formont, Brief vom 20.12.1738 (Best. 1621).

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Pourquoy ne sera t’il pas permis à un Français de dire d’une manière guaie, et sous l’envelope d’une fable, ce qu’un Anglais a dit tristement et sèchement dans des vers métaphisiques traduits lâchement?497

Die Form seiner eigenen Discours soll sich demnach durch eine Fröhlichkeit auszeichnen, die dem französischen Charakter angemessener sei als die englische Trockenheit, und die Lehren sollen nicht nur abstrakt formuliert, sondern in narrativem Gewand dargeboten werden. Die fertigen Discours en vers sur l’homme erscheinen tatsächlich weitgehend durch einen Stil geprägt, wie ihn Voltaire in diesen Briefen umrissen hat. Besonders deutlich zeigt sich in der Gedichtfolge ein Streben nach Variation und nach Auflockerungen der abstrakten Gedankengänge. Diese Abwechslung erreicht Voltaire unter anderem durch verschiedenartige narrative Elemente. Gleich im ersten Discours integriert der Sprecher in seine Darlegungen über die Gleichheit der Lebensumstände zunächst eine kurze, witzige Anekdote über einen Bauern, der Astronomen bei der Erforschung des Himmels beobachtet,498 und kurz darauf eine längere Schilderung des täglichen Lebens von armen Landarbeitern („esclaves champêtres“; I, 61) namens Pierrot und Colin, eines Lebens, das ihnen trotz zahlreicher Mühen und Härten gleichwohl Zufriedenheit und Glück gewähre (vgl. I, 61–100). Während die kurze Anekdote vom Bauern und den Astronomen in eine witzige Pointe mündete, zielt die ausführliche Passage über das Leben von Pierrot und Colin vor allem auf emotionale Wirkungen: Die Schilderung der Widrigkeiten ihres Daseins scheint auf die Erregung von Mitleid angelegt zu sein; wenn der Sprecher daneben dennoch die Zufriedenheit, Stärke und Gesundheit hervorhebt, die ihr Leben kennzeichnet, und in einigen Versen eine Liebesgeschichte zwischen Colin und einer Lisette skizziert, so sollen offenbar Bewunderung und Sympathie für diese Figuren geweckt werden. In den weiteren Discours finden sich noch andere Arten erzählerischer Einschübe: Im zweiten Discours quält sich der Sprecher mit Fragen über die Freiheit des Menschen, bis ein tröstender Geist vom Himmel zu ihm herabsteigt und ihn belehrt. Der sechste Discours enthält jene Tierfabel, auf die Voltaire auch im oben zitierten Brief anspielen dürfte („sous l’envelope d’une fable“).

497 Voltaire an Charles Augustin Feriol, comte d’Argental, Brief vom 29.12.1738 (Best. 1639). (In einer jüngeren Edition der Korrespondenz hat Besterman diesen Brief auf den 6.1.1739 umdatiert.) 498 Vgl. I, 45–52. Der Bauer, der mit einem großen Teleskop ausgestattete Astronomen beim Forschen beobachtet, reagiert mit dem Ausruf, dass diese Hexenmeister dennoch nichts daran ändern könnten, dass die Sterne allen gehören: „Ces sorciers ont beau faire, | Les astres sont pour nous, aussi bien que pour eux.“ (I, 51) Daran schließt sich die Lehre an: „On en peut dire autant du secret d’être heureux.“ (I, 52)

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Charakteristisch für die Discours en vers sur l’homme ist ferner die besondere Konstruktion der Sprecherinstanz, die nicht ausschließlich als ein Lehrer, sondern auch als ein selbst nach Wissen und Glück strebender Mensch profiliert wird. Der Sprecher präsentiert sich zwar einerseits in vielen Teilen als ein Wissender, der seine Einsichten in das Wesen des Menschen, des Glücks und der Tugend zu prägnanten Formeln zusammenfassen und kritische Urteile über Ansichten und Verhaltensweisen formulieren und begründen kann. Andererseits tritt er gelegentlich selbst als ein Fragender und Zweifelnder auf – so etwa im zweiten Discours, wo er zu Beginn bange Fragen über die Freiheit oder Unfreiheit des Menschen aneinanderreiht und dann die ‚tränenerfüllten Augen zum Himmel richtet‘: „Obscurément plongé dans ce doute cruel, | Mes yeux, chargés de pleurs, se tournaient vers le ciel [. . .].“ (II, 11 f.) An anderen Stellen artikuliert der Sprecher zwar nicht solche quälenden Zweifel, macht aber deutlich, dass die Fragen nach dem Glück, der Tugend und dem Wesen Gottes für ihn nicht allein Gegenstände theoretischer Überlegungen sind, sondern ihn auch persönlich betreffen. Wo er im dritten Discours über die Laster von Neid und Verleumdung spricht, beruft er sich beiläufig auch auf seine persönlichen Erfahrungen: „J’ai vu des courtisans, ivres de fausse gloire, | Détester dans Villars l’éclat de la victoire.“ (II, 19 f.) So ergab sich auch kein Bruch innerhalb der Anlage der Sprecherfigur und seines Rededuktus, als Voltaire in der Neuauflage der Discours von 1756 eine Passage einfügte, die den Sprecher gestehen lässt, dass er zeitweilig in der Nähe von Herrschern gelebt habe und von der Gunst eines Königs verführt worden sei; der Abschnitt spielt offenkundig auf Voltaires Erfahrungen bei Friedrich II. an.499 Persönliche Erlebnisse erscheinen aber auch als Ursprung und Grundlage des hymnischen Lobs der Freundschaft, das den vierten Discours beschließt. Auf allgemeine Behauptungen wie die, dass sie ‚das Idol eines gerechten Herzens und die Leidenschaft des Weisen‘ sei, folgt eine Apostrophe an die Freundschaft als die Macht, die im Herzen des Sprechers regiere und ihn gelehrt habe, was das Glück sei (vgl. IV, 150–160). Fragt man nach Sinn und Funktion der hier hervorgehobenen Züge der formalen Gestaltung, so lassen sich drei Aspekte unterscheiden. Auf den ersten Punkt wurde bereits hingewiesen: Voltaire will seinen Reflexionen über den Menschen einen lebhaften und abwechslungsreichen Duktus verleihen und die Trockenheit vermeiden, die sich bei dieser Thematik und dem philosophischen Anspruch leicht einstellen können und an denen ihm zufolge auch Popes Essay on Man laboriert. Auf die Gefahr, durch zu ausführliche Belehrungen Langeweile zu erzeugen, weist der Sprecher einmal ausdrücklich hin, als er sich im sechsten Discours selbst ins Wort fällt:

499 Vgl. IV, 83–98 und die Anmerkung des Herausgebers zu diesem Abschnitt.

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II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte

On peut vivre beaucoup sans végéter longtemps: Et je vais te prouver par mes raisonnements . . . Mais malheur à l’auteur qui veut toujours instruire! Le secret d’ennuyer est celui de tout dire.

[VI, 169–172]

Doch es spricht zweitens auch vieles dafür, dass der lebhafte Duktus der Discours und insbesondere auch die scherzhaften und die affektiv aufgeladenen Momente zusätzlich ein zentrales inhaltliches Anliegen der Gedichte unterstützen sollen, nämlich die Kritik an dem von Pascal, dem Jansenismus und anderen Spielarten eines rigoristischen Christentums vertretenen Menschenbild. Pascal und seine Anhänger werden vom Sprecher nicht nur als Menschenfeinde, sondern auch als finstere, verbissene Fanatiker charakterisiert. Ihnen hält Voltaires Sprecher eine wohlwollende Sicht auf den Menschen und eine Bejahung diesseitiger Freuden entgegen, und die muntere oder gelassen-heitere Redeweise, die über weite Strecken vorherrscht, soll vermutlich die vom Sprecher propagierte Haltung gegenüber dem Menschen und dem Leben exemplifizieren. Mit Blick auf die oben analysierte Konstruktion der Sprecherfigur ist schließlich noch ein dritter Aspekt von Bedeutung: Der Sprecher soll offenbar nicht – oder zumindest nicht durchgehend – als eine Person erscheinen, die den Wechselfällen und Widrigkeiten des Lebens entrückt ist und von einem höheren Standpunkt aus die Menschen über das Wesen der Tugend und des Glücks belehren kann. Er präsentiert sich vielmehr zumindest phasenweise als jemand, der selbst zu den Wahrheitssuchenden gehört, der selbst von Freud und Leid des menschlichen Lebens betroffen ist und der gegenüber denjenigen, die er belehrt, nur einen graduellen Vorsprung an Weisheit besitzt. Auf diese Weise, so eine mögliche Deutung, stattet Voltaire seinen Sprecher mit einer bestimmten Art von Autorität aus, einer Autorität, die auf persönlichen Erfahrungen und in gewissem Sinne auf Solidarität beruht.

3.4 Poème sur la loi naturelle Voltaires Poème sur la loi naturelle entstand wahrscheinlich in den Jahren 1751 und 1752, also in der Zeit von Voltaires Aufenthalt am Hof Friedrichs II.500 Aus einem Brief an Friedrich von August 1752 geht hervor, dass das Gedicht zu

500 Die Angaben zur Entstehungs- und Druckgeschichte stützen sich auf: H. T. Mason/Thomas Wynn, „Introduction [to Poème sur la loi naturelle]“, in: OCV 32B, S. 5–44, hierzu S. 5–10; Francis J. Crowley, Voltaire’s Poème sur la loi naturelle. A Critical Edition, Berkeley 1938, S. 195–217. Das Gedicht wird zitiert nach der Ausgabe: Voltaire, Poème sur la loi naturelle. Critical edition by H. T. Mason and Thomas Wynn, in: OCV 32B, S. 1–96.

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diesem Zeitpunkt fertiggestellt war. Voltaire gab später an, er habe das Gedicht im Jahre 1751 während eines Besuchs bei der Markgräfin Wilhelmine von Brandenburg-Bayreuth, der Schwester Friedrichs, verfasst.501 Veröffentlicht wurde das Gedicht erst 1756, nachdem unautorisierte Abschriften ohne Wissen Voltaires nach Paris gelangt waren und dort einiges Aufsehen erregt hatten. Zwischen der Niederschrift und der Publikation des Gedichts lagen mithin zum einen der 1753 erfolgte Bruch zwischen Voltaire und Friedrich, zum anderen das Lissaboner Erdbeben von 1755. In der ersten von Voltaire autorisierten Edition von 1756 erschien das Gedicht zusammen mit seinem Gedicht über die Katastrophe von Lissabon unter dem Titel Poèmes sur le désastre de Lisbonne et sur la loi naturelle. Damit stellte Voltaire zwei Gedichte zusammen, deren zentrale Argumentationen, wie weiter unten zu zeigen ist, in sehr unterschiedliche Richtungen weisen. Zu den Differenzen zwischen den Gedichten gehört auch, dass sie sich auf unterschiedliche Weisen zu Popes Essay on Man ins Verhältnis setzen. 3.4.1 Zwei Fronten: Kritik an La Mettrie und an der französischen Kirchenpolitik Das Poème sur la loi naturelle besteht aus vier Teilen, die gerahmt werden von einem Exordium und einem abschließenden Gebet; auch diese rahmenden Partien sind in Versen abgefasst. Im Exordium wendet der Sprecher sich an einen nicht namentlich bezeichneten, aber als Herrscher charakterisierten Adressaten. In den ersten Ausgaben des Gedichts wurde der Adressat im Titel als König von Preußen identifiziert; einige Ausgaben enthielten eine zweite Version des Gedichts, in der es an die Markgräfin von Brandenburg-Bayreuth gerichtet war. Der Sprecher erinnert die angesprochene Person an ihre gemeinsame Lektüre der Werke von Horaz, Boileau und Pope, wobei er dem Autor des Essay on Man einen höheren Rang zuweist als den anderen zwei Dichtern: Horaz und Boileau hätten ihre Satiren für ihre Querelen mit persönlichen Feinden genutzt, Pope aber habe die Verskunst in den Dienst der menschlichen Selbsterkenntnis gestellt. Seinem Vorbild will der Sprecher im Folgenden nacheifern. Als Markierung einer formalen Anlehnung an den Essay on Man, aber auch als Betonung der philosophischen Ernsthaftigkeit des Gedichts kann man es deuten, dass

501 Zu der Beziehung Voltaires zur Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth vgl. Edgar Mass, „Voltaire und Wilhelmine von Bayreuth“, in: Peter Brockmeier/Roland Desné/Jürgen Voss (Hrsg.), Voltaire und Deutschland. Quellen und Untersuchungen zur Rezeption der Französischen Aufklärung, Stuttgart 1979, S. 55–77. Im Oktober 1752 schickte Voltaire das Gedicht – noch unter dem Titel Poème sur la religion naturelle – an Wilhelmine; vgl. hierzu und zu Wilhelmines Antwort ebd., S. 64.

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den vier Gedichtteilen jeweils eine kurze Zusammenfassung der zentralen Thesen in Prosa vorangestellt ist. Solche Zusammenfassungen finden sich auch in Popes Essay, aber noch nicht in Voltaires Discours en vers sur l’homme. Das Exordium nennt neben Pope als dem Muster, dem das Gedicht folgen soll, auch die Fragen, die den Ausgangspunkt seiner Gedankengänge bilden. Sie werden als Fragen eingeführt, die der Adressat sich in seinem Streben nach Erkenntnis und Selbsterkenntnis gestellt habe: „De l’esprit qui vous meut vous recherchez l’essence, | Son principe, sa fin, et surtout son devoir.“ („Exorde“, 30f.) Im Gedicht selbst definiert zunächst der erste Teil den Ausgangspunkt der Ausführungen so, wie es das Exordium angekündigt hat, nämlich mit der Frage, ob Gott, der den Menschen mit allen lebensnotwendigen Fähigkeiten ausgestattet hat, ihm womöglich das Wissen um seinen Zweck versagt hat. Auf diese Frage folgt sogleich die beruhigende Antwort: Nein, alle Menschen tragen in ihrem Inneren ein Bewusstsein ihrer wesentlichen, allein durch ihr Menschsein gegebenen Pflichten, ein Wissen um das Gesetz der Natur. Äußerungen der Reue sind Wächter dieses Gesetzes und rufen es dem Menschen immer wieder in Erinnerung. Der Inhalt dieses universalen Gesetzes wird in einem typographisch hervorgehobenen Vers benannt: „ADORE UN DIEU, SOIS JUSTE, ET CHÉRIS TA PATRIE.“ (I, 64) Im zweiten Gedichtteil verteidigt der Sprecher diese Theorie eines universalen moralischen Gesetzes, das sich in Gewissensregungen und Reue manifestiere, gegen Einwände, als deren Urheber Spinoza und Cardano beziehungsweise – in einer früheren Fassung – Spinoza und Hobbes genannt werden.502 Ein zentraler Einwand besagt, dass die Regungen der Reue und alle menschlichen Begriffe von Pflicht und Gerechtigkeit sich der Erziehung verdanken. Der Sprecher gesteht zu, dass Erziehung und Gewohnheit sehr mächtig seien, insistiert aber darauf, dass ‚die ersten Antriebe‘, nämlich eben das Gewissen und das Bewusstsein des moralischen Gesetzes, ‚von einer anderen Macht geschaffen‘ seien. Im dritten Teil führt der Sprecher aus, dass die Menschen sich nicht auf die Verehrung des naturgegebenen Gesetzes beschränkt haben, sondern es durch eigene Gesetze und religiöse Doktrinen ergänzt und so schließlich überdeckt und unterdrückt haben. Den von den Menschen geschaffenen Religionen aber sei immer eine

502 Vgl. II, 1: „J’entends avec Cardan, Spinosa qui murmure.“ Zu der alternativen Fassung vgl. die Anmerkungen in der Ausgabe von Mason und Wynn (OCV 32B, S. 58); in ihr heißt es: „avec Hobbes, Spinosa“ (ebd.). Die Herausgeber nehmen an, dass Voltaire sich schließlich für „Cardan“ entschieden habe, weil der Name besser klinge. Die Erwähnung Cardanos an dieser Stelle ist auch als ein Beispiel dafür gewertet worden, dass Voltaire bedeutende Philosophen der Renaissance häufig recht beliebig und austauschbar erwähnt; vgl. Paul Hazard, „Voltaire et la pensée philosophique de la renaissance italienne“, in: Mélanges offerts à Abel Lefranc [. . .], Genf 1972 (zuerst 1936), S. 473–478, hier S. 475.

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Tendenz zur Intoleranz und zur Verfolgung Andersgläubiger inhärent. Dies habe zur Folge, dass die Menschen, die sich angesichts der vielfältigen Widrigkeiten des Lebens eigentlich gegenseitig helfen sollten, stattdessen einander unterdrücken und bekämpfen. Im vierten Teil benennt der Sprecher den Ausweg aus dieser Situation: Die Lösung bestehe in derjenigen Religions- und Kirchenpolitik, die Friedrich II. in Preußen durchgesetzt habe, in einer Politik, die alle Glaubensrichtungen toleriert, aber sie zugleich alle der königlichen Herrschaft unterwirft. Vor dem König und vor dem Gesetz müssten alle Untertanen, Kaufleute und Arbeiter ebenso wie Priester und Soldaten, gleich sein (vgl. IV, 78–90). An den vierten Gedichtteil schließt sich ein kurzes Gebet an, in dem der Sprecher für den Fall, dass er in seinen Darlegungen die Wahrheit verfehlt habe, Gott um Vergebung bittet. Wie in der Zusammenfassung deutlich geworden sein dürfte, liegt zwischen dem zweiten und dem dritten Gedichtteil eine gedankliche Zäsur. Die erste Hälfte des Gedichts entwirft und verteidigt die Theorie eines universalen moralischen Gesetzes, das den Menschen von Gott gegeben wurde und das sich in Gewissen und Reue manifestiert. Die zweite Hälfte hingegen befasst sich mit den verschiedenen positiven Religionen, die als menschliche Schöpfungen beschrieben werden, und mit der Frage, wie die verheerenden Konflikte zwischen diesen Religionen eingedämmt werden können. Diese inhaltliche Zweiteilung lässt sich damit erklären, dass Voltaire mit dem Gedicht auf zwei ganz unterschiedliche Ereignisse oder Vorgänge reagieren und sich innerhalb von zwei Diskussionen positionieren wollte. Ein Ereignis, das ihn zum Verfassen des Gedichts angeregt habe, nennt er in der Vorrede selbst, nämlich das Erscheinen eines Büchleins mit radikalen skeptischen Thesen über Tugend, Laster und Reue; diesen Thesen soll das Gedicht entgegentreten: Au reste ce faible essai fut composé à l’occasion d’une petite brochure qui parut en ce temps-là. Elle était intitulée du Souverain bien; et elle devait l’être du Souverain mal. On y prétendait qu’il n’y a ni vertu, ni vice, et que les remords sont une faiblesse d’éducation qu’il faut étouffer. L’auteur du poème prétend que les remords nous sont aussi naturels que les autres affections de notre âme. [. . .] Qu’on appelle la raison et les remords comme on voudra, ils existent, et ils sont les fondements de la loi naturelle. [„Préface“, S. 46 f.]

Bei der Schrift, die Voltaire hier ohne ihren Verfasser nennt, handelt es sich offenbar um Julien Offray de La Mettries im Jahr 1750 erschienene Abhandlung Anti-Sénèque ou le souverain bien.503 Die hierin vertretenen Auffassungen

503 Vgl. auch Mason/Wynn, „Introduction [to Poème sur la loi naturelle]“, S. 5, 10 f.; Crowley, Voltaire’s Poème sur la loi naturelle, S. 183–186. – Die Publikationsgeschichte dieses Werks

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wurden von Voltaire auch in Briefen kritisiert, in denen er es zudem beklagte, dass Friedrich im Januar 1752 in der Berliner Akademie eine Lobrede auf La Mettrie vorgetragen hatte.504 Als eine Kritik an den Thesen La Mettries lassen sich in Voltaires Gedicht insbesondere die ersten zwei Teile deuten: Voltaire besteht hier auf der Existenz eines universalen moralischen Gesetzes, die La Mettrie gerade geleugnet hatte, und die im zweiten Teil diskutierten Einwände gegen die These, die dort mit Spinoza und Cardano oder Hobbes assoziiert werden, geben in etwa Positionen La Mettries wieder.505 Was hingegen den dritten und vierten Teil betrifft, so spricht vieles für die Annahme, dass Voltaire hier zu aktuellen Vorgängen in Frankreich Stellung beziehen wollte. Dort hatte in den 1740er Jahren zum einen die Bekämpfung ‚freigeistiger‘ Tendenzen durch Vertreter des Klerus, zum anderen der Konflikt zwischen den Jesuiten, gallikanischer Kirche und König auf der einen, den Jansenisten auf der anderen Seite an Heftigkeit zugenommen.506 Das Poème sur la loi naturelle kann als ein Gedicht gelten, das besonders charakteristisch für Voltaires intellektuelles Profil und zugleich in gewissem Maße repräsentativ für zentrale Positionen der französischen philosophes ist. So präsentiert es zwei Gedanken, die für Voltaire großes Gewicht hatten und an

von La Mettrie ist kompliziert. Eine erste Fassung des Textes erschien 1748 unter dem Titel Discours sur le bonheur zusammen mit La Mettries Übersetzung von Senecas De vita beata; vgl. Traité de la vie heureuse par Sénèque. Avec un discours du traducteur sur le même sujet, Potsdam 1748; der Discours sur le bonheur ebd., S. 3–160. Zwei Jahre später erschien eine leicht veränderte Version als eigenständiges Werk unter dem Titel Anti-Sénèque ou Le souverain bien (Potsdam 1750); wiederum unter diesem Titel wurde 1751 in Amsterdam eine weitere Version publiziert. Diese letztere Fassung ist die Textgrundlage für: Julien Offray de La Mettrie, Discours sur le bonheur. Critical edition by John Falvey, Banbury 1975 (Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, Bd. 134). Vgl. zur Entstehungs- und Druckgeschichte: John Falvey, „Introduction“, in: ebd., S. 11–109, hier S. 11–17. 504 Vgl. Mason/Wynn, „Introduction [to Poème sur la loi naturelle]“, S. 5, 11 (Anm. 13). 505 Vgl. etwa La Mettrie, Discours sur le Bonheur, S. 150 f.: „Le remord n’est donc qu’une fâcheuse réminiscence, qu’une ancienne habitude de sentir, qui reprend le dessus. C’est, si l’on veut, une trace qui se renouvelle, et par conséquent un vieux préjugé, que la volupté et les passions n’endorment point si bien, qu’il ne se reveille presque toujours tôt ou tard. [. . .] Heureusement ce cruel ennemi n’est pas toujours vainqueur. Toute autre habitude, ou plus longue, ou plus forte, doit le vaincre nécessairement.“ 506 Vgl. zu diesen Konflikten Van Kley, The Religious Origins of the French Revolution, S. 135–190 (Kap. 3: „The Siege of Sacral Absolutism“). Die These, dass diese französischen Vorgänge als Hintergrund für den dritten und vierten Teil des Poème sur la loi naturelle wichtig sind, wurde vertreten in Crowleys Einleitung zu seiner 1938 publizierten Edition; vgl. Crowley, Voltaire’s Poème sur la loi naturelle, S. 189–192. Mason und Wynn hingegen schenken in der Einleitung zu ihrer 2007 veröffentlichten Edition diesen historischen Kontexten keine Beachtung, üben aber auch keine Kritik an Crowleys Thesen zur Kontextualisierung.

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denen er besonders beständig festhielt, während sich andere Aspekte seiner Philosophie wandelten: den Gedanken einer universellen, in der menschlichen Natur verankerten Moral507 und den Gedanken vom Wert der Toleranz. Des Weiteren ist das Gedicht charakteristisch für Voltaire, aber bis zu einem gewissen Grad eben auch für andere französische Aufklärer wie Diderot, insofern es eine für sie generell kennzeichnende doppelte Frontstellung aufbaut, eine Kritik an den christlichen Kirchen einerseits und eine Abwehr der ‚nihilistischen‘ Philosophie La Mettries andererseits.508 3.4.2 Zum Stil des Gedichts Das Poème sur la loi naturelle weist in der Struktur und im Stil große Unterschiede gegenüber den Discours en vers sur l’homme auf. Eine erste, augenfällige Differenz entsteht dadurch, dass das Gedicht über das natürliche Gesetz sich als ein betont geschlossener Gesamttext präsentiert. Die Discours bieten eine Sequenz von Erörterungen verschiedener Aspekte des menschlichen Lebens, die zwar nicht ganz beliebig und austauschbar aneinandergereiht sind, aber doch eine so lockere und offene Ordnung aufweisen, dass die ursprünglich sechs Gedichte später noch um ein siebtes ergänzt werden konnten. Im Poème sur la loi naturelle hingegen zeigt bereits die Rahmung durch ein Exordium und ein Gebet, dass die vier Teile als ein abgeschlossenes Ganzes verstanden werden sollen. Auch eine resümierende Passage am Ende des vierten Teils drückt den Anspruch des Sprechers aus, eine gründliche und in sich stimmige Diskussion der behandelten Themen vorgelegt zu haben. Aber nicht nur in der Komposition des Gesamttextes, auch in der Sprechweise der Gedichte unterscheidet sich das Gedicht über das natürliche Gesetz von den Discours en vers sur l’homme. Diese sind, wie oben ausgeführt wurde, wesentlich durch das Streben nach Lebhaftigkeit und sogar Unterhaltsamkeit geprägt; ihr Duktus soll trockene Abstraktion und die Einförmigkeit langwieriger

507 Vgl. zu Voltaires weitgehend konstanten Grundüberzeugungen über das natürliche Gesetz, wie er sie in einer Reihe von Werken zum Ausdruck brachte: Lester G. Crocker, Nature and Culture. Ethical Thought in the French Enlightenment, Baltimore 1963, S. 30–37. 508 Vgl. hierzu: Jean Ehrard, L’idée de nature en France dans la première moitié du XVIIIe siècle. [Deux tomes.] Tome I, Paris 1963, S. 395 f. Zur Ablehnung der ethischen Positionen La Mettries durch Diderot vgl. auch Crocker, Nature and Culture, S. 179. – Dass viele Philosophen der Aufklärung, und unter ihnen auch Voltaire, mit ihren theologischen und ethischen Entwürfen sowohl gegen die Kirche als auch gegen dezidierten Atheismus und moralischen ‚Nihilismus‘ Stellung beziehen wollten, hat Kondylis besonders hervorgehoben: vgl. Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Hamburg 2002 (zuerst 1981), etwa S. 361–381 (zu Gottesbegriffen), 407–420 (zur Moralbegründung).

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Erläuterungen ebenso vermeiden wie Förmlichkeit und gravitätischen Ernst. Das Poème sur la loi naturelle präsentiert sich dagegen konsequent als ein Gedicht, das Fragen von großem Ernst und hoher Dringlichkeit behandelt und allein diesen Fragen gerecht werden will. In einigen Passagen, die von Gott und dem natürlichen Gesetz handeln, nimmt diese betonte Ernsthaftigkeit feierliche oder demutsvolle Züge an; in anderen, die die condition humaine evozieren, erhält sie eine tragische Färbung. Dass das Pariser Parlament das Poème sur la loi naturelle als ein gefährliches Gedicht verurteilte und verbrennen ließ, bezeichnete Voltaire später als eine barbarische Dummheit: Das Gedicht sei in Wahrheit „l’ouvrage le plus patriotique, et le plus véritablement pieux qu’ait notre poésie française“.509 Die ‚frommen‘ Züge des Gedichts, das immerhin mit einem Gedicht schließt,510 sind in der Tat nicht zu übersehen; allerdings dürften die Mitglieder des Parlaments auch klar gesehen haben, dass der Gott dieses Gedichts nicht der christliche ist, obwohl Voltaire einige Respektbezeugungen gegenüber dem Christentum integrierte.511 Die Haltung, die der Sprecher gegenüber Gott oder dem höchsten Wesen einnimmt, ist jedenfalls meist eine von Demut geprägte, und die Passagen, in denen dieser Gott und das von ihm gestiftete natürliche Gesetz evoziert werden, sind überwiegend in einem ernsten und feierlichen Ton gehalten. Gleich die ersten Verse des ersten Teils behaupten die Herrschaft eines Gottes über die Menschen als einen Sachverhalt, der unumstößlich feststehe, auch wenn verschiedene speziellere Fragen über das Wesen dieses Gottes unbeantwortet bleiben (vgl. I, 1–7). In den Discours en vers sur l’homme hatte der Sprecher noch gegen die Anhänger des Jansenismus erklärt, nur einen väterlichen, gütigen Gott verehren zu können. Im Poème sur la loi naturelle wird die göttliche Instanz kaum mit solchen Eigenschaften ausgestattet. Der ‚Thron‘ dieses Gottes wird im ersten Teil vielmehr als ‚dunkel, unerreichbar‘ bezeichnet („du haut de son trône obscur, inaccessible“; I, 8), bevor der Sprecher sich etwas später überzeugt zeigt, dass Gott nicht verborgen („caché“) sein und den Menschen nicht ohne moralische Leitung gelassen haben könne: „[. . .] [L]e Dieu qui m’a fait, ne m’a point fait en vain.“ (I, 37) Aber die Eigenschaft Gottes, die am meisten betont wird, ist seine Macht, der gegenüber die Menschen sich in

509 Voltaire an Charles Augustin Feriol, comte d’Argental, Brief vom 30.4.1769 (Best. 14642). 510 Auch Voltaires Traité sur la tolérance endet mit einem Gebet. Vgl. zu diesem: René Pomeau, „La ‚Prière à Dieu‘: théisme et tolérance“, in: Nicholas Cronk (Hrsg.), Études sur le Traité sur la tolérance de Voltaire, Oxford 2000, S. 1–6; zu dem Gebet am Ende des Poème sur la loi naturelle vgl. ebd., S. 2. 511 Eine dieser Respektbezeugungen findet sich in I, 19 f. („Et sans vouloir sonder, d’un regard téméraire, | De la loi des chrétiens l’ineffable mystère“).

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Demut üben sollten. Dieselbe Ehrfurcht sollten sie auch gegenüber dem natürlichen Gesetz an den Tag legen, das einmal als „une loi terrible, universelle“ (I, 75) bezeichnet wird. Am Ende des zweiten Teils verurteilt der Sprecher es ausdrücklich als eine Anmaßung, wenn die Menschen den ewigen, von Gott geschaffenen Gesetzen eigene Vorschriften hinzufügen: Aurons-nous bien l’audace, en nos faibles cervelles, D’ajouter nos décrets à ces lois immortelles? Hélas! serait-ce à nous, fantômes d’un moment, Dont l’être imperceptible est voisin du néant, De nous mettre à côté du maître du tonnerre, Et de donner en dieux des ordres à la terre?

[II, 125–130]

Wo der Sprecher die Menschen, so wie hier, im Verhältnis zu Gott betrachtet, betont er vor allem ihre Schwäche und Geringfügigkeit. In einigen Passagen aber, in denen er das menschliche Leben an sich erörtert, hebt er in eindringlichen, teilweise pathetischen Formulierungen das Leid hervor, dem alle Menschen ausgesetzt seien und das sie somit auch zu einer brüderlichen Gemeinschaft vereinen sollte. Der Sprecher zählt sich selbst ausdrücklich zu diesen von vielfältigen Übeln bedrückten Menschen und ruft als ein solcher seine Mitmenschen zur Solidarität auf. Die wichtigste Passage dieser Art findet sich im dritten Teil, der von der Intoleranz der positiven Religionen handelt; hier heißt es: Dans nos jours passagers de peines, de misères, Enfants du même Dieu, vivons du moins en frères, Aidons-nous l’un et l’autre à porter nos fardeaux. Nous marchons tous courbés sous le poids de nos maux; Mille ennemis cruels assiègent notre vie, Toujours par nous maudite, et toujours si chérie: Notre cœur égaré, sans guide et sans appui, Est brûle de désirs, ou glacé par l’ennui. Nul de nous n’a vécu sans connaître les larmes.

[III, 99–107]

Diese Darstellung des menschlichen Lebens nähert sich jener düsteren Sichtweise, die Voltaire selbst in anderen Texten, insbesondere in seinen Angriffen auf Pascal, vehement abgelehnt hatte. Im Anschluss an diese Verse variiert Voltaire nun selbst ein berühmtes Bild Pascals, um das absurde Verhalten der Menschen zu charakterisieren, die sich im Angesicht der unvermeidlichen Widrigkeiten des Lebens noch gegenseitig bekämpfen, statt sich zu helfen.512 So eindringlich der

512 Vgl. III, 112–114. Das Bild Pascals, das Voltaire hier aufgreift (vgl. auch die Anmerkung der Herausgeber zu dieser Stelle) findet sich in: Pascal, Pensées, in: ders., Œuvres complètes. Jacques Chevalier (Hrsg.). Paris 1954, S. 1079–1345, hier S. 1180 (Fragment Brunschvicg 199/

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Sprecher aber die Übel schildet, denen der Mensch ausgesetzt ist, nimmt er sie nirgends als Grund für ausdrückliche Vorwürfe oder Fragen an Gott. Mit Blick auf die Solidaritätsaufforderungen des Sprechers ist auch bemerkenswert, dass er gegenüber den Philosophen, deren Thesen er im zweiten Teil zu widerlegen sucht, überwiegend einen gemäßigten, wenig aggressiven Ton annimmt. Nachdem er den Einwand Spinozas wiedergegeben hat, spricht er ihn mit den Worten an: „Raisonneur malheureux, ennemi de toi-même, | D’où nous vient ce besoin?“ (II, 5 f.) Diese Anrede kann zwar kaum als respektvoll gelten, aber es fällt auf, dass der Sprecher den Philosophen als unglücklich und als Feind seiner selbst bezeichnet, nicht etwa als einen böswilligen Feind seiner Mitmenschen. Wo der Sprecher später in diesem Teil noch einmal Einwände gegen seine Theorie anführt, schreibt er sie einem neutralen ‚man‘ zu, ohne die Urheber dieser Einwände zu attackieren: „On insiste, on me dit; [. . .]“ (II, 71). Weit schärfer greift der Sprecher im dritten Teil die Autoren eines Periodikums der Jansenisten an, weil sie die Tugenden der Heiden als Verbrechen verurteilen. Ihnen wirft der Sprecher vor, bei der Verdammung ihrer Mitmenschen eine geradezu sadistische Freude zu empfinden, und dieser Mangel an Nächstenliebe provoziert offenbar seinen Zorn (vgl. III, 67–74). Auf diese heftigen Verse folgt allerdings ein längeres Plädoyer für die antiken Heiden und die neuzeitlichen Philosophen und Dichter, die von den Jansenisten verurteilt worden sind, und im Zuge dieses Plädoyers mäßigt sich allmählich der Ton des Sprechers, bis er den angesprochenen anonymen Jansenisten schließlich als ‚Freund‘ apostrophiert: Porte un arrêt plus doux, prends un ton plus modeste, Ami, ne préviens point le jugement céleste, Respecte ces mortels, pardonne à leur vertu.

[III, 91–93]

So nachdrücklich der Sprecher bestimmte philosophische Positionen und – noch mehr – religiöse und politische Praktiken bekämpft, zeigt er sich doch bemüht, keine unüberwindlichen Gräben aufzureißen, Konflikte nicht als unversöhnliche Feindschaften aufzufassen. Diese Art des Umgangs mit den philosophischen Gegnern dürfte im Zusammenhang mit den Hinweisen des Sprechers auf die allen Menschen gemeinsamen Leiderfahrungen zu sehen sein. Der Sprecher will diese Gemeinsamkeit des Leidens nutzen, um seiner Forderung nach Toleranz Nachdruck zu verleihen, und so betreibt er auch

Pléiade 341). Es handelt sich um eine kurze Erzählung von zum Tode verurteilten Menschen im Kerker, die der Reihe nach zur Hinrichtung geführt werden und während des Wartens der Tötung ihrer Mitgefangenen zusehen müssen. Voltaire macht aus den zum Tode Verurteilten Gefangene, die sich helfen könnten, aber sich stattdessen mit ihren Eisenketten bekämpfen.

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seine argumentativen Auseinandersetzungen in einer gemäßigten Weise, die die Besinnung auf das geteilte menschliche Schicksal nicht verhindert.

3.5 Poème sur le désastre de Lisbonne Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne verbindet Elemente des Klagegedichts513 und des philosophischen Gedichts.514 Diese Mischung zweier Gattungen tritt ansatzweise schon im vollständigen Titel des Gedichts zutage: Poème sur le désastre de Lisbonne, ou examen de cet axiome, tout est bien. Das Gedicht widmet sich zum einen der Katastrophe von Lissabon515 und lässt den Sprecher Trauer und Verzweiflung angesichts des Leids vieler Tausender ausdrücken, und es nimmt zum anderen dieses Ereignis als Anlass für eine ‚Untersuchung‘, die Untersuchung des Axioms ‚tout est bien‘. Diese Kombination sowie die Bezugnahme auf ein aktuelles Ereignis verleihen dem Gedicht eine Sonderstellung innerhalb der philosophischen Gedichte Voltaires; dennoch weist es auch wichtige Eigenschaften auf, die es mit anderen dieser Gedichte verbinden. Das Gedicht beginnt im Gestus einer Klage, nämlich mit mehreren Ausrufen, die das Entsetzen und die Trauer des Sprechers zum Ausdruck bringen: „O malheureux mortels! ô terre déplorable! | O de tous les fléaux assemblage

513 Zu den traditionellen Bestandteilen und Verfahren des Klagegedichts vgl. weiterhin HansHenrik Krummacher, „Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert“, in: JBDSG, 18/1974, S. 89–147. 514 Das Gedicht wird hier zitiert nach der Ausgabe: Voltaire, Poème sur le désastre de Lisbonne. Critical edition by David Adams and Haydn T. Mason. In: OCV 45A. Oxford 2009, S. 269–358. Zitate werden durch Angabe der Verszahlen im Haupttext nachgewiesen. – Vgl. zu dem Gedicht: Barber, Leibniz in France, S. 223–228; Wade, The Intellectual Development of Voltaire, S. 680–684; Haydn Mason, „Voltaire’s ‚sermon‘ against optimism: the Poème sur le désastre de Lisbonne“, in: Giles Barber/C. P. Courtney (Hrsg.), Enlightenment essays in memory of Robert Shackleton, Oxford 1988, S. 189–203; Uwe Steiner, „Voltaire oder der Optimismus. Zu einigen philosophischen und poetischen Aspekten von Voltaires Gedicht über das Erdbeben von Lissabon. Mit einer Neuübersetzung von Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne“, in: Daphnis, 21/1992, S. 305–407; Ders., Poetische Theodizee, S. 291–310. 515 Zu den literarischen Reaktionen auf das Erdbeben von Lissabon vgl. Wilhelm Kühlmann, „‚Laßt mein Antlitz heiter seyn‘: Uzens Gedicht Das Erdbeben im historisch-epochalen und im Werkkontext“, in: Rohmer/Verweyen (Hrsg.), Dichter und Bürger in der Provinz, S. 99–131. Kühlmann untersucht vor allem eine Reihe deutschsprachiger Gedichte, die ihm als Folie für eine Analyse von Uz’ Gedicht Das Erdbeben dienen; daneben liefert er aber auch einen knappen, aber materialreichen und hilfreich strukturierten Überblick über die literarischen und publizistischen Reaktionen in internationaler Perspektive.

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effroyable!“ (1 f.) Der Sprecher tritt als jemand auf, der sich in Lissabon zwischen den Trümmern befindet, der die Opfer vor Augen hat und sie den optimistischen Philosophen, die er herbeiruft, zeigen kann (vgl. 4 f.). Etwas später bezeichnet er das, was er vorträgt, ausdrücklich als eine Klage und als Schreie: „Croyez-moi, quand la terre entr’ouvre ses abîmes, | Ma plainte est innocente et mes cris légitimes.“ (29 f.) Mehrfach verweist er auf seine Schmerzen und auf sein aufgewühltes Herz (vgl. etwa 70 f., 102). Dabei verändern und erweitern sich im Laufe des Gedichts die Gegenstände seiner Klage: Der Sprecher schildert schließlich die ganze Welt als eine von vielfältigen Übeln heimgesuchte, als eine Welt, in der Tiere und Menschen ein schmerzensreiches Leben führen, das sie durch ihren Kampf untereinander noch verschlimmern (vgl. 105–128). Die Menschen seien wie denkende Atome, die in einer unermesslichen Weite ausgesetzt wurden; sie können sich zwar Fragen über ihre Herkunft und den Sinn ihrer Existenz stellen, aber keine Antworten erlangen (vgl. 197–206). Mit diesen Klagen, die zunächst den Opfern in Lissabon und schließlich der condition humaine überhaupt gelten, ist die Untersuchung des ‚Axioms tout est bien‘ verschränkt. Gleich nach den ersten drei Versen wendet sich der Sprecher an die ‚getäuschten Philosophen‘, die „tout est bien“ schreien, und fordert sie auf, die Ruinen, die Leichen der Frauen und Kinder und die verstreuten Gliedmaßen zu betrachten (vgl. 4–8). Der Sprecher sucht hier also zunächst nicht eine argumentative Auseinandersetzung, sondern scheint vor allem darauf zu zielen, die Lehre ‚tout est bien‘ durch die Konfrontation mit dem Leid als absurd oder zynisch erscheinen zu lassen und sie so zu desavouieren. Doch im Folgenden entwickelt er gleichwohl eine kritische Erörterung des genannten ‚Axioms‘, die aus mehreren Gedankenschritten besteht. Zunächst verwirft der Sprecher die Theorie von unveränderlichen, notwendigen Gesetzen, denen auch Gott selbst unterworfen sei (vgl. 71–75). Gott treffe seine Entscheidungen frei und als ein wohlwollender Gott; gleichwohl gibt es auf der Erde zahllose Übel. Mit der ratlosen Frage, wie sich dieser Knoten auflösen lasse, beginnt und endet ein langer Abschnitt in der Mitte des Gedichts (vgl. 76–80; 137–140). Der Sprecher zieht im Folgenden verschiedene mögliche Antworten in Erwägung, um sich dann seine Unwissenheit einzugestehen. Von verschiedenen Philosophen, die knapp aufgerufen werden, erscheint Bayle noch als der weiseste, da er alle Systeme abgelehnt und den Zweifel gelehrt habe; doch seine Position erscheint zugleich als eine selbstzerstörerische (vgl. 177–196). Am Ende bietet der Sprecher keine Lösung des aufgeworfenen Problems an, sondern beschreibt die Haltung, die er einnehmen will: Er verwirft die Behauptung ‚tout est bien‘ als eine Illusion, will aber an der Hoffnung, dass einmal alles gut sein werde, festhalten; er will in seinem Leiden und in seiner Schwäche

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demütig und bescheiden sein und sich nicht gegen Gott und die Vorsehung auflehnen.516 Zu den Deutungsproblemen, die das Gedicht aufwirft, gehört nicht zuletzt die Frage nach der Identität der Philosophen, die Voltaire hier anhand seines Gedichtsprechers kritisieren will. Die Rede vom „axiome, tout est bien“ im Titel musste zeitgenössische Leser unweigerlich an Pope und seinen Essay on Man denken lassen. In seinem Vorwort erklärte Voltaire ausdrücklich, dass sich seine Kritik nicht gegen Pope wende, den er immer bewundert habe und mit dem er gedanklich in fast allen Punkten übereinstimme.517 Der Satz ‚Tout est bien‘ sei von Pope in einem vertretbaren Sinn, von späteren Autoren aber in einem anderen Sinn verwendet worden, und gegen ihren Missbrauch des Axioms wende sich das Gedicht.518 Berücksichtigt man Voltaires überlieferte briefliche Urteile und seine Randnotizen zum Essay on Man, so kann man die Vermutung entwickeln, dass seine kritischen Vorbehalte gegen das Gedicht größer waren, als er in diesem Vorwort behauptete.519 Dennoch gilt es

516 Zur Deutung dieses Gedichtschlusses vgl. Steiner, Poetische Theodizee, S. 300 f. 517 Vgl. Voltaire, „Préface de l’auteur“, in: Ders., Poème sur le désastre de Lisbonne, S. 323–328, hier S. 326. 518 Vgl. ebd.: „Pope avait dit, tout est bien, en un sens qui était très recevable, et ils le disent aujourd’hui en un sens qui peut être combattu. / L’auteur du poème sur le désastre de Lisbonne ne combat point l’illustre Pope, qu’il a toujours admiré et aimé; il pense comme lui sur presque tous les points; mais pénétré des malheurs des hommes, il s’élève contre les abus qu’on peut faire de cet ancien axiome, tout est bien.“ Auf diese Sätze scheint sich auch Uwe Steiner zu beziehen, wenn er schreibt: „Im Vorwort des Poème sur le désastre de Lisbonne zeigt sich Voltaire u. a. mit Hinweisen auf die Loi naturelle bemüht, seinen Angriff auf die berühmte Formel vorsorglich gegen das Mißverständnis in Schutz zu nehmen, er habe einer generellen Ablehnung das Wort reden wollen. Auch wenn der Angriff sich in diesem Falle vielleicht nicht als die beste Form der Verteidigung erwiesen haben sollte, so ist doch jedenfalls von der Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung auszugehen.“ (Steiner, Poetische Theodizee, S. 297) Aber in Voltaires Sätzen aus dem Vorwort geht es nicht um eine ‚generelle‘ oder nur partielle Ablehnung oder um ‚Angriff als die beste Verteidigung‘, sondern um verschiedene Deutungen des ‚Axioms‘ ‚tout est bien‘. Die Bedeutung des Satzes „Whatever is, is right“ in Popes An Essay on Man fasst Steiner ohne weitere Begründung so zusammen: „Pope hatte dem philosophischen Optimismus Shaftesburys, Bolingbrokes und Clarkes im Essay on man mit der an exponierter Stelle wiederholten Sentenz ‚Whatever is, is right‘ epigrammatischeinprägsamen Ausdruck verliehen.“ (Ebd.) Auch die übrigen Bemerkungen Steiners über Popes Essay on Man scheinen mir der Komplexität des Gedichts meist nicht gerecht zu werden, da sie seine Konzeption menschlicher Selbsterkenntnis auf die Lehre von der chain of being reduzieren (vgl. ebd., S. 301) oder es einseitig auf einen ‚triumphierenden‘ Optimismus festlegen (vgl. ebd., S. 303). 519 Zu kritischen Äußerungen Voltaires über den Essay on Man seit den frühen 1750er Jahren und insbesondere nach dem Erdbeben von Lissabon vgl. Zanconato, La dispute du fatalisme,

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II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte

festzuhalten, dass Voltaire sich auch nach dem Erdbeben von Lissabon nicht scheute, öffentlich seine Bewunderung für Pope und speziell für den Essay on Man zu erklären.520 Die 1756 erschienene Neuauflage seiner Lettres philosophiques war ergänzt um ein emphatisches Lob dieses Gedichts Popes: Es erscheine ihm, Voltaire, als das ‚schönste, nützlichste und erhabenste didaktische Gedicht‘, das je in irgendeiner Sprache verfasst worden sei.521 Für die Interpretation stellt sich ferner die Frage, wie Voltaire die Form des Lehrgedichts für die Konfrontation mit dem Theodizee-Problem und die Kritik am philosophischen Optimismus nutzt, welche spezifischen Potentiale der Gattung er hier aktualisiert. Uwe Steiner hat die These vertreten, dass Voltaire sich in seinem Lissabon-Gedicht „der von der zeitgenössischen Poetik der Lehrdichtung“ erhobenen Forderung, die Wahrheiten des Gedichts müssten sich aus der poetischen in die philosophische Sprache übersetzen lassen, „nur allzu offensichtlich“ entziehe.522 Die „Wahrheit“ der Gedanken bilde sich vielmehr „allererst eine ihr gemäße Sprache aus.“523 Als Begründung hierfür scheint die Deutung zu dienen, der zufolge die „Wahrheit“ des Gedichts „sich in Widersprüchen manifestiert“, da die ursprünglichen Schlussverse „aus der Unwissenheit des Menschen zum einen die Unvermeidlichkeit des Leidens; zum anderen aber auch die Anbetungswürdigkeit des Unbegreiflichen [folgern]“.524 Man könnte hier einwenden, dass diese Folgerungen im Gedicht durchaus in einer philosophisch-begrifflichen Sprache formuliert und vom Interpreten auch in einer solchen wiedergegeben und gedeutet werden. Problematisch erscheint aber vor allem eine weitere These, die Steiner an die eben zitierte anschließt, nämlich die These, „die im Erdbebengedicht gefundene Wahrheit schaff[e] sich allererst im Medium des ‚conte‘, in der Wiederaufnahme des philosophischen

S. 468–497. Zu Voltaires Randnotizen in einer Ausgabe von Popes Gedicht vgl. Havens, „Voltaire’s marginal comments upon Pope’s Essay on Man“. 520 Vgl. auch Havens, „Voltaire and Alexander Pope“, S. 147 f. 521 Vgl. Voltaire, Lettres philosophiques, in: Ders., Mélanges. Préface par Emmanuel Berl. Texte établi et annoté par Jacques van den Heuvel. Paris 1961, 1–133, 1375–1405 (Notes et Variantes), hier S. 1394: „L’Essai sur l’Homme de Pope me paraît le plus beau poème didactique, le plus utile, le plus sublime qu’on ait jamais fait dans aucune langue.“ 522 Steiner, Poetische Theodizee, S. 11. Vgl. für die eigentliche Ausformulierung der These ebd., S. 306, wo es über Voltaire mit Bezug auf das Lissabon-Gedicht heißt: „Die Wahrheit seiner ‚sinnlich vorgetragene[n] Gedanken‘ läßt sich nicht ohne weiteres in die philosophische Sprache diskursiver Begrifflichkeit zurückübersetzen.“ 523 Ebd., S. 306. 524 Ebd., S. 301. Vgl. auch ebd., S. 300: „Damit erreicht die Logik der Antithese ihr Maximum. Denn die Überzeugung von der Existenz Gottes ist für Voltaire ebenso unumstößlich wie der Ursprung des Übels unergründlich.“

3 Voltaire: Deistische Frömmigkeit und Verteidigung des Menschen

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Problems im Candide, die ihr angemessene philosophisch-poetische Sprache.“525 Dass das Medium des conte philosophique für die Auseinandersetzung mit dem Theodizee-Problem eigene Möglichkeiten bot, die das Medium des Lehrgedichts so nicht zur Verfügung stellte, lässt sich kaum bestreiten. Doch mit ebenso guten Gründen kann man geltend machen, dass Voltaire auch die Form des Lehrgedichts für Zwecke nutzt, die in einem conte kaum oder schwieriger umzusetzen wären. Eine dieser spezifischen Funktionen, die das Lehrgedicht für Voltaire erfüllt, lässt sich in ähnlicher Form auch im Poème sur la loi naturelle und auch schon in einigen Passagen der Discours en vers sur l’homme beobachten: Voltaire lässt hier jeweils eine Sprecherinstanz auftreten, die sich zum Wortführer der leidenden Menschheit macht und die unter Entfaltung des Potentials an Pathos, das dieser Rolle eigen ist, politische, theologische und philosophische Positionen attackiert, die das Leiden unnötig vergrößern oder ungerührt leugnen.526 Dabei verleiht Voltaire dem Sprecher im Erdbebengedicht, ähnlich wie schon im Poème sur la loi naturelle, Züge seiner eigenen Person, legt also für die Leser die Deutung nahe, dass er in dem Gedicht selbst spreche. Das Ich des Lissabon-Gedichts erklärt nämlich, dass sich seine Einstellung zum Leben im Laufe der Jahre gewandelt habe: „Sur un ton moins lugubre on me vit autrefois, | Chanter des doux plaisirs les séduisantes lois.“ (223 f.). Diese Verse dürften Lesern, die mit Voltaires Œuvre vertraut waren, als Anspielung auf Le Mondain und andere Gedichte derselben Zeit erschienen sein.527 Aber das Alter und die Bekanntschaft mit dem Leiden, so der Sprecher weiter, haben ihn eine veränderte Haltung gelehrt: D’autres temps, d’autres mœurs: instruit par la vieillesse, Des humains égarés partageant la faiblesse, Dans une épaisse nuit cherchant à m’éclairer Je ne sais que souffrir, et non pas murmurer.

[225–228]

525 Steiner, Poetische Theodizee, S. 11. Vgl. auch ebd., S. 306, sowie ders., „Voltaire oder der Optimismus“, S. 372. 526 Vgl. mit Bezug auf das Lissabon-Gedicht ähnlich Roland Krebs, „‚Schmähschrift wider die weiseste Vorstehung‘ oder ‚Lieblingsbuch aller Leute von Verstand‘? – Zur Rezeption des ‚Candide‘ in Deutschland“, in: Ernst Hinrichs / Roland Krebs / Ute van Runset (Hrsg.), „Pardon, mon cher Voltaire . . . “. Drei Essays zu Voltaire in Deutschland, Wolfenbüttel/Göttingen 1996, S. 87–124, hier S. 88: „Voltaire protestierte im Namen der leidenden Menschheit mit seinem Gedicht [scil. Poème sur le désastre de Lisbonne; O.K.] gegen jede allzu rasche Abfertigung des Problems des Übels in der Welt [...].“ Krebs nimmt allerdings, ohne auf Voltaires Vorwort einzugehen, an, dass für Voltaire auch „die philosophisch-metaphysische Deutung im Sinne des Leibnizschen oder Popeschen Optimismus“ ein Beispiel für diese allzu rasche Abfertigung des Problems sei (ebd.). 527 Vgl. auch den Stellenkommentar der Herausgeber Adams und Mason.

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II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte

Voltaire gestaltet in seinen philosophischen Lehrgedichten und auch noch im Poème sur le désastre de Lisbonne mithin Sprecherinstanzen, die als öffentliche Vertreter seiner eigenen Person erscheinen, die sich zum solidarischen Wortführer und Anwalt der leidenden Menschheit machen und sich dabei auf eigene Leidenserfahrungen berufen und die zugleich in die zeitgenössischen philosophischen und politischen Debatten intervenieren.

3.6 Resümee Die Analysen zu englischen und deutschen Lehrgedichten der Aufklärung haben gezeigt, dass diese Gedichte nicht dem Zweck dienten, eine andernorts schriftlich fixierte und weitgehend akzeptierte Lehre zu veranschaulichen und zu popularisieren. Vielmehr nutzten Autoren wie Pope, Haller und Hagedorn die Form des Lehrgedichts, um auf eigenständige Weise zu umstrittenen Fragen Stellung zu beziehen. Bei den Lehrgedichten Voltaires liegt nun besonders deutlich zutage, dass sie nicht der ansprechenden Aufbereitung und Popularisierung von Doktrinen dienten, die von ihm selbst oder anderen Philosophen bereits in Prosaabhandlungen niedergelegt worden wären. Voltaire verwendete vielmehr neben anderen Gattungen auch die des Lehrgedichts, um neu entwickelte Ideen vorzustellen. Eine Funktionsteilung, nach der den Prosatexten die Exposition, den Gedichten die anschauliche oder unterhaltsame Aufbereitung der Theorien vorbehalten gewesen wäre, ist bei ihm nicht einmal ansatzweise zu erkennen. Voltaires Lehrgedichte weisen hinsichtlich der Art der Wissensvermittlung, die er mit ihnen beabsichtigte, einen Grundzug auf, der sich in ihnen allen mehr oder weniger stark ausprägt und auch so unterschiedliche Gedichte wie Le Mondain und das Poème sur la loi naturelle verbindet: Die Gedichte sind so gut wie alle auch Interventionen in aktuelle Debatten oder Reaktionen auf kurz zuvor veröffentlichte Schriften anderer Autoren. Mit Le Mondain und Défense du Mondain bezieht Voltaire Stellung zur Luxusdebatte und implizit wohl auch zum Streit um Vers und Prosa. Die Discours en vers sur l’homme präsentieren sich offen als ein von Popes Essay on Man angeregtes Werk und kritisieren ein Menschenbild und eine Gottesvorstellung, die mit Pascal und den Jansenisten assoziiert sind. Das Poème sur la loi naturelle reagiert einerseits auf La Mettries Anti-Sénèque, andererseits auf aktuelle kirchenpolitische Entwicklungen in Frankreich, und das Poème sur le désastre de Lisbonne schließlich nimmt das Erdbeben zum Anlass, um sich kritisch mit der Philosophie von Popes Essay on Man oder mit einer verbreiteten Lesart dieser Philosophie auseinanderzusetzen. Während die Lehrgedichte sich im Hinblick auf den Status des dargebotenen Wissens also durchaus ähneln, erscheinen sie zugleich als höchst

4 Das Lehrgedicht in der Dichtungstheorie: Rechtfertigung durch Reduktion

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vielfältig, was die Modi der Wissensdarbietung betrifft: Die hier untersuchten vier Lehrgedichte bieten ein bemerkenswert breites Spektrum an ‚Tönen‘, Redeweisen und Sprecherrollen. Das hymnische Lob des schönen Lebens in Le Mondain und die freche Absage, die der Sprecher dieses Gedichts den Luxuskritikern erteilt, sind weit entfernt von dem ernsten, feierlichen und stellenweise demutsvollen Gestus, mit dem der Sprecher im Poème de la loi naturelle auftritt. Zwischen diesen Gedichten kann man die Discours en vers sur l’homme mit ihrem gelassenen, häufig heiteren und gelegentlich ernsten Tonfall ansiedeln. Im Poème sur le désastre de Lisbonne schließlich dominiert ganz jene Klage über die Hinfälligkeit der condition humaine, der im Poème sur la loi naturelle nur kürzere Teile gewidmet waren.

4 Das Lehrgedicht in der Dichtungstheorie: Rechtfertigung durch Reduktion 4.1 Kritik und Verteidigung des Lehrgedichts im 18. Jahrhundert Die Gattung des Lehrgedichts wurde im 18. Jahrhundert nicht nur in der dichterischen Praxis kultiviert, sondern bildete auch den Gegenstand lebhafter dichtungstheoretischer Diskussionen. Das vorliegende Kapitel soll keinen umfassenden Überblick über diese theoretischen Erörterungen bieten; ein solches Panorama müsste unweigerlich vieles wiederholen, was in den einschlägigen Arbeiten Jägers, Siegrists und Fabians zum Lehrgedicht528 sowie in Studien zur Gattungstheorie des 18. Jahrhunderts529 bereits ausführlich dargestellt worden ist. Das Kapitel konzentriert sich daher auf Aspekte der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Lehrgedicht, die hinsichtlich der Leitfragen der Arbeit sowie mit Blick auf die Forschungslage besonders diskussionswürdig sind. Generell ist zunächst festzuhalten, dass das Lehrgedicht, so intensiv es von Autoren des 18. Jahrhunderts gepflegt wurde, für die „Poetik“ dieser Zeit gleichwohl ein „Problem“ darstellte, um es mit Bernhard Fabians bekanntem

528 Vgl. Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“; Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, vor allem S. 20–88; Fabian, „Das Lehrgedicht als Problem der Poetik“; ders., „Die didaktische Dichtung in der englischen Literaturtheorie des achtzehnten Jahrhunderts“, in: Festschrift für Walther Fischer, Heidelberg 1959, S. 65–92. 529 Vgl. zuletzt v. a. Stefan Trappen, Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 19. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre, Heidelberg 2001, v. a. S. 188–197. Ferner weiterhin Klaus R. Scherpe, Gattungspoetik im 18. Jahrhundert. Historische Entwicklung von Gottsched bis Herder, Stuttgart 1968, zum Lehrgedicht v. a. S. 91, 111–113.

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II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte

Aufsatztitel zu sagen.530 Die dichtungstheoretischen Erörterungen zum Lehrgedicht kreisen zwar keineswegs ausschließlich, aber doch zu einem großen Teil um die Fragen, ob das Lehrgedicht überhaupt als eine Gattung der Poesie anzusehen sei und, falls ja, welcher Rang dieser Gattung zukomme. In Johann Christoph Gottscheds Critischer Dichtkunst und in Charles Batteux’ systematischer Dichtungstheorie wird das Lehrgedicht aus der Dichtung ausgeschlossen oder nur zögerlich als ein Randphänomen akzeptiert.531 Der Grund für die Ausgrenzung oder nur mit Vorbehalten vollzogene Anerkennung ist bei beiden Autoren im Wesentlichen derselbe wie bei Aristoteles: In Lehrgedichten wird keine Handlung nachgeahmt, folglich sind sie keine Dichtung. Die Auffassungen Gottscheds und Batteux’ stoßen aber früh auf Widerspruch und werden von ihnen selbst in späteren Auflagen ihrer Schriften oder in anderen Abhandlungen revidiert.532 In den mittleren Jahrzehnten des Jahrhunderts werden engagierte dichtungstheoretische Verteidigungen des Lehrgedichts verfasst, zugleich aber auch neue, nicht mehr aristotelisch begründete Infragestellungen und Abwertungen formuliert. Die Diskussionslage am Ende des Jahrhunderts hat schließlich höchst ambivalenten Charakter: In Deutschland stehen etwa bei Schiller und Goethe sehr kritische Urteile über das Lehrgedicht insgesamt oder zumindest über die Lehrgedichte des ablaufenden Jahrhunderts neben der Forderung nach wahren oder höheren Lehrgedichten, die das neu bestimmte Wesen der Gattung erfüllen. Mit Bezug auf die Ästhetik der englischen Romantiker hat David Duff vom ‚Antididacticism‘ als einem ‚contested principle‘ gesprochen und eine ungelöste Spannung konstatiert, die sich aus der Ablehnung des Lehrgedichts einerseits, der emphatischen Betonung des erkenntnisvermittelnden Potentials der Dichtung andererseits ergebe.533 Wie oben schon angedeutet wurde, stützen sich die Infragestellungen des Lehrgedichts, die im Laufe des 18. Jahrhunderts formuliert werden, auf unterschiedliche Begründungen, die verschiedenen Dichtungsbegriffen korrespondieren. Dabei unterscheiden sich diese lehrgedichts-kritischen Positionen auch im Hinblick darauf, ob sie dezidiert den Wert von Lehrgedichten bestreiten oder ‚nur‘ darauf bestehen, dass solche Produktionen, wie wertvoll auch immer sie sein mögen, aufgrund des Mimesiskriteriums keine Dichtung seien. Auf der anderen Seite finden sich Verteidigungen oder Rechtfertigungen des Lehrgedichts, die sich ebenfalls verschiedenartiger Argumentationen bedienen und teils mehr, teils weniger weitreichende Thesen vertreten. Ganz grob kann man 530 Vgl. Fabian, „Das Lehrgedicht als Problem der Poetik“. 531 Vgl. Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 21–23 (zu Gottsched), 26 (zu Batteux). 532 Vgl. ebd., S. 21–27. 533 Vgl. Duff, „Antididacticism as a Contested Principle of Romantic Aesthetics“.

4 Das Lehrgedicht in der Dichtungstheorie: Rechtfertigung durch Reduktion

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zwei Varianten oder Ebenen in der Verteidigung des Lehrgedichts unterscheiden: Erstens unternehmen es mehrere Theoretiker, die das Prinzip der Nachahmung als Grundlage aller Dichtung akzeptieren, darzulegen, dass das Lehrgedicht auch unter diesen Voraussetzungen als dichterische Gattung anerkannt werden könne. Diese Rechtfertigungen des Lehrgedichts haben somit eher defensiven Charakter. Zweitens gibt es schon früh auch offensivere Stellungnahmen zugunsten des Lehrgedichts, die den Wert der von Lehrgedichten erbrachten Leistungen ins Zentrum stellen, wobei sie die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem Nachahmungsprinzip als unproblematisch oder unwichtig betrachten. Diese Verteidigungen suchen vor allem zu zeigen, weshalb die Präsentation von wissenschaftlichen oder philosophischen Lehren in Gedichtform sehr nützlich oder auf andere Weise schätzenswert ist. Mit Blick auf das Verhältnis zwischen Dichtungstheorie und dichterischer Praxis könnte man nun vermuten, dass es eine Affinität zwischen den offensiven theoretischen Rechtfertigungen des Lehrgedichts und der Praxis gebe. Die Lehrdichter selbst sind, sofern sie ihre Lehrgedichte nicht aus opportunistischen Gründen verfassen, offenbar nicht nur von der Legitimität, sondern auch vom Wert dieser Gattung überzeugt, und es kann als eine naheliegende Annahme erscheinen, dass sie sich dabei auf die Gründe stützen, die von den Theoretikern zur Rechtfertigung und Aufwertung der Gattung angeboten wurden. Diese Annahme bejahen im Wesentlichen Jäger und Siegrist in ihren einschlägigen Arbeiten. Dabei lässt sich aus chronologischen Gründen kaum behaupten, dass die theoretischen Rechtfertigungen des Lehrgedichts die entscheidenden Anstöße zur intensiven Pflege dieser Gattung gegeben haben: Die einflussreichen Lehrgedichte Hallers und Popes etwa erscheinen früher als die ersten ausführlichen Erörterungen und Rechtfertigungen des Lehrgedichts. Diesen Umstand, den Jäger und Siegrist nicht bestritten, aber auch nicht näher thematisiert haben, hat Albertsen zu Recht hervorgehoben.534 Doch dieser Hinweis auf die zeitliche Priorität der dichterischen Praxis allein genügt nicht, die Annahme einer weitgehenden sachlichen Konvergenz zwischen Theorie und Praxis zu entkräften: Es ist durchaus denkbar, dass die Dichtungstheoretiker etwa seit den 1740er und 1750er Jahren nachträglich Überzeugungen explizit machen und ausarbeiten, die der lehrdichterischen Praxis schon seit etwa 1730 oder noch früher zugrunde lagen. Doch wie im Folgenden deutlich werden soll, ist eine sachliche Konvergenz zwischen der Praxis der Lehrdichter und den offensiven, programmatischen Rechtfertigungen des Lehrgedichts in wesentlichen Hinsichten nicht oder nur

534 Vgl. Albertsen, „Zur Theorie und Praxis der didaktischen Gattungen im deutschen 18. Jahrhundert“, S. 186 f.; ders., „Das Lehrgedicht und die deutsche Aufklärung“, S. 225.

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sehr bedingt vorhanden. Im Folgenden werden einige dieser theoretischen Rechtfertigungen im Hinblick darauf analysiert, wie sie die von Lehrgedichten geleistete oder zu leistende Wissensvermittlung konzipierten. Der Vergleich mit den Resultaten der in den vorangehenden Kapiteln entwickelten Gedichtinterpretationen wird zeigen, dass die diesbezüglichen Aussagen der Dichtungstheorien die spezifischen Zielsetzungen der Lehrdichter kaum erfassen. Die Reduktionen, die die Theorien in dieser Hinsicht aufweisen, lassen sich in gewissem Maße auf einen gemeinsamen Nenner bringen und auf die spezifischen Interessen und Problemstellungen der Theoretiker zurückführen. Wenn das Kapitel vor allem die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis herauszuarbeiten sucht, zielt es damit also nicht allein auf eine Kritik der älteren Forschungsthesen; es soll vielmehr auch begründete Vermutungen dazu entwickeln, wie sich diese Diskrepanz unter Rekurs auf die besonderen Voraussetzungen und Ziele der Dichtungstheorien erklären lässt.

4.2 Theoretiker über die Ziele von Lehrgedichten Ein frühes Beispiel für eine offensive Stellungnahme zugunsten des Lehrgedichts liefert Breitinger in seiner Critischen Dichtkunst (1740). Breitinger bietet in dieser Schrift keine eingehende systematische Erörterung der literarischen Gattungen, doch er bezieht sich an verschiedenen Stellen und auf prägnante Weise auf das Lehrgedicht. Die wesentlichen Züge dieser Gattung bestimmt er wie folgt: „[D]ie Lehr-Gedichte unterrichten uns auf eine ergezende und leichte Weise von den Geheimnissen gantzer Wissenschaften oder besonderer Stücke derselben.“535 Damit aber beschreibt Breitinger die Leistung von Lehrgedichten fast genauso wie die Leistung der Dichtkunst überhaupt. Denn Redekunst und Dichtkunst, so erläutert Breitinger im ersten Abschnitt der Abhandlung, dienen dem Zweck, die „von den Weltweisen mittelst tiefen Nachsinnens erkannt[e]“ „Wahrheit“ für die „groben Sinnen der meisten Menschen“ so angenehm zu machen, „daß sie allgemein werde“.536 So können mithilfe der „Kunst der Wohlredenheit und Poesie [. . .] Weißheit und Tugend [. . .] dem Menschen gantz angenehm, und darum

535 Breitinger, Critische Dichtkunst, Bd. 1, S. 88. Für Breitinger lässt sich diese Gattung offenbar problemlos dem Prinzip der Nachahmung der Natur, das bekanntlich auch er ins Zentrum stellt, einordnen: Die „verschiedenen Arten und Gattungen Gedichte“ sind ihm zufolge „so viele ungleiche Mittel und Wege, so die Kunst der poetischen Nachahmung erfunden hat, das erbauliche Ergezen, als ihre Haupt-Absicht zu erhalten.“ (Ebd., S. 87) 536 Ebd., Bd. 1, S. 6.

4 Das Lehrgedicht in der Dichtungstheorie: Rechtfertigung durch Reduktion

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auch allgemein gemachet werden.“537 Als Beispiel für ein Gedicht, das diese Aufgabe der Dichtung überhaupt vorbildlich erfülle, nennt Breitinger denn auch ein Lehrgedicht, nämlich „das philosophische Gedicht des Engelländischen Poeten Pope von dem Menschen“.538 Auch an anderen Stellen der Critischen Dichtkunst äußert Breitinger sich günstig über Popes Essay on Man sowie über Lehrgedichte Hallers und ermuntert die deutschen Dichter dazu, diese Gattung fleißiger zu kultivieren.539 Breitingers knappe Bemerkungen zum Lehrgedicht, denen seine ausführliche Vertheidigung der Schweitzerischen Muse, Hrn. D. Albrecht Hallers (1744) an die Seite zu stellen wäre,540 formulieren eine Sicht auf die Leistung von Lehrgedichten, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts von mehreren Theoretikern variiert wird. Die Theorien unterscheiden sich vor allem darin, wie sie die spezifischen Eigenschaften der poetischen Sprache, die Lehrgedichte in ihrer ‚Bearbeitung‘ der philosophischen Wahrheiten zur Geltung bringen, genauer bestimmen. Pointierte Aussagen hierzu bietet etwa Christoph Joseph Sucro in seiner „Abhandlung von philosophischen Gedichten“, die in seinem 1747 veröffentlichten Band Versuche in Lehrgedichte und Fabeln enthalten war.541 Die Abhandlung ist innerhalb der deutschen Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts eine der ersten eingehenderen Auseinandersetzungen mit dem Lehrgedicht und zugleich eine der nachdrücklichsten theoretischen Verteidigungen dieser Gattung. Sucro bezieht dabei innerhalb der zeitgenössischen Diskussionslage insofern eine avancierte Position, als er das Wesen der Poesie von vornherein nicht mithilfe des Nachahmungsbegriffs, sondern anhand von Baumgarten’schen Konzepten bestimmt.542 Sucro beginnt mit der Feststellung: Man hat die Poesie zu allen Zeiten nicht so wohl für eine durch gewisse Gegenstände bestimmte Wissenschafft, als vielmehr für eine Art zu dencken gehalten, die sich mit vielerley Wahrheiten beschäftigen könnte.543

537 Ebd., Bd. 1, S. 7. 538 Ebd., Bd. 1, S. 9. 539 Vgl. etwa ebd., S. 116 f. 540 Vgl. [Johann Jacob Breitinger], Vertheidigung der Schweitzerischen Muse, Hrn. D. Albrecht Hallers, Zürich 1744. 541 Vgl. Christoph Joseph Sucro, „Abhandlung von philosophischen Gedichten“, in: Ders., Versuche in Lehrgedichten und Fabeln. Halle im Magdeburgischen 1747. Mit einem Nachwort herausgegeben von Yvonne Wübben. Hannover 2008, S. 7–25. 542 Zu Sucros Rekurs auf die Begriffe und Theorien Baumgartens vgl. auch: Yvonne Wübben, „Nachwort“, in: Sucro, Versuche in Lehrgedichten und Fabeln [1747]. Yvonne Wübben (Hrsg.), Hannover 2008, S. 85–105, hier vor allem S. 92 f., 103. 543 Sucro, „Abhandlung von philosophischen Gedichten“, S. 7.

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II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte

Was die Poesie als eine besondere Art des Denkens kennzeichne, sei ihr hohes Maß an „sinnliche[r] Klarheit und Lebhafftigkeit“, das mit einem geringen Grad an „philosophische[r] Deutlichkeit“ einhergehe.544 Diesen Eigenschaften der Poesie entspreche es, dass „zum poetischen Vortrage hauptsächlich die untern Seelenvermögen in einem mercklich hohen Grade erfordert [werden]“.545 Ein und derselbe Gedanke kann nach Sucro entweder auf poetische oder philosophische Weise gedacht oder bearbeitet werden; im ersten Fall wird ihn ein hohes Maß an sinnlicher Klarheit und Lebhaftigkeit, aber ein geringes Maß an philosophischer Deutlichkeit kennzeichnen, im zweiten Fall verhält es sich andersherum. Philosophische Gedichte sind nach Sucro solche, in denen „philosophische Gedancken“ vorherrschen; philosophische Gedanken sind „alle deutliche, richtig zusammenhangende Gedancken, Urtheile, Schlüsse, von den vornehmsten, folglich auch wesentlichen und algemeinen Beschaffenheiten der Dinge“.546 Unter dogmatischen Gedichten oder Lehrgedichten versteht Sucro eine Unterart der philosophischen Gedichte, nämlich solche, die von „dogmatischen, das ist, gemeinen oder allgemeinen Hauptsätzen“ handeln.547 Ihre sinnliche Klarheit und Lebhaftigkeit erreichen philosophische Gedichte laut Sucro dadurch, dass sie sich mit einfachen Kennzeichnungen von Gegenständen begnügen und nicht alle Begriffe umständlich definieren, sowie ferner durch den Gebrauch uneigentlicher, ‚verblümter‘ Ausdrücke. Dass die Poesie und die Philosophie dieselben Gedanken bearbeiten können und sich ihre Produkte nur durch graduelle Differenzen unterscheiden, bedeutet für Sucro ausdrücklich auch, dass man die sinnliche Rede von Gedichten – sofern ihr „gesunde Gedancken zum Grunde liegen“ – in abstrakte, philosophische Sprache übersetzen kann. Sucro führt das am Beispiel zweier Verse Hallers vor, die im Zuge der Leipzig-Zürcher Auseinandersetzungen um seine Gedichte mehrfach als besonders dunkel angeprangert worden waren: Ich will die Möglichkeit einer solchen Übersetzung mit einem Beyspiele aus Hallers zweyten Buch vom Ursprung des Bösen [sic], bestätigen, und dazu eins wählen, worinn gewisse Kunstrichter mit vieler Mühe erst haben Gedancken finden können. Es heißt: Befruchtet mir der Krafft des wesenreichen Wortes Gebiehrt das alte Nichts etc. etc. Weil bey diesen uneigentlichen, verblümten und sinnlichen Ausdrücken lauter gesunde Gedancken zum Grunde liegen, so lassen sie sich leicht so übersetzen:

544 545 546 547

Ebd., S. 9. Ebd., S. 11. Ebd., S. 13. Ebd., S. 23.

4 Das Lehrgedicht in der Dichtungstheorie: Rechtfertigung durch Reduktion

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Durch den allmächtigen Befehl des höchsten Wesens, dessen Verstand der Grund aller Wesen ist, kommt zu dem ewigen Nichts (Nihilo privativo) d.i. zu dem ewigen Wesen oder blossen Möglichkeiten der endlichen Dinge, auch noch die in dem Wesen dieser Dinge einestheils mitgegründete Würcklichkeit derselben. Eben so denckt der Weltweise die Schöpfung auch, und der Unterschied zwischen ihm und dem Dichter beruhet nur auf dem Vortrage.548

Damit hat Sucro dargelegt, was das Wesen von philosophischen Gedichten und von Lehrgedichten ausmacht und mithilfe welcher Mittel sie die für sie wesentliche Sinnlichkeit und Lebhaftigkeit realisieren. Aber was ist der Zweck der so bestimmten philosophischen Gedichte? Auf diese Frage gibt Sucro keine direkte Antwort. Er äußert sich aber ausdrücklich über das intendierte Publikum philosophischer Gedichte, und seine Aussagen hierzu machen deutlich, dass er eine Zweckbestimmung philosophischer Gedichte dezidiert ablehnt: Philosophische Gedichte dienen nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie der Popularisierung philosophischer Einsichten. Vielmehr sind „philosophische, oder Lehrgedichte hauptsächlich nur für Leser geschrieben, die zur Lesung derselben den Philosophen mitbringen“,549 also bereits über solide philosophische Vorkenntnisse verfügen.550 Die polemischen oder zumindest kritischen Passagen in Sucros Abhandlung richten sich denn auch nicht gegen Dichtungstheoretiker, die das Lehrgedicht aus der Dichtung ausschließen wollen, sondern gegen die Anhänger einer gedanklich anspruchslosen Poesie und gegen die Auffassung, alle Leser seien gleichermaßen zur Beurteilung von Gedichten qualifiziert und Gedichte müssten für jedermann verständlich sein.551 Sucro propagiert philosophische Gedichte und Lehrgedichte nicht als Instrumente der Popularisierung, sondern als eine elitäre Gattung, die sich gezielt an die „Kenner der Wissenschafften, woraus ihre Hauptsätze genommen werden“,552 wendet. Zugleich trennt er die philosophischen Gedichte aber klar von der eigentlichen Philosophie, indem er die Gedichte auf die Darbietung sinnlicher und lebhafter, aber undeutlicher Gedanken festlegt.

548 Ebd., S. 15. 549 Ebd., S. 23. 550 Sucros Position ähnelt hier derjenigen, die Abraham Gotthelf Kästner in seinen poetologischen Gedichten formulierte, so etwa in dem Gedicht Gedanken über die Verbindlichkeit der Dichter, allen Lesern deutlich zu seyn. Vgl. Kästner, Vermischte Schriften, S. 76–81. Das Gedicht war zuerst 1744 in den Belustigungen des Verstandes und des Witzes erschienen (vgl. Baasner, Abraham Gotthelf Kästner, S. 167; vgl. auch die Wiedergabe und die Interpretation des Gedichts ebd., S. 260–275). 551 Vgl. Sucro, „Abhandlung von philosophischen Gedichten“, S. 7–9, 14–16. 552 Ebd., S. 24.

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II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte

Sucros Ansicht, dass Lehrgedichte für informierte Kenner der behandelten Materien geschrieben werden, stellte innerhalb der Reflexion über das Lehrgedicht im 18. Jahrhundert eine Minderheitenposition dar. Seine Überlegungen zu Sinnlichkeit und Lebhaftigkeit als den Qualitäten, die Lehrgedichte in ihrer Verarbeitung philosophischer Wahrheiten anstreben, können aber als eine Version eines Grundgedankens gelten, der sich bei diversen Theoretikern findet, so auch bei Johann Georg Sulzer. Seine Allgemeine Theorie der Schönen Künste enthielt im 1774 erschienenen zweiten Teil einen Artikel mit der Überschrift „Lehrgedicht“, den Sulzer in die zweite Auflage von 1793 weitgehend unverändert übernahm.553 Sulzers Auffassung vom Lehrgedicht stützt sich ähnlich wie diejenige Sucros wesentlich auf die Psychologie Wolffs, ist ebenfalls von Baumgarten beeinflusst554 und stellt wie die Theorie Sucros den Begriff der Sinnlichkeit ins Zentrum. Dennoch setzt Sulzer einige Akzente deutlich anders als Sucro, nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage nach den Aufgaben des Lehrgedichts. Da oben Sucros Definitionen von ‚philosophisches Gedicht‘ und ‚dogmatisches Gedicht‘ wiedergegeben wurden, sei zunächst festgehalten, dass Sulzer nicht nur seinen Artikel mit „Lehrgedicht“ überschreibt, sondern auch in demselben konsequent diesen Ausdruck verwendet und nicht mehr von dogmatischen Gedichten oder philosophischen Gedichten spricht. Die Beispiele, die er für

553 Vgl. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste [. . .]. Zweyter Theil, von K bis Z. Leipzig 1774, S. 688–691; ders., Allgemeine Theorie der Schönen Künste [. . .]. Neue vermehrte zweyte Auflage. Dritter Theil. Leipzig 1793, S. 172–221 (darin S. 176–221: eine Auflistung von Lehrgedichten in verschiedenen Sprachen). 554 Zu Sulzers Dichtungstheorie und ihrem Verhältnis zu Wolff und Baumgarten vgl. etwa: Ernst Stöckmann, Anthropologische Ästhetik. Philosophie, Psychologie und ästhetische Theorie der Emotionen im Diskurs der Aufklärung, Tübingen 2009, S. 201–250; Sandra Richter, A History of Poetics. German Scholarly Aesthetics and Poetics in International Context, 1770–1960, Berlin/ New York 2010, S. 43–49; Armand Nivelle, Kunst- und Dichtungstheorien zwischen Aufklaerung und Klassik. 2., durchgesehene und ergänzte Aufl., Berlin 1971, S. 47–55. Als ein Angehöriger der ‚Baumgartenschen Schule‘ wird Sulzer auch behandelt bei: Kevin F. Hilliard, „Die ‚Baumgartensche Schule‘ und der Strukturwandel der Lyrik in der Gefühlskultur der Aufklärung“, in: Achim Aurnhammer/Dieter Martin/Robert Seidel (Hrsg.), Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung, Tübingen 2004, S. 11–22. – Es sei betont, dass diese schlagwortartigen Hinweise selbstverständlich den philosophiegeschichtlichen Hintergrund der Sulzer’schen Ästhetik in seiner Komplexität nicht angemessen beschreiben können. Für differenziertere Analysen hierzu vgl. den Sammelband: Frank Grunert/Gideon Stiening (Hrsg.), Johann Georg Sulzer (1720–1779). Aufklärung zwischen Christian Wolff und David Hume, Berlin 2011; zur Ästhetik Sulzers insbesondere: Werner Euler, „Die Idee des Schönen in Sulzers allgemeiner Theorie des Vergnügens“, in: ebd., S. 101–133; Élisabeth Décultot, „Johann Georg Sulzers ‚System der schönen Künste‘“, in: ebd., S. 211–225; Jutta Heinz, „‚Für Weltleute hinreichend‘ – Popularästhetik in Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste“, in: ebd., S. 191–208.

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bedeutende Lehrgedichte gibt, sind aber teilweise identisch mit den von Sucro angeführten Mustern philosophischer Gedichte: Beide nennen unter anderem Hallers Ueber den Ursprung des Uebels und Popes An Essay on Man.555 Sulzers Artikel kann somit als ein Indiz dafür gelten, dass sich um 1770 gegenüber der Zeit um 1750 eine terminologische Vereinheitlichung vollzogen hat. Zu Beginn seines Artikels gibt Sulzer eine Definition des Begriffs ‚Lehrgedicht‘. Lehrgedichte sind demnach nicht einfach dadurch gekennzeichnet, dass sie Lehren oder nützliche Wahrheiten mitteilen, denn dies könne man in allen Dichtungsarten tun. Zu einem Lehrgedicht wird ein Gedicht erst dadurch, „daß ein ganzes System von Lehren und Wahrheiten, nicht beyläufig, sondern als die Hauptmaterie im Zusammenhang vorgetragen, und mit Gründen unterstützt und ausgeführt wird.“556 Im Gegensatz zu Sucro geht Sulzer dann explizit darauf ein, dass das Lehrgedicht von manchen „Kunstrichter[n]“ aus der Poesie ausgeschlossen worden sei, wobei er als Begründung dafür nicht das aristotelische Mimesiskriterium nennt, sondern die von der Poesie geforderte „Lebhaftigkeit“ und „Sinnlichkeit“, die mit dem „Unterricht“ nicht vereinbar zu sein scheine. Diese Auffassung wird von Sulzer für falsch oder zumindest für partiell falsch erklärt: Es gebe durchaus „gründliche Systeme von Wahrheiten, die auf eine sinnliche, dem [sic] anschauenden Erkenntnis einleuchtende Weise können gesagt werden“.557 Diese Position begründet Sulzer zunächst nicht mithilfe theoretischer Überlegungen, sondern durch den Verweis auf Werke wie Hallers Ueber den Ursprung des Uebels, Popes An Essay on Man sowie Boileaus und Horaz’ Gedichte über die Dichtkunst, „denen man, ohne in verächtliche Spizfündigkeiten zu verfallen, den Namen sehr schöner Gedichte nicht versagen kann“.558 Im Folgenden führt Sulzer einige der Verfahren auf, deren sich der Dichter beim sinnlichen Vortrag eines Systems von Wahrheiten bedienen kann, und charakterisiert den psychischen Zustand des Dichters, dem sich Lehrgedichte verdanken. Sulzer will nicht nur die Zugehörigkeit des Lehrgedichts zur Poesie verteidigen, sondern auch nachweisen, dass das Lehrgedicht sogar ein besonders wichtiger Teil der Dichtung sei. Zu diesem Zweck äußert er sich über die Leistungen und Aufgaben dieser Gattung in weit expliziterer Form, als Sucro dies getan hatte. Wesentlich für Lehrgedichte ist Sulzer zufolge, wie erwähnt, dass sie „ein ganzes System von Lehren und Wahrheiten“ im Zusammenhang ausbreiten.

555 Vgl. Sucro, „Abhandlung“, S. 12, 15 (zu Hallers Ueber den Ursprung des Uebels). Erwähnungen Popes finden sich u. a. ebd., S. 7. Vgl. Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Zweyter Theil, 1774, S. 688, 690. 556 Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Zweyter Theil, 1774, S. 688. 557 Ebd. 558 Ebd.

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Dass Sulzer dieser Leistung einen so hohen Wert zuschreibt, beruht auf seiner Moralphilosophie: Die Aneignung und Verinnerlichung eines Systems von Wahrheiten – genauer: eines Systems „praktischer Wahrheiten“ – ist ihm zufolge die Voraussetzung dafür, dass „der Mensch von gutem Herzen [. . .] zu einem vollkommenen Menschen“ wird.559 Die „Empfindung“ allein sei keine hinreichende Richtschnur des moralischen Handelns, nur ein „gründliches System praktischer Wahrheiten“ könne jede „Angelegenheit in dem wahren Gesichtspunkt“ darstellen und die „Entschließungen“ des Menschen „auf das rechte Ziel lenk[en]“.560 Diese Begründung lässt sich also, streng genommen, nur auf Lehrgedichte mit einer vorwiegend ethischen Thematik anwenden, kaum auf solche, die „Theorien von Künsten, oder auch ganze Systeme praktischer Regeln“ vortragen, also etwa Gedichte über den Landbau oder die Malerei, die Sulzer gleichwohl auch zu den Lehrgedichten rechnet.561 Anzumerken ist ferner, dass Sulzer hier eine Auffassung von der Motivation moralischen Handelns vertritt, die weder im früheren noch im späteren 18. Jahrhundert unumstritten war und von vielen Lehrdichtern der ersten Jahrhunderthälfte vermutlich nicht unterschrieben worden wäre: Zumindest einige Varianten der moral sense-Theorie besagten, dass der Besitz eines ‚gründlichen Systems praktischer Wahrheiten‘ gerade nicht entscheidend für die Ausbildung moralisch wertvoller Motivationen ist; aber auch Hallers Überzeugung, dass das Handeln wesentlich durch das Herz bestimmt wird, das Herz sich aber nur sehr bedingt vom Verstand leiten lässt, wäre mit Sulzers Theorie kaum vereinbar gewesen. Die Lehrgedichte verdanken für Sulzer ihren hohen Wert also dem Umstand, dass sie ganze Systeme von Lehren und Wahrheiten darbieten, aber diese Systeme sollen nicht von den Lehrdichtern selbst entwickelt werden. Deutlicher als Sucro beschreibt Sulzer die Beziehung zwischen Philosophen und Lehrdichtern als eine Kooperation mit strikter Aufgabentrennung, in der die Philosophen für das Erfinden und Begründen, die Lehrdichter für das Versinnlichen und Verbreiten von Wahrheiten zuständig sind.562 Sulzer zählt denn auch eine Reihe von wichtigen Themen auf, um die sich Lehrdichter verdient 559 Ebd., S. 690. 560 Ebd. 561 Ebd. 562 Zunächst unterscheidet Sulzer noch nicht zwischen Philosophen und Dichtern, sondern zwischen Nachdenken und Geschmack: „Obgleich die Entdekung der Wahrheit ofte das Werk eines kalten und gesezten philosophischen Nachdenkens ist, so bleibet doch der nachdrükliche und eindringende Vortrag derselben allemal ein Werk des Geschmaks.“ (Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Zweyter Theil, 1774, S. 688) Später bestimmt Sulzer ausdrücklich die Aufgaben der Philosophie und der Dichtkunst: „Erst durch ein gründliches System praktischer Wahrheiten, wird der Mensch von gutem Herzen, zu einem vollkommenen

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machen könnten, und äußert den Wunsch, Wieland möge noch einmal in das Gebiet des Lehrgedichts zurückkehren, in dem er sich in seiner Jugend schon aufgehalten hatte.563 Eine Aufgabe erscheint Sulzer als besonders verlockend und dem Dichter Wieland gemäß: „Ein Dichter von Wielands Geist könnte sich einen unsterblichen Namen machen, wenn er Leibnizen würde, was Lukretius dem Epicur ist.“564 Diese Hoffnung auf ein von Wieland oder einem „Dichter von Wielands Geist“ verfasstes leibnizianisches Lehrgedicht bekräftigt Sulzers Position, dass das Entwerfen von Systemen die Sache der Philosophen sei, den Dichtern aber (nur) das Versinnlichen zukomme. Johann Jacob Engels Überlegungen zum Lehrgedicht in seiner Schrift Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten aus deutschen Mustern entwickelt (1783), die als einer der innovativsten Beiträge zur gattungstheoretischen Diskussion im späten 18. Jahrhundert gilt,565 stimmt in manchen Punkten mit Sulzer überein, setzt aber auch neue Akzente. Dem Lehrgedicht widmet Engel ein ausführliches Kapitel, in dem er die wesentlichen Merkmale der Gattung auf induktivem Wege, anhand einer Analyse konkreter Texte, zu ermitteln sucht. Auf dieselbe Weise bestimmt er im ersten Teil der Schrift auch das Wesen der Poesie überhaupt, das darin bestehe, durch „den Gebrauch der Rede [. . .] lebhaftere Vorstellungen auszudrücken und zu erzeugen“.566 Das bedeute, dass die Dichtung diejenigen „Seelenkräfte“, die „zur Empfängniß solcher Vorstellungen geschickt sind, [. . .] in Uebung zu setzen, und sie durch diese Uebung zu erhöhen und zu schärfen“ trachtet; bei diesen Seelenkräften handelt es sich um „die Sinne, die Einbildungskraft, den Witz [und] das sympathetische Gefühl“.567

Menschen. [. . .] Es ist das Werk der Philosophie diese Wahrheiten zu entdeken; aber die Dichtkunst allein, kann ihnen auf die beste Weise die würksame Kraft geben.“ (Ebd., S. 690) 563 Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Zweyter Theil, 1774, S. 690. 564 Ebd., S. 691. Diese im Jahre 1774 in Wielands Richtung gesprochenen Ermunterung kann insofern etwas überraschen, als Wieland in seinem Jugendwerk Die Natur der Dinge, das Sulzer an anderer Stelle im Artikel knapp erwähnt (vgl. ebd., S. 690.), ein metaphysisches System entworfen hatte, das zum Teil auf Leibniz’ Theorien aufbaute. Allerdings hatte Wieland diese Theorien dort in eigenständiger (und vielleicht eigenwilliger) Weise modifiziert, und dies in der erklärten Absicht, Leibniz zu überbieten. 565 Vgl. [Johann Jacob Engel], Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten aus deutschen Mustern entwickelt. Erster Theil, Berlin 1783, S. 89–130. – Vgl. zu dieser Schrift Engels und zur Originalität seines Ansatzes: Trappen, Gattungspoetik, S. 140–172; Richter, A History of Poetics, S. 59–61; Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 27 f.; Anna Cullhed, The Language of Passion. The Order of Poetics and the Construction of a Lyric Genre 1746–1806, Frankfurt a.M. [u. a.] 2002, S. 73–80. 566 [Engel], Anfangsgründe, S. 10. 567 Ebd.

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In dem Kapitel über das Lehrgedicht will Engel die Frage klären, was ein Lehrgedicht zu einem wahren Gedicht mache,568 also ähnlich wie Sulzer die Poetizität von Lehrgedichten aufzeigen. Sulzer hatte zur Bestimmung des Wesens der Poesie auch schon den Begriff verwendet, den Engel nun ins Zentrum rückt: den Begriff der „Lebhaftigkeit“. Ausgehend von der Analyse eines Auszugs aus einem Gedicht Hallers legt Engel dar, dass auch Lehrgedichte auf Lebhaftigkeit der Vorstellungen zielen, diese aber in spezifischer Weise zu erreichen suchen. Seine Explikation von ‚Lebhaftigkeit‘ und seine Überlegungen zu den Mitteln, diese im Lehrgedicht zu erreichen, gehören zu den eigenständigen und originellen Elementen seiner Ausführungen. Lehrgedichte müssen nach Engel zum einen nach „Reichthum“ der Vorstellungen streben, also etwa einen ‚dürftigen‘ allgemeinen Begriff mit vielen Eigenschaften und Verbindungen anreichern und zudem in kurzer Zeit viele Gedanken aufeinander folgen lassen, zum anderen „den betrachteten Gegenstand in Verbindung mit den Neigungen des menschlichen Herzens bringe“, also seine Bedeutung für „menschliches Glück oder Elend, Vergnügen oder Mißvergnügen“ herausstelle.569 Diese letzte Forderung ist einer der Züge, derentwegen Engels Theorie in der Forschung als ein Repräsentant der „Lyrisierung der Didaxe“ in der Dichtungstheorie eingeordnet worden ist.570 Besonders geeignet für die Behandlung in Lehrgedichten sind daher „Wahrheiten“, die nicht zu abstrakt und unsinnlich sind, sondern eine „natürliche Schönheit“ schon mitbringen und die zudem eine unmittelbar einsichtige „Beziehung auf unsere Glückseligkeit“ besitzen. Dies aber sei „der Vorzug der moralischen Wahrheiten aus der Philosophie des Lebens, so wie auch der großen philosophischen Wahrheiten von Gott, Vorsehung, Unsterblichkeit der Seele u.s.f.“.571 Im Unterschied zu Sulzer versucht Engel nicht zu zeigen, dass Lehrgedichte über solche Themen einen besonders wertvollen Beitrag zur moralischen Erziehung leisten können; der Akzent liegt bei ihm ganz auf dem Gedanken, dass solche Themen es erlauben, in Lehrgedichten besonders lebhafte Vorstellungen zu erzeugen, die Seele besonders umfassend zu beschäftigen und mithin 568 Engel erklärt in dem Kapitel zunächst, der „Stof des didaktischen Gedichts“ seien „allgemeine Wahrheiten“ ([Engel], Anfangsgründe, S. 89), und formuliert dann die „erste Frage“, die es zu klären gelte: „Wenn der Stof des Lehrgedichts allgemeine Wahrheiten sind, und wenn die Dichtkunst die Lebhaftigkeit der Vorstellungen zu ihrem höchsten Endzwecke hat; wie kann alsdann das Lehrgedicht wahres Gedicht seyn?“ (Ebd., S. 90) 569 [Engel], Anfangsgründe, S. 97. 570 Vgl. Hans-Wolf Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“, S. 569 f.; Georg Jäger, „Das Gattungsproblem in der Ästhetik und Poetik von 1780 bis 1850“, S. 388. 571 [Engel], Anfangsgründe, S. 108. Engel fährt an dieser Stelle fort: „In neuern Zeiten, wo durch die Bemühungen der Weltweisen diese wichtigen Gegenstände in ein so helles Licht gesetzt worden sind, hat man daher eben sie am öftersten bearbeitet [. . .].“ (Ebd.)

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poetisch besonders gelungene Lehrgedichte zu verfassen. Das Hervorrufen der lebhaften Vorstellungen und damit die poetische Qualität der Gedichte scheinen für Engel einen Eigenwert darzustellen und nicht aufgrund ihres Beitrags zur didaktischen Effizienz schätzenswert zu sein. Damit nähert er sich zumindest in diesem Punkt einer autonomieästhetischen Position.

4.3 Zum Verhältnis von Theorie und Praxis des Lehrgedichts Wie verhalten sich nun diese theoretischen Ausführungen über die Aufgaben und Ziele von Lehrgedichten zu den Intentionen der Lehrdichter, wie sie die vorliegende Studie bisher zu erschließen versucht hat? Die Bestimmungen der Dichtungstheoretiker, so ist zunächst zu konstatieren, erfassen nur eine bestimmte Art von Absichten und lassen andere Arten unbeachtet. Sucro, Sulzer und Engel heben jeweils hervor, dass Lehrgedichte sinnliche und lebhafte Fassungen von Wahrheiten zu bieten suchen, wobei sie die Begriffe der Sinnlichkeit und Lebhaftigkeit jeweils unterschiedlich explizieren. Damit bleiben, um es etwas schematisch zusammenzufassen, zwei Arten von Absichten der Lehrgedichte unberücksichtigt. Erstens wollten viele Lehrdichter eben nicht nur bereits etablierte Wahrheiten auf sinnliche oder lebhafte Weise präsentieren, sondern selbst Wissensansprüche erheben:572 Pope wollte im Essay on Man ein eigenständiges ‚System der Ethik‘ vorstellen; Haller wollte in seinen Lehrgedichten auch seine Überlegungen zu den Ursachen von Aberglauben und anderen Lastern entwickeln und bestimmte religiöse Praktiken und theologische Positionen verurteilen; Voltaire bezog mit seinem Poème sur la loi naturelle Stellung innerhalb aktueller moralphilosophischer wie kirchenpolitischer Kontroversen. Zweitens: Insofern es den Lehrdichtern darum ging, Wahrheiten in einer bestimmten, also einer der Poesie gemäßen, Form zu präsentieren, bestand das Wesentliche an dieser Form nicht unbedingt in der Sinnlichkeit, Lebhaftigkeit oder Anschaulichkeit. Pope etwa ging es bei der stilistischen Gestaltung des Essay on Man allem Anschein nach wesentlich um die Entwicklung einer Schreibweise, die sich gleichermaßen vom Gestus einer autoritären, aggressiven Belehrung wie vom Ton frivoler Unverbindlichkeit distanzierte. Hagedorn dürfte sich in seinen Lehrgedichten zwar durchaus um Anschaulichkeit und Lebhaftigkeit bemüht haben, aber ebenso um einen kultivierten

572 Zum Begriff des Wissensanspruchs vgl. Andrea Albrecht/Lutz Danneberg/Carlos Spoerhase/Dirk Werle, „Zum Konzept Historischer Epistemologie“, in: Scientia Poetica, 20/2016, S. 137–165, hier S. 140.

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Plauderton, der auf ein spezifisches, sozialgeschichtlich verortbares Geselligkeitsideal verwies. Auch der höchst variable Stil der Lehrgedichte Voltaires sollte nicht nur der Veranschaulichung des gedanklichen Gehalts dienen. Man mag nun einwenden, dass die Charakterisierungen bestimmter Gattungen und ihrer Leistungen in der Dichtungstheorie selten oder nie die komplexen Absichten konkreter Exemplare der Gattung erfassen, dass die oben beschriebene Diskrepanz also nicht ungewöhnlich, sondern der Normalfall ist. Es soll hier keineswegs bestritten werden, dass dem so sein könnte. Dennoch ist es lohnend, mit Bezug auf das Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts diese Diskrepanz deutlich herauszustellen. Zum einen hat man in der Forschung gelegentlich den Ausführungen der Dichtungstheoretiker über die Ziele der Lehrdichter und die Leistungen ihrer Gedichte eine große Autorität zugeschrieben, diese Ausführungen also für im Wesentlichen zutreffende Deutungen gehalten. Zum anderen lohnt sich eine nähere Analyse dieser Differenz zwischen Theorie und Praxis, weil man die Befunde daraufhin befragen kann, inwiefern sie durch allgemeinere Tendenzen in der Dichtungstheorie bedingt wurden. Denn die oben konstatierten Einseitigkeiten oder Ausgrenzungen in den Theorien dürften schwerlich damit zu erklären sein, dass Sucro, Sulzer und Engel inkompetente Interpreten gewesen wären. Es ist im Übrigen selbstverständlich gut möglich, dass diese Theoretiker, wenn sie sich in einem anderen Zusammenhang speziell zu den Absichten einzelner Lehrgedichte hätten äußern sollen, noch weitere Absichten als die in ihren theoretischen Abhandlungen beschriebenen genannt hätten, eventuell auch einige der oben umrissenen. Doch im Rahmen ihrer theoretischen Ausführungen erwähnen sie diese anderen Absichten nicht, und man kann begründete Vermutungen dazu anstellen, weshalb sie ihnen keine Beachtung schenken. Von entscheidender Bedeutung dürfte zunächst sein, dass Sucro, Sulzer und Engel jeweils Leistungen des Lehrgedichts herauszustellen suchen, die für diese Gattung spezifisch sind, also nicht ebenso gut durch Prosatexte erbracht werden könnten. Dieses Bestreben wiederum hängt damit zusammen, dass die drei genannten Theoretiker alle um eine Rechtfertigung, teilweise auch um eine entschiedene Aufwertung des Lehrgedichts bemüht sind. Um das Lehrgedicht zu legitimieren, schreiben sie ihm spezifische Leistungen im Umgang mit Wahrheiten zu, Leistungen, zu denen nur Gedichte oder zu denen sie in besonderem Maße befähigt sind. Aber zu den Intentionen der Lehrgedichtsverfasser gehörten in bedeutenden Fällen ausdrücklich auch solche Intentionen, die die Verfasser ihrer eigenen Auskunft zufolge auch in Prosa hätten verwirklichen können. Besonders deutlich formuliert dies Pope in der Vorrede zum Essay on Man. Nachdem er mitgeteilt hat, dass der Essay ein ‚gemäßigtes, aber nicht inkonsistentes, und ein kurzes, aber nicht unvollständiges System der Ethik‘

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präsentieren solle, erklärt er freimütig: „This I might have done in prose [. . .].“573 Man kann in Frage stellen, ob die von Pope im Folgenden genannten Gründe574 für die Wahl der Versform wirklich die allein entscheidenden Gründe waren und, allgemeiner, ob er in dieser Vorrede seine mit dem Essay on Man verfolgten Absichten vollständig offenlegt. Doch es gibt keinen Anlass zum Zweifel daran, dass die Präsentation eines ‚zwischen den Extremen liegenden‘ Systems der Ethik zu seinen Intentionen gehörte und dass er dies für ein Vorhaben hielt, das er auch in Prosa hätte ausführen können. Pope und andere Verfasser der Lehrgedichte verfolgen also einige Absichten, die keineswegs an die Gedichtform gebunden sind, aber sie setzen sie im Rahmen von Gedichten um, weil ihre Texte auf diese Weise einige zusätzliche Qualitäten erwerben oder weiteren Zwecken dienen können. Diese Autoren betrachten ihre Lehrgedichte also als zusammengesetzte und heterogene Gebilde, in denen genuin poetische oder verssprachliche und allgemeinere, von der Versform unabhängige Qualitäten sich addieren sollen. Dieser Wahrnehmung der Autoren korrespondierte die Haltung zumindest einiger zeitgenössischer Literaturkritiker: Sie beurteilten die Lehrgedichte häufig nicht nur im Hinblick darauf, ob sie die Aufgabe der sinnlichen und lebhaften Einkleidung von Wahrheiten überzeugend erfüllt haben, sondern auch im Hinblick auf die Richtigkeit und Tiefe der dargebotenen Gedanken und die Korrektheit der entwickelten Argumentationen. Das heißt, sie beurteilten die Gedichte unter anderem nach Kriterien, die auch an Prosaaufsätze, Essays oder kurze Abhandlungen angelegt wurden. Ein Beispiel hierfür liefert Gottsched selbst in seiner Besprechung der zweiten Auflage von Hallers Versuch von schweizerischen Gedichten (1734). Die kurze Anzeige, die vor Beginn des Literaturstreits entstand, schließt mit dem Satz: In der That aber muß man die Stärke der Gedanken, und die tiefe Einsicht des Herrn Verfassers loben, die den Abgang der reinen u. fliessenden Schreib- und Reimart völlig ersetzet.575

573 Pope, An Essay on Man, in: TE III.i, S. 7. 574 Der erste Grund, so Pope, beruhe auf der bekannten Tatsache, dass in Versen verfasste Maximen die Leser stärker berühren und besser im Gedächtnis bleiben. Der zweite sei, dass er seine Gedanken in Versen kürzer habe formulieren können, als ihm dies in Prosa möglich gewesen wäre. Vgl. ebd., S. 7 f. 575 [Johann Christoph Gottsched], „[Rez. zu:] D. Albrecht Hallers Versuch von schweizerischen Gedichten, zweyte, vermehrte und veränderte Auflage [. . .]“, in: Beyträge zur Critischen Historie Der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit, 13. Stück, Leipzig 1735, S. 158.

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„Stärke der Gedanken“ und „tiefe Einsicht“ sind Qualitäten, für die offensichtlich auch philosophische Erörterungen in Prosa hätten gelobt werden können. Aber Gottsched wirft in der Rezension nicht die Fragen auf, ob tiefe Gedanken nicht besser in Prosaabhandlungen statt in Gedichten dargeboten werden sollten und wie gegebenenfalls die Darbietung solcher Gedanken in Versform gerechtfertigt werden könnte. Einen solchen Rechtfertigungszwang gibt es für ihn offenbar in diesem Kontext nicht, und ‚Stärke der Gedanken‘ einerseits, ‚reine und fließende Schreib- und Reimart‘ andererseits erscheinen in der Kritik als zwei heterogene Qualitäten, die in Lehrgedichten zusammen oder getrennt auftreten können. Die Wissensansprüche, die mit Lehrgedichten erhoben werden sollten, wurden oben als eine von zwei Dimensionen der Gedichte genannt, die in den Theorien Sucros, Sulzers und Engels unberücksichtigt bleiben. Die Nichtbeachtung dieser Dimension könnte, so sollte hier vorgeschlagen werden, darauf zurückzuführen sein, dass die Theoretiker sich ganz auf Leistungen der Gedichte konzentrierten, die für Lehrgedichte spezifisch sein sollten und nicht ebenso gut in Essays oder Abhandlungen erbracht werden könnten. Zweitens fällt beim Vergleich der Theorien mit den Gedichten auf, dass die Theorien, wo sie Funktionen der poetischen Rede benennen, durchgehend fast ausschließlich auf die Sinnlichkeit und Lebhaftigkeit abheben und andere Funktionen so gut wie unerwähnt lassen, auf die von Dichtern und Kritikern gelegentlich hingewiesen wurde: Die poetische Rede konnte durch einen hohen Stil dem exzeptionellen Rang oder der Würde bestimmter Gegenstände Respekt erweisen, sie konnte sich am Ideal der politeness orientieren, um so auch Leser oder Zuhörer zu belehren, die für strenge, schulmeisterliche oder predigthafte Belehrungen unzugänglich waren. Darüber, wie es zu dieser Einseitigkeit der Theorien des Lehrgedichts kam, kann man wiederum nur vorsichtige Vermutungen formulieren. Aber es gibt einen wohlbekannten Umstand, der diese Fixierung der Theorien auf Sinnlichkeit und Lebhaftigkeit begünstigt haben könnte: Wie oft festgestellt wurde, stützten sich die meisten bedeutenden Dichtungstheorien in Deutschland bis hin zur ‚Baumgartenschen Schule‘ auf die Philosophie Wolffs und nicht zuletzt auf seine psychologischen Theorien und Begriffe. Diese Rahmentheorien sorgten – vereinfacht gesagt – dafür, dass das Verhältnis von oberen und unteren Erkenntnisvermögen, Verstand und Sinnlichkeit, zu einem zentralen Thema der Dichtungstheorien wurde und die Besonderheiten und Leistungen der Dichtung vielfach mithilfe der Begriffe von Sinnlichkeit, Deutlichkeit, Klarheit und Lebhaftigkeit konzipiert wurden. Gerade mit Blick auf Lehrgedichte, die aufgrund ihres Inhalts zunächst einmal eher eine Affinität zu den höheren Erkenntnisvermögen zu besitzen scheinen, mag es nahegelegen haben, die Rolle der unteren Erkenntnisvermögen und damit die Sinnlichkeit ins Zentrum der theoretischen Überlegungen zu rücken.

5 Zusammenfassung

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Die beschriebene Diskrepanz zwischen den Theorien und der Praxis des Lehrgedichts muss also nicht ausschließlich auf individuelle Defizite der einzelnen Theorien zurückgeführt werden, aber auch nicht auf die tendenziell triviale Feststellung reduziert werden, dass theoretische Erörterungen einer Gattung kaum einmal erschöpfende Deutungen der zeitgenössischen Gattungsexemplare liefern dürften. Vielmehr lässt sich diese Diskrepanz zu einem guten Teil als Konsequenz der Tatsache auffassen, dass die dichtungstheoretische Diskussion selbst eine ‚relativ autonome‘ Praktik mit ihren eigenen Problemstellungen, Voraussetzungen und Traditionen ist.

5 Zusammenfassung Dieser Untersuchungsteil hat vielbeachtete und einflussreiche Gedichte der ersten Jahrhunderthälfte analysiert, die in der neueren Forschung meist als Lehrgedichte eingeordnet werden. Einige der Gedichte, insbesondere Popes Essay on Man sowie die Gedichte Hallers, galten im mittleren und späten 18. Jahrhundert geradezu als mustergültige Beispiele des Lehrgedichts, und ihre große Resonanz trug offenkundig wesentlich zum ‚Aufstieg‘ der Gattung in dieser Epoche bei. Die Analysen haben gezeigt, dass die Gedichte auch dann, wenn der Gattungsbegriff im Sinne der vorliegenden Arbeit gefasst wird, als Lehrgedichte eingeordnet werden können, dass sie also in erheblichem Maße die Merkmale dieser Diskurstradition aufgreifen. Entscheidend hierfür ist vor allem die Gestaltung der gedichtinternen Kommunikationssituationen: Es treten Sprecherinstanzen auf, die ausdrücklich einen Adressaten über allgemeine Themen der Moral, der Religion, der menschlichen Natur oder der Gesellschaft belehren wollen. Diese belehrenden Ausführungen sind ferner in vielen der behandelten Gedichte mithilfe gattungstypischer Techniken untergliedert: entweder durch die Aufteilung des Gedichts in mehrere Bücher oder Briefe oder durch explizite Markierungen gedanklicher Zäsuren und thematischer Einheiten. Es ist aber auch deutlich geworden, dass Pope und Voltaire, Haller und Hagedorn die Eigenschaften der Gattung in spezifischer Weise abwandelten und dass sie unterschiedliche generische Bezeichnungen für ihre Gedichte verwendeten. So gibt es keine Indizien dafür, dass sie ihre einschlägigen Gedichte dem Lehrgedicht als einer Gattung zuordneten, die einerseits klar von anderen Gattungen abgegrenzt war, andererseits verschiedene Subgattungen wie das moralische und das fachwissenschaftliche Lehrgedicht einschloss. Wie die Analysen gezeigt haben, griff Pope im Essay on Man unterschiedliche Gattungstraditionen auf, die durch verschiedene vielbeachtete englische Gedichte der Jahrzehnte zwischen etwa 1680 und 1710 repräsentiert wurden. Mit Blick auf Haller

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wurde darauf hingewiesen, dass sein Gedichtkorpus durch Übergänge zwischen Lehrgedicht, Satire und Ode gekennzeichnet ist; bei Hagedorn fällt die starke Annäherung des Lehrgedichts an die Epistel ins Auge. Voltaire kombinierte die charakteristischen Züge des Lehrgedichts in verschiedenen Gedichten mit Strukturelementen der poésie fugitive, der Epistel, des Trauergedichts. Die Annäherung an andere Gedichtgattungen wie insbesondere die Epistel zeigt sich auch darin, dass die hier ausführlich behandelten Gedichte im Vergleich zu vielen traditionellen Ausprägungen der Gattung einen eher geringen Umfang aufweisen. Keines der untersuchten Gedichte Popes, Hallers, Hagedorns oder Voltaires besitzt eine Ausdehnung, die derjenigen von Lukrez’ De rerum natura oder von anti-lukrezischen Gedichten wie Blackmores Creation oder Polignacs Anti-Lucretius vergleichbar wäre. Die umfangreichsten Texte des Korpus wahren meist die Verbindung zum Modell der Epistel, indem sie sich als eine Zusammenstellung von Briefen präsentieren (so Popes Essay on Man und Voltaires Discours en vers sur l’homme). Die hier behandelten Gedichte setzen also nicht bruchlos eine Tradition des frühneuzeitlichen Lehrgedichts fort, sondern erscheinen als eine weitgehend eigenständige Abwandlung der Gattungstradition. Zugleich fällt auf, dass in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der deutschsprachigen, englischen und französischen Literatur Gedichte erscheinen, die auf vergleichbare Weise diese Tradition aufgreifen und modifizieren. So stellt sich die Frage nach den Funktionen, die diese neuartige Variante der Gattung erfüllen sollte, also nach der Art der Wissensvermittlung, die von den Autoren der Lehrgedichte intendiert wurde, und nach den Kontexten, die den Bedingungszusammenhang dieser Phase der Gattungsgeschichte bildeten. In dieser Hinsicht haben die Interpretationen dieses Teils verbreitete Forschungsannahmen kritisch zu modifizieren versucht: Das sind insbesondere jene Forschungspositionen, die sich stark an den zuletzt diskutierten dichtungstheoretischen Darlegungen orientieren, sie also für weitgehend zutreffende Charakterisierungen der Lehrgedichte halten und dementsprechend das Ziel dieser Gedichte wesentlich darin sehen, von Philosophie und Naturwissenschaften bereitgestellte Theorien popularisierend zu verbreiten und sie zu diesem Zweck mit möglichst großer Sinnlichkeit oder Anschaulichkeit auszustatten. Gegen diese Forschungsannahmen ist einzuwenden, was eben auch den einschlägigen Dichtungstheorien des 18. Jahrhunderts gegenübergestellt wurde: Autoren wie Pope, Haller, Hagedorn und Voltaire wollten mit ihren Lehrgedichten nicht fertige philosophische Systeme auf ansprechende Weise einkleiden und verbreiten, sondern innerhalb der philosophischen Debatten selbst Stellung beziehen und eigenständige Wissensansprüche erheben – was selbstverständlich die produktive, teils affirmative und teils kritische Rezeption von Konzepten und Theoremen der zeitgenössischen Philosophie einschloss. Die poetische Gestaltung der

5 Zusammenfassung

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Texte, also ihr Gebrauch von Metrum, Reim, Bildlichkeit und anderen Stilmitteln, kann nicht auf einen vorrangigen Zweck wie den der Versinnlichung festgelegt werden, sondern ist mit diversen spezifischeren Zielsetzungen und individuellen oder kulturell vorgeformten Stilidealen verknüpft.576 Doch die Feststellung, dass die Lehrgedichtsautoren nicht die von Philosophen erarbeiteten Theorien popularisieren, sondern eigenständige Positionen in Debatten beziehen wollen, ist noch zu präzisieren. Die genauere Charakterisierung der Intentionen sollte insbesondere auch verständlich zu machen helfen, weshalb die Gattung des Lehrgedichts in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts so intensiv gepflegt wird und auch bei Lesern und Kritikern so großes Interesse findet. Wichtig sind hierfür zunächst die Themen, die in den besonders wirkungsmächtigen Lehrgedichten dominieren: Den Schwerpunkt bilden nicht naturwissenschaftliche Theorien, die an die ‚gebildeten Laien‘ weitergegeben werden sollen, sondern Themen aus den Bereichen Ethik und Religion. Ihre Erörterung wird häufig mit Ausführungen über die Natur des Menschen verschränkt, so dass man auch die Anthropologie (in einem speziellen Sinne) zu den zentralen Themenfeldern rechnen kann. Kennzeichnend für viele Lehrgedichte ist dabei das Streben nach einer möglichst umfassenden Sichtweise, das Bemühen darum, Aussagen über ‚den Menschen‘, ‚die Vernunft‘ oder ‚die Glückseligkeit‘ und über das Verhältnis des so bestimmten menschlichen Daseins zu Gott und zur göttlichen Ordnung der Welt vorzustellen. Die Lehrgedichte lassen ferner typischerweise ein Sprechersubjekt auftreten, das mit einer Mehrzahl konkurrierender ethischer und religiöser Systeme konfrontiert ist,577 innerhalb der Auseinandersetzung zwischen diesen

576 Diese Befunde sprechen nicht dagegen, die betreffenden Gedichte Popes, Hallers, Hagedorns oder Voltaires als Lehrgedichte zu klassifizieren: Wie in der Einleitung dargelegt wurde, ist das Lehrgedicht im Sinne einer durch antike Muster wie Lukrez’ De rerum natura oder Vergils Georgica repräsentierten Gattung nicht durch die Zielsetzung einer sinnlichen Einkleidung fertiger philosophischer oder wissenschaftlicher Lehren definiert. 577 Diese Pluralität kann, was die religiösen Positionen angeht, nicht auf ein Gegenüber von christlicher Lehre und Atheismus oder ‚Freigeisterei‘ reduziert werden, auch wenn einzelne Lehrgedichte die Kontoversen zu einer solchen Opposition zuspitzen. So werden in Lehrgedichten Hallers und Voltaires spezifische konfessionelle Ausprägungen des Christentums kritisiert, nämlich katholische beziehungsweise jansenistische, ohne dass dies zu einem Angriff auf die christliche Religion im Allgemeinen ausgedehnt würde. Dass sich die religiösen Diskussionen nicht zu einem Gegensatz von Christentum und Atheismus zusammenfassen lassen, liegt auch an der prominenten Rolle des Deismus, zumal dieser selbst keineswegs eine einheitliche Doktrin bildete. Auch die ethischen Auseinandersetzungen, innerhalb derer sich die Lehrgedichte positionieren, sind nicht durch einen schlichten Konflikt zwischen zwei Parteien strukturiert. Dies lässt sich etwa an der einflussreichen Philosophie Shaftesburys zeigen, die durch kritische Distanzierungen sowohl von traditionellen christlichen Lehren als auch von der Philosophie Hobbes’ gekennzeichnet ist.

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II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte

Lagern Stellung bezieht und Gründe für diese Positionen anführt. Insofern gestalten die Lehrgedichte vielfach in stilisierter Form etwas, das man als Selbstbestimmung in ethischer und religiöser Hinsicht bezeichnen kann. Die befürwortete Position kann dabei im Großen und Ganzen einem schon existierenden philosophischen System oder der Lehre einer etablierten Richtung des Christentums entsprechen; in vielen Fällen handelt es sich aber eher um Modifikationen solcher vorgegebenen Lehren, etwa – wie in Popes Essay on Man – um einen Mittelweg zwischen extremen Positionen, der innerhalb des Gedichts erst gebahnt wird. In jedem Fall ist entscheidend, dass die Sprecherfigur selbst Gründe für ihr Votum anführt, sich also als ein eigenständig denkendes und urteilendes Subjekt präsentiert.578 Die Reflexionen der Sprecherfiguren werden mithin einerseits meist deutlich als eigenständige Denkleistungen gekennzeichnet, andererseits aber auch als Überlegungen gestaltet, die sich innerhalb eines Raums öffentlicher Debatten abspielen und die in diesen Debatten verhandelten Positionen sichten und erörtern. Die Auseinandersetzung mit den Auffassungen anderer Autoren oder Parteien kann dabei unterschiedliche Formen annehmen, die von scharfer Polemik und aggressiver Verurteilung über moderate, abwägende Kritik bis zur spielerisch-witzig formulierten reductio ad absurdum reichen. In vielen Fällen gibt es Grund zur Annahme, dass diese Modi der Auseinandersetzung nicht allein persönliche Stilpräferenzen der Autoren ausdrücken, sondern auf theoretischen Reflexionen über die angemessenen, sozial vertretbaren und erfolgversprechenden Formen des Debattierens und Kritisierens beruhen. In diesem Sinne kann man sagen, dass zum prägenden Hintergrund der Lehrgedichte nicht nur einzelne

578 Ein Beispiel für diese Tendenz bietet auch das umfangreiche Lehrgedicht La Religion (1742) von Louis Racine. Es lässt eine Sprecherfigur auftreten, die sich explizit vornimmt, sich selbst zu erforschen und das Wesen des Glücks zu ergründen, und die auf diesem Wege auch die Lehren verschiedener Religionen einer kritischen Prüfung unterzieht. Vgl. die Zusammenfassung des Gedichts in [Racine], La Religion, S. iii–xvi, und den Beginn des zweiten Gesangs (ebd. S. 27). Eine vergleichbare Ausgangssituation entwirft Lessings frühes Lehrgedicht Die Religion, das er als Fragment eines größeren Werks präsentierte. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Die Religion [1751]. In: Ders., Werke. Herbert G. Göpfert (Hrsg.). Band 1: Gedichte. Fabeln. Lustspiele. Darmstadt 1970, S. 169–181. Zu Lessings Gedicht vgl. zuletzt Christoph Bultmann, „Lessings Verständnis der Bibel. Das Gedicht Die Religion (1751) und das Schauspiel Nathan der Weise (1779)“, in: Ders., Bibelrezeption in der Aufklärung, Tübingen 2012, S. 66–86; Barbara Mahlmann-Bauer, „Lessings Fragment ‚Die Religion‘ und das Saatgut, das in ‚Die Erziehung des Menschengeschlechts‘ aufgegangen ist“, in: Christoph Bultmann/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata, Berlin 2011, S. 27–72, v. a. S. 30–41; zu Racines Gedicht La Religion, an das Lessings Gedicht schon aufgrund des Titels erinnere, ebd., S. 33, 49–58.

5 Zusammenfassung

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verschiedene philosophische Debatten, sondern auch die ‚Debattenkultur‘ der Aufklärung gehören. Als allgemeine Charakteristika der Lehrgedichte aus der ersten Jahrhunderthälfte, die hier untersucht wurden, erscheinen somit die Konzentration auf religiöse und ethische Themen, das Streben nach umfassenden Aussagen über die Stellung des Menschen in der Ordnung der Welt, die Orientierung an einem Ideal der vernünftigen Selbstbestimmung des Einzelnen hinsichtlich dieser ethischen und religiösen Grundsatzfragen und schließlich der Anschluss an eine Kultur der öffentlichen Debatte. Diese Befunde implizieren bereits Annahmen über die Kontexte, die für die Konjunktur des Lehrgedichts bestimmend waren, oder legen solche Annahmen zumindest nahe. Eine wesentliche historische Voraussetzung dieser Gattungskonjunktur bildete die Wahrnehmung einer Pluralität von religiösen und ethischen Lehrgebäuden, deren konkurrierende Geltungsansprüche von dem Einzelnen eine begründete Positionierung verlangten. Eine weitere wichtige historische Voraussetzung für die Konjunktur des Lehrgedichts in der ersten Jahrhunderthälfte bildete eben die Herausbildung dessen, was oben als Debattenkultur der Aufklärung beschrieben wurde. Zu diesem Vorgang gehören zum einen medien- und institutionengeschichtliche Veränderungen, die in der Forschung häufig beschrieben worden sind, also die Expansion des Zeitschriftenwesens, die Entstehung von Kaffeehäusern und Lesegesellschaften, zum anderen aber auch die intensivierte Reflexion über Normen, Regeln und Formideale der öffentlichen Diskussion über Themen wie Moral, Politik und Religion.579 Die Befunde dieses Untersuchungsteils stützen also die Auffassung, dass das Lehrgedicht eine für die Aufklärungsepoche repräsentative Gattung war, aber sie bieten eine Begründung für diese These, die von einflussreichen Forschungspositionen abweicht. Die charakteristische Tendenz der Aufklärung, die sich in den untersuchten Lehrgedichten manifestiert, ist nicht das Bemühen um eine möglichst umfassende Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Die Lehrgedichte sind auch nicht deshalb repräsentative Texte der Aufklärung, weil sie mit dem Ziel verfasst worden wären, ‚das‘ aufklärerische Weltbild, das Philosophen wie Leibniz, Wolff oder Locke entwickelt hatten, zu propagieren.580 Sie können vielmehr als repräsentativ für bestimmte Stränge der Aufklärung

579 Vgl. hierzu etwa Ursula Goldenbaum (Hrsg.), Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796. 2 Bände. Berlin 2004; Hans-Erich Bödeker, „Aufklärung als Kommunikationsprozeß“, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Aufklärung als Prozeß, Hamburg 1988 (Aufklärung; Bd. 2,2), S. 89–111. 580 Für diese These vgl. Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 243 f.

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II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte

gelten,581 weil sie als Beiträge zu zentralen philosophischen Debatten der Epoche präsentiert wurden und weil sie sich dabei programmatischen Leitideen der Aufklärung verpflichtet zeigen, nämlich dem Ideal der vernünftigen Selbstbestimmung des Einzelnen in ethischen und religiösen Fragen sowie dem Konzept einer öffentlichen Debattenkultur.582 In diesem Sinne bilden die Lehrgedichte, die hier analysiert wurden, eine Poesie der Aufklärung. Doch ethische und religiöse Konzeptionen mit umfassendem Anspruch konnte man auch in Prosa entwerfen, und die kultivierte, formal anspruchsvolle Auseinandersetzung mit solchen Themen, die etwa Shaftesbury oder Addison propagierten, konnte ebenfalls im Medium der Prosa geleistet werden und wurde von diesen Autoren selbst in innovativen Prosaformen vorgeführt. So bleibt die Frage, weshalb Autoren wie Pope, Haller und Voltaire für ihre Interventionen in die ethischen und religiösen Debatten (unter anderem) die Form des Lehrgedichts wählten; anders formuliert: weshalb neben einer Prosa auch eine Poesie der Aufklärung gepflegt wurde. Auf diese Frage scheint es keine bündige und einheitliche Antwort zu geben. Es lassen sich verschiedene Motivationen erschließen, die teilweise auch in Verbindung miteinander für ein und denselben Autor wichtig waren; für das Gewicht, das diese Begründungen besaßen, sind Unterschiede zwischen den nationalen Kontexten relevant.

581 Vorausgesetzt wird hier die in der Aufklärungsforschung mittlerweile weithin akzeptierte Annahme, dass die europäische Aufklärung zwar übergreifende Gemeinsamkeiten besaß, aber zugleich ein beträchtliches Maß an innerer Diversität aufwies. Zur Betonung dieser Diversität als einer Grundtendenz der jüngeren Aufklärungsforschung vgl. etwa, mit Hinweisen auf einschlägige Studien: Stefanie Stockhorst: „Aufklärung – Epoche, Projekt und Forschungsaufgabe. Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.), Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung, Göttingen 2013, S. 7–23; David Sorkin, The Religious Enlightenment. Protestants, Jews, and Catholics from London to Vienna, Princeton/Oxford 2008, S. 3–5. 582 Vgl. etwa die knappe Zusammenfassung von Tendenzen, die sich trotz der inneren Vielfalt und auch Widersprüchlichkeit der Aufklärung als spezifische Züge derselben festhalten lassen, bei Barbara Stollberg-Rilinger, „Nachwort“, in: Dies. (Hrsg.), Was ist Aufklärung? Thesen, Definitionen, Dokumente, Stuttgart 2010, S. 131–139, hier S. 133 f.; auch dies., Die Aufklärung. Europa im 18. Jahrhundert. 3., aktualisierte Aufl. Stuttgart 2017, S. 9–18. Vgl. auch Norbert Hinske, „Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung. Versuch einer Typologie“, in: Raffaele Ciafardone, Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Texte und Darstellung. Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinske und Rainer Specht, Stuttgart 1990, S. 407–458. Hinske unterteilt die Grundideen der deutschen Aufklärung in „Programmideen, Kampfideen und Basisideen“ (ebd., S. 412), denen er noch ‚abgeleitete Ideen‘ hinzufügt (vgl. ebd., S. 436 f.). Zu den Programmideen zählt er unter anderem die Ideen des Selbstdenkens und der Mündigkeit (vgl. ebd., S. 417–424), zu den abgeleiteten Ideen die der Öffentlichkeit und Pressefreiheit (vgl. ebd., S. 436 f.).

5 Zusammenfassung

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Ein Gedanke, der bei Lehrdichtern aller drei Literaturen begegnet, lautet, dass ernsthafte religiöse und ethische Themen die Poesie auf einen höheren Rang heben und ihr größere Respektabilität verschaffen konnten. Dieser Grundgedanke erhält allerdings unterschiedliche Modifikationen und besitzt nicht in allen drei nationalen Kontexten dasselbe Gewicht. Von großer Bedeutung war er offenbar für Haller und für viele deutschsprachige Dichter und Kritiker, die von seinen philosophischen Gedichten beeindruckt waren und sie lobten oder nachahmten. Die philosophische Thematik konnte für Haller der Poesie zu größerer Würde und Wichtigkeit verhelfen, und einen solchen Zuwachs an Dignität hatte die Poesie nicht nur in seinen Augen, sondern auch in den Augen vieler Zeitgenossen nötig, weil sie durch den ‚Schwulst‘ der Lohenstein’schen Schule wie durch die Praxis der Kasualpoesie zu einer inhaltsleeren Trivialität zu verkommen drohte. Auch für Voltaires Praxis des philosophischen Lehrgedichts war eine solche ‚Krise‘ der Poesie als Hintergrund wichtig, eine Krise, die noch länger anhielt als die Reputationskrise der deutschsprachigen Poesie und die andere Ursachen hatte als sie: Entscheidend für diese Krise waren nicht allein Formen einer poetischen Praxis, die in Verruf gerieten, sondern auch theoretische Argumente gegen Vers und Reim. Dass Voltaire sich zur Darbietung philosophischer Positionen immer wieder der Versform und konkret der Form des Lehrgedichts bediente, dürfte auch aus der Absicht heraus geschehen sein, die Leistungsfähigkeit des Verses gegen seine Verächter zu verteidigen. Im britischen Kontext hingegen gab es im Untersuchungszeitraum keine so weitreichende Reputationskrise der Poesie, die als Hintergrund für die Entwicklung des Lehrgedichts angesetzt werden könnte.583 Aber auch wenn die Versdichtung im englischen Raum nicht von einem so weitreichenden Ansehensverlust bedroht war wie im deutschsprachigen und französischen Gebiet, liefern Popes An Essay on Man und die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte dieses Textes doch Indizien dafür, dass ‚große‘ philosophische Themen auch in der Wahrnehmung englischer Leser ein Gedicht auf ein besonders hohes Niveau heben und die Reputation des Dichters steigern konnten.

583 Als Dryden in Religio Laici und The Hind and the Panther theologische Kontroversen zum Gegenstand von Gedichten machte, warf ihm ein Kritiker vielmehr eine Degradierung der Poesie vor (vgl. Mark van Doren, The Poetry of John Dryden, New York 1920, S. 178). Blackmore hingegen wollte in Creation mit der naturwissenschaftlichen Thematik und dem theologischen Anspruch durchaus ein Beispiel für würdevolle Dichtung geben und es der unmoralischen oder trivialen Poesie der ‚wits‘ entgegenstellen; doch sein Urteil über die Dichtung der ‚wits‘, zu denen unter anderem auch Dryden gehörte, stellte keinen breiten Konsens, sondern nur die Auffassung einer Partei innerhalb der zeitgenössischen Literatur dar.

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II Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte

Diese Begründung für die Wahl der Gedichtform lief darauf hinaus, dass die Poesie oder auch der einzelne Dichter von der wichtigen Thematik gewissermaßen ‚profitierte‘. Zugleich nahmen die Lehrdichter in der Regel aber auch an, dass die ethischen oder religiösen Themen von der poetischen Form profitieren konnten. Dabei konzipierten sie den Gewinn, den die Gedichtform diesen Themen eintrug, auf unterschiedliche Weisen: Erstens konnte eine rhetorisch anspruchsvolle und auf angesehene antike Muster zurückgreifende poetische Gestaltung den Zweck erfüllen, die Dignität der Gegenstände zu unterstreichen oder dieser Würde einen Tribut zu entrichten. Es mag auf den ersten Blick paradox scheinen, dass die Dichtung einerseits durch die philosophischen Themen erst aufgewertet werden, andererseits aber auch zur Ehrung und Würdigung dieser Themen fähig sein soll, doch die einschlägigen Bemerkungen Hallers zeigen, dass diese zwei Gedanken tatsächlich nebeneinander bestehen und ohne offenkundige Inkonsistenzen ausformuliert werden konnten.584 Zweitens wurde die spezifische Leistung der poetischen Form darin gesehen, dass sie den moralischen oder religiösen Lehren eine besondere Wirksamkeit verlieh, wobei auch diese Wirksamkeit wiederum unterschiedlich aufgefasst werden konnte: Sie konnte als eine Befähigung zum Rühren des Herzens verstanden werden, die wegen der handlungsleitenden Rolle des Herzens moralisch wertvoll war, oder auch als eine Gabe der Veranschaulichung oder Versinnlichung, die das Verständnis schwieriger Lehren erleichterte und somit intellektuell wertvoll war. Für einige Autoren bestand die spezifische Fähigkeit der poetischen Form aber auch darin, die abstrakten philosophischen Inhalte gleichsam gesellschaftsfähig zu machen, ihnen also eine Gestalt zu geben, in der sie zum Gegenstand des kultivierten Gesprächs werden konnten. Die Autoren der seit der Jahrhundertmitte entstandenen Lehrgedichte vertraten vielfach nicht nur andere religiöse oder ethische Überzeugungen als Haller, Hagedorn, Pope und Voltaire, sondern auch andere Ansichten darüber, was die spezifische Leistung der Dichtung in der Vermittlung philosophischer und religiöser Lehren sein konnte. Aber auch sie erkannten es großenteils noch als ein Verdienst dieser Autoren an, die Fähigkeit der Poesie zur Behandlung ‚großer‘, anspruchsvoller philosophischer Fragen unter Beweis gestellt zu

584 Es gibt zwischen diesen Auffassungen Hallers keinen Widerspruch, weil er inhaltliche und formale Qualitäten von Gedichten als voneinander unabhängige Größen begreift und sie hierarchisiert. Ein sprachlich glanzvolles, aber inhaltlich banales Gedicht hat einen gewissen Wert, aber nur einen geringen. Ein anspruchsvoller und wichtiger Inhalt verleiht dem Gedicht einen größeren Wert als die kunstvolle Form allein, kann aber durch diese Form in seiner Dignität bestätigt werden.

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haben. Auf die besondere Dignität, die die Auseinandersetzung mit diesen Fragen der Dichtung verleihen konnte, mochten auch viele jener Dichter des späteren 18. Jahrhunderts nicht verzichten, die sich von den spezifischen poetischen Verfahren Hallers, Popes und anderer Autoren ihrer Zeit zu distanzieren suchten.

III Neue Tendenzen seit der Jahrhundertmitte: Feierlicher Enthusiasmus, die Unsterblichkeit und die Größe des Menschen Die prägenden Entwicklungen des englischen und des deutschen Lehrgedichts in der zweiten Jahrhunderthälfte sind in der Forschung ähnlich beschrieben worden. Als übergreifende Tendenzen gelten vor allem ein stärkeres Hervortreten subjektiver, expressiver und emotionaler Züge sowie eine ‚Auflockerung‘ der primär diskursiven Textstrukturen durch narrative oder dramatische Komponenten. Was das englische Lehrgedicht angeht, so können John Sitter zufolge einige Blankversgedichte der 1740er Jahre als Beginn einer neuen Phase der Gattungsgeschichte betrachtet werden, für die sich die Bezeichnung „after Pope“ anbiete.1 Die bekanntesten und einflussreichsten unter den von Sitter genannten Blankversgedichten sind Edward Youngs Night Thoughts und Mark Akensides The Pleasures of Imagination, denen er noch Joseph Wartons The Enthusiast und Thomas Wartons The Pleasure of Melancholy an die Seite stellt. Joseph und Thomas Warton sind zugleich die Autoren, die um 1750 in theoretischen und literaturkritischen Schriften besonders dezidiert eine Abwendung von der durch Pope repräsentierten Dichtungsweise propagieren. Die angeführten didaktischen Gedichte unterscheiden sich nach Sitter von der älteren, prominent von Pope vertretenen Form des Lehrgedichts dadurch, dass sie „more subjective and expressive, less essayistic and more mixed with personal narrative“ sind.2 Diese Tendenzen werden in den folgenden Jahrzehnten in Lehrgedichten Oliver Goldsmiths, George Crabbes und William Cowpers auf unterschiedliche Weisen aufgegriffen und weiterentwickelt. Für das deutschsprachige Lehrgedicht der zweiten Jahrhunderthälfte hat Hans-Wolf Jäger Veränderungen hervorgehoben, die in wichtigen Aspekten den von Sitter beschriebenen Tendenzen ähneln. Da die Entwicklung in Deutschland unter anderem durch die Rezeption von Youngs Night Thoughts geprägt wird,3

1 Vgl., auch zum Folgenden: Sitter, „Political, Satirical, Didactic and Lyric Poetry (II): after Pope“. Für die Bezeichnung „after Pope“ vgl. ebd., S. 287: „Poetry of the later eighteenth century is ‚after Pope‘ creatively as well as chronologically. Much of it imitates, alludes to or reacts against the great poet of the first half of the century.“ Vgl. auch ebd., S. 299. 2 Ebd., S. 299. 3 Vgl. Jäger, „Lehrdichtung“, S. 528. https://doi.org/10.1515/9783110348491-003

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III Neue Tendenzen seit der Jahrhundertmitte

erscheinen diese Parallelen auch kaum als überraschend. Im Lehrgedicht der 1750er Jahre machen sich nach Jäger die größere Bedeutung der „Empfindung“4 sowie eine Zunahme von „Sprunghaftigkeit und Emphase“5 geltend. Diese Veränderungen münden in eine „Lyrisierung didaktischen Sprechens“, wie sie auch von Theoretikern der zweiten Jahrhunderthälfte gefordert werde.6 Diese Tendenz manifestiere sich in den Lehrgedichten Friedrich von Cronegks, Friedrich Carl Casimir von ’ und führe schließlich auch zu Christoph August Tiedges Urania. Ferner seien in den Lehrgedichten dieser Zeit verstärkte Anleihen bei anderen Gattungen, insbesondere beim Drama, zu beobachten. Das Lehrgedicht öffne sich für Monolog und Dialog, aber auch in verstärktem Maße für die Narration und eigne sich zudem „empfindsam-subjektive[] Themen“ sowie „das Motiv der Familie“ an.7 Beispiele für diese Veränderung seien Wielands Musarion, Gleims Halladat und Lessings Nathan (das von vielen Zeitgenossen als dramatisches Lehrgedicht begriffen worden sei). In seinem Aufsatz von 1970 hat Jäger die Aufnahme dramatischer und narrativer Strukturen als eine Facette der „Tendenz der Subjektivierung“ beschrieben, die wiederum zur Lyrisierung gehöre.8 In dem später veröffentlichten Artikel für Hansers Literaturgeschichte erscheint die Integration von Monolog, Dialog und Erzählung eher als eine Entwicklung, die sich parallel zu oder kurz nach dem Aufkommen des empfindsamen Lehrgedichts vollzieht und deren Verhältnis zur Emotionalisierung und Lyrisierung weitgehend offen bleibt.9 Was beide Tendenzen in der Darstellung Jägers miteinander verbindet oder einander annähert, ist die ihnen zugrunde liegende Motivation: Beide Veränderungen lassen sich ihm zufolge als Reaktionen auf den Erfolg neuer Gattungen oder Stilideale verstehen. Das Lehrgedicht reagiere auf den Erfolg der Dichtungen Klopstocks und seiner Nachahmer sowie auf den Aufstieg von Roman

4 Ebd., S. 527. 5 Ebd., S. 528. 6 Ebd., S. 529. Von einer „Lyrisierung des Lehrgedichts“ im späteren 18. Jahrhundert spricht auch Bernhard Asmuth, „Das gedankliche Gedicht“, in: Gerhard Köpf (Hrsg.), Neun Kapitel Lyrik, Paderborn [u. a.] 1984, S. 7–34, hier S. 15. 7 Jäger, „Lehrdichtung“, S. 529. 8 Vgl. Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“, S. 569–571, das Zitat auf S. 570. 9 Vgl. Jäger, „Lehrdichtung“, S. 529–533 (zu Rekursen auf dramatische – monologische und dialogische – Strukturen bei Wieland, Lessing und Gleim); vgl. ebd., S. 527–529 (zu der größeren Rolle der Empfindung und des Subjektiven und zur ‚Lyrisierung‘). Eine Nähe oder Übereinstimmung zwischen diesen Entwicklungen ergibt sich aber daraus, dass auch in den empfindsamen, lyrisierten Lehrgedichten von Creuz und Cronegk schon eine dramatische Form, der Monolog, genutzt werde (vgl. ebd., S. 529).

III Neue Tendenzen seit der Jahrhundertmitte

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und bürgerlichem Trauerspiel, indem es sich diesen Gattungen oder Stilen bis zu einem gewissen Grad annähere.10 Das vorliegende Kapitel schließt an die referierten Forschungsthesen an, um sie anhand eingehenderer Textanalysen zu überprüfen und teilweise zu modifizieren und um ihnen weitere Beobachtungen zu Gemeinsamkeiten zwischen den Lehrgedichten dieser Phase hinzuzufügen. So soll die These einer Emotionalisierung des Lehrgedichts präzisiert werden, indem einige der als Beispiele hierfür genannten Gedichte daraufhin untersucht werden, welche Arten von Gefühlen in ihnen thematisiert und präsentiert werden.11 Besonders häufig findet man in diesen Gedichten, so soll gezeigt werden, eine feierliche und leidenschaftlich begeisterte Haltung der Sprechinstanz; in einigen Fällen rekurrieren die Gedichte deutlich auf die traditionelle Rolle des poeta vates, lassen den Sprecher also als einen inspirierten auftreten. Unter anderem aus diesem Grund verhält sich das folgende Kapitel kritisch zu der Forschungsthese, dass man bei den betreffenden Gedichten von einer ‚Subjektivierung‘ der Didaxe sprechen kann: Dass die Sprechsituationen in ihnen häufig – nicht immer – monologischen Charakter haben und dass die Gefühle der Sprechersubjekte ausführlich dargestellt werden, bedeutet noch nicht, dass den von ihnen formulierten Lehren eine nur subjektive Geltung zugesprochen wird. In einigen Gedichten drückt die Sprechinstanz vielmehr deutlich den Anspruch aus, verbindliche Wahrheiten zu verkünden. Eine feierlich-enthusiastische Sprechweise und die Rolle des Dichtersehers wurden in der deutschsprachigen Literatur um 1750 in besonders einflussreicher Weise von Friedrich Gottlieb Klopstock kultiviert. Die folgenden Analysen zu deutschsprachigen Texten suchen daher auch die Rolle Klopstocks und der mit ihm verbundenen literaturgeschichtlichen Zäsur für die Entwicklung des Lehrgedichts an einigen exemplarischen Fällen näher zu untersuchen und die diesbezüglichen Hinweise der Forschung weiter zu verfolgen. Allgemein kann hier vorwegnehmend bemerkt werden, dass der Einfluss Klopstocks auf das Lehrgedicht ein ambivalenter war. In der Gelehrtenrepublik scheint Klopstock zunächst das Lehrgedicht aus der eigentlichen Dichtung auszuschließen, wenn er schreibt: „Wenn nun vollends das Lehrgedicht kein eigentliches Gedicht

10 Vgl. ebd., vor allem S. 529: „Nicht allein die klopstockisierende Ode bedroht den generischen Rang des Lehrgedichts. Um 1770 haben Roman und bürgerliches Trauerspiel ihren literarischen Führungsanspruch erhoben, und nur, wenn sich die Didaxe auch bestimmende Elemente dieser konkurrierenden Gattungen zu eigen macht, darf sie auf weitere Geltung hoffen.“ 11 Die Unterscheidung zwischen der Thematisierung und Präsentation von Emotionen übernehme ich von Simone Winko, Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900, Berlin 2003, S. 111–119.

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III Neue Tendenzen seit der Jahrhundertmitte

wäre, und also auch keine Dichtart ausmachen könnte?“ Allerdings fügt er sogleich hinzu: „(Hiermit wird nicht gesagt, daß ein Lehrdichter nicht viel poetischen Geist haben, und theils zeigen könne.)“12 Zu dieser Einschränkung passt es, dass Klopstock den Night Thoughts Youngs große Wertschätzung entgegenbrachte.13 Youngs Gedicht wurde, obwohl es von Ebert in Prosa übersetzt wurde, von vielen deutschen Autoren durchaus als Lehrgedicht verstanden, und Klopstocks Bewunderung für Young könnte mithin die Annahme nahegelegt haben, dass eine Orientierung an dem Dichtungsideal Klopstocks sich auch in der Gattung des Lehrgedichts realisieren ließ. Zu bedenken ist ferner, dass das Dichtungsideal einer ‚heiligen Poesie‘ schon vor Klopstocks einschlägigen Werken von Immanuel Jacob Pyra vorgestellt worden war, und zwar im Rahmen des in Alexandrinern verfassten Lehrgedichts Der Tempel der wahren Dichtkunst (1737).14 Die folgenden Analysen ergänzen ferner die Thesen zu formalen und strukturellen Veränderungen (Rolle der Empfindungen, dramatische und narrative Elemente) um Beobachtungen zu inhaltlichen Tendenzen, die sich in mehreren Gedichten nachweisen lassen und die sie von prominenten Lehrgedichten der ersten Jahrhunderthälfte, insbesondere von den oben untersuchten Gedichten Popes, Hallers und Hagedorns, unterscheiden. Eine solche Tendenz wird hier besonders hervorgehoben: Mehrere Gedichte setzen sich ausdrücklich mit der Frage nach dem Rang oder der Würde des Menschen auseinander und behaupten dabei deutlich emphatischer als die Lehrgedichte des früheren 18. Jahrhunderts die Größe, Würde oder Göttlichkeit des Menschen. Weitere inhaltliche Ähnlichkeiten, die einige der Gedichte miteinander verbinden, sind eng mit diesem Thema verbunden. So wird die Größe des Menschen mehrfach als ein

12 Friedrich Gottlieb Klopstock, Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Horst Gronemeyer [u. a.] (Hrsg.). Abteilung Werke. VII: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Bd. 1: Text. Hrsg. von Rose-Maria Hurlebusch. Berlin/New York 1975, S. 173 (Sechster Abend). 13 Zu Klopstocks Verhältnis zu Young vgl. Andre Rudolph, „Klopstock und der Nordische Aufseher (1758–1761). Antideistische Apologetik und christliche Poesie im Zeichen Edward Youngs“, in: Kevin Hilliard/Katrin Kohl (Hrsg.), Wort und Schrift – Das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks, Tübingen 2008, S. 21–40. 14 Vgl. Immanuel Jacob Pyra, Der Tempel der wahren Dichtkunst [1737], in: Freundschaftliche Lieder von I. J. Pyra und S. G. Lange. August Sauer (Hrsg.), Heilbronn 1885, S. 83–119. Zu diesem Gedicht Pyras und dem darin entworfenen Dichtungsideal vgl. Joachim Jacob, Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Tübingen 1997, S. 55–110; Carsten Zelle, „‚Logik der Phantasie‘ – Der Beitrag von Immanuel Jacob Pyra zur Dichtungstheorie der Frühaufklärung“, in: Verweyen (Hrsg.), Dichtungstheorien der Frühaufklärung, S. 55–72; Jutta Heinz, „Architektur des Erhabenen. Eine Besichtigung von Immanuel Pyras Tempel der wahren Dichtkunst“, in: ebd., S. 73–85.

1 Edward Young: Night Thoughts (1742–1746)

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Potential konzipiert, das sich erst im Leben nach dem Tode ganz entfalten wird. Grundsätzlich kennzeichnet mehrere der Gedichte ein ausgeprägtes Interesse am Thema der Unsterblichkeit, wobei das Jenseits häufig als ein Ort des fortgesetzten Aufstiegs begriffen wird.15 Diese Konzeption des Jenseits erscheint schließlich in manchen Gedichten als verbunden mit einer Sicht auf den Menschen oder die Menschheit, die die Zeitdimension besonders betont und die Zeit dabei unter dem Aspekt des Fortschritts oder der Entwicklung betrachtet.

1 Edward Young: Night Thoughts (1742–1746) Das Gedicht Edward Youngs, das üblicherweise kurz als Night Thoughts bezeichnet wird,16 enthält neun Teile, die zunächst einzeln und anonym zwischen Mai 1742 und Januar 1746 erschienen.17 Der erste Teil trug den Titel: The Complaint: or, Night-Thoughts on Life, Death, & Immortality. Später wurde dies der Titel des gesamten Gedichts. Die folgenden Teile erschienen unter den Titeln Night the Second, Night the Third, usw. Zwischen 1742 und 1745 wurden Zusammenstellungen mehrerer Teile veröffentlicht; 1750 kam schließlich eine von Samuel Richardson veranstaltete Ausgabe aller neun Teile heraus. Es ist unstrittig, dass der von Youngs Night Thoughts ausgehende Einfluss zu weitreichenden Umorientierungen in der englischen Literatur beitrug und insbesondere auch maßgeblich an Wandlungen des Lehrgedichts beteiligt war. Es lohnt sich aber, genauer zu fragen, was an seinem Werk von den zeitgenössischen Lesern als innovativ wahrgenommen wurde und welche Art der Erneuerung

15 Zumindest für einige der hier behandelten Gedichte gilt, dass sie sich, wenn sie eine feierliche, leidenschaftliche Sprechweise mit religiösen Themen wie Jenseits und Unsterblichkeit verbinden, an der ästhetischen Kategorie des Erhabenen orientieren, genauer: an jener Variante, die man als das ‚religiöse Erhabene‘ bezeichnet hat. Vgl. dazu mit Bezug auf die englische Literatur David B. Morris, The Religious Sublime. Christian Poetry and Critical Tradition in 18th-Century England, Lexington 1972. Zum Konzept des Erhabenen in der englischen und deutschen Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts vgl. umfassend Dietmar Till, Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2006. 16 Die Night Thoughts werden im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: Edward Young, Night Thoughts. Stephen Cornford (Hrsg.), Cambridge [u. a.] 1989. Zitate werden im Text durch Angabe der ‚Nacht‘ in römischen und der Verse in arabischen Ziffern nachgewiesen. 17 Vgl. zu den folgenden Angaben zur Publikationsgeschichte: Cornford, „Introduction“, S. 22–29; Isabel St. John Bliss, Edward Young, New York 1969, S. 108. Der neunte Teil trug in der Erstpublikation zwar die Jahreszahl 1745, erschien aber erst im Januar 1746 (vgl. Cornford, „Introduction“, S. 27; Bliss, Edward Young, S. 108).

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III Neue Tendenzen seit der Jahrhundertmitte

Young selbst beabsichtigte. Die letztere Frage wird in der Forschung meist etwa wie folgt beantwortet: Young wollte traditionelle oder ‚orthodoxe‘ christliche Lehren in einer neuartigen poetischen Form darbieten.18 Dass die Auffassungen über Gott und über die Unsterblichkeit des Menschen, die in dem Gedicht entwickelt werden, großenteils Lehren und Argumentationen entsprechen, die in theologischen Abhandlungen und Streitschriften seit dem späten 17. Jahrhundert vielfach formuliert und variiert worden waren, ist schon vor längerer Zeit detailliert nachgewiesen worden.19 Auch ein Vergleich der Night Thoughts mit Youngs eigenen früheren Werken – etwa dem religiösen Gedicht The Last Day (1714) oder der Satirensammlung Love of Fame: The Universal Passion (1725–1728) – lässt beträchtliche Überschneidungen hervortreten. So offenkundig mithin auf der einen Seite die weitreichende Traditionalität der Inhalte erscheint, so offenkundig sind auf der anderen Seite innovative Aspekte der poetischen Gestaltung. Zu diesen Aspekten gehört zunächst der Gebrauch des Blankverses. Wenngleich Young nicht der einzige Autor war, der Anfang der 1740er auf dieses Metrum zurückgriff,20 so besaß das heroic couplet doch eine so weitreichende Dominanz, dass die Wahl des Blankverses als deutliche Markierung des Willens zur Abweichung von dem Gewohnten erscheinen musste. Weitere ‚formale‘ Innovationen, die deutlich in den Vordergrund gerückt werden, bestehen in einer gesteigerten emotionalen Intensität und einem Bemühen um überwältigende Metaphern und Vergleiche. Schließlich kann man einen Aspekt der angestrebten Neuheit in dem betont persönlichen Charakter der Reflexionen sehen.21

18 Vgl. etwa die Einschätzung von Bliss: „While the initial popular reception came in some measure from the familiarity of much of the subject matter and the widespread interest in it, the main interest came from the sense of freshness, newness, and originality and from the feeling of personal immediacy. On the whole, Young’s achievement was not in enunciating new doctrines: he was not an original theologian nor philosopher. Well versed in contemporary ideas, he was a poet; and he gave expression to those ideas in a language striking in effective figures and imagery, with a feeling of warmth and ardor.“ (Bliss, Edward Young, S. 111) Auch Cornford charakterisiert in der Einleitung zu seiner 1989 veröffentlichten Edition den theologischen Gehalt der Night Thoughts als orthodox und traditionell; vgl. Cornford, „Introduction“, S. 13, 22. 19 Vgl. Isabel St. John Bliss, „Young’s Night Thoughts in Relation to Contemporary Christian Apologetics“, in: PMLA, 49/1934, 1, S. 37–70. 20 Vgl. Sitter, „Political, Satirical, Didactic and Lyric Poetry (II): after Pope“, S. 299. Sitter nennt hier ferner Gedichte von Akenside, Joseph und Thomas Warton. Zuvor hatte es natürlich mit Thomsons The Seasons (1726–1730) bereits ein sehr erfolgreiches langes Gedicht in Blankversen gegeben. 21 Dieser persönliche Charakter wurde für viele zeitgenössische Leser vermutlich durch die Annahme bestärkt, dass der Sprecher des Gedichts mit Young identifiziert werden könne und die im Gedicht erwähnten Personen real seien. Diese Annahmen konnten sich auf ein Vorwort

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Wenn das Neuartige an Youngs Gedicht knapp in einem Satz beschrieben werden soll, so spricht mithin vieles für die eben referierte Sicht, der zufolge das Gedicht einen weitgehend traditionellen Gehalt in einer originellen Form präsentiert. Doch in einer näheren Analyse zeigt sich, dass diese Charakterisierung in beiden Teilen zu relativieren und zu differenzieren ist. Als Youngs Sprecher an einer prominenten Stelle im Gedicht auf Popes An Essay on Man Bezug nimmt und sein eigenes Unterfangen zu diesem Werk in Beziehung setzt, da hebt er eine inhaltliche, nicht eine formale Differenz hervor. Und wenngleich die theologischen Lehren, die Young in den neun Teilen ausbreitet und die er implizit vermutlich auch als Korrektiv zu Popes Gedicht ausweisen will, großenteils bekannten Positionen aus der anglikanischen Theologie des früheren 18. Jahrhunderts entsprechen, so setzt Young dabei doch auch eigene Akzente. Was wiederum die formale Gestaltung des Gedichts angeht, so verdankt sich seine kühne Neuartigkeit bekanntlich unter anderem dem entschlossenen Rückgriff auf Muster wie Milton. Eine anderer traditioneller Zug der Form ist in der Forschung seltener beachtet worden, im vorliegenden Zusammenhang aber von besonderem Interesse: Die Night Thoughts machen auch von traditionellen Strukturen des Lehrgedichts Gebrauch, und zwar in mindestens ebenso hohem Maße wie Popes Essay on Man, wenn nicht noch konsequenter und unverhüllter.

1.1 Zum Inhalt der neun ‚Nächte‘ Als Sprecher der Night Thoughts tritt ein Mann auf, der kürzlich miterleben musste, wie der Tod in weniger als drei Monaten drei ihm nahestehende Personen dahinraffte (vgl. I, 211–213). Die Namen dieser Personen – Philander, Narcissa, Lucia – erfährt der Leser erst später. Bevor der Tod ihm so massiv seine Macht demonstrierte, ließ der Sprecher sich von irdischen Bestrebungen und Vergnügungen beherrschen (vgl. I, 154–170). Die drei Todesfälle haben ihn schockartig diesen Ambitionen und Amüsements entfremdet und sein Denken auf den Tod, das Jenseits und die Frage nach der richtigen Vorbereitung auf das Jenseits ausgerichtet (vgl. I, 171–173, 340–345). Die Gedichtteile geben die nächtlichen Meditationen dieses Sprechers wieder, in denen er zum einen der

Youngs stützen, in dem er die im Gedicht erörterten Ereignisse als real ausgab. Allerdings gilt es hierbei zu bedenken, dass Young das Vorwort, in dem er die im Gedicht erwähnten Ereignisse als real ausgibt, ursprünglich nur für einen der neun Teile verfasste; es war sein Verleger Samuel Richardson, der später vorschlug, das Vorwort der Sammlung aller neun ‚Nächte‘ voranzustellen, und Young stimmte zu. Vgl. Cornford, „Introduction“, S. 28 f.; Bliss, Edward Young, S. 122 f.

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Verstorbenen gedenkt und sich von diesen Erinnerungen zu allgemeineren Reflexionen über Tod, Vergänglichkeit und das jenseitige Leben anregen lässt, in denen er zum anderen sich an einen jungen Mann namens Lorenzo wendet, um ihn von seinen freigeistigen Überzeugungen und seiner Anhänglichkeit an irdische Freuden abzubringen. Die erste ‚Nacht‘ führt die Sprecherfigur, den Adressaten Lorenzo und die Grundthemen des Gedichts ein. Die zweite ‚Nacht‘ trägt den Untertitel „On Time, Death, Friendship“ und enthält neben Reflexionen zu diesen Themen auch einen Bericht vom vorbildlich gelassenen Sterben Philanders. Der dritte Teil ist mit „Narcissa“ überschrieben und erzählt von der Krankheit und dem frühen Tod dieser jungen und schönen Frau, einer nahen Verwandten des Sprechers. Im Anschluss an diese Erinnerung entwickelt der Sprecher Gedanken über die wertvollen Dienste, die verstorbene Freunde den Hinterbliebenen leisten können, indem sie ihre Gedanken auf den Tod und das Jenseits lenken. Der Untertitel der vierten ‚Nacht‘ lautet „The Christian Triumph“; dieser Teil war von Young zeitweilig als Abschluss des gesamten Gedichts geplant. Der Sprecher führt aus, dass die Angst vor dem Tod nur durch die Schuld und das Schuldbewusstsein des Menschen verursacht werde, und beschreibt dann in einer langen, rhapsodischen Partie die Erlösung des Menschen durch Christus, die auch von der Todesangst befreien könne. Die fünfte ‚Nacht‘ trägt den Untertitel „The Relapse“ und variiert vor allem Themen, die aus den ersten vier Teilen bereits bekannt sind; unter anderem werden die verschiedenen Einstellungen der Menschen zum Tod diskutiert. Die sechste und die siebte ‚Nacht‘, die durch ihre Untertitel als eng zusammengehörig markiert werden, bieten eine große Zahl von ‚Beweisen‘ für die Unsterblichkeit des Menschen. Der Inhalt der achten ‚Nacht‘ wird im Untertitel wie folgt beschrieben: „Virtue’s Apology; or, The Man of the World Answered. In which are considered, the Love of this Life; the Ambition and Pleasure, with the Wit and Wisdom of the World“. Die neunte ‚Nacht‘ schließlich, überschrieben mit „The Consolation“, umfasst über 2400 Verse und ist so mit Abstand der längste Gedichtteil. Der Sprecher setzt seine Anrede an Lorenzo fort, evoziert dabei auch das Weltende und das Jüngste Gericht, um seinen Adressaten schließlich zu einer Besichtigung des nächtlichen Sternenhimmels einzuladen, die noch einmal die Größe der Gottheit offenbaren soll.

1.2 Didaktische Strukturelemente Die Night Thoughts sind geprägt durch eine Überlagerung zweier Sprechhaltungen, die dadurch unterschieden sind, in welchem Maße die Gedankengänge als kontrolliert und geplant präsentiert werden. Die erste Sprechhaltung ist die

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einer einsamen und monologischen Reflexion, die sich spontan und ohne festes Ziel entwickelt. Die zweite besteht in der Wendung an den Adressaten Lorenzo, den der Sprecher belehren und zur Umkehr bewegen will. Beide Sprechhaltungen werden bereits in der ersten ‚Nacht‘ eingeführt. In der Eingangspassage dieses ersten Teils erklärt der Sprecher, er erwache soeben aus kurzem und unruhigem Schlaf: „From short, (as usual) and disturb’d Repose, | I wake“ (I, 6 f.). Auch in den Anfangspassagen mehrerer anderer Teile wird die Sprechsituation als eine nächtliche ausgewiesen.22 Der Sprecher ist ausdrücklich allein, befindet sich aber nicht auf einem Friedhof; die Night Thoughts werden zwar gelegentlich in die Nähe der ‚graveyard poetry‘ gerückt oder ihr zugerechnet, aber tatsächlich findet sich das typische Inventar dieser zeitgenössisch populären Dichtung in Youngs Gedicht gerade nicht.23 Die Gedichtteile, so die Basisfiktion, geben die Reflexionen wieder, die der Sprecher nach seinem Erwachen in der Nacht anstellt. In dem Vorwort, das Young zunächst der vierten ‚Nacht‘ vorausschickte und das später als Vorwort des gesamten Gedichts diente, charakterisiert er den Inhalt als eine Folge von Reflexionen, die spontan im Geist des Verfassers aufgetaucht seien, als „moral Reflections“, die durch gewisse Ereignisse auf ‚natürliche‘ Weise ausgelöst worden seien.24 In den Gedichten selbst werden die Reflexionen zum Teil, aber keineswegs konsequent als solche spontan entstehenden Gedankengänge inszeniert. Die folgende Passage vom Anfang der ersten ‚Nacht‘ etwa dürfte als Darstellung einer spontanen, nicht zielgerichteten Gedankenbewegung gemeint sein: The Bell strikes One: We take no note of Time, But from its Loss. To give it then a Tongue, Is wise in man. As if an Angel spoke, I feel the solemn Sound. If heard aright, It is the Knell of my departed Hours;

22 Vgl. II, 1–6; III, 1–5; VI, 26–32. 23 Dies wurde bereits hervorgehoben bei: Bliss, Edward Young, S. 126. Nachdem Bliss knapp die wesentlichen Elemente der sogenannten „‚graveyard poetry‘“ zusammengefasst hat, erklärt sie: „To consider the Night Thoughts as belonging in this group is one of the most serious misconceptions of Young’s masterpiece and indicates a failure to read the poem. None of the characteristic elements are developed; indeed, the poet dismisses them as the ‚bugbears of a winter’s eve‘ (IV, 10–12). Contrary to what some illustrators later chose to depict, the setting is not that of a cemetery.“ (Ebd.) Vgl. auch Cornford, „Introduction“, S. 18; Katja Battenfeld, Göttliches Empfinden. Sanfte Melancholie in der englischen und deutschen Literatur der Aufklärung, Berlin/Boston 2013, S. 69 f. 24 Vgl. das „Preface“ in: Young, Night Thoughts, Stephen Cornford (Hrsg.), S. 35.

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Where are they? with the years beyond the Flood: It is the Signal that demands Dispatch; How Much is to be done? my Hopes and Fears Start up alarm’d, and o’er life’s narrow Verge Look down – on what? a fathomless Abyss; A dread Eternity! [. . .]

[I, 54–64]

Das Schlagen einer Uhr, so suggerieren es diese Verse, löst im Sprecher ein Nachdenken über die Zeit aus: über die Zeit im Allgemeinen, über das Vergehen seiner eigenen Lebenszeit und über die Frage, was ihn jenseits des Todes erwartet. Ausgelöst wird der Gedankengang also durch ein äußeres Ereignis, und sein Verlauf scheint in diesen Versen nicht durch eine bestimmte Absicht des Nachdenkenden, also etwa eine bestimmte Fragestellung, gesteuert zu werden. Eine Variante dieser spontanen, nicht planmäßig gesteuerten Reflexionshaltung bieten die Passagen, wo der Sprecher sich als inspiriert oder als ergriffen von Begeisterung zeigt. Ein Beispiel hierfür bieten die Abschnitte in der vierten Night, die von der Erlösung des Menschen durch den Opfertod Jesu handeln. Hier heißt es etwa: Where am I rapt by this triumphant Theme, On Christian Joy’s exulting wing, above Th’Aonian Mount? – [. . .]

[IV, 301–303]

Etwas später antizipiert der Sprecher den Vorwurf, sein Gesang sei „too turbulent“ und „too warm“ (IV, 628), und erklärt, bei diesem Thema wäre es gottlos, ruhig zu bleiben und sich nicht hinreißen zu lassen (vgl. IV, 628–650). In der fünften Nacht erhebt der Sprecher einmal den Anspruch, die ‚strahlende Gottheit‘ der Wahrheit („Truth, radiant Goddess!“; V, 328) habe seine Erkenntniskräfte erweitert und lasse ihn unsichtbare und zukünftige Dinge sehen.25 Ein solcher Anspruch auf übernatürlich oder übermenschlich erweiterte Fähigkeiten wurde zeitgenössisch bekanntlich mit dem Begriff des Enthusiasmus bewertet und in der Literatur des frühen 18. Jahrhunderts meist beargwöhnt oder als eine gefährliche, da dem religiösen Fanatismus verwandte Einstellung offen abgelehnt. Youngs Sprecher hingegen verteidigt an einer Stelle ausdrücklich eine Überzeugung, die als ‚enthusiastisch‘ erscheinen könne, und deutet „rank Enthusiasts“ (VI, 604) als vorbildliche Figuren,

25 Vgl. V, 336–341: „Truth bids me look on Men, as Autumn Leaves, | And all they bleed for, as the Summer’s Dust, | Driven by the Whirlwind; lighted by her Beams, | I widen my Horizon, gain new Powers, | See Things invisible, feel Things remote, | Am present with Futurities; [. . .].“

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die vorgeführt hätten, zu welchen ‚gottähnlichen Höhen‘ sich Menschen aufschwingen können (vgl. VI, 603–606).26 Doch über weite Strecken des Gedichts ist Young keineswegs bemüht, den Eindruck spontan entstehender, ziellos umherschweifender oder auch inspirierter Gedankengänge zu erzeugen. So tritt der Sprecher schon in der Eingangspassage der ersten Night nicht nur als ein Mann auf, der bei Nacht von Gedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit heimgesucht wird, sondern auch als ein Dichter, der sein Lied bestimmten Themen widmen will und der die Nacht als seine Muse anruft und um Hilfe dabei bittet (vgl. etwa I, 28–53).27 Auch in späteren Teilen des Gedichts kündigt der Sprecher häufig explizit an, welches „Theme“ er im Folgenden behandeln werde; gelegentlich begründet er auch, weshalb er gerade ein bestimmtes Thema wählt.28 Dass weite Teile der Night Thoughts nicht als Darstellung spontan entstehender Gedankengänge verstanden werden können, liegt aber besonders daran, dass der Sprecher sich sehr häufig an Lorenzo als seinen Adressaten wendet und dabei die Absicht bekundet, Lorenzos Ansichten über Gott und den Menschen zu widerlegen und seine Einstellungen zum Leben als verfehlt zu entlarven. So erklärt er zu Beginn der zweiten Nacht, sich nun Themen zuwenden zu wollen, die Lorenzo nützen können: „Lorenzo! let me turn my thoughts on Thee, | And Thine, on Themes may profit; [. . .]“ (II, 12 f.).29 Die interne Kommunikationssituation, die zwischen dem Sprecher und dem Adressaten Lorenzo aufgebaut wird, ist eine Variation der für das Lehrgedicht typischen oder sogar konstitutiven Kommunikationssituation: Lorenzo wird als jemand angesprochen, der belehrt, über seine Irrtümer aufgeklärt und auf den rechten Weg gebracht werden muss. Dabei wird Lorenzo in höherem Maße mit persönlichen Zügen ausgestattet, als dies in vielen anderen Lehrgedichten der Fall ist. Aber diese Züge bleiben insgesamt doch vage und typenhaft. Zudem verdient es hervorgehoben zu werden, dass die Ansichten, die Lorenzo in verschiedenen Nächten vom Sprecher zugeschrieben werden, sich durchaus unterscheiden: Während Lorenzo in einem Teil Auffassungen vertritt, die man meist als deistisch 26 Zu Youngs produktiver Rezeption der literarischen Tradition ‚enthusiastischer Dichtung‘ sowie der dichtungstheoretischen Diskussion um den Enthusiasmus vgl. Shaun Irlam, Elations. The Poetics of Enthusiasm in Eighteenth-Century Britain, Stanford 1999, S. 171–234. 27 Vgl. auch IV, 187–191: „O for their Song to reach my lofty Theme! | Inspire me Night! with all thy tuneful Spheres! | Whilst I with Seraphs share seraphic Themes, | And show to Men, the Dignity of Man, | Lest I blaspheme my Subject with my Song.“ – In späteren Gedichtteilen nennt der Sprecher auch Urania als seine Muse, die ihn allnächtlich besuche. Vgl. etwa V, 210; VIII, 25. 28 Vgl. III, 55–61; IV, 4 f., 64 f., 84–88, 187–191. 29 Vgl. auch: V, 80–83; V, 682–686; VII, 404 f.; VIII, 17–23.

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klassifiziert, erscheint er in einem anderen Teil als radikaler Atheist.30 Einen Anhalt dafür, diese Veränderungen als eine persönliche Entwicklung Lorenzos zu deuten, bietet das Gedicht kaum. Das ‚Chamäleonhafte‘ der Lorenzo-Figur31 dürfte eher darauf hindeuten, dass Young sie in erster Linie nicht als eine konsistente fiktive Gestalt präsentieren, sondern als Sprachrohr verschiedener Positionen benutzen wollte, die er zu kritisieren suchte. Wie die interne Kommunikationssituation der Night Thoughts über weite Strecken eine für das Lehrgedicht typische ist, so entsprechen auch die expliziten Ankündigungen der Themen zu Beginn der ‚Nächte‘ einem charakteristischen Verfahren des Lehrgedichts. Diese Nähe zum traditionellen Lehrgedicht wird noch dadurch vergrößert, dass der Sprecher in einigen Fällen nicht nur allgemein das Thema seiner folgenden Ausführungen benennt, sondern mehrere Themen angibt oder das Oberthema in Teilthemen zerlegt und so auch die Gliederung des folgenden Gedichtteils mitteilt. Ein Beispiel findet sich im Eingang der zweiten Nacht, aus dem oben bereits kurz zitiert wurde: [. . .]. – On other Themes I’ll dwell. Lorenzo! let me turn my thoughts on Thee, And Thine, on Themes may profit; profit there, Where most thy need. Themes, too, the genuine growth Of dear Philander’s Dust. He, thus, tho’ dead May still befriend – What Themes? Time’s wondrous price, Death, Friendship, and Philander’s final Scene.

[II, 11–17]

Der Sprecher behandelt im Folgenden die drei Themen in der genannten Reihenfolge, und ihre Erörterung erstreckt sich über die gesamte zweite ‚Nacht‘.32 Wie der Sprecher hier eine Reihe von Themen nennt, denen er sich nacheinander zuwenden wird,33 so gibt er an anderen Stellen an, in welche Teile er ein größeres Thema zerlegen wird. Alle diese Äußerungen können als Anwendungen der klassischen rhetorischen Technik der partitio gelten34 und zugleich als Variationen eines traditionellen Formelements des Lehrgedichts. Am Anfang der sechsten ‚Nacht‘ etwa beschwört der Sprecher den Gedanken der

30 Vgl. Bliss, Edward Young, S. 112 f.; Cornford, „Introduction“, S. 7. 31 Bliss bezeichnet Lorenzo als „somewhat chameleon-like in nature“ (Bliss, Edward Young, S. 112). 32 Dem Thema der Zeit widmen sich die Verse II, 25–400, dem der Freundschaft die Verse II, 461–573, dem Tod Philanders schließlich die Verse II, 574–694. 33 Ähnlich: V, 294–298. – Vgl. auch: „What, in that stubborn Heart, if I should find | New, unexpected Witnesses against thee? | Ambition, Pleasure, and the Love of Gain!“ (VII, 330–332) 34 Zur partitio vgl. etwa Brian Vickers, In Defence of Rhetoric, Oxford 2002 [zuerst 1998], S. 70, 72, 343.

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Unsterblichkeit als „the single, the triumphant Thought“ (VI, 67) und zählt dann die Aspekte dieses Gedankens auf, denen sich sein Lied widmen wird: „Its Nature, Proof, Importance, fire my Song.“ (VI, 70) In ähnlicher Weise benennt der Sprecher in der siebten ‚Nacht‘ die Antriebe, die Lorenzo an einem tugendhaften Leben hindern und die er der Reihe nach erörtern will, um zu zeigen, dass sie letztlich von der Unsterblichkeit des Menschen zeugen: „Ambition, Pleasure, and the Love of Gain!“ (VII, 332) Als der Sprecher sich dem ersten dieser Antriebe, dem Ehrgeiz, zuwendet, unterscheidet er sogleich vier Gesichtspunkte, die er behandeln wird: FIRST, then, Ambition summon to the Bar. Ambition’s Shame, Extravagance, Disgust, And inextinguishable Nature, speak.

[VII, 337–339]

Diese vier Aspekte des Ehrgeizes werden vom Sprecher im Folgenden als vier Beweise für die Unsterblichkeit und die jenseitige Bestimmung des Menschen gedeutet.35 Der Sprecher kündigt aber nicht nur am Beginn der Gedichtteile an, welchen Themen er sich in welcher Reihenfolge zuwenden wird, er markiert auch innerhalb der Ausführungen häufig den Übergang von einem Gesichtspunkt zum nächsten. THUS far, Ambition. What says Avarice? Our Error’s Cause, and Cure are seen: See next Time’s Nature, Origin, Importance, Speed; And thy great Gain from urging his Career. –

[VII, 444]

[II, 189–191]

Gelegentlich markiert der Sprecher auch den Beginn seines Fazits ausdrücklich: „To close, LORENZO! [. . .]“ (VII, 1406) Young gibt also in vielen Gedichtteilen den Gedankengängen eine klare, durch Oberbegriffe und Unterbegriffe definierte Struktur und lässt den Sprecher diese Struktur meist explizit markieren und hervorheben. Dabei verwendet er Gliederungsformeln, wie sie für antike und mittelalterliche Lehrgedichte charakteristisch sind.36 So erhält die gedichtinterne Kommunikationssituation einen dezidiert belehrenden Charakter; der Sprecher bekennt sich nicht nur

35 Zu ‚Shame‘ vgl. VII, 341–352; zu ‚Extravagance‘ 353–364; zu ‚Disgust‘ 365–378; zur ‚inextinguishable Nature‘ 379–401. Zur Rede von Beweisen vgl. VII, 370 („Third Proof“), 379 („Fourth Proof“). 36 Vgl. Volk, The Poetics of Latin Didactic, S. 40 („[. . .] [D]idactic poems abound with phrases of the kind, ‚having sung of x, I shall now tell you y‘“); Haye, Das lateinische Lehrgedicht im Mittelalter, S. 180–184. Vgl. auch die Einleitung dieser Arbeit, Abschnitt I.2.3.

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offen zu seiner auf Belehrung und Bekehrung zielenden Absicht, sondern legt auch seine Vorgehensweise offen. Für Popes Essay on Man gilt all dies in viel geringerem Maße: Zumindest einer der gedichtinternen Adressaten, Bolingbroke, wird weniger eindeutig als eine zu belehrende Figur konzipiert, sondern vor allem als Freund. Explizite Markierungen von inhaltlichen Zäsuren oder vorausgeschickte Ankündigungen der erörterten Themen findet man bei Pope kaum. Die Textstruktur der Night Thoughts trägt somit deutlichere, gleichsam offensivere Züge des Didaktischen als Popes Essay on Man. Nachdem die zwei vorherrschenden Sprecherhaltungen charakterisiert worden sind, stellt sich die Frage, wie ihr Nebeneinander in Youngs Gedicht zu deuten ist. Auf den ersten Blick kann das Changieren zwischen diesen zwei Haltungen als widersprüchlich oder als Indiz einer Unentschiedenheit erscheinen: Mal präsentieren sich die Gedankengänge des Sprechers als freie, spontane Erinnerungen und Reflexionen, mal als methodisch geordnete, in Abschnitte und Unterabschnitte gegliederte Argumentationen mit einem genau definierten Ziel. Was für Young vermutlich die Vereinbarkeit dieser zwei Modi garantierte, war zunächst der Umstand, dass sein Sprecher ein überzeugter Christ ist, der sich nach seiner schockartigen Konfrontation mit dem Tod abrupt von allen irdischen Ambitionen gelöst und ganz dem Glauben verschrieben hat. So kann es plausibel wirken, dass auch seine unkontrolliert entstehenden Reflexionen sich nicht so weit von der christlichen Lehre entfernen, dass sie das Projekt der Bekehrung Lorenzos stören könnten. Darüber hinaus könnte man argumentieren, dass auch die als spontan und ungesteuert oder als inspiriert ausgegebenen Reflexionen des Sprechers für Young einen positiven Beitrag bei der Auseinandersetzung mit Lorenzo leisten sollten: Der Glaube, zu dem Lorenzo hingeführt werden soll, soll nicht nur auf rational gewonnenen Überzeugungen basieren, sondern auch ein emotionales Fundament besitzen. Der Sprecher führt in seinen freien, meist von starken Gefühlserregungen begleiteten oder initiierten Reflexionen einen solchen persönlichen, individuellen und emotional vertieften Weg zum Glauben vor, wie ihn auch Lorenzo beschreiten soll.

1.3 Emotionalisierung und das Erhabene Der klare Aufbau, die expliziten Benennungen von Themen und Unterthemen sowie die expliziten Strukturmarkierungen sind Eigenschaften der Night Thoughts, durch die sich Youngs Gedicht auffällig von Popes Essay on Man und anderen Lehrgedichten der ersten Jahrhunderthälfte unterscheidet, die aber in der zeitgenössischen Rezeption wie in der Forschung kaum Aufmerksamkeit gefunden haben. Als charakteristisch für das Gedicht wird meist eher ein anderer

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Zug betrachtet, durch den es sich von Popes Essay on Man und anderen Lehrgedichten derselben Epoche unterscheidet, nämlich die Emotionalisierung. Die Darstellung und der Ausdruck von Emotionen erhalten bei Young offenkundig viel Raum, weit mehr als etwa bei Pope oder in vielen anderen Lehrgedichten des früheren 18. Jahrhunderts. Insofern erscheint es plausibel, wenn die Night Thoughts als ein Beispiel für die ‚empfindsame‘ Wendung des Lehrgedichts betrachtet werden. Doch es lohnt sich, genauer danach zu fragen, welche Arten von Emotionen in Youngs Gedicht vorzugsweise kultiviert werden. Häufig wird es vor allem mit Schwermut und Melancholie assoziiert.37 In einer neueren Untersuchung wird es in den Kontext eines „Kultivierungsprogramms sanfter Melancholie“ gestellt.38 Trauer, Schwermut und Melancholie werden in Youngs Gedicht tatsächlich offenkundig breit thematisiert, und der Sprecher bezeichnet auch gelegentlich die Melancholie, und zwar eine ‚weiche‘ Melancholie, als das Gefühl, auf das seine Themenwahl und seine Ausführungen gerichtet sind. So charakterisiert er im Anfangsteil der dritten Nacht das ‚Thema‘, das er behandeln will, als „a quite Lunar Theme, | Soft, modest, melancholy, female, fair!“ (III, 56 f.) Aber wenngleich Trauer und Melancholie unbestreitbar eine wichtige Rolle spielen, wäre es verfehlt, sie als die dominierenden Emotionen in dem Gedicht darzustellen. Auch die sanfte Melancholie hat nicht diese beherrschende Stellung. Der Sprecher will, wie erwähnt, Lorenzo zum christlichen Glauben bekehren, und das Gefühl, das ihm zufolge einem frommen Menschen ziemt, ist nicht in erster Linie Traurigkeit. Die Trauer um Verstorbene und die Traurigkeit angesichts des unermesslichen Leidens in der Welt sind ein wichtiges, ja unverzichtbares Mittel, um die menschliche Seele von der Verstrickung in nichtige diesseitige Vergnügungen und Bestrebungen zu befreien. Aber sie bezeichnen nicht die Verfassung, in der der Mensch sich dauerhaft einrichten sollte; vielmehr sollen sie ergänzt oder abgelöst werden durch Ehrfurcht gegenüber Gott, Freude und Dankbarkeit angesichts der Erlösungstat Jesu und ernster Zuversicht oder sogar Freude beim Gedanken an das jenseitige Leben. Der Sprecher fordert Lorenzo gelegentlich zu solchen Einstellungen auf, vor allem aber demonstriert er sie selbst, wenn er von Gott, vom Kreuzestod Jesu und vom Jenseits spricht. Versucht man, die in den Night Thoughts gepriesenen und kultivierten Gefühle zusammenfassend zu charakterisieren, so wäre als vorherrschende Qualität nicht das Melancholische oder Düstere zu nennen, sondern eher das Große, 37 Vgl. etwa Totok, Das Problem der Theodizee, S. 89: „Youngs Nachtgedanken sind es vor allem, die mit ihrer tiefen Schwermut und ihrer traurig-düsteren Weltbetrachtung auf Creuz und Cronegk eine bedeutsame Wirkung ausüben.“ 38 Vgl. Battenfeld, Göttliches Empfinden, zu den Night Thoughts S. 63–98, Zitat S. 66.

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Erhebende und Außeralltägliche. Die Passagen der Night Thoughts, die besonders deutlich auf eine emotionale Wirkung zielen, sind großenteils zugleich diejenigen, in denen Young das Erhabene zu realisieren sucht. David Morris hat in seiner wegweisenden Studie The Religious Sublime den Night Thoughts einige erhellende Seiten gewidmet und dabei auch darauf aufmerksam gemacht, dass Young das Erhabene besonders intensiv zur Erregung von Schrecken nutze.39 Die ausführliche Evokation des Jüngsten Gerichts in der neunten Nacht stellt die Kulmination dieser Tendenz dar, die sich durch das ganze Gedicht zieht. Der Sprecher gibt hierbei offen zu erkennen, welche Wirkung er mit den Schilderungen des Weltgerichts erzielen will, nämlich Ehrfurcht und Schrecken:40 In Grandeur Terrible, All Heav’n descends! And Gods, ambitious, triumph in His Train. A swift Archangel, with his golden Wing, As Blots and Clouds, that darken and disgrace The Scene divine, sweeps Stars and Suns aside: [. . .] While (dreadful Contrast!) far, how far beneath! Hell, bursting, belches forth her blazing Seas, And Storms sulphureous; her voracious Jaws Expanding wide, and roaring for her Prey. LORENZO! welcome to this Scene; the Last In Nature’s Course; the First in Wisdom’s Thought: This strikes, if aught can strike thee; This awakes The most Supine; This snatches Man from Death.

[IX, 177–191]

Auch in anderen Teilen des Gedichts sucht Young immer wieder erhabene Wirkungen durch die Vorstellung räumlicher Größe zu erzeugen, die sich häufig explizit mit Bildern von Gewalt oder Zerstörung verbindet. So wird gleich in der ersten Nacht die Zeit als eine Figur mit einer ungeheuren Sense imaginiert, dessen gewaltiger Schwung ganze Imperien hinwegmäht (vgl. I, 192–197), und der Tod erscheint als Eigentümer der Welt, der Reiche zertreten und Sterne zerdrücken kann und der irgendwann die Sonne vom Himmel pflücken wird (vgl. I, 204–207). Die erste Phase einer intensiven Auseinandersetzung mit dem religiösen Erhabenen, die Morris in der erwähnten Studie untersucht, bilden die ersten zwei Dekaden des 18. Jahrhunderts. Die wichtigsten Repräsentanten dieser Entwicklung sind in diesem Zeitraum John Dennis als Theoretiker sowie

39 Vgl. Morris, The Religious Sublime, S. 145–154, zur Erzeugung von Schrecken mithilfe des Erhabenen S. 148 f. 40 Vgl. auch ebd., S. 149.

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Richard Blackmore, Isaac Watts und Aaron Hill mit dichterischen Werken.41 Die Gestaltung religiös-erhabener Erfahrungen in den Night Thoughts, die zu den als innovativ gefeierten Elementen des Gedichts gehörte, setzte mithin eigentlich eine – kaum unterbrochene – dichterische Tendenz des Jahrhundertanfangs fort. In einer Passage aus der vierten Nacht scheint Young einem dieser ‚Vorläufer‘, nämlich Blackmore, seine Reverenz zu erweisen, indem er innerhalb weniger Verse je zweimal die Begriffe „Creation“ und „Redemption“ verwendet (vgl. IV, 450–456). Blackmores philosophisches Lehrgedicht Creation wurde oben als ein Teil des literarischen Hintergrundes von Popes Essay on Man behandelt; Redemption war der Titel eines weiteren, 1722 erschienenen Lehrgedichts Blackmores.42 In einer Hinsicht allerdings setzt Young bei der Kultivierung des religiösen Erhabenen in den Night Thoughts andere Akzente als die genannten Autoren des frühen 18. Jahrhunderts, zumindest andere als Blackmore: Zu den erhabenen Gegenständen und Gedanken, die bei Young das Staunen des gedichtinternen Adressaten wie des Lesers erregen sollen, gehören nicht nur die Größe Gottes und seiner Schöpfung, sondern dezidiert auch die Größe des Menschen. Mit seiner Gestaltung dieses Themas wollte Young sich allerdings nicht in erster Linie von Autoren wie Blackmore abgrenzen, sondern von Pope und dem Essay on Man.

1.4 ‚The Dignity of Man‘: Youngs optimistische Antwort auf den skeptischen Essay on Man Am Ende der ersten Nacht nennt der Sprecher drei Dichter, die er bewundert und denen er nacheifern will: Homer, Milton und Pope. I rowl their Raptures, but not catch their Fire: Dark, tho’ not blind, like thee Mæonides! Or Milton! thee; ah cou’d I reach your Strain! Or His, who made Mæonides our Own. Man too he sung: Immortal man I sing; Oft bursts my Song beyond the bounds of Life; What, now, but Immortality can please? O had He prest his Theme, pursued the track, Which opens out of Darkness into Day! O had he mounted on his wing of Fire,

41 Vgl. Morris, The Religious Sublime, S. 47–78 (zu Dennis), 82–85 (zu Blackmore, Watts und Hill). 42 Vgl. Blackmore, Creation; ders., Redemption: A Divine Poem, In Six Books, London 1722.

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Soar’d, where I sink, and sung Immortal man! How had it blest mankind? and rescued me?

[I, 448–459; Ende von Night the First]

Mit dem Dichter, „who made Mæonides our Own“, ist offenkundig Pope gemeint, der zwischen 1715 und 1726 seine Übersetzungen der Ilias und der Odyssee veröffentlicht hatte. Die Art, wie der Sprecher sich hier auf Pope bezieht, ist ambivalent: Zunächst einmal wird Pope in eine Reihe mit Homer und Milton gestellt und wie Milton als ein Dichter genannt, dem der Sprecher nacheifern möchte („ah cou’d I reach your Strain! | Or His, [. . .]“). Dann erklärt der Sprecher, dass Pope nur den Menschen besungen habe, er selbst aber den unsterblichen Menschen besingen werde, und er drückt sein Bedauern darüber aus, dass Pope seine Begabung nicht in den Dienst dieses Themas – „Immortal man“ – gestellt hat. Doch diese Markierung der thematischen Differenz und den Ausdruck des Bedauerns kann man kaum anders denn als eine versteckte Kritik an Pope verstehen, der schließlich das Thema der menschlichen Unsterblichkeit nicht etwa übersehen oder aus Bequemlichkeit vernachlässigt haben dürfte. Im Essay on Man wird die menschliche Hoffnung auf einen „future state“ durchaus behandelt; nur wird sie eben als eine Hoffnung erörtert, die den Menschen auszeichne und von eminenter Wichtigkeit sei, die sich aber auf Erden nicht in eine Gewissheit verwandeln könne. So liegt es nahe, die zitierten Verse als indirekte Äußerung des Vorwurfs zu deuten, dass Pope im Essay on Man der Unsterblichkeit des Menschen nicht den richtigen Platz eingeräumt und so ein verfehltes Bild vom Menschen gezeichnet habe.43 Die Bezugnahme auf Pope ist von Young an einer herausgehobenen Stelle, am Ende des ersten Teils seines Gedichts, platziert worden. Dieser Umstand lässt die Annahme plausibel erscheinen, dass die Ausführungen der folgenden Gedichtteile durchgehend oder vielfach auch eine kritische Auseinandersetzung mit Popes Gedicht darstellen, selbst wenn dieser Bezug nicht jedes Mal explizit markiert wird. Die Fruchtbarkeit dieses Interpretationsansatzes, der die Night Thoughts als eine Antwort auf und Abgrenzung von Popes Essay on Man versteht, ist von mehreren Forschern aufgezeigt worden.44 Dabei sind verschiedene Themen und Konzepte hervorgehoben worden, hinsichtlich derer Young

43 Dass Young in den Night Thoughts den Essay on Man in diesem Sinne kritisieren wollte, meint auch: Daniel W. Odell, „Young’s Night Thoughts as an Answer to Pope’s Essay on Man“, in: Studies in English Literature, 1500–1900, 12/1972, 3, S. 481–501; zur Frage der Unsterblichkeit des Menschen etwa ebd., S. 485. – Odell vergleicht Popes Essay on Man und Youngs Gedicht im Hinblick darauf, wie sie zum einen die Stellung des Menschen in der chain of being, zum anderen das Theodizee-Problem behandeln. 44 Vgl. Odell, „Young’s Night Thoughts as an Answer to Pope’s Essay on Man“; John E. Sitter, „Theodicy at Midcentury: Young, Akenside and Hume“, in: Eighteenth-Century Studies, 12/

1 Edward Young: Night Thoughts (1742–1746)

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sich von Pope zu distanzieren oder eine dezidierte Gegenposition aufzustellen gesucht habe: die Stellung des Menschen in der göttlichen Schöpfung, das Theodizee-Problem und das Wesen des menschlichen Selbst sowie seine Beziehung zur Gesellschaft. Ein Einwand gegen Pope, der Young besonders wichtig gewesen sein dürfte, betrifft die Frage nach der Größe oder Niedrigkeit des Menschen. Dass Pope im Essay on Man die Unsterblichkeit des Menschen vernachlässigt habe, implizierte für Young eine Degradierung des Menschen. Youngs Sprecher ist in den neun Teilen der Night Thoughts immer wieder bemüht, seinen Adressaten diese Würde vor Augen zu führen, die den Menschen eigentlich auszeichnet, deren Realisierung er allerdings auch versäumen kann. So heißt es in der zweiten Night über den Menschen, der sich von der Torheit („Folly“) und vom Plunder der Welt („the rubbish of the World“; II, 348) beherrschen lässt, dass in ihm jede „God-like Passion for Eternals“ erstickt (II, 340) werde und jede „Faculty divine“ verwildere (II, 347). Dabei seien die Seelen der Menschen eigentlich dazu befähigt, sich zum Himmel aufzuschwingen und die Throne der gefallenen Engel einzunehmen, und so schließt die Passage mit dem Vers: „Such Veneration due, O Man, to Man.“ (II, 354) Weit ausführlicher und rhetorisch aufwändiger wird das Thema der Würde des Menschen dann in der vierten Night entfaltet, und zwar in einem Abschnitt, der an den Opfertod Jesu am Kreuz erinnert. Eben dieser Tod, den Jesus um der Menschen willen auf sich genommen habe, dient dem Sprecher als das entscheidende Argument für die Dignität des Menschen, denn: „If a God bleeds, he bleeds not for a Worm“ (IV, 498). In dieser Passage zitiert der Sprecher auch die traditionelle Aufforderung ‚Erkenne dich selbst‘ („Man! Know thyself“), wie es der Sprecher in Popes Essay on Man zu Beginn der zweiten Epistel tut. Bei Pope folgt auf diese Aufforderung eine Schilderung der zutiefst widersprüchlichen Natur des Menschen; bei Young hingegen ist das, was das Streben nach Selbsterkenntnis ans Licht bringt, die Größe des Menschen: Man! Know thyself; all Wisdom centers there: To none Man seems ignoble, but to Man; Angels that Grandeur, Men o’erlook, admire: How long shall Human Nature be Their Book, Degenerate Mortal! and unread by Thee? The Beam dim Reason sheds shows Wonders There; What High Contents? Illustrious Faculties?

1978, 1, S. 90–106; Douglas Lane Patey, „Art and Integrity: Concepts of Self in Alexander Pope and Edward Young“, in: Modern Philology, 83/1986, 4, S. 364–378, zu den Night Thoughts und ihrer Beziehung zum Essay on Man vor allem S. 373–377.

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III Neue Tendenzen seit der Jahrhundertmitte

But the grand Comment, which displays at full Our human Height, scarce sever’d from Divine, By Heaven compos’d, was publish’d on the Cross! Who looks on that, and sees not in himself An awful Stranger, a Terrestrial God? A glorious Partner with the Deity In that high Attribute, immortal Life!

[IV, 484–497]

In den folgenden Versen führt der Sprecher vor, welche Wirkung die Erkenntnis der Unsterblichkeit des Menschen und damit auch der Größe des Menschen auf das Subjekt hat: Seine Seele wird emporgerissen und entflammt beim Gedanken an die Ewigkeit und an die überraschenden Entwicklungen, Entdeckungen und Abenteuer, die im Jenseits auf sie warten (vgl. IV, 499–516). So emphatisch die Größe des Menschen in der vierten Night gefeiert wird, so schwierig ist es zunächst, festzustellen, worin genau diese Größe für Youngs Sprecher besteht. In der Passage aus der zweiten Night, auf die oben hingewiesen wurde, werden göttliche oder gottähnliche Fähigkeiten und Leidenschaften des Menschen erwähnt, und in anderen Teilen des Gedichts finden sich ähnliche Vorstellungen.45 Zu diesen göttlichen Vermögen des Menschen scheint Young vor allem die Vernunft zu zählen, doch auch die Leidenschaften sind dem Sprecher zufolge ‚getauft‘ und mit der Fähigkeit, heilige Dinge zu lehren, begabt worden: „Are Passions, then, the Pagans of the Soul? | Reason alone baptiz’d? alone ordain’d | To touch Things sacred?“ (IV, 629–631)46 An anderen Stellen betont Youngs Sprecher, dass die menschliche Lern- und Erkenntnisfähigkeit unbegrenzt sei. Diese glanzvollen Fähigkeiten, so verkündet es Youngs Sprecher in der vierten Nacht, wird der Mensch im Jenseits erst ganz entfalten können, und seine Verwirklichung dieser Potentiale wird sich in neuen, staunenerregenden ‚Abenteuern‘ vollziehen:47

45 Am Ende der sechsten Night zählt der Sprecher Leistungen des Menschen auf, die von seiner Unsterblichkeit zeugen (vgl. VI, 761–807); dabei handelt es sich vor allem um technische und wissenschaftliche Leistungen wie die Verwandlung von Meeresteilen in Land, das Bauen prachtvoller Tempel und die Bewässerung trockener Ebenen. Ferner würdigt Young hier, wie er es auch in anderen Gedichten getan hat, die Seemacht Britannien, indem er die Größe der britischen Flotte evoziert, die die Welt zu ehrfürchtigem Staunen bewegt und so befriedet habe (VI, 791 f.). 46 Für weitere Passagen, in denen das Fühlen oder die Leidenschaften aufgewertet werden, vgl. IV, 199 f.; VII, 521–544. 47 Vgl. zur Verbindung von Erlösungshoffnung und Zukunftsorientierung mit den Motiven oder Metaphern von Reise, Abenteuer und Grenzüberschreitung in den Night Thoughts auch John A. Baker, „Venture and Adventure in Edward Young’s Night Thoughts (1742–1746)“, in:

1 Edward Young: Night Thoughts (1742–1746)

Beyond long Ages, yet roll’d up in Shades, Unpierc’d by bold Conjecture’s keenest Ray, What Evolutions of surprizing Fate? How Nature opens, and receives my Soul In boundless Walks of raptur’d Thought? Where Gods Encounter, and embrace me! What new Births Of strange Adventure, foreign to the Sun, Where what now charms, perhaps, whate’er exists, Old Time, and fair Creation, are forgot?

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[IV, 508–516]

Die Vorstellung, dass die menschlichen Seelen sich nach dem Tode nicht etwa ausruhen, sondern tätig sein und sich weiter entwickeln werden, kann sich zwar auf Überlegungen des Origenes berufen, war aber in der Geschichte des Christentums bis zur frühen Neuzeit kaum einmal eine akzeptierte Lehrmeinung.48 Nachdem Leibniz diese Vorstellung im Rahmen seines metaphysischen Systems reformuliert hatte, fand sie im deutschsprachigen Raum im späteren 18. Jahrhundert weitere Verbreitung; einige Manifestationen dieses Gedankens werden in diesem Kapitel noch zu besprechen sein. Ob Young diese Vorstellung selbstständig entwickelt oder aus welchen Quellen er sie andernfalls bezogen hat, ist noch nicht geklärt, doch er ließ seinen Sprecher hier eine Idee proklamieren, die auch im englischsprachigen Raum zukunftsträchtig war: Im 19. Jahrhundert fand die Annahme, dass die Seelen im Jenseits weiter für den Fortschritt arbeiten werden, in der englischen Theologie breite Zustimmung.49 Wie der Sprecher in der zitierten Passage das Neue und ‚Abenteuerliche‘ der jenseitigen Existenz als verlockend hervorhebt, so erklärt er andernorts ausdrücklich ein Leben, das durch ständige Wiederholungen geprägt sei, für unbefriedigend.50 Eine unbegrenzte Fortdauer der diesseitigen Existenz wäre daher keineswegs wünschenswert, weil dieses Leben aufgrund seiner Monotonie unweigerlich allen Reiz verliere (vgl. III, 326–346). Durch diese Tendenz unterscheiden

Serge Soupel/Kevin L. Cope/Alexander Pettit (Hrsg.), Adventure. An Eighteenth-Century Idiom. Essays on the Daring and the Bold as a Pre-Modern Medium, New York 2009, S. 63–87, hier v. a. S. 68, 72 f., 83. Auf die Verwendung des Worts ‚Adventure‘ in Youngs Gedicht geht Baker allerdings nicht ein. 48 Vgl. Colleen McDannell/Bernhard Lang, Heaven. A History, New Haven/London 1988, S. 277 und Anm. 2 auf S. 389. 49 Vgl. ebd., S. 276–306 (Kap. 9: „Eternal Motion: Progress in the Other World“). 50 Vgl. auch VI, 153–158: „What wretched Repetition cloys us here? | [. . .] In an Eternity, what Scenes shall strike? | Adventures thicken? Novelties surprize? | What Webs of Wonder shall unravel, there?“

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III Neue Tendenzen seit der Jahrhundertmitte

sich Youngs Night Thoughts von zahlreichen moralphilosophischen Gedichten des früheren 18. Jahrhunderts: Viele dieser Gedichte beschreiben das tugendhafte Leben eines Weisen als Ideal und charakterisieren dabei dieses Leben als ruhig und gleichförmig, ohne dass dies als ein Mangel dargestellt würde.51 Bei Young hingegen gehört das Bedürfnis nach neuen Erfahrungen und immer größerer Kraftentfaltung so wesentlich zum Menschen, dass dieses ruhige Leben der Weisen ihn nicht befriedigen könnte.52 Hier zeigt sich damit auch eine gewisse Ambivalenz der Ethik Youngs: Einerseits erklärt sein Sprecher an einigen Stellen des Gedichts, dass die Sorge um andere Menschen die höchste Aufgabe des Einzelnen ist.53 Andererseits verwirklicht der Mensch sein Wesen nur in immer neuen ‚Abenteuern‘. Diese Gedanken stehen nicht unbedingt im Widerspruch zueinander, markieren aber doch ganz unterschiedliche ethische Ideale.

1.5 Zusammenfassung Um 1750 forderten einige englische Dichter und Literaturkritiker vehement eine Abwendung von der durch Pope repräsentierten Art der Dichtung, wobei sie diese ausdrücklich als „didactic poetry“ und als „Essays on moral Subjects“ klassifizierten.54 Besonders entschieden und wirkungsvoll wurde diese Absage an die Lehrdichtung im Allgemeinen und die Lehrdichtung Popes im Besonderen von Joseph Warton formuliert. Als Gegenmodell zu Pope, als Repräsentanten der wahren oder höchsten Art der Dichtung, installierte er Edward Young, an den auch der Widmungsbrief seines Essay on the Writings and Genius of Pope

51 Auch in Hallers Schilderung des Lebens der Alpenbewohner in seinem Gedicht Die Alpen heißt es: „Das Leben rinnt dahin in ungestörtem Frieden, | Heut ist wie gestern war, und morgen wird wie heut.“ (Haller, „Die Alpen“, in: Ders., Versuch, 4. Aufl. 1748, S. 29–52, hier S. 34 [V. 93 f.]) 52 Auch in seiner Predigt A Vindication of Providence, or a True Estimate of Human Life (1728) hatte Young schon die Auffassung abgelehnt, das höchste Gut für den Menschen bestehe in einer heiter-gelassenen Ruhe: „Hence some, nay most Philosophers, have plac’d our Chief Good in Serenity, or Indolence, but this is a Mistake. Indolence, or Rest is inconsistent with our Nature, and not to be found in Heaven itself, but in a Comparative Sense. On the Contrary, our Heaven will consist in a pleasing Motion, a delightful Exertion, a transporting Progress to all Eternity. Annihilation is the only Rest for Man.“ (Young, A Vindication of Providence, S. 33 f.) 53 Vgl. I, 296–298: „In Age, in Infancy, from other’s aid | Is all our Hope; to teach us to be kind. | That, Nature’s first, last Lesson to mankind:“ 54 Vgl. die berühmte Vorrede („Advertisement“) zu Joseph Wartons 1746 veröffentlichtem Gedichtband: Joseph Warton, Odes on Various Subjects, London 1746.

1 Edward Young: Night Thoughts (1742–1746)

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adressiert ist.55 Youngs Night Thoughts werden damit als Beispiel für eine Art der Dichtung gedeutet, die von didaktischer Poesie klar unterschieden und auf der Skala der Dichtungsarten weit über ihr angesiedelt sei.56 Gegenüber dieser einflussreichen Deutung gilt es zu betonen, dass die Night Thoughts nicht nur in dem ganz allgemeinen Sinne einen lehrhaften Charakter haben, dass sie christliche Lehren vermitteln wollen. Darüber hinaus weisen sie über große Strecken auch auf der Ebene der Textstruktur traditionelle Elemente des Lehrgedichts auf. Diese sprachlichen Mittel, etwa die expliziten Themenankündigungen und die Markierungen gedanklicher Zäsuren, werden von Young sogar ausgiebiger und gewissermaßen unverhohlener gebraucht als von Pope. Damit soll nicht die offensichtliche Tatsache bestritten werden, dass Youngs Night Thoughts in ihrer formalen Gestalt immense Differenzen gegenüber Popes Essay on Man und verwandten Lehrgedichten der ersten Jahrhunderthälfte aufweisen. Ein auffälliger und häufig konstatierter Unterschied ergibt sich daraus, dass in Youngs Gedicht in weit extensiverer Weise als bei Pope die Emotionen des Sprechers thematisiert und präsentiert sowie emotionale Reaktionen des Adressaten angestrebt werden. Mit Blick auf diese Emotionalisierung wurde hier betont, dass Trauer und Melancholie in dem Gedicht eine wichtige, aber keineswegs dominante Rolle spielen. Als ein Grundzug des Gedichts erscheint eher das ausgeprägte Interesse für das Erhabene, für Erfahrungen des Großen und Überwältigenden und für die diesen Erfahrungen zugeordneten Emotionen. Dieser Kultivierung der Werte des Hohen und Erhabenen korrespondiert auf der inhaltlichen Ebene die emphatische Affirmation der Größe und Würde des Menschen. Da diese Größe des Menschen als ein Potential begriffen wird, das sich erst nach und nach realisieren und entfalten muss, erhält die Dimension der Zeit in den einschlägigen Partien des Gedichts eine hervorragende Bedeutung. Einige dieser Züge, durch die sich die Night Thoughts von Popes Essay on Man und anderen repräsentativen Lehrgedichten der ersten Jahrhunderthälfte unterscheiden, finden sich auch in deutschsprachigen Lehrgedichten der Zeit ab etwa 1750. In einigen Fällen könnten diese Ähnlichkeiten mit einer direkten

55 Vgl. Joseph Warton, An Essay on the Writings and Genius of Pope. [2 volumes. Vol. I.] London 1756, S. iii–xii. 56 Zu der programmatischen Abwendung von Pope in der Jahrhundertmitte und zu der Rolle Joseph und Thomas Wartons sowie Youngs in diesem Vorgang vgl. Robert J. Griffin, Wordsworth’s Pope. A study in literary historiography, Cambridge 1995, S. 24–63. Zur Ablehnung didaktischer Dichtung, die hiermit verbunden war, vgl. vor allem ebd., S. 39.

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III Neue Tendenzen seit der Jahrhundertmitte

Rezeption Youngs zusammenhängen, in anderen dürfte eher an parallele Entwicklungen zu denken sein.

2 Friedrich Carl Casimir von Creuz und seine philosophischen Lehrgedichte Youngs Night Thoughts entfalteten in Deutschland eine breite Wirkung, nachdem 1751 Johann Arnold Eberts Prosaübersetzung des Werks erschien.57 Als ein Beispiel für die produktive Rezeption der Night Thoughts wird in der Literaturgeschichtsschreibung häufig Friedrich Carl Casimir von Creuz’ Lehrgedicht Die Gräber genannt. Im späten 18. Jahrhundert war Creuz58 mit diesem Gedicht sowie mit seinem Versuch vom Menschen und den Lucrezischen Gedanken einer der bekannten Verfasser von Lehrgedichten, der als solcher in Überblicken über diese Gattung häufig Erwähnung fand. In der neueren Forschung aber haben Creuz und seine philosophischen Lehrgedichte wenig Beachtung gefunden.59 Somit gibt es mehrere Gründe, diesen Gedichten hier eine nähere Untersuchung zu widmen. Wilhelm Totok hat in seiner Studie zum „Problem der Theodizee in der deutschen Gedankenlyrik der Aufklärung“ Creuz und Johann Friedrich von Cronegk als Dichter dargestellt, die sich hinsichtlich der Frage nach dem Ursprung des

57 Vgl. zur deutschen Rezeption der Night Thoughts knapp: Battenfeld, Göttliches Empfinden, S. 63–68; Julia Steiner, „Johann Georg Jacobis Nachtgedanken und die Rezeption von Youngs Night Thoughts im 18. Jahrhundert“, in: Freiburger Universitätsblätter, 53. Jg., Juni 2014, Heft 204, S. 19–35, v. a. S. 22–26; John L. Kind, Edward Young in Germany. Historical Surveys, Influence upon German Literature, Bibliography, New York 1906. Zu Johann Arnold Eberts Übersetzung und umfangreicher Kommentierung von Youngs Gedicht vgl. Hans-Georg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 6/I: Empfindsamkeit, Tübingen 1997, S. 285–292. 58 In der Forschung finden sich die Schreibweisen ‚Creuz‘ und ‚Creutz‘. Creuz unterzeichnete amtliche Aktenstücke offenbar stets mit „Creutz“, veröffentlichte seine Werke aber unter dem Namen „Creuz“, der daher auch hier verwendet wird. Vgl. Carl Hartmann, Friederich Carl Casimir Freiherr von Creuz und seine Dichtungen, Heidelberg 1890, S. 4. 59 Zu den umfassendsten und hilfreichsten Studien zu Creuz gehören immer noch zwei Dissertationen aus dem späten 19. Jahrhundert: Hartmann, Friederich Carl Casimir Freiherr von Creuz; Udo Bion, Beiträge zur Kenntnis des Lebens und der Schriften des Dichters Fr. Carl Casimir von Creuz, Meiningen 1894. Creuz’ Lehrgedichte werden knapp behandelt bei Vontobel, Von Brockes bis Herder, S. 214–219; Totok, Das Problem der Theodizee, S. 89–91. Zu Bezugnahmen auf naturwissenschaftliche Themen und Theorien bei Creutz vgl. Walter Schatzberg, Scientific Themes in the Popular Literature and the Poetry of the German Enlightenment, 1720–1760, Bern 1973, S. 258–272. Creuz’ philosophische Abhandlung Versuch über die Seele wird eingehend untersucht bei Nina Hahne, Essayistik als Selbsttechnik. Wahrheitspraxis im Zeitalter der Aufklärung, Berlin/Boston 2015, S. 156–192.

2 Friedrich Carl Casimir von Creuz und seine philosophischen Lehrgedichte

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Übels der skeptischen oder pessimistischen Haltung Hallers angeschlossen haben.60 Für Totok hat Creuz damit dazu beigetragen, den ‚rationalistischen Optimismus‘ zu überwinden.61 Auch in einer Ende des 19. Jahrhunderts erschienenen Dissertation wird der „Pessimismus“ als „Grundzug“ des persönlichen Wesens wie der Dichtung Creuz’ bezeichnet.62 In Creuz’ Gedichten, gerade auch in seinen Lehrgedichten, wird tatsächlich vielfach eine Sicht auf die Welt und das menschliche Leben entworfen, die man als skeptische oder pessimistische bezeichnen kann. Dieser Pessimismus besitzt allerdings einen präziseren und auch spezifischeren Gehalt, als Totoks Charakterisierungen und die Parallelisierung mit Haller vermuten lassen. Vor allem aber ist die Rede vom Pessimismus als einem Grundzug der Creuz’schen Dichtungen einseitig und missverständlich, denn ähnlich wie bei Young wird bei Creuz den Klagen über die Unvollkommenheiten des diesseitigen Lebens eine Aussicht auf das Jenseits gegenübergestellt, das nicht nur eine Erlösung von den irdischen Leiden, sondern eine glanzvolle Weiterentwicklung bringen soll. Die folgenden Ausführungen wenden sich zunächst der Form und Struktur der Creuz’schen Lehrgedichte zu. Wie es den leitenden Absichten dieses Kapitels entspricht, soll dabei besonders darauf geachtet werden, inwiefern in Creuz’ Gedichten Tendenzen der Emotionalisierung und Subjektivierung zu beobachten sind und welche Rolle narrative Elemente spielen. Die übrigen Abschnitte befassen sich mit den Inhalten der Gedichte, zunächst mit ihren skeptischen oder pessimistischen Zügen, dann mit der Thematik von Jenseits und Unsterblichkeit.

2.1 Monologische Form und Emotionalisierung Beachtung verdient zunächst die Gestaltung der Sprecherfiguren und der Kommunikationssituationen. In Die Gräber tritt im ersten Gesang ein Sprecher auf, der sich bei Einbruch der Nacht auf einem Friedhof befindet.63 Auch in den 60 Vgl. Totok, Das Problem der Theodizee, S. 89–91. 61 Vgl. ebd., S. 91. Eine ähnliche Einschätzung der literaturgeschichtlichen Bedeutung Creuz’ und Cronegks, die auch ähnliche Wertungsmaßstäbe voraussetzt, bei Walther Rehm, Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik. 2. Aufl. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Halle 1928. Darmstadt 1967, S. 262. 62 Bion, Beiträge, S. 14. 63 Creuz’ Lehrgedichte werden hier nach der folgenden Ausgabe zitiert: Friederich Carl Casimir Freiherr von Creuz, Oden und andere Gedichte auch kleine prosaische Aufsätze. Neue vermehrte und geänderte Auflage. [Zwei Bände.] Frankfurt a.M. 1769. Das Gedicht Die Gräber ist abgedruckt in: ebd., Band 2, S. 86–152. Die ersten drei Gesänge von Die Gräber erschienen

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III Neue Tendenzen seit der Jahrhundertmitte

folgenden Gesängen wird die Sprechsituation meist ausdrücklich dem Abend oder der Nacht zugeordnet, doch der Sprecher befindet sich nicht immer auf einem Friedhof, sondern im vierten Gesang etwa an einem amönen Ort, wo er umgeben ist von „Auen“, „Tannen“, „Grotten“, einem „nahe[n] Wasserfall“, „Gesträuche[n]“ und einem „Hayn“.64 Wo er sich einem ‚Gegenüber‘ zuwendet, sind dies mal die Gräber oder die auf dem Friedhof Begrabenen, mal abwesende Personen. Im ersten Gesang wendet sich der Sprecher an eine „Ulrike“ und trauert mit ihr um ihren gerade verstorbenen „Gemahl“.65 Die ersten drei Gesänge der Gräber erschienen zuerst 1752, und Creuz spielt hier offenbar auf den Landgrafen Friedrich IV. von Hessen-Homburg an, dem er seit 1746 als Hofrat diente und der 1751 starb. Friedrichs Ehefrau war Ulrike Louise zu SolmsBraunfels.66 Creuz’ Gräber sind, wie erwähnt, vor allem als ein Dokument der deutschen Rezeption der Night Thoughts bekannt. Young wird im zweiten und im dritten Gesang der Gräber ausdrücklich erwähnt67; in einer Reihe weiterer Passagen kann man mehr oder weniger deutliche Anklänge an Verse aus Youngs Gedicht entdecken.68 Doch abgesehen von dem weit geringeren Umfang der Gräber fällt eine Differenz zwischen den Gedichten besonders auf: Bei Creuz gibt es keine

schon 1752, eine erste vollständige Ausgabe mit sechs Gesängen kam 1760 heraus. Gegenüber dieser Ausgabe ist die Fassung von 1769 aber stark verändert. Vgl. zur Text- und Publikationsgeschichte: Hartmann, Friederich Carl Casimir Freiherr von Creuz, S. 56. 64 Creuz, Oden und andere Gedichte, Bd. 2, S. 117 (Die Gräber, Vierter Gesang). 65 Ebd., S. 85 (Die Gräber, Erster Gesang). 66 Vgl. zu den biographischen Fakten Hartmann, Friederich Carl Casimir Freiherr von Creuz, S. 6–10. Zu den Konflikten um die vormundschaftliche Regentschaft in Hessen-Homburg, die nach dem Tod Friedrichs IV. aufbrachen und in die auch Creuz verwickelt war, vgl. Pauline Puppel, „Recht gegen Gewalt: Die Auseinandersetzung um die vormundschaftliche Regentschaft in Hessen-Homburg 1755–1761“, in: Siegrid Westphal (Hrsg.), In eigener Sache. Frauen vor den höchsten Gerichten des Alten Reiches, Köln [u. a.] 2005, S. 219–244. – In der 1760 erschienenen Ausgabe der Gräber erwähnt der Sprecher auch im zweiten Gesang die trauernde Ulrike und beklagt den Tod seines Fürsten; vgl. [Friedrich Carl Casimir von Creuz], Die Gräber, ein Philosophisches Gedicht, in Sechs Gesängen; nebst einem Anhange neuer Oden und philosophischer Gedanken, Frankfurt/Mainz 1760, S. 10, 12. In der Ausgabe von 1769 machte Creuz aus diesem zweiten Gesang der 1760er Version den vierten Gesang und entfernte die Referenzen auf Ulrike und ihren fürstlichen Gatten. 67 Vgl. Creuz, Oden und andere Gedichte, Bd. 2, S. 90 (Die Gräber, Zweiter Gesang): „Mit langsamen Bedacht, | Schlägt nun die Uhr der Mitternacht, | In der Lorenzo scherzt; Youngs hoher Kummer wacht; | Des Dichters, der für uns und Nachwelt singet [. . .].“ Ebd., S. 115 (Dritter Gesang): „Ihr Seufzer, [. . .]: | Wann Young in stiller Nacht euch einsam zu sich winket, | Und tief in seinen Gram, als in ein Meer versinket; | O so kommt auch zu mir!“ 68 Vgl. Hartmann, Friederich Carl Casimir Freiherr von Creuz, S. 65–70; Bion, Beiträge, S. 14 f., 16–20.

2 Friedrich Carl Casimir von Creuz und seine philosophischen Lehrgedichte

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Entsprechung zu Youngs Lorenzo, also keine Figur, die vom Sprecher über größere Strecken angeredet wird und in einen Dialog mit dem Sprecher eintritt. Dieser Unterschied ist auch bereits von Hartmann registriert worden, der ihn wie folgt mit den divergierenden Absichten Youngs und Creuz’ erklärt: Die ‚Klagen‘ wollen zunächst wirken, die ‚Gräber‘ zunächst darstellen; die ersteren (wie ja schon ihre Form, die ständige Anrede an ‚Lorenzo‘, das ungläubige Weltkind, zeigt) sind stets bestrebt, ihren Zweck, die Mahnung zum Glauben und zur Betrachtung des Todes auszusprechen, sie sind eine Sammlung von schwungvollen Predigten; die ‚Gräber‘ dagegen sind ein Dichtwerk, das mehr durch seine Darstellung, durch sich selbst, als durch ausgesprochene Tendenz seine Wirkung auf die Betrachtenden ausübt und ausüben will.69

Wenn Hartmann hier Youngs Night Thoughts aufgrund des ‚Aussprechens‘ der Tendenz als „Predigten“ bezeichnet und vom „Dichtwerk“ Creuz’ abgrenzt, so legt er offenbar einen Dichtungsbegriff zugrunde, der sich mit Goethes Spruch „Bilde, Künstler, rede nicht“70 zusammenfassen lässt. Doch damit wird der Unterschied zwischen den Gedichten Youngs und Creuz’ nicht befriedigend erfasst: Auch Die Gräber enthalten explizite Mahnungen zur Betrachtung des Todes71 sowie viele Passagen, in denen eine Tendenz ‚ausgesprochen‘ wird, in denen der Sprecher mithin ausdrücklich philosophische Überzeugungen formuliert. Die im Vergleich zu Young veränderte gedichtinterne Kommunikationssituation erfordert also eine andere Deutung. Eine Interpretation wird durch die Forschungsthesen über die Entwicklung des Lehrgedichts im späteren 18. Jahrhundert nahegelegt, die eine der Tendenzen in einer ‚Subjektivierung‘ sehen. Auf die Frage, inwiefern in Creuz’ Lehrgedichten eine Subjektivierung vorliegt, wird daher zurückzukommen sein. In den anderen Lehrgedichten Creuz’ wird der Sprecher nicht so konkret in Raum und Zeit positioniert wie in Die Gräber, doch auch hier erscheint er als eine einsame Figur, die sich nicht wie in einem Brief an eine bestimmte andere Person richtet und auch kaum einmal eine bestimmte Menschengruppe adressiert. Im Versuch vom Menschen wendet sich der Sprecher zu Beginn an den „Geist des Jahrhunderts“.72 In Lucrezische Gedanken wird die Einsamkeit des Sprechers auf eine für Creuz bezeichnende Weise begründet: Hier handelt es sich nicht wie in Die Gräber um eine Sprecherfigur, die des Nachts den Verlust geliebter oder bewunderter Menschen betrauert, sondern um einen Sprecher, der den

69 70 71 72

Hartmann, Friederich Carl Casimir Freiherr von Creuz, S. 65. Vorspruch zur Gedichtgruppe „Kunst“ in der Sammlung von 1815. Vgl. FA I, 2, S. 349. Vgl. etwa Creuz, Oden und andere Gedichte, Bd. 2, S. 120 (Die Gräber, Vierter Gesang). Ebd., S. 157 (Versuch vom Menschen, Erstes Buch).

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III Neue Tendenzen seit der Jahrhundertmitte

„wahren Grund“ seines „Ich“ sucht73 und der zu diesem Zweck zunächst über die Geschichte der menschlichen Gattung nachdenkt, dann aber auf das Wesen der Seele reflektiert und sein Bewusstsein seiner selbst zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht. Die Redesituation in Creuz’ philosophischen Gedichten entspricht somit der Redesituation in den Teilen der Night Thoughts, in denen der Sprecher sich nicht an Lorenzo wendet. Da allerdings Creuz in den Gedichten häufig auf Gedichte Hallers anspielt und sich in der Vorrede zu ihm als einem Vorbild bekennt,74 könnte man auch das Unvollkommene Gedicht über die Ewigkeit als Referenztext heranziehen: Die dort gestaltete Figur eines einsamen Sprechers, der sich einerseits auf sich selbst und seine Erfahrungen zurückwendet, andererseits das Weltall, die Unendlichkeit und Gott anspricht, ließe sich als das Grundmuster betrachten, das in Creuz’ Gedichten ausgebaut und variiert wird. Als eine Eigenschaft, durch die sich die ‚empfindsamen‘ Lehrgedichte ab der Jahrhundertmitte von den älteren Lehrgedichten absetzen, ist vor allem eine Emotionalisierung oder eine verstärkte Rolle der Empfindungen genannt worden, und diese Züge liegen auch in Creuz’ Lehrgedichten offen zutage. In Die Gräber, wo in mehreren Gesängen die Sprechsituation auch räumlich und zeitlich konturiert wird, thematisiert der Sprecher wiederholt seine emotionale Verfassung, indem er etwa von seiner „Melancholie“ spricht. Zudem ist der Duktus des Gedichts häufig durch Ausrufe und Fragen geprägt, die ebenso wie die gelegentlich stark variierende Verslänge als Mittel der Präsentation von Gefühlen interpretiert werden können. Im Versuch vom Menschen und in den Lucrezischen Gedanken äußern sich die Sprecher zwar nicht über ihren Gefühlszustand, aber auch hier finden sich viele Abschnitte, in denen die Wortwahl und syntaktische Gestaltung offenbar der Präsentation von Gefühlen dienen, und zwar von Gefühlen, die durch bestimmte Gedanken, Fragen oder Zweifel im Sprecher ausgelöst werden. Während Creuz’ Gedichte mithin offensichtlich Eigenschaften aufweisen, die die Feststellung von einer im Vergleich mit den älteren Lehrgedichten vollzogenen Emotionalisierung rechtfertigen, ist es fraglich, ob diese Verstärkung der Gefühlskomponente auch mit einer Subjektivierung einhergeht, wie es einschlägige Studien zum Lehrgedicht nahelegen. Mit Bezug auf Jägers Rede von einer „Subjektivierung“ des Lehrgedichts hat Horst Thomé am Rande einer Interpretation von Wielands Lehrgedicht Die Natur der Dinge einen wichtigen, in

73 Ebd., S. 217 (Lucrezische Gedanken, Viertes Stück). 74 Vgl. [Creuz], Die Gräber, Frankfurt/Mainz 1760, S. V („Vorbericht“). Zur Bedeutung Hallers für Creuz vgl. Bion, Beiträge, S. 22–26. Bion führt hier Stellen aus Gedichten Creuz’ an, die hinsichtlich konkreter Formulierungen, ihrer ‚Stimmung‘ oder rhetorischer Verfahren (Personifikation abstrakter Begriffe) Ähnlichkeiten zu Versen Hallers aufweisen.

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der Forschung bisher nicht weiter verfolgten Einwand formuliert. Die von Jäger hervorgehobenen Veränderungen in den Gedichten lassen sich demnach zunächst als ein verstärktes Interesse an der „individuelle[n] Hervorbringung von Erkenntnis“ beschreiben.75 Es sei aber „bedenklich“, diese Wendung auf den Begriff der Subjektivierung zu bringen, da „es nicht um die Darstellung persönlicher oder gar rein privater Anschauungen geht, sondern darum, daß die individuell erbrachte Erkenntnis gerade dadurch verbindlich wird, daß ihr Zustandekommen gezeigt wird.“76 Dieses „Verfahren“, so Thomé, ist „der neuen Naturwissenschaft durchaus analog.“77 Damit ist offenbar gemeint, dass in den neuen Naturwissenschaften Wissensansprüche typischerweise dadurch begründet werden können, dass gezeigt wird, wie ein Individuum mithilfe der prinzipiell jedem Menschen verfügbaren Wahrnehmungsfähigkeiten und einer für jeden Menschen prinzipiell nachvollziehbaren Verstandestätigkeit zu diesen Wissensansprüchen gelangt ist. Zu ergänzen wäre, dass eine solche Berufung auf die individuell geleisteten, aber generalisierbaren Erkenntnistätigkeiten sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern auch in einflussreichen theologischen Schriften findet. Das berühmteste und wirkungsmächtigste Beispiel dürfte Johann Joachim Spaldings Schrift Die Bestimmung des Menschen (1748) sein.78 Etwa zeitgleich und unabhängig von Spalding verwendet ein anderer Neologe, August Friedrich Wilhelm Sack, in etwa dasselbe Verfahren in seiner apologetischen Schrift Vertheidigter Glaube der Christen (1748–1753).79 Sack wird am Ende des zweiten Gesangs von Die Gräber namentlich angesprochen als

75 Vgl. Horst Thomé, Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Vorgeschichte der deutschen Klassik, Frankfurt a.M. [u. a.] 1978, S. 114 f., Zitat S. 114. 76 Ebd., S. 115. Vgl. auch ebd., S. 116: „Neben die Emotionalität und offenbar nicht streng von ihr zu trennen tritt die Berufung auf die Empirie, auf allgemein zugängliche Fakten, etwa des menschlichen Lebens, und auf zwingende Denkoperatione [sic].“ 77 Ebd., S. 115. 78 Vgl. Johann Joachim Spalding, Kritische Ausgabe. Hrsg. Albrecht Beutel. Erste Abteilung: Schriften. Bd. 1: Die Bestimmung des Menschen [1748]. Hrsg. Albrecht Beutel/Daniela Kirschkowski/Dennis Prause, Tübingen 2006. Zu der von Spalding gewählten „literarische[n] Form des Selbstgesprächs“ vgl. Albrecht Beutel, „Einleitung“, in: ebd., S. XXI–XLIX, hier S. XXXI–XXXII, Zitat S. XXXI. Zur Konstruktion der Ich-Figur und den damit verbundenen narrativen Zügen der Schrift vgl. auch Andreas Urs Sommer, „Sinnstiftung durch Individualgeschichte. Johann Joachim Spaldings Bestimmung des Menschen“, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte, 8/2001, S. 163–200. 79 Spalding kam mit Sacks Schrift erst in Berührung, als er die Bestimmung des Menschen schon vollendet hatte, und befürchtete, er könne aufgrund der stilistischen Ähnlichkeit als Nachahmer erscheinen; vgl. Beutel, „Einleitung“, S. XXX.

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jemand, der „so schön des Glaubens Grund vertheidigt“.80 Da Creuz somit offenbar an neologischem Schrifttum interessiert war, kann es als wahrscheinlich gelten, dass er auch Spaldings außerordentlich erfolgreiches Büchlein kannte. Bei Spalding wie bei Sack wird ein Ich als Sprecherfigur etabliert, das sich mit verschiedenen Auffassungen über die rechte Lebensweise konfrontiert sieht und versucht, eine begründete Wahl zu treffen, indem es sich allein auf seine Erfahrungen und seinen Verstand stützt.81 So dezidiert bei Sack wie bei Spalding die Gedankengänge eines Einzelnen als solche gestaltet und vorgeführt werden, ist dieser Einzelne offenbar als eine verallgemeinerbare Figur gemeint, da sie nur durch wenige generische Eigenschaften definiert ist. Die Reflexionen, die diese Figur durchführt, werden dem Leser als Reflexionen dargeboten, die er nachvollziehen könne oder solle. Insofern ist die konsequente Ich-Form dieser apologetischen Schriften nicht mit einer Subjektivierung verbunden. Selbst wenn man annimmt, dass Creuz mit den Schriften Sacks und Spaldings vertraut war, folgt daraus offensichtlich noch nicht, dass die Sprecherinstanzen seiner Lehrgedichte hinsichtlich ihrer Repräsentativität oder Verallgemeinerbarkeit eine ähnliche Funktion haben wie die Ich-Figuren in den genannten neologischen Verteidigungen des christlichen Glaubens. Aber der Umstand, dass solche Darstellungen individueller Erkenntnisleistungen sowohl in der Theologie als auch – wie Thomé hervorgehoben hat – in der Naturwissenschaft der Begründung von Wissensansprüchen dienen konnten, kann zumindest Vorsicht bei der Interpretation von Sprecherfiguren wie jenen in Creuz’ Lehrgedichten nahelegen. Wo die in den Gedichten formulierten Thesen über Gott, die Welt und den Menschen nicht ausdrücklich in ihrem Geltungsanspruch eingeschränkt und als bloße subjektive Meinungen ausgewiesen werden, da gibt es zunächst keinen Anlass, von einer Subjektivierung der Didaxe zu sprechen. Solche ausdrücklichen Relativierungen des Geltungsanspruchs aber finden sich in Creuz’ Lehrgedichten nur vereinzelt und am Rande.

80 Vgl. Creuz, Oden und andere Gedichte, Bd. 2, S. 100 (Die Gräber, Zweiter Gesang): „O, SACK, der du so schön des Glaubens Grund vertheidigt, | Des Glaubens, der dich einst mit Seeligkeit belohnt, | Sprich, welche Gottheit ists, die wir beleidigt, | Und welcher Gottheit Huld ist die, die uns verschont?“ Zu Sack vgl. Mark Pockrandt, Biblische Aufklärung. Biographie und Theologie der Berliner Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786) und Friedrich Samuel Gottfried Sack (1738–1817), Berlin/New York 2003. 81 Vgl. August Friedrich Wilhelm Sack, Vertheidigter Glaube der Christen. Erstes Stück. Berlin 1748, S. 75 f.: Hier erklärt der Sprecher, dass er durch die Konfrontation mit religionskritischen Ansichten in seinem Glauben aufgestört worden sei und nun seine seelischen Kräfte anstrengen wolle, um „in einer so wichtigen Sache zur Gewißheit zu kommen“ (ebd., S. 76).

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2.2 Narrative Strukturen und Verzeitlichung Hans-Wolf Jäger hat ferner den verstärkten Rekurs auf narrative und dramatische Elemente als einen Grundzug der Lehrgedichte der zweiten Jahrhunderthälfte genannt und diese formalen Innovationen auf ein Bemühen zurückgeführt, die ‚Trockenheit‘ des traditionellen Lehrgedichts zu vermeiden. Solche narrativen und dramatischen Komponenten finden sich auch in Creuz’ Gedicht Die Gräber. In einem Gesang erzählt der Sprecher zwei Geschichten von historischen Personen, die sich nach schockhaften Konfrontationen mit dem Tod von ihrem frivolen weltlichen Leben abgewendet haben. Handelt es sich hier noch um narrative Exempel, die sich der Form nach kaum von Beispielen in manchen Lehrgedichten der ersten Jahrhunderthälfte unterscheiden, so bietet der fünfte Gesang eine eigenwilligere narrative und dramatische Einlage82: Der Sprecher erzählt davon, wie einst ein tiefsinniger Greis nachts auf einem Friedhof gestanden habe, als sich plötzlich ein Sturm erhob, die Gräber sich öffneten und der Greis sich „von graussen Finsternissen“ umringt fand. Er sieht „unsichtbare Wesen | In Büchern von Crystall mit goldnen Lettern lesen“, während Gestalten „im Todtenkleid“ sie umstehen und neugierig oder neidisch betrachten.83 Schließlich erscheint ein Geist, der den Greis über den Aufbau der Welt und die Stellung des Menschen in derselben belehrt; die Rede dieses Geistes wird wörtlich zitiert. Der Versuch vom Menschen und die Lucrezischen Gedanken bieten keine erzählerischen Einschübe dieser Art, also weder Exempelerzählungen von einzelnen Personen noch dramatische Szenen. Doch beträchtliche Teile beider Gedichte weisen eine narrative Grundstruktur auf: Der Versuch vom Menschen enthält eine Schilderung der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft von einer Art Naturzustand bis zur Gegenwart des Sprechers.84 Die Lucrezischen Gedanken bieten eine Erzählung der Weltgeschichte, die von der Entstehung der Welt aus dem Chaos bis zu den Leistungen der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft reicht und in Ausblicke auf das jenseitige Weiterleben der Seelen sowie auf die Zerstörung der diesseitigen Welt mündet.85 In einer Vorbemerkung zu diesem Gedicht erklärt Creuz, dass er kein „Lucrezisches Lehrgebäude [. . .] liefern“ wolle, und er deutet an, dass manches in dem Gedicht „auch nach des

82 Vgl. Creuz, Oden und andere Gedichte, Bd. 2, S. 129–133 (Die Gräber, Fünfter Gesang). 83 Ebd., S. 130 (Die Gräber, Fünfter Gesang). 84 Zur Geschichte der menschlichen Gesellschaft vgl. v. a. das erste Buch des Versuchs vom Menschen: Ebd., S. 157–176. 85 Vgl. die Darstellung der Entstehung der Welt in: Ebd., S. 205–207 (Lucrezische Gedanken, Erstes Stück).

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Verfassers eigner Meinung philosophisch unrichtig“ sei.86 Diese Mitteilung mag er für nötig befunden haben, weil der Gedichtsprecher sich zwar von Lukrez’ materialistischer Konzeption der Seele ausdrücklich distanziert,87 daneben aber die Entstehung der Welt, der Tiere und des Menschen in einer Weise konzipiert, die weitgehende Parallelen zu Lukrez aufweist und von christlichen Schöpfungsvorstellungen weit entfernt ist. Das erste Stück des Gedichts, das die Überschrift „Ursprung der Dinge“ trägt, erwähnt nirgends einen Schöpfergott, sondern schildert die spontanen Tätigkeiten eines ‚uralten Stoffs‘, der „sich von selbst zum neuen Weltbau“ anbot.88 Ferner finden sich Anklänge an die lukrezischen Theorien über die Entstehung und Entwicklung der Tierarten. So betont der Sprecher gelegentlich die Nähe zwischen Tier und Mensch und deutet sogar an, dass der Mensch aus Tieren entstanden sei89; an anderer Stelle behauptet er, dass die Arten der Lebewesen sich erst nach und nach entwickelt und dass sie sich verändert haben.90 In der Gegenwart allerdings entstehen kaum noch neue Tierarten: „Nur selten sehn wir neue Thiere werden, | Wie die, die einst im Chaos sich gebildt; | Die Arten stehn, wie Felsen, fest auf Erden, | Ganz von der Kraft der Schöpfung angefüllt.“91 Damit dürfte Creuz Annahmen des Lukrez über die größere Zeugungskraft der jugendlichen Erde aufgreifen und modifizieren.92 Von Deutungen der Menschheitsgeschichte in Lehrgedichten Popes, Hallers oder Hagedorns unterscheiden sich diese Darstellungen bei Creuz nicht allein durch ihre größere Ausführlichkeit. In der dritten Epistel des Essay on

86 Creuz, Oden und andere Gedichte, Bd. 2, S. 192 (Lucrezische Gedanken, [Vorbemerkung]) 87 Schon zu Beginn des zweiten Gedichtteils findet sich eine Formulierung, die kaum zum Materialismus des Lukrez passt; dort heißt es, dass sich das ganze „Heer der Geister [. . .] in Körperwelten“ einspinnt (Creuz, Oden und andere Gedichte, Bd. 2, S. 208 (Lucrezische Gedanken, Zweites Stück). Im dritten und vierten Stück wird dem Menschen gegenüber den Tieren eine exzeptionelle Stellung zugesprochen, die er der Seele verdankt. Dass der Sprecher in seiner Selbsterforschung nicht die Realität der Seele leugnen kann, da er hierfür in sich „zu viel Wesenheit“ findet, ist auch der Grund für eine explizite Absage an Lukrez: „Lucrez, ich kan dein Schüler nicht mehr werden! | Ich find in uns zu viele Wesenheit.“ Creuz, Oden und andere Gedichte, Bd. 2, S. 217 (Lucrezische Gedanken, Viertes Stück). 88 Ebd., S. 205 f. (Lucrezische Gedanken, Erstes Stück). 89 Ebd., S. 211 (Lucrezische Gedanken, Zweites Stück): „Die Thiere stehen, wie wir, auf einer Leiter, | Und, was sie sind, das waren wir vielleicht; [. . .].“ 90 Ebd., S. 208 f. (Lucrezische Gedanken, Zweites Stück). 91 Ebd., S. 212 (Lucrezische Gedanken, Drittes Stück). 92 Lukrez zufolge bringt die Erde immer noch spontan neue Tierarten hervor, doch früher ließ sie mehr und größere Tiere entstehen. Vgl. Lukrez, De rerum natura, V, 788–800. Dies ist auch eine der lukrezischen Hypothesen, die Herder übernahm. Vgl. (mit Hinweisen auf einschlägige Stellen bei Herder): Hugh Barr Nisbet, „Herder und Lukrez“, in: Gerhard Sauder (Hrsg.), Johann Gottfried Herder 1744–1803, Hamburg 1987, S. 77–87, hier S. 82.

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Man, in Hallers Ueber den Ursprung des Uebels und in einem Abschnitt aus Hagedorns Die Freundschaft werden Entwicklungen zusammengefasst, die sich zwischen dem Naturzustand der Menschen und dem gegenwärtigen, durch Gesellschaftlichkeit und Staatlichkeit bestimmten Zustand abgespielt haben und die als abgeschlossen aufgefasst werden. In Creuz’ Lucrezischen Gedanken hingegen wird die historische Entwicklung als eine noch andauernde beschrieben, in die der Sprecher selbst hineingestellt ist und die sich noch fortsetzen wird, die aber in naher oder ferner Zukunft mit dem Untergang der Welt an ihr Ende gelangen wird.93 Etwas Ähnliches gilt – bis auf die Ankündigungen des Weltendes – für die Geschichtsdarstellung im Versuch vom Menschen. Die Annahmen über die zukünftige Entwicklung des Menschen sind in Creuz’ Lehrgedichten verknüpft mit einer Konzeption des jenseitigen Lebens, auf die unten noch näher einzugehen ist. Hier kann bereits festgehalten werden, dass in diesen Lehrgedichten fast durchgehend die Dimension der Zeitlichkeit dadurch betont wird, dass die Sprecher auf ihre persönliche Vergangenheit oder auf die Entwicklung der Menschheit zurückblicken und ihrem eigenen Tod oder dem Weltende entgegensehen. Creuz’ Gedichte dürften damit an den epochalen Veränderungen des Verständnisses von Zeitlichkeit und Geschichte partizipieren, die besonders eingehend von Reinhart Koselleck untersucht worden sind.94

2.3 Die skeptischen Momente in der Sicht auf Mensch und Welt Die in Creuz’ Lehrgedichten entworfene Sicht auf den Menschen und die Welt enthält viele skeptische, resignative oder pessimistische Züge, die allerdings in seinen Lehrgedichten unterschiedlich stark hervortreten und sich verschiedenartig ausprägen. In Die Gräber nimmt die Sprecherfigur den Tod eines ihm nahestehenden Fürsten und die Trauer seiner Witwe zum Anlass, ausführlich über die Macht des Todes und über seine Gleichgültigkeit gegenüber Unterschieden hinsichtlich Rang, Ruhm und Alter der Menschen nachzudenken.95

93 Für Gedanken an das Weltende und das Jüngste Gericht vgl. Creuz, Oden und andere Gedichte, Bd. 2, S. 204 (Lucrezische Gedanken, „Vermischte Betrachtungen“); ebd., S. 225 f. (Lucrezische Gedanken, Viertes Stück). 94 Vgl. Reinhart Koselleck, „Geschichte, Historie. V. Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs“, in: GG, Bd. 2, S. 647–691; Ders., „Fortschritt. IV. Die Ausprägung des neuzeitlichen Fortschrittsbegriffs“, in: ebd., S. 371–407. 95 Vgl. vor allem den ersten Gesang von Die Gräber: Creuz, Oden und andere Gedichte, Bd. 2, S. 83–89.

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Im dritten Gesang kämpft der Sprecher mit angstvollen Zweifeln an seinem Weiterleben nach dem Tode, im sechsten Gesang macht er sich anhand von historischen Beispielen wie dem Fall Karthagos und dem Roms die Vergänglichkeit alles Irdischen, die Kleinheit und Ohnmacht der Menschen gegenüber den Wechselfällen des Geschicks bewusst. „Wir sind im Meere der Begebenheiten, | Wie eine Feder ist, der Wellen Spott und Spiel!“96 Diese Wahrnehmung der menschlichen Hinfälligkeit weckt in ihm momentane Zweifel an der Güte Gottes: Schufst du uns, GOTT! (Verzeih die frechen Fragen!) Dich anzubeten, oder anzuklagen? War unser sterbend Seyn des Worts der Allmacht wehrt?97

Die Menschen erscheinen aber nicht nur als Opfer einer ihnen feindlichen Einrichtung der Welt, sondern auch als Wesen, die sich in einer rätselhaften, sinnlosen Geschäftigkeit verlieren: „Des Menschen Thun! Was find ich zu betrachten? | Wer es kennt, wird es verachten.“98 Der Sprecher beklagt im sechsten Gesang aber nicht nur die conditio humana überhaupt, sondern wendet sich in einem Passus auch dem „Landmann“ zu, seinem von „Noht und Hunger“ geprägten, „kummervolle[n] Leben“.99 Schon im vierten Gesang hatte er sich direkt an die „Grossen“, die „Götter dieser Erden“, gewandt, ihnen in etwas ironischem Ton seine Ehrerbietung erwiesen, aber auch bedauert, dass unter ihnen „manch kleiner Wütrich“ sei, der um seiner frivolen und kostspieligen Genüsse willen die „Armen“ hungern und bluten lasse.100 Die Klagen über die Verfasstheit der Welt nehmen in Die Gräber also breiten Raum ein, haben aber über weite Strecken auch sehr allgemeinen und zudem traditionellen, literarisch vorgeformten Charakter. In seinen zwei weiteren Lehrgedichten entwickelt Creuz Gedanken über die menschliche Natur, die Gesellschaft und die Einrichtung der Welt, die spezifischere Züge besitzen. Dabei ist der Versuch vom Menschen in zweien Büchern dasjenige Lehrgedicht Creuz’, das in der skeptischen bis pessimistischen Betrachtung des menschlichen Lebens am weitesten geht und Überlegungen zu Anthropologie und Ethik entwickelt, die um einiges schärfer und provozierender wirken als die in Die Gräber vorgetragenen Klagen. Das erste Buch des Versuchs vom Menschen beschreibt die Entwicklung der menschlichen Gattung von einem Naturzustand

96 Ebd., S. 140 (Die Gräber, Sechster Gesang). 97 Ebd., S. 139 (Die Gräber, Sechster Gesang). 98 Ebd., S. 142 (Die Gräber, Sechster Gesang). 99 Ebd., S. 142 (Die Gräber, Sechster Gesang). 100 Ebd., S. 142 (Die Gräber, Sechster Gesang).

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bis zum Zustand der Zivilisation und Staatlichkeit und nimmt dabei Wertungen vor, die deutlich von Rousseau beeinflusst zu sein scheinen. In dem Prosatext Philosophische Gedanken, der sich inhaltlich stark mit dem Versuch vom Menschen überschneidet,101 bezieht sich Creuz ausdrücklich auf den „Philosoph[en] von Genf“.102 Nicht zuletzt die häufige Rede von „Gleichheit“ und die Klage über den Untergang der Gleichheit im staatlich geregelten Leben lassen an Rousseau und seinen zweiten Discours denken.103 Neben der ursprünglichen Gleichheit unter den Menschen hebt der Sprecher wiederholt Ähnlichkeiten zwischen dem Menschen einerseits, Tieren und Pflanzen andererseits hervor.104 Doch im zweiten Buch macht der Sprecher deutlich, dass eine Rückkehr zum Naturzustand nicht nur nicht möglich, sondern auch nicht erstrebenswert sei: „Der Bürger ist nicht glüklicher, als der Wilde; der Wilde nicht glüklicher, als der Bürger“, so heißt es in der vorangestellten Inhaltsangabe. Im Gedicht selbst erklärt der Sprecher, dass Glückseligkeit im Diesseits kaum erreichbar sei: „Ein mindres Elend ist das höchste Gut auf Erden.“ Dass die Glückseligkeit nicht der

101 Vgl. zu dieser inhaltlichen Nähe auch Bion, Beiträge, S. 71; Hartmann, Friederich Carl Casimir von Creuz, S. 43. 102 Creuz, Oden und andere Gedichte, Bd. 2, S. 251 (Philosophische Gedanken). – Die Bezugnahme auf Rousseau wird auch in einer zeitgenössischen Rezension notiert. Vgl. Thst., „[Rez. zu:] Friedrich Carl Casimirs Freyherrn von Creutz, [. . .] Oden und andere Gedichte, auch kleine prosaische Aufsätze, neue vermehrte und geänderte Auflage. [. . .] 1769“, in: Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften. Hrsg. von Herrn Klotz. 13. Stück, Halle 1769, S. 57–83, hier S. 80 über Versuch vom Menschen: „Ein regelmäßiges Lehrgedicht, aber nicht voll so stürmischen Eifers, als die Gräber, ist der darauf folgende Versuch vom Menschen in zwey Büchern, wovon das erste Buch schon ehedem den Gräbern beygedruckt war. Der Mensch ist ein fruchtbares Thema, aber des Dichters Absicht ist hier nicht, es zu erschöpfen. Er begnügt sich mit der Geselligkeit des Menschen, und seiner Bildung durch die Wissenschaften, und trägt Rousseaus Gedanken darüber mit den nöthigen Einschränkungen vor.“ 103 Vgl. Creuz, Oden und andere Gedichte, Bd. 2, S. 163, 165, 166 (Versuch vom Menschen, Erstes Buch). 104 Dabei beruft er sich an einer Stelle auf die botanischen Forschungen Marcello Malpighis ( 1628–1694). Es heißt bei Creuz: „Ich war der Pflanze gleich; unfriedsam mit dem Raum, | Erweitert sie ihn stets, und dähnet sich zum Baum. | Wie wenig findet uns Malpighi unterschieden? | Und zwischen Thier und Mensch macht Connors Knabe Frieden *.“ Die Anmerkung zum letzten Vers erläutert, wer „Connors Knabe“ ist: „Hier ist die Rede von dem bekannten wilden Knaben, welcher unter den Bären, auf Händen und Füßen kriechend, gefunden worden.“ (Creuz, Oden und andere Gedichte, Bd. 2, S. 158 [Versuch vom Menschen, Erstes Buch].) – Malpighi hatte in einem Werk über die Anatomie der Pflanzen Analogien zwischen Pflanzenteilen und Organen von Tieren und Menschen hergestellt; vgl. zu seinen botanischen Arbeiten etwa: Flora Murray Scott, „The Botany of Marcello Malpighi, Doctor of Medicine“, in: The Scientific Monthly, 25/1927, 6, S. 546–553. Zur Suche nach funktional äquivalenten Strukturen bei Pflanzen, Tieren und Menschen als Grundzug der Arbeiten Malpighis vgl. ebd., S. 548.

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Zweck der Menschen sein könne, sehe man daran, dass das Glück des einen Menschen stets das Glück anderer verhindere; ein allgemeines Glück aller Menschen sei daher mit dem „Lauf der Dinge“ nicht vereinbar.105 In einer Passage kurz vor Ende des zweiten Buchs verwirft der Sprecher innerhalb weniger Verse nicht nur die Annahme, der Mensch sei zur „Geselligkeit“ bestimmt, sondern auch den Glauben, die grundlegenden moralischen Normen der Gesellschaft hätten ein Fundament in der Natur: Es flossen nicht an sich aus der Natur der Dinge Die Tafeln, die der Mensch nach Säculn erst empfienge. Gesez und Pflicht, wie sie uns die Geselligkeit, Wie sie nohtwendig macht der Umlauf unsrer Zeit, Sind nur Bedingungen, nicht allen gleich gesetzet: Ein ewiges Gesez hat niemand noch verletzet. Geselligkeit ist nicht der Zwek, um den wir sind, Da, ohne sie sein Glük des Südpols Wilder findt. Und zwang (ich glaub die Noht) uns, bürgerlich zu leben; Soll ich den Bürger nun hoch übern Wilden heben? Seh ich uns elend hier, fast unterm Joch erdrükt; Soll ich den Ausspruch thun, der Wilde sey beglükt? Bau ich nun ein System? Nein, das sind unsre Pflichten, Nicht die, nach welchen uns der Schule Lehrer richten, Die zu des Thrones Stüz ein Herrscher schlau erfindt: Die sind es, welche so, wie unser Zustand, sind.

[S. 195]

Die Reihe der Negationen und Infragestellungen mündet in dieser Passage schließlich in die Frage „Bau ich nun ein System?“, mit der der Sprecher zu verstehen gibt, dass er keineswegs gesonnen ist, aus seinen Zweifeln oder Einwänden gegen überkommene Lehren nun seinerseits ein philosophisches System zu errichten. Diese spöttische Distanzierung vom System-Bauen fügt sich nahtlos in die Abwertung der Wissenschaften ein, die der Sprecher zuvor im zweiten Buch schon ausführlich betrieben hat. In der zitierten Passage folgt auf die ironische Frage „Bau ich nun ein System?“ allerdings eine Aussage des Sprechers, die nicht leicht zu verstehen ist und die den Gedankengang in eine neue Richtung umlenkt.106 Doch die vorangegangenen Relativierungen,

105 Creuz, Oden und andere Gedichte, Bd. 2, S. 192 (Versuch vom Menschen, Zweites Buch). 106 Zuvor hat der Sprecher die Relativität aller Gesetze und Pflichten betont und ihnen einen ewigen oder naturgegebenen Charakter abgesprochen, nun kritisiert er speziell die von den Großen erlassenen und ihrer Herrschaftsstabilisierung dienenden Gesetze und stellt ihnen die wahren Pflichten gegenüber, die „so, wie unser Zustand, sind“. Welche Pflichten dies sind, ist nicht ganz deutlich.

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die den ewigen oder naturgegebenen Charakter der gegebenen Moral sowie die Überlegenheit der ‚Bürger‘ gegenüber den ‚Wilden‘ bestreiten, werden nicht zurückgenommen.

2.4 Unsterblichkeit und die Fortentwicklung im Jenseits Doch die skeptische oder pessimistische Sicht auf das menschliche Leben beherrscht Creuz’ Lehrgedichte keineswegs vollständig. Ihr steht in allen drei Lehrgedichten die zuversichtliche Hoffnung auf ein besseres Dasein im Jenseits gegenüber. Diese Kopplung von Klagen über die Widrigkeiten des Lebens mit der hoffnungsfrohen Aussicht auf das jenseitige Leben erscheint zunächst einmal als ein zutiefst traditionelles Strukturmuster, das etwa in der Barocklyrik vielfach variiert wird.107 Doch das Motiv der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode erhält in seinen Gedichten eine Wendung, die der christlichen Tradition weitgehend fremd ist, die aber eine Parallele in Youngs Night Thoughts hat: Die Existenz nach dem Tode wird als eine konzipiert, in der der Mensch sich noch weiter und zu Höherem entwickeln und große Taten vollbringen wird. Diese Vorstellung vom jenseitigen Leben wird etwa im ersten Gesang von Die Gräber evoziert, wo auch der Kontrast zwischen den Leiden im Diesseits und der Aussicht auf eine strahlende Zukunft nach dem Tode besonders deutlich, geradezu plakativ, gestaltet wird. In den ersten etwa 90 Versen des 177 Verse umfassenden Gesangs kreisen die Gedanken des Sprechers allein um den Tod, der als übermächtig, erschreckend, gleichgültig erscheint und im Sprecher Trauer und Schwermut hervorruft. Doch relativ genau in der Mitte des Gesangs ist ein Abschnitt von vier Versen platziert, der den Übergang vom Thema des Todes zu dem der Unsterblichkeit vollzieht: Hier seufzt die Nacht, und auf des Ostwinds kühnen Wegen Sieht sie dem grossen Tag, der sie erlöst, entgegen: Wie eine Braut von fern den Bräutigam erblikt, Und die Umarmung ihm im Wunsch entgegen schikt.

[94–97]

Die zweite Hälfte des Gesangs befasst sich mit der Auferstehung der Seelen im Jenseits und lässt sich wiederum in zwei deutlich voneinander unterschiedene

107 Vgl. zu diesem Traditionsbezug im Hinblick auf Die Gräber: Hartmann, Friederich Carl Casimir Freiherr von Creuz und seine Dichtungen, S. 64. So finden sich nach Hartmann in Creuz’ Gedicht Anklänge an Andreas Gryphius’ Kirchhofsgedanken (vgl. ebd., S. 64, Anm. 4).

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Hälften teilen.108 Zunächst denkt der Sprecher an den „ernste[n] Tag“ (118), an die „noch ungewohnte[n] Schreken“ (112), die „dieser Tag entdeken“ (113) wird. Doch die letzten knapp dreißig Verse des Gesangs schildern dann die Empfindungen von „Geister[n]“ (149), die sich im Jenseits nach anfänglicher Furcht „unverletzt und als Unsterbliche erbliken“ (158).109 Über diese „Geister“ (149) heißt es: Dann wird ihr prächtger Flug nach unsichtbaren Höhen, In einem Stolz, der nur Unsterblichen gebührt, Von Dir, o Ewigkeit! allein gerührt, Jenseits der Welten Schutt durch Deine Reiche gehen, Je mehr sie sich der Gottheit nahn: Je göttlicher wird ihr Enzüken; Mit immer höhern, mit immer fernern Bliken, Sehn sie die Eitelkeit, die sie verlassen, an; Und Höhen immer andern Höhen weichen, Und nähern sich durch die Unendlichkeit, Dem Meer der göttlichen Allwissenheit; Doch ohne Dich, o Gottheit! zu erreichen. So breitet stolz die königlichen Flügel Der Adler im Entschluß, der ihn zur Sonne führt, Gleich kühnen Segeln aus; von ihr allein gerührt, Sieht er, je mehr er steigt, die immer tiefern Hügel; Ein immer tiefres Thal; ein immer tiefres Meer; Ein immer höhres Sonnenheer.

[160–177]

Creuz hat, wie erwähnt, Haller als eines seiner dichterischen Vorbilder genannt. Wie groß aber der Abstand zwischen den philosophisch-theologischen Positionen der zwei Autoren ist, zeigt sich bei einem Vergleich dieser Passage mit den Gedichtschlüssen Hallers, in denen der Sprecher seinen Tod und das jenseitige Leben antizipiert. Im Gedicht Gedanken über Vernunft, Aberglauben

108 Dieser Gesang weist somit, wie auch einige andere aus Die Gräber, eine deutliche und übersichtliche inhaltliche Gliederung auf. Wenn Albertsen behauptet, Die Gräber bestünde aus „willkürlichen Gedankenströmen“, das Gedicht weise „die Form [. . .] einer großen Unordnung“ auf und die Ausgabe von 1760 sei „[ä]ußerst verworren“, so ist das massiv übertrieben (Albertsen, Das Lehrgedicht, S. 333). 109 Albertsens Aussage, dass im sechsten Gesang, der freilich „wenig durchgearbeitet“ sei, „die große Umwertung des Todes stattfindet“, trifft also nicht zu (Albertsen, Das Lehrgedicht, S. 335). Diese Umwertung wird bereits im ersten Gesang vollzogen, und zwar noch entschiedener als im sechsten.

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und Unglauben wendet sich der Sprecher im letzten Abschnitt an seinen Freund Stähelin und schließt mit dem in zwei Versen ausgedrückten Wunsch, im Tod mit diesem vereint zu werden.110 Das Unvollkommene Gedicht über die Ewigkeit mündet in die Verse: „Ich fühle meinen Geist in jeder Zeil ermatten | Und keinen Trieb, als nach der Ruh!“ Bei Creuz hingegen wird das jenseitige Dasein in etwa dreißig Versen ausgemalt, und was dieses Dasein kennzeichnet, ist gerade nicht ‚Ruhe‘, auch nicht allein die Wiedervereinigung mit geliebten Personen, sondern ein unablässig fortgesetzter Aufstieg, ein „prächtiger Flug“. Der Sprecher betont zwar, dass diese aufsteigenden Geister nie die Gottheit selbst erreichen werden, doch diese Aussage füllt nur einen Vers inmitten dieser längeren Passage, die insgesamt mehr die unaufhörliche Steigerung als die Grenzen dieses Aufstiegs betont. Dass das Bild vom ‚immer höheren‘ Flug der Geister nicht nur ein beliebiges Bild für die Seligkeit im Jenseits ist, sondern auf eine spezifische Konzeption des Jenseits verweist, lässt Creuz’ philosophische Schrift Versuch über die Seele vermuten, in der er sich ausführlich mit der Frage befasst, wie das Leben der Geister nach dem Tode beschaffen ist. Hinzu kommt, dass man bei Creuz – anders als bei Young – eine gut begründete Vermutung dazu formulieren kann, von welcher Philosophie seine Konzeption des Jenseits beeinflusst ist: Die Annahme, dass die Menschen sich nach dem Tode noch weiter entwickeln werden, wurde von Leibniz wie von Wolff vertreten111 und somit von Philosophen, denen Creuz an verschiedenen Stellen seinen Respekt bezeugt und von denen seine eigene Philosophie offensichtlich beeinflusst ist.112 Der leibnizianische Gedanke, dass die Seele nach dem Tod zu noch größerer Vollkommenheit aufsteigen werde, wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in einflussreichen Schriften entfaltet,

110 „Oh! daß der Himmel mir das Glück im Tode gönnte, | Daß meine Asche sich mit deiner mischen könnte!“ (V. 387 f.) 111 Vgl. etwa: Gottfried Wilhelm Leibniz, La monadologie, in: Ders., Monadologie und andere metaphysische Schriften. Französisch–Deutsch. Hrsg., übersetzt [. . .] von Ulrich Johannes Schneider. Hamburg 2002, S. 110–150, hier S. 142 (§ 73); ders., Principes de la nature et de la grâce, fondés en raison, in: ebd., S. 152–172, hier S. 172. 112 In dem Brief, den er seinem Versuch über die Seele voranstellte, erklärte Creuz, dass er „für die unsterblichen Verdienste der Freyherren von Leibniz und von Wolf die tieffste Ehrerbietung hege“ (Friederich Carl Casimir Freyherr von Creuz, Versuch über die Seele. Erster Theil. Frankfurt/Leipzig 1754, S. 25 f.). In einem späteren Text umriss er seine philosophische Position mit den Worten, er sei „kein Leibnizianer und kein Anti-Leibnizianer; kein Wolfianer und kein Anti-Wolfianer“, sondern stimme beiden Philosophen nur in den Punkten zu, die er selbst „gegründet finde“. Creuz, Oden und andere Gedichte, Bd. 1, S. 294. (Anhang einiger Briefe [. . .], Brief vom 14. November 1768).

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unter denen Spaldings Bestimmung des Menschen und Moses Mendelssohns Phaedon (1767) zu den wirkungsmächtigsten gehören.113 Die Darstellung des jenseitigen Aufsteigens der seligen Geister am Ende des ersten Gesangs von Die Gräber ist die ausführlichste Schilderung des jenseitigen Lebens, die sich in diesem Gedicht findet. Am Ende des sechsten und letzten Gesangs wird vor allem die resignative Haltung des dem Tode entgegensehenden Sprechers ausgestaltet, der sich von seinen Freunden verabschiedet. Dass der Tod der Übergang zu einem höheren Dasein ist, wird aber auch hier in den Schlussversen noch einmal betont. Auch am Ende des Versuchs vom Menschen, der eine besonders skeptische Sicht auf das diesseitige Leben entfaltet, wird die Aussicht auf das Jenseits beschworen, wo die Menschen als „Geister“ ihres „Daseyns Zwek“ finden. In einigen Schriften nimmt Creuz auch ausdrücklich das Unglück der Menschen im Diesseits als einen Beweis dafür, dass die Seele unsterblich sein müsse.114

2.5 Resümee Die Analyse der Creuz’schen Lehrgedichte hat zu zeigen versucht, dass die in den Gedichten entwickelte Menschen- und Weltsicht zwar vielfach skeptische und gelegentlich pessimistische Züge trägt, dass diese Züge aber keineswegs durchgehend den Charakter der Gedichte bestimmen. Kennzeichnend für sie ist vielmehr auch die vielfach und gelegentlich in enthusiastischem Ton ausgedrückte Annahme, dass nach dem Tod eine höhere Glückseligkeit und die Gelegenheit zu freierer Entfaltung auf den Menschen warten. Auch die zeitgenössischen Rezensionen haben, anders als die oben zitierte Untersuchung Totoks, nicht ausschließlich die düsteren oder pessimistischen Seiten der Gedichte als dominant hervorgehoben. Ein Rezensent urteilt zwar tatsächlich, Creuz verrate in allen

113 Vgl. Walter Sparn, „‚Aussichten in die Ewigkeit‘. Jenseitsvorstellungen in der neuzeitlichen protestantischen Theologie“, in: Lucian Hölscher (Hrsg.), Das Jenseits. Facetten eines religiösen Begriffs in der Neuzeit, Göttingen 2007, S. 12–39; Daniel Krochmalnik, „Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele in der Religionsphilosophie der Aufklärung“, in: Eveline Goodman-Thau (Hrsg.), Vom Jenseits. Jüdisches Denken in der europäischen Geistesgeschichte, Berlin 1997, S. 79–107. Knapp zur Verbreitung dieses Gedankens: Rehm, Der Todesgedanke, S. 269–272. 114 Vgl. Creuz, Oden und andere Gedichte, Bd. 1, S. 315 f. (Anhang einiger Briefe [. . .], Brief vom 12. Dezember 1768); Friederich Carl Casimir Freyherr von Creuz, Versuch über die Seele. Zweyter Theil. Frankfurt/Leipzig 1754, Vorbericht [unpag.].

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seinen Gedichten neben einer „sehr männliche[n] Ernsthaftigkeit“ auch „einen gewissen Hang zur Melancholie, der wohl mehr Temperament als Kunst ist“;115 derselbe Rezensent tadelt auch einige überspitzt oder missverständlich formulierte Gedichtpassagen, die es erforderlich machen, Creuz gegen „den Vorwurf einer misanthropischen Philosophie“ zu verteidigen.116 In einer anderen Rezension hingegen werden neben der Ernsthaftigkeit die Eigenschaften der Kühnheit, des Feierlichen und Enthusiastischen herausgestellt; hier heißt es über Die Gräber: Hier ist kein sich selbst widerholender Unsinn, sondern tiefsinnige Meditation, feyerlicher Enthusiasmus, geistreiche Grösse, Englische Kühnheit, edle Neuheit, nachdrückliche Stärke, Hallerische Kürze.117

Diesem Lob kann man die Würdigung an die Seite stellen, die Johann Friedrich von Cronegk im dritten Gesang seines Gedichts Einsamkeiten dem Autor der Gräber zuteil werden ließ. Hier apostrophiert Cronegks Sprecher den „edle[n] Creuz“ zusammen mit Young und Gellert als einen „Chor der heilgen stillen Seelen“, die sich um Klopstock scharen und mit ihm „vereint des Höchsten Lob erzählen“ und wie er „eine bessre Welt“ ehren.118

3 Christoph Martin Wieland: Von Die Natur der Dinge (1752) zu Musarion (1768) Im August 1764 teilte Christoph Martin Wieland aus Biberach Salomon Geßner mit, unter den „Sujets“, mit denen sich seine „scherzende Muse“ in der nächsten Zeit unterhalten solle, sei auch „Musarion, eine Art von comischem Lehrgedicht, im gout der Alma des Prior, welches die Bekehrung eines Platonikers und

115 [Anon.], „[Rez. zu:] Friedrich Carl Casimirs Freyherrn von Creutz, [. . .] Oden und andere Gedichte, auch kleine prosaische Aufsätze, neue vermehrte und geänderte Auflage. [. . .] 1769“, in: Neue deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste, Band 11, 1770/1771, Leipzig 1770, S. 96–120, hier S. 98. 116 Ebd., S. 116. 117 Thst., „[Rez. zu:] Friedrich Carl Casimirs Freyherrn von Creutz, [. . .] Oden und andere Gedichte, auch kleine prosaische Aufsätze, neue vermehrte und geänderte Auflage. [. . .] 1769“, S. 75. 118 Johann Friederich von Cronegk, Schriften. Erster Band, Leipzig 1771, S. 19.

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die Widerlegung des ganzen Phantastischen Systems dieses Weisen Mannes enthalten soll.“119 Genau zwei Jahre später schickte er Geßner den „ersten Gesang“ von Musarion und charakterisierte das Werk wie folgt: Es ist gewissermaßen eine neue Art von Gedichten, welche zwischen dem Lehrgedicht, der Komödie und der Erzählung das Mittel hält, oder von allen dreyen etwas hat.120

Musarion erschien schließlich im Jahr 1768121 und wurde von einigen Kritikern als eine gelungene Erneuerung des Lehrgedichts gefeiert. Damit stellt sich die Frage, wie sich Wielands als innovativ intendierter und vielfach als innovativ wahrgenommener Umgang mit der Gattung Lehrgedicht zu den anderen Abwandlungen des Lehrgedichts verhält, die etwa seit der Jahrhundertmitte in der englischen und deutschen Literatur zu beobachten sind. Nach Hans-Wolf Jäger zeigt sich in Musarion die Tendenz zur Anreicherung des Lehrgedichts mit narrativen und dramatischen Elementen, von der auch Lessings Nathan der Weise und Gleims Halladat zeugen.122 Doch wie in der folgenden Analyse deutlich werden soll, wirft die Einordnung von Musarion in die beschriebene breitere Entwicklungstendenz des Lehrgedichts erhebliche Probleme auf. Dies gilt bereits dann, wenn das Wesentliche dieser Entwicklungstendenz in der Mischung mit narrativen und dramatischen Elementen und in einer Subjektivierung gesehen wird. Die Verbindung von Strukturen des Lehrgedichts mit solchen der Verserzählung in Musarion, so ist zu zeigen, dient nicht allein und vermutlich auch nicht primär der Verlebendigung und Veranschaulichung des lehrhaften Gehalts. Noch größer erscheint der Abstand zwischen Musarion und der erwähnten Entwicklungsrichtung, wenn auch einige weitere Aspekte der von Young und Creuz repräsentierten Lehrgedichte berücksichtigt werden, nämlich der hohe Ton, das große Interesse an Jenseits und Unsterblichkeit sowie die enthusiastische Affirmation der Größe und Perfektibilität des Menschen. Der neuen Ausprägung des Lehrgedichts, die vor allem durch Youngs Night Thoughts vertreten wurde, steht aber ein anderes Werk Wielands deutlich näher als Musarion, nämlich das Lehrgedicht Die Natur der Dinge, das er mit

119 Christoph Martin Wieland an Salomon Geßner, Brief vom 29. August 1764, in: Wielands Briefwechsel, Hans Werner Seiffert (Hrsg.), Bd. 3, Berlin 1975, S. 296–299, hier S. 298. 120 Christoph Martin Wieland an Salomon Geßner, Brief vom 29. August 1766, in: Wielands Briefwechsel, Bd. 3, S. 406–409, hier S. 408. 121 Vgl. [Christoph Martin Wieland], Musarion, oder die Philosophie der Grazien. Ein Gedicht, in drey Büchern, Leipzig 1768. 122 Vgl. Jäger, „Lehrdichtung“, S. 531 f.

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gerade siebzehn Jahren verfasste und das 1752 veröffentlicht wurde.123 Mit Musarion distanzierte Wieland sich gut fünfzehn Jahre später auch von dieser jugendlichen Produktion, die unter seinen frühen Versuchen auf dem Feld der didaktischen Dichtung den ambitioniertesten darstellte. Im Folgenden soll daher zunächst dieses frühe Werk in den Blick genommen und auf seine Affinitäten zu der vor allem durch Youngs Night Thoughts repräsentierten Variante des Lehrgedichts hin untersucht werden. Die Analyse von Die Natur der Dinge soll zudem eine Folie schaffen, auf der die Eigenart des von Wieland mit Musarion betretenen Wegs besonders deutlich hervortritt. Zu einem Vergleich dieser zwei Gedichte forderte Wieland selbst auf, als er die Aufnahme von Die Natur der Dinge in die Sämmtlichen Werke damit rechtfertigte, es gehöre „gewisser Massen zur Geschichte unsrer Litteratur [. . .], zu sehen, von welchem Punkt er ausging, und welch einen Zwischenraum er zurückzulegen hatte, um 15 Jahre später nur zu Musarion zu gelangen.“124

3.1 Die Natur der Dinge Wielands Gedicht Die Natur der Dinge erschien anonym 1752; vorangestellt waren dem Gedicht eine lange Vorrede des ungenannten Verfassers und eine knappe Vorbemerkung Georg Friedrich Meiers. Wieland hatte Meier das Manuskript mit der Bitte zugeschickt, es zum Druck zu befördern, falls er es für

123 Vgl. [Christoph Martin Wieland], Die Natur der Dinge in sechs Büchern. Mit einer Vorrede Georg Friedrich Meiers, Halle 1752. – Im Folgenden wird der Text zitiert nach der folgenden Ausgabe: Christoph Martin Wieland, Die Natur der Dinge in sechs Büchern, in: Ders., Gesammelte Schriften. Deutsche Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1. Abteilung. 1. Bd. 1. Teil, Berlin 1909, S. 5–128. Zitate werden im Haupttext durch die Angabe des Buchs in römischen und der Verse in arabischen Ziffern nachgewiesen. 124 Christoph Martin Wieland, Die Natur der Dinge oder die vollkommenste Welt, in: Ders., Sämmtliche Werke. Supplemente. Erster Band, Leipzig 1798 (Reprint Hamburg 1984), S. 3–274, hier S. 10 („Vorbericht“). – Wieland bekennt in dieser Vorrede aber auch, dass er den Text seines Jugendwerks leicht überarbeitet habe, um „den Liebhabern wahrer Sprache und Dichtkunst“ die Lektüre „weniger unangenehm zu machen“ (ebd., S. 10 f.). Peter-Henning Haischer hat daher den Wiederabdruck von Die Natur der Dinge samt der Vorrede plausibel als einen Akt gedeutet, in dem sich beide Grundprinzipien des Wieland’schen Editionsprojekts, das Streben nach einer Selbsthistorisierung sowie das Bemühen um Klassizität, niederschlagen und in dem daher auch die Spannung zwischen beiden Richtlinien deutlich wird. Vgl. Peter-Henning Haischer, Historizität und Klassizität. Christoph Martin Wieland und die Werkausgabe im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2011, S. 368.

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publikationswürdig befinden sollte, und es andernfalls zu vernichten.125 Der Titel des Gedichts verweist auf das Vorbild des Lukrez; schon die Überschrift der ausgedehnten Vorrede Wielands deutet allerdings an, dass das Gedicht eine anti-lukrezische Philosophie bieten wird, denn in ihr ist die Rede von der „vollkommenste[n] Welt, von welcher dieses Lehrgedicht ein Entwurf ist“.126 Wielands Gedicht ist wie das lukrezische in sechs Bücher gegliedert und von dem Bestreben geprägt, ein ähnlich umfassendes Weltmodell zu präsentieren wie das lateinische Muster. Die ersten zwei Bücher handeln von Ursprung und Grundstrukturen der Welt, im dritten Buch entwickelt Wieland eine Theorie von der Beziehung zwischen Leib und Seele, das vierte Buch widmet sich der Stufenordnung der Lebewesen. Im fünften und sechsten Buch präsentiert Wieland Umrisse einer Ethik sowie eine Theorie über das Fortleben der Geister nach dem Tode. 3.1.1 Traditionsbezüge und Innovationen Im vorliegenden Zusammenhang interessiert vor allem die Frage nach dem Verhältnis, in dem Die Natur der Dinge zu Lehrgedichten der ersten Jahrhunderthälfte steht. Die einlässlichsten Überlegungen zu dieser Frage finden sich in der Interpretation Horst Thomés, der sich dabei auf die Arbeiten Siegrists und Jägers stützt.127 Von ihnen übernimmt er die Annahme, dass das Lehrgedicht der Aufklärung typischerweise vorgegebene, allgemein akzeptierte Wahrheiten präsentiere und dementsprechend die Wahrheit dieser Sätze auch nicht schlüssig nachzuweisen suche, sondern sich mit der Wahrscheinlichkeit begnüge und sich auf die wirkungsvolle Einkleidung der Lehren konzentriere. In dieser Hinsicht unterscheide sich Wielands Gedicht vom aufklärerischen Lehrgedicht, da es sehr ausgedehnte Beweise enthalte.128 Diese Differenz rühre daher, dass Wieland eben keine konsensuell akzeptierten Lehren verbreiten, sondern eigenständige Theorien vorstellen wolle. Diese Theorien stützen sich aber zu einem beträchtlichen Teil auf deduktive Spekulationen und metaphysische Prämissen, die im „empiristische[n] Zeitalter“ letztlich als eine Form der „Regression“ erscheinen müssen.129 So erkläre es sich, dass die Argumentationen immer

125 Zur Entstehung des Gedichts und zu seinem biographischen und werkgeschichtlichen Kontext vgl. Dieter Martin, „Frühwerk“, in: Heinz (Hrsg.), Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, S. 150–168, hier S. 152 f.; zu Die Natur der Dinge ebd., S. 152–156. 126 Wieland, Die Natur der Dinge in sechs Büchern, S. 5. 127 Vgl. Thomé, Roman und Naturwissenschaft; zu Die Natur der Dinge S. 74–116, zum Verhältnis des Werks zum Lehrgedicht der Aufklärung S. 82 f., 105–117. 128 Vgl. ebd., S. 108. 129 Ebd., S. 110.

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wieder durch Passagen im Duktus der „poetischen Vergegenwärtigung oder Verkündigung“130 unterbrochen werde; in der Auseinandersetzung mit dem Materialismus etwa unterbricht der Sprecher seine auf den Nachweis der Inkohärenz zielende kritische Erörterung, um „zur Widerlegung die Hilfe der Musen an[zurufen]“.131 Diesen zwei Redeformen korrespondieren „zwei konkurrierende Dichterrollen“132: Über weite Strecken repräsentiere der Sprecher die „menschliche, aus allgemein zugänglichen Voraussetzungen argumentierende Vernunft“, aber in den Invokationen der Musen nehme er „die antike Vatesrolle auf“ und „fingier[e] sich als Sprecher einer höheren Instanz, unter deren ‚didaktischer Inspiration‘ er steht“.133 Von dieser erhöhten Position aus, die durch das normalmenschliche Maß übersteigende Erkenntnisse ausgezeichnet ist, verurteilt der Sprecher dann die Freigeister, die in Sinnlichkeit und Leidenschaft befangen und daher zu wahren Einsichten unfähig seien. Mit der „Restitution der deduktiven Spekulation“, die große Teile des Gedichts bestimme, sowie mit der Verwendung der lukrezischen Großform fiel Wieland nach Thomé gewissermaßen hinter die von Haller bereits angelegte oder vollzogene ‚Lyrisierung‘ des Lehrgedichts zurück.134 Thomés Beobachtungen über die zwei unterschiedlichen Sprecherrollen und Redeweisen in Wielands Gedicht sind auch von späteren Untersuchungen nicht grundlegend in Frage gestellt worden. Anfechtbar sind allerdings zum einen die These, dass Verkündigungsgestus und Vatesrolle sich allein einer Begründungsnot verdanken und über argumentative Defizite hinweghelfen sollen, zum anderen die Bemerkungen zum gattungsgeschichtlichen Ort des Gedichts, die Thomé an diese Beobachtungen knüpft. Um bei dem zweiten Punkt zu beginnen: Die gattungsgeschichtliche Einordnung stützt sich auf eine problematische Prämisse, nämlich auf die von Siegrist übernommene Ansicht, dass das aufklärerische Lehrgedicht allgemein als wahr akzeptierte Lehren ausbreite und nur auf eine möglichst anschauliche Einkleidung derselben abziele. Diese These Siegrists trifft, wie die vorliegende Arbeit in Teil II zu zeigen versucht hat, gerade auf die prominenten und einflussreichen Lehrgedichte wie jene Popes, Hallers oder Hagedorns nicht zu. Die ausgedehnten Begründungen in Wielands Die Natur der Dinge konstituieren mithin keine grundsätzliche Differenz gegenüber den Lehrgedichten der Aufklärung. Kästner und Mylius etwa

130 Ebd., S. 108. 131 Ebd., S. 109. 132 Ebd. 133 Ebd., S. 109 f. 134 Vgl. ebd., S. 114 f. (Anm. 148). Für seine Charakterisierung der Lehrgedichte Hallers beruft er sich auf: Richter, Literatur und Naturwissenschaft.

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nehmen in ihren Lehrgedichten über die Kometen zu Fragen Stellung, über die zeitgenössisch kein Konsens bestand, und sie suchen die vertretenen Positionen argumentativ zu stützen und andere Positionen zu schwächen. Antilukrezische Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte wie Richard Blackmores Creation (1712) oder Kardinal Polignacs Anti-Lucretius (1747) entwickeln Begründungen und Widerlegungen, die ebenso ausführlich und elaboriert sind wie diejenigen Wielands. Im Hinblick auf die gattungsgeschichtliche Einordnung von Wielands Gedicht ist der Vergleich mit Blackmores Creation heuristisch fruchtbar, auch wenn Wieland dieses Werk zum Zeitpunkt der Abfassung von Die Natur der Dinge nicht gekannt haben dürfte. Blackmores Gedicht legt Skepsis gegenüber der Annahme Thomés nahe, es gebe eine ‚Korrespondenz‘ zwischen Wielands Verwendung der lukrezischen Großform des Lehrgedichts und seiner „Restitution der deduktiven Spekulation“.135 Auch Blackmore realisiert die lukrezische Großform und bemüht sich über weite Strecken um einen hohen oder erhabenen Stil. Im Proömium des ersten Buchs schwingt sich sein Sprecher bis hinauf über die Himmel und bittet um göttlichen Beistand auf seinem kühnen Flug.136 Dieses topische Bild wird von Blackmores Sprecherinstanz aber nicht mit einem Anspruch auf Inspiration oder übermenschliche Einsichten verknüpft, und in dem gesamten Gedicht finden sich denn auch keine Beispiele für ‚deduktive Spekulationen‘, wie sie Wielands Gedicht kennzeichnen. Blackmores Sprecher nimmt vielmehr konsequent empirische Daten als Ausgangspunkt, um mithilfe des physikotheologischen argument from design auf die Existenz eines unendlich mächtigen und gütigen Gottes zu schließen. Der Rekurs auf die epenähnliche Großform, auf Elemente des heroischen Epos und auf Invokationen einer göttlichen Instanz dient bei Blackmore nicht dazu, wissenschaftlich nicht mehr akzeptablen Lehren auf poetischem Wege zu Autorität zu verhelfen. Die Lehren des Gedichts sind durch die zeitgenössische Philosophie insgesamt gut abgesichert; der Gebrauch der genannten literarischen Verfahren entspringt dem Bestreben Blackmores, die Dichtung im genus sublime wiederzubeleben, einem Bestreben, das sich auch in seinen heroischen Epen manifestierte. Weder die ausgedehnten Argumentationen noch der Gebrauch der lukrezischen Großform und des hohen Stils trennen Wielands Die Natur der Dinge also in prinzipieller Weise von den Lehrgedichten der ersten Jahrhunderthälfte und ihren Zielen und Ansprüchen. Mit dem Rekurs auf die Rolle des poeta vates

135 Thomé, Roman und Naturwissenschaft, S. 115 (Anm. 148). 136 Vgl. Blackmore, Creation. 3. Aufl. 1715, S. 3 f. Vgl. zum Folgenden auch den Abschnitt zu Blackmores Gedicht in dieser Arbeit (Kap. II.1.1.3).

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sowie dem Gestus der Verkündigung hingegen entfernt sich Wieland tatsächlich von den charakteristischen Sprecherhaltungen und Redeweisen des aufklärerischen Lehrgedichts. Doch – um zum zweiten der oben genannten Kritikpunkte zu kommen – es ist fraglich, ob man diese Züge des Wieland’schen Gedichts allein als Notbehelfe verstehen muss, die Begründungsdefizite der vorgestellten metaphysischen Konstruktionen kaschieren sollen. Die Untersuchungen Uwe Blasigs und Joachim Jacobs haben plausibel gemacht, dass Wieland sich in Die Natur der Dinge auch am Vorbild Klopstocks orientierte.137 Vor allem Jacob hat diesen Kontext für die Interpretation fruchtbar gemacht und die These entwickelt, dass Die Natur der Dinge den Grundannahmen des literarischen Modells der ‚Heiligen Poesie‘ verpflichtet ist, denen zufolge die Dichtung über genuine Möglichkeiten zur Darstellung religiöser Wahrheiten verfügt.138 Wielands Gedicht suche diese eigentümlichen Möglichkeiten der Dichtung zu nutzen, um die „Harmonie“ von „Naturordnung und Heilsordnung“ aufzuzeigen,139 und stelle damit auch ein „Parallel-Unternehmen zum Messias“ dar.140 In dieser Deutung verweisen gerade die metaphysischen und spekulativen Partien in

137 Vgl. Uwe Blasig, Die religiöse Entwicklung des frühen Christoph Martin Wieland, Frankfurt a.M. [u. a.] 1990, S. 128–140 (zu Die Natur der Dinge), 141–145 (zu Wielands KlopstockRezeption in derselben Zeit); Jacob, Heilige Poesie, S. 172–216. 138 Vgl. Jacob, Heilige Poesie; zur allgemeinen Charakterisierung dieses ‚literarischen Modells‘ oder ‚Projekts‘ ebd., S. 2–4. 139 Jacob, Heilige Poesie, S. 177. Kemper dagegen vertritt in seiner Interpretation von Die Natur der Dinge die These, dass in Wielands Gedicht die „spezifisch christlichen Inhalte [. . .] konsequent eliminiert“ werden; vgl. Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 6/I: Empfindsamkeit, zu Die Natur der Dinge S. 398–409, das Zitat auf S. 401. Wieland habe einen „hermetische[n] Traditionsstrom“ aufgegriffen (ebd., S. 403), „mit modernen philosophischen und naturwissenschaftlichen Einsichten zusammenzubringen und damit als vernünftiges hermetisches System zu beglaubigen“ versucht (ebd., S. 404). 140 Jacob, Heilige Poesie, S. 179. – Jacob zufolge führt Die Natur der Dinge aber zugleich Bestrebungen der Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte, konkret derjenigen Hagedorns, fort: „Die durch das Lehrgedicht vermittelte Einsicht in die weise Schöpfung werde, so Wielands optimistische Überzeugung, auch dessen Leser zur heiligen Weisheit erziehen. In der Nachfolge der moralischen Lehrdichtung Friedrich von Hagedorns, für die in eben diesem Sinn ‚des Weisen Herz ein wahres Heiligthum / Des höchsten Guten Bild, der Sitz von seinem Ruhm‘ war, ist auch Die Natur der Dinge solcher Bildung zur Heiligkeit verpflichtet.“ (Ebd.) Doch trotz der hier zitierten Verse aus Hagedorns Die Glückseligkeit, in denen vom Herz des Weisen als einem „Heiligthum“ die Rede ist, erscheint es fraglich, ob Wielands Die Natur der Dinge in der „Nachfolge der moralischen Lehrdichtung“ Hagedorns steht und ob – wie es von Jacob nahegelegt wird – eine solche Nachfolge mit der Orientierung an Klopstock und am Modell der ‚Heiligen Poesie‘ vereinbar ist. Zwar lassen sich vermutlich einige Berührungspunkte speziell zwischen den Lehrgedichten Hagedorns und Die Natur der Dinge ausmachen, doch sie fallen wenig ins Gewicht gegenüber den Differenzen, die Wielands Gedicht von den

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Wielands Gedicht sowie die veraltet anmutenden Musenanrufen auf seine Teilhabe an einer um 1750 hochaktuellen literarischen Entwicklung. Im Anschluss an Jacobs Vorschlag zur Kontextualisierung von Die Natur der Dinge soll im Folgenden gezeigt werden, dass Wielands Gedicht auch signifikante Parallelen zu jenem Strang neuartiger und gewissermaßen Klopstockaffiner Lehrgedichte aufweist, der unter anderem durch Youngs Night Thoughts und die philosophischen Gedichte Creuz’ repräsentiert wird. 3.1.2 Hoheit des Menschen, Fortschritt und Jenseits Wielands Die Natur der Dinge weist gegenüber den Lehrgedichten Hallers und Hagedorns eine ähnliche Differenz auf wie Youngs Night Thoughts gegenüber Popes Essay on Man: Das Lehrgedicht des jungen Wieland enthält emphatische Affirmationen der Größe des Menschen, die bei Haller und Hagedorn kein Pendant haben und teils sogar im direkten Widerspruch zur Argumentation in Popes Essay on Man stehen. Mit Blick auf das Verhältnis zu Haller ist zunächst der von Jacob hervorgehobene Umstand aufschlussreich, dass in Die Natur der Dinge gerade jene Fragen ausführlich diskutiert und auch beantwortet werden, die der Sprecher in Hallers Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben als die menschlichen Erkenntnisvermögen überfordernd aus dem Bereich sinnvoller Fragen ausgeschlossen hatte.141 Der Einspruch gegen Hallers erkenntnistheoretische Position wird gleich im ersten Buch von Die Natur der Dinge nahezu explizit formuliert. Zwar fällt nicht der Name Hallers, aber Wieland dürfte auf seine bekannten Verse über das ‚Innere der Natur‘ anspielen,142 gegen die später noch Goethe eine Invektive richten wird. In einer narrativen Einlage, die das Höhlengleichnis des Aristoteles variiert,143 heißt es über den Menschen, der nach einem langen Aufenthalt in unterirdischen Gewölben erstmals die Oberfläche der Erde und das Sonnenlicht erblickt: Ins Innre der Natur weis er noch nicht zu dringen, Und kennt die Fläche kaum von körperlichen Dingen; Drum geht der junge Geist, zu schwach zu hellerm Blick, Noch nicht auf dich, o Herr, der Wesen Grund, zurück.

Lehrgedichten Hagedorns wie auch von jenen Hallers und anderen prominenten Ausprägungen des aufklärerischen Lehrgedichts – nicht zuletzt von Popes An Essay on Man – trennen. 141 Vgl. Jacob, Heilige Poesie, S. 182. 142 Vgl. Haller, Falschheit menschlicher Tugenden, in: Versuch Schweizerischer Gedichte, 4. Aufl. 1748, S. 74–89, hier S. 87: „Ins innre der Natur dringt kein erschafner Geist, | Zu glücklich, wenn sie noch die äußre Schale weis’t; [. . .].“ 143 Vgl. Wieland, Die Natur der Dinge, S. 4–7. Zu den antiken Quellen vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, S. 15.

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Doch die Betrachtung mehrt sein unvollkommnes Wissen, Und leitet den Verstand gemach zu tiefern Schlüssen; Der nie gestillte Trieb nach neuer Wissenschaft Beflügelt seinen Muth und schärft die Denkungskraft. Er lernt die Kette sehn, die alle Dinge bindet; Wie die bewegte Luft den schnellen Blitz entzündet; Warum der Körper sich zur niedern Erde senkt; Warum aus Junons Brust die matte Saat sich tränkt; Die Bilder, welche stets aus allen Körpern fließen, Und sich mit sanftem Druck in unsre Augen gießen; Der Saamen innre Kraft, die aus sich selbst gebiert, Und die belebte Frucht im Kleinen bey sich führt; Den wunderbaren Bau harmonischer Maschinen, Die Wesen höh’rer Art zu langer Wohnung dienen; Den ungemeßnen Raum, wo, in ätherschem Fluß, Sich ein umstraltes Heer von Welten drehen muß; [. . .].

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[I, 129–148]

Die Passage entwickelt eine physikotheologische Argumentation, die schließlich in die Einsicht mündet, dass die Welt von Gott geschaffen sein muss. Solche physikotheologischen Gedankengänge finden sich auch in Hallers Lehrgedichten, und einige der konkreten Einzelerkenntnisse, die hier dem an Wissen zunehmendem „junge[n] Geist“ zugeschrieben werden, befanden sich Haller zufolge jedenfalls im Bereich des dem Menschen Zugänglichen; eine präformationistische Theorie, wie sie zwei Verse der Passage umreißen, wurde von ihm zumindest zeitweise verfochten.144 Doch einige der Erkenntnisse, die hier für den fiktiven Menschen reklamiert werden, überstiegen in Hallers Sicht entschieden die menschlichen Möglichkeiten, so insbesondere die Einsicht in die Ursachen der Gravitation („Warum der Körper sich zur niedern Erde senkt“).145 Die Abgrenzung von Hallers Erkenntnistheorie, die in dem Vers über das „Innre der Natur“ angedeutet wird, wird somit im Folgenden auch inhaltlich konkretisiert.146

144 Zur Entwicklung von Hallers embryologischen Positionen vgl. Maria Teresa Monti, „Embryologie“, in: Steinke/Boschung/Proß (Hrsg.), Albrecht von Haller, S. 255–273; Shirley A. Roe, Matter, Life, and Generation. Eighteenth-century embryology and the Haller-Wolff debate, Cambridge 1981, S. 21–44. 145 In der überarbeiteten Fassung von Die Natur der Dinge, die Wieland 1795 in seine Sämmtliche Werke aufnahm, änderte er diesen Vers zu „Wie sich der Körper stets zur niedern Erde senkt“. In dieser revidierten Form ist der Vers durch eine Anapher mit dem vorangehenden und folgenden verknüpft und bezeichnet eine bescheidenere Erkenntnis; beides könnte die Änderung motiviert haben. 146 Teile der zitierten Passage werden auch knapp kommentiert bei: Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, S. 15. Hacker zitiert die Passage allerdings ohne den Vers über das „Innre der Natur“ und weist nicht auf diese (wahrscheinliche) Haller-Allusion

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Die Annahmen über die menschlichen Erkenntnisfähigkeiten, aus denen sich die beschriebene Differenz zu Haller ergibt, beruhen auf allgemeineren, letztlich metaphysischen Auffassungen, die bei Wieland explizit ausformuliert werden. Geistigen Wesen ist ein Streben nach Vervollkommnung eigen, das sich unter anderem in einer Steigerung der Erkenntnisfähigkeiten äußert (vgl. V, 331–348).147 Der Unterschied zwischen Wielands und Hallers Konzeptionen des Menschen lässt sich auch an ihren Verwendungen vom Bild der chain of being festmachen: Bei Wieland können und sollen die Wesen auf dieser Stufenleiter aufsteigen (vgl. II, 601–610); bei Haller hingegen ist – wie im Übrigen auch bei Pope – von seinem solchen Aufstieg nicht die Rede. Dafür findet sich in Hallers Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben aber an prominenter Stelle das Bild eines anderen vertikalen Aufstiegs, nämlich das des Ikarusflugs: „Was hilft es Himmel an mit schwachen Schwingen fliegen, | Der Sonne Nachbar seyn, und dann im Meere liegen?“148 Diese Allusion auf den Ikarusmythos ist bezeichnend für die Kritik an Vernunftstolz und Selbstüberhebung des Menschen, die eine gedankliche Achse von Hallers Gedicht bildet. Doch die Erhöhung, die der Mensch in Wielands Die Natur der Dinge gegenüber bedeutenden Lehrgedichten der ersten Jahrhunderthälfte erfährt, zeigt sich nicht nur in der Einschätzung seiner Erkenntnisfähigkeiten. Besonders explizit wird die Frage nach dem Rang des Menschen im vierten Buch von Die Natur der Dinge erörtert, wo der Mensch ausdrücklich eine Vorzugsstellung innerhalb der Natur zugesprochen bekommt. Er solle zwar den Abstand, der ihn von den Tieren trennt, nicht überschätzen und insbesondere nicht meinen, dass Wissenschaft und Kunst ihn über die Tiere erheben (vgl. IV, 300–396). Dennoch dürfe und solle er im Bewusstsein leben, der „Liebling der Natur“ zu sein (vgl. IV, 397–446,

hin. Stattdessen vergleicht sie die Passage knapp mit der physikotheologischen Dichtung von Brockes und vertritt die These, dass bei Brockes der Übergang von empirischen Beobachtungen zu metaphysischen Folgerungen mit einem Sprung erfolge und sich auf einen ‚naiven Sensualismus‘ stütze, während dieser Übergang in Die Natur der Dinge „argumentativ gebrochen“ sei, nämlich von Reflexionen und Kommentaren begleitet werde (ebd.). Doch die Rede von einem ‚Sprung‘ und von einem ‚naiven Sensualismus‘ bei Brockes ist problematisch, und was mit „argumentativ gebrochen“ gemeint ist, bleibt unklar. Zu betonen ist aber, dass die Erkenntnisansprüche des Sprechers in Die Natur der Dinge gewiss nicht zurückhaltender sind als die der Gedichtsprecher bei Haller oder auch bei Brockes. 147 Vgl. hierzu auch Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, S. 59, 65. 148 Haller, „Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben“, in: Ders., Versuch, 4. Aufl. 1748, S. 53–70, hier S. 69 (Verse 367 f.). Auch die Titelvignette des Gedichts (vgl. ebd., S. 53) zeigt den abstürzenden Ikarus.

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Zitat 443).149 Diese Auffassung vom Menschen und seiner Hoheit unterscheidet sich, wie schon angedeutet, nicht nur vom Menschenbild der Lehrgedichte Hallers, sondern auch von dem in Popes Essay on Man entworfenen. Gerade die anthropozentrische Auffassung, der zufolge der Mensch das Lieblingskind der Natur sei, wird im Essay on Man moralisch als ein Ausdruck von Hochmut verurteilt, durch die Konfrontation mit der Empirie in Zweifel gezogen und schließlich lächerlich gemacht.150 Die Differenz zwischen den Menschenbildern von Wielands Die Natur der Dinge und Popes Essay on Man lässt sich auch anhand ihrer Verwendungen des Bildes der ‚chain of love‘ aufzeigen. Der Unterschied ist im Wesentlichen wiederum der, der sich hinsichtlich der ‚chain of being‘ gezeigt hat: Bei Wieland ist die Liebe nicht allein ein Band, das die Tiere, Menschen und höheren Wesen verknüpft, sondern auch ein Antrieb und Mittel des Aufstiegs innerhalb der Kette (vgl. II, 339–348; II, 489–500).151 In Popes Aneignung des traditionellen Bildes ist ein solcher Aufstieg nicht vorgesehen.152 In Die Natur der Dinge wird die Größe des Menschen als etwas aufgefasst, was er erst allmählich im Zuge einer fortschreitenden Entwicklung realisiert.

149 Vgl. zu diesem Passus auch Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, S. 37 f. Hacker meint, dass Wieland hier zunächst „die Verwandtschaft von Mensch und Tier beschwört und sich damit in eine Tradition einreiht, die von den Epikuräern bis zu LaMettrie reicht“ (ebd., S. 37). „Doch offensichtlich erkennt Wieland bald die Materialismusaffinität dieser These; der Gedankengang wird abrupt abgebrochen und der Mensch in seine göttlichen Schranken verwiesen“ (ebd.). Dass die Struktur des Gedankengangs damit zu erklären sei, dass Wieland nach den Versen über die Verwandtschaft von Mensch und Tier plötzlich „die Materialismusaffinität dieser These“ bewusst geworden sei, scheint mir eine Spekulation zu sein. Wenn Hacker dann meint, dass hier, „gerade in der Umgehung des Problems, Einbruchstellen sichtbar [werden], in die später die anthropologische Psychologie eindringen wird“ (ebd., S. 38), so kommt das einer teleologischen Konstruktion nahe. 150 Für die Kritik der anthropozentrischen Haltung als Ausdruck von „Pride“ vgl. Pope, An Essay on Man, I, 131–140 (Zitat I, 132); für die Konfrontation mit der Empirie (Erdbeben usw.) ebd., I, 141–144. Lächerlich gemacht wird die Haltung ebd., III, 43–48: Auch eine Mastgans wäre davon überzeugt, dass die ganze Natur ihr freundlich entgegenkommt. Der Vorzug, den der Mensch im Essay on Man gegenüber den Tieren zugesprochen bekommt, ist anderer Art: Er beruht darauf, dass der Mensch von der Natur die Fähigkeit und die Motivationen verliehen bekommen hat, andere Lebewesen zu verschonen und zu versorgen (vgl. ebd., III, 49–62). 151 Vgl. dazu auch Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, S. 65, 69. 152 Dabei wird auch im Essay on Man mehrfach betont, dass die Liebe einer Ausweitung fähig sei; die ausführlichste und emphatischste Schilderung einer solchen Ausweitung steht sogar an besonders exponierter Stelle, am Ende der vierten Epistel. Doch es handelt sich hier um eine Ausweitung auf horizontaler Ebene, die bezeichnenderweise mit dem Bild konzentrischer Kreise illustriert wird, nicht um einen vertikalen Aufstieg: Beschrieben wird, wie die Liebe eines Menschen, die unvermeidlich aus der Selbstliebe entspringen muss, nach und nach die eigene Familie, Freunde, dann auch Feinde und schließlich die Menschheit umfassen kann.

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Diese Entwicklung wird durch den Tod nicht abgeschnitten, sondern dem Ziel näher gebracht153: Wenn sie ihre leiblichen „Schalen“ abgelegt haben werden, so verheißt der Sprecher seinen „Brüder[n]“, dann werden sie einen neuen Leib erhalten, der ihrer „Größe werth“ sei, und dann „öffnet die Natur sich gern den schärfern Blicken, | Und zeigt euch Bau und Fug von ihren Meisterstücken.“ (V, 541–550) Folglich sieht der Sprecher dem Tod erwartungsfroh entgegen: O Tod! du süßer Tod! dich scheuet nur ein Thor! Du hebest das Geschöpf zu seinem Ziel empor, Du trägst der Gottheit uns und unserm Glück entgegen; Wie froh will ich mich einst in deine Arme legen!

[V, 551–554]

In Wielands Die Natur der Dinge wird somit die – zumindest potentielle – Hoheit und die Perfektibilität des Menschen in ähnlich emphatischer Weise behauptet und gefeiert wie in Youngs Night Thoughts. Als er sein Lehrgedicht schrieb, kannte Wieland die Night Thoughts noch nicht, doch es ist gleichwohl signifikant, dass er nur kurze Zeit später in den 1755 veröffentlichten Betrachtungen über den Menschen erneut die Gottebenbildlichkeit des Menschen bekräftigte und sich dabei zustimmend auf einen Vers aus Youngs Gedicht berief: „Der Mensch allein denkt klein vom Menschen, sagt Young.“154 Ferner ist die These vertreten worden, dass der Aufstieg zu Gott in Wielands Lehrgedicht auf eine Weise konzipiert werde, die Ähnlichkeiten zu Grundgedanken aus Spaldings Die Bestimmung des Menschen aufweist,155 einem Werk, das Wieland zum Zeitpunkt der Abfassung des Gedichts bereits kannte.156 Die Annahme, dass die Steigerung der menschlichen Fähigkeiten und Leistungen sich nach dem Tode noch fortsetzt, dürfte der frühe Wieland bei Leibniz und Wolff gefunden haben; Spaldings

153 Vgl. hierzu auch Blasig, Die religiöse Entwicklung, S. 136 f. 154 Christoph Martin Wieland, Betrachtungen über den Menschen, in: Ders., Gesammelte Schriften, 1. Abteilung, 2. Band, 2. Teil, Berlin 1909, S. 277–298, Zitat S. 281. – Vgl. Young, Night Thoughts, Stephen Cornford (Hrsg.), IV, 485: „To none Man seems ignoble, but to Man; [. . .]“. In der Übersetzung Johann Arnold Eberts: „Keinem scheint der Mensch unedel, als dem Menschen; Engel bewundern die Hoheit, welche von Menschen übersehen wird.“ D. Eduard Youngs Klagen, oder Nachtgedanken über Leben, Tod, und Unsterblichkeit. Erstes Stück. Dritte und verbesserte Aufl. Braunschweig/Hildesheim 1756, S. 118. 155 Vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, S. 59. 156 Zu Wielands Kenntnis der Schrift Spaldings vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, S. 40, sowie vor allem Laura Anna Macor, Die Bestimmung des Menschen (1748–1800). Eine Begriffsgeschichte, Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 146–152. Macor verweist hier unter anderem auf Wielands im Sommer 1752 entstandenes „Gedicht Schreiben an Herrn*** von der Würde und Bestimmung eines schönen Geistes [. . .], dessen Thema und Sprache offenkundig die Lektüre Spaldings bezeugen.“ (Ebd., S. 146)

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Schrift könnte diese Vorstellung für ihn zusätzlich wichtig gemacht haben. In jedem Fall stiften diese Annahme und die damit verbundene Zukunftsorientierung eine weitere Ähnlichkeit zwischen Die Natur der Dinge einerseits, Youngs Night Thoughts und den späteren Lehrgedichten Creuz’ andererseits.

3.2 Musarion 3.2.1 Die Mischung von Erzählung und Lehrgedicht Zwischen 1752 und 1768, den Publikationsjahren von Die Natur der Dinge beziehungsweise Musarion, vollzog sich in Wielands intellektueller und dichterischer Entwicklung jene Umorientierung, die als ‚empiristische Wendung‘ oder ‚anthropologische Wendung‘ beschrieben worden ist.157 Als besonders repräsentatives Produkt dieser Wendung gilt die 1766 erschienene Geschichte des Agathon. Doch Wieland artikulierte seine neu gewonnenen Positionen nicht allein in diesem Roman, sondern auch in Musarion, einem Text, der in generischer Hinsicht ein Grenzphänomen darstellt und von Wieland auch als solches konzipiert war: In dem oben bereits zitierten Brief bestimmt er Musarion als ein Werk, das ‚in der Mitte zwischen Lehrgedicht, Komödie und Verserzählung liegt oder von allen etwas hat‘.158 Es gilt zunächst zu klären, inwiefern das Werk Elemente des Lehrgedichts aufweist und wie es dieselben mit Merkmalen der anderen genannten Gattungen verbindet. Im Anschluss daran wird zu fragen sein, welche Funktion diese Gattungsmischung erfüllt, welche Zwecke Wieland also mit dieser Kombination verschiedener generischer Muster verfolgte.159 Eigenschaften des Lehrgedichts besitzt Musarion vor allem aufgrund der diversen längeren Passagen, in denen die Erzählinstanz oder eine der Figuren in begrifflicher und mehr oder weniger diskursiver Form Konzeptionen des moralisch richtigen Lebens entwirft.160 Solche Passagen finden sich schon im ersten

157 Von einer „empiristische[n] Wendung“ Wielands spricht Thomé, Roman und Naturwissenschaft, S. 117. 158 Vgl. Christoph Martin Wieland an Salomon Geßner, Brief vom 29. August 1766, in: Wielands Briefwechsel, Bd. 3, S. 406–409, hier S. 408. 159 Da in den einschlägigen Wieland-Ausgaben spätere Fassungen abgedruckt sind, hier aber die Fassung von 1768 zugrunde gelegt werden soll, wird im Folgenden nach der Erstausgabe zitiert: [Christoph Martin Wieland], Musarion, oder die Philosophie der Grazien. Ein Gedicht, in drey Büchern, Leipzig 1768. Zitate werden im Haupttext mit Angabe des Buchs in römischen Ziffern sowie der Seitenzahl nachgewiesen. 160 Vgl. ähnlich, wenn auch etwas allgemein formuliert: Michael Hofmann, Reine Seelen und komische Ritter. Aspekte literarischer Aufklärung in Christoph Martin Wielands Versepik, Stuttgart 1998, S. 142: Wieland bemühe „die Tradition des Lehrgedichts“, indem er „im Gewand

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Buch des Gedichts, als Musarion und Phanias in ihrem Dialog verschiedene Entwürfe eines weisen Lebens skizzieren. Die lange Rede etwa, in der Musarion Phanias, der den Verlust seines Vermögens beklagt, über die Unabhängigkeit des wahren Glücks von äußeren Gütern belehrt und ihm die unerschütterliche Heiterkeit des Weisen als Ideal vor Augen stellt, diese Rede liest sich fast wie ein Kondensat aus Hagedorns Lehrgedichten über Weisheit, Glückseligkeit und Freundschaft.161 Im zweiten Buch erhalten sowohl Theophron als auch Cleanth Gelegenheit, die Grundgedanken ihrer philosophischen Lehren vorzutragen.162 Im dritten Buch schließlich erläutert Musarion Phanias, welche Schlussfolgerungen er aus den Erfahrungen dieses Abends ziehen sollte und welche nicht, bevor am Ende der Erzähler das glückliche Leben schildert, das Phanias in der Folge mit Musarion führt, und dabei auch die Maximen ausformuliert, von denen dieses Leben geleitet ist und denen es seine Glückseligkeit verdankt. Die anderen zwei Gattungen, auf die Musarion laut Wieland rekurriert, sind die Verserzählung und die Komödie. Wie die Elemente des Lehrgedichts mit solchen der Erzählung verbunden wird, geht aus dem eben Gesagten bereits hervor: Es sind die Figuren sowie die Erzählinstanz einer Erzählung, die in dem Gedicht ‚Lehren‘ im Sinne allgemeiner philosophischer Konzeptionen vortragen. Dass Musarion auch an der Komödie partizipiere, ließe sich zum einen mit dem ausgeprägten szenischen, von wörtlicher Rede geprägten Modus vieler Partien begründen, zum anderen mit Elementen des Plots: Dass Phanias von Musarion (unter anderem) mithilfe einer List von seinem Irrweg wieder zurück

antiker Meinungen und Mentalitäten bedeutende Positionen der zeitgenössischen Diskussion herbeizitiert“. Auch nach Herbert Rowland besteht der Anteil des Lehrgedichts an Musarion in der philosophischen Thematik, die sich in den von Musarion, Theophron und Cleanth vorgetragenen Lehren manifestiere, sowie ferner in der didaktischen Absicht des Werks insgesamt. Vgl. Herbert Rowland, „Musarion“ and Wieland’s Concept of Genre, Göppingen 1975, S. 34–41, 99. Eine didaktische Absicht ist aber auch für die Komödie der Aufklärungsepoche kennzeichnend; daher verweist dieser Zug von Musarion allein noch nicht speziell auf die Gattung Lehrgedicht. 161 Vgl. I, S. 37–40. In dieser langen Äußerung Musarions heißt es etwa: „Was Thoren uns mißgönnen, | Beweist nicht stets, wie sehr man glücklich sey. | Das wahre Glück, das Eigenthum des Weisen, | Steht fest, indeß Fortunens Kugel rollt. | Dem Reichen muß die Pracht, die ihm der Indus zollt, | Erst, daß er glücklich sey, beweisen; | Der Weise fühlt, er ist’s. Ihm schmecken schlechte Speise, | Aus weißem Thon so gut, als aus getriebnem Gold, [. . .].“ (Ebd., S. 38) „Kein Schmeichlerheer belagert seine Thür, | Kein Hof umschimmert ihn – Er freue sich! dafür | Besitzt er was, das jedem Midas fehlet, | Was der Monarch mit Gold zu kaufen fälschlich meynt, | Was, wer es kennt, vor einer Krone wählet, | Das höchste Gut des Lebens – einen Freund.“ (Ebd., S. 39 f.) 162 Vgl. I, S. 71–73 (Cleanth), 73–76 (Theophron).

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auf den rechten Lebenspfad geführt wird, entspricht in etwa einem traditionellen Handlungsschema der Komödie. Damit stellt sich die Frage, was diese Kombination verschiedener Gattungsmuster in Musarion leistet. Da die komödienhaften Elemente sich im Wesentlichen aus besonderen Ausprägungen der narrativen Anteile ergeben, kann die Frage weitgehend auf die nach dem Verhältnis von Erzählung und Lehrgedicht und nach der Funktion ihrer Verknüpfung eingeengt werden. Johann Jakob Hottinger, der Musarion als ein „moralische[s] Lehrgedicht“ einordnete und das Gedicht als ein „Meisterstück[]“ feierte,163 sah die Leistung der Erzählung in einer Steigerung von Anschaulichkeit und Eindringlichkeit der Belehrung.164 Der lehrhafte Inhalt bestehe in jener Auffassung vom rechten Leben, die Phanias und Musarion am Ende verwirklichen, und diese Lehre werde dem Leser durch die narrative Darbietung von Phanias’ Entwicklung besonders wirkungsvoll nahegebracht. Generell gelte: [. . .] [W]er weiß es nicht, wie viel wirksamer und überzeugender die Wahrheit in Thaten als in Lehren spricht, und wie viel lebhafter das Lächerliche und Ungereimte in Personen als in Systemen auffällt?165

Hottinger wendet diesen Gedanken zunächst auf Wielands Werk an, indem er den lebhaften Kontrast zwischen den lächerlicher Philosophen Cleanth und Theophron einerseits, Musarion andererseits herausstellt. Aber auch die Figur des Phanias erfülle eine wichtige ‚wirkungsästhetische‘ Funktion, denn Phanias sei es „vornehmlich, in dessen Seele der Leser sich hineindenkt, um von da aus alles, was gesagt und gethan wird, zu beobachten, und zu empfinden.“166 Der Leser identifiziere sich mit dem Protagonisten und durchlaufe im Zuge der Handlung dieselbe Abfolge von Gemütszuständen wie er.167 Hottinger deutet somit gewissermaßen den gesamten Text als eine Exempelerzählung, und die Ausdehnung der Narration sowie die Einführung einer Identifikationsinstanz ermöglichen ihm zufolge eine intensivere emotionale Wirkung und damit zugleich eine eindringlichere Belehrung. In ähnlicher Weise wurde die Kombination verschiedener Gattungen in Musarion auch in der neueren Forschung gedeutet. Hans-Wolf Jäger, der Wielands

163 J[ohann] J[akob] Hottinger, Versuch einer Vergleichung der deutschen Dichter mit den Griechen und Römern, Mannheim 1789, S. 268. 164 Vgl. ebd., S. 269–276. 165 Ebd., S. 269. 166 Ebd., S. 275. 167 Vgl. ebd., S. 275 f.

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Gedicht zu den innovativen Weiterentwicklungen des Lehrgedichts in der zweiten Jahrhunderthälfte rechnet, beschreibt die Verknüpfung von narrativdramatischen Strukturen und Belehrung wie folgt: Die Lehre des Gedichts liegt im Handlungsverlauf und in der Selbstdarstellung der Personen. [. . .] Aber Musarion lehrt auch selbst [. . .]. ‚Kein Übermaß, mein Freund, ich bitte sehr!‘ – das ist ihrer Weisheit Grundformel.168

Die besondere Leistung dieser Mischung aus Lehrgedicht und Erzählung scheint auch für Jäger wesentlich in einer gesteigerten Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit zu bestehen. Doch es ist fraglich, ob diese Deutungen die Funktionen der Gattungsmischung und insbesondere der narrativen Grundstruktur in Musarion zureichend erfassen. Sie lassen bestimmte Aspekte der Integration philosophischer Ausführungen in die Erzählhandlung außer Acht, und sie differenzieren zu wenig zwischen verschiedenen Lehren, die von Musarion oder vom Erzähler formuliert werden und die als Lehren des Gedichts insgesamt angesehen werden können. Um bei dem letztgenannten Punkt anzusetzen: Hottinger scheint wie viele spätere Interpreten anzunehmen, dass die zentrale Lehre von Musarion in der Lebenslehre der Titelheldin besteht, also in einer Moral, deren Grundpfeiler das Ideal des Maßes und die Werte von Schönheit und Heiterkeit sind.169 Geht man von dieser Prämisse aus, so kann man den Figuren des Gedichts und den Partien der Handlung ohne große Schwierigkeiten Funktionen zuordnen, und zwar wesentlich illustrierende oder exemplifizierende Funktionen: Die Anmut und Gelassenheit, die Musarions Auftreten in allen Teilen prägen, zeugen von dem Wert der Grundsätze, nach denen sie lebt. Der unglückliche und leicht verwahrloste Zustand, in dem sich Phanias zu Beginn der Handlung befindet, verdeutlicht ebenso wie das unbeherrschte und dabei zwischen Extremen schwankende Verhalten Cleanths und Theophrons, dass ihre philosophischen Systeme sich nicht im Einklang mit der Natur befinden und weder dem Einzelnen zur Glückseligkeit noch der Gesellschaft zum friedlichen Miteinander verhelfen können. In dieser Perspektive haben die Figuren der Erzählung in etwa dieselben Funktionen wie die moralischen Charaktere und die als positive Exempel angeführten Porträts weiser und glücklicher Menschen, die sich in zahlreichen Lehrgedichten der Aufklärung finden, und die vom traditionellen Lehrgedicht abweichende Textstruktur von Musarion

168 Jäger, „Lehrdichtung“, S. 532. 169 So etwa: Friedrich Sengle, Wieland. Mit 23 Bildern und Beilagen, Stuttgart 1949, S. 203 f.

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kommt dadurch zustande, dass alle diese Exempelfiguren in eine durchgehende Handlung eingeschmolzen worden sind. Diese Perspektive stellt eine Lehre des Gedichts und eine Funktion von Figuren und Handlung heraus, von denen in der Tat anzunehmen ist, dass sie von Wieland intendiert und dass sie ihm wichtig waren. Doch eine andere Lehre des Gedichts und eine andere Funktion der narrativen Struktur, die ihm ebenso wichtig gewesen sein dürften, bleiben dabei unbeachtet. Gemeint ist eine Lehre, die von Musarion während ihres nächtlichen Gesprächs mit Phanias im dritten Buch explizit formuliert wird, als sie Phanias darzulegen sucht, dass seine zeitweilige Neigung für die philosophischen Systeme Cleanths und Theophrons höchst ‚natürlich‘ und folglich kein Grund zur Scham sei. Musarion skizziert hier eine Theorie der psychischen Genese philosophischer Überzeugungen, und zwar eine Theorie, die das Glücksbedürfnis oder die Glückskonzepte des Subjekts als entscheidenden Faktor ansetzt: [. . .] [I]ch wollte dir nur zeigen, Daß dich dein Vorurtheil für dieses weise Paar Nicht schaamroth machen soll. Nichts war Natürlicher in deiner schlimmen Lage. Der Knospe gleich am kalten Märzentage Schrumpft, wenn des Glückes Sonnenschein Sich ihr entzieht, die Seel’ in sich hinein. Entfiedert, nackt, von allem ausgeleeret, Was sie für wesentlich zu ihrem Wohlseyn hielt, Was Wunder, wenn sich ihr ein Lehrbegriff empfiehlt, Der sie die Kunst, es zu entbehren, lehret? [. . .] Noch mehr willkommen muß im Falle, den wir setzen, Die Schwärmerey des Platonisten seyn, Der das Geheimniß hat, die Freuden zu ersetzen, Die Zeno nur entbehren lehret; Der, statt des thierischen verächtlichen Ergötzen Der Sinnen, uns mit Götterspeise nährt.

[III, S. 118–120]

Es war allein Phanias’ Unglück, seine „schlimme[] Lage“, was ihn für die Lehren Cleanths und Theophrons empfänglich gemacht hat.170 Welchen Anteil an dieser

170 Zu dieser Passage vgl. auch knapp: Dirk von Petersdorff, „Wieviel Metaphysik braucht die Aufklärung? Christoph Martin Wielands Musarion“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 58/2004, 11, S. 1009–1019, hier S. 1014; Sven-Aage Jørgensen, „Arbeitsbereich II. Dichter in Biberach“, in: Sven-Aage Jørgensen/Herbert Jaumann/John A. McCarthy/Horst Thomé, Christoph Martin Wieland. Epoche – Werk – Wirkung, München 1994, S. 48–67; zu Musarion S. 63–67, zu dieser Passage S. 64 f.

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schlimmen Lage des Phanias einerseits der ‚Verlust‘ Musarions, andererseits der Verlust des Vermögens hatte, lässt Musarion offen; noch bemerkenswerter ist, dass sie auch offen lässt, in welchem Maße es reale oder eingebildete Bedürfnisse waren, deren Befriedigung Phanias versagt blieb.171 Entscheidend ist aber, dass Phanias’ Reaktion, seine Hinwendung zu stoischer und pythagoreischer Philosophie, eine ‚natürliche‘ war: „Nichts war | Natürlicher in deiner schlimmen Lage.“ Der Ausdruck ‚natürlich‘ lässt in diesem Kontext, in dem es um eine psychologische Erklärung von Einstellungen und Handlungen geht, an die programmatische Forderung der zeitgenössischen Anthropologie denken, stets nach ‚natürlichen Ursachen‘ des menschlichen Verhaltens zu fahnden. Dieses Konzept der ‚natürlichen Ursachen‘ geriet, sobald es auch auf das Denken und Wollen angewendet wurde, leicht in den Verdacht des Materialismus und Determinismus, und auch in den zitierten Ausführungen Musarions kann zumindest eine Stelle als Anspielung auf solche Theorien verstanden werden: Der Vergleich mit der Knospe am kalten Märztag, die beim Entzug des Sonnenscheins zusammenschrumpft, gesteht der menschlichen Seele nicht viel Widerstandskraft gegenüber äußeren Einwirkungen oder gar Autonomie zu.172 Doch auch wenn man von einer solchen Deutung dieses Vergleichs absieht, ist festzuhalten, dass der Grundgedanke dieser Belehrungen Musarions eine skeptische Färbung hat: Die Fähigkeit des Menschen, die ‚richtige‘, maßvolle und natürliche Philosophie zu ergreifen, erscheint als wesentlich bedingt durch äußere Lebensumstände und Erfahrungen, nicht als von vornherein und unproblematisch gegeben. Dass in Musarion solche skeptischen Tendenzen nicht als dominant hervortreten, liegt vor allem daran, dass in dieser Erzählung den richtigen Personen im richtigen Moment die richtigen Erfahrungen zuteil werden, so dass alles in einen glücklichen Ausgang münden kann. Die zitierten Lehren Musarions aber, das ist im vorliegenden Zusammenhang entscheidend, bieten auch einen Anhaltspunkt zur Deutung des Verhältnisses von Erzählhandlung und integrierten philosophischen Lehren. Die Erzählung dient nicht nur der Veranschaulichung von philosophischen Gedanken und fungiert auch nicht nur als ein Rahmen, in dem menschliche Verkörperungen philosophischer Systeme auftreten und eine gute oder schlechte

171 Die Formulierung „wenn des Glückes Sonnenschein | Sich ihr entzieht“ scheint auf reale Bedürfnisse zu verweisen; die Wendung „Was sie für wesentlich zu ihrem Wohlseyn hielt“ lässt es dagegen als möglich erscheinen oder suggeriert sogar, dass es sich nur um eingebildete Bedürfnisse handelte. 172 Ein ähnliches Vergleichsbild verwendet der Erzähler im zweiten Buch, als er die Reaktion Cleanths und Theophrons auf das Auftreten Musarions schildert: „So sprach sie; und mit Ohren und mit Augen | Verschlingt das weise Paar, was unsre Muse spricht: | Begier’ger kann die welke Rose nicht | Den Abendthau aus Zephirs Lippen saugen.“ (I, S. 67)

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Figur machen können. Sie lässt vielmehr auch Handlungen und Ereignisse ablaufen, die Auswirkungen auf die philosophischen Überzeugungen Phanias’ haben – jene Überzeugungen, die er in einigen ‚lehrgedichtsartigen‘ Partien des ersten Buchs artikuliert und die indirekt auch durch die Reden Cleanths und Theophrons charakterisiert werden. Wie auf der Ebene der Textstruktur die diskursiven, an Lehrgedichte erinnernden Passagen in eine narrative Makrostruktur integriert sind, so sind auf der Ebene des Inhalts die philosophischen Überzeugungen der Figuren – vor allem die des Phanias – in einen Handlungszusammenhang integriert. Dass die philosophischen Ansichten, zu denen sich Phanias im ersten Buch bekennt, auf die von Musarion behauptete Weise entstanden seien, dass sie also ihren Ursprung in sinnlich-emotionalen Bedürfnissen, in Verlusterfahrungen und Kränkungen haben, das kann der Leser nicht direkt verifizieren. Aber wenn Phanias schon beim ersten Wiedersehen mit Musarion seiner vorgeblichen neuen Lebenseinstellung nicht treu bleibt, sondern sich – wie der Erzähler hervorhebt – sehr schnell für Musarions Charme und körperliche Reize empfänglich zeigt,173 so macht dies die am Ende von Musarion angebotene Ätiologie seines zeitweiligen Stoizismus sehr plausibel. Dass die in diskursiven Gedichtpassagen artikulierten philosophischen Überzeugungen in einem strengen Sinne in die – nicht nur zeitlich, sondern auch kausal strukturierte – Erzählhandlung integriert sind, gilt vor allem für die Überzeugungen des Phanias, auf andere Weise aber auch für die Positionen Cleanths und Theophrons. Die Figuren der zwei Philosophen exemplifizieren nicht einfach durch ihre konstanten Eigenschaften bestimmte Schwächen, wie es moralische Charaktere tun; die Lehre ergibt sich vielmehr daraus, dass sie mit Erfahrungen konfrontiert werden, die Prüfungen für ihre philosophisch fundierten Lebenshaltungen darstellen. Das Scheitern gegenüber den von Musarion organisierten Versuchungen führt zumindest bei Theophron auch zu einer dauerhaften Abkehr von seiner Philosophie. Indem Wieland in Musarion einerseits die Bedingtheit philosophischer Überzeugungen durch Erfahrungen und emotionale Bedürfnisse aufzuzeigen sucht, andererseits philosophische Überzeugungen der Prüfung durch konkrete Erfahrungen aussetzt,174 realisiert er in kleinem Rahmen und eher skizzenhaft

173 Vgl. II, S. 70. 174 Auf die zweite dieser Funktionen der Verbindung von Lehrgedicht und Erzählung weist auch Hofmann hin; ihm zufolge dienen die „Elemente des Lehrgedichts“ in Musarion dazu, „das Verhältnis des Subjekts zu den verschiedenen Lehrgebäuden [zu] untersuch[en]“ (Hofmann, Reine Seelen, S. 145). Während ich in diesem Punkt mit Hofmann übereinstimme, scheint mir seine These, dass Musarion eine „Überwindung des dogmatischen Lehrgedichts“ leiste und dass

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Erzählmuster, die er in der kurz zuvor erschienenen Geschichte des Agathon (1766) eingehender, detaillierter und geradezu methodisch ausgestaltete und die er in späteren Romanen weiter variierte. Wenn Wieland Musarion als ein Werk bezeichnet, das in der Mitte zwischen Lehrgedicht, Verserzählung und Komödie liege, so erscheint das zwar als stimmig; doch man kann hinzufügen, dass die Verschränkung von Erzählhandlung und philosophischen Erörterungen zugleich für die Ausprägung des Romans charakteristisch war, die er zur gleichen Zeit entwickelte.175 Im Agathon-Roman wird die Abfolge von neuartigen Erfahrungen des Protagonisten und ihrer anschließenden reflexiven ‚Verarbeitung‘ geradezu zu einem Strukturprinzip gemacht.176 In der Forschung ist noch eine weitere Deutung des Verhältnisses von Erzählhandlung und integrierten philosophischen Ausführungen vorgeschlagen worden. Walter Erhart zufolge verweisen diese allgemeineren Darlegungen Musarions wie Phanias’ der Reihe nach auf ganz unterschiedliche „Rollen und Diskurse“,177 ohne dass die Positionswechsel schlüssig motiviert wären und am Ende in einer stabilen Synthese aufgehoben würden. Der „schnelle Wechsel der semantischen Kontexte“ erhalte „den Charakter eines weitgehend autonomen Geschehens“; Wieland lasse „seine Figuren verschiedene Diskursformen übernehmen, ohne ihre Identität dort zu fixieren“.178 In den „Reden der Figuren“ offenbare sich der „Verlust eines Zentrums der Individualität“, ihr „Ich“ „spalte[] sich [. . .] in eine diskontinuierliche Abfolge diskursiver Praktiken und Zustände

sich daraus ein „Perspektivismus“ ergebe (ebd., S. 147), problematischer zu sein. Zunächst ist zu betonen, dass auch in der ‚traditionellen‘ Form des Lehrgedichts, wie sie von Pope, Haller oder Hagedorn verwirklicht wurde, die vorgetragenen Lehren im Gestus epistemologischer Bescheidenheit vorgetragen, also mit Vorbehalten, Zweifeln oder Unsicherheitsmarkierungen versehen werden können und dass die genannten Autoren von dieser Möglichkeit auch Gebrauch gemacht haben. Was den „Perspektivismus“ betrifft: Hofmann selbst notiert andernorts, der Texte zeige, dass „die Lehren des Pythagoras dem von Sinnlichkeit beherrschten Theofron offensichtlich nicht gemäß sind“ (ebd., S. 145). Hofmann selbst stellt diese Einsicht hier nicht als eine bloße Frage der Perspektive dar, und das Gedicht gibt zu einer solchen Relativierung auch kaum Anlass. 175 Auch Heinz Schlaffer sieht in Musarion Ansätze zu einem Roman und begründet dies vor allem mit der Konzeption des Protagonisten Phanias. Vgl. Heinz Schlaffer, Musa iocosa. Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der erotischen Dichtung in Deutschland, Stuttgart 1971, zu Musarion S. 194–200, zur „antizipierten Romanstruktur“ S. 199 f., Zitat S. 199. 176 Zu diesen Aspekten des Agathon-Romans vgl. Wolfram Buddecke, C. M. Wielands Entwicklungsbegriff und die Geschichte des Agathon, Göttingen 1966, v. a. S. 169–237. 177 Walter Erhart, „Beziehungsexperimente. Goethes Werther und Wielands Musarion“, in: DVjs, 66/1992, S. 333–360, hier S. 351. 178 Ebd., S. 354.

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auf.“179 Den epochalen Hintergrund für Wielands Experimentieren mit Konzepten von Identität und Individualität bilden nach Erhart die von Niklas Luhmann beschriebenen semantikgeschichtlichen Umbrüche im 18. Jahrhundert. Erharts Deutung enthält zwar überzeugende Einwände gegen harmonisierende Tendenzen einiger älterer Interpretationen, beruht aber letztlich ihrerseits auf einseitigen und forcierten Textbeschreibungen, auf die dann anachronistische Deutungsmuster appliziert werden. Musarions und Phanias’ Handeln, auch ihr verbales Handeln, ist nicht so inkonsistent, wie Erhart und – im Anschluss an ihn – Hofmann behaupten; ihre Positionsveränderungen erfolgen zwar relativ abrupt, was mit der typisierenden oder idealisierenden Konstruktionsweise der gesamten Erzählung zusammenhängt, sind aber nicht unmotiviert. Erhart meint zwar, dass Musarion selbst einmal „die Entscheidung für ein philosophisches System [. . .] in die Kontingenz der ‚Umstände‘“ verweise, wenn sie sagt: „‚Man wird zum Geisterseher | Geboren, wie zum Feldherrn Xenophon, | Wie Zeuxis zum Palett, und Philipps Sohn zum Thron‘“.180 Doch diese Paraphrase verdreht den Sinn der Aussage Musarions auf bezeichnende Weise. Dass man zum Geisterseher geboren wird, heißt eben, dass von einer „Entscheidung“ für ein philosophisches System nicht die Rede sein kann; und nicht die „Kontingenz der ‚Umstände‘“ wird hier von Musarion als determinierender Faktor angesetzt, sondern die „Natur“, die „dann und wann“ auch „Seelen“ von der Art des Archytas „zeugt“.181 Die Bedingtheit philosophischer Überzeugungen und moralischer Haltungen, die Musarion hier behauptet, dürfte am ehesten als eine physiologische zu verstehen sein, und sie ist mit einem okkasionell-beliebigen Changieren zwischen Rollen und diskursiven Praktiken gerade nicht vereinbar. Festzuhalten ist abschließend, dass die Verbindung von Strukturen des Lehrgedichts und der Erzählung in Musarion mindestens zwei Funktionen erfüllt: Zum einen liefert die erzählte Handlung eine anschauliche Illustration einiger Gedanken, die Musarion in ihren ‚didaktischen‘ Reden vorstellt. Zum anderen lässt die Handlung die philosophischen Überzeugungen, die Phanias und seine philosophischen Lehrer in ihren lehrgedichtartigen Ausführungen artikulieren, als von Erfahrungen und sinnlichen Bedürfnissen bedingt erscheinen. Für diese zweite Funktionalisierung der Narration, die sich von der ersten grundlegend

179 Ebd., S. 356. – Diesen Thesen schließt sich weitgehend an: Michael Hofmann, „‚Musarion‘“, in: Heinz (Hrsg.), Wieland-Handbuch, S. 196–201, hier S. 198 f. 180 Erhart, „Beziehungsexperimente“, S. 353. Erhart zitiert hier nach der Fassung letzter Hand. In der Erstfassung heißt es: „[. . .]; man wird zum Geisterseher | Gebohren wie zum Held, wie zum Anacreon, | Wie Zeuxes zum Palet, und Philipps Sohn zum Thron.“ (III, S. 117) 181 III, S. 116 f. – In der Fassung letzter Hand: „Auch Seelen dieser Art erzeuget dann und wann | (Zwar sparsam) die Natur.“

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unterscheidet, finden sich in den deutschsprachigen Lehrgedichten der zweiten Jahrhunderthälfte keine anderen prominenten Beispiele. Die Verschränkung von Erzählung und Lehrgedicht in Musarion hat damit ein so eigenständiges Gepräge, dass es fraglich erscheint, ob man sie als repräsentativ für eine breitere Entwicklungstendenz des Lehrgedichts betrachten kann. Was insbesondere die durch Youngs oder Creuz’ Lehrgedichte, aber auch durch Wielands eigenes Werk Die Natur der Dinge markierten Neuorientierungen des Lehrgedichts angeht, so ergibt sich aus der Gattungsmischung in Musarion kaum eine Nähe zu ihnen. Berücksichtigt man ferner die zentralen Inhalte der Lehren Musarions, so erweist sich Wielands Gedicht von 1768 vielmehr, wie im Folgenden noch näher auszuführen ist, als eine Distanzierung von diesem Strang des ‚enthusiastischen‘ Lehrgedichts. Allerdings ist diese Distanzierung mit einem für Wieland charakteristischen Vorbehalt versehen. 3.2.2 Musarions Philosophie Wie die formale Innovation, die Wielands Umgang mit Strukturen des Lehrgedichts in Musarion darstellt, anderen Zwecken dient als die formalen Neuerungen, die Young, Creuz oder auch Gleim in seiner noch zu analysierenden Dichtung Halladat präsentierten, so laufen auch die in Musarion vermittelten Lehren auf eine kritische Abgrenzung von Positionen hinaus, die bei Young oder auch in Wielands eigenem Jugendwerk Die Natur der Dinge affirmiert wurden. Die wohl offensichtlichste Veränderung gegenüber dem Frühwerk betrifft die Einschätzung der Sinnlichkeit des Menschen und der körperlichen Liebe. Die asketische Unterdrückung der Sinnlichkeit wird als eine tendenziell widernatürliche, womöglich sogar pathogene Lebensweise kritisiert, der maßvolle Genuss sinnlicher Vergnügen hingegen als naturgemäß verteidigt und als Ausdruck einer Einstellung präsentiert, die mit der menschenfreundlichen Sorge um ein friedliches und zivilisiertes Zusammenleben mindestens vereinbar, wenn nicht sogar wesensverwandt ist. Die „reitzende Philosophie“, die Phanias von Musarion lernt, umfasst neben der – ‚maßvollen‘ – Aufwertung der Sinnlichkeit auch ein bestimmtes Bild vom Menschen. Phanias’ zunächst undurchschaute Bedingtheit durch emotionale Bedürfnisse, die Musarion ihm in der oben zitierten Passage deutlich macht, erscheint als repräsentativ für die Schwächen und Unvollkommenheiten der menschlichen Natur, die es anzuerkennen und denen gegenüber es Nachsicht zu üben gilt. Auch lernt’ er gern, und schnell, und sonder Müh, Die reitzende Philosophie, Die, was Natur und Schicksal uns gewährt,

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Vergnügt genießt, und gern den Rest entbehrt; Die Dinge dieser Welt gern von der schönen Seite Betrachtet [. . .] [. . .], und auf die guten Leute Der Unterwelt, so sehr sie Thoren sind, Nie böse wird, nur lächerlich sie findt Und sich dazu, sie drum nicht minder liebet, Den Irrenden bedau’rt, und nur den Gleißner flieht; Nicht stets von Tugend spricht, noch, von ihr sprechend, glüht, Doch, ohne Sold und aus Geschmack, sie übet; Und, glücklich oder nicht, die Welt Für kein Elysium, für keine Hölle hält, Nie so verderbt, als sie der Sittenrichter Von seinem Thron – im sechsten Stockwerk sieht, So lustig nie als jugendliche Dichter Sie mahlen, wenn ihr Hirn von Wein und Phyllis glüht.

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[III, S. 125–127]

Auch in der Einschätzung des Menschen lautet Musarions Devise, dass alles „Übermaß“ zu vermeiden sei, also sowohl die Verteufelung als auch die Verklärung. Auch wenn Musarion hier, im Schlussabschnitt des Gedichts, beide Extreme gleichermaßen verwirft, zielt die kritische Stoßrichtung des Werks insgesamt vor allem auf eines von ihnen, auf eine Überschätzung des Menschen: Cleanth überschätzt die Autarkie von Wille und Vernunft des Menschen, Theophron die Unabhängigkeit des Geistes von den Sinnen. Zu den menschlichen Grenzen, die es anzunehmen gilt, gehört auch die Begrenztheit der Erkenntnisfähigkeit. Sie zu akzeptieren bedeutet, auf die Beantwortung bestimmter Fragen nach dem Ganzen zu verzichten. Von der „reitzende[n] Philosophie“ heißt es auch, dass sie [. . .] Nicht wissen will was alles das bedeute, Was Zeus aus Huld in räthselhafte Nacht Vor uns verbarg [. . .].

[III, S. 125]

Es wird nicht näher gesagt, welche Zusammenhänge es sind, die dem Menschen so huldvoll verborgen wurden, an welcher Grenze also die Erkenntnisbemühungen Halt machen sollen. Im Kontext des Gedichts liegt es aber nahe, diese Distanzierung auf die Spekulationen Theophrons zu beziehen. Die zusammenfassende Charakterisierung der „reitzende[n] Philosophie“ Musarions befindet sich im letzten Abschnitt des Gedichts. Die in ihr enthaltenen Absagen an ein hochfliegend-enthusiastisches Menschenbild wie an kühne Spekulationen über das große Ganze sind aber zuvor bereits von Musarion mit einem bemerkenswerten Vorbehalt versehen worden. Als Phanias während des

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nächtlichen Gesprächs über Cleanth und Theophron und ihre offenbar gewordenen Schwächen spottet, fordert ihn Musarion auch in diesem Punkt zum Maßhalten auf. Die maßvolle Beurteilung der Philosophen und ihres Verhaltens, die Musarion im Folgenden entwickelt, läuft auf zweierlei hinaus: erstens auf eine Unterscheidung zwischen der Person und der von ihr vertretenen Lehre, zweitens auf eine Anerkennung der moralisch wertvollen Motivationskraft, die einer ‚schwärmerischen‘ Philosophie mit zweifelhaftem oder fehlendem Wahrheitsgehalt eignen könne. Das Verhalten Cleanths und Theophrons beim abendlichen Mahl zeige, so Musarion, dass sie „sehr menschlich sind [. . .] | Und in der That bei weitem nicht so weise | Als ihr System“ (III, S. 114). Ganz ähnlich betont sie später noch einmal mit Bezug auf Theophron, allein „[d]er Mann, nicht seine Lehren“, habe Phanias und ihr „Stoff zum Spott“ gegeben (III, S. 118). Wie viel Wahrheit diese Lehren für sich beanspruchen können, lässt Musarion allerdings weitgehend offen. Über Theophrons Lehren sagt sie, dass sie etwas „Wahre[s]“ enthalten, das „[m]it Unsinn und Schimären wohl gepaart“ sei, ohne näher zu erläutern, was der wahre, was der schimärische Anteil ist. Der Wert dieser pythagoreischen wie auch der stoischen Philosophie liegt für sie primär in der stärkenden, anfeuernden oder beflügelnden Wirkung, die sie auf den Menschen auszuüben vermögen: Sie besitzen nicht nur die therapeutischen oder kompensatorischen Qualitäten, derentwegen Phanias – ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein – von ihnen angezogen wurde, sondern können auch Mut und andere Tugenden festigen und zu großen Taten befähigen.182 Dass Musarion sich in dieser Passage zur Anwältin der philosophischen Systeme macht, auf deren Disqualifizierung fast ihr gesamtes Verhalten am vorangegangenen Abend zu zielen schien, kann den Leser ähnlich überraschen wie Phanias. Aber diese eingeschränkte, auf den oben genannten Differenzierungen beruhende Verteidigung hochfliegender philosophischer Entwürfe dürfte für Wieland wichtig gewesen sein, denn die Begründungen in Musarions Plädoyer verweisen auf ein Problem, mit dem er sich auch in anderen Texten

182 Vgl. III, S. 114 f.; dort erklärt Musarion: „Und dennoch ist vielleicht nichts mächtiger, die Seelen | Zu starken Tugenden zu bilden, unsern Muth | Zu dieser Festigkeit zu stählen, | Die großen Uebeln trotzt und große Thaten thut, | Als eben dieser Satz, für den Cleanth | Zum Märtyrer sich trank!“ Vgl. ferner ebd., S. 117, Musarions Aussagen über Theophrons System: „Und in der That, was hebt die Seele höher, | Was nährt die Tugend mehr? Erweitert und verfeint | Des Herzens Triebe so, als glänzende Gedanken | Von unsers Daseyns Zweck? – Der Weltbau ohne Schranken – | Unendlich Raum und Zeit – die Sonne, die uns scheint | Ein Funke nur von einer höhern Sonne – | Unsterblich unser Geist, Unsterblichen befreundt, | Und, ahmt er Göttern nach, bestimmt zur Götterwonne!‘ –“ Vgl. zu der ganzen Passage auch: von Petersdorff, „Wieviel Metaphysik braucht die Aufklärung?“, vor allem S. 1013 f.

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intensiv auseinandergesetzt hat. So begegnet auch im zehnten Buch der Geschichte des Agathon der Gedanke einer moralisch wertvollen Motivationskraft metaphysischer Schwärmereien, wo er allerdings – im Vergleich zu Musarion – eine deutlich problematischere Zuspitzung erhält.183 Daneben wäre auf die Frage nach den positiven und negativen Folgen ‚kaltblütiger‘ Schwärmerkritik zu verweisen, die Wieland 1776 im Teutschen Merkur veröffentlichte.184 Aber auch wenn diese bedingte Verteidigung der metaphysischen Schwärmerei und des hochgemuten Stoizismus als ein wichtiger Teil der Lehren Musarions anzusehen ist, verringert sich dadurch der Abstand zwischen diesem Gedicht Wielands und seinem frühen Gedicht Die Natur der Dinge oder auch den Lehrgedichten Youngs und Creuz’ nicht in wesentlichem Maße. Diese philosophischen Ideen werden von Musarion nicht oder kaum um ihres Gehalts willen, sondern fast nur wegen ihrer wertvollen Motivationskraft in Schutz genommen, also aus einer distanzierten, funktional argumentierenden Perspektive. Im Text als Ganzem dominiert die skeptische Relativierung dieser philosophischen Systeme, nicht eine begeisterte Aneignung derselben.

3.3 Resümee Wielands Musarion lässt sich kaum in den Entwicklungsstrang des Lehrgedichts einordnen, der durch Youngs Night Thoughts, seine deutschsprachigen Nachfolger wie etwa die Lehrgedichte und Creuz’, nicht zuletzt aber auch durch Wielands eigenes Jugendwerk Die Natur der Dinge repräsentiert wird. Man kann zwar als eine Ähnlichkeit zwischen Musarion und den Lehrgedichten Youngs und Creuz’ eine Aufnahme dramatischer Elemente betrachten, da Wielands Text zu einem beträchtlichen Teil aus der Wiedergabe von Gesprächen in wörtlicher Rede besteht und die Night Thoughts wie die Gräber großenteils

183 Vgl. das 5. Kapitel des 10. Buchs mit der Überschrift „Moralischer Zustand unsers Helden“ in Christoph Martin Wieland, Geschichte des Agathon. In: Ders., Werke in zwölf Bänden. Gonthier-Louis Fink [u. a.] (Hrsg.). Bd. 3. Hrsg. von Klaus Manger. Frankfurt a.M. 1986, S. 494–511, v. a. S. 504–509. 184 Vgl. zu der von Wieland im Merkur veröffentlichten Frage und zu den Antworten: Manfred Engel, „Die Rehabilitation des Schwärmers. Theorie und Darstellung des Schwärmers in Spätaufklärung und früher Goethezeit“, in: Hans-Jürgen Schings (Hrsg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposium 1992, Stuttgart/Weimar 1992, S. 469–498, hierzu S. 469–478, die Frage Wielands selbst auf S. 469. – Auf die Parallele zwischen der Passage aus Musarion und dieser Frage verweist auch: von Petersdorff, „Wieviel Metaphysik braucht die Aufklärung?“, S. 1017.

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monologische oder auch (bei Young) dialogische Sprechsituationen gestalten. Aber diese ‚dramatische‘ Dimension ist bei Young und Creuz insgesamt weit weniger stark ausgeprägt als in Musarion, und in jedem Falle handelt es sich um eine relativ vordergründige Ähnlichkeit: Berücksichtigt man nicht nur die formalen Züge als solche, sondern auch die Funktionen, die die Verbindung didaktischer, narrativer und dramatischer Elemente in Musarion sowie die monologischen Sprechweisen bei Young und Creuz erfüllen, so zeigt sich der große Abstand zwischen den Texten. Orientiert man sich schließlich an inhaltlichen Kriterien, also an den Lehren der Gedichte, so tritt erst recht die Diskrepanz zwischen Musarion und der durch die Night Thoughts wie durch Wielands eigenes Lehrgedicht Die Natur der Dinge verkörperten Tendenz zutage. Die Art und Weise, wie Wieland in Musarion Strukturen des Lehrgedichts und der Verserzählung verband, war zwar nicht ganz ohne Vorläufer,185 stellte aber doch eine originelle Weiterentwicklung des Gattungsmusters dar und wurde von einigen Zeitgenossen auch ausdrücklich so bewertet. Doch trotz dieser günstigen Aufnahme scheint Musarion mit dieser ‚hybriden‘ Textstruktur keine größere Zahl von Nachahmern gefunden zu haben; falls es diese Nachahmer doch gegeben haben sollte, stießen sie offenbar nicht auf größere Resonanz.186 In der Forschung ist die Vermutung geäußert worden, dass die Verwendung narrativer oder (quasi)dialogischer Strukturen in Schillers Elegie (Der Spaziergang) und in Goethes Metamorphose der Pflanzen als Fortsetzung einer durch Musarion verkörperten Tendenz gesehen werden könnte187; aber diese strukturellen Ähnlichkeiten sind

185 Jäger hat auf Johann Adolf Schlegels Gedicht Der Unzufriedne verwiesen; vgl. Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“, S. 562 (Anm. 87). Das Gedicht erschien zuerst 1745 im zweiten Band der Neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes (Leipzig/Bremen); vgl. ebd., S. 307–328, 403–428, 435–486. Eine überarbeitete Fassung in: Johann Adolf Schlegel, Vermischte Gedichte. Zweyter Band. Hannover 1789, S. 95–344. In dieser neuen Fassung trägt das Gedicht den Untertitel „Ein episches Lehrgedichte, in acht Gesängen“. 186 Dieser tentative Befund stützt sich unter anderem auf das Verzeichnis von Texten, die dem Versepos verwandten Gattungen angehören oder Grenzfälle darstellen, bei Dieter Martin, Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie, Berlin/New York 1993, S. 402–415. Ein hier angeführter Text, der als „episches Lehrgedicht“ eingeordnet werden könne und in einer zeitgenössischen Rezension mit Musarion verglichen wurde (vgl. ebd., S. 407), ist Franz von Kleist, Zamori, oder die Philosophie der Liebe. In 10 Gesängen, Berlin 1793. Vgl. zu diesem in Stanzen verfassten Versepos mit lyrischen und diskursiv-belehrenden Einlagen: Anke Tanzer, ‚Mein theurer zweiter Kleist‘. Franz Alexander von Kleist (1769–1797). Leben und Werk, Oldenburg 1998, S. 199–226, zu Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Zamori und Musarion knapp S. 225 f. 187 Vgl. Jäger, „Lehrdichtung“, S. 529–531, zu den Gedichten Schillers und Goethes S. 530.

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schon auf den ersten Blick nur schwach ausgeprägt, und es spricht insgesamt wenig dafür, dass Schiller und Goethe in ihren Umformungen des Lehrgedichts an Wieland anknüpfen wollten. Bemerkenswert ist ferner, dass auch Wieland selbst das in Musarion entwickelte Modell einer neuen Art von Lehrgedicht nicht in einer größeren Zahl von Texten praktizierte.188 Über die Gründe hierfür zu spekulieren, dürfte sich kaum lohnen, doch es sei zumindest an ein Ergebnis der oben skizzierten Interpretation erinnert: Wieland nutzt in Musarion die Verknüpfung von Narration und philosophischen Darlegungen unter anderem dazu, die Bedingtheit philosophischer Überzeugungen durch Erfahrungen und Umstände vorzuführen. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass er in der kurz vor Musarion veröffentlichten Geschichte des Agathon ein ähnliches Interesse verfolgte. Es mag sein, dass ihm für die Auseinandersetzung mit diesem Problem der Roman letztlich als das geeignetere Medium erschien. Aber selbst wenn die von Musarion repräsentierte Transformation des Lehrgedichts auch innerhalb von Wielands Œuvre ein annähernd singulärer Fall ist, gilt es doch festzuhalten, dass Wieland auch nach seiner ‚empiristischen‘ oder ‚anthropologischen Wende‘189 noch einmal auf die Gattung des Lehrgedichts zurückgriff und seine neu entwickelten philosophischen und poetologischen Positionen in einem Text artikulierte, der sich dieser Gattungstradition bediente. Diese Tradition wurde von ihm offenbar um 1770 noch als eine wahrgenommen, die sich für verschiedene Zwecke und auch für unterschiedliche philosophische Lehren nutzen ließ und weder auf die ältere, etwa durch Haller vertretene Ausprägung noch auf die Weiterentwicklung im Sinne Youngs oder des enthusiastisch-spekulativen Frühwerks Die Natur der Dinge festgelegt war. Wielands Distanz gegenüber der von religiöser Begeisterung getragenen Variante des Lehrgedichts, aber auch seine Annahme einer vielseitigen Verwendbarkeit dieser Gattungstradition kommen auch in seinen Reaktionen auf einen Text der 1770er Jahre zum Ausdruck, der ebenfalls zu den eigenständigen Weiterentwicklungen des Lehrgedichts zu rechnen ist: Johann Wilhelm Ludwig Gleims Halladat. 188 Als Wieland die Verserzählung Der verklagte Amor in seine Sämmtliche Werke aufnahm, schrieb er in einem „Vorbericht“ über dieses „Gedicht“, dass es „eben sowohl als Musarion, (zu welchem es als ein Gegenstück angesehen werden kann) nicht leicht unter eine schon bekannte Rubrik zu bringen ist“. Christoph Martin Wieland, Der verklagte Amor. Ein Gedicht in fünf Gesängen, in: Ders., Sämmtliche Werke. Bd. 5, S. 147–214, Zitat S. 149 („Vorbericht“). 189 Zu dieser Wendung bei Wieland vgl. Thomé, Roman und Naturwissenschaft, S. 117–127 (Kap. „Wielands empiristische Wendung“). Vgl. auch Jutta Heinz, „Wieland und die Philosophie“, in: Dies. (Hrsg.), Wieland-Handbuch, S. 83–94, v. a. S. 84. Zur Diskussion um die Ursachen oder Anlässe sowie um das Ausmaß dieser Wandlung vgl. auch John A. McCarthy, „Wielands Metamorphose“, in: DVjs, 49/1975, S. 149*–167*.

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4 Johann Wilhelm Ludwig Gleims Halladat oder Das rothe Buch (1775) Die Erstausgabe von Johann Wilhelm Ludwig Gleims zunächst anonym veröffentlichtem Werk Halladat oder Das rothe Buch erschien bei Bode und trägt auf dem Titelblatt die Jahresangabe 1774,190 kam aber erst 1775 heraus.191 Im selben Jahr wie die Erstausgabe wurde auch eine leicht abgeänderte Ausgabe mit dem Zusatz „Zum Vorlesen in den Schulen“ auf dem Titelblatt veröffentlicht. Halladat wurde zwar vom Autor weder in Paratexten noch in Selbstaussagen als Lehrgedicht bezeichnet, von mehreren Kritikern aber als Lehrgedicht oder als eine Sammlung von Lehrgedichten aufgefasst. In den Gothaischen gelehrten Zeitungen etwa wurde das Werk vorgestellt als „[e]ine Sammlung Lehrgedichte, moralischen und philosophischen Innhalts, in orientalischem Stil vorgetragen.“192 Diese generische Einordnung ist gut nachvollziehbar, da Halladat thematisch den Lehrgedichten der Aufklärung sehr nahe steht und auch in textstruktureller Hinsicht einige typische Elemente des Lehrgedichts aufweist –

190 Vgl. [Johann Wilhelm Ludwig Gleim,] Halladat oder Das rothe Buch, Hamburg 1774. Ein Wiederabdruck dieser ersten Auflage ist zugänglich in: Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Ausgewählte Werke, Walter Hettche (Hrsg.), Göttingen 2003, S. 381–426; vgl. dort auch die Kommentare des Herausgebers auf S. 698–705. Halladat wird im Folgenden nach der Ausgabe von Hettche zitiert. – Dieses Kapitel zu Halladat bildet die überarbeitete, teils gekürzte und teils erweiterte Fassung eines Aufsatzes: Olav Krämer, „J. W. L. Gleims Halladat oder Das rothe Buch: die Suren eines ‚neuen Korans‘ oder ‚Lehrgedichte [. . .] in orientalischem Stil‘?“, in: Stefan Hermes/Sebastian Kaufmann (Hrsg.), Der ganze Mensch – die ganze Menschheit. Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800, Berlin/Boston 2014, S. 75–99. Der Aufsatz konzentriert sich auf die Beziehung zwischen Halladat und Friedrich Eberhard Boysens Koranübersetzung, auf die ich hier nur knapp eingehe. 191 Vgl. den Hinweis auf das Werk in: Gothaische gelehrte Zeitungen vom 12.07.1775, S. 449 f. Dort heißt es, Halladat oder Das rothe Buch sei „im vorigen Jahr [. . .] gedruckt, seit der letzten Ostermesse aber erst bey Bode zu haben.“ Dass Halladat erst 1775 erschienen sei, schreibt auch: Jäger, „Anakreontiker als Lehrdichter – Zwölf kurze Kapitel“, zu Halladat S. 230–238, zum Erscheinungsjahr S. 231. Vgl. zu Halladat ferner: Ders., „Lehrdichtung“, S. 532 f.; Albertsen, Das Lehrgedicht, S. 380–382; Vontobel, Von Brockes bis Herder, S. 209 f.; Ute Pott, Briefgespräche. Über den Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Mit einem Anhang bislang ungedruckter Briefe aus der Korrespondenz zwischen Gleim und Caroline Luise von Klencke, Göttingen 1998, S. 53–61; J[akob] Minor, Goethes Mahomet. Ein Vortrag, Jena 1907, S. 20 f. und S. 78 f. 192 Gothaische gelehrte Zeitungen vom 12.07.1775, S. 449. – In die Rubrik „Lehrgedichte“ wird Halladat auch eingeordnet bei: Christian Heinrich Schmid, Anweisung der vornehmsten Bücher in allen Theilen der Dichtkunst, Leipzig 1784, S. 267. Dort heißt es über das Werk, Gleim habe darin „eine Reihe moralischer Maximen in Monologen eines morgenländischen Weisen, in Jamben ein[gekleidet]“ (ebd.).

4 Johann Wilhelm Ludwig Gleims Halladat oder Das rothe Buch (1775)

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so etwa eine Sprecherinstanz, die ausdrücklich mit belehrender Absicht auftritt. Zugleich sind originelle Züge, durch die sich Halladat von den Lehrgedichten etwa Hallers, Hagedorns, Withofs oder Gellerts unterscheidet, kaum zu übersehen; dazu gehört an erster Stelle der in der zitierten Notiz erwähnte „orientalische[] Stil“, in dem die Lehrgedichte vorgetragen seien. Halladat wurde so von mehreren Kritikern als Versuch einer innovativen Erweiterung oder Abwandlung der Gattung Lehrgedicht wahrgenommen, ähnlich wie Wielands Musarion; Gleims Versuch fand allerdings insgesamt weniger Beifall als derjenige Wielands und erhielt neben wohlwollenden Besprechungen auch eine sehr kritische Rezension in der Allgemeinen deutschen Bibliothek.193 Friedrich Bouterwek fällte im 1819 erschienenen elften Band seiner Literaturgeschichte ein zwiespältiges Urteil über Halladat, hielt aber am Ende seiner Erörterung doch fest: Aber eine neue und merkwürdige Erscheinung in der deutschen Litteratur war doch dieses didaktisch-poetische Werk voll starken und tiefen Gefühls im Gegensatze mit den schleppenden Lehrgedichten aus der sächsischen Schule.194

Auch an anderer Stelle führte Bouterwek Halladat als ein Werk an, mit dem Gleim einen „Wink“ zu einer zeitgemäßen Erneuerung des Lehrgedichts gab.195 Im vorliegenden Zusammenhang stellt sich so die Frage, worin genau die neuartigen Züge des Gleim’schen Gedichtzyklus bestanden und wie sie sich zu den bisher herausgearbeiteten Tendenzen im Lehrgedicht der zweiten Jahrhunderthälfte verhielten. Halladat besteht aus zwei Teilen, die 15 bzw. 16 Gedichte in Blankversen enthalten. Als Sprecherinstanz wird im ersten Gedicht von Gleims HalladatZyklus ein „Seher Gottes“ eingeführt, der offenbar in einem nicht näher benannten Land des Orients lebt.196 In einigen Gedichten erzählt der Seher 193 Vgl. [Georg Simon Klügel], „[Rez.] Halladat oder Das rothe Buch“, in: Allgemeine deutsche Bibliothek, 35/1778, 2, S. 496–499. 194 Friedrich Bouterwek, Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts. Eilfter Band. Göttingen 1819, S. 240. Zu Halladat vgl. ebd., S. 239 f. und 288. 195 Ebd., S. 288. 196 Dass in Halladat eine zentrale Sprecherfigur profiliert wird, verbindet dieses Werk mit anderen Gedichtsammlungen Gleims, insbesondere mit den anakreontischen Gedichten in seinem Versuch in Scherzhaften Liedern und mit der Sammlung Preußische Kriegslieder, die einen Grenadier als fiktiven Verfasser einführte. Vgl. dazu Ernst Rohmer, „Der ‚Personalcharakter‘ in der Lyrik Johann Wilhelm Ludwig Gleims. Untersuchungen zum Dichtungsverständnis an einem Beispiel aus den,Liedern für das Volk‘“, in: Hans-Joachim Kertscher (Hrsg.), G.A. Bürger und J.W.L. Gleim, Tübingen 1996, S. 14–28. Rohmer zufolge hat Gleim in den Liedern für das Volk, aber auch im Versuch in Scherzhaften Liedern, anhand der Sprecherinstanzen ‚Personalcharaktere‘ gestalten wollen; es handle sich um Rollen, die der Dichter spiele und die nicht

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Episoden aus seiner geistigen Biographie, in denen er Anfechtungen etwa in Form von Zweifeln an der Güte Gottes ausgesetzt oder auf Irrwege wie den des Pantheismus oder der Menschenfeindlichkeit geraten war. Diese Verirrungen werden entweder durch direkte Intervention Gottes oder aber durch Belehrungen eines weisen Freundes beendet. In anderen Gedichten spricht der Seher die Menschen wie eine Gemeinde an und belehrt sie über das Wesen Gottes und des gottgefälligen Lebens. Teils haben diese Gedichte mahnenden oder predigenden Charakter,197 teils suchen sie eher die rechte Haltung der Andacht und Verehrung selbst vorzuführen und nähern sich dann einem hymnischen, manchmal auch gebetsähnlichen Ton.198 Vor allem im zweiten Teil finden sich etliche Gedichte erzählender Art, in denen richtige oder falsche Haltungen anhand von Figuren und ihren Geschichten demonstriert werden.199 Als neuartig und ungewöhnlich fielen an Halladat zunächst das Versmaß sowie – vor allem – die orientalisierende Rahmung der Lehren auf. Den orientalischen Charakter erhalten die Figur und ihre Umgebung dabei in erster Linie durch den Gebrauch ‚morgenländisch‘ klingender Namen von Personen, Tieren und Orten, die größtenteils in Anmerkungen erläutert werden. So ist in einem Gedicht von einem „Millot“, einem „Arrah“, einem „Bannadar“ und einer „Lißba“ die Rede,200 und in Anmerkungen erfährt der Leser, dass diese Namen einen kleinen Käfer, einen großen Adler, einen ungeheuren Felsen und eine Purpurschnecke bezeichnen. Tatsächlich scheint Gleim, wie er selbst in Briefen erklärt und wie die Forschung bestätigt oder zumindest wahrscheinlich gemacht hat, alle diese Namen erfunden zu haben.201 Namen realer Personen und

mit ihm identifiziert werden dürfen. Vgl. dazu und zu dem dichtungstheoretischen Hintergrund dieses poetischen Verfahrens ebd., bes. S. 25–28. Zur großen Bedeutung der „Rollenlyrik“ in Gleims Schaffen vgl. auch Hettche, „Nachwort“, S. 595 f., S. 601; der Ausdruck „Rollenlyrik“ auf S. 596. Hettche betont ähnlich wie Rohmer, dass in der Deutung dieser Gedichte die Differenz zwischen Rolle und Autor zu beachten sei. Rohmer und Hettche beziehen sich in ihren Thesen hauptsächlich auf Gleims anakreontische Gedichte, auf seine Kriegslieder und auf die Lieder für das Volk. Ihre diesbezüglichen Thesen sollen hier nicht in Frage gestellt werden. Bei Halladat scheint mir allerdings die Annahme plausibel, dass Gleim sich in beträchtlichem Maße mit der Sprecherinstanz identifiziert hat. 197 Vgl. etwa im ersten Teil die Gedichte: „VIII. Der Wurm“, „X. Der Zweifler“, „XII. Der Käfer“. 198 Vgl. im ersten Teil: „II. Gott“, „V. Die Seele“, „XV. Die Aussicht“. 199 Exempel für falsches Verhalten liefern etwa die folgenden Gedichte des zweiten Teils: „III. Der reiche Mann“, „X. Die Flucht“, „XI. Der Abgesandte“. Exempel für richtiges Verhalten bieten (wiederum im zweiten Teil): „IV. Die häuslichen Freuden“, „V. Die Quelle“, „VI. Die Beerdigung“. 200 Gleim, Halladat, S. 384 (1. Teil, Gedicht II: „Gott“, Verse 47 f., 50). 201 Vgl. Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Brief an Christoph Martin Wieland vom 20.03.1774, in: Wielands Briefwechsel, Bd. 5, Hans Werner Seiffert (Hrsg.), Berlin 1983, S. 241, und Gleim, Brief an Lessing vom 08.02.1774, S. 620 f. Vgl. ferner Jäger, „Anakreontiker als Lehrdichter“,

4 Johann Wilhelm Ludwig Gleims Halladat oder Das rothe Buch (1775)

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Orte findet man in dem Buch nicht. Das Wort „Halladat“ taucht im neunten Gedicht des ersten Teils auf, in dem der Sprecher eine Figur namens Adazull anspricht und seine Sehnsucht ausdrückt, die Stimme dieses Adazull zu hören und in seinem „tiefern Halladat“ zu lesen. Eine Anmerkung liefert die folgende Erläuterung zu diesem Wort: „Halladat, ein rothes Buch, in welchem der Weise seine besten und freyesten Gedanken niederschreibt, und in seinem tiefsten Gewahrsam aufbehält, bis er einen Weisen findet, dem er ohne Sorgen alles offenbaren darf.“202 Ansonsten wird orientalisches Dekor im engeren Sinne nur sparsam eingesetzt. Die Landschaften, in denen sich die narrativen Partien abspielen, werden nur in knappster und einfachster Weise skizziert, etwa durch die Erwähnung eines hohen Felsens oder einer Wüste, eines Bachs oder eines Palmenhains. Bevor diese summarischen Bemerkungen zu Inhalt und Form der Gedichtsammlung durch speziellere Beobachtungen ergänzt werden, sei auf die Umstände eingegangen, die Gleim nach seinen eigenen Aussagen zu dieser orientalisierenden Rahmung angeregt haben. Einen entscheidenden Anstoß zur Abfassung von Halladat erhielt Gleim, wie er in Briefen mitteilte, durch eine neue Koranübersetzung, deren Verfasser Friedrich Eberhard Boysen er gut kannte und deren Entstehung er mitverfolgt hat. Boysens Koranübersetzung erschien zuerst 1773 und zwei Jahre später in der zweiten Auflage. 203 Boysen war Konsistorialrat und Hofprediger in Quedlinburg und dürfte Gleim während des Studiums in Halle um 1740 kennengelernt haben. Boysens Übersetzung war erst die zweite deutsche Koranübersetzung, die nicht auf der Grundlage von Übertragungen in andere europäische Sprachen, sondern direkt aus dem

S. 232: Jäger teilt dort mit, er habe eine Liste mit den exotisch klingenden Wörtern und Namen aus Halladat erstellt und sie „Hebräisten und Arabern vorgelegt – erfolglos, außer daß ein von Gleim mehrfach für einen Felsen verwendetes ‚Bannadar‘ im Arabischen möglicherweise ‚Felsen‘ heißen kann. Sonst so gut wie nichts. Gleim scheint diese exotischen Töne erfunden zu haben – eine Leistung.“ 202 Gleim, Halladat, S. 392 (1. Teil Gedicht IX: „An Adazull“). 203 Vgl. Der Koran, oder Das Gesetz für die Muselmänner, durch Muhammed den Sohn Abdall, nebst einigen feyerlichen koranischen Gebeten, unmittelbar aus dem Arabischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Register versehen, und auf Verlangen herausgegeben von Friedrich Eberhard Boysen, Halle 1773; Der Koran, oder Das Gesetz für die Moslemer, durch Muhammed den Sohn Abdall, nebst einigen feyerlichen koranischen Gebeten, unmittelbar aus dem Arabischen übersetzt, mit Anmerkungen und einigen Denkwürdigkeiten aus der Geschichte des Propheten und seiner Reformation, herausgegeben von Friedrich Eberhard Boysen, zweyte verbesserte Ausgabe, Halle 1775.

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Arabischen angefertigt wurde.204 Während des Entstehens der Übersetzung vertrat Gleim in einem Brief die Ansicht, dass die „in Sylbenmaaß“ abgefassten Koranteile auch „in Sylbenmaaß gedollmetscht seyn“ sollten.205 Er schickte Boysen in diesem Brief auch zwei Gedichte, bei denen es sich um „Sure[n]“ eines „zweyten Korans“ handle.206 Boysen erwähnte in der Vorrede zur ersten Auflage seiner Übersetzung die Ansicht seines Freundes – ohne dessen Namen zu nennen – und druckte die zwei Gedichte ab.207 Die Begegnung mit Boysens Koranübersetzung wirkte offenbar besonders anregend auf Gleim, weil sie bei ihm mit einer schon lange gehegten Ambition

204 Die erste deutsche Übersetzung auf der Basis des Originals war die berüchtigte Übersetzung David Friedrich Megerlins, die nur ein Jahr vor dem Werk Boysens erschienen war. Megerlins Übersetzung enthielt eine Vorrede, die in großer Zahl Motive der christlichen Tradition antiislamischer Polemik versammelte. Megerlins Werk erhielt einige vernichtende Rezensionen, die sowohl die Übersetzung als auch die aggressive Polemik der Vorrede kritisierten. Boysens Übertragung erhielt zwar kein uneingeschränktes Lob, wurde aber als ein großer Fortschritt gegenüber derjenigen Megerlins gewertet und blieb bis ins 19. Jahrhundert hinein die deutsche Standardübersetzung des Koran. – Zu Megerlins und Boysens Übersetzungen vgl. Mounir Fendri, „Tradition und Wandel im deutschen Islam-Bild im 18. Jh. im Spiegel zweier Koranübersetzungen: D.F. Megerlin (1772) – F.E. Boysen (1773)“, in: Kairoer Germanistische Studien, 10/1997, S. 253–272; Jan Loop, „Divine Poetry? Early Modern European Orientalists on the Beauty of the Koran“, in: Church History and Religious Culture, 89/2009, 4, S. 455–488, hier S. 480–482; Hartmut Bobzin, „Friedrich Rückert und der Koran“, in: Ders. (Hrsg.), Der Koran in der Übersetzung von Friedrich Rückert, mit erklärenden Anmerkungen von Wolfdietrich Fischer, 3., veränderte Aufl. 2000, S. VII–XXXIII, hier S. X–XIII, und Minor, Goethes Mahomet. Ein Vortrag, S. 18–20, 76–78. 205 Boysen, „Vorrede“, in: Der Koran, oder Das Gesetz für die Muselmänner, S. 11. Boysen zitiert an dieser Stelle wörtlich aus einem Brief Gleims; vgl. Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Brief an Friedrich Eberhard Boysen vom 13. Juni 1773 (Gleimhaus Halberstadt; Signatur Hs. A 4691). Ich danke den Mitarbeiterinnen des Gleimhauses in Halberstadt dafür, dass sie mir ein Digitalisat des Briefs zur Verfügung gestellt haben. 206 Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Brief an Friedrich Eberhard Boysen vom 13. Juni 1773 (Gleimhaus Halberstadt; Signatur Hs. A 4691). 207 Vgl. Boysen, „Vorrede“, in: Der Koran, oder Das Gesetz für die Muselmänner, S. 12. – In der zweiten, 1775 publizierten Auflage der Übersetzung erläutert Boysen den Status und die Genese dieser Gedichte etwas genauer: Seine Koranübersetzung sei „einem der berühmtesten Dichter unsres Jahrhunderts, der die Probebogen gesehen hatte, eine Veranlassung geworden [. . .], dem arabischen Propheten nachzuempfinden“. (Boysen, „Vorrede“, in: Der Koran, oder Das Gesetz für die Moslemer, S. 11) Die Gedichte sollen also „Nachahmungen der muhammedischen Muse“ sein (ebd.). In der zweiten Auflage nimmt Boysen sie nicht wieder in seine Vorrede auf, teilt aber mit, dass ihr Verfasser bald eine ganze „Sammlung solcher vortreflichen Gesänge“ veröffentlichen werde (ebd.).

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zusammentraf, die auf die Abfassung eines religiös-poetischen Werks zielte. So jedenfalls erläuterte Gleim in einem Brief an Lessing die Entstehung von Halladat: Das ganze Geheimnis aber ist dieses: Ich wollte schon in meiner ersten Jugend immer eine Bibel schreiben. Dieser Gedanke kehrte bei manchem Anlaß, und bei dem bekannten Streit über die Inspiration, von dem ich mit unsern Gelehrten zu sprechen mehrmalen Gelegenheit hatte, fast täglich immer lebhafter zurück – Ich hörte den Hofrat Michaelis zu Göttingen und den Consistorialrat Boysen zu Quedlinburg von dem göttlichen Mahomet sprechen, wie meinen Leßing vom göttlichen Homer – Boysen aber sagte den vorigen Sommer mir, von s. Übersetzung des Korans, Ich behauptete, daß Verse müßten in Verse gedolmetschet werden, und wollt’ ihm eine Probe, nur der Versart, geben, es wurden der Proben zweie, dreie etc. und so entstand in wenigen Wochen, in wenigen Stunden könnt’ ich mit recht sagen, das rote Buch, und hätt’ ich dem Genius, der mich in mancher Morgenstunde zu dreien Capiteln begeisterte, längere Besuche verstatten können, so würde, glaub’ ich noch mehr als ein Koran entstanden sein.208

Was diesem Brief zufolge bei der Konzeption von Halladat den entscheidenden Impetus lieferte, war Gleims seit langem gehegter Wunsch, „eine Bibel [zu] schreiben“: ein Wunsch, der durch verschiedene jüngere Erfahrungen wieder wachgerufen wurde und konkretere Gestalt erhielt. Zu diesen Erfahrungen gehörte zunächst der „bekannte[] Streit über die Inspiration“; damit ist offensichtlich die theologische Diskussion um die göttliche Eingebung der Bibel gemeint, die aufgrund der beginnenden historisch-kritischen Bibelforschung an Dringlichkeit und Brisanz gewann.209 Wie Gleim sich durch diese Debatte in seinem alten Wunsch, eine Bibel zu schreiben, bestätigt fühlen konnte, wird in dem Brief nicht recht deutlich. Vielleicht hat Gleim aus neueren theologischen Erörterungen den Schluss gezogen, dass eine ähnliche Inspiration, wie sie den Verfassern der biblischen Schriften zuteil wurde, auch einem neuzeitlichen Dichter, also auch ihm geschenkt werden könnte. Jedenfalls deutet seine

208 Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Brief an Gotthold Ephraim Lessing vom 08.02.1774, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 11.2, Helmuth Kiesel (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1988, S. 620 f., hier S. 620 f. 209 Einer der wichtigsten Kritiker der orthodoxen Lehre von der Verbalinspiration war der in Halle lehrende Theologe Johann Salomo Semler, dessen Werk Gleim gekannt zu haben scheint und dessen Andenken er später in einem Epigramm ehren sollte. Zu Semler, seiner Bibelhermeneutik und seiner Kritik der Lehre von der Verbalinspiration vgl. Gottfried Hornig, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schriftverständnis und seine Stellung zu Luther, Göttingen 1961, bes. S. 56–115. Das Epigramm Gleims auf Semler findet sich in: J.W.L. Gleim’s sämmtliche Werke, erste Originalausgabe aus des Dichters Handschriften, Bd. 5, Wilhelm Körte (Hrsg.), Halberstadt 1812, S. 76.

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Äußerung darauf hin, dass es ihm mit dem Wunsch, eine Bibel zu schreiben, so ernst war, dass er dafür einen Rückhalt in der zeitgenössischen Theologie suchte. Die in dem Brief erwähnte Auffassung Gleims, dass die Verse des Koran in Verse übersetzt werden müssten, könnte auf allgemeinen Annahmen über die kategoriale Differenz zwischen Vers und Prosa und über ihre Implikationen für Übersetzungen beruhen. Sie könnte aber darüber hinaus auch durch zeitgenössische Diskussionen über die Beziehung zwischen Religion und poetischer Sprache beeinflusst gewesen sein.210 Die Einflussquellen, die gegebenenfalls für Gleim relevant waren, können zwar nicht genau identifiziert werden; in Frage käme aber vermutlich an erster Stelle Klopstock mit seiner Neubelebung des Modells des Dichterpropheten. Daneben mag Gleim auch Anregungen von Robert Lowths Vorlesungen über die heilige Poesie der Hebräer empfangen haben, in denen Lowth große Teile des Alten Testaments als Dichtung betrachtete und ihren poetischen Charakter als Ausdruck religiöser Ergriffenheit oder als notwendige Erscheinungsform prophetischer Rede deutete.211 Die zitierte Passage aus dem Brief an Lessing sowie weitere Selbstaussagen Gleims deuten also darauf hin, dass er Halladat als eine inspirierte religiöse Dichtung auffasste, die die besonderen Potentiale der Poesie für die religiöse Belehrung nutzen sollte. Damit griff Gleim eine Dichtungskonzeption auf, die zeitgenössisch am prominentesten und wirkungsvollsten von Klopstock vertreten worden war. Es gibt denn auch deutliche Hinweise darauf, dass Gleim mit Halladat in den Spuren Klopstocks wandeln wollte. Er bat Klopstock in einem Brief darum, Halladat über seine „Samler“, also seine Kollekteure, vertreiben lassen zu dürfen.212 Gleims Gründe für diese Bitte könnten freilich nur praktischer und

210 Vgl. auch die Einordnung der zitierten Briefstelle durch Jan Loop: „Gleim’s letter is a striking testimony to the relationship between the secular Romantic idea of an inspired original genius, and the theological concept of the divine inspiration of Sacred Scripture. For Gleim and his circle the boundaries between Bible, Koran, Greek mythology and ingenious poetry have completely dissolved.“ (Jan Loop, „Divine Poetry? Early Modern European Orientalists on the Beauty of the Koran“, in: Church History and Religious Culture, 89/2009, 4, S. 455–488, Zitat S. 486.) 211 Der im zitierten Brief an Lessing genannte Hofrat Michaelis hatte 1758/1761 eine zweibändige, um Anmerkungen und Zusätze erweiterte Ausgabe der zuerst 1753 in Oxford erschienenen Vorlesungen Lowths herausgegeben. Vgl. Robert Lowth, De Sacra Poesi Hebraeorum [. . .], notas et epimetra adjecit, Ioannes David Michaelis [. . .], Göttingen 1758/61. Zu Lowths Werk über die heilige Poesie der Hebräer vgl. Brian Hepworth, Robert Lowth, Boston 1978, S. 77–98. 212 Im Januar 1774 schrieb Gleim an Klopstock: „Ich sende meinem theuresten Klopstock hiebey eine Handschrift in Vertrauen, mit Bitte, sie durchzulesen, und mit der ersten umkehrenden Post mir zu sagen: [/] ob es angehet, daß Er in Altona, oder bey Herr Boden sie sauber,

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ökonomischer Art gewesen sein; aber er wollte Halladat darüber hinaus auch bei Bode in demselben – ungewöhnlichen – Format wie Klopstocks Oden drucken lassen.213 Auch im Text von Halladat selbst, zu dem die Analyse hiermit zurückkehren soll, ist Gleims Anschluss an das Modell der ‚begeisterten‘ religiösen Poesie deutlich erkennbar. Beachtung verdient zunächst, dass die zentrale Sprecherfigur als „Seher Gottes“ eingeführt wird. Das Wort „Seher“ wurde im späteren 18. Jahrhundert zwar in unterschiedlichen Bedeutungen verwendet, aber die gebräuchlichste und sich immer mehr durchsetzende Bedeutung war die des vates oder Propheten. Dass das Wort bei Gleim in der Verbindung „Seher Gottes“ verwendet wird, legt eine Deutung in diesem Sinne nahe, zumal diese Seherfigur tatsächlich direkte Mitteilungen von Gott erhält.214 Auch die rhetorische Gestaltung vieler Gedichtpassagen lässt sich als Versuch deuten, den Eindruck einer ‚begeisterten‘, inspirierten Rede zu erzeugen. Viele Gedichte sind durch einen vorwiegend parataktischen Satzbau und durch zahlreiche Wiederholungen geprägt. Insbesondere die zentralen Lehren der Gedichte werden oft in kurzen, schlichten Sätzen formuliert, die mindestens einmal, häufig aber mehrfach wiederholt werden: „Der Seher Gottes ist ein Menschenfreund!“,215 „Geschöpfe, betet an!“,216 „Gott ist Gott!“.217 Daneben finden sich in den meisten Gedichten zahlreiche Anaphern und Wiederholungen

ohne alle Zierrathen, auf feines holländisches Papier drucken laße, und an seine Samler sie mit versende.“ (Gleim an Klopstock, Brief vom 26.1.1774, in: Klopstock, Werke und Briefe. Abteilung: Briefe, VI: 1773–1775, Bd. 1: Text, S. 128 f., hier S. 128). – Zur Rolle der Kollekteure im Subskriptionswesen des 18. Jahrhunderts vgl. Reinhard Wittmann, Buchmarkt und Lektüre im 18. und 19. Jahrhundert. Beiträge zum literarischen Leben 1750–1880, Tübingen 1982, S. 59–68. 213 Am Ende des eben zitierten Briefs schreibt Gleim: „In dem Format wie ihre Oden wünscht’ ich den Halladat gedruckt zu sehn, die Zeilen weit genug aus einander, daß es nicht zu wenige Bogen werden“. (Gleim an Klopstock, Brief vom 26.1.1774, in: Klopstock, Werke und Briefe. Abteilung: Briefe, VI: 1773–1775, Bd. 1: Text, S. 128 f., hier S. 129). Vgl. hierzu Carlos Spoerhase, Das Format der Literatur. Praktiken materieller Textualität zwischen 1740 und 1830, Göttingen 2018, S. 81 f. Im Falle von Halladat wich Gleim von der für sein Œuvre insgesamt charakteristischen Form des ‚Manuskriptdrucks für Freunde‘ ab; zu dieser Praxis Gleims vgl. ebd., S. 66–69, 78–86. 214 Vgl. Gleim, Halladat, S. 382 (1. Teil, „I. Der Beruf“, V. 50–53), 386 (1. Teil, „IV. Die Stimme“, V. 13–25). 215 Ebd., S. 381 f. 216 Ebd., S. 383 f. 217 Ebd., S. 385–387. – Vgl. ferner: „Gräme dich | Deswegen nicht“ (ebd., S. 411), „Murr’ ihm [Gott, O.K.] nicht!“ (ebd., S. 419 f.).

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von Sätzen oder Satzteilen, die in vielen Fällen der Rhythmisierung dienen dürften, in vielen aber auch der emphatischen Hervorhebung.218 Hinsichtlich der Autorenkonzeption (Dichterprophet), der Sprecherinstanz (Seher) sowie der rhetorischen Gestaltung (‚begeistertes‘, hymnisches Sprechen) besitzt Halladat somit deutliche Affinitäten zur Dichtung Klopstocks sowie zu Lehrgedichten wie Wielands Die Natur der Dinge, die sich an diesem Modell orientieren. Was aber den Inhalt der Lehren angeht, so bleibt Halladat weitgehend älteren Positionen der deutschen Aufklärung treu, die mit empfindsamen Akzenten wie einem Lob der Familie und der häuslichen Freuden versehen werden. Wie Hans-Wolf Jäger festgestellt hat, verbindet Gleim aufklärerische Gedanken wie die Theodizee und das Lob des väterlichen Herrschers mit Motiven der Anakreontik und der Geßner’schen Schäferidyllen und mit empfindsamen Lobgesängen auf Freundschaft, Familie und häusliche Freuden.219 Nur einzelne Gedichte entwickeln Gedanken, die nicht zum mainstream der deutschen empfindsamen Aufklärung passen. So fordert der Sprecher in zwei Gedichten einen Freund zum Rückzug an einen einsamen Ort auf, wo er sich in sich selbst versenken und sich von den Sinnen abziehen solle.220 Damit erinnern die Gedichte an mystische Praktiken, die in einer gewissen Spannung zu der vorwiegend praktischen und diesseitigen Ausrichtung der Lehren stehen. Eine besonders deutliche Abweichung vom aufklärerischen common sense bringt das Gedicht „Der Zweifler“. Darin fordert der Sprecher einen „Traurigen“, der an der Existenz Gottes zweifelt, dazu auf, auf Wolken, Regen, Blitz und Donner zu achten und in ihnen Gottes Wirken zu erkennen. Wenn all dies nicht das Herz des traurigen Zweiflers fröhlich machen und seine Zweifel zerstreuen könne, dann solle dieser „arme[] blinde[] Mann“ mit Weib, Sohn und Tochter, sofern sie ebenso „blind[]“ sind wie er, auf einen hohen Felsen steigen, sich hinabstürzen und wieder zu „Staub“ werden: „[. . .] Denn besser, besser ist | Ein träger, todter, Seelenloser Staub | Hier seyn in seiner schönen Welt, als Geist, | Und zweiflen, ob ein Gott vom Himmel sieht!“221 Angesichts der in der zeitgenössischen Theologie und Philosophie vorherrschenden Haltungen zum Selbstmord muss diese Aufforderung drastisch wirken. Doch diese Kritik

218 Albertsen hat die Sprechweise von Halladat als eine „Diktion des gerührten Stammelns [. . .], das in sich Hymnisches und Greisenhaftes vereint“, beschrieben (Albertsen, Das Lehrgedicht, S. 381). 219 Vgl. Jäger, „Anakreontiker als Lehrdichter“, S. 233 f. 220 Vgl. Gleim, Halladat, S. 388 f. (1. Teil, „VI. Das Gesicht“), 392 f. (1. Teil, „IX. An Adazull“). 221 Gleim, Halladat, S. 394 (1. Teil, „X. Der Zweifler“, V. 26–29). Auf Lessing scheint dieses Gedicht irritierend gewirkt zu haben; vgl. Gotthold Ephraim Lessing an Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Brief vom 27.2.1774, in: Lessing, Werke und Briefe, Bd. 11/2, S. 629 f., hier S. 629.

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der Zweifler steht mit ihrem eigenwilligen Charakter innerhalb von Halladat vereinzelt da und scheint nicht auf einer breiteren philosophischen Basis zu ruhen, mit der Gleim von den Grundpositionen der empfindsamen Aufklärung abwiche. Von diesen weitgehend traditionellen aufklärerischen Positionen entfernt sich Gleim also am ehesten in den gelegentlichen Affirmationen des Werts einsamer meditativer, mystikaffiner Praktiken. Doch aufs Ganze gesehen vermittelt Halladat eher den Eindruck, dass Gleim hier das durch Klopstock, aber auch durch Young und seine Nachahmer repräsentierte Modell des begeisterten, inspirierten Dichterpropheten aufgreifen und es moralisch-religiösen Lehren dienstbar machen möchte, die einer früheren Phase der deutschen Aufklärung verpflichtet bleiben und sich vor allem von der mit Young und Creuz assoziierten Welt- und Menschenauffassung dezidiert fernhalten. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht eine Passage im zehnten Gedicht des ersten Teils, in der ein „finstrer Böser“, dem „Gottes Sonne nicht | Die Stirn erheitert“, von der Sprecherinstanz getadelt wird.222 Den Blick dieses Bösen vergleicht der Sprecher mit dem eines [. . .] armen Ungetrösteten, der sich Das Ende seiner Tage wünscht; er sieht Ein offnes Grab, betrachtet es und seufzt: Wär’ es für mich! O Böser, solch ein Blik, Vor deinem Gott, ist dieser, welcher uns In Schrekken setzt.223

Das Bild des „Ungetrösteten“, der ein „offnes Grab“ betrachtet, dürfte eine Anspielung auf Youngs Night Thoughts und seine deutschen Nachahmer darstellen, so etwa auf Creuz’ Die Gräber.224 Als Grundzüge dieser Strömung nahm Gleim 222 Gleim, Halladat, S. 417 (2. Teil, „X. Die Flucht“, V. 2–4). 223 Ebd., S. 418 (2. Teil, „X. Die Flucht“, V. 19–24). 224 Eine Kritik an deutschen Young-Nachahmern (nicht unbedingt an Youngs Night Thoughts selbst) dürfte auch ein zentraler Impetus der von Johann Georg Jacobi verfassten Nachtgedanken gewesen sein, die er auf dem Titelblatt an Gleim adressierte. Vgl. [Johann Georg] Jacobi, Nachtgedanken, [Halberstadt 1769]. Die Adressierung „an den Herrn Canonicus Gleim“ auf dem mit „A3“ nummerierten Titelblatt zwischen „Vorbericht“ und „Erste[r] Nacht“. Vgl. hierzu: Christoph Perels, „Von Young zu Novalis. Hardenbergs Hymnen an die Nacht und die Night Thoughts in Deutschland“, in: Konrad Feilchenfeldt/Ursula Hudson/York-Gothart Mix/Nicholas Saul (Hrsg.), Zwischen Aufklärung und Romantik. Neue Perspektiven der Forschung. FS für Roger Paulin, Würzburg 2006, S. 61–86, hier S. 69–71; Julia Steiner, „Johann Georg Jacobis Nachtgedanken und die Rezeption von Youngs Night Thoughts im 18. Jahrhundert“, in: Freiburger Universitätsblätter, 53. Jg., Juni 2014, Heft 204, S. 19–35; Kind, Edward Young in Germany, S. 86 f. (zu Gleims Stellung zu Young), 116 f. (zu Jacobis Nachtgedanken).

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offenbar die Kultivierung von Schwermut, Diesseits- und Lebensfeindlichkeit wahr, und so koppelte er in Halladat das Modell der inspirierten poetisch-religi ösen Rede mit einer dezidiert durch Diesseitigkeit, Daseinsfreude und Menschenfreundlichkeit geprägten Lehre. Als ein Zug, der eine auffällige Ähnlichkeit zwischen Youngs Night Thoughts, den Lehrgedichten Creuz’ sowie Wielands Die Natur der Dinge stiftet und diese Gedichte von den prominenten Lehrgedichten der ersten Jahrhunderthälfte trennt, wurde oben die Affirmation eines Menschenbildes herausgestellt, das emphatisch die gottähnlichen Züge des Menschen oder zumindest seine Fähigkeit zur unendlichen Annäherung an Gott betont. In Gleims Halladat finden sich solche enthusiastischen Aussagen über die Größe des Menschen nicht. Im ersten Teil gibt es aber ein Gedicht mit der Überschrift „Der Wurm“, in dem der Sprecher einen namenlosen Adressaten, der stolz und heuchlerisch sei, daran erinnert, dass er nur „ein Wurm | Im Geisterreiche“ der „Schöpfung“ Gottes ist.225 Gleim sucht in Halladat mithin die Form der enthusiastischen, begeisterten poetisch-religiösen Rede von Inhalten zu trennen, mit denen sie etwa bei Young und Creuz verknüpft war. Aber wie er gegenüber der emphatischen Verkündigung der Größe des Menschen auf Distanz bleibt, so scheint er auch in der Konzeption des Sprechers als inspirierter Seher nicht zu weit gehen zu wollen. Auffällig ist in dieser Hinsicht die bereits zitierte Anmerkung zu einem Gedicht, in der das Wort „Halladat“ erläutert wird. Hier ist nicht mehr von einem „Seher“ die Rede, sondern von einem „Weise[n]“, und auch nicht von göttlichen Eingebungen, sondern von den „besten und freyesten Gedanken“ des Weisen; diese Gedanken trage er in das „Halladat“ genannte Buch ein. Während der Ausdruck „Seher Gottes“ an eine Person denken lässt, die von Gott mit besonderen Fähigkeiten begabt wurde und von ihm privilegierte Mitteilungen erhält, bezeichnet der Ausdruck „ein Weiser“ jemanden, der sich durch besondere Verständigkeit oder Vernünftigkeit, durch breites Wissen und durch moralische Einsichten auszeichnet. Dass in der betreffenden Anmerkung von den „besten und freyesten Gedanken“ des Weisen die Rede ist, unterstützt eine Deutung in diesem Sinne. Die Anmerkung ruft somit einen vorbildlichen Rollentyp auf, der sich von dem des Sehers deutlich unterscheidet und in der Tradition der Aufklärung steht. Man kann das Nebeneinander von ‚Seher Gottes‘ und ‚Weisem‘ als Indiz für eine gewisse Unentschiedenheit auf Seiten Gleims sehen. Eine vergleichbares Changieren zeigen einige der Selbstkommentare, in denen er die ungewöhnlichen, exotisch klingenden Namen und Bezeichnungen in Halladat rechtfertigte. Den Vorschlag von Kritikern, er möge doch die sonderbaren Namen durch

225 Gleim, Halladat, S. 391 f. (1. Teil, „VIII. Der Wurm“, V. 38 f.).

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andere ersetzen, lehnt Gleim in einem Brief mit der Begründung ab, Halladat sei ihm nun einmal in dieser Form, mit diesen Namen, eingegeben worden.226 Das entspricht der auch im Brief an Lessing geäußerten Selbstdeutung, der zufolge ein „Genius“ ihn zu diesem Buch „begeistert“ habe. Ganz konsequent war Gleim in dieser Selbstdeutung allerdings nicht; in einem 1776 verfassten Brief an Caroline Luise Hempel, die Tochter von Anna Louisa Karsch, stellt er die fremdartigen Namen als Ergebnis einer überlegten Wahl dar.227 Auch der Zusatz „Zum Vorlesen in den Schulen“ auf dem Titelblatt legt es nahe, Halladat als ein unter didaktischen und wirkungsästhetischen Gesichtspunkten konzipiertes Werk aufzufassen. Gleim schwankt also gewissermaßen zwischen dem Autorkonzept des Dichterpropheten und dem des wirkungsästhetisch kalkulierenden Lehrdichters oder will sie miteinander verbinden. Mit Blick auf diese Ambivalenz in der Konzeption der zentralen Sprecherfigur wie in Gleims Selbstdeutungen ist es interessant, wie Wieland in der Rezension zu Halladat, die er für den Teutschen Merkur schrieb, die Bezeichnungen der Sprecherfigur als ‚Seher Gotes‘ und als ‚Weiser‘ aufgriff und erläuterte.228 Wieland erklärte zu Beginn der Rezension, er habe gehört, dass viele Leser des Buchs, die es „wie eine andre poetische Neuigkeit in die Hand genommen [. . .] haben – entweder ziemlich ungünstig davon geurtheilt, oder wenigstens nicht recht mit sich einig haben werden können, was sie daraus machen sollten“. Diesen Lesern will er „den wahren Standpunkt“ weisen, „aus dem sie ein so sonderbares Phänomen ansehen müßen, wenn sie es recht sehen wollen“. Dabei bekennt Wieland, dass auch ihn bei der Lektüre von Halladat „die ungewöhnliche Simplicität, und der 226 Die Briefäußerung wird ohne Nennung von Datum und Adressat des Briefs zitiert in: Körte, Johann Wilhelm Ludewig Gleims Leben, S. 186 f. 227 Vgl. Johann Wilhelm Ludwig Gleim an Caroline Luise Hempel (geb. Karsch, später von Klencke, gesch. Hempel), Brief vom 21.11.1776, in: Pott, Briefgespräche, S. 143 f., hier S. 144: „Wenn sie, beste Freundin, das rothe Buch vertheidigen müßen, dann bitt’ ich mit anzuführen, daß der Verfaßer die Absicht gehabt hätte, für ein arabisches Werck es auszugeben, wie Macpherson seinen Oßian für ein celtisches, deswegen wären die arabischen Wörter und Nahmen nöthig gewesen –“ 228 Vgl. [Christoph Martin] W[ieland], [Rez. zu Gleim, Halladat], in: Der Teutsche Merkur, 1775, 2, S. 281–285. Dass die Rezension Wieland zugeschrieben werden kann, ist fast sicher: In dem bereits erwähnten Brief, den Wieland nach der Lektüre des Manuskripts an Gleim schrieb, teilt er ihm mit, dass er gerne „durch den Merkur etwas zur Beförderung Ihres Halladats thun“ würde; er schreibt dort auch, dass er gegebenenfalls in einer Besprechung die Identität des Verfassers von Halladat im Dunkeln lassen wolle. Wieland, Brief an Gleim vom 14. März 1774, S. 240. Die Rezension im Teutschen Merkur beginnt denn auch tatsächlich mit den Worten: „Ungeblendet von Freundschaft oder Feindschaft gegen den ungenannten Verfaßer, ohne Vorurtheil, ohne andre Absicht als der erkannten und gefühlten Wahrheit Zeugnis zu geben, trete ich hervor“. W[ieland], [Rez. zu Gleim, Halladat], S. 281.

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mystische Geschmack dieser neuen Seelenspeise im ersten Augenblick stutzen machte“, bevor er sich in kurzer Zeit davon überzeugte, „daß es – Ambrosia und Nektar sey“.229 Um den Lesern den „wahren Standpunkt“ zu zeigen, aus dem sie das Werk betrachten müssten, erläutert Wieland das Wesen der Weisheit und legt dar, in welchem Sinne ein Mensch, der die Weisheit im höchsten Grade besitzt, ein „Seher Gottes“ genannt werden könnte. Der Weg zur Weisheit führt demzufolge über die Erforschung der Natur und über ein Streben nach Tugendhaftigkeit in allen Handlungen sowie die daraus entspringende Herzensgüte. Weisheit und Herzensgüte aber lassen es diesem Menschen schließlich „natürlich“ werden, „in der ganzen Schöpfung immer und allenthalben den Guten Gott zu sehen, dessen Werk sie ist“, und er werde „in diesem Verstande ein Seher Gottes“.230 Wieland entfernt mithin jede Bezugnahme auf göttliche Botschaften oder auf übernatürliche Fähigkeiten aus der Bedeutung des Wortes „Seher“ und deutet die zentrale Figur aus Halladat in erster Linie als einen Weisen, dessen Vorzüge auf Naturerkenntnis, Tugendstreben und Herzensgüte beruhen. Dass der Seher in Gleims Halladat durchaus Mitteilungen Gottes erhält, lässt Wieland unerwähnt. Seine lange Ausführung zur Sprechergestalt in Halladat läuft gewissermaßen auf eine ‚naturalisierende‘, entmystifizierende Deutung dieses Sehertums hinaus. Die leichte Unentschiedenheit, die man in dem Nebeneinander von ‚Seher‘ und ‚Weisem‘ bei Gleim erkennen kann, wird von Wieland zu Gunsten des Weisen aufgelöst. Um zusammenzufassen: Halladat präsentiert sich als ein Werk, in dem Gleim einige Elemente des von Young und seinen Nachfolgern repräsentierten Typs des Lehrgedichts übernahm, aber einer Philosophie und Religion dienstbar zu machen suchte, die sich grundsätzlich von den Lehren Youngs unterschied. Die Elemente, die er von der neuen Ausprägung des Lehrgedichts übernahm, bestanden vor allem in der Konzeption der Sprecherfigur, die als inspiriert oder begeistert erscheint, sowie in dem stark emotionalen Rededuktus, der sich in vielen Partien mit einem betont hohen, erhabenen Stil verbindet. Die Lehren, die durch diesen Sprecher und in diesem Stil vermittelt werden, sind aber frei von aller Jenseitssehnsucht, vielmehr durchgehend diesseitsorientiert und in erster Linie an Werten wie Menschenliebe, Familie, Freundschaft und praktischer Nächstenliebe orientiert. So zeigt sich Halladat als ein Gedicht mit kompromisshaften oder unentschiedenen Zügen, aber auch als ein Gedicht, das von der Attraktionskraft der neuartigen, durch Young und seine Nachfolger repräsentierten Art des Lehrgedichts zeugt.

229 Ebd., S. 282. 230 Ebd., S. 284.

5 Christoph August Tiedges Urania (1801)

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5 Christoph August Tiedges Urania (1801) Tiedges Gedicht Urania trug bei seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1801 den Titel: Urania. über Gott, Unsterblichkeit und Freiheit, ein lyrisch-didactisches Gedicht in sechs Gesängen.231 Das Gedicht lässt sich nicht leicht einer literaturgeschichtlichen Epoche zuordnen. Es erscheint einerseits sowohl unter stilistischen als auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten als ein Produkt der literarischen und philosophischen Epoche ‚um 1800‘: Der Stil der Urania orientiert sich unverkennbar am Vorbild Schillers, und die zentralen Gedankengänge des Gedichts zeigen auffällige Parallelen zu Überlegungen Kants. Andererseits orientiert sich Urania aber auch deutlich an Ausprägungen des Lehrgedichts, die verschiedenen Phasen des 18. Jahrhunderts zugeordnet werden können, und dabei nicht zuletzt an jener Ausprägung, die vor allem durch Youngs Night Thoughts repräsentiert wird.232 Im Widmungsgedicht zeigt sich Tiedge ausdrücklich einer gerade vergangenen Literaturepoche verpflichtet, denn das Gedicht wendet sich an Gleim, spricht ihn als „Sänger Gottes“ an und schreibt der „Muse Halladats“ die Inspiration zu dem folgenden „Lied von Gott und der Unsterblichkeit“ zu. Mit den spezifischeren formalen wie inhaltlichen Zügen der Halladat-Dichtung hat Urania zwar wenig gemein, aber dass Tiedge sein Gedicht in die Tradition empfindsam getönter religiöser Lehrgedichte stellte, erscheint durchaus als stimmig. Die philosophischen Lehren der Urania schließlich weisen zwar deutliche Anklänge an Kant auf, zugleich aber auch auffällige Parallelen zu Themen und Gedanken, die als Berührungspunkte zwischen den Lehrgedichten Youngs, Creuz’ und des jungen Wieland herausgearbeitet wurden. Tiedges Urania wirkt in manchen Hinsichten geradezu wie ein Kulminationspunkt der an diesen Gedichten beobachteten Tendenzen. Aus diesem Grund wird das Gedicht hier ans Ende der mit Youngs Night Thoughts beginnenden Reihe gestellt und nicht in dem Untersuchungsteil über das Lehrgedicht um 1800 behandelt. Die besondere historische Position der Urania, die durch eine Verbindung älterer Traditionen mit Tendenzen der Jahre um 1800 geprägt ist, bildet einen

231 Vgl. C. A. Tiedge, Urania, über Gott, Unsterblichkeit und Freiheit: ein lyrisch-didactisches Gedicht in sechs Gesängen, Halle 1801. – Diese Ausgabe wird im Folgenden zugrunde gelegt. Zitate werden durch Angabe des Gesangs in römischen Ziffern sowie der Seitenzahl im Haupttext nachgewiesen. 232 Vgl. auch Jäger, „Lehrdichtung“, S. 529: Jäger schreibt, dass „der Ton“ in Tiedges Urania „über weite Strecken“ den Night Thoughts Youngs „abgelauscht“ sei. Gerade der ‚Ton‘ von Tiedges Gedicht scheint mir allerdings weit weniger durch Young als durch Schiller beeinflusst zu sein. Doch die Konstruktion der Sprecherfiguren und Redesituationen bei Tiedge dürfte auf das Muster Youngs verweisen.

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der Gründe, derentwegen dem Gedicht hier eine nähere Analyse gewidmet wird. Ein anderer Grund besteht in seinem immensen Erfolg beim Publikum. Die Urania wurde in Rezensionen wohlwollend besprochen, gelegentlich sogar als Meisterwerk gefeiert,233 und avancierte rasch zum Bestseller. Seine Beliebtheit dauerte etwa bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts an: Schon 1803 erschien die zweite Auflage, 1819 die sechste Auflage, 1837 die elfte. Tiedges Mischung aus älteren Formtraditionen und Gedanken mit neuen poetischen Sprechweisen und Philosophemen fand also über mehrere Jahrzehnte einen beträchtlichen Anklang und verdient auch deshalb Interesse. Von der neueren Forschung aber blieb Urania fast gänzlich unbeachtet.234

5.1 Der Nachweis von Gott, Unsterblichkeit und Freiheit Der erste Gesang von Urania trägt die Überschrift „Klagen des Zweiflers“. Er lässt einen Sprecher auftreten, der wehmütig auf seine von unbefangenem Glauben und von Zuversicht erfüllte Kindheit und Jugend zurückblickt.235 Dieser unschuldige Glaube wurde irgendwann durch Zweifel vernichtet, die den Sprecher seitdem umtreiben und quälen: Zweifel an der Existenz eines wohlwollenden Gottes, an einer Fortdauer des Menschen nach dem Tode, an der Möglichkeit menschlicher Erkenntnis, der Freiheit des Willens und dem Wert tugendhaften Handelns.

233 Vorwiegend lobend ist etwa die Besprechung der ersten Auflage in der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek; vgl. Vt., [Rez.] „Tiedge, C. Urania. Ueber Gott, Unsterblichkeit und Freyheit“, in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek, 78/1803, 1. St., S. 60–62. Einige Mängel, die der Rezensent vermerkt, seien „nur kleine Nebelflecke, welche dem Glanze des Ganzen nichts schaden werden.“ (Ebd., S. 61) Die Besprechung der zweiten Auflage in derselben Zeitschrift beginnt mit den Worten: „Die frühe, so sehr verdiente Erscheinung der zweyten Auflage eines mit gerechtem Lobe angezeigten Meisterwerks, gehört zu den erfreulichen Zeichen der Zeit [. . .].“ (Np., [Rez.] „Tiedge, C. Urania. Ueber Gott, Unsterblichkeit und Freyheit 2. Aufl.“, in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek, 86/1804, 2. St., S. 497–499, hier S. 497.) 234 Die wichtigste Arbeit zu Tiedge ist immer noch: Reinold Kern, Beiträge zur Charakteristik des Dichters Tiedge, Berlin 1895. Diese Dissertation ist zwar informativ, auch weil sie viele Dokumente der literaturkritischen und wissenschaftlichen Tiedge-Rezeption des 19. Jahrhunderts berücksichtigt, beschränkt sich in der Diskussion von Urania aber ganz auf die Frage nach den bestimmenden Einflussquellen, die sie zudem noch zu einseitig beantworten dürfte; für die Form wie für den philosophischen Gehalt von Urania war Kern zufolge Schiller das allein entscheidende Vorbild (vgl. ebd., S. 13–52). – Die, soweit ich sehe, einzige etwas eingehendere Analyse von Urania findet sich bei: Albertsen, Das Lehrgedicht, S. 382–387. 235 Die Eingangsverse erinnern an den Anfang von Schillers Gedicht Resignation: „Mir auch war ein Leben aufgegangen, | Welches reich bekränzte Tage bot; | An der Hoffnung zarten Wangen | Blühte noch das erste junge Roth.“ (I, S. 5)

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Was diese Zweifel hervorgerufen hat, wird nur in allgemeinen Formulierungen angedeutet. Der Sprecher musste demnach feststellen, dass in dieser Welt häufig die Tugendhaften darben oder sterben, ohne für ihre Tugend belohnt worden zu sein. Zu diesen Tugendhaften gehört insbesondere auch eine Frau namens Hehra, die gestorben ist und an die sich der Sprecher mit tiefer Trauer erinnert.236 Ferner scheinen ihm viele Beobachtungen anzuzeigen, dass der Mensch gänzlich von äußeren Einwirkungen bestimmt ist und keine Freiheit besitzt. Die folgenden fünf Gesänge tragen die Überschriften „Gott“, „Leben. Glückseligkeit. Wahrheit“, „Unsterblichkeit“, „Tugend“ und „Freiheit. Wiedersehn“. Sie entwickeln Gedankengänge, die die genannten Zweifel zerstreuen und den Glauben an Gott, die Freiheit und die Unsterblichkeit befestigen sollen. Dieses Verhältnis wird auch metrisch ausgedrückt: Während der erste Gesang ein trochäisches Versmaß aufweist, sind die übrigen in Jamben mit wechselnder Hebungszahl verfasst. In welcher Relation die Sprecherfigur dieser Gesänge zu der des ersten Gesangs steht, wird nicht explizit erläutert; es erschiene prinzipiell denkbar, dass diese Widerlegungen der Zweifel auch von dem Protagonisten des ersten Gesangs vorgetragen werden, zwischen dem ersten Gesang und den folgenden also ein Zeitabstand und ein Erkenntnisgewinn des Sprechers anzunehmen ist. Aber einige Indizien im Text sowie in Tiedges Vorrede und einem späteren Selbstkommentar legen die Annahme nahe, dass der Sprecher des zweiten bis sechsten Gesangs als ein Freund des im ersten Gesang auftretenden Zweiflers zu verstehen ist, der diesen direkt anspricht und ihm die Zweifel zu überwinden hilft. Der Sprecher in den Gesängen zwei bis sechs wendet sich mehrfach an einen „Freund“, der allerdings nie eindeutig als der Zweifler des ersten Gesangs identifiziert wird.237 Zudem erinnert sich auch der Sprecher des zweiten bis sechsten Gesangs an die mittlerweile verstorbene „Hehra“ oder „Hera“, mit der er offenbar ebenso wie der Zweifler des ersten Gesangs befreundet war.238 Wie die Beziehung zwischen den Sprecherfiguren und dieser Hehra allerdings genau zu verstehen ist, darüber gibt das Gedicht keine Auskünfte. In 236 Für Erwähnungen von Hehra im 1. Gesang vgl. S. 7, 21. An der zweiten Stelle heißt es: „Hehra’s Seelenlicht ging unter“. 237 Für Anreden an einen „Freund“ vgl. etwa II, S. 33, 41, 54; III, S. 69 (1. Vers); V, S. 141 (1. Vers). 238 Hehra wird dann wieder im vierten Gesang erwähnt, vgl. S. 113–115. Die Szene, an die sich der Sprecher dort erinnert, ähnelt derjenigen, die im ersten Gesang auf S. 7 knapp evoziert wird. Beide Male ist die Rede davon, wie Hehra eines Abends in einem Tal den Blick zum Himmel richtet. Das Titelkupfer von Urania scheint sich auf diese Szene zu beziehen. Hehra wird schließlich auch im fünften Gesang (S. 167) und im sechsten Gesang (S. 212 f., 215) erwähnt. Laut einer Anmerkung Tiedges (vgl. S. 227) bezieht sich die Erwähnung auf S. 212 wieder auf die Szene, die auf S. 114 erwähnt wurde.

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der Vorrede bezeichnet Tiedge die auf den ersten Gesang folgenden Teile als „die antwortenden Gesänge“.239 Auch dies dürfte dafür sprechen, den zweiten bis sechsten Gesang als die Antwort zu deuten, die der Zweifler von einem Freund erhält. Die Konzeption der Sprecherfiguren ist einer der Züge von Urania, die deutlich auf das Vorbild der Night Thoughts Youngs verweisen. Youngs Sprecher äußert zwar kaum Zweifel an der Existenz Gottes oder der Unsterblichkeit des Menschen, tritt aber häufig als ein Klagender auf; wie der Sprecher bei Young den Tod dreier ihm nahestehender Personen betrauert, darunter den Tod der schönen jungen Narcissa, so Tiedges Sprecher den Tod Hehras. Der Zweifler im ersten Gesang der Urania berichtet zudem mehrfach davon, dass er des Nachts schlaflos und verzweifelt umhergeht und seinen traurigen Gedanken nachhängt (vgl. I, S. 9 f., 27). Die Redesituation der folgenden Gesänge, in denen der Sprecher seinen Freund über Gott, Tugend und Unsterblichkeit belehrt, kann an die Konstellation zwischen Youngs Sprecher und dem Adressaten Lorenzo erinnern. Schließlich ist die bei Tiedge im Titel genannte Urania, die auch im Gedicht gelegentlich angerufen wird, auch die Muse des Sprechers der Night Thoughts. Wie man bei Young über das persönliche Verhältnis zwischen dem Sprecher und Lorenzo und ihre Vorgeschichte so gut wie nichts erfährt, so werden auch bei Tiedge der ab dem zweiten Gesang auftretende Freund und seine Beziehung zum Zweifler nicht weiter profiliert. Doch die Gedankengänge, mit denen die Zweifel des ersten Gesangs beseitigt werden, treten deutlich hervor und werden zudem in Inhaltsangaben, die Tiedge den Gesängen vorangestellt hat, pointiert zusammengefasst. Die wichtigste Argumentation stützt sich auf den Glauben an die Tugend, das Bewusstsein der moralischen Pflicht und das Gewissen, die jedem Menschen in die Seele gegeben seien. Der Mensch ist mit einem Sinn für Tugend und Pflicht ausgestattet, den er nicht der Erfahrung entnommen haben kann. Er stellt fest, dass er die Forderungen dieses inneren Gebots im Leben, wo er vielfältigen Einwirkungen des Schicksals ausgesetzt ist, nur bedingt genügen kann, und er muss ferner feststellen, dass die Tugend in diesem Leben vielfach nicht belohnt wird. Alle diese Beobachtungen berechtigen die Vernunft zu dem Schluss, dass es einen Gott gibt, der dem Menschen den Sinn für Tugend verliehen hat, und dass den Menschen nach dem Tod ein jenseitiges Leben erwartet, in dem die Tugend belohnt wird und in dem der Mensch die Vollendung erreichen kann.240 Ähnliche Argumentationen 239 Tiedge, Urania, S. III (Vorrede). 240 Vgl. für Formulierungen dieses Arguments etwa: II, S. 43–45, 48 f.; V, S. 152 f., 155 f., 166 f. – In der Inhaltszusammenfassung zum vierten Gesang wird dieses zentrale Argument so formuliert: „Als das sicherste Unterpfand der Fortdauer unsers Wesens, ward uns der Glaube an eine,

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entwickeln die Gesänge der Urania im Ausgang vom menschlichen Streben nach Wahrheit sowie dem Wunsch nach Glückseligkeit. Auch sie berechtigen – da sie fest in die menschliche Seele gepflanzt sind, aber im Leben keine vollständige Entfaltung erfahren können – die Vernunft zu der Annahme eines Gottes und eines jenseitigen Lebens.241 Auf analoge Weise wird schließlich auch begründet, dass der Mensch über Freiheit oder einen „Freiheitssinn“ (VI, S. 191) verfügt.242 Tiedge führt in Urania keine älteren oder neueren Philosophen als Gewährsleute für seine Lehren an, und in seiner posthum erschienen Autobiographie erklärt er, das Gedicht beruhe auf Überlegungen zum Thema Freiheit und Unsterblichkeit, die er eigenständig entwickelt habe.243 Bouterwek charakterisierte aber 1819 Urania als ein Gedicht, das sich größtenteils an „Kant’s Grundsätzen“ orientiere, und gab damit vermutlich eine verbreitete Auffassung wieder.244 Auch in einer 1810 erschienenen Parodie auf Tiedges Gedicht, die

über die physische Welt erhabne, Ordnung sittlicher Verhältnisse gegeben, der Glaube an die Tugend; dieser Glaube ist tief in die Vernunft des Menschen gegründet, und selbst in unsre Gefühle legte der Urheber unserer Natur einen Sinn, welcher zur Tugend hinzieht, deren Vollendung in dem gegenwärtigen Daseyn nicht errungen werden kann. Das weiseste Leben blickt unbefriedigt auf die Vergangenheit zurück: Es muß eine Unsterblichkeit seyn, welche unsern Geist der sittlichen Vollendung, dem Zweck unsers Lebens näher bringt.“ (S. 104; 4. Gesang, „Inhalt“) 241 Vgl. zum Wahrheitsstreben: III, S. 86–88, 96 f. 242 Die Annahmen über Gott und Unsterblichkeit, die auf diese Weise begründet werden, haben zunächst einmal keinen spezifisch christlichen Charakter und werden auch im gesamten Gedicht kaum ausdrücklich in einer dezidiert christlichen Weise ausformuliert oder an christliche Traditionen angeschlossen. Im fünften Gesang ist allerdings erst von Sokrates und dann vom „größre[n] Sokrates der Christen“ die Rede (V, S. 170). Diese Formulierung drückt ein ambivalentes Bekenntnis zum Christentum aus, da sie einerseits Jesus einen höheren Rang zuweist als Sokrates, aber beide Personen doch in dieselbe Kategorie einordnet; dies kann so gedeutet werden, dass Jesus hier primär als Verkörperung und Lehrer von Weisheit und Tugend gesehen wird, nicht als Sohn Gottes und Erlöser. 243 Vgl. Christoph August Tiedge, C. A. Tiedge’s Leben und poetischer Nachlaß. Karl Falkenstein (Hrsg.). Erster Band: Tiedge’s Jugend und Mannesalter, Leipzig 1841, S. 81–91. 244 Vgl. Bouterwek, Geschichte der Poesie und Beredsamkeit. Bd. 11, S. 437 f.: „Neben die eigentlichen Lehrgedichte sind hier nur noch zu stellen Die Gesundbrunnen, in vier Gesängen, von dem geistvollen und sehr gebildeten Arzte Valerius Wilhelm Neubeck, und die Urania, in sechs Gesängen, von Tiedge, der schon oben unter den lyrischen Dichtern genannnt [sic] ist. Beide Werke haben mehr poetischen Werth, als fast alle deutschen Lehrgedichte aus der vorigen Periode zusammengenommen; aber beide haben auch so viel Lyrisches, daß sie zu den eigentlichen Lehrgedichten nicht gezählt werden dürfen. Tiedge’ns Urania, über Gott, Unsterblichkeit und Freiheit, größten Theils nach Kant’s Grundsätzen, nennt sich selbst ein lyrischdidaktisches Gedicht. Eine gewisse Verkünstelung wird dem Verfasser vorgeworfen.“ – Kern

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Rhinoceros. Ein lyrisch-didaktisches Gedicht in Einem Gesange betitelt war, wird der Verfasser von Urania als ein „Kantianer“ bezeichnet.245 Der Sprecher dieses Gedichts ist mit einer überdurchschnittlich langen Nase ausgestattet, die ihn zunächst glücklich macht, bis er einen Schnupfen bekommt, nicht mehr riechen kann und wegen seiner Nase verspottet wird. Als er zu verzweifeln droht, gerät ihm die Schrift „Kritik | Der rein’ und praktischen Vernunft“ eines geisterhaften Philosophen namens Kant in die Hände, bei deren Lektüre er auf wunderbare Weise eine neue, freie, „philosophisch-transcendentale Nase“ und als Zugabe auch gleich Gott, Freiheit und Unsterblichkeit erhält.246 Tatsächlich weisen die Gedankengänge der Urania vom zweiten bis zum sechsten Gesang erhebliche Überschneidungen mit der Religionsphilosophie Kants auf. Die drei im Titel genannten Begriffe Gott, Freiheit und Unsterblichkeit lassen sich auf die drei Postulate der praktischen Vernunft beziehen, die Kant in seiner zweiten Kritik entwickelt hatte.247 Vor allem aber kann das zentrale Argumentationsmuster von Tiedges Gedicht als eine Adaption der einschlägigen Darlegungen Kants gedeutet werden, als eine Adaption freilich, die mit beträchtlichen

bezeichnet es in seiner Dissertation von 1895 als eine verbreitete Ansicht, dass Tiedge die Gedanken seiner Urania von Kant bezogen habe (vgl. Kern, Beiträge zur Charakteristik des Dichters Tiedge, S. 15). Kern zufolge ist dies aber „eine irrige Ansicht“ (ebd.); der entscheidende Einflussgeber sei vielmehr Schiller gewesen (vgl. ebd., S. 15 sowie S. 13–43 allgemein zur Bedeutung Schillers für Tiedge). Die Kantischen Gedanken, die Urania enthält, seien solche, die Tiedge auch bei Schiller habe finden können. – Neben Kant sind auch Jacobi und Fichte als philosophische Anreger der Urania genannt worden; vgl. dazu, mit Verweisen auf entsprechende Darstellungen, ebd., S. 48 f. 245 [Friedrich Gottlob Wetzel], Rhinoceros. Ein lyrisch-didaktisches Gedicht in Einem Gesange, Nürnberg 1810, S. 29 f.: „Mir bleibt ja noch das weitre Thun und Lassen, | Wird mir’s zu ernsthaft, lenk’ ich wieder ein; | Ein Kantianer weis sich schon zu fassen, | Kann ohne Gott und mit Gott seyn!“ Vgl. auch ebd., S. 68 f.: „Ich existire nur, wenn mich die Leute lesen – | Ein bloßes Echo von – Herr Kant!“ – Zu Rhinoceros vgl. knapp: Kern, Beiträge zur Charakteristik des Dichters Tiedge, S. 9. 246 Vgl. [Wetzel], Rhinoceros; die Rettung des Protagonisten durch Kants Schrift auf S. 106–136, der Titel „Kritik | Der rein’ und praktischen Vernunft“ auf S. 109; der Ausdruck „philosophischtranscendentale Nase“ in der vorangestellten, nicht paginierten Inhaltszusammenfassung. 247 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Gesammelte Schriften (AkademieAusgabe), Bd. 5; zu den drei Postulaten der reinen praktischen Vernunft allgemein A 238, im Einzelnen A 198–266. Vgl. zum Folgenden ebd. sowie als zusammenfassende Darstellungen dieses Teils der Kantischen Religionsphilosophie: Allen W. Wood, „Rational theology, moral faith, and religion“, in: Paul Guyer (Hrsg.), The Cambridge Companion to Kant, Cambridge 1992, S. 394–416, vor allem S. 401–405; Frederick C. Beiser, „Moral faith and the highest good“, in: ebd., S. 588–629; Friedo Ricken, „Die Postulate der reinen praktischen Vernunft (122–148)“, in: Otfried Höffe (Hrsg.), Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Berlin 2002, S. 187–202.

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Vereinfachungen und Umakzentuierungen einhergeht. Kant vertrat in der Kritik der praktischen Vernunft die Auffassung, dass ein rational handelnder Mensch als letztes Ziel seines Handelns das ‚höchste Gut‘ ansehen müsste; das höchste Gut setzt sich, verkürzt gesagt, aus vollkommener Tugend und aus einer der Tugendhaftigkeit des einzelnen Menschen angemessenen Glückseligkeit zusammen. Dieser Mensch muss ferner das Ziel, das die Vernunft seinem Handeln setzt, für erreichbar halten; da das höchste Gut aber im Diesseits nicht verwirklicht werden kann, ist er berechtigt, an die Existenz eines höheren Wesens und an ein Leben nach dem Tode zu glauben. Reformulierungen dieser Argumentation finden sich in der Kritik der Urteilskraft und in der Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Die Anklänge an Gedanken und Formulierungen Kants sind in Urania hinreichend deutlich, um die Vermutung zu rechtfertigen, dass Tiedge sich unter anderem an seiner Philosophie orientiert hat, auch wenn er dessen Argumentation stark vereinfacht hat.248 Ob er die Schriften Kants selbst näher studierte oder sie nur aus zweiter Hand kannte, ist kaum auszumachen.249 Mit Blick auf die Anreger der Urania ist aber in jedem Fall zu bedenken, dass Kants sogenannter moralischer Gottesbeweis auch durchaus traditionelle Gedankengänge enthält, die mit originellen Konzepten und Begründungswegen verbunden werden. Argumentationen, die in wesentlichen Punkten denjenigen Kants ähneln, finden sich in Spaldings bereits mehrfach erwähnter Schrift Die Bestimmung des Menschen (1748).250 Der Text dieses Buchs war ab der siebten Auflage von

248 Um nur ein Beispiel für diese Vereinfachungen zu nennen: Bei Kant werden die Annahmen Gottes, der Freiheit und der Unsterblichkeit als Postulate konzipiert, die aufzustellen und an denen sich zu orientieren vernünftig ist, die aber dennoch Postulate bleiben und nicht bewiesen werden können. Von diesem eigentümlichen epistemischen Status bleibt in Tiedges Urania so gut wie nichts übrig; dass es Gott, Unsterblichkeit und Freiheit gibt, wird hier als beweisbar und gewiss hingestellt. 249 Kants sogenannter moralischer Gottesbeweis und seine Verknüpfung von Ethik und Religionsphilosophie ist etwa von dem Jenenser Theologen Johann Wilhelm Schmid zustimmend rezipiert und mit christlichen Lehren kombiniert worden. Zu Schmid vgl. Friedrich Wilhelm Graf, [Art.] „Schmid, Johann Wilhelm“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Begründet und hrsg. von Friedrich Wilhelm Bautz. Fortgeführt von Traugott Bautz. Bd. 9. Herzberg 1995, Sp. 391–428. 250 Zu Spaldings Buch vgl. Beutel, „Einleitung“. – In der Forschung ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass die Begründung des Unsterblichkeitsglaubens in Spaldings Schrift auf Kant ‚vorausweise‘ beziehungsweise Ähnlichkeiten zur Begründung des Unsterblichkeitspostulats bei Kant besitze. Vgl. ebd., S. XXXIII; Clemens Schwaiger, „Zur Frage nach den Quellen von Spaldings Bestimmung des Menschen. Ein ungelöstes Rätsel der Aufklärungsforschung“, in: Aufklärung, 11/1996, 1, S. 7–19, hier S. 16. Zum Thema der Bestimmung des Menschen bei Kant vgl. umfassend: Reinhard Brandt, Die Bestimmung des Menschen bei Kant.

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1763 in Kapitel unterteilt, deren Überschriften wie folgt lauteten: „Sinnlichkeit“; „Vergnügen des Geistes“, „Tugend“; „Religion“; „Unsterblichkeit“.251 In Urania zeigen die Gesänge zwei bis sechs zwar nicht einen sich stufenweise entwickelnden Gedankengang, aber die Überschriften mögen gleichwohl an Spaldings Buch angelehnt sein. Eine Abweichung der Urania von Kants Religionsphilosophie, die zugleich von einer Anlehnung an Spaldings Bestimmung des Menschen zeugen könnte, verdient eigens hervorgehoben zu werden, da sie für die Textstruktur des Gedichts von großer Relevanz ist: In Urania werden die Existenz Gottes und das Weiterleben nach dem Tode einerseits als Inhalt vernünftiger Schlussfolgerungen präsentiert, andererseits aber immer wieder auch als Gegenstand menschlicher ‚Ahnungen‘ angesprochen werden, wobei mit Ahnungen eine Art von gefühlsbetonten Erlebnissen gemeint ist.252 Sofern Tiedge sich bei Integration dieser Ahnungen in den Gedankengang von Urania an philosophischen oder theologischen Gewährsleuten orientiert hat, käme dafür etwa Spalding mit der genannten Schrift in Frage. Bei Kant hingegen sind die Annahmen Gottes und der Unsterblichkeit ausschließlich Ergebnisse einer vernünftigen Argumentation. Auch Tiedge deutet an, dass die rationalen Begründungen den primären oder entscheidenden Zugang zu diesen Überzeugungen darstellen, etwa indem er sie in den Inhaltsangaben pointiert zusammenfasst und ihren argumentativen Charakter hervorhebt. Die Gefühls- oder Ahnungserlebnisse, die gewissermaßen auf dasselbe Ergebnis hinauslaufen, erscheinen so durch die streng vernünftigen Schlüsse abgesichert. Für die Faktur des Gedichts insgesamt aber ist diese Abweichung von Kants Darlegungen von großer Bedeutung, denn diese Ahnungserlebnisse werden von Tiedge häufig breit ausgestaltet und als Anlässe für eine extensive Inszenierung von Gefühlen und Stimmungen genutzt.

2., unveränd. Aufl. Hamburg 2009; zu Spalding und der an seine Schrift anschließenden Diskussion um die Bestimmung des Menschen vgl. ebd., S. 61–102. 251 Vgl. die synoptische Wiedergabe der zweiten bis elften Auflage: Spalding, Kritische Ausgabe. 1. Abteilung. Band 1: Die Bestimmung des Menschen (11748; [. . .]; 111794). Albrecht Beutel [u. a.] (Hrsg.), S. 41–305. 252 In Spaldings Schrift stützt sich das Ich, dessen Reflexion in der ersten Person Singular wiedergegeben wird, beim Erschließen seiner Bestimmung zwar nicht auf Ahnungen, aber auf „Empfindungen“, „Triebe“ und „Neigungen“, die es an sich selbst wahrnimmt. Vgl. Spalding, Betrachtung über die Bestimmung des Menschen [1748], in: Ders., Die Bestimmung des Menschen (11748–111794), S. 1–29, hier etwa S. 7 („Triebe und Empfindungen“), 8 („Empfindungen“), 10 („Neigungen“). Vgl. auch ebd., S. 20 f.: „Ich spüre Fähigkeiten in mir, die eines Wachsthums ins Unendliche fähig sind, und die auch ausser der Verbindung mit diesen Körpern sich nicht weniger äussern können.“

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5.2 Die Verbindung didaktischer und ‚lyrischer‘ Strukturen Tiedges Urania ist in der Forschung verschiedentlich als ein Beleg für die „Lyrisierung der Didaktik“ in der Zeit um 1800 angeführt worden, was angesichts des Untertitels „ein lyrisch-didactisches Gedicht in sechs Gesängen“ auch naheliegt. Die Rede von einer Lyrisierung wurde dabei meist anhand der Begriffe ‚Emotionalisierung‘ und ‚Subjektivierung‘ expliziert.253 Dieser Begriff der Lyrisierung ist allerdings nicht unproblematisch, insofern er Annahmen über ein Wesen der Lyrik oder des Lyrischen voraussetzt und dieses Wesen (unter anderem) mit einem hohen Gefühlsanteil und dem Ausdruck von Subjektivität identifiziert. Obwohl es sich hierbei um eine traditionsreiche und verbreitete Lyrikauffassung handelt, lässt sich die Annahme, dass diese Eigenschaften für die Lyrik generell charakteristisch seien, mit guten Gründen bezweifeln.254 Aus diesem Grund soll der Begriff ‚Lyrisierung‘ als wissenschaftlicher Analysebegriff hier vermieden oder nur zurückhaltend gebraucht werden. Dass aber Tiedge selbst seine Urania in der ersten Auflage als ein „lyrisch-didactisches Gedicht“ bezeichnet hat, ist dennoch offensichtlich für die Interpretation relevant, und es gilt zu fragen, was Tiedge und die zeitgenössischen Leser als die ‚lyrischen‘ und ‚didaktischen‘ Eigenschaften des Gedichts aufgefasst haben könnten. Als lyrische Züge, so sei hier vorweggenommen, lassen sich vor allem die Ähnlichkeiten zu den Gattungen der Hymne und der Elegie werten, die in vielen Abschnitten der Urania zu beobachten sind. Die partielle Annäherung an diese lyrischen Gattungen geht einher mit einer verstärkten Emotionalisierung, die das Gedicht von vielen Lehrgedichten der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts abhebt und es in eine Reihe mit Youngs Night Thoughts und Creuz’ Gräbern stellt. Die Emotionen, die bei Tiedge vorzugsweise thematisiert und präsentiert werden, sind dabei den in Youngs und Creuz’ Gedichten dominierenden zwar verwandt, besitzen aber auch deutliche spezifische Züge. Dass die Emotionalisierung allerdings mit einer Subjektivierung der Didaxe einhergehe, kann mit Blick auf Urania noch entschiedener als mit Bezug auf die Lehrgedichte Creuz’ verneint

253 Vgl. Todorow, Gedankenlyrik, S. 69; vgl. auch ebd., S. 68. 254 Zur Geschichte des Lyrikbegriffs und der Lyriktheorie vgl. die Überblicke bei Rüdiger Zymner, „Theorien der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert“, in: Dieter Lamping (Hrsg.), Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011, S. 22–34, hier S. 22–25; Ludwig Völker, „Lyrik“, in: Ulfert Ricklefs (Hrsg.), Das Fischer Lexikon Literatur. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1996, S. 1186–1222.

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werden. Die Form des Gedichts ist aber durch eine Tendenz der Verklärung oder Idealisierung geprägt, die für Tiedge ebenfalls zu seinem ‚lyrisch-didaktischen‘ Charakter beigetragen haben mag. Aber bevor die Züge von Urania in den Blick genommen werden, die Tiedge als ‚lyrisch‘ begriffen haben dürfte, sind die Anleihen bei der didaktischen Dichtung zu betrachten, auf die der Untertitel ebenfalls hinweist. Zum eigentümlichen Charakter von Urania gehört es, dass in dem Gedicht zwar einerseits die Darstellung von Gefühlserlebnissen und Stimmungen einen sehr breiten Raum einnimmt und oft zu dominieren scheint, andererseits aber auch einige besonders auffällige Eigenschaften des traditionellen Lehrgedichts geradezu ostentativ realisiert werden. So sind die Bezüge des Gedichts zur Tradition des Lehrgedichts schon durch die äußere Form und den Titel offenkundig: Indem es eine philosophische Thematik, die bereits im Titel durch die Trias „Gott, Unsterblichkeit und Freiheit“ angekündigt wird, im Rahmen von sechs Gesängen mit insgesamt etwa 2.700 Versen erörtert, verwirklicht das Gedicht die traditionelle ‚Großform‘ des Lehrgedichts, wie sie im achtzehnten Jahrhundert etwa durch Wielands Die Natur der Dinge vertreten wurde. Auch die Paratexte, mit denen Urania versehen ist, sind für das didaktische Gedicht des Aufklärungsjahrhunderts charakteristisch: Tiedges Gedicht bietet zum einen eine ausführliche Inhaltszusammenfassung in Prosa zu jedem Gesang, zum anderen einen Apparat mit Anmerkungen. In den Inhaltszusammenfassungen werden – in der ersten Auflage – die Gedankengänge sogar in Schritte unterteilt, die durchnummeriert und typographisch voneinander abgesetzt präsentiert werden. Im Gedichttext selbst zeigt sich der Bezug zum Lehrgedicht vor allem in Passagen, die in abstrakten Begriffen allgemeine Aussagen über Gott, das jenseitige Leben, die Vernunft und die Tugend formulieren. Häufig spitzt Tiedge diese Aussagen zu Sentenzen zu, von denen einige durch gesperrten Druck hervorgehoben werden. Sie lauten etwa: „Gott ist, weil eine Tugend ist“ (S. 49); „Unendlichkeit kann nur das Wesen ahnen, | Das zur Unendlichkeit erkoren ist“ (S. 81).255 Zudem werden diese Lehren meist durch Argumentationen gestützt, die allerdings häufig eher skizzenhaft ausfallen und in vielen Fällen das oben wiedergegebene Grundargument variieren. Als Beispiel hierfür können die fol-

255 Vgl. hierzu auch: Albertsen, Das Lehrgedicht, S. 386. Albertsen macht hier bei Tiedge „Kernsätze“ aus, „wie sei bei Pope vorkommen“ (ebd.), sieht in diesen Sentenzen also ein formales Merkmal, das auf die Lehrgedichte des achtzehnten Jahrhunderts zurückweist.

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genden Verse aus dem fünften Gesang dienen, der die Überschrift „Tugend“ trägt: Es muß ein höchster Geist den Geist der Tugend ehren, Die er so himmlisch uns entgegen führt; Wenn nicht umsonst der Sinn für Recht so tief uns rührt; Zu einer höhern Welt muß noch der Mensch gehören: Wenn um das Leben nicht das Daseyn uns betrügt; Und die Vernunftwelt ist: wenn die Vernunft nicht lügt.

[V, S. 155 f.]

Die Möglichkeit, dass ‚die Vernunft lügen‘ könnte oder dass tief empfundene Bedürfnisse nach Wahrheit und Gerechtigkeit den Menschen ‚umsonst‘ rühren, wird im Gedicht vielfach und auch im Anschluss an diese Verse negiert; damit erscheint die Konklusion, dass der Mensch noch ‚zu einer höhern Welt gehören muss‘, als nachgewiesen. Neben solchen argumentativen Passagen finden sich in Urania auch allgemeine Aussagen über die bestimmenden „Mächte“ des menschlichen Handelns, wie sie ebenfalls als charakteristisch für Lehrgedichte gelten können: „Zwei Mächte sind im Menschen tief verschlungen, | Die der Verstand selbst anerkennen muß: | Die Tugend dringt auf Opferungen, | Und der Genußtrieb auf Genuß.“ (V, S. 145 f.) Ein weiteres für Lehrgedichte typisches Textmuster, das ebenfalls in Urania Verwendung findet, besteht aus der Abfolge allgemeiner Behauptungen und unterstützender Exempel. So werden im fünften Gesang etwa die Aussagen über Tugend und Laster mithilfe historischer Beispielfiguren illustriert (vgl. V, S. 163–166). Die formale Gestaltung von Urania erscheint somit in vielen Hinsichten als bestimmt durch das Bestreben, einen philosophischen Lehrgehalt möglichst prägnant und fasslich darzubieten, und sie bedient sich dabei zahlreicher Mittel, die für das Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts charakteristisch waren. Zugleich ist aber unverkennbar, dass Tiedges Gedicht das traditionelle Muster abwandeln sollte. Einige der auffälligen Modifikationen dürften das Gedicht für Tiedge und das zeitgenössische Publikum der lyrischen Dichtung angenähert oder ihm einen ‚lyrischen‘ Charakter gegeben haben.256 In der Dichtungstheorie des späten 18. Jahrhunderts war weiterhin die Annahme verbreitet, dass die lyrische Dichtung vor allem durch ihre Sangbarkeit, ihre Nähe zur Musik definiert

256 Zum Lyrikbegriff und zu Ansätzen einer Lyriktheorie in Poetiken des späten 18. Jahrhunderts vgl. Zymner, „Theorien der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert“, S. 22–25; Völker, „Lyrik“, S. 1190–1196.

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sei.257 Zu den lyrischen Zügen der Urania gehörte daher für Tiedge selbst wie für zeitgenössische Leser vermutlich auch das Streben nach einem fließenden, harmonischen Sprachduktus, das im Gedicht deutlich hervortritt. Kennzeichnend hierfür sind etwa die meist regelmäßig durchgehaltenen Metren und Reimschemata sowie die weitgehende Vermeidung harter Zäsuren. Dass die Urania sich durch eine musikalische Verssprache auszeichne, konzedierten auch Leser, die insgesamt ein kritisches Urteil über das Gedicht fällten.258 Der Komponist Friedrich Heinrich Himmel veröffentlichte denn auch schon 1804 seine Gesänge aus Tiedge’s Urania in Musik gesetzt,259 und Ludwig van Beethoven vertonte zweimal eine Partie aus dem ersten Gesang des Gedichts (jeweils unter dem Titel „An die Hoffnung“).260 Von einer Lyrisierung kann man mit Blick auf Tiedges Urania aber auch in dem Sinne sprechen, dass das in seiner Makrostruktur deutlich am Lehrgedicht orientierte Gedicht sich in seinen Teilen vielfach Gattungen der lyrischen Dichtung annähert. Zu diesen Gattungen werden um 1800 namentlich Ode, Hymne, Elegie und Lied gerechnet.261 Unter einer ‚Annäherung‘ an eine dieser

257 Vgl. Zymner, „Theorien der Lyrik seit dem 18. Jahrhundert“, S. 23; Völker, „Lyrik“, S. 1189 f. 258 Bezeichnend hierfür ist etwa das Urteil Gustav Partheys, des Enkels von Friedrich Nicolai, der Tiedge und seine Förderin Elisa von der Recke auch persönlich kennen lernte. Von der Reckes Vorliebe für Urania sei ihm und den Angehörigen seiner Generation unerklärlich gewesen, so Parthey in seinen Lebenserinnerungen; er fährt fort: „Der große Erfolg, den die Urania am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland erlangte, beruht hauptsächlich auf der Harmonie der Klänge, der nicht leicht ein empfängliches Ohr sich verschließen kann, auf dem Wohllaute des rhythmischen Ganges und dem durchweg musikalischen Baue der Verse.“ (Gustav Parthey, Jugenderinnerungen. Handschrift für Freunde. Neu herausgegeben (getreu dem Original) und mit einer Einleitung sowie Anmerkungen versehen von Ernst Friedel. [Zwei Bände.] Berlin 1907, Bd. 2, S. 2) 259 Vgl. Friedrich Heinrich Himmel, Gesänge aus Tiedge’s Urania in Musik gesetzt. Op. 18. Oranienburg 1804. 260 Vgl. für das Lied „An die Hoffnung“ (op. 32) Ludwig van Beethoven, Werke. Hrsg. vom Beethoven-Archiv Bonn unter Leitung von Joseph Schmidt-Görg. Abteilung XII. Band 1: Lieder und Gesänge mit Klavierbegleitung. Hrsg. von Helga Lühning. München 1990, S. 70 f.; für Beethovens zweite Tiedge-Vertonung unter diesem Titel (op. 94) ebd., S. 142–147. Beethoven verwendete für die zwei Vertonungen wohl die zweite beziehungsweise die vierte Auflage von Urania (1803 bzw. 1808); in der ersten Auflage war der von ihm vertonte Text noch nicht vollständig erhalten. Vgl. hierzu und zu den Änderungen zwischen der ersten und zweiten Vertonung: Ludwig van Beethoven, Werke. Hrsg. vom Beethoven-Archiv Bonn unter Leitung von Joseph Schmidt-Görg. Abteilung XII. Band 1: Lieder und Gesänge mit Klavierbegleitung. Kritischer Bericht. Hrsg. von Helga Lühning. München 1990, S. 29, 65 f. 261 In Charles Batteux’ Einleitung in die schönen Wissenschaften, übersetzt von Karl Wilhelm Ramler, werden im Teil über die lyrische Poesie die Ode, die Elegie und das Lied behandelt. Hymnen werden als eine Art der Ode angeführt. Vgl. [Charles Batteux], Einleitung in die

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Gattungen soll hier die Verwendung charakteristischer Redehaltungen, Stilmittel oder Metren verstanden werden. Solche Anleihen bei lyrischen Gattungen, und zwar konkret bei Hymne und Elegie, lassen sich in Urania ähnlich gut nachweisen wie die Anschlüsse an die Tradition des Lehrgedichts. Denn wenngleich sich immer wieder abstrakte Behauptungen sowie skizzenhafte Argumentationen finden, so werden doch weit ausführlicher die Gefühle und Stimmungen ausgemalt, die mit den Zweifeln einerseits und ihrer Überwindung andererseits einhergehen, und diese Abschnitte erscheinen aufgrund ihrer Redehaltung, Wortwahl und Bildlichkeit oft als verwandt mit lyrischen Gattungen wie insbesondere Elegie und Hymne. Stark elegische Züge hat vor allem der erste Gesang, der die von den Zweifeln hervorgerufene Melancholie, Trauer und qualvolle Ungewissheit artikuliert. Immer wieder tritt der Sprecher hier als ein einsamer Wanderer oder Suchender auf, der in einer „dunkeln Höhle“ (I, S. 15) nach einem Ausgang ins Freie tastet oder auf nächtlicher „Haide“ (I, S. 10) seine Fragen an den Sternenhimmel richtet: Gott! ein Gott! ach, irrend such ich ihn Draußen in der blau gewölbten Halle Seines Tempels such’ ich seine Spur; Suche Hoffnung, Trost und Ruh und falle Weinend in die Arme der Natur. An die Sterne heften meine Klagen Manches tiefe seufzende Warum? Keine Antwort kommt zu meinen Fragen; Alles schweigt, die Mitternacht ist stumm.

[I, S. 9 f.]

In der vierten Auflage von Urania wurde der Schlussabschnitt des ersten Gesangs in der Inhaltszusammenfassung ausdrücklich als „Schlußelegie“ bezeichnet.262 Der Gattung der Hymne nähern sich hingegen viele Passagen der folgenden Gesänge, in denen der Sprecher auf emphatische Weise Freude und Ehrfurcht zum Ausdruck bringt. Die Freude wird durch die Einsichten über Gott, die Bestimmung des Menschen und die Unsterblichkeit ausgelöst, die Ehrfurcht des Sprechers gilt der Größe und Allgegenwart Gottes, in vielen Passagen aber

Schönen Wissenschaften. Nach dem Französischen des Herrn Batteux, mit Zusätzen vermehret von Karl Wilhelm Ramler. Dritter Band. Vierte und verbesserte Aufl. Leipzig 1774, S. 3–122. Vgl. auch [Engel], Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten, S. 277: „Man hat der lyrischen Dichtungsarten mehrere: Ode, Lied, Elegie.“ Als „Hymnen oder geistliche Oden“ werden nach Engel lyrische Gedichte bezeichnet, „die der Verherrlichung des höchstens [sic] Wesens geweyht sind“ (ebd., S. 314). 262 C[hristoph] A[ugust] Tiedge, Urania, über Gott, Unsterblichkeit und Freiheit. Vierte, verbesserte Aufl. Mit einem Titelkupfer. Reutlingen 1810, S. 12.

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auch dem Menschen. Nachdem im zweiten Gesang das zentrale Argument für die Existenz Gottes erstmals entwickelt wurde, beginnt der dritte Gesang wie folgt: Es ist ein Gott! O Freund, der heilige Gedanke Durchstrahlt die Nacht und drängt durch Zweifel sich hervor, Erhöh’t, vergöttlicht uns, durchbricht die enge Schranke Der Sinnlichkeit, und hebt uns über uns empor. Es ist ein Gott! [. . .]

[III, S. 69]

Die folgenden Verse verkünden zunächst in begeisterten Ausrufen, dass Gott die Kometen und Sterne, die sich in der „Unendlichkeit der großen Weltenferne“ bewegen, aber auch das Gras unter den Füßen des angesprochenen Du sowie jeden „Hauch des Frühlings“ mit „Lebenskraft“ fülle (III, S. 70), bevor der Sprecher die Stellung des Menschen innerhalb der Natur bestimmt: Horch hin! und nirgend ist so todt die tiefste Stille, Es wehet leis’ in ihr ein Athemzug empor: Und hoch aus dieser Fluth der großen Lebensfülle Ragt, wie das Haupt, der Mensch empor.

[III, S. 71]

Wie im ersten Gesang die Zweifel des Sprechers wiederholt in kurzen narrativen Partien vorgeführt werden, so werden in den folgenden Gesängen mehrfach Ahnungserlebnisse oder Erkenntnismomente des Sprechers gestaltet,263 und diese Passagen münden häufig in Beschwörungen der Güte Gottes, der Größe des Menschen oder der Schönheiten des Jenseits, die Charakteristika der Hymne aufweisen.264 Im zweiten Gesang etwa schildert der Sprecher ausführlich einen nächtlichen Sternenhimmel und die Gefühle und Gedanken, die er im Betrachter auslöst (vgl. II, S. 54–59); im dritten Gesang lässt der Sprecher das angeredete Du von den Höhen des Jura in die Weite blicken und Ahnungen von der Unsterblichkeit erleben: Verlaß den Laubensitz, voll abgefallner Blätter! Trit auf den Jura hin! vernimm dort die Natur,

263 Albertsen spricht mit Bezug auf den vierten Gesang von „dogmatische[n] Visionen“, aus denen der „Dichter“ – gemeint ist offenbar: der Gedichtsprecher – sein „Wissen“ beziehe: Albertsen, Das Lehrgedicht, S. 385. 264 In der vierten Auflage von Urania wurden etwa die Schlusspassagen des zweiten, vierten, fünften und sechsten Gesangs in den vorangestellten Inhaltsangaben als „Hymnus“ bezeichnet (vgl. Tiedge, Urania, über Gott, Unsterblichkeit und Freiheit, 4. Aufl. 1810, S. 30, 74, 100, 126). – Albertsen bezeichnet diese Schlussabschnitte sowie andere, besonders emphatische Partien als „lyrische Kulminationen“ (Albertsen, Das Lehrgedicht, S. 383) oder „hymnische Kulminationen“ (ebd., S. 384).

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Dieß große Lied von Gott, dieß Heldenlied für Götter: Und fühle deine eigne Götterspur! Wohin das Auge blickt, wie sich die Aussicht weitet, Wir ahnen einen tiefen Sinn; [. . .]; Es spiegelt in dem Geist, der so erhaben waltet, Weissagend mehr als Eine Welt sich ab, Wenn sich das Heiligthum der Nacht vor dir entfaltet, Und weihend steigt ein Genius herab, An deine Hoheit dich zu mahnen, Zu der du feierlich berufen bist. Unendlichkeit kann nur das Wesen ahnen, Das zur Unendlichkeit erkoren ist.

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[III, S. 80 f.]

Wie hier, so wird auch an anderen Stellen in feierlichen Formulierungen das Hinabsteigen eines Genius oder Geistes geschildert, der die beruhigenden Wahrheiten mitteilt.265 Da die Rede von einer ‚Lyrisierung‘ der Didaktik in der Forschung gelegentlich als Emotionalisierung und Subjektivierung expliziert wurde,266 ist auch zu fragen, ob die Annäherung an lyrische Gattungen an Urania die so bezeichneten Veränderungen mit sich bringt. Es wurde bereits festgestellt, dass in Tiedges Gedicht die Gefühle und Empfindungen des Sprechers ausführlich präsentiert und thematisiert werden, ausführlicher, als dies in den Lehrgedichten Hallers oder Popes der Fall ist.267 In diesem Sinne kann man von einer Emotionalisierung der Didaktik sprechen. Vergleicht man Urania unter diesem Gesichtspunkt mit Youngs Night Thoughts oder Creuz’ Lehrgedichten, so fällt als Besonderheit von Tiedges Gedicht auf, dass sowohl die traurigen als auch die freudigen Emotionen fast immer eine maßvolle oder gedämpfte Intensität besitzen, sich also kaum zu abgrundtiefer Verzweiflung oder zur Ekstase steigern. Ferner vermeidet Tiedge weitestgehend die Darstellung von emotional getönten Haltungen wie Zorn, Verachtung oder Bitterkeit, obwohl die häufigen Thematisierungen des Lasters hierzu durchaus Gelegenheit bieten. Eine verstärkte Emotionalisierung kann für die Urania also beobachtet werden, eine Subjektivierung hingegen kaum: In dem Gedicht wird zwar eine Sprecherfigur eingeführt, deren jugendliche Freuden und Hoffnungen von quälenden

265 Vgl. III, S. 98; IV, S. 108–110. 266 Vgl. Todorow, Gedankenlyrik, S. 69; vgl. auch ebd., S. 68. 267 Nach Kemper steht allerdings auch schon in Hallers Unvollkommenen Gedicht über die Ewigkeit das „subjektive, emotionale Engagement des lyrischen Ichs“ im Vordergrund, so dass man hier schon erste Ansätze zu einer ‚Lyrisierung der Didaxe‘ ausmachen könne (Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 5/II: Frühaufklärung, S. 152; vgl. auch ebd., S. 45).

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Zweifeln abgelöst wurden und die dann zu einem rational befestigten Glauben zurückgeführt wird. Doch diese Figur wird kaum als Person profiliert, und vor allem werden die Einsichten über Tugend, Freiheit und Unsterblichkeit durchgehend als objektive, allgemeingültige Wahrheiten präsentiert. Auch die Ahnungen, Sehnsüchte und seelischen Bedürfnisse, die im Gedicht ausführlich dargestellt werden und auf die sich die Argumentation wesentlich stützt, werden als Wesenszüge der menschlichen Natur aufgefasst, die vom göttlichen Anteil im Menschen zeugen und insofern eine objektive Dignität besitzen. Schließlich ist ein weiteres Bündel von Stilzügen hervorzuheben, das für Tiedge ebenfalls zum lyrischen Charakter des Gedichts beigetragen haben könnte. Urania ist durchgehend auf einen hohen, ‚idealen‘, feierlichen Ton gestimmt. Das Wort ‚feierlich‘ gehört zu den exzessiv verwendeten Lieblingsvokabeln des Sprechers, ähnlich wie die Ausdrücke ‚heilig‘, ‚hoch‘ und ‚erhaben‘.268 In den eingestreuten narrativen Episoden sowie in Vergleichen und Metaphern werden immer wieder Szenerien bemüht, die zur Erzeugung einer feierlichgehobenen Stimmung geeignet sind, die freilich auch ausgesprochen stereotype Züge haben: Täler und Haine, Lauben, Hallen und Tempeln.269 Dagegen vermeidet Tiedge weitestgehend eine historische und geographische Verortung seiner Sprecherfiguren. Eine Erwähnung Buffons im fünften Gesang ist das einzige Detail, das die Sprecherfigur als eine Person des 18. Jahrhunderts ausweist (vgl. V, S. 160).270 Zugleich bleiben in Urania die prosaischen oder alltäglichen

268 Für ‚feierlich‘ vgl. etwa II, S. 44, 53, 54, 61; IV, S. 117, 132. Für ‚erhaben‘ vgl. II, S. 35, 55; IV, S. 107, 116, 127. Für ‚heilig‘, ‚heiligen‘ oder ‚Heiligung‘: II, S. 37, 54, 61; IV, S. 113, 116. Für ‚hohe Seele‘ vgl. II, S. 56; IV, S. 113; ‚hohe Ideale‘ etwa in II, S. 56; IV, S. 126; ‚hoher Ernst‘ in III, S. 95; ‚Hoheit‘ oder ‚das Hohe‘ in II, S. 54, 55; IV, S. 118. 269 Vgl. etwa II, S. 54–59; IV, S. 112 f. Für metaphorische Verwendungen dieser Ausdrücke vgl. etwa II, S. 38 f. („Abendlaube“, „Tempel“, „Abendfeier“), 52 f; III, S. 84 („Thal der Zeit“), 98 („Lebenshain“). Auch die Schilderungen der Zustände von Zweifel und Trauer bedienen sich immer wieder ähnlicher Metaphern. Die scheinbare Übermacht des Schicksals und die Unerkennbarkeit der Weltordnung versinnlicht der Sprecher mithilfe der Bilder von Ozean und Labyrinth (vgl. III, S. 96). Zweifel und Ängste einerseits, Ahnungen und Hoffnung andererseits werden wiederholt mit einer Metaphorik von Nacht, Nebel, Licht und Flammen verknüpft (vgl. etwa II, S. 37: „Lichtblick durch die Nebelbahnen“; 44: „Ob auch die Lebensbahn im Nebelmeer verschwimme“; III, S. 95). 270 Im Gedicht werden ferner einmal „Las Casas“ (IV, S. 126) und ein „edler Cranmer“ (V, S. 164) erwähnt, also zwei historische Gestalten aus dem 16. Jahrhundert; mit „Cranmer“ ist vermutlich der 1556 hingerichtete Thomas Cranmer, Erzbischof von Canterbury, gemeint. Die Handlungen des Bartolomé de Las Casas, auf die im Gedicht nur in allgemeinen Worten angespielt wird, werden in den Anmerkungen erläutert; vgl. S. 222 f.

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Dimensionen des Lebens so gut wie gänzlich ausgeblendet. Ein Indiz dafür, dass auch manche Zeitgenossen eine forcierte Feierlichkeit oder ‚Idealität‘ als Grundzug von Urania sahen, liefert die erwähnte Parodie Rhinoceros, deren Protagonist nicht durch Zweifel an Gott und Unsterblichkeit geplagt wird, sondern durch einen Schnupfen, der seine ungewöhnlich große Nase befallen hat.271 Zu fragen ist schließlich, ob die herausgestellten didaktischen und die lyrischen Komponenten der Urania nur äußerlich miteinander verbunden oder tatsächlich integriert werden. Viele der ausgedehnten Gefühlsdarstellungen, so ist zunächst hervorzuheben, erfüllen durchaus eine Funktion mit Blick auf die Vermittlung der philosophischen Lehren. Gerade bestimmte Gefühle, Empfindungen oder Ahnungen sind es ja, deren Macht im menschlichen Gemüt dem Sprecher zufolge die Vernunft berechtigt, an einen Gott und ein Weiterleben nach dem Tod zu glauben. Den Darstellungen von ‚Ahnungserlebnissen‘ und vielen metaphorischen Ausgestaltungen einzelner Gedanken kann man daher die Funktion zuschreiben, diese Empfindungen zu evozieren, die als ‚Spuren‘ Gottes und einer überirdischen Sphäre gedeutet werden.272 Allerdings ist kaum zu übersehen, dass die Präsentation von Emotionen in einer Ausführlichkeit betrieben wird, die durch die argumentative Funktion der Gefühle und Ahnungen allein nicht gerechtfertigt ist, dass also diese Ausmalung gefühlsgesättigter Stimmungen auch um ihrer selbst willen kultiviert wird. Dieser Eindruck entsteht vor allem aufgrund der stark repetitiven Züge, die das Gedicht im Ganzen wie auch einzelne Gesänge kennzeichnen. Der zweite Gesang, „Gott“, verkündet bereits, dass der dem Menschen verliehene Glaube an die Tugend auf die Existenz Gottes schließen lasse, und zerstreut damit einen großen Teil der im ersten Gesang artikulierten Zweifel. In den folgenden Gesängen wird der Gedanke, dass der menschliche Tugendsinn von der Existenz Gottes zeuge und ein ‚Unterpfand‘ des Weiterlebens nach dem Tode darstelle, noch mehrfach wiederholt. Innerhalb der Gesänge folgt auf die Vorstellung von Argumenten für den Glauben an Gott und die Unsterblichkeit häufig erneut eine Artikulation angstvoller Zweifel, die zu weiteren Bekräftigungen der Lehren von Gott und der Unsterblichkeit Anlass geben und damit auch wiederum die

271 Vgl. [Wetzel], Rhinoceros, S. 19, 24 f. 272 Für Verwendungen der Ausdrücke ‚ahnen‘ oder ‚Ahnung‘ vgl. etwa II, S. 35, 37, 45, 51, 59, 63; III, S. 96, 97, 98; IV, S. 109. Für „Spur“ vgl. etwa II, S. 42, 51, 53; IV, S. 122.

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Kultivierung von Gefühlen wie freudiger Zuversicht, Sehnsucht oder Ehrfurcht ermöglichen.273 Mit Blick auf diese repetitiven Züge ist zu bedenken, dass sie im Rahmen eines bestimmten Rezeptionsmodus, der für Urania einschlägig gewesen sein könnte, keinen Mangel, sondern geradezu einen Vorzug darstellten. Gemeint ist die Rezeptionsweise, die vor allem den traditionellen Umgang mit Erbauungsliteratur kennzeichnete und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bekanntlich auch auf bestimmte Werke der ‚schönen Literatur‘ übertragen wurde, also eine regelmäßig, womöglich täglich wiederholte Lektüre, bei der aber immer nur begrenzte Teile des größeren Werks gelesen werden.274 Zumindest Tiedges langjährige Förderin Elisa von der Recke scheint Urania auf diese Weise, also wie ein Brevier, verwendet zu haben.275 Leserinnen und Leser wie sie konnten aus dem zweiten bis sechsten Gesang des Gedichts fast einen beliebigen Teil herausgreifen und sicher sein, dort eine Variation der Abfolge von

273 Für Darstellungen von Zweifeln und Ängsten, die auf die Darbietung von Argumenten für die Existenz Gottes oder die Unsterblichkeit des Menschen folgen, vgl. etwa: II, S. 45–47 (hier wird die Möglichkeit, dass kein Gott sei, durchgespielt); II, S. 59 f.; III, S. 71 f., 86; IV, S. 107 f., 122–125. 274 Zur Rezeption von Klopstocks Messias als Erbauungsbuch bei einem Teil des Publikums vgl. Richard Alewyn, „Klopstocks Leser“, in: Bernhard Fabian (Hrsg.), Festschrift für Rainer Gruenter, Heidelberg 1978, S. 100–121, hier S. 117 f.; Reinhold Grimm, „Marginalien zu Klopstocks Messias“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N. F. 11/1961, S. 274–295, hier S. 281 f. 275 Dies berichtet wiederum Gustav Parthey. Elisa von der Recke wohnte von 1814 bis 1816 in einer Wohnung im Hause der Partheys. Parthey schreibt: „Tiedges Urania hatte gleich bei ihrem ersten Erscheinen an Frau von der Recke die unbedingteste Verehrerin gefunden. Sie hielt dies Gedicht für die vollkommenste Schöpfung der deutschen Poesie, sie besaß es in verschiedenen Ausgaben und in mehreren Exemplaren. Sie ward nicht müde, dasselbe mit immer neuem Genusse durchzulesen. So wie andre fromme Seelen zur Erbauung in der Bibel oder im Gesangbuche lesen, so begann sie morgens ihr Tagewerk mit einem Gesange aus der Urania.“ (Parthey, Jugenderinnerungen. Zweiter Teil, S. 2. Den Hinweis auf die Stelle bei Parthey verdanke ich Kern, Zur Charakteristik des Dichters Tiedge, S. 5.) – In diesem Zusammenhang ist auch aufschlussreich, was von der Recke über die bevorzugten Lektüren ihrer Jugend mitteilte: „Wielands frühere Schriften, besonders seine Sympathien, Cronegks Einsamkeiten, Youngs Nachtgedanken, und Lavaters Schriften, waren mir die liebste Lektur, durch welche meine Seele sehr bald eine religiös-schwärmerische Stimmung erhielt.“ (Charlotta Elisabeth Konstantia von der Recke, Nachricht von des berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau, im Jahre 1779, und von dessen dortigen magischen Operationen. Berlin/Stettin 1787, S. 5 [Einleitung]) Dass von der Recke später zur Bewunderin von Urania und zur Förderin Tiedges wurde, bestätigt gewissermaßen von der Seite der Rezipientinnen her die oben formulierten Aussagen über die Traditionsbezüge der Urania. Zu von der Recke aus religions- und frömmigkeitsgeschichtlicher Sicht vgl. Anne Conrad, „‚Die schwankenden Religionsbegriffe‘. Reflexion und Erleben von Religion bei Elisa von der Recke“, in: Aufklärung, 21/2009, S. 253–274.

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melancholischen Zweifeln und feierlicher Affirmation des Gottes- und Unsterblichkeitsglaubens zu finden.

5.3 Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Ethik Der größte Teil der in Urania entwickelten Gedankengänge zielt auf den Nachweis der Existenz Gottes sowie der Unsterblichkeit und der Freiheit des Menschen. Im Zuge dieser Argumentationen formuliert der Sprecher auch Auffassungen über das Wesen des Menschen, der Tugend und des Glücks, die Umrisse einer Anthropologie, einer Ethik und einer Religionsauffassung ergeben. Die Ausführungen der Urania zu diesen Themen enthalten Variationen der Grundgedanken, die als Berührungspunkte zwischen Youngs Night Thoughts, Wielands Die Natur der Dinge und Creuz’ Lehrgedichten herausgearbeitet wurden. Die offensichtlichste Gemeinsamkeit zwischen Tiedges Gedicht und dieser Textreihe besteht in dem Interesse an den Fragen von Jenseits und Unsterblichkeit. Aber auch andere der bei Young, Creuz und beim frühen Wieland artikulierten Positionen finden sich bei Tiedge wieder und begegnen dort häufig in zugespitzter Form, so dass Urania nicht nur wie ein Sammelbecken, sondern auch wie ein Kulminationspunkt von Tendenzen erscheinen kann, die den Strang des religiös-erhabenen Lehrgedichts der zweiten Jahrhunderthälfte definieren. Zugleich erhalten diese Gedanken bei Tiedge eine besondere Abwandlung, die auf den Einfluss philosophischer Entwicklungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts verweisen könnten. Ähnlich wie in Youngs Night Thoughts und Wielands Die Natur der Dinge wird auch in Tiedges Urania emphatisch die Hoheit und Würde des Menschen beschworen. Diese Auffassung von der Größe des Menschen drückt Tiedges Sprecher vorzugsweise mit einer Semantik des Göttlichen aus: Immer wieder ist die Rede von dem ‚Göttlichen‘ im Menschen, von seiner Götterspur, von der Vergötterung, die seiner harrt. Worin diese immer wieder beschworene Göttlichkeit des Menschen besteht, wird dabei nur selten ausdrücklich und konkret formuliert. An einigen Stellen erklärt der Sprecher aber explizit, dass es die Fähigkeit zur Tugend und zur Erkenntnis sind, die dem Menschen diesen Rang verleihen. So heißt es im fünften Gesang: „Die Tugend ist dieß Pfand, das hohe Seelenleben, | Das dich zum freien Gott erhebt.“ (V, S. 142) Die Größe oder Göttlichkeit des Menschen wird in Urania als ein Potential oder ein Ensemble von Anlagen verstanden, das sowohl der einzelne Mensch als auch das Menschengeschlecht insgesamt nur nach und nach realisieren kann. Diese Anlagen definieren somit auch ein Ziel oder eine Bestimmung des individuellen Lebens wie der Gattungsgeschichte; der Ausdruck „Bestimmung“ wird von Tiedge mehrfach verwendet.

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Zur vollen Entfaltung können die ‚göttlichen‘ Potentiale des Menschen erst im Jenseits kommen. Der Tod wird daher im vierten Gesang als eine „Vergötterungsscene“ gedeutet.276 Im Diesseits zeugen von diesen göttlichen Anlagen des Menschen zum einen die großen Taten von Individuen, zum anderen die Fortschritte, die das Menschengeschlecht insgesamt im Laufe der Geschichte erzielt hat. Im dritten Gesang fordert der Sprecher den Adressaten auf: „Laß zur Geschichte, diesem Sarkophage | Der todten Zeit, laß uns hinunter gehn“ (III, S. 89). Es folgt eine knappe Evokation der finsteren Anfänge der Geschichte sowie des Erwachens von Schönheitssinn und Wahrheitsstreben im alten Griechenland. Die „Vergangenheit“, so lautet eine Formulierung des vom Sprecher gezogenen Fazits, „schließt uns die Zukunft auf“: „Die Menschheit ringt schon hier von einem Ziel zum andern; | Sie kämpft sich immer mehr zur Menschlichkeit hinauf.“ (III, S. 90 f.) Diese Deutung der Geschichte weist dabei eine leichte Ambivalenz auf, die in verschiedenen Ausformungen auch bei Young und Creuz anzutreffen ist: Einerseits sieht Tiedges Sprecher die Menschheitsgeschichte als eine vom Fortschritt bestimmte Entwicklung an und betrachtet diese Steigerung als Beleg für die wertvollen Anlagen des Menschen; andererseits verrät er aber gelegentlich auch eine Neigung, die gesamte diesseitige Geschichte abzuwerten, sie auf eine Abfolge von Aufstiegen und Untergängen großer Reiche zu reduzieren und ihr das Jenseits als das eigentliche Ziel des Menschen gegenüberzustellen.277 Tiedges Urania versammelt also einige der Gedanken, die in verschiedenen Variationen auch in Youngs Night Thoughts, Wielands Die Natur der Dinge und Creuz’ Lehrgedichten dargeboten werden: so eine emphatische Überzeugung von der Hoheit oder Würde des Menschen, ferner die Annahme, dass der Mensch seine großen Anlagen nur allmählich im Zuge einer Entwicklung realisiert, schließlich die Deutung des Jenseits als eines Orts, wo der Mensch seinen Aufstieg fortsetzen und seine Fähigkeiten freier entfalten kann. Diese Gedanken erhalten in Urania aber eine spezifische Gestalt. Auf zwei Bereiche, in denen sich diese Eigentümlichkeit zeigt, sei etwas näher eingegangen. Eine Besonderheit der Urania besteht in der Entschiedenheit, mit der die Annahme von der Größe und Göttlichkeit des Menschen argumentativ verwertet,

276 Vgl. die Inhaltsangabe zum vierten Gesang (S. 104): „Der Tod, die Auflösung unsers physischen Daseyns ist die opfernde Vergötterungsscene des geistigen Menschen.“ 277 Vgl. IV, S. 129: „Wir wandeln hin durch Roms versunkne Pracht | Und trauren über Hellas Trümmer. | Die Gegenwart trit auf, und die Vergangenheit | Sinkt immer tiefer weg von einem jüngern Lichte; | Die Weltgeschichte selbst begräbt die Weltgeschichte, | Verwischt den alten Schattenriß der Zeit.“

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nämlich als Beleg für die Existenz Gottes und für die Unsterblichkeit des Menschen genutzt wird. Eine endgültige Vernichtung dieser Anlagen mit dem Tod wäre widersinnig, somit konstituieren sie geradezu ein „Unterpfand“ (IV, S. 122) des Weiterlebens nach dem Tod. Ausdrücke wie ‚Pfand‘, ‚Bürgschaft‘ oder ‚bürgen‘ werden in diesem Zusammenhang immer wieder verwendet.278 Der Sprecher erklärt sich einmal ausdrücklich für berechtigt, an der „finstern Ausgangspforte“ ein ewiges Leben zu ‚fordern‘.279 Die juristisch-ökonomischen Vokabeln von Pfand und Bürgschaft geben Grund zu der Vermutung, dass Tiedge mit Urania auch eine kritische Entgegnung auf Schillers frühes Gedicht Resignation liefern wollte – ein Gedicht, das Elisa von der Recke in ihrem Tagebuch als „furchtbar schön[]“280 und „schrecklich schön[]“281 bezeichnete, weil es eine falsche und gefährliche Philosophie mit allem „Schmuck der Dichtkunst“ ausstatte.282 In Schillers Resignation tritt der Sprecher nach seinem Tod auf der „Schauerbrüke“ der „Ewigkeit“ einer „verhüllte[n] Richterin“ gegenüber, bringt ihr seinen „Vollmachtbrief zum Glüke [. . .] unerbrochen“ zurück, berichtet von den Verzichtleistungen, die er zugunsten einer „Weisung auf das andre Leben“ vollbracht habe, und ‚fordert‘ seinen „Lohn“.283 Dieses Verdienstdenken wird bitter enttäuscht: Ein unsichtbarer Genius belehrt den Sprecher darüber, dass er von der Ewigkeit nichts mehr zu erwarten habe, da Hoffnung und Glaube ihren Lohn und ihr Glück in sich selbst tragen. In Tiedges Urania wird dem Menschen dagegen zugesichert, dass er mit seinem Sinn für Tugend und Wahrheit geradezu einen verbrieften Anspruch auf ein ewiges Leben besitzt. Diese Lehre steht nicht nur im Gegensatz zu der von Schillers Resignation, sondern dürfte auch mit dem Kantischen Verständnis seines Unsterblichkeitspostulats kaum vereinbar sein. Eine weitere inhaltliche Besonderheit, durch die sich Urania von den oben untersuchten Gedichten Youngs, Creuz’ und des frühen Wieland unterscheidet, bietet die Ethik, die in Tiedges Gedicht umrissen wird; diese spezifischen Züge der Urania dürften, anders als die eben genannte Besonderheit, auf den

278 Für ‚Bürgschaft‘ und ‚bürgen‘ vgl. IV, S. 114, 116, 132, 134. Für ‚Pfand‘ vgl. V, S. 159: „Des [sic] Himmelspfand in unsern Händen | Ist – eines Himmels werth zu seyn.“ Vgl. auch IV, S. 128: „[D]urch die Tugend hat | Ein hohes Leben sich an unsern Geist verpfändet.“ 279 Vgl. III, S. 197. 280 Elisa von der Recke, Tagebücher und Selbstzeugnisse. Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Christine Träger. München 1984, S. 73 (Eintrag vom 31. Mai 1790). 281 Ebd., S. 143 (Eintrag vom 25. September 1791). 282 Ebd. 283 Schillers Resignation wird zitiert nach: NA 1, S. 166–169. – Ausführlicher zu diesem Gedicht: unten, Teil IV, Kapitel 2.1.1.

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Einfluss Kants verweisen. Dabei ist zunächst einzuräumen, dass die Äußerungen zu ethischen Fragen in Tiedges Gedicht über weite Strecken wenig spezifischen Charakter und auch kaum scharfe Konturen haben. In den ersten Gesängen ist zwar mehrfach von Tugend und Laster die Rede, aber ohne dass diese Begriffe näher expliziert würden. Im fünften Gesang, der die Überschrift „Tugend“ trägt, wird dann die Tugend als eine von zwei Mächten bestimmt, die sich in der menschlichen Natur bekämpfen; die Tugend beruht auf der Fähigkeit zum Opfer und zum Verzicht und steht dem Genuss als der zweiten grundlegenden Macht gegenüber (V, S. 145 f.). Eine etwas spätere Passage hebt „Güte“ und „Friedenssinn“ sowie „Menschlichkeit“ als besonders verehrungswürdige Eigenschaften hervor (vgl. V, S. 148 f.).284 Doch wo im sechsten Gesang die höchsten Aufgaben des Menschen umrissen werden, rückt der Begriff der Pflicht ins Zentrum. Die Aufgabe des Menschen liegt nach diesem Gesang darin, die von der Vernunft vorgegebene Pflicht zu erfüllen und sich dabei auch über alle sinnlichen Bedürfnisse und Antriebe, einschließlich des „Lebenstrieb[s]“, hinwegzusetzen, notfalls also um der Pflicht willen das Leben zu opfern. In dieser Überwindung sinnlicher Antriebe zugunsten der Pflicht verwirklicht der Mensch seine „Geistesfreiheit“. Bezeichnend für die entschiedene Betonung des Pflichtgedankens ist eine Passage aus dem sechsten Gesang, in der wieder die Figur der Hehra auftaucht, diesmal als Mutter einer Tochter namens Mali. Das Daseyn fiel uns zu; die Freiheit wird errungen, Von der die Tugend lebt. Die Geistesfreiheit siegt, Besiegt den Lebenstrieb, wenn Hehra, ganz durchdrungen Von ihrer Mutterpflicht, zu Mali’s Rettung fliegt. Du bebst, du schauderst noch vor jener Uferstelle, Wo kühn hinab die sanfte Hehra sprang Und mit dem Tod’ und der empörten Welle Um ihre Mali kämpft’ und zitternd sie errang.

[VI, S. 196 f.]

Bemerkenswert ist, dass Hehra hier von ihrer ‚Mutterpflicht‘ durchdrungen ist, nicht etwa von Mutterliebe. Eine Mutter, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens ihr Kind zu retten versucht, scheint sich eher als Beispiel für natürliche tugendhafte Antriebe zu eignen und ist in der Philosophie des 18. Jahrhunderts auch verschiedentlich so verwendet worden. Doch die Rettungstat der Hehra, wie sie

284 Auffällig und etwas überraschend ist in diesen Darlegungen zur Tugend im fünften Gesang die Ausführlichkeit, mit der das Phänomen des großen, durch außergewöhnliche Kraft ausgezeichneten Missetäters behandelt wird (vgl. V, S. 143 f., 147).

5 Christoph August Tiedges Urania (1801)

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hier geschildert wird, entspringt nicht spontanen Regungen der Liebe oder des Gefühls, sondern einem verinnerlichten Bewusstsein der Pflicht.285 Ein solches emphatisches Pflichtverständnis ist Gedichten wie Youngs Night Thoughts, Wielands Die Natur der Dinge oder auch Gleims Halladat fast gänzlich fremd. Die Vermutung liegt nahe, dass sich in diesem Zug der Urania die Orientierung Tiedges an der Ethik Kants niederschlägt.

5.4 Resümee Die Analyse sollte vor allem zeigen, dass Tiedges Umgang mit der Gattung des Lehrgedichts in Urania mehrere Tendenzen weiterführt, die sich zuerst in Lehrgedichten der Zeit um 1750 wie insbesondere Youngs Night Thoughts und Gedichten in ihrer Nachfolge manifestierten. In seiner äußeren Gestalt weist Tiedges Gedicht aber auch einige Züge auf, die es mit Lehrgedichten der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbinden, so insbesondere den großen Umfang des Gedichts und die Ausstattung aller Teile mit Inhaltsüberblicken in Prosa. Diese Rekurse auf verschiedene Abschnitte der Gattungstradition verbindet Tiedge mit Anleihen bei philosophischen und literarischen Entwicklungen der Zeit um 1800. Diese Befunde lassen sich sowohl auf die allgemeine Frage nach literaturgeschichtlichen Entwicklungen und Epochengrenzen als auch speziell auf die Gattungsgeschichte des Lehrgedichts beziehen. In der umfassenderen Perspektive erscheint Urania als ein Beispiel für literaturgeschichtliche Kontinuitäten, die über die von Klassik und Romantik markierten Einschnitte hinwegreichen. In dieser Hinsicht ist Urania insbesondere aufgrund seines über mehrere Jahrzehnte anhaltenden Publikumserfolgs ein aufschlussreicher Fall: Das Gedicht, das in erheblichem Maße durch bestimmte Tendenzen der Epoche der Empfindsamkeit geprägt ist und diese mit einigen Anleihen bei Strömungen der Zeit um 1800 verschmolz, fand auch noch beim Publikum der Restaurationszeit großen Anklang. Was speziell die Geschichte des Lehrgedichts betrifft, so kann man aus Tiedges Konzeption von Urania und der zeitgenössischen Aufnahme des Gedichts vorsichtige Vermutungen dazu ableiten, welche Inhalte und welche stilistische

285 Dazu passt es, dass direkt im Anschluss an diese Verse ein weiteres Exempel für die „Geistesfreiheit“ präsentiert wird, in dem sich das Pflichtbewusstsein siegreich gegen die Vaterliebe durchsetzt: Als vorbildliches Muster dient hier Brutus, der dem Todesurteil für seine Söhne, die sich einer Verschwörung gegen die Republik schuldig gemacht haben, zustimmt und der Vollstreckung des Urteils zusieht.

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III Neue Tendenzen seit der Jahrhundertmitte

Ausgestaltung um 1800 noch den Gebrauch der traditionellen Großform des Lehrgedichts ‚rechtfertigen‘ oder akzeptabel machen konnten. Zu diesen Inhalten gehörten, so legt es Urania nahe, unter anderem religiöse und ethische Lehren, die einen starken Akzent auf den Unsterblichkeitsglauben legen und sein Trostpotential auszuschöpfen suchen; die sprachliche Form, die offenbar bei einem größeren Teil der Leserschaft auf Beifall rechnen konnte, war eine, die auf eine Verklärung oder Idealisierung der Realität zielte, die der Thematisierung und Präsentation von Emotionen breiten Raum gab und dabei auf einen feierlichen und erhabenen Ton gestimmt war.

6 Die Freiheit der Dichtung und die Wahrheit des Lehrgedichts: Neue Tendenzen in der Dichtungstheorie Dieser Untersuchungsteil hat formale, strukturelle und inhaltliche Tendenzen herausgearbeitet, die sich in mehreren prominenten Lehrgedichten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts manifestieren und sie von repräsentativen Gattungsexemplaren der ersten Jahrhunderthälfte unterscheiden. Es stellt sich die Frage, inwiefern diese Veränderungen durch Entwicklungen in der dichtungstheoretischen Reflexion auf das Lehrgedicht begleitet oder befördert wurden. Für eine der oben behandelten Tendenzen der dichterischen Praxis, die Emotionalisierung, ist in der Forschung bereits mehrfach die These vertreten worden, dass sie ein Pendant in der zeitgenössischen Dichtungstheorie habe. Die Emotionalisierung der Lehrgedichte als Teil einer umfassenderen Lyrisierung der Gattung entsprach demnach weitgehend dem, was Theoretiker wie Johann Jacob Engel und Jean Paul über das Lehrgedicht schrieben.286 Georg Jäger hat das Verhältnis zwischen den Entwicklungen in Theorie und dichterischer Praxis wie folgt charakterisiert: „Die Theorie hat hier die Praxis, die Schrumpfung des didaktischen Gedichts zum lyrischen, gedanklich begleitet.“287 Die einschlägigen Forschungsarbeiten haben tatsächlich überzeugend gezeigt, dass im späteren 18. Jahrhundert auffallend viele Theoretiker die

286 Vgl. vor allem: Hans-Wolf Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“, S. 570 f.; ders., „Lehrdichtung“, S. 528–530; Georg Jäger, „Das Gattungsproblem in der Ästhetik und Poetik von 1780 bis 1850“, S. 388–390. Die Annahme einer ‚Lyrisierung‘ des Lehrgedichts wird übernommen bei: Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 249; Todorow, Gedankenlyrik, S. 65–69. 287 Georg Jäger, „Das Gattungsproblem in der Ästhetik und Poetik von 1780 bis 1850“, S. 390.

6 Die Freiheit der Dichtung und die Wahrheit des Lehrgedichts

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Wichtigkeit der emotionalen Wirkung von Lehrgedichten betonen,288 sie in der Nachbarschaft der lyrischen Dichtung ansiedeln oder (wie Jean Paul) gleich ganz der lyrischen Abteilung zuschlagen.289 Aber es ist fraglich, inwieweit man hier von einer Konvergenz zwischen Theorie und Praxis oder einer ‚gedanklichen Begleitung‘ der dichtungspraktischen Entwicklung durch die Theorie sprechen kann. Denn weder für Engel noch für Jean Paul ist der große Gefühlsanteil etwas, das nur die jüngeren Lehrgedichte kennzeichne oder das von zukünftigen Lehrgedichten zu fordern sei. Beide betrachten diese starke Beteiligung von Gefühl oder Empfindung vielmehr als eine Eigenschaft, die das Lehrgedicht generell kennzeichne und die sich auch schon in den Lehrgedichten Hallers und Popes sowie – Jean Paul zufolge – in dem Gedicht des Lukrez finde.290 Sie bieten also neue Beschreibungen oder Deutungen älterer und jüngerer Mustertexte der Gattung. Es könnte durchaus möglich sein, ihre neuen Deutungen dieser Texte und ihre damit verknüpften Charakterisierungen der Gattung zu der Emotionalisierung des Lehrgedichts in der Praxis in eine Beziehung zu setzen; aber diese Beziehung dürfte indirekter und vermittelter sein, als es etwa die Rede von einer gedanklichen ‚Begleitung‘ der Praxis durch die Theorie suggeriert. Bei den anderen in diesem Untersuchungsteil beschriebenen Tendenzen ist nicht zu sehen, dass sie in der Dichtungstheorie thematisiert oder von ihr vorbereitet worden wären. Doch in den theoretischen Überlegungen zum Lehrgedicht taucht in der zweiten Jahrhunderthälfte ein anderer Fragenkomplex immer wieder auf, dessen Erörterungen in der Forschung bisher kaum Beachtung gefunden

288 Vgl. etwa [Engel], Anfangsgründe, S. 97. 289 Vgl. Jean Paul, Vorschule der Aesthetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit. Zweite Abtheilung. Zweite, verbesserte und vermehrte Aufl. Stuttgart/Tübingen 1813, S. 596 f.: „Das Lehrgedicht gehört in die lyrische Abtheilung.“ 290 Engel schreibt über das Lehrgedicht u. a.: „Das Wichtigste zur Bewirkung der Lebhaftigkeit bleibt immer das: daß man den betrachteten Gegenstand in Verbindung mit den Neigungen des menschlichen Herzens bringe; [. . .]. – Der Lehrdichter besonders lasse uns nicht blos die Wahrheit, er lasse sie uns in der Seele, die sie denkt, erkennen; damit wir die Empfindungen und Bewegungen derselben, wenn wir sie wahr und gegründet finden, zu unsern eigenen machen.“ ([Engel], Anfangsgründe, S. 97) – Bei Jean Paul heißt es: „Das Lehrgedicht läßt auf innere geistige Gegenstände den Brennpunkt der Empfindung fallen, und in diesem leuchten und brennen sie; und dieses so sehr, daß der flammende Pindar ganze Reihen kalter Lehrsätze zu seinem korinthischen Erz einschmilzt. [/] Reflexionen oder Kenntnisse werden nicht an sich zur Lehre, sondern für das Herz zur Einheit der Empfindung gereiht, und als eine mit Blumenketten umwickelte Frucht dargeboten, z. B. von Young, Haller, Pope, Lukrez.“ (Jean Paul, Vorschule der Aesthetik. Zweite Abtheilung. 2. Aufl. 1813, S. 596 f.)

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hat: Gemeint ist ein Bündel von Fragen, die das Verhältnis des Lehrgedichts zur Wahrheit betreffen. Für die Dichtungstheoretiker des früheren 18. Jahrhunderts wirft dieses Verhältnis kaum grundsätzliche Probleme auf; für sie ist das Lehrgedicht der Wahrheit verpflichtet, und konkrete Gedichte sind unter anderem danach zu beurteilen, wie zutreffend, differenziert und gut begründet ihre Aussagen über die behandelten Gegenstände sind. In den 1750er und 1760er Jahren aber geben einige Autoren den Wahrheitsanspruch des Lehrgedichts dezidiert zugunsten der Verpflichtung auf Sinnlichkeit oder Schönheit preis oder stellen ihn jedenfalls hinter diesen letzteren Wert zurück. Diese Auffassungen, die in dieser Zeit nicht zu einem allgemeinen Konsens avancierten, aber doch von prominenten Dichtungstheoretikern wie Georg Friedrich Meier vertreten wurden, proklamieren auch die Unabhängigkeit poetischer von philosophischen Wertungskriterien, also in bestimmtem Sinne eine Autonomie des Dichterischen. Vergleicht man diese Positionen mit denen, die in den 1780er und 1790er Jahren von Friedrich Schiller und von den Verteidigern seines Gedichts Die Götter Griechenlandes bezogen wurden, so zeigt sich nicht allein eine Festigung des Autonomiepostulats, sondern zugleich eine Erneuerung des Anspruchs auf moralische Wirkung und auf Wahrheit, die mit der Autonomiebehauptung auf höchst spannungsvolle Weise gekoppelt ist. Diese theoretischen Überlegungen zum Verhältnis des Lehrgedichts zur Wahrheit, die in der zweiten Jahrhunderthälfte angestellt wurden, könnten auch einen Einfluss auf die dichterische Praxis ausgeübt haben, wenngleich dieser im Einzelnen schwer nachzuweisen ist. Die Forderungen jedenfalls, die Schiller schließlich in Ueber naive und sentimentalische Dichtung an das Lehrgedicht richtete, haben wahrscheinlich nachhaltig auf die Art und Weise eingewirkt, wie im 19. Jahrhundert die kognitive Leistung von Lehrgedichten, philosophischen Gedichten oder Gedankenlyrik konzipiert wurde.

6.1 Die Frühaufklärung: Wahrheit als selbstverständliches Ziel von Lehrgedichten Die Differenzen zwischen Gottsched und den Schweizern betrafen bekanntlich auch Punkte, die man dem Thema von Wahrheit und Dichtung zuordnen kann; insbesondere ist hier an ihre divergierenden Auffassungen über die Legitimität des Wunderbaren in der Dichtung zu denken. Doch diese Differenzen machten sich in ihren Ansichten über das Lehrgedicht kaum bemerkbar. Gottsched und Breitinger setzten in ihren Äußerungen zum Lehrgedicht beide als selbstverständlich voraus, dass es den Verfassern von Lehrgedichten um die Darbietung

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von Wahrheiten geht und dass Lehrgedichte unter anderem nach ihrem Wahrheitsgehalt zu beurteilen sind.291 Man könnte zwar vermuten, dass der Streit zwischen Leipzigern und Zürichern um die Akzeptabilität der kühnen Metaphern in Hallers Gedichten auf unterschiedlichen Auffassungen über das Verhältnis des Lehrgedichts zur Wahrheit beruhte. Denn als Gottsched sich nach anfänglich wohlwollenden Kommentaren gegen die Dichtung Albrecht von Hallers wandte, legten er und seine Anhänger dem Dichter neben mangelhafter Sprachreinheit auch Dunkelheit zur Last, und die Dunkelheit resultierte den Kritikern zufolge aus gewaltsamen syntaktischen Konstruktionen und unverständlichen bildhaften Ausdrücken.292 Aber in Breitingers ausführlicher Rechtfertigung der ungewöhnlichen Bilder Hallers stellte sich der Züricher Theoretiker grundsätzlich auf denselben Standpunkt wie die Kritiker des Leipziger Lagers, indem er die Forderung akzeptierte, dass die Metaphern sachlich adäquat zu sein, also einer Wiedergabe der Wahrheit zu dienen hatten. So verwendet Breitinger ganze zwanzig Seiten seiner Vertheidigung der Schweitzerischen Muse, Herrn D. Albrecht Hallers darauf, die inkriminierten Verse aus Ueber den Ursprung des Uebels zu verteidigen, in denen von der „Kraft des Wesen-reichen Wortes“ und dem Gebären des „alte[n] Nichts“ die Rede ist, und zu diesem Zweck sucht er zu zeigen, dass die kühnen Ausdrücke angemessene Versinnlichungen der biblischen Aussagen über Gottes Schaffung der Welt sind.293 Die Differenz gegenüber Gottsched und seinen Anhängern ist in diesem Punkt nur eine graduelle: Breitinger akzeptiert und lobt geradezu uneigentliche Ausdrücke, die mit dem gemeinten Gegenstand nur wenig Übereinstimmungen haben und deren Auflösung somit Schwierigkeiten bereiten kann, während Gottsched auf einer mühelosen Erkennbarkeit des Gemeinten besteht.294 Dieser

291 Siegrist beschreibt die Grundannahmen dieser Theoretiker über das Verhältnis von Lehrgedicht und Wahrheit ähnlich und bewertet diese Annahmen als ‚naiv‘. Vgl. Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 53 f.: „Das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit wird in der Aufklärung kaum problematisiert: die Vorstellung von der Dichtung als einer ‚zweiten‘ Wahrheit von ebenso großer Dignität als die eigentliche fehlt dem Bewußtsein der Epoche, die kein dialektisches Ineinander, sondern nur ein naives Nebeneinander der beiden Bereiche kennt: der Dichter wählt gewisse Wahrheiten aus und kleidet sie zwecks größerer Wirksamkeit ein.“ In solchen Formulierungen nähert sich Siegrist mehrfach jener abwertenden Haltung gegenüber dem Dichtungsverständnis der Aufklärung an, das er selbst in der Einleitung als kennzeichnend für die ältere Forschung nennt und dort ironisch von sich weist (vgl. ebd., S. 1 f.). 292 Vgl. die zusammenfassende Darstellung der Angriffe bei: Kempf, Albrecht von Hallers Ruhm als Dichter, S. 12–17. 293 Vgl. [Johann Jakob Breitinger], Vertheidigung der Schweitzerischen Muse, Hrn. D. Albrecht Hallers, Zürich 1744, S. 19–38. 294 Vgl. auch Kempf, Albrecht von Hallers Ruhm als Dichter, S. 16 f., 24 f.

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Unterschied, wiewohl nur graduell, verweist letztlich auf tieferliegende Differenzen, da Breitinger die Legitimität kühner Bilder unter anderem mit ihrer größeren Fähigkeit zum Rühren des Lesers begründet. Aber mit Bezug auf die Gattung des Lehrgedichts ist festzuhalten, dass Breitinger ähnlich selbstverständlich wie Gottsched davon ausgeht, dass solche Gedichte sinnliche Wiedergaben von Wahrheiten sein sollten. Auch Albrecht von Haller nennt in einem 1749 verfassten Text „[w]ahre und gründliche Gedancken“ als eine der Qualitäten, die ein Gedicht in seinen Augen lobenswert machen.295 In diesem Text wird von Haller ferner eine Annahme besonders ausdrücklich formuliert, die auch von anderen Dichtern und Theoretikern der ersten Jahrhunderthälfte geteilt wurde und die mit Blick auf spätere Entwicklungen besondere Beachtung verdient: Für Haller können ‚äußere Schönheiten‘ eines Gedichts wie etwa die „Zierde deß Schalles und der Sprache“ mit der Darbietung eines falschen und verderblichen Inhalts gekoppelt werden. Wo dichterische Gaben auf diese Weise verwendet werden, so Haller, sind sie ihm „eben so verhasst, als die Stärcke in einem Tieger, oder die Macht in einem unbilligen Fürsten“.296 Eine Notiz Hallers zeigt, dass Popes Essay on Man in seinen Augen genau diese fatale Kombination bot: Pope in seinem Versuche über den Menschen, verdeckt unter angenehmen Blumen ein gefährliches Gift. Seine Absicht gehet dahin, dem natürlichen Triebe oder Instinkte das Wort zu reden. Und der allgemeine Satz: Daß alles was ist, gut sey, streitet sowohl mit der Vernunft als mit der Offenbarung.297

Eine ähnliche Kritik an berühmten Lehrgedichten findet sich auch bei anderen Autoren, die sich ebenfalls der Metaphorik der glanzvollen Verkleidung bedienen und den angegriffenen Lehrdichtern eine betrügerische Absicht unterstellen. Ein besonders deutliches Beispiel bietet etwa das explizit gegen die erste Epistel des Essay on Man gerichtete Gedicht Truth (1739) von William Ayre,298

295 Vgl. Haller, „Vorrede zu den Werlhofischen Gedichten“, in: Ders., Sammlung Kleiner Hallerischer Schrifften, S. 169. Vgl. zu dieser Vorrede oben, Teil II, Kap. 2.1.5. 296 Haller, „Vorrede zu den Werlhofischen Gedichten“, S. 170. 297 Haller, Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst. Bd. 2, S. 197. Die Notiz wird vom Herausgeber auf 1746 datiert. 298 Vgl. [William] Ayre, Truth. A Counterpart to Mr. Pope’s Esay [sic] on Man, Epistle the First, London 1739, S. 1 f.: „THOUGH POPE has said it, must the World submit? | Or must TRUTH stoop to Poetry and Wit? | They put on glaring Habits to deceive; | Truth shines in naked Modesty, like Eve: | [. . .] Give way ye gentle Sounds! [. . .] | Hence! with your Wreathe of Palm, Inchanters hence | And leave your Words, with undiminish’d Sense: | Far be from me to do such Numbers wrong; | I love the Musick, but condemn the Song: [. . .].“

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ein weiteres der Anti-Lucretius des Kardinals Melchior de Polignac, der diesen Vorwurf gegen Lukrez erhebt.299 Für Haller wie für die anderen zitierten Autoren ist die Schönheit eines Gedichts – oder jedenfalls eine Art von Schönheit – unabhängig von der Wahrheit des Gehalts. Die Autoren des ausgehenden 18. Jahrhunderts hingegen, die am Ende der im Folgenden nachzuzeichnenden Entwicklung stehen, hätten zwar vermutlich nicht grundsätzlich bestritten, dass ein Gedicht, das falsche Lehren enthält, dennoch über Eigenschaften wie Wohlklang und sprachliche Reinheit verfügen kann. Doch dieser Gedanke spielt keine prominente Rolle in den einschlägigen Überlegungen dieser Autoren, zu denen an erster Stelle Schiller gehört. Die vorrangige Tendenz gerade seiner Ausführungen zielt vielmehr darauf, eine wesentliche, gleichsam naturgegebene Verbindung von Wahrheit und Schönheit plausibel zu machen.

6.2 Neuansätze nach Baumgarten: Der Wert unwahrer, aber schöner Lehrgedichte Aus den theoretischen Innovationen der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens leiteten mehrere seiner Schüler und Anhänger auch Konsequenzen für das Lehrgedicht ab. Der bekannteste Text, in dem dies geschieht, dürfte Lessings und Mendelssohns Abhandlung Pope ein Metaphysiker! (1755) sein. Von ähnlich großem Interesse ist in diesem Zusammenhang aber auch Georg Friedrich Meiers Vorrede zu Wielands Lehrgedicht Die Natur der Dinge (1752), in der sich Meier knapp, aber pointiert zur Bedeutung der Wahrheit in Lehrgedichten äußert. Die Thesen, die Meier hier aufstellt, hat er in seinen Anfangsgründe[n] aller schönen Künste und Wissenschaften ausführlich entfaltet und begründet. Die Auffassung Meiers ist derjenigen verwandt, die Lessing und Mendelssohn in der genannten Schrift vertreten. Der relevante Abschnitt aus Meiers Vorrede zu Die Natur der Dinge sei hier vollständig zitiert: Wer dieses Gedicht vernünftig und gehörig beurtheilen will, der muß den Inhalt desselben, von der Poesie, in welche der Verfasser sein philosophisches Lehrgebäude eingekleidet hat, unterscheiden.

299 Vgl. (in der französischen Übersetzung des lateinisch verfassten Gedichts): Cardinal [Melchior] de Polignac, L’Anti-Lucrèce, Poëme sur la Religion Naturelle. Traduit par M. De Bougainville. [2 Bände.] Paris 1749, hier Bd. I, S. 25 f.; Bd. II, S. 7.

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Was das Lehrgebäude betrifft, welches der Dichter vorgetragen hat, so kann man dasselbe auch nach den strengsten Regeln der Vernunftlehre philosophisch beurtheilen. Und da gestehe ich frey, und der Herr Verfasser wird mir meine Freymüthigkeit nicht übel nehmen, daß ich vieles in seinem vorgetragenen Lehrgebäude für falsch halte. Dieses Geständniß kann ihm aber gar nicht und am allerwenigsten als einem Dichter nachtheilig seyn. Philosophische und gelehrte Irrthümer können oft in eine angenehme Poesie eingehüllt werden, und sie können oft eine größere poetische Wahrscheinlichkeit haben, als die ihnen entgegengesetzten philosophischen Wahrheiten. Man kann also einen Dichter überhaupt deswegen nicht tadeln, und ihm vorwerfen, als wenn er wider die Regeln der Dichtkunst gesündiget, wenn er etwa Sachen vorgetragen, von denen man nach der Vernunftlehre beweisen kann, daß sie keine Statt finden können. Und der Dichter hätte ein Lehrgebäude erwählen mögen, was für eins er gewollt hätte, so würde es immer viele Gelehrte gegeben haben, welche an demselben etwas zu tadeln gefunden hätten. Ich rechne es demnach dem Dichter als keinen Fehler an, daß er in seinem Lehrgebäude Sachen angenommen hat, die ich für falsch halte. Nur habe ich diese Anmerkung zu machen für nöthig erachtet, damit nicht jemand glauben möchte, ich hielte alles das für wahr, was der Dichter zu behaupten gesucht hat.300

Wenn Meier sagt, dass „[p]hilosophische und gelehrte Irrthümer [. . .] in eine angenehme Poesie eingehüllt werden“ können, so ist dies allein kein neuer Gedanke, sondern einer, der sich – wie oben erwähnt – sinngemäß etwa auch bei Haller findet. Aber für Haller wären solche Gedichte als mangelhaft und, falls die Irrtümer wichtige Fragen der Moral oder Religion betreffen, als gefährlich zu verurteilen gewesen. Meier hingegen betont ausdrücklich, dass die Falschheit vieler Elemente des im Gedicht entwickelten Lehrgebäudes dem Gedicht nicht zum Nachteil gereiche, dass es sich gleichwohl um ein tadelloses Gedicht handeln könne. Er nimmt hier also für die Poesie etwas in Anspruch, was man durchaus als Autonomie bezeichnen könnte, jedenfalls als eine Autonomie gegenüber den Maßstäben der Vernunftlehre. Wichtig ist an dieser Passage ferner, dass Meier die Qualität, die das Gedicht trotz der Falschheit mancher seiner Lehren besitzt, nicht nur mit dem Begriff des ‚Angenehmen‘ bezeichnet, sondern auch mit dem der poetischen Wahrscheinlichkeit. Damit wird angedeutet, dass die poetischen oder ästhetischen Qualitäten des Gedichts zugleich einen epistemischen Aspekt haben, also mit epistemischen Begriffen wie ‚Wahrheit‘ und ‚Wahrscheinlichkeit‘ beschrieben werden können. In der zitierten Passage der Vorrede behauptet Meier einfach apodiktisch, dass philosophische Irrtümer „eine größere poetische Wahrscheinlichkeit haben [können], als die ihnen entgegengesetzten philosophischen Wahrheiten“, ohne dies zu begründen und ohne zu erläutern, was poetische Wahrscheinlichkeit

300 Georg Friedrich Meier, „Vorrede“, in: [Christoph Martin Wieland], Die Natur der Dinge in sechs Büchern. Mit einer Vorrede Georg Friedrich Meiers, Halle 1752 [unpag.].

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überhaupt ist. Doch im wenige Jahre zuvor erschienenen ersten Band seiner Anfangsgründe (1748) entwickelt er umfassende theoretische Überlegungen über ästhetische Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, die als Hintergrund der zitierten Aussagen aus der Wieland-Vorrede gelten können.301 Besonders relevant ist ein Kapitel mit der Überschrift „Von der aesthetischen Wahrscheinlichkeit der Gedanken“,302 in dem sich gleich zu Beginn ein Satz findet, der fast wörtlich mit einem Satz aus der Vorrede zu Wielands Lehrgedicht übereinstimmt: Viele Kunstrichter stehen in dem Gedanken, als wenn die aesthetische Wahrheit, mit der logischen und metaphysischen, völlig einerley sey. Ich werde genug Gelegenheit haben, diesen Irthum zu bestreiten, und man kann auch aus der Erfahrung gewahr werden, daß die schönsten Gedanken der vortreflichsten Dichter würden verworfen werden müssen, wenn man sie nach der Metaphysik und Vernunftlehre prüfen wollte.303

Eine Vorstellung ist ästhetisch wahr, so Meier im Folgenden, wenn das Vorgestellte erstens „schön gedacht werden kann“ und zweitens nichts Falsches oder Widersprüchliches enthält, das – dies ist der entscheidende Punkt – die unteren Seelenkräfte als falsch oder widersprüchlich erkennen können.304 Zu den Beispielen, anhand derer Meier diesen Gedanken näher ausführt, gehört eine vieldiskutierte Passage aus Hallers Ueber den Ursprung des Uebels. Meier bezieht sich hier nicht auf den umstrittenen Satz „Befruchtet mit der Kraft des Wesenreichen Wortes | Gebiert das alte Nichts“, sondern auf den unmittelbar folgenden: „den Raum des öden Ortes | Erfült verschiedner Zeug“.305 In diesen Versen wird mithin der „Raum“ als „ein Behältnis“ vorgestellt, „in welchem die Körper angetroffen werden“. Dies ist „ein volkommen unrichtiger Gedanke“, so Meier, aber einer, „dessen Falschheit [. . .] nur durch einen reinern Verstand,

301 Vgl. Georg Friedrich Meier, Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. Erster Theil, andere Auflage. Halle im Magdeburgischen 1754. 302 Vgl. ebd., S. 187–251. Vgl. zu diesem Kapitel Meiers auch: Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 54–56. Zu den Begriffen der ästhetischen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit bei Baumgarten vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten, Ästhetik. Übersetzt, mit einer Einleitung, Anmerkungen und Register hrsg. von Dagmar Mirbach. Lateinisch-deutsch. [2 Bände.] Bd. 1. Hamburg 2007, S. 403–422 (Abschnitt XXVII: „Veritas aesthetica“), 457–482 (Abschnitt XXIX: „Verisimilitudo aesthetica“). Vgl. hierzu ferner Dagmar Mirbach, „Einführung. Zur fragmentarischen Ganzheit von Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica (1750/58)“, in: Ebd., S. XVII–LXXX, hier S. XLIV–LII. 303 Meier, Anfangsgründe, Erster Teil, 2. Aufl., S. 187. 304 Ebd., S. 188. – Später erläutert Meier, weshalb „die aesthetische Wahrheit überhaupt, eine aesthetische Wahrscheinlichkeit genent“ wird (ebd., S. 202). 305 Ebd., S. 195.

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der metaphysisch erleuchtet ist, entdeckt werden kan.“306 Die Falschheit der Vorstellung kann somit ihre Schönheit nicht mindern.307 In eine ähnliche Richtung wie diese Ausführungen Meiers weisen einige der Überlegungen zum Verhältnis von Dichtung und Philosophie, die Lessing und Mendelssohn in ihrer 1755 anonym erschienenen Abhandlung Pope ein Metaphysiker! entwickelten.308 Die Schrift enthielt eine Antwort auf die 1753 von der Berliner Akademie gestellte Preisaufgabe, die Lessing und Mendelssohn aber nicht zum Wettbewerb eingereicht hatten.309 Einige Literaturhistoriker haben dieser Abhandlung einen bedeutenden Anteil an dem (angenommenen) Niedergang der Gattung Lehrgedicht oder an einer lyrisierenden Wandlung des Lehrgedichts zugeschrieben.310 Immerhin findet sich in der Schrift die provozierende Behauptung, „Lucrez und seines gleichen“ seien „Versmacher, aber keine Dichter“.311 Doch gegen diese Sicht ist zu Recht eingewendet worden, dass eine größere Wirkung der Schrift im 18. Jahrhundert nicht nachweisbar ist. Sie stieß nach ihrem Erscheinen auf wenig Resonanz312 und wurde zu Lebzeiten der Verfasser nicht wiederaufgelegt.313

306 Ebd., S. 194. 307 Vgl. auch Siegrists Zusammenfassung und Kommentierung eines Grundgedankens Meiers: „Ästhetische Gebilde sollen nach ästhetischen, nicht nach logischen Kategorien geprüft werden: aus der Einsicht in die kategoriale Differenz erwächst Meier eine Ahnung jener Autonomie ästhetischer Gegenstände, welche seine Generation schärfer zu formulieren nicht imstande war.“ (Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 55) Was an der wiedergegebenen Auffassung Meiers unscharf sein soll, sagt Siegrist nicht. 308 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing/Moses Mendelssohn, Pope ein Metaphysiker!, in: Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 3: Werke 1754–1757, Frankfurt a.M. 2003, S. 614–650. 309 Vgl. zu dieser Abhandlung: Michelsen, „Ist alles gut?“; Hugh Barr Nisbet, Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Karl S. Guthke. München 2008, S. 237–245. 310 Vgl. Albertsen, Das Lehrgedicht, S. 339: „Insbesondere der Aufsatz ‚Pope ein Metaphysiker!‘ leitet die Entwicklung zum künftigen Lehrgedicht ein, um das Herder später bemüht ist.“ Für eine – sehr knappe – Auseinandersetzung mit dem Aufsatz vgl. ebd., S. 345 f.; dort heißt es, die Abhandlung „bereite[] eine Entwicklung des Lehrgedichts ins Lyrischere vor“ (ebd., S. 346). 311 Lessing/Mendelssohn, Pope ein Metaphysiker!, S. 618. 312 Vgl. Nisbet, Lessing, S. 244. 313 Vgl. Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“, S. 564. Jäger vertritt hier allerdings nicht nur die Ansicht, Albertsen habe die „Wirkung“ der Schrift von Mendelssohn und Lessing „überschätzt“, sondern auch die, diese Schrift sage zur „Gattung des Lehrgedichts [. . .] verhältnismäßig wenig Neues“ (ebd.). Diese letztere Ansicht scheint mir von Jäger nicht überzeugend begründet zu werden. Die vermutlich provozierendste Stelle aus Lessings und Mendelssohns Ausführungen zum Lehrgedicht (dazu siehe unten) lässt Jäger unerwähnt. – Siegrist zufolge „übte“ die Abhandlung „unmittelbar auf die Poetik der Aufklärung einen nicht allzu hoch zu veranschlagenden Einfluß aus“ (Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 30). Siegrists Wiedergabe der Argumentation der Abhandlung (vgl. ebd., S. 29 f.) scheint mir

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Aber auch wenn wenig dafür spricht, dass Pope ein Metaphysiker! zu einem maßgeblichen Legitimitätsverlust der Gattung Lehrgedicht führte, verdient die Schrift hier Beachtung, da sie auf der Basis Baumgarten’scher Prämissen eine prägnante Position zur Frage nach der Bedeutung der Wahrheit in Lehrgedichten formuliert. Für diese Thematik sind in erster Linie die einleitenden theoretischen Überlegungen relevant, die der eigentlichen Auseinandersetzung mit der von der Akademie gestellten Frage vorangehen. Lessing und Mendelssohn, dies gilt es zunächst festzuhalten, attackieren hier keinesfalls die Gattung des Lehrgedichts überhaupt; sie vertreten nur die Ansicht, dass ein Lehrgedicht, wenn es ein wahres Gedichte sein soll, nicht ein ganzes philosophisches System ausbreiten kann. Lukrez, der das System des Epikur vorstellen wollte, verstieß eben gegen diese Regel und kann deshalb laut Lessing und Mendelssohn nur als Versemacher gelten. Die Argumentation, auf die sie ihre Behauptung stützen, beruft sich nicht, wie gelegentlich behauptet wird, auf Aristoteles und sein Verdikt über das Lehrgedicht,314 sondern auf Baumgarten und lautet wie folgt315: Ein wahres Gedicht ist, wie Baumgarten gezeigt hat, eine vollkommene sinnliche Rede,316 soll also in allen Teilen das größtmögliche Maß an Sinnlichkeit besitzen; ein philosophisches System besitzt nicht in allen Teilen dieselbe Deutlichkeit, da manche Wahrheiten sich unmittelbar aus den Basisannahmen ergeben, andere erst aus langen Schlussketten folgen; deshalb könnte ein Gedicht, das alle Bestandteile eines Systems wiedergibt, nicht in allen Teilen vollkommen anschaulich und deutlich sein, und somit kann ein wahres Gedicht nicht die Wiedergabe eines philosophischen Systems sein.317 Die Vorgehensweise, die der

im Übrigen gleich mehrere Unrichtigkeiten zu enthalten und in einer Hinsicht die Stoßrichtung der Schrift geradezu ins Gegenteil zu verkehren: Es ging Lessing und Mendelssohn keineswegs darum, „das Popesche ‚System‘ zu zerpflücken“ (ebd., S. 29), so dass schließlich „Pope als Philosoph erledigt“ und „die gesamte Gattung als unpoetisch diskriminiert“ sei (ebd., S. 30). Vgl. dazu auch schon die zutreffende Kritik bei: Albertsen, „Das Lehrgedicht und die deutsche Aufklärung“, S. 227 f. 314 So etwa Jørgensen/Bohnen/Øhrgaard, Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik 1740–1789, S. 219: „Lessing [. . .] verwirft das Lehrgedicht aus aristotelischen Gründen [. . .].“ 315 Vgl. Lessing/Mendelssohn, Pope ein Metaphysiker!, S. 617–620. 316 Für eine eingehende Rekonstruktion der Gedichttheorie Baumgartens vgl. Werner Strube, „Alexander Gottlieb Baumgartens Theorie des Gedichts“, in: Verweyen (Hrsg.), Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung, S. 1–25. 317 „Nun überlege man, daß in einem System nicht alle Teile von gleicher Deutlichkeit sein können. Einige Wahrheiten desselben ergeben sich so gleich aus dem Grundsatze; andere sind mit gehäuften Schlüssen daraus herzuleiten. [. . .] Der Philosoph macht sich aus dieser kleinen Unbequemlichkeit der Systeme nichts. Die Wahrheit, die er durch einen Schluß erlangt, ist ihm darum nicht mehr Wahrheit, als die, zu welcher er nicht anders als durch zwanzig

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Dichter wählt und durch die er sich vom bloßen Versemacher unterscheidet, beschreiben Lessing und Mendelssohn so: Alles was er [i.e. der Dichter; O.K.] sagt, soll gleich starken Eindruck machen; alle seine Wahrheiten sollen gleich überzeugend rühren. Und dieses zu können, hat er kein ander Mittel, als diese Wahrheit nach diesem System, und jene nach einem andern auszudrücken. – – Er spricht mit dem Epikur, wo er die Wollust erheben will, und mit der Stoa, wo er die Tugend preisen soll. Die Wollust würde in den Versen eines Seneka, wenn er überall genau bei seinen Grundsätzen bleiben wollte, einen sehr traurigen Aufzug machen, eben so gewiß, als die Tugend, in den Liedern eines sich immer gleichen Epikurers, ziemlich das Ansehen einer Metze haben würde.318

Man kann bezweifeln, ob das angeführte Beispiel vom Lob der Wollust und der Tugend mithilfe von Epikureismus und Stoa wirklich zu dem zuvor in allgemeinen Begriffen formulierten Argument passt.319 Jedenfalls provoziert die Empfehlung, ein Dichter solle sich in ein und demselben Gedicht mal auf Senecas, mal auf Epikurs Grundsätze stützen, eigentlich den Einwand, dass ein Dichter doch nicht die Grundsätze beider Philosophen für gleichermaßen wahr halten könne. Dass die Autoren diesen naheliegenden Einwand einfach übergehen, ist kaum anders zu verstehen denn als eine Aufforderung an den Dichter, die Frage nach

Schlüsse gelangen kann; [. . .]. Allein ganz anders denkt der Dichter.“ (Lessing/Mendelssohn, Pope ein Metaphysiker!, S. 619 f.) 318 Ebd., S. 620. 319 In dem allgemein formulierten Argument stellten die Autoren das Problem heraus, dass in jedem System manche Wahrheiten erst durch „zwanzig Schlüsse“ aus dem Grundsatz herzuleiten sind und folglich eine geringe „Deutlichkeit“ haben. Das Problem, das sich ergibt, wenn man auf der Basis des stoischen Systems die Wollust preisen will, scheint aber ein anderes zu sein: Ein Lobpreis der Wollust würde sich, zumindest wenn man eine Standardinterpretation des stoischen Systems voraussetzt, auch nicht mit zwanzig Schlüssen aus dessen Grundsätzen herleiten lassen, sondern wäre schlicht unvereinbar mit diesen Grundsätzen. Eine solche Unvereinbarkeit scheinen Lessing und Mendelssohn auch zu umschreiben, wenn sie sagen, dass die Tugend in den Liedern eines Epikureers das Aussehen „einer Metze“ hätte: Das dürfte bedeuten, dass das in diesen Liedern Gefeierte eigentlich nicht mehr Tugend ist, dass das Lob der Tugend (die Lessing und Mendelssohn hier stillschweigend mit Keuschheit gleichzusetzen scheinen) also mit den Grundsätzen des Epikureismus unvereinbar ist. In dem allgemeinen Argument geht es also um die geringe Deutlichkeit bestimmter Aussagen, die sich aus dem zu ihrer Begründung erforderlichen Argumentationsaufwand ergibt, in dem konkreten Beispiel geht es letztlich um die Unvereinbarkeit bestimmter Aussagen oder Sprechhandlungen (Lob der Wollust/der Tugend) mit den Grundsätzen bestimmter Systeme. – Wichtig ist nun, dass nur das allgemeine Argument sich stimmig aus den Baumgarten’schen Voraussetzungen entwickeln lässt bzw. dass man nur für das allgemeine Argument die Baumgarten’schen Begriffe ‚braucht‘. Das konkrete Beispiel zu Tugend und Wollust, Stoa und Epikur käme auch ohne Baumgarten und seinen Begriff des Gedichts aus.

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der Wahrheit der philosophischen Systeme hinter die Frage nach ihrer poetischen Leistungskraft für die gerade aktuelle Aufgabe zurückzustellen.320 In der Lessing-Forschung ist darauf hingewiesen worden, dass die eben zitierte Passage aus Pope ein Metaphysiker! einem Abschnitt aus Lessings kurz zuvor erschienenen Rettungen des Horaz (1754) bis in den Wortlaut hinein ähnelt. So auffällig die Parallele in der Tat ist, ist sie doch auch mit einer kleinen, aber wichtigen Veränderung verbunden. In den Rettungen hatte Lessing es für schwierig oder sogar „unmöglich“ erklärt, aus den Gedichten des Horaz „seine Meinungen zu schließen, sie mögen nun die Religion oder die Weltweisheit betreffen“: Denn Horaz „borge[]“ sich zu jedem Gegenstand, also etwa zur Tugend oder zur Wollust, „die schönsten Gedanken zu ihrer Ausbildung“, ohne sich darum zu kümmern, aus welchem philosophischen „Lehrgebäude“ sie stammen.321 Dieses Verfahren des Dichters und seine Implikationen für den Interpreten werden hier von Lessing aber ausdrücklich an die Gattung der Gedichte gebunden: Der Schluss von den Gedichten auf die Meinungen des Dichters wäre legitim, so Lessing, wenn Horaz diese Meinungen „in eigentlichen Lehrgedichten ausdrücklich hätte entdecken wollen.“322 Als Lessing im Folgenden allgemein eine Unterscheidung zwischen Dichter und Gedichtsprecher etabliert, spricht er explizit über den „Odendichter“: Der Odendichter besonders pflegt zwar fast immer in der ersten Person zu reden, aber nur selten ist das ich sein eigen ich. Er muß sich dann und wann in fremde Umstände setzen, oder setzt sich mit Willen hinein, um seinen Witz auch außer der Sphäre seiner Empfindungen zu üben.323

320 Wie Eric Achermann notiert, hätte Haller den Aussagen der zitierten Passage kaum zugestimmt: Die „behauptete moralische Indifferenz der Dichtung“ wäre ihm „als Desavouierung“ erschienen (Achermann, „Dichtung“, S. 146). Ergänzen könnte man, dass Lessing und Mendelssohn in dieser Passage nicht nur eine moralische, sondern in gewissem Sinne auch eine epistemische oder kognitive Indifferenz der Dichtung behaupten und dass auch dies für Haller inakzeptabel gewesen sein dürfte. 321 Gotthold Ephraim Lessing, Rettungen des Horaz, in: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3, S. 158–197, Zitat S. 186. – Auf die Parallele zu der oben zitierten Stelle in Pope ein Metaphysiker! weist der Bandherausgeber im Stellenkommentar hin: vgl. ebd., S. 1027. Vgl. auch Nisbet, Lessing, S. 239. 322 Lessing, Rettungen des Horaz, S. 186. 323 Ebd., S. 186. – Vgl. zu dieser Passage auch: Helmut Krasser, „Büßer, Spötter oder Künstler. Zur Interpretationsgeschichte der Horazode 1,34“, in: Helmut Krasser/Ernst A. Schmidt, Zeitgenosse Horaz. Der Dichter und seine Leser seit zwei Jahrtausenden, Tübingen 1996, S. 311–343, hier S. 335. Krasser schreibt hier: „Lessing trifft, soweit ich sehe, als erster eine Unterscheidung zwischen lyrischem Ich und der realen Gestalt des Dichters“ (ebd.).

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Auf einer solchen Trennung zwischen den Sprechern der Gedichte und den Autoren hatten wenige Jahre zuvor auch Gleim und Hagedorn insistiert. Ihre diesbezüglichen Äußerungen geben aber durch den Wortlaut oder den Kontext zu erkennen, dass sie diese Unterscheidung vor allem für bestimmte Gattungen beachtet wissen möchten, nämlich für anakreontische Gedichte und Liebesgedichte.324 Insofern stellte es noch einen weiteren Schritt und einen neuen Gedanken dar, wenn Lessing und Mendelssohn auch für ein philosophisches Lehrgedicht wie An Essay on Man eine solche Trennung zwischen Gedichtsprecher und Autor proklamierten. Die hier analysierten Gedanken Meiers, Lessings und Mendelssohns zum Verhältnis von Lehrgedichten zur Wahrheit stellten um die Jahrhundertmitte gewiss keine Mehrheitsposition innerhalb der deutschsprachigen Dichtungstheorie dar. Auch unter den Anhängern Baumgartens bestand keineswegs Einigkeit über diese Fragen: Christoph Joseph Sucro etwa hält in seiner „Abhandlung von philosophischen Gedichten“ (1747), in der er ebenfalls auf Baumgarten rekurriert, entschieden daran fest, dass Lehrgedichte wahre Gedanken darstellen sollten.325 In welchem Maße Überlegungen wie diejenigen Meiers von den Verfassern von Lehrgedichten rezipiert wurden, ist schwer auszumachen. Doch in der Vorbemerkung zu einem der in diesem Teil untersuchten Gedichte findet sich eine Behauptung, die an Meiers Vorrede zu Wielands Die Natur der Dinge erinnert. Friedrich Carl Casimir von Creuz stellte seinem Lehrgedicht Lucrezische Gedanken in der Ausgabe von 1769 die folgende Bemerkung voran: Die Absicht des Verfassers ist gar nicht, ein Lucrezisches Lehrgebäude zu liefern; er will nur sonst in Lucrezischem Geschmacke dichten. Was in diesem Gedichte auch nach des Verfassers eigner Meinung philosophisch unrichtig ist, dieses kann poetisch richtig seyn, und die Freiheit, welche die alten Dichter gehabt haben, sich Götter und Göttinnen zu

324 Für Gleims Forderung nach einer solchen Trennung vgl. [Johann Wilhelm Ludwig Gleim], Versuch in Scherzhaften Liedern. Zweeter Theil. Berlin 1745, S. XX f. („Vorrede“): „Schliesset niemals aus den Schriften der Dichter, auf die Sitten derselben. Ihr werdet euch betriegen; denn sie schreiben nur, ihren Witz zu zeigen, und solten sie auch dadurch ihre Tugend in Verdacht setzen. Sie characterisiren sich nicht, wie sie sind, sondern wie es die Art der Gedichte erfodert, und sie nehmen das Systema am liebsten an, welches am meisten Gelegenheit giebt, witzig zu seyn.“ – In Hagedorns Werken findet sich eine ähnliche Aufforderung in seinem Gedicht An die heutigen Encratiten: [Friedrich von Hagedorn], Oden und Lieder in fünf Büchern, Hamburg 1754, S. 141–145; die besonders relevanten Verse lauten: „Es zeigt die Sprache muntrer Jugend | Nicht stets der Jugend Fehler an. | Petrarchen, der in Versen herzet, | War Laura keine Lesbia; | Voiture, der so feurig scherzet, | Trank Wasser, wie ein Seneca.“ (Ebd., S. 144) 325 Vgl. Sucro, „Abhandlung von philosophischen Gedichten“. Vgl. hierzu oben, Teil II, Kap. 4.2.

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erdenken, und Schöne in Inseln zu verwandeln, haben wir in der Wahl solcher Hypothesen, welche die geschicktesten sind, eine poetische Tracht anzunehmen.326

Auch für Creuz muss es dem Rang eines Lehrgedichts keinen Abbruch tun, wenn die darin präsentierten Gedanken falsch („philosophisch unrichtig“) sind. Wie Meier nicht nur von Schönheit, sondern auch von ästhetischer Wahrheit spricht, so spricht Creuz von ‚poetischer Richtigkeit‘.

6.3 Ambivalente Positionen bei den Verteidigern von Schillers Die Götter Griechenlandes Die langjährige, weitverzweigte Diskussion um Popes Essay on Man, die im Hintergrund des oben behandelten Texts von Lessing und Mendelssohn steht, war vermutlich im 18. Jahrhundert die aufsehenerregendste Debatte um den Wahrheitsgehalt eines Lehrgedichts. Gegen Ende des Jahrhunderts löste Friedrich Schillers Gedicht Die Götter Griechenlandes (1788) eine Kontroverse aus, die ebenfalls die Frage nach der Wahrheit des Gedichtinhalts betraf und die zumindest in der deutschen literarischen Öffentlichkeit weithin Beachtung fand. Diese große Resonanz der Kontroverse sowie die Beschaffenheit der vorgebrachten Argumente verleihen dieser Episode auch im vorliegenden Zusammenhang Relevanz. Ob das Gedicht als Lehrgedicht eingeordnet werden kann, ist an dieser Stelle nicht entscheidend; es weist zumindest einige Eigenschaften eines Lehrgedichts auf,327 und für die Kontroverse war eine dieser Eigenschaften wichtig, nämlich der bedeutende Anteil allgemeiner, argumentativ gestützter Aussagen mit philosophischem Gehalt: Der durch die Rezension Friedrich Leopold Graf zu Stolbergs ausgelöste Streit betraf bekanntlich die im Gedicht enthaltenen Aussagen über den Polytheismus der griechischen Antike und über eine neuzeitliche monotheistische Religion. Die Auseinandersetzung zwischen Stolberg auf der einen, Schiller, Christian Gottfried Körner und Georg Forster auf der anderen Seite wird in der Forschung häufig vor allem als ein Konflikt zwischen Anhängern eines heteronomen und

326 Creuz, Oden und andere Gedichte, Bd. 2, S. 192 (Lucrezische Gedanken, [Vorbemerkung]). 327 Bouterwek zählte Die Götter Griechenlandes in seiner 1819 erschienenen Literaturgeschichte zu denjenigen lyrischen Gedichten Schillers, in denen „das eigentlich lyrische Interesse [. . .] in das philosophisch-didaktische über[geht]“. (Friedrich Bouterwek, Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts. Eilfter Band. Göttingen 1819, S. 418.) Dasselbe gilt nach Bouterwek für die Gedichte Die Künstler und Der Spaziergang (vgl. ebd.).

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eines autonomen Dichtungsverständnisses beschrieben.328 Diese Sichtweise wird durch einige Formulierungen in den einschlägigen Texten geradezu aufgedrängt; immerhin schrieb Stolberg ausdrücklich, der letzte Zweck der Poesie sei nicht sie selbst, und Körner erwiderte in seinem Aufsatz, die Kunst sei selbst ihr letzter Zweck. Aber auch Meiers Aussagen über Wielands Die Natur der Dinge und Creuz’ Äußerung über seine Lucrezische[n] Gedanken behaupteten in gewissem Sinne schon die Autonomie der Dichtung, nämlich eine Unabhängigkeit des poetischen Werts dieser Lehrgedichte von der philosophischen Richtigkeit der darin formulierten Lehren. Im Vergleich fällt nun auf, dass die von Meier und Creuz bezogene Position von den Verteidigern des Schiller’schen Gedichts weniger konsequent formuliert wird. Zumindest begnügen sich weder Schiller selbst noch Körner oder Forster mit der Behauptung, das Gedicht sei schön oder könne schön sein, selbst wenn die darin enthaltenen philosophischen Gedanken falsch seien; sie suchen vielmehr jeweils zu zeigen, dass das Gedicht doch Wahrheit enthalte oder dass es nicht nur schön sei, sondern auch eine bessernde und veredelnde Wirkung auf die Leser auszuüben vermöge. Die Rechtfertigungen des Gedichts durch Körner, Forster und Schiller selbst sind hier aber auch noch aus einem anderen Grund von Interesse. Die drei Autoren stützen sich, wie im Folgenden deutlich werden soll, auf durchaus unterschiedliche Beschreibungen und Interpretationen des strittigen Gedichts, und so bieten ihre Argumentationen in der Zusammenschau auch ein kleines Spektrum von Verfahren, die im späten 18. Jahrhundert zur Deutung von philosophischen Lehrgedichten zur Verfügung standen. Aufschlussreich ist insbesondere, ob und wie bei Körner, Forster und Schiller selbst zwischen der Sprecherinstanz und dem Dichter differenziert wird. Im Folgenden soll also vor allem die Verteidigung von Die Götter Griechenlandes durch Schiller, Körner und Forster im Zentrum stehen, weniger die Kritik Stolbergs.329 Doch eine knappe Bemerkung verdient hier auch diese Kritik, da sie in

328 Vgl. etwa: Norbert Oellers, „Stolberg, das Christentum und die Antike. Der Streit mit Schiller“, in: Frank Baudach/Jürgen Behrens/Ute Pott (Hrsg.), Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750–1819). Beiträge zum Eutiner Symposium im September 1997, Eutin 2002, S. 109–126, hier vor allem S. 112, 119, 121; Ludwig Stockinger, „Friedrich Leopold Stolbergs Konversion als ‚Zeitzeugnis‘“, in: ebd., S. 199–246, hier S. 217 f.; Wolfgang Frühwald, „Die Auseinandersetzung um Schillers Gedicht ‚Die Götter Griechenlandes‘“, in: JBDSG, 13/1969, S. 251–271, hier v. a. S. 262–264. Vgl. auch: Gerhard Plumpe, „Ausdifferenzierung – Antike“, in: Niels Werber (Hrsg.), Systemtheoretische Literaturwissenschaft. Begriffe, Methoden, Anwendungen, Berlin [u. a.] 2011, S. 23–37, hier S. 36. 329 Die Texte Stolbergs, Körners und Forsters werden nach dem Abdruck in dieser Quellensammlung zitiert: Oscar Fambach (Hrsg.), Schiller und sein Kreis in der Kritik ihrer Zeit, Berlin 1957. Vgl. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, „Gedanken über Herrn Schillers Gedicht: Die

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der Forschung häufig etwas reduziert wiedergegeben wird330 und dabei gerade ein Punkt verwischt wird, der im Hinblick auf die Rezeptionserwartungen gegenüber philosophischen Lehrgedichten relevant ist. Stolberg verurteilt zunächst das Gedicht, weil es Aussagen enthält, die kaum anders denn als Lästerungen des christlichen Gottes zu verstehen seien, und weil es ferner die antike griechische Religion und Kultur beschönige.331 Doch Stolberg zeigt sich im Folgenden keineswegs überzeugt, dass Schiller hier seine eigentlichen Überzeugungen ausdrücke. Mit Blick auf andere Gedichte Schillers, die ihm eine ganz andere Einstellung auszudrücken scheinen (insbesondere auf den „Rundgesang die Freude“), fragt er sich vielmehr, ob Schiller ein dichtender Sophist sei, der in dem einen Gedicht diese, in einem anderen eine entgegengesetzte Lehre mit poetischem Glanz ausstatte.332 Was Stolberg empört, ist also nicht nur, und vielleicht auch nicht primär, die Unvereinbarkeit des Gedichtinhalts mit der christlichen Lehre; es ist auch, oder vielleicht vor allem, die von ihm vermutete Diskrepanz zwischen dem Gedichtinhalt und Schillers persönlichen Überzeugungen, also die fehlende Transparenz des Gedichts mit Bezug auf die Ansichten des Autors. Wenn Stolberg im ersten Teil seiner Rezension eine „Poesie, welche nicht der Wahrheit gewidmet ist“ oder sogar „die Wahrheit

Götter Griechenlandes“, in: Deutsches Museum. Achtes Stück. August 1788. Zitiert nach dem Abdruck in: ebd., S. 44–49; K. [= Christian Gottfried Körner], „Ueber die Freiheit des Dichters bei der Wahl seines Stoffs“, in: Thalia. Hrsg. von Schiller. Zweiter Band. Sechstes Heft. März 1789, S. 59–71. Zitiert nach: ebd., S. 53–57; Anon. [= Johann Georg Forster], „Fragment eines Briefes an einen deutschen Schriftsteller über Schillers Götter Griechenlands“. In: Neue Litteratur und Völkerkunde. 1. Band. S. 373–392. Zitiert nach dem Abdruck in: ebd., S. 60–69. 330 Das gilt meines Erachtens für: Oellers, „Stolberg, das Christentum und die Antike“; Frühwald, „Die Auseinandersetzung um Schillers Gedicht ‚Die Götter Griechenlandes‘“. Differenziertere Beobachtungen zur Argumentation Stolbergs bietet dagegen: Stockinger, „Friedrich Leopold Stolbergs Konversion als ‚Zeitzeugnis‘“, S. 217–220. – Dahnkes Aufsatz zu der Kontroverse liefert ausführliche Darstellungen der Texte Stolbergs, Körners und Forsters, die aber von massiven moralischen und politischen Wertungen überlagert sind und nur einen geringen analytischen Ertrag bringen. Vgl. Hans-Dietrich Dahnke, „Die Debatte um Die Götter Griechenlandes“, in: Hans-Dietrich Dahnke/Bernd Leistner (Hrsg.), Debatten und Kontroversen. Literarische Auseinandersetzungen in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts. Bd. 1. Berlin/Weimar 1989, S. 193–269. 331 Vgl. Stolberg, „Gedanken über Herrn Schillers Gedicht: Die Götter Griechenlandes“, S. 45–47. 332 Vgl. ebd., S. 47: „Bis zu Wonnethränen hat mich Schillers Rundgesang die Freude gerührt. [/] Bei zwei andern lyrischen Gedichten dieses Mannes empfand ich, was ich bei diesem Lobe der Götter Griechenlandes empfinde. [/] Hat der Dichter zwo Seelen, wie jener junge Meder beim Xenophan zu haben wähnte? [/] Bläßt er aus einem Munde kalt, und warm, wie der Wanderer in der Höhle des ehrlichen Fauns?“

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anfeindet“, verurteilt,333 so ist nicht eindeutig, was er damit meint: eine Poesie, die nicht die Lehren der christlichen Religion verkündet (also das, was Stolberg für die Wahrheit hält),334 oder eine Poesie, die nicht das ausdrückt und nicht dem dient, was ihr Autor für die Wahrheit hält. Ein Indiz dafür, dass Stolberg das zuletzt Genannte meint, bietet der Umstand, dass er die nicht der Wahrheit gewidmete Poesie hier als „Tausendkünstelei“335 anspricht. Wenn dieser Aspekt des Aufsatzes berücksichtigt wird, so ändert das nichts an dem Befund, dass Stolberg den Gedanken einer Autonomie der Kunst ablehnt: „[. . .] der wahren Poesie lezter Zweck ist nicht sie selbst“,336 so heißt es bei ihm unmissverständlich. Es wird nur deutlicher, dass seine Kritik sich nicht ausschließlich gegen eine unchristliche oder antichristliche Poesie wendet, sondern auch gegen eine Poesie, die sich keinem anderen Wert als dem schönen Glanz verpflichtet weiß, die sich damit begnügt, zu ‚schimmern, ohne zu wärmen‘. Wo Stolberg den Verdacht äußert, Schiller verkünde in seinen Gedichten wie ein Sophist mal die eine und mal die andere, entgegengesetzte Lehre, da stellt er implizit die Forderung auf, dass philosophische Gedichte ein wahrhaftiger Ausdruck der Überzeugungen des Dichters sein sollten. Es lohnt sich, diesen Aspekt seiner Argumentation hervorzuheben und die Reaktionen Schillers, Körners und Forsters daraufhin zu befragen, wie sie sich gegenüber dieser Forderung und Erwartung verhalten. Dabei ist auch zu bedenken, dass die dichtungstheoretischen Diskussionen des 18. Jahrhunderts ein Argument bereitstellten, das sich zur Abwehr der Kritik Stolbergs besonders geeignet hätte: Stolberg setzte in seiner Kritik offenbar die Sprecherinstanzen der Gedichte Schillers mit dem Dichter gleich, und eine solche Identifikation war in den vorangegangenen Jahrzehnten, wie oben gezeigt wurde, von verschiedenen Autoren in Frage gestellt worden. Daher soll in der Analyse der Schiller-Apologeten auch darauf geachtet werden, ob sie eine Unterscheidung zwischen Dichter und Gedichtsprecher einfordern. Als erstes sei der Aufsatz Körners näher betrachtet. Er scheint zunächst ohne Vorbehalte die Freiheit der Kunst zu proklamieren, wenn er schreibt: „Die Kunst ist keinem fremdartigen Zwecke dienstbar. Sie ist selbst ihr eigner

333 Vgl. ebd., S. 45: „Poesie, welche nicht der Wahrheit gewidmet ist, schimmert ohne zu wärmen. [. . .] [/] Poesie, welche die Wahrheit anfeindet, mag als Dichtkunst bewundern wer da will; ich habe immer zu groß von der Poesie gedacht, um sie für Tausendkünstelei zu halten, um zu glauben, daß sie nach einer Bewundrung streben könne, zu welcher sich Verachtung und Abscheu gesellen.“ 334 So deutete Forster in seinem Aufsatz die Kritik Stolbergs: „Ihre Ueberzeugung nennen Sie also Wahrheit?“ ([Forster], „Fragment eines Briefes“, S. 64) 335 Stolberg, „Gedanken über Herrn Schillers Gedicht: Die Götter Griechenlandes“, S. 45. 336 Ebd., S. 47.

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Zweck.“337 Aber schon wenig später erklärt er, die Kunst habe dieselbe „Bestimmung“ wie „Religion“ und „Patriotismus“, nämlich die „Bestimmung, Leidenschaft zu veredeln“.338 Diese Aufgabe wird bei Körner wie folgt expliziert: Ihn [i.e. den Menschen; O.K.] zum Gefühl seines Werths zu erheben, und ihm durch würdigere Genüsse die niedrigen Befriedigungen der Eitelkeit und thierischen Sinnlichkeit zu verekeln, ist das wichtigste Geschäft der ächten Ausbildung, ohne welches alle übrige Cultur nur Flitterstaat ist. Und hier zeigt sich das wahre Verdienst der Kunst in seiner Größe.339

Die Kunst ist also „selbst ihr eigner Zweck“, aber zugleich hat sie eine „Bestimmung“. Eine ähnliche Ambivalenz oder ein ähnliches Balancestreben wie in diesen allgemeinen Aussagen zeigt sich dort, wo Körner sich dem im Titel angekündigten zentralen Thema seines Aufsatzes zuwendet, der „Freiheit des Dichters bei der Wahl seines Stoffs“. Zunächst betont er, es gebe „interessante Seiten der menschlichen Natur auch außerhalb der Gränzen der Wahrheit und Moralität“, es gebe „einen ästhetischen Gehalt, der von dem moralischen Werthe unabhängig ist“.340 Dieses Primat der dichterischen oder ästhetischen Qualitäten formuliert Körner auch einmal mithilfe des Begriffs einer ‚dichterischen Wahrheit‘: „Dichterische Wahrheit fordert oft mit Recht eine gewisse Aufopferung der philosophischen.“341 Doch damit ist die „Frage, in wie fern es dem Künstler erlaubt ist, die Gränzen der Wahrheit und Moralität zu überschreiten“, für Körner nicht erledigt; denn die Freiheit, die er für den Dichter einklagt, soll auch in seinen Augen eine „Gränzlinie“ haben, die der Künstler „eben so wohl aus ästhetischen, als aus moralischen Rücksichten nicht überschreiten darf“.342 Diese Grenze zieht Körner wie folgt: Was an sich selbst ein unverdorbenes Gefühl für Wahrheit und Moralität beleidigt, darf nur in so fern ein Gegenstand der Kunst werden, als es einer begeisternden Idee untergeordnet und zu ihrer lebendigen Darstellung nothwendig ist.343

An dieser Stelle wäre eigentlich der Versuch eines Nachweises zu erwarten, dass Die Götter Griechenlandes die so gezogene Grenze respektiert, dass das Gedicht also keine Verstöße gegen Wahrheit und Moralität enthält, die nicht einer „begeisternden Idee untergeordnet und zu ihrer lebendigen Darstellung nothwendig“ 337 [Körner], „Ueber die Freiheit des Dichters“, S. 54. 338 Ebd., S. 54. 339 Ebd., S. 54. 340 Ebd., S. 55. 341 Ebd., S. 56. 342 Ebd. 343 Ebd.

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wären. Aber eine solche Konkretisierung leistet Körner nicht, was Schiller ausdrücklich bedauerte.344 Körner wiederum gab in einem Brief an Schiller – aber wohlgemerkt nur in dem privaten Brief – zu erkennen, dass seiner Ansicht nach Schiller in einigen Gedichtpassagen die Grenze des Ziemlichen überschritten hatte: „Einige Ausfälle wünsche ich weg, die nur die plumpe Dogmatik, nicht das verfeinerte Christenthum treffen.“345 Das Konkreteste an Körners Ausführungen in dem Aufsatz sind einige Bemerkungen darüber, in welcher spezifischen Weise verschiedene Gattungen von der Freiheit in der Stoffwahl Gebrauch machen und auf sie angewiesen sind. Über das Lehrgedicht sagt Körner hier nichts; seine Aussagen über den „lyrischen Dichter“ und die „Ode“ dürften implizit auf Die Götter Griechenlandes zielen. Eine Ode ist nach Körner „der Monolog eines idealischen Menschen in einer idealischen Stimmung“. Eine idealische Stimmung aber ist für Körner offenbar mit Leidenschaft verbunden; und der Dichter müsste sich „aller leidenschaftlichen Darstellung enthalten [. . .], wenn ihm gar keine Aeußerung erlaubt seyn sollte, die nicht mit den besten Einsichten der Vernunft und den Gesetzen der Moralität völlig übereinstimmte.“346 Denn Leidenschaft äußert sich wie folgt: Seinem Ideale auch da noch getreu zu bleiben, wo dessen Darstellung an Karrikatur gränzt, ist eine schätzbare Kühnheit, ohne die besonders der Dichter die Wirkung des Erhabenen in leidenschaftlichen Schilderungen nie zu erreichen vermag. Einseitigkeit und Uebertreibung im Urtheilen, und Ausschweifung im Handeln ist der Charakter der Leidenschaft.347

Es wird hier nicht ganz deutlich, ob Körner zufolge in dem Gedicht Schiller selbst oder eine persona spricht. Die Bestimmung der Ode als „Monolog eines idealischen Menschen in einer idealischen Stimmung“ lässt durchaus die Möglichkeit offen, dass der monologisierende idealische Mensch eine persona ist, die vom Dichter klar zu trennen ist. Andererseits spricht Körner davon, dass „der Dichter“ im Gedicht „[s]einem Ideale“ mit einer Leidenschaft, die notwendig Übertreibungen mit sich bringe, Ausdruck verleihe. Forsters Verteidigung des Schiller’schen Gedichts weist gedankliche Parallelen zu dem Aufsatz Körners auf, entwickelt aber über weite Strecken eigenständige

344 Vgl. Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner, Brief vom 25. Dezember 1788. Zitiert nach: Fambach (Hrsg.), Schiller und sein Kreis, S. 51 f., hier S. 51. 345 Christian Gottfried Körner an Friedrich Schiller, Brief vom 25. April 1788. Zitiert nach: Fambach (Hrsg.), Schiller und sein Kreis, S. 49. 346 [Körner], „Ueber die Freiheit des Dichters“, S. 56. 347 Ebd., S. 56 f.

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Überlegungen, die bei Körner kein direktes Pendant haben. Man kann in dem Teil seines Artikels, der sich konkret auf das Gedicht bezieht,348 drei Argumente unterscheiden. Erstens erklärt er, dass das Gedicht nicht den christlichen Gott Stolbergs als fühllos, unnahbar darstelle, sondern nur „den philosophischen Gott“; schließlich werde der so negativ gezeichnete Gott ausdrücklich als „das ‚Werk des Verstandes‘“ bezeichnet.349 Stolberg dürfe sich mithin nicht angegriffen fühlen. Damit lässt Forster sich auf Stolbergs Forderung nach Wahrheit ein und sucht zu zeigen, dass dieser zumindest die im Gedicht artikulierte Kritik des Gottes als wahr akzeptieren könnte. Dieses Argument kann die negative Darstellung des neuzeitlichen Gottes rechtfertigen, aber kaum die Verherrlichung der griechischen Götter. Die Verteidigung dieses letzteren Gedichtaspekts unternimmt Forster in seinem zweiten Argument, indem er eine Deutung der Sprechergestalt des Gedichts entwirft, wie es ansatzweise auch Körner getan hatte. Doch während Körner den Sprecher als einen leidenschaftlich sein Ideal beschwörenden und folglich zu Übertreibungen neigenden Menschen aufgefasst hatte, sieht Forster in ihm gewissermaßen einen Menschen der griechischen Antike, mit dem sich der Dichter identifiziert habe: Mit jugendlich glühender Phantasie versetzt sich der Dichter in die Zeiten der Vorwelt, in ihre Denkungsart. [. . .] Indem ihn diese Gestalten der Einbildungskraft umschweben, kommt der Geist der Lieder über ihn und kleidet seine Anschauungen in Worte. [. . .] Wir hören nicht mehr unserer teutschen Mitbürger; ein Grieche würde so klagen, der nach Jahrtausenden erwachte, und seine Götter nicht mehr fände: ein Grieche, dessen junge, in Bildern spielende Vernunft noch keinen Sinn hat für einen metaphysischen Gott.350

Forster begreift die Sprecherinstanz des Gedichts also als persona, die klar vom Gedichtautor getrennt sei, und er postuliert „das hohe Vorrecht des Dichters, mit jeder Seele sich identificiren zu können“.351 Er stützt sich mithin auf die Trennung von Sprecher und Autor, wie sie sich etwa bei Lessing und Mendelssohn findet, gibt ihr aber eine Konkretisierung, mit der er sich dennoch in gewissem Sinne auf die Wahrheitsforderung einlässt: Das Gedicht ist nach ihm eine wahrheitsgetreue oder zumindest wahrscheinliche Darstellung des Seelenzustands eines alten Griechen, der in die Neuzeit versetzt wurde.

348 Forsters Artikel beginnt mit allgemeineren Ausführungen zur „Denk- und Gewissensfreyheit“ und zu den Richtlinien, die in der öffentlichen Auseinandersetzung beachtet werden sollten; vgl. [Forster], „Fragment eines Briefes“, S. 60–63, Zitat S. 62. 349 Ebd., S. 65. 350 Ebd., S. 66. 351 Ebd.

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Es bleibt die Frage, weshalb ein Dichter sich in eine solche Figur hineinfühlen und ihren Seelenzustand darstellen sollte. Eine mögliche Antwort auf die Frage wäre, dass diese Darstellung schön sein könne oder poetischen Reiz habe. Mit dieser Antwort begnügt Forster sich aber ebenso wenig wie Körner. Sein drittes Argument zur Verteidigung des Schiller’schen Gedichts lautet, dass auch ein solches Gedicht, in dem von einer fingierten Gestalt – aus heutiger Sicht – unwahre Gedanken geäußert werden, eine bessernde Wirkung auf die Leser haben könne: Lehrreich soll uns eine jede Dichtung seyn; sie soll uns mit neuen Ideenverbindungen bereichern, das Gefühl des Schönen in uns wecken, unsere Geisteskräfte üben, schärfen, stärken, durch ihre glühend lebendige Darstellung, uns Begriffe des Wirklichen in dem Gemählde des Möglichen zeigen. Die Gewalt des Dichters über die Gemüther besteht gänzlich in dieser schaffenden Energie seiner Seelenkräfte; durch sie rührt und erschüttert, oder erweicht und entzückt er die harmonisch mit ihm fühlende Seele, nicht durch einen besondern ästhetischen Satz, den er etwa beweisen will. Ließt wohl jemand Klopstocks Epopee als einen versificirten Katechismus, und gefällt die Gierusalemme nur als ein Compendium der christlichen Moral?352

Dichtung soll für Forster lehrreich sein, aber nicht oder nicht primär dadurch, dass sie wahre Aussagen aneinander reiht. Sie soll vielmehr lehrreich sein, indem sie verschiedene „Geisteskräfte“ des Lesers beansprucht und trainiert und indem sie ihm neue „Ideenverbindungen“ liefert und durch die Darstellung des „Möglichen“ ihm „Begriffe des Wirklichen“ vermittelt. Schließlich seien einige von Schillers eigenen einschlägigen Äußerungen knapp analysiert. Seine ausführlichste Reaktion auf die Kritik Stolbergs findet sich in einem Brief, den er im Dezember 1788 – nach dem Erscheinen von Körners, vor dem Erscheinen von Forsters Aufsatz – an Körner schickte.353 Auch seine Rechtfertigung des Gedichts enthält mehrere Schritte. Zunächst geht er auf Körners Argumentation in seinem Aufsatz ein und bedauert es, dass dieser zwar von einer Grenze gesprochen habe, wo „die Kunstfreiheit aufhört und die Uebertreibung anfängt“, die Lage dieser Grenze aber nicht näher bestimmt habe. Genau genommen, hatte Körner „Uebertreibung“ und „Einseitigkeit“ als erlaubt be-

352 Ebd., S. 67. 353 Vgl. Schiller an Körner, Brief vom 25. Dezember 1788, in: Fambach (Hrsg.), Schiller und sein Kreis, 51 f.

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zeichnet und dasjenige, was jenseits der Grenze des dem Künstler Erlaubten liegt, als „Karrikatur“ bezeichnet. Da Körner die besagte Grenze nicht genauer verortet habe, schlägt Schiller selbst eine „allgemeine Regel“ vor, die allerdings darauf hinauszulaufen scheint, dass es die von Körner postulierte Grenze doch nicht gebe, dass dem Dichter vielmehr jedes Maß an Übertreibung, auch die Karikatur, gestattet sei – solange sich die Übertreibungen und Karikaturen im Kunstwerk zu einem schönen Ganzen zusammenfügen. Schiller gebraucht hier zwar nicht den Ausdruck ‚Karikatur‘, aber seine Formulierungen stufen die Wirklichkeitstreue seiner Darstellung eher noch mehr herab, als es dieser täte: Der Gott, den er in dem Gedicht „in Schatten stelle“, sei „weder der Gott der Philosophen“ noch „das wohlthätige Traumbild des großen Haufens“, sondern „eine aus vielen gebrechlichen schiefen Vorstellungsarten zusammengeflossene Mißgeburt“, während auf der anderen Seite in den griechischen Göttern des Gedichts „nur die lieblichen Eigenschaften der griechischen Mythologie in eine Vorstellungsart zusammengefaßt“ seien.354 Eine solche Vorgehensweise, die mit Einseitigkeiten und massiven Verzerrungen der Realität arbeitet, soll dem Dichter aber erlaubt sein, wenn diese Elemente schließlich ein „schönes übereinstimmendes Ganze[s]“ ergeben. Betrachtet man allein diese Bemerkungen, so vertritt Schiller eine ähnliche Position wie Meier in der Vorrede zu Die Natur der Dinge und spitzt sie noch weiter zu. Doch zu beachten ist zunächst, dass Schiller in demselben Brief kurz zuvor auch schreibt, der Dichter behandle „niemals das Wirkliche, sondern immer nur das Idealische, oder das kunstmäßig Ausgewählte aus einem wirklichen Gegenstande“. Das ‚Idealische‘ eines wirklichen Gegenstands darzustellen, kann demnach auch bedeuten, in konsequenter Einseitigkeit nur die „lieblichen“ oder nur die „schiefen“ Seiten des Gegenstands auszuwählen. Wie der Begriff des Idealischen zu verstehen ist, den Schiller hier voraussetzt, ist nicht leicht zu erschließen; jedenfalls suggeriert diese Formulierung aber, dass das aus Einseitigkeiten und Verzerrungen zusammengesetzte Ganze nicht nur schön sein, sondern auch einen kognitiven Wert haben könnte. So verstanden, bereitet die Rede vom Idealischen in Schillers Brief eine weitere These vor, die auf den ersten Blick recht abrupt auf das oben behandelte, radikal formulierte Freiheitspostulat folgt. Schiller fährt fort, er „glaub[e] [. . .] festiglich“, dass der Künstler, der einzig und allein nach Schönheit strebt, „gerade auf diesem Wege auch alle übrigen Forderungen mittelbar befriedigen muß, weil sich jede Schönheit doch endlich in allgemeine Wahrheit auflösen

354 Schiller an Körner, Brief vom 25. Dezember 1788, S. 52.

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läßt.“ Diese Überzeugung reformuliert Schiller direkt im Anschluss noch einmal: Der Dichter, der sich nur Schönheit zum Zwecke setzt, aber dieser heilig folgt, wird am Ende alle anderen Rücksichten, die er zu vernachlässigen schien, ohne daß er’s will oder weiß, gleichsam zur Zugabe mit erreicht haben; da im Gegentheil der, der zwischen Schönheit und Moralität, oder was es sonst sei, unstät flattert oder um beide buhlt, leicht es mit jeder verdirbt.355

Es ist bezeichnend, dass Schiller schreibt, er ‚glaube‘ fest, dass es sich so verhält, denn er liefert keinerlei Begründung für seine Überzeugung, dass „sich jede Schönheit doch endlich in allgemeine Wahrheit auflösen läßt.“ Deutlich wird aber in dem Brief, dass er sich mit der Feststellung, sein Gedicht bestehe zwar aus lauter Entstellungen der Realität, bilde aber ein schönes Ganzes, letztlich nicht zufriedengeben, sondern für das Gedicht zugleich einen Wahrheitsgehalt beanspruchen will. Die Positionen Schillers und seiner Verteidiger in der Kontroverse erscheinen somit als ambivalent: Einerseits weisen Schiller, Körner und Forster gleichermaßen die Vorstellung zurück, dass der Dichter sich auf die Darstellung wahrer Gedanken beschränken müsste. Andererseits bekennt sich keiner von ihnen vorbehaltlos zu der Auffassung, dass ein Gedicht falsche Gedanken darbieten dürfe und allein nach seiner Schönheit zu beurteilen sei. Körner schränkt seine Forderung nach Freiheit für den Dichter dahingehend ein, dass der Dichter in der Abweichung von der Wahrheit nicht die Grenze zur Karikatur überschreiten dürfe. Forster scheint die Darbietung irriger Ansichten vor allem (oder nur?) dann für akzeptabel zu halten, wenn diese Ansichten sich plausibel einer bestimmten fiktiven Sprecherinstanz zuordnen lassen. Schiller beansprucht zwar eine uneingeschränkte Freiheit des Dichters gegenüber dem Wahrheitskriterium, flankiert diese Forderung aber durch den Glaubenssatz, dass ein Gedicht, das sich einem ausschließlichen Streben nach Schönheit verdankt, als ‚Zugabe‘ auch Wahrheit erhalten wird. Dass die Vertreter der Autonomie der Dichtung in dieser Kontroverse der Jahre 1788 und 1789 zögern, den Wahrheitsanspruch der Dichtung ganz preiszugeben, kann im Rückblick als bezeichnend für eine umfassendere Tendenz in der Theorieentwicklung gelten. Einen weiteren wichtigen Schritt in dieser Entwicklung markiert Schillers Schrift Ueber naive und sentimentalische Dichtung, in der von Lehrgedichten ganz selbstverständlich auch eine kognitive Leistung verlangt wird.

355 Ebd.

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6.4 Schillers Erneuerung des Wahrheitsanspruchs in Ueber naive und sentimentalische Dichtung In dem Abschnitt seiner Abhandlung Ueber naive und sentimentalische Dichtung, der sich mit der Elegie befasst, wendet sich Schiller auch Haller, Kleist und Klopstock als Vertretern dieser Ausprägung sentimentalischer Poesie zu, und an seine Kommentare zu Hallers Gedichten knüpft er allgemeine Aussagen zum Lehrgedicht.356 Was Schiller in dieser Passage vollzieht, ist unter anderem eine Erneuerung der Forderung nach Wahrheit im Lehrgedicht, wobei ‚Erneuerung‘ hier im zweifachen Sinne zu verstehen ist: Zum einen verlangt Schiller vom Lehrgedicht wieder Wahrheit oder jedenfalls einen kognitiven Wert, nachdem etwa Georg Friedrich Meier sowie Mendelssohn und Lessing das Lehrgedicht von dieser Forderung dispensiert hatten. Zum anderen konzipiert Schiller aber diese Wahrheit und die Art, wie das Lehrgedicht sie erreichen soll, auf neue Weise. Eine von ihm ausdrücklich formulierte Konsequenz seines neuartigen Verständnisses der Gattung ist, dass kein bisher vorliegendes Gedicht der älteren oder neueren Literatur dem Begriff des Lehrgedichts gerecht werde. Schiller bestimmt seine Forderungen an das Lehrgedicht mithilfe von teils erkenntnistheoretischen, teils psychologischen Begriffen, wie es auch die meisten Theoretiker der ersten Jahrhunderthälfte und noch die von Baumgarten beeinflussten Autoren getan hatten, die sich letztlich alle auf Wolffs Lehre von den oberen und unteren Erkenntnisvermögen gestützt hatten. Schiller hingegen rekurriert bekanntlich nicht mehr auf Wolff‘sche, sondern auf Kantische Begriffe, und das schlägt sich darin nieder, dass es bei ihm nicht mehr nur die zwei Ebenen von Sinnlichkeit und Verstand, sondern darüber noch die der Ideen gibt.357 Für alle Werke der Dichtung gilt nach Schiller, dass sie sich entweder in der „Sinnenwelt“ oder der „Ideenwelt“ zu bewegen haben. Für das didaktische Gedicht bedeute dies, dass es „den Begriff, den es bearbeitet, rein und vollständig entweder bis zur Individualität herab oder bis zur Idee hinauf[führen]“ muss.358 Nicht zuletzt die Formulierung „rein und vollständig“ zeigt hier an, dass Lehrgedichte nach Schiller einen Wahrheitsgehalt oder zumindest einen kognitiven Wert besitzen sollen. Seine Forderung an Lehrgedichte kann als Variation eines Gedankens gelten, der für seine klassische Kunstphilosophie, insofern diese nicht wirkungs-, sondern darstellungsästhetisch ausgerichtet ist, von zentraler Bedeutung ist: des

356 Vgl. Friedrich Schiller, Ueber naive und sentimentalische Dichtung [1795], in: NA 20.1, S. 413–503, hier S. 453–455. 357 Zu Kants Begriff der Idee (eine Idee als ein Begriff, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt) vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 368–377. 358 Schiller, Ueber naive und sentimentalische Dichtung, S. 453.

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Gedankens, dass Dichtung und Kunst überhaupt die eigentlich nicht darstellbaren Vernunftideen indirekt zur Darstellung bringen können und sollen.359 Dieser Gedanke erscheint in der Passage über das Lehrgedicht in Ueber naive und sentimentalische Dichtung in einer spezifischen Abwandlung. Die Rede vom Heraboder Hinaufführen evoziert die Vorstellung von der vertikalen Verschiebung eines Gegenstandes, die hier offenbar eine Art von Übersetzungsleistung veranschaulicht: Ein und derselbe Begriff kann in individualisierter und sinnlicher Form präsentiert, durch Verstandesbegriffe ausgedrückt oder als Idee dargestellt werden. In vergleichbarer Weise hatte Christoph Joseph Sucro die Möglichkeit der Übersetzung von abstrakten philosophischen Gedanken in sinnliche Gedanken und zurück behauptet.360 Schiller betrachtet wie Sucro und andere wolffianisch argumentierende Theoretiker die verlustlose Translation der Gehalte von der einen auf die andere Ebene für möglich und wünschenswert, postuliert aber oberhalb der Verstandsebene noch eine Welt der Ideen und erklärt die ‚mittlere‘ Ebene der Verstandesbegriffe für nicht poesietauglich.361

359 Vgl. hierzu knapp etwa: Carsten Zelle, „Darstellung – zur Historisierung des MimesisBegriffs bei Schiller (eine Skizze)“, in: Georg Bollenbeck/Lothar Ehrlich (Hrsg.), Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker, Köln [u. a.] 2007, S. 77–86; Christine Rühling, Spekulation als Poesie. Ästhetische Reflexion und literarische Darstellung bei Schiller und Hölderlin, Berlin 2015, S. 27–30. Für eine umfassende Analyse einschlägiger Aspekte der Poetik des klassischen Schiller vgl. Wolfgang Ranke, Dichtung unter Bedingungen der Reflexion. Interpretationen zu Schillers philosophischer Poetik und ihren Auswirkungen im „Wallenstein“, Würzburg 1990, S. 25–314. Zu den relevanten Aspekten der Ästhetik Kants vgl. etwa knapp: Paul Guyer, A History of Modern Aesthetics. Vol 1: The Eighteenth Century, Cambridge 2014, S. 422, 449–452. 360 Vgl. Sucro, „Abhandlung von philosophischen Gedichten“, S. 15. Vgl. hierzu auch den Abschnitt II.4.1 in dieser Arbeit. 361 Eine etwas anders akzentuierte Analyse der Ausführungen Schillers zur Elegie bietet Todorow, Gedankenlyrik, S. 57–62. Zu den hier ins Zentrum gestellten Bemerkungen zum Lehrgedicht vgl. knapp: ebd., S. 61. – Todorow scheint mir die Rolle des Ideenbegriffs in Schillers Ausführungen zu wenig zu beachten. Ihr zufolge sind diese Ausführungen zunächst durch einen „Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand“ strukturiert, bevor Schiller in einem späteren Teil der Abhandlung „zu einer dialektischen Beziehung von Naivem und Reflexion“ gelange (ebd.). Diese Analyse mündet in ein Plädoyer dafür, Schillers Bestreben, „den Verstand im Poetischen zu integrieren“, als einen Versuch zu werten, „den antirationalen Zeittendenzen, und auch seinen eigenen antirationalen Tendenzen zumindest in der Sphäre der Poesie zu begegnen.“ (Ebd., S. 62) Hier scheint mir die Orientierung an der Opposition ‚rational/antirational‘ einer präzisen Rekonstruktion der Argumentation Schillers im Wege zu stehen, da sie allein den Gegensatz von Verstand und Sinnlichkeit als wichtig erscheinen lässt. Aber zumindest in der Passage über das Lehrgedicht erfüllt der Ideenbegriff eine zentrale argumentative Funktion, da er es Schiller erlaubt, das ältere Lehrgedicht als zu verstandesbestimmt abzuwerten, ohne eine reine ‚Gefühlsdichtung‘ zu propagieren und philosophische Gedichte insgesamt zu verwerfen.

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In denselben Sätzen nun, in denen Schiller diese Forderungen aufstellt, teilt er auch mit, dass sie bisher von keinem Lehrgedicht erfüllt worden seien: Noch, ich gestehe es, kenne ich kein Gedicht in dieser Gattung [scil. der didaktischen Poesie; O.K.], weder aus älterer noch neuerer Litteratur, welches den Begriff, den es bearbeitet, rein und vollständig entweder bis zur Individualität herab oder bis zur Idee hinaufgeführt hätte.362

Im besten Falle, so Schiller, wechseln die Lehrgedichte zwischen Sinnen- und Ideenwelt hin und her, wobei der Verstand und die abstrakten Begriffe dominieren und die Einbildungskraft nur dem Verstand zuarbeitet, anstatt selbst zu herrschen. Doch „[d]asjenige didaktische Gedicht, worinn der Gedanke selbst poetisch wäre, und es auch bliebe, ist noch zu erwarten“.363 So kategorisch dieses Urteil über alle bisher vorliegenden didaktischen Gedichte formuliert ist, wird in Schillers Ausführungen dennoch kaum deutlich, wie Lehrdichter vorgehen müssten, um den Begriff, den sie ‚bearbeiten‘, „bis zur Individualität herab oder bis zur Idee hinauf[führen]“, und wie man als Leser erkennen kann, ob dies in einem Lehrgedicht geglückt ist oder nicht. Die allgemeine Frage, wie die Dichtung die eigentlich nicht darstellbaren Ideen indirekt darstellen könne, hat Schiller etwa in seinen Überlegungen zur Schönheit, zum Symbol und zum Pathetischen und Erhabenen näher erörtert.364 Doch es wird in der Passage über das Lehrgedicht nicht deutlich, ob und in welcher Weise diese andernorts entwickelten Auffassungen hier mitzudenken sind, und Schiller zeigt sich kaum bemüht, seine abstrakt formulierte Forderung zu konkretisieren. Sucro hatte seine Auffassung vom Verhältnis zwischen sinnlicher poetischer und abstrakter philosophischer Rede anhand einiger Haller-Verse illustriert, Meier hatte seine Überlegungen zur ästhetischen Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit mithilfe diverser Beispiele aus Gedichten konkretisiert. Schiller dagegen kann, wie er selbst sagt, kein Beispiel eines Gedichts anführen, in dem der bearbeitete Begriff bis zur Idee hinaufgeführt worden wäre, weil es noch keines gebe. Doch er erklärt auch nicht näher, wie ein solches Lehrgedicht aussehen müsste, welcher sprachlichen Mittel es sich bedienen dürfte und welcher nicht. Es gibt denn

362 Schiller, Ueber naive und sentimentalische Dichtung, S. 453. 363 Ebd. 364 Zu den Reflexionen über das Erhabene unter diesem Aspekt vgl. Zelle, „Darstellung“, S. 78–86. Zu Schillers Symbolbegriff vgl. etwa Klaus L. Berghahn, „Zu Schillers Symbolbegriff“, in: Monatshefte, 70/1978, 4, S. 392–398. Zu Schillers Konzeption der Schönheit in den Kallias-Briefen vgl. Ranke, Dichtung unter Bedingungen der Reflexion, S. 78–144.

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auch Indizien dafür, dass die Passage zumindest einigen zeitgenössischen Lesern Verständnisschwierigkeiten bereitete.365 Einige eher indirekte Hinweise dazu, wie ein wahres Lehrgedicht beschaffen sein müsste und – vor allem – welche Fehler es zu vermeiden hätte, bietet Schillers wertende Charakterisierung der Lehrgedichte Hallers: Kraft und Tiefe und ein pathetischer Ernst charakterisiren diesen Dichter. Von einem Ideal ist seine Seele entzündet, und sein glühendes Gefühl für Wahrheit suchten in den stillen Alpenthälern die aus der Welt verschwundene Unschuld. Tiefrührend ist seine Klage, mit energischer, fast bittrer Satyre zeichnet er die Verirrungen des Verstandes und Herzens und mit Liebe die schöne Einfalt der Natur. Nur überwiegt überall zu sehr der Begriff in seinen Gemählden, so wie in ihm selbst der Verstand über die Empfindung den Meister spielt. Daher lehrt er durchgängig mehr, als er darstellt, und stellt durchgängig mit mehr kräftigen als lieblichen Zügen dar. Er ist groß, kühn, feurig, erhaben; zur Schönheit aber hat er sich selten oder niemals erhoben.366

Schiller konstatiert in den letzten Sätzen dieser Passage mehrere Mängel der Lehrgedichte Hallers, ohne dass ganz klar wäre, wie eng diese Mängel für ihn zusammengehören oder ob sie sich alle unter einem Grundfehler – der Herrschaft des Verstandes über die Empfindung – subsumieren lassen. Das Wort „[d]aher“ macht aber auf jeden Fall deutlich, dass dieses Vorherrschen des Verstandes nach Schiller dafür verantwortlich ist, dass Haller mehr „lehrt“ als „darstellt“. Der Sinn dieser Kontrastierung von Lehren und Darstellen ist nicht ohne weiteres nachvollziehbar, da eine Darstellung ja eine belehrende Funktion haben könnte.

365 Hans-Wolf Jäger hat eine zeitgenössische Reaktion auf Schillers Ausführungen zitiert (vgl. Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“, S. 573, Anm. 140): Karl Friedrich Becker bewertete in seinem 1803 erschienenen Werk Die Dichtkunst aus dem Gesichtspunkte des Historikers betrachtet das Lehrgedicht allgemein als ein „poetisches Monstrum“, das gegenwärtig „dem Tode immer mehr entgegen zu welken“ scheine (Karl Friedrich Becker, Die Dichtkunst aus dem Gesichtspunkte des Historikers betrachtet, Berlin 1803, S. 351 f.). Am Ende seiner Ausführungen zu dieser Gattung verweist Becker auf die eben zitierte Forderung Schillers: „Schiller meint, wenn wir nur erst ein Lehrgedicht hätten, an welchem nicht bloß die Form, sondern auch der Gedanke poetisch wäre. Ich gestehe, daß ich hier seine Meinung nicht recht einsehen kann.“ (Ebd., S. 353) – Einige Texte aus den ersten Ausgaben der Horen, insbesondere Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen, wurden bekanntlich in Rezensionen heftig wegen ihres als dunkel und esoterisch empfundenen Stils kritisiert (vgl. Regine Otto, „Die Auseinandersetzungen um Schillers ‚Horen‘“, in: Dahnke/Leistner [Hrsg.], Debatten und Kontroversen. [. . .]. Bd. 1. Berlin/Weimar 1989, S. 385–450, v. a. S. 399 f.). Schiller scheint in Ueber naive und sentimentalische Dichtung versucht zu haben, eine zugänglichere Begrifflichkeit zu verwenden; aber die zitierte Bemerkung Beckers bietet Anlass zur Vermutung, dass auch diese Abhandlung für viele Leser noch dunkle Passagen enthielt. 366 Schiller, „Ueber naive und sentimentalische Dichtung“, S. 454.

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Doch die Gegenüberstellung erscheint als sinnvoll, wenn man sie nicht auf den Autor, sondern auf den Gedichtsprecher bezieht: Schiller dürfte darauf abzielen, dass in Hallers Lehrgedichten stets eine Sprecherinstanz auftritt, die ausdrücklich ‚lehren‘, also Zusammenhänge erläutern, Sachverhalte erklären und Thesen begründen will. In einem Gedicht, in dem die Einbildungskraft herrscht, wie sie es in der Poesie tun sollte, kann es nach Schiller also offenbar eine solcherart agierende Sprecherinstanz nicht geben. Diese Deutung der Passage lässt sich anhand der Gedichte, in denen Schiller – wahrscheinlich – selbst die Forderungen an ein wahres Lehrgedicht zu erfüllen suchte, zusätzlich plausibel machen: Dass Schiller etwa seine Elegie höher stellte als Das Reich der Schatten, auf das er zunächst sehr stolz gewesen war, könnte unter anderem daran liegen, dass in dem zuletzt genannten Gedicht die Sprecherinstanz lehrt, nämlich allgemeine Behauptungen aufstellt und an sie Aufforderungen knüpft, während sie in der Elegie die meiste Zeit nur sieht und erlebt.367 In dem Abschnitt aus Ueber naive und sentimentalische Dichtung allerdings sagt Schiller nichts dazu, wie didaktische Gedichte auf eine explizit lehrende Sprecherinstanz verzichten und dennoch den Charakter didaktischer Gedichte bewahren können. Auch darüber, weshalb der Verzicht auf eine solche Sprecherinstanz es ermöglichen sollte, einen Begriff ‚zur Idee hinaufzuführen‘, erfährt man in der Abhandlung nichts. Wichtiger als diese andeutungshaften Bemerkungen zur Verfahrensweise gelungener Lehrgedichte ist an dieser Stelle denn auch der Befund, dass Schiller hier von solchen Gedichten einen Wahrheitsgehalt verlangt, der mit ihren poetischen Qualitäten untrennbar verbunden sein soll. Die Möglichkeit, dass solche Gedichte eine Schönheit besitzen könnten, die nicht mit Wahrheit verbunden ist oder sogar durch Abstriche an Wahrheit und Konsistenz erkauft wurde, kommt in seiner Diskussion nicht in Betracht. Um die Befunde dieses Kapitels knapp zusammenzufassen: Die prominenten Dichtungstheoretiker der frühen Aufklärung setzen es weitgehend als selbstverständlich voraus, dass die Verfasser von Lehrgedichten Wahrheiten mitzuteilen versuchen und dass die Gedichte somit unter anderem nach ihrem Gehalt an Wahrheit beurteilt werden können. Qualitäten wie Schönheit oder Sinnlichkeit des Ausdrucks werden als etwas konzipiert, das gleichsam additiv zum Wahrheitsgehalt hinzukommt oder die wirkungsvolle Vermittlung der Wahrheiten unterstützt. Um 1750 skizzieren einzelne Theoretiker eine Auffassung vom Lehrgedicht, die in grundsätzlicher und provozierender Weise von diesem weitreichenden Konsens abweicht und das Lehrgedicht als eine Dichtungsart begreift, die ausdrücklich nicht auf Wahrheit verpflichtet ist, sondern

367 Dazu ausführlicher unten, Teil IV, Kap. 2.1.3.

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sich in ihren Darbietungen von Gedanken und Theorien legitimerweise um genuin poetische oder ästhetische Qualitäten bemühen darf, auch wenn dies auf Kosten der Wahrheit oder Konsistenz geht. Diese Auffassung vom Lehrgedicht und den Kriterien, nach denen es zu beurteilen ist, bot eine theoretische Grundlage, von der aus auch Schillers Gedicht Die Götter Griechenlandes hätte verteidigt werden können; doch die Verteidiger Körner und Forster vertreten diesen Gedanken, dass der Wert von Gedichten – auch Lehrgedichten – nicht von ihrem Wahrheitsgehalt abhänge, nur mit Einschränkungen und Modifikationen. Schiller geht in einem brieflichen Kommentar zu dem Streit noch weiter und bekennt sich zu der Überzeugung, dass ein wirklich schönes Gedicht eo ipso auch die Forderung nach Wahrheit erfüllt. In der wenige Jahre später verfassten Abhandlung Ueber naive und sentimentalische Dichtung wiederholt er diese kühne Behauptung nicht, doch er fordert hier vom Lehrgedicht wieder ausdrücklich Wahrheit, allerdings eine besondere Art von Wahrheit: Lehrgedichte sollen Begriffe ‚rein und vollständig bis zur Individualität hinab- oder bis zur Idee hinaufführen‘. An diese Rekonstruktion seien zunächst zwei allgemeine Feststellungen angeschlossen. Erstens: Die Sequenz der untersuchten Auffassungen zum Verhältnis des Lehrgedichts zur Wahrheit fügt sich nicht in ein geradliniges Narrativ der zunehmenden Autonomisierung der Literatur ein, wie es sich vielfach in älteren, teleologisch auf die Autonomieästhetik der Klassik zulaufenden Literaturgeschichten findet, aber gelegentlich auch noch in neueren Untersuchungen reproduziert wird. Meier, Lessing und Mendelssohn stellen für das Lehrgedicht ein Autonomiepostulat auf, das letztlich konsequenter oder radikaler ist als die später von Körner und Schiller bezogenen Positionen. Zweitens: Die obige Rekonstruktion sollte auch andeuten, dass die Diskussionen über die Spezialprobleme des Lehrgedichts – etwa sein Verhältnis zur Wahrheit – gegenüber anderen Ebenen der dichtungstheoretischen und ästhetischen Debatten und Entwicklungen eine gewisse Eigenlogik aufweisen. Damit ist gemeint, dass die Auffassungen vom Verhältnis des Lehrgedichts zur Wahrheit sich nicht direkt aus den theoretischen Grundüberzeugungen der aufeinander folgenden Schulen oder Richtungen ableiten lassen. Die Theoretiker, die auf Begriffe und Theorien Baumgartens rekurrieren, wenden sie in unterschiedlicher Weise auf die Frage nach der Wahrheit des Lehrgedichts an, und die Verteidiger des Gedichts Die Götter Griechenlandes, die ähnliche Auffassungen hinsichtlich der Autonomie der Dichtung vertreten, entwickeln gleichwohl unterschiedliche Argumentationen, um das Gedicht gegen den Vorwurf der Unwahrheit (oder Unwahrhaftigkeit) in Schutz zu nehmen. Dafür, dass die oben untersuchten Positionen Meiers, Lessings und Mendelssohns eine längerfristige Wirkung entfaltet haben, gibt es kaum Indizien. Den

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Überlegungen Schillers zum Verhältnis des Lehrgedichts zur Wahrheit, wie er sie in Ueber naive und sentimentalische Dichtung vorstellte, war hingegen sehr wahrscheinlich eine solche Wirkung beschieden, auch wenn ihre Beschaffenheit und Reichweite noch nicht hinreichend untersucht ist. Relevant ist in diesem Zusammenhang zunächst der Umstand, dass Wilhelm von Humboldt in seinem Essay Schiller und der Gang seiner Geistesentwicklung (1830) an Schillers Klage erinnerte, „daß es noch kein wahres didaktisches Gedicht gebe“, um dann zu erklären: „Aber einige der seinigen können, gerade in der von ihm aufgestellten Idee, dafür gelten.“368 Die Charakterisierung der philosophischen Gedichte Schillers, in die diese Bemerkung bei Humboldt eingebettet ist, übte auf die wissenschaftliche Rezeption dieser Gedichte im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts beträchtlichen Einfluss aus.369 Vor allem aber ist hier von Bedeutung, dass um 1800 von verschiedenen Autoren, insbesondere von Philosophen aus dem Umfeld des deutschen Idealismus, Konzeptionen eines neuartigen, ‚höheren‘ Lehrgedichts entworfen wurden, die sich mit Schillers Ausführungen in Ueber naive und sentimentalische Dichtung darin trafen, dass sie dem wahren Lehrgedicht die Vermittlung einer spezifischen Art von Wahrheiten zutrauten und sie von ihm forderten. In der Forschung sind diese programmatischen Entwürfe unter dem Begriff des ‚idealistischen Lehrgedichts‘ versammelt worden.370 Almut Todorow hat die Vermutung plausibel gemacht, dass diese Konzepte eine Grundlage für den Begriff der Gedankenlyrik schufen, der nach 1850 von Dichtungstheoretikern wie Moriz Carriere und Rudolph Gottschall geprägt und durchgesetzt wurde.371 Mit diesem Begriff wurde die Trennung, die Schiller kurz vor 1800 zwischen dem wahren Lehrgedicht und allen bisherigen Lehrgedichten vorgenommen hatte, auch terminologisch exekutiert. Das Lehrgedicht galt in diesen nach 1850 entstandenen Poetiken zunehmend als eine minderwertige, eigentlich unpoetische

368 Wilhelm von Humboldt, „Vorerinnerung. Ueber Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung“, in: Friedrich Schiller/Wilhelm von Humboldt, Briefwechsel. Mit einer Vorerinnerung über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung von Wilhelm von Humboldt, Stuttgart/Tübingen 1830, S. 3–84, hier S. 55. 369 Vgl. etwa M. W. Götzinger, Deutsche Dichter. Zweiter Theil. 5. Aufl. Leipzig 1870, S. 287: Dort heißt es, der Briefwechsel zwischen Humboldt und Schiller mit dem genannten Aufsatz „bleib[e] wohl immer“ die „bedeutendste Schrift über Schiller“. 370 Vgl. Georg Jäger, „Das Gattungsproblem in der Ästhetik und Poetik von 1780 bis 1850“, S. 390–392; Hans-Wolf Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“, S. 571–575; Todorow, Gedankenlyrik, S. 69–74. 371 Vgl. Todorow, Gedankenlyrik; zur Prägung des Begriffs ‚Gedankenlyrik‘ bei Moriz Carriere, Friedrich Theodor Vischer und Rudolph Gottschall ebd., S. 24–40.

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Randgattung, die von der Gedankenlyrik – zu deren bedeutendsten Repräsentanten die Gedichte Schillers gerechnet wurden – klar geschieden war.372

7 Zusammenfassung An den oben analysierten, seit der Jahrhundertmitte entstandenen Lehrgedichten wurden Tendenzen herausgestellt, die mit den zuletzt untersuchten Entwicklungen in der Dichtungstheorie nicht auf offensichtliche Weise verbunden sind. Zwei dieser Tendenzen können schlagwortartig als ‚Emotionalisierung‘ und ‚Sakralisierung‘ bezeichnet werden. Mit der Emotionalisierung des Lehrgedichts ist der in der Forschung bereits verschiedentlich konstatierte Sachverhalt gemeint, dass in Gedichten wie Youngs Night Thoughts und Creuz’ Die Gräber die Thematisierung und Präsentation von Gefühlen einen deutlich breiteren Raum einnimmt als in repräsentativen Lehrgedichten des früheren 18. Jahrhunderts. Dieser Befund wurde hier durch eine genauere Beschreibung der betreffenden Gefühle präzisiert: Einige dieser Lehrgedichte kultivieren ausführlich Melancholie und Trauer, doch selbst in den Night Thoughts und in Die Gräber dominieren diese Emotionen nicht durchgehend, und in Wielands Die Natur der Dinge spielen sie kaum eine Rolle. Was sich hingegen bei Young und Creuz ebenso wie in diesem Frühwerk Wielands und später bei Tiedge findet, ist eine Sprecherfigur, die sich phasenweise als ‚begeisterte‘, von Enthusiasmus ergriffene präsentiert. Ähnlich charakteristisch ist für diese Gedichte die Thematisierung von Erfahrungen, die als erhaben ausgezeichnet werden. Diese Züge sind auch verbunden mit den Eigenschaften der Texte, die man behelfsweise unter dem Schlagwort ‚Sakralisierung‘ zusammenfassen könnte: Die Gedichte widmen sich zu einem großen Teil religiösen Themen, und die Sprecherfigur tritt vielfach als eine Variante des poeta vates auf, als eine Person, die aufgrund spezifischer Erfahrungen oder dank einer begeisternden Inspiration privilegierte Einsichten über Gott und die göttliche Weltordnung verkünden kann. Ein auffälliger Grundzug der Gedichte, der sie von den prominenten Lehrgedichten der ersten Jahrhunderthälfte trennt, besteht dabei darin, dass die Sprecherfiguren immer wieder nicht nur die Größe Gottes beschwören, sondern auch die Hoheit, Würde und Gottähnlichkeit des Menschen. Diese Hoheit wird dabei meist als eine potentielle aufgefasst, die der einzelne Mensch wie auch das Menschengeschlecht erst nach und nach zu realisieren hat; das Streben nach einer Verwirklichung dieser Anlage erscheint in mehreren Texten als die ‚Bestimmung‘ des Menschen. Diese Auffassung von der Würde des

372 Zur Abwertung der Didaktik in den Poetiken des 19. Jahrhunderts vgl. ebd., S. 72–74.

7 Zusammenfassung

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Menschen ist somit eng verknüpft mit einer weiteren Eigenschaft, die in den Lehrgedichten Youngs, Creuz’, Tiedges sowie in Wielands Die Natur der Dinge zu beobachten ist, mit der Hervorhebung der Zeitdimension. Auch Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte wie Popes An Essay on Man oder Hallers Ueber den Ursprung des Uebels präsentieren Deutungen der Menschheitsgeschichte, die von den Konzepten des Naturzustands oder des Sündenfalls strukturiert werden; doch diese geschichtlichen Entwicklungen werden als abgeschlossene dargestellt. Die seit der Jahrhundertmitte entstandenen Gedichte hingegen entwerfen die Vorstellung eines noch andauernden Prozesses, in den auch der Sprecher hineingestellt ist und der meist als ein Prozess des Fortschritts oder der Vervollkommnung beschrieben wird. Diese Vervollkommnung des Menschen, darin stimmen so gut wie alle genannten Gedichte (von Young, Creuz, dem jungen Wieland und Tiedge) überein, wird sich im jenseitigen Leben auf eine gesteigerte, von irdischen Einschränkungen befreite Weise fortsetzen. Diese Tendenzen bestimmen in der zweiten Jahrhunderthälfte keineswegs die Entwicklung der Gattung Lehrgedicht im Ganzen, charakterisieren aber einen wichtigen Strang innerhalb derselben. Mit Gleims Halladat wurde ein Gedicht untersucht, das die genannten Tendenzen nur partiell aufnimmt, und mit Wielands Musarion eines, das sich von ihnen distanziert. Daneben entstehen in der zweiten Jahrhunderthälfte auch Lehrgedichte, die von diesen Tendenzen kaum oder gar nicht berührt sind, die also den im früheren 18. Jahrhundert herausgebildeten Textmustern verpflichtet bleiben oder sie auf andere Weise variieren als im Sinne der hier hervorgehobenen Neuorientierungen.373 Aber auch wenn die hier untersuchten Entwicklungen sich nur in einem Teil der ab etwa 1750 entstandenen englischen und deutschen Lehrgedichte manifestierten, handelte es sich dabei doch um besonders prominente und wirkungsmächtige Vertreter der Gattung. Mit Blick auf die deutschen Lehrgedichte sind diese Tendenzen ferner deshalb von besonderem Interesse, weil sie Kontinuitäten hervortreten lassen, die sich über ein halbes Jahrhundert erstrecken, nämlich vom Frühwerk Wielands bis zu Tiedges Urania (1801) reichen. Die Entwicklungen, die in diesem Teil analysiert wurden, konstituieren somit innerhalb der Geschichte des Lehrgedichts zwischen Mitte und Ende des 18. Jahrhunderts zwar nur einen Strang, aber es handelt sich eben tatsächlich um einen diachronen

373 Als Beispiele für eine solche Weiterentwicklung der etablierten Muster, die sich kaum in den hier nachgezeichneten Trend einfügt, wären in der englischen Literatur etwa Oliver Goldsmiths Gedichte The Wanderer und The Deserted Village zu nennen. Ein Beispiel für Lehrgedichte, die sich weiterhin stark an repräsentativen Texten der ersten Jahrhunderthälfte ausrichten, bilden in der deutschen Literatur die Gedichte von Johann Jakob Dusch, der sich auch als Theoretiker und Kritiker um die Gattung des Lehrgedichts bemühte.

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III Neue Tendenzen seit der Jahrhundertmitte

Strang, der eine größere Zahl von Texten umfasst und einen längeren Zeitraum durchläuft. Wielands Musarion hingegen wandelte zwar die Textmuster des Lehrgedichts auf originelle Weise ab und erhielt dafür viel Lob, scheint aber keine prominenten Nachahmer gefunden zu haben. Diesen Strang in der Entwicklung des Lehrgedichts ab der Mitte des 18. Jahrhunderts gilt es nun noch genauer hinsichtlich seines historischen Orts zu charakterisieren. Die Lehrgedichte dieser Reihe, so kann man allgemein feststellen, partizipieren einerseits an einem wirkungsmächtigen literaturgeschichtlichen Vorgang, nämlich der Erneuerung von Traditionen der religiöserhabenen Poesie und der Dichterrolle des vates, andererseits an umfassenderen ideen- und semantikgeschichtlichen Tendenzen des 18. Jahrhunderts, die in der Forschung bereits mehr oder weniger detailliert beschrieben worden sind. Es sind vor allem drei solche Tendenzen, deren Niederschlag in den Lehrgedichten hier hervorgehoben wurde: Erstens der Wandel in der Konzeption des jenseitigen Lebens, der sich vor allem in der intensiven theologischen und philosophischen Diskussion um die menschliche Unsterblichkeit manifestiert374; zweitens die komplexen Veränderungen im Verständnis von Geschichte und Zeitlichkeit, die unter anderem in den ersten Entwürfen einer Geschichtsphilosophie im modernen Sinne deutlich werden375; drittens schließlich neue Akzentsetzungen oder Umbrüche in der Auffassung von der Würde des Menschen.376 Es handelt sich hier nicht um drei Aspekte eines und desselben semantischen Umbruchs, aber auch nicht um drei getrennt und unabhängig

374 Vgl. Sparn, „‚Aussichten in die Ewigkeit‘“; Krochmalnik, „Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele“. 375 Vgl. Koselleck, [Art.] „Geschichte, Historie. V. Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs“; ders., [Art.] „Fortschritt. IV. Die Ausprägung des neuzeitlichen Fortschrittsbegriffs“. 376 Von diesen drei ideen- und semantikgeschichtlichen Vorgängen dürfte der dritte bisher am wenigsten Aufmerksamkeit erhalten haben. In Darstellungen zur Geschichte des Würdebegriffs wird mit Blick auf das 18. Jahrhundert häufig vor allem Kants Deutung des Begriffs als eine entscheidende Zäsur hervorgehoben, während frühere Entwicklungen im Laufe dieses Jahrhunderts nicht näher beschrieben werden. Vgl. etwa Andreas Großmann, [Art.] „Würde“, in: HWbPh, Bd. 12, Sp. 1088–1093, hier Sp. 1089 f. Interessante Hinweise zu solchen Entwicklungen bietet: Panajotis Kondylis, [Art.] „Würde. II.–VIII.“, in: GG, Bd. 7, S. 645–677, hier S. 666 f. Kondylis zufolge gestattete in Deutschland, wo der Begriff ‚Menschenwürde‘ viel nachdrücklicher verwendet worden sei als in der westeuropäischen Aufklärung, die „Vermischung von mehr oder weniger freier Religiosität und aufklärerischem Gedankengut eine Überleitung traditioneller Inhalte in den neuen Würdebegriff, die ihn zunächst stützte, bis er selbständig genug wurde, um die Säkularisierung jener Inhalte zu tragen“ (ebd., S. 666 f.) Mit ‚traditionellen Inhalten‘ meint Kondylis dabei „die direkte Bindung der Menschenwürde an den Schöpfer Gott und die dualistische Vernunftanthropologie“ (ebd., S. 667). Mit Blick auf Kondylis’ Meinung, diese Entwicklung sei weitgehend ein deutsches Spezifikum, wäre darauf

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voneinander verlaufende Vorgänge. In der Diskussion um die Bestimmung des Menschen etwa überlagern sich auf komplexe, von Autor zu Autor verschiedene Weise alle drei Tendenzen.377 Die Ergebnisse dieses Untersuchungsteils erlauben die Vermutung, dass die Gattung des Lehrgedichts in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eines der bevorzugten Medien für die Artikulation dieser neuartigen Konzeptionen des Jenseits, der Geschichte und der Würde des Menschen darstellt. Um diese Vermutung zu bestätigen und zu präzisieren, wäre ein eingehender Vergleich der Lehrgedichte Wielands, Creuz’ und Tiedges mit Texten wie Spaldings Betrachtung über die Bestimmung des Menschen (1748), Mendelssohns Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele (1767), Lavaters Aussichten in die Ewigkeit (1768–1773/78) oder Lessings Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) erforderlich.378 Dabei wäre zu klären, ob die Behandlung der genannten Themen im Lehrgedicht gegenüber ihrer Erörterung in anderen Gattungen spezifische Eigenschaften aufweisen. Diese Position der Lehrgedichte in ihrem diskursiven Umfeld kann hier nicht im Detail analysiert werden. Wichtig ist im vorliegenden Rahmen aber, das Verhältnis der neuartigen Lehrgedichte seit der Jahrhundertmitte zu den prominenten Gattungsvertretern der vorangegangenen Jahrzehnte zusammenfassend zu charakterisieren. Zum Profil dieser Lehrgedichte des frühen 18. Jahrhunderts, wie es oben herausgearbeitet wurde, gehört vor allem, dass sie sich vorzugsweise ethischen und religiösen Themen widmen, dabei

hinzuweisen, dass sich auch in Youngs Night Thoughts eine solche emphatische Betonung der „Dignity of Man“ findet, die zum Teil traditionell begründet wird, zum Teil originelle Züge trägt. 377 Dass die in Spaldings Schrift entwickelte Konzeption der ‚Bestimmung des Menschen‘ auch eine neue Antwort auf die Frage nach der dignitas hominis bieten soll, deutet etwa dieser Satz an, der sich gegen Ende der Schrift findet: „Zu einer solchen Hoheit bin ich bestimmt, und der will ich immer näher zu kommen suchen.“ (Spalding, Betrachtung über die Bestimmung des Menschen, S. 16) Zur Beziehung zwischen dem Begriff der Bestimmung des Menschen und dem Würdebegriff vgl. ferner Norbert Hinske, „Einleitung. Eine antike Katechismusfrage. Zu einer Basisidee der deutschen Aufklärung“, in: Aufklärung, 11/1996, 1, S. 3–6, hier S. 4. Hinske verweist hier auf eine um 1800 veröffentlichte Textsammlung: Johann Hugo Wyttenbach/Johann Anton Neurohr, Aussprüche des reinen Herzens und der philosophirenden Vernunft über die der Menschheit wichtigsten Gegenstände. Zusammen getragen aus den Schriften älterer und neuerer Denker. 3 Bde. 2. Aufl. Leipzig 1801/1802. Die Auswahl der antiken Texte, die Wyttenbach und Neurohr dem Stichwort der Bestimmung des Menschen zugeordnet haben, zeigt laut Hinske, dass diese Frage für sie „in der Tradition der Frage nach der ‚natura‘ bzw. der ‚excellentia et dignitas‘ des Menschen“ stehe (Hinske, „Einleitung, S. 4). 378 Dies sind Texte, die in Studien zu den relevanten theologischen und philosophischen Entwicklungen einen prominenten Platz besetzen; vgl. Sparn, „‚Aussichten in die Ewigkeit‘“; Krochmalnik, „Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele“.

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III Neue Tendenzen seit der Jahrhundertmitte

eine umfassende, aufs Ganze und Grundsätzliche zielende Perspektive einnehmen und die Erörterung dieser Themen so stilisieren, dass sie sich einerseits dem Ideal einer vernünftigen Selbstbestimmung des Einzelnen, andererseits der Kultivierung öffentlicher Debatten verpflichtet zeigt. Die neuen Entwicklungen seit der Jahrhundertmitte bewegen sich zum Teil innerhalb des so beschriebenen Gattungsprofils: Die inhaltlichen Innovationen, also etwa die emphatische Affirmation der Würde des Menschen oder die Verknüpfung von Fortschritts- und Jenseitskonzepten, bieten im Vergleich zu den Lehrgedichten etwa Popes, Hallers und Voltaires zwar grundlegend veränderte ethische und religiöse Positionen und neue Modi einer ‚sinnstiftenden‘ Deutung des menschlichen Lebens, bleiben aber dabei einer Thematik und einem Anspruch treu, die auch schon für diese prominenten Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte charakteristisch sind. Eine Kontinuität ergibt sich ferner daraus, dass die untersuchten Gedichte Youngs, Creuz’, des frühen Wielands und Tiedges nicht ‚nur‘ eine Begründung oder Plausibilisierung der Lehren bieten, sondern auch emotional bestimmte Haltungen vorführen sollen, und zwar insbesondere Haltungen der Ehrfurcht oder Andacht gegenüber Gott und der göttlichen Weltordnung. In einigen Fällen gilt die geforderte und demonstrierte Ehrfurcht allerdings auch dem Potential der Gottähnlichkeit, das den Menschen auszeichne. Auch diese Dimension der seit der Jahrhundertmitte entstehenden Lehrgedichte stellt gegenüber den älteren keine Neuheit dar, sondern eher eine Modifikation und Intensivierung von Zügen, die sich auch schon bei Pope, Haller oder Voltaire finden. Die Rekurse auf das Modell des Dichterpropheten und der inspirierten poetischen Rede hingegen kann man als Ansätze zu einer tiefer greifenden Transformation der Gattung deuten: Hier scheinen sich die Autoren die Möglichkeit zu eröffnen, die in den Gedichten formulierten philosophischen und theologischen Lehren auf eine Weise zu stützen und mit Autorität zu versehen, die von den Begründungsverfahren des philosophischen und theologischen Diskurses grundsätzlich verschieden ist. Lehrdichter des früheren 18. Jahrhunderts hatten vor allem die Lizenz reklamiert, ihre Lehren nicht so gründlich und zwingend zu begründen, wie dies von philosophischen Abhandlungen verlangt wurde; sie hatten aber nicht behauptet oder suggeriert, dass ihre Lehren in den Gedichten auf eine andere, eigene Art und Weise begründet würden. Berufungen auf göttliche Inspiration, auf den Enthusiasmus oder auf Ahnungen hingegen scheinen gerade einen solchen Anspruch auszudrücken. Es gilt freilich auch festzuhalten, dass von den hier untersuchten Gedichten keines sich wirklich ganz auf diese Art der Stützung oder Autorisierung der Lehren verlässt: In Youngs Night Thoughts werden über Hunderte von Versen zahlreiche ‚Beweise‘ (proofs) für die Unsterblichkeit des Menschen aneinander gereiht, die offenbar als rational tragfähig und einer Legitimierung durch göttliche Inspiration nicht

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bedürftig aufgefasst werden sollen. Wieland versucht in Die Natur der Dinge, philosophische Theorien anderer Autoren der Inkonsistenz zu überführen und einige seiner eigenen metaphysischen Konzepte durch Erkenntnisse der Naturwissenschaften zu fundieren. Auch in Creuz’ philosophischen Lehrgedichten wird ein großer Teil der Lehren auf ‚traditionelle‘ Weisen, gelegentlich auch durch Hinweise auf wissenschaftliche Forschungen, begründet, und eines der Gedichte, der Versuch vom Menschen, kommt ganz ohne Beschwörungen einer inspirierenden Macht aus. In Tiedges Urania schließlich stehen Berufungen auf Gefühle und Ahnungserlebnisse neben Argumentationen, die sich an Kant orientieren dürften und die offenbar als nach strengen Vernunftmaßstäben gültig angesehen werden sollen. Die Begründungs- und Autorisierungsverfahren dieser Lehrgedichte haben somit vielfach einen ambivalenten oder mehrgleisigen Charakter. Mit Tiedges Urania ist hier bereits ein Lehrgedicht untersucht worden, an dem sich zeigen lässt, dass die beschriebenen Tendenzen bis in die Zeit um 1800 wirksam sind. Im folgenden, letzten Teil der Untersuchung sind andere Ausprägungen des Lehrgedichts aus diesem Zeitraum zu analysieren, die sich in inhaltlichen oder formalen Hinsichten deutlich von dem oben nachgezeichneten Strang unterscheiden. Doch neben diesen Differenzen werden sich auch Kontinuitäten aufzeigen lassen, die insbesondere das Bemühen um Ganzheitsentwürfe mit ethischen und religiösen Implikationen betreffen. Zugleich wenden sich vor allem die Weimarer Klassiker in ihren Lehrgedichten konsequent von den typischen argumentativen Textstrukturen des Lehrgedichts der ersten Jahrhunderthälfte ab; damit vollziehen sie einen Wandel, den der Rekurs auf das Modell des inspirierten poeta vates bei Autoren wie Young, dem Wieland von Die Natur der Dinge oder auch Tiedge zwar nahegelegt hatte, den sie aber nur bedingt durchführten.

IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800: Epische Großform und philosophische Lyrik In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gerät das Lehrgedicht zunehmend in die Kritik. Sowohl im deutschsprachigen als auch im englischen und französischen Bereich stellen Dichter und Literaturkritiker den poetischen Wert der Gattung in Frage.1 Diese Ablehnung des Lehrgedichts stellt aber keineswegs einen einmütigen Konsens dar. Wie oben dargelegt wurde, entwerfen in diesen Jahrzehnten eine Reihe deutschsprachiger Theoretiker auch entschiedene Verteidigungen des Lehrgedichts. Das Kräfteverhältnis zwischen Gegnern und Apologeten des Lehrgedichts ist in jeder der drei hier berücksichtigten Nationalliteraturen ein anderes, und die Diskussionen um die Gattung sind in den drei Räumen jeweils mit spezifischen personellen, diskursiven und institutionellen Konstellationen verwoben, die hier nicht im Einzelnen rekonstruiert werden können. Mit einer gewissen Vereinfachung kann man festhalten, dass das Lehrgedicht gegen Ende des Jahrhunderts in allen drei Ländern sowohl Kritiker als auch Verteidiger besitzt. Mit Blick auf den deutschsprachigen Bereich ist ferner wichtig, dass eine Reihe von Autoren Überlegungen zu einer neuen, ‚höheren‘ Art von Lehrgedicht propagieren.2

1 In der englischen Literatur war in dieser Hinsicht, wie oben bereits einmal erwähnt, vor allem Joseph Warton mit seiner Kritik am Lehrgedicht und an Pope wirkungsvoll. Vgl. etwa die Vorrede („Advertisement“) in: Joseph Warton, Odes on Various Subjects, London 1746. Vgl. hierzu auch Griffin, Wordsworth’s Pope, S. 24–63. Zur nachhaltigen Wirkung der Kritik Wartons vgl. ferner James Chandler, „The Pope Controversy: Romantic Poetics and the English Canon“, in: Critical Inquiry, 10/1984, 3, S. 481–509, hier S. 484. – In der deutschen Literatur wären hier Mauvillon und Unzer zu nennen; vgl. [Jakob Mauvillon/Ludwig August Unzer], Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend. Ein Briefwechsel. Erstes Stück. Frankfurt/Leipzig 1771, S. 194–211. Die Verfasser kritisieren hier vor allem die Lehrgedichte Gellerts, deuten aber auch an, dass sie diese Gattung grundsätzlich für poetisch wenig wertvoll erachten. Deutlicher fällt die Kritik im zweiten Teil aus, wo die Ansicht vertreten wird, Hallers Lehrgedichte hätten keinen wahren poetischen Wert oder seien gar keine Gedichte; auch Hagedorns moralische Gedichte seien ohne echten poetischen Wert. Vgl. [Dies.], Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend. Ein Briefwechsel. Zweytes Stück. Frankfurt/Leipzig 1772, S. 97–110, 157. Mauvillon und Unzer sind sich offenbar bewusst, dass man Parallelen zwischen ihrer Kritik an Haller und der Kritik Joseph und Thomas Wartons an Pope sehen könnte, denn sie schreiben: „Wir sind keine Wartons, mein Freund, und wollen es auch nicht seyn.“ (Ebd., S. 108) 2 Zu diesen theoretisch-programmatischen Überlegungen, die um eine ‚höhere Didaktik‘ kreisen, vgl. vor allem Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“, S. 568–576; die Rede https://doi.org/10.1515/9783110348491-004

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IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800

Zu diesem unentschiedenen Stand der theoretischen Diskussion passt es, dass die Produktion von Lehrgedichten in den Jahren um 1800 sowohl Rückgriffe auf traditionelle Muster als auch dezidierte Transformationen dieser Muster aufweist. Mehr noch: In diesen Jahren erzielen in England wie in Frankreich Gedichte, die sich der auf antike Muster verweisenden Großform des Lehrgedichts bedienen, beträchtliche Erfolge bei den Kritikern wie beim Publikum; in Großbritannien sind dies die Lehrgedichte Erasmus Darwins, in Frankreich die deskriptivdidaktischen Gedichte Jacques Delilles. Doch etwa in denselben Jahren verfassen in Deutschland Schiller und Goethe Gedichte, die zwar unverkennbar – und in einigen Fällen eingestandenermaßen – an Traditionen des Lehrgedichts anschließen, aber dabei die überlieferten Muster der Gattung auf verschiedene Weisen umformen. Nur wenig später schreiben englische Romantiker wie Percy Bysshe Shelley und William Wordsworth Gedichte, bei denen ebenfalls argumentiert werden kann, dass sie aus Transformationen des philosophischen Lehrgedichts hervorgehen; dasselbe gilt für einige Gedichte Alphonse de Lamartines und Alfred de Vignys. Diese Texte werden in der neueren Forschung häufig als philosophische Gedichte, philosophische Lyrik, Ideengedichte oder weltanschauliche Gedichte bezeichnet. Tatsächlich geht bei manchen von ihnen die Umformung der Strukturen des Lehrgedichts so weit, dass es fraglich ist, ob man sie noch dieser Gattung zuordnen kann. Es gilt aber auch zu bedenken, dass so gut wie keine der Bezeichnungen ‚philosophische Lyrik‘, ‚Ideengedicht‘ oder ‚weltanschauliches Gedicht‘ über eine allgemein akzeptierte Definition verfügt und alle einen mehr oder weniger deutlichen Behelfscharakter haben. Gleichwohl dürfte der Gebrauch einiger dieser Bezeichnungen pragmatisch sinnvoll sein. Er sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die betreffenden Gedichte großenteils aus Abwandlungen von Strukturen des Lehrgedichts hervorgehen. Dieser Untersuchungsteil soll anhand einiger prominenter Beispiele dieses um 1800 bestehende Nebeneinander traditioneller und origineller Formen des Lehrgedichts darstellen. Eine Absicht ist dabei, die eben erwähnte Umformung des Lehrgedichts zum philosophischen Gedicht oder Ideengedicht genauer zu analysieren. Dabei beschränkt sich die Untersuchung auf deutschsprachige Texte, nämlich Gedichte Schillers und Goethes. Daneben soll der Untersuchungsteil aber auch zeigen, dass hinsichtlich der von den Autoren intendierten Funktionen der Gedichte die Unterschiede zwischen den formal eher traditionellen Texten und den formal innovativen und auf Abgrenzung von der Tradition angelegten Texten

von einer „neuen und höhern Art von Didaxe“ oder einer „‚höheren Didaktik‘“ auf S. 568 bzw. 576. Vgl. ferner Albertsen, Das Lehrgedicht, S. 349–369 (Kap. „Das Ringen um das künftige Lehrgedicht“).

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nicht so groß sind, wie es die Differenzen im Umfang und in vielen Aspekten der sprachlichen Gestaltung vermuten lassen könnten. Hinsichtlich dieser Funktionen stehen die Lehrgedichte Schillers und Goethes denn auch durchaus in einer Kontinuität zu älteren Lehrgedichten. Auch diese Gedichte Schillers und Goethes zielen zu einem großen Teil darauf, ethische Werte und religiöse Vorstellungen zu artikulieren, ihnen mithilfe der poetischen Form zu besonderer Dignität zu verhelfen und die angemessene Haltung der Ehrfurcht vorzuführen. Ferner widmen sich auffällig viele ihrer Gedichte der Evokation von Totalitäten: Sie sollen das Ganze der Natur, des menschlichen Lebens oder der Geschichte sinnfällig machen. Einige der umfangreichen Lehrgedichte Erasmus Darwins und Jacques Delilles verfolgen – auf eher traditionelle Weise – ähnliche Ziele.

1 Neue Naturwissenschaft in traditioneller Form: Erasmus Darwin und Jacques Delille Zwischen 1780 und 1810 veröffentlichten Jacques Delille und Erasmus Darwin umfangreiche Lehrgedichte, die offenkundig auf antike Muster der Gattung, insbesondere auf Lukrez und auf Vergils Georgica, als Modelle zurückgriffen. Beide erhielten vom zeitgenössischen französischen beziehungsweise englischen Publikum großen, teilweise enthusiastischen Beifall und wurden zeitweilig zu den bedeutendsten lebenden Poeten ihrer Nationen gerechnet. Im 19. Jahrhundert verblasste ihr Ruhm schnell; beide Autoren wurden von den jeweils folgenden Generationen – vereinfacht gesagt: von den englischen beziehungsweise französischen Romantikern – zu Repräsentanten einer überholten Art der Dichtung erklärt. Im Folgenden sollen zwei Gedichte näher betrachtet werden, in denen Darwin und Delille nicht nur auf dieselben formalen Modelle zurückgreifen, sondern auch ähnliche Ziele verfolgen: Darwins The Temple of Nature (1803) und Delilles Les Trois Règnes de la Nature (1808) sollen beide die Natur als Ganzheit darstellen und zugleich eine Deutung der Naturordnung bieten, die religiöse und ethische, im Falle Darwins auch dezidiert politische Implikationen besitzt. Die religiösen Vorstellungen sowie die ethischen und politischen Werte, die Darwin einerseits, Delille andererseits proklamieren, sind aber sehr unterschiedlich und in manchen Hinsichten einander geradezu entgegengesetzt. Die vergleichende Analyse der Gedichte kann somit zeigen, dass die traditionelle Großform des Lehrgedichts um 1800 von Dichtern unterschiedlicher philosophisch-religiöser Orientierungen als ein geeignetes Instrument zur Artikulation ihrer Positionen angesehen wurde.

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IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800

1.1 Erasmus Darwin: The Temple of Nature (1803) Im Jahr 1789 veröffentlichte Erasmus Darwin, ein angesehener Arzt aus den Midlands, anonym das umfangreiche botanische Lehrgedicht The Loves of the Plants, das auf der Titelseite als zweiter Teil eines Werks mit dem Titel The Botanic Garden vorgestellt wurde und das sich in seiner Darstellung der Pflanzenwelt am System Linnés orientierte. Das Gedicht fand nicht nur großen Anklang bei der Leserschaft, sondern erhielt auch sehr positive Besprechungen, unter anderem von dem Dichter William Cowper.3 Zwei Jahre später ließ Darwin den ersten Teil von The Botanic Garden mit dem Titel The Economy of Vegetation folgen. In den folgenden Jahren veröffentlichte Darwin auch wissenschaftliche Abhandlungen, unter denen Zoönomia, or The Laws of Organic Life (1794–1796) die meiste Beachtung fand und bis heute als die bedeutendste gilt. Kurz vor seinem Tod im Jahr 1802 beendete er die Arbeit an seinem dritten Lehrgedicht, The Temple of Nature, das posthum 1803 erschien. The Temple of Nature erhielt von den Zeitgenossen weit weniger Beifall als die früheren Gedichte, insbesondere The Loves of the Plants, und wurde auch von der Literaturwissenschaft lange Zeit weniger beachtet als die zwei Teile von The Botanic Garden. In der jüngeren Forschung hingegen ist verschiedentlich die Auffassung vertreten worden, dass Darwins letztes großes Gedicht zugleich sein ambitioniertestes und überzeugendstes sei.4 Diese Wertungsfrage kann hier offen gelassen werden; es lässt sich aber zumindest zeigen, dass Darwin in The Temple of Nature eine Tendenz, die in den zwei Teilen von The Botanic Garden bereits zu beobachten ist, weitergeführt und mit größerer Konsequenz umgesetzt hat: In allen drei Gedichten, aber am deutlichsten in dem letzten, verschränkt Darwin die Darbietung von Naturphänomenen mit der Präsentation einer Deutung der Geschichte der menschlichen Zivilisation, die mit spezifischen ethischen und politischen Positionen verknüpft ist. Die folgende Analyse konzentriert sich auf The Temple of Nature und dabei unter anderem auf diese Überlagerung von Naturgeschichte, Ethik und Politik, verweist aber auch gelegentlich auf Parallelen in den Gedichten von The Botanic Garden. Der vollständige Titel des Gedichts lautet: The Temple of Nature, or, The Origin of Society.5 Während der zweite Titel – The Origin of Society – das zentrale

3 Zum Erfolg von The Loves of the Plants vgl. Desmond King-Hele, Doctor of Revolution. The Life and Genius of Erasmus Darwin, London 1977, S. 190, 197 f. 4 Desmond King-Hele etwa bezeichnet in seiner 1977 erschienenen Biographie The Temple of Nature als das beste Gedicht Darwins. Vgl. King-Hele, Doctor of Revolution, S. 288. 5 Vgl. Erasmus Darwin, The Temple of Nature; or, The Origin of Society. A Poem. With Philosophical Notes, London 1803. Zitate aus diesem Gedicht werden im Folgenden im Haupttext

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Thema des Gedichts benennt,6 verweist der erste, The Temple of Nature, auf die Rahmenhandlung, in die Darwin die Belehrung über den Ursprung der menschlichen Gesellschaft integriert hat. Der Tempel der Natur, so erläutern die Anfangsteile des Gedichts, befindet sich an dem Ort, wo einst der Garten Eden lag.7 In diesem riesigen, prachtvollen Tempel finden regelmäßig Zeremonien zu Ehren der Göttin Natur statt. Der Sprecher des Gedichts schildet eine solche Zeremonie, eine Prozession von Jungfrauen unter Leitung von Urania, um sich dann vor dem Altar der Natur an Urania zu wenden und sie anzuflehen, ihn – genauer: seine Muse – über die Gesetze des organischen Lebens und die Ursprünge der Gesellschaft zu belehren. Urania gewährt ihm diese Bitte, und der größte Teil des Gedichts besteht aus den Belehrungen, die sie der Muse des Dichters und den Jungfrauen erteilt. Das Hauptthema und einige Grundgedanken dieser Belehrungen werden in den Eingangsversen des ersten Gesangs eingeführt. Sie lauten: By firm immutable immortal laws, Impress’d on Nature by the GREAT FIRST CAUSE, Say, MUSE! how rose from elemental strife Organic forms, and kindled into life; How Love and Sympathy, with potent charm, Warm the cold heart, the lifted hand disarm; Allure with pleasures, and alarm with pains, And bind Society in golden chains.

[I, 1–8]

nachgewiesen; die römische Ziffer verweist auf den Canto (I bis IV), die arabische auf die Verse. – Die folgende Analyse zu The Temple of Nature stellt die überarbeitete Fassung von Teilen eines Aufsatzes dar; vgl. Olav Krämer, „Transformationen des wissenschaftlichen Lehrgedichts um 1800: Erasmus Darwins The Temple of Nature und Johann Wolfgang Goethes Metamorphose der Tiere“, in: Hufnagel/Krämer (Hrsg.), Das Wissen der Poesie, S. 37–67, hier S. 41–53. 6 Darwin wollte das Gedicht offenbar zunächst The Progress of Society, dann The Origin of Society nennen. Vgl. Martin Priestman, „The Progress of Society? Darwin’s Early Drafts for The Temple of Nature“, in: C.U.M. Smith/Robert Arnott (Hrsg.), The Genius of Erasmus Darwin, Aldershot (Hampshire)/Burlington (VT) 2005, S. 307–319, hier S. 311. Entwürfe zu dem Gedicht The Progress of Society sind abgedruckt bei: Ders., The Poetry of Erasmus Darwin. Enlightened Spaces, Romantic Times, Surrey (UK)/ Burlington (VT) 2013, S. 259–282. 7 Dies ist zumindest eine mögliche Deutung der betreffenden Passage, die wie viele Abschnitte des Anfangsteils recht kompliziert ist. Es ist nicht leicht zu erfassen, wie genau dem Gedicht zufolge die Lage des Gartens Eden und die des Tempels sich zueinander verhalten: so auch Priestman, „The Progress of Society?“, S. 314. Zu weiteren Schwierigkeiten dieser Anfangspassagen und zu den Aspekten der Entstehungsgeschichte, die für einige verwirrende Züge verantwortlich sein könnten, vgl. ebd., passim.

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IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800

Das Gedicht soll den Prozess darstellen, in dem aus Verbindungen anorganischer Stoffe Leben entsteht, dieses Leben sich zu höheren Formen entwickelt, die immer stärker durch Liebe und Sympathie bestimmt werden, und wie Liebe und Sympathie schließlich als goldene Ketten die Gesellschaft begründen und zusammenhalten. Dieser gesamte Prozess wird durch unsterbliche Gesetze geleitet und angetrieben, die eine deistisch verstandene Gottheit, die „GREAT FIRST CAUSE“, der Natur mitgeteilt hat.8 Das Pensum, das Darwin sich in diesen Eingangsversen auferlegt, sucht er in vier Gesängen zu bewältigen, die jeweils etwa 450 bis 500 Verse in heroic couplets umfassen. Im ersten Gesang („Production of Life“) präsentiert er eine Theorie über die spontane Entstehung des Lebens aus anorganischen Stoffen und legt dar, wie aus den einfachsten Organismen durch die Auseinandersetzung mit der Umwelt komplexere und mannigfaltige Lebensformen geworden seien. Im zweiten Gesang („Reproduction of Life“) behandelt Darwin die Modi der Fortpflanzung bei Pflanzen, Tieren und beim Menschen. Der dritte Gesang („Progress of the Mind“) widmet sich den geistigen Fähigkeiten und Leistungen des Menschen. Darwin führt alle mentalen Vorgänge und geistigen Fähigkeiten auf vier elementare Vermögen der Sinne zurück und legt dar, wie Kunst, Sprache, Moral und gesellschaftliche Ordnung auf der Grundlage dieser Vermögen entstehen. Im vierten Gesang („Of Good and Evil“) lässt Darwin zunächst die vielfältigen Formen von Grausamkeit und Gewalt Revue passieren, die sich bei den Menschen, im Tierreich und sogar schon bei Pflanzen finden. Diese Übel werden Darwin zufolge aber durch den Umfang und die stetige Zunahme des Guten in der Welt überwogen: Der Tod ist letztlich nur eine Veränderung der Form, nach dem Tod eines Lebewesens werde die organische Materie neu zum Leben erweckt, und so tragen Leben und Glück, „Immortal Happiness“ (IV, 405), den Sieg über Tod und Zerstörung davon. Die vier Gesänge mit ihren knapp 2 000 Versen machen aber nur einen Teil von The Temple of Nature aus: Sie sind auch mit zahlreichen Fußnoten von teilweise beträchtlichem Umfang versehen, die mit ihren jeweiligen Themen am Ende des Buchs in einer eigenen Inhaltsübersicht verzeichnet sind, und werden zudem durch über hundert Seiten mit „Additional Notes“ komplettiert.

8 Als Anhänger einer Form des Deismus wird Darwin etwa gesehen bei: Norton Garfinkle, „Science and Religion in England, 1790–1800: The Critical Response to the Work of Erasmus Darwin“, in: Journal of the History of Ideas, 16/1955, 3, S. 376–388, hier S. 377, 386 f. – In Martin Priestmans Studie Romantic Atheism wird Darwin ebenfalls der Tradition des Deismus des 18. Jahrhunderts zugerechnet, zugleich aber angedeutet, dass Darwins Auffassungen sich innerhalb des ‚deistischen Spektrums‘ in der Nähe zum Atheismus befinden; vgl. Martin Priestman, Romantic Atheism. Poetry and freethought, 1780–1830, Cambridge 1999, S. 49.

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The Temple of Nature musste auf die Leser um 1800 als ein Gedicht erscheinen, das in seiner äußeren Form eine Reihe von traditionellen Aspekten aufwies, mit denen es sich an Mustern der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu orientieren schien. Dasselbe gilt auch bereits für die zwei Teile von The Botanic Garden. Einen Anschluss an ältere Traditionen, konkret an die klassizistische Dichtung des Augustan Age, markierte bereits die Wahl des Versmaßes: Anders als etwa Young in den Night Thoughts oder Mark Akenside in The Pleasures of the Imagination verwendete Darwin nicht den Blankvers, sondern heroic couplets. Aber auch die zahlreichen Fußnoten waren eine Eigenschaft des Gedichts, die an Lehrgedichte der ersten Jahrhunderthälfte erinnern konnte. Darwin nutzt dieses traditionelle Mittel allerdings in einer geradezu exzessiven Weise.

1.1.1 Unterhaltsam-imaginative Naturdarstellung Im Vorwort zu The Temple of Nature sagt Darwin ausdrücklich, dass der Hauptzweck des Gedichts kein belehrender, sondern ein unterhaltender sei: The Poem, which is here offered to the Public, does not pretend to instruct by deep researches of reasoning; its aim is simply to amuse by bringing distinctly to the imagination the beautiful and sublime images of the operations of Nature in the order, as the Author believes, in which the progressive course of time presented them. [„Preface“ (unpag.)]

Der erste Satz dieser Vorbemerkung lässt zwar die Deutung zu, dass Darwin hier nicht jeden Anspruch auf Belehrung zurückweisen, sondern vor allem darauf hinweisen will, dass das Gedicht keine vertiefende, argumentationsgestützte Belehrung („deep researches of reasoning“) biete. Wenn Darwin zugleich erklärt, dass das Gedicht die ‚Operationen der Natur‘ in einer bestimmten ‚Ordnung‘ präsentieren solle, die er für die von der zeitlichen Entwicklung selbst vorgegebene halte, so schreibt er ihm damit durchaus auch belehrende Qualitäten zu. Gleichwohl ist festzuhalten, dass der Hauptzweck des Gedichts laut dieser Vorbemerkung darin besteht, die Einbildungskraft der Leser in einer vergnüglichen oder unterhaltsamen Weise zu aktivieren. Es ist aufschlussreich, die knappe Vorbemerkung zu The Temple of Nature mit den einleitenden Paratexten zu The Loves of the Plants zu vergleichen. Dieses Gedicht enthält gleich drei solcher Vorbemerkungen, die sehr unterschiedlich beschaffen sind. Das Ensemble einleitender Texte weist aber eine ähnliche Tendenz auf wie die kurze Vorrede zu The Temple of Nature, insofern es zwar darauf hinweist, dass das folgende Gedicht die Naturerscheinungen unter Rekurs auf die aktuelle Wissenschaft, konkret auf Linné, darstellen wird, aber als den Zweck des Gedichts nicht die Belehrung über diese wissenschaftlichen

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IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800

Theorien, sondern das Vergnügen des Lesers ausgibt. So wird im „Proem“, das mit einer Leseranrede beginnt („GENTLE READER!“), das Gedicht als eine begehbare „CAMERA OBSCURA“ angepriesen, in der dem Betrachter verblüffende Spektakel vorgeführt werden: „[I]f thou art perfectly at leasure for such trivial amusement, walk in, and view the wonders of my INCHANTED GARDEN.“9 Das „Advertisement“, das vor diesem Proömium platziert ist, setzt andere Akzente, ohne dass sich dadurch ein Widerspruch zwischen diesen Vorbemerkungen ergäbe. Es beginnt wie folgt: THE general design of the following sheets is to inlist Imagination under the banner of Science, and to lead her votaries from the looser analogies, which dress out the imagery of poetry, to the stricter ones, which form the ratiocination of philosophy. While their particular design is to induce the ingenious to cultivate the knowledge of BOTANY; by introducing them to the vestibule of that delightful science, and recommending to their attention the immortal works of the Swedish Naturalist LINNEUS.10

Der Grundgedanke dieser Sätze wird durch Ausdrücke wie ‚hinführen‘, ‚empfehlen‘ und ‚Vestibül‘ verdeutlicht („to lead“, „to induce“, „recommending“, „vestibule“): Das Gedicht soll nicht die Wissenschaft selbst liefern, auch nicht eine vereinfachte Version der Wissenschaft; es soll vielmehr zu ihr hinführen und sie in einem so attraktiven Licht erscheinen lassen, dass die Leser sie näher kennen zu lernen wünschen, also von der Lektüre des Gedichts zu der Beschäftigung mit der eigentlichen Wissenschaft übergehen. Es ist anzunehmen, dass dieses Ziel einer Hinführung der Leser zur Wissenschaft auch zu den leitenden Absichten von The Temple of Nature gehörte, dass also das deklarierte Streben nach Unterhaltung („to amuse“) auch hier mit dem Zweck verbunden ist, für die Wissenschaft zu werben.11 Für diese Vermutung

9 [Erasmus Darwin], The Botanic Garden. Part II. Containing The Loves of the Plants. A Poem. With Philosophical Notes. Volume the Second. The second edition. London 1790, S. ix („Proem“). 10 Ebd., „Advertisement“ (unpag.). 11 Auch Martin Priestman schreibt über den eben zitierten Anfang der Vorrede: „The opening words of the ‚Advertisement‘ – which had also introduced the 1789 Loves on its own – stand as a manifesto for all Darwin’s scientific poetry: ‚to inlist Imagination under the banner of Science‘ [. . .].“ (Martin Priestman, „Introduction“, in: The Collected Writings of Erasmus Darwin. [9 Bände]. Bd. 1: The Botanic Garden. A Poem in Two Parts. I: The Economy of Vegetation. With an Introduction by Martin Priestman, Bristol 2004, S. v–xxvii, hier S. vi.) Wo Priestman den Inhalt dieses ‚Manifests‘ zusammenfasst, übergeht er aber gerade Darwins explizite Abgrenzung seiner Absicht von einer eigentlichen wissenschaftlichen Belehrung: „The use of poetry for instruction had classical precedents in Virgil and Lucretius and was not itself surprising in the eighteenth century [. . .].“ (Ebd.)

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spricht vor allem, dass The Temple of Nature hinsichtlich der poetischen Verfahren und der verwendeten Arten von Paratexten weitreichende Ähnlichkeiten mit den zwei Teilen von The Botanic Garden aufweist. Inhalt und Form von The Temple of Nature lassen sich jedenfalls in vielen Hinsichten als von den in der Vorrede formulierten Absichten bestimmt verstehen und auch zu der eben zitierten Vorrede zu The Loves of the Plants in Beziehung setzen. Die Gestaltung der Rahmenhandlung sowie zahlreicher Episoden und Beschreibungen innerhalb der Ausführungen Uranias scheint wesentlich darauf angelegt zu sein, schöne und erhabene Züge der Natur hervortreten zu lassen. Die Struktur von Darwins Gedicht als Ganzem ist wesentlich bestimmt durch die Anordnung der behandelten Lebensphänomene in einer aufsteigenden Reihe sowie durch die Verbindung allgemeiner Aussagen mit Aufzählungen von Beispielen. Im zweiten Canto etwa erläutert Darwin zuerst die ungeschlechtliche Fortpflanzung, dann die Entstehung des zweiten Geschlechts und die sexuelle Fortpflanzung. Die Fortpflanzungsmodi werden in den jeweiligen Abschnitten zuerst in allgemeiner Weise beschrieben; es folgen Aufzählungen von Lebewesen, die sich auf die betreffende Art fortpflanzen. Die Glieder der Aufzählungen werden häufig durch wiederholte Wörter wie „So“ oder „Hence“ eingeleitet. Dabei verwendet Darwin in The Temple of Nature wie auch schon in den zwei Teilen von The Botanic Garden ausgiebig Anthropomorphisierungen von Pflanzen und Tieren sowie Personifikationen abstrakter Begriffe, die häufig zu kleinen allegorischen Szenen ausgebaut werden.12 Darwin hielt diese Verfahren für besonders geeignet, in der Einbildungskraft des Lesers deutliche Vorstellungen hervorzurufen; denn diese Mittel sprechen den Gesichtssinn an, der in höherem Maße als die anderen Sinne distinkte Vorstellungen im Geist hinterlasse.13 So ist der Abschnitt über geschlechtliche Fortpflanzung in Canto II großenteils durch eine allegorische

12 Zu Personifikationen in The Loves of the Plants vgl. Catherine Packham, „The Science and Poetry of Animation: Personification, Analogy, and Erasmus Darwin’s Loves of the Plants“, in: Romanticism, 10/2004, 2, S. 191–208. 13 Diese Grundannahmen seiner Dichtungstheorie formulierte Darwin in einem der „Interlude[s]“, die er zwischen die Gesänge von The Loves of the Plants setzte. Vgl. [Darwin], The Botanic Garden. Part II. Containing The Loves of the Plants, S. 61–74 („Interlude“ zwischen den Cantos I und II). – Zu dieser Privilegierung des Optischen in Darwins Dichtungstheorie vgl. Priestman, The Poetry of Erasmus Darwin, S. 33 f.; James Venable Logan, The Poetry and Aesthetics of Erasmus Darwin, New York 1972 [zuerst 1936], S. 46–92.

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Erzählung um die von Hymen vollzogene Hochzeit zwischen Cupido und Psyche strukturiert. Nach dieser Zeremonie, bei der Hymen eine Lobrede auf die Gottheiten der geschlechtlichen Liebe hält (vgl. II, 221–250), besteigen die Vermählten einen Wagen, vollführen einen Triumphzug durch verschiedene Reiche der Natur und nehmen die Huldigungen von Blumen und Tieren entgegen. Auch wilde oder von Eifersucht und Angriffslust erregte Tiere wie Tiger und Löwe lassen sich durch diesen Anblick besänftigen (vgl. II, 357–410). Diese kleine Erzählung soll offenbar die gesellschaftsstiftende Leistung der Liebe versinnbildlichen, die von Hymen in seiner Hochzeitsansprache beschworen wird. Die Fußnoten und die „Additional Notes“ hingegen können weitgehend als ein Instrument verstanden werden, mit dem Darwin für die Leser einen Übergang zwischen den sinnlichen und unterhaltsamen, die Imagination ansprechenden Bildern der Natur und den wissenschaftlichen Beobachtungen und Theorien zu schaffen suchte. Die Fußnoten und die zusätzlichen Anmerkungen greifen einzelne Aspekte der im poetischen Gewand präsentierten Theorien und Beobachtungen auf, ergänzen sie um weitere Erläuterungen und Bemerkungen zum Forschungsstand und führen den Leser so an die Schwelle des eigentlichen wissenschaftlichen Diskurses. In vielen Fußnoten verweist Darwin auf seine anderen Publikationen, vor allem auf Zoonomia; or, The Laws of Organic Life (2 Teile; 1794/1796), gelegentlich aber auch auf sein ‚agrarwissenschaftliches‘ Werk Phytologia; or the Philosophy of Agriculture and Gardening (1800) sowie auf The Botanic Garden. Ferner teilt er hier Beobachtungen mit, die er selbst gemacht habe, wobei er die erste Person Singular verwendet, also ausdrücklich als Autor in Erscheinung tritt.14 Noch mehr als diese Fußnoten nähern sich die „Additional Notes“ dem fachwissenschaftlichen Diskurs. Sie greifen Phänomene auf, die im Gedicht kurz vorgestellt werden, und präsentieren systematische Überblicke über Gegenstandsbereiche sowie Erklärungshypothesen und Theorien. Einige dieser zusätzlichen Anmerkungen ähneln vielen Fußnoten, insofern sie als kompakte Zusammenfassungen der vorliegenden Erkenntnisse zu einem bestimmten Bereich auftreten. Andere „Additional Notes“ hingegen präsentieren sich als eigenständige, auf dem Forschungsstand aufbauende, aber weiterführende Überlegungen zu Spezialfragen der zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskussion.15

14 Vgl. etwa in der Fußnote zu II, 90, S. 51: „I observed great masses of the limestone in Shropshire, which is brought to Newport, to consist of the cells of these animals.“ 15 Das gilt etwa gleich für die erste dieser zusätzlichen Anmerkungen, die das besonders kontroverse Thema „Spontaneous Vitality“ aufgreift, sowie für eine Anmerkung, in der Darwin eine chemische Theorie der Elektrizität skizziert.

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1.1.2 Ethische und politische Lehren Dennoch legen viele Textpassagen in Verbindung mit bestimmten Kontexten der Gedichtentstehung die Vermutung nahe, dass Darwin in der – ohnehin ja recht allgemein formulierten – Absichtserklärung des Vorworts seine Intentionen nicht vollständig offengelegt hat, dass das Gedicht für ihn also noch weitere Funktionen erfüllte. Erstens ist hervorzuheben, dass Darwin in The Temple of Nature nicht nur biologische Annahmen und Theorien, die von ihm selbst oder anderen Forschern bereits andernorts fixiert worden waren, in Gedichtform kleidete, sondern auch einige Annahmen erstmals formulierte oder zumindest erstmals ausführlich entfaltete. So präsentierte er die besonders kühne und provozierende These, dass die ersten primitiven Lebensformen spontan aus unbelebter Materie entstanden seien, nur in diesem Gedicht. Eine Theorie der Evolution hingegen hatte Darwin bereits in seiner Abhandlung Zoonomia; or, The Laws of Organic Life skizziert. Dort hatte er auch die Hypothese formuliert, dass alle existierenden Lebensformen aus einem einzigen lebenden Gewebe hervorgegangen seien. Aber der Evolutionsgedanke stand nicht im Zentrum der Abhandlung; diese ist vielmehr weitgehend nach einem ‚statischen‘, klassifikatorischen Prinzip aufgebaut, behandelt zunächst verschiedene Grundfunktionen des Organismus und gibt dann einen umfassenden Überblick über Krankheiten, die in vier Klassen unterteilt werden. Das Gedicht The Temple of Nature ist das einzige Werk Darwins, in dem er die Idee der progressiven Entwicklung von einfachsten zu höheren Lebensformen zum zentralen Thema und auch zum Strukturprinzip der Disposition macht. Zweitens und vor allem aber nutzte Darwin das Gedicht auch, um seine Annahmen über die Entstehung und Reproduktion des Lebens und über biologische Evolution mit einer Interpretation der menschlichen Zivilisationsgeschichte zu verknüpfen, die auch die Umrisse einer Gesellschaftstheorie und einer Ethik sowie politische Stellungnahmen umfasste. Als silberne oder goldene ‚Ketten der Gesellschaft‘ werden in dem Gedicht die Vater- oder Elternliebe, die geschlechtliche Liebe und schließlich die ‚sentimental love‘ bezeichnet: Formen der Liebe, die Darwin zufolge in rudimentären Ausprägungen teils schon bei sehr einfachen Organismen entstehen. Mit dieser Auffassung von der Liebe als dem Band der Gesellschaft ist schon angedeutet, dass Darwin der Liebe einen hervorragenden ethischen Rang zuweist. Dies findet sich bestätigt am Ende des dritten Gesangs („The Progress of Mind“), wo die Erörterung der sich nacheinander entwickelnden geistigen Anlagen und Vermögen des Menschen schließlich in die Schilderung und das emphatische Lob der „Sympathy“ mündet. Sie wird personifiziert als ein Seraph, der vom Himmel herabsteigt, das ‚kalte Herz‘ des Menschen mit himmlischer Glut beseelt, sie zu vielfältigen Wohltaten veranlasst und sie über die Grundlage der Moral belehrt; auf einer Schriftrolle über der Weihestätte der

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Natur, so der Seraph, leuchten die ‚göttlichen Worte‘: „‚IN LIFE’S DISASTROUS SCENES TO OTHERS DO, | WHAT YOU WOULD WISH BY OTHERS DONE TO YOU.‘“ (III, 487 f.) Dieser Grundsatz, eine Variante der Goldenen Regel,16 erscheint bei Darwin einerseits als Produkt eines Evolutionsvorgangs und wird andererseits in der Inhaltsübersicht zu dem Gesang als Zentrum der „Christian Morality“ bezeichnet; eine Fußnote Darwins an dieser Stelle verweist auf „the sacred maxims of the author of Christianity, ‚Do as you would be done by,‘, and ‚Love your neighbour as yourself,‘“.17 Wie auch immer diese Darstellung der Genese des Grundsatzes im Einzelnen zu verstehen ist: als bislang höchstes Ergebnis des ‚Fortschritts des Geistes‘ präsentiert Darwin jedenfalls eine auf Mitgefühl und auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit basierende moralische Haltung. Wird die Ethik von The Temple of Nature als eine mit der christlichen Moral übereinstimmende und in diesem Sinne ‚orthodoxe‘ vorgestellt, so haben die politischen Positionen des Gedichts einen kaum verhüllten ‚heterodoxen‘ oder oppositionellen Charakter. Die expliziten Bezugnahmen auf aktuelle politische Debatten machen dabei nur wenige Stellen innerhalb des fast 2 000 Verse umfassenden Gedichts aus. Aber vor dem Hintergrund der heftigen Debatten, die durch die Französische Revolution in der britischen Öffentlichkeit ausgelöst worden waren und die seit dem Beginn des Kriegs zwischen Großbritannien und Frankreich noch an Schärfe gewonnen hatten, mussten auch Darwins Erklärung der Entstehung des Lebens, seine Evolutionstheorie und seine Thesen über die Ursprünge der menschlichen Gesellschaft als Ideen mit eminent politischen Implikationen erscheinen. Eine politische Bedeutung konnte ferner den Lukrez-Referenzen in Darwins The Temple of Nature und sogar der Form des mit Fußnoten versehenen didaktischen Gedichts als solcher zugeschrieben werden; davon zeugen die satirischen Attacken, die die Zeitschrift The Anti-Jacobin, or, Weekly Examiner im Jahr 1798 gegen Darwin gerichtet hatte.18 Darwin hatte in sein Gedicht The Economy of

16 Genauer gesagt handelt es sich um die ‚positive Fassung‘ der Goldenen Regel. Zur Geschichte dieser Regel und der Unterscheidung der zwei Fassungen vgl. Joachim Hruschka, „Die Goldene Regel in der Aufklärung – die Geschichte einer Idee“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik / Annual Review of Law and Ethics, 12/2004, S. 157–172. 17 Darwin, The Temple of Nature, S. 124 (Fußnote zu III, 485). Für „Do as you would be done by“ vgl. Mt 7,12 und Lk 6,31; für „Love your neighbour as yourself“ vgl. 3. Mose 19,18 sowie Mt 22,39 und Lk 10,27. 18 Dieses Periodikum wurde unter anderem von dem Tory-Politiker George Canning, damals Under Secretary of State for Foreign Affairs, herausgegeben und hatte es sich zur Aufgabe gemacht, konservative Werte und Prinzipien zu verteidigen und die Lügen zu entlarven, die von den „Papers devoted to the cause of SEDITION and IRRELIGION, to the pay or principles of FRANCE“ verbreitet wurden. Vgl. den „Prospectus“ der Zeitschrift in: The Anti-Jacobin, or

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Vegetation (1791) eine Passage integriert, in der er seine Begeisterung über die Französische Revolution zum Ausdruck brachte.19 Außerdem waren die Gedanken zur Evolution, die er in seiner Abhandlung Zoonomia vorgestellt hatte, mit den Lehren der anglikanischen Kirche unvereinbar. Insofern ist es nicht überraschend, dass er ins Visier der Anti-Jacobin Review geriet. 1798 veröffentlichte die Zeitschrift zunächst eine Parodie auf das Lehrgedicht The Progress of Civil Society von Richard Payne Knight, einem anderen erklärten Befürworter der Französischen Revolution. Knights Gedicht war, wie der Autor im Vorwort erklärte, nach dem Vorbild des fünften Buchs von De rerum natura entworfen, in dem Lukrez seine Theorie der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Gesellschaft darlegte.20 Die Parodie in der Anti-Jacobin Review trug den Titel The Progress of Man. Eine Fußnote zu diesem Gedicht nannte Erasmus Darwin als Autor von Zoonomia in einer Reihe mit William Godwin, Thomas Paine und Joseph Priestley, den bekanntesten britischen Radikalen, und mit den französischen Enzyklopädisten. In demselben Jahr publizierte dieselbe Zeitschrift auch das Gedicht The Loves of the Triangles, das unmissverständlich als Parodie auf Darwins Gedichte The Loves of the Plants und The Economy of Vegetation präsentiert wurde.21 In der Einleitung lassen die Autoren der Anti-Jacobin Review den angeblichen Autor des Gedichts zu Wort kommen, einen „Mr Higgins“, der von der unbegrenzten Perfektibilität des Menschen sowie von der Unzulänglichkeit aller bestehenden Institutionen überzeugt ist und der das didaktische Gedicht als ein effektives Instrument zur Verbreitung seiner Ansichten betrachtet. Das fast 300 Verse umfassende Gedicht selbst imitiert Darwins poetische Verfahren, etwa seinen Gebrauch von Personifikationen, und präsentiert in einer der zahlreichen Fußnoten eine offenkundig absurde mathematische Entsprechung zu der Evolutionshypothese, die Darwin in

Weekly Examiner. In Two Volumes. Vol. I. Fourth Edition, Revised and Corrected, London 1799, S. 1–9, Zitat S. 7. Die erste Ausgabe der Zeitschrift erschien am 20. November 1797. – Vgl. zu der Zeitschrift und den beteiligten Personen: Fara, Erasmus Darwin. Sex, Science, and Serendipity, S. 30–42; John Strachan, „Poetry of the Anti-Jacobin“, in: Duncan Wu (Hrsg.), A Companion to Romanticism, Oxford/Malden (MA) 1998, S. 191–198. 19 Vgl. [Erasmus Darwin], The Botanic Garden. Part I. Containing The Economy of Vegetation. A Poem. With Philosophical Notes. London 1791, S. 92 f. (Canto II, Verse 377–394). 20 Vgl. Richard Payne Knight, The Progress of Civil Society. A Didactic Poem, in Six Books, London 1796, S. v („Preface“). 21 Die Parodie erschien in drei Teilen in den Ausgaben vom 16. April, 23. April und 7. Mai 1798. Sie wird hier zitiert nach dem Abdruck in einer Sammlung von Gedichten der Zeitschrift. Vgl. Poetry of the Anti-Jacobin. Fourth edition, London 1801; das Gedicht The Loves of the Triangles auf S. 118–131, 132–139, 144–151.

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Zoonomia skizziert hatte.22 Das Gedicht enthält ferner eine Apostrophe an „happy France“ als das Land, wo „REFORM greets TERROR with fraternal kiss“,23 und es endet mit der hoffnungsfrohen Vorhersage einer französischen Invasion Großbritanniens, der die Guillotinierung des Premierministers William Pitt folgt.24 So konstruieren die Knight- und Darwin-Parodien der Anti-Jacobin Review einen Zusammenhang zwischen politischem Radikalismus, rationalistischem Fortschrittsdenken, Evolutionstheorie, Lukrez und der Form des didaktischen Gedichts. Wenn Darwin nach diesen – sehr wirkungsvollen – Angriffen ein weiteres didaktisches Gedicht verfasste, ihm den Untertitel The Origin of Society gab und darin die Ideen der Evolution und des Fortschritts ins Zentrum stellte, so bedeutete dies ein deutliches Bekenntnis zu jenen Ideen und Idealen, die die konservativen Publizisten teils ridikülisiert, teils dämonisiert hatten. Einige Passagen des Gedichts bekräftigen und konkretisieren diese durch Titel und Thema markierte politische Tendenz. Wo Darwin im dritten Gesang das Wirken der „Sympathy“ beschreibt, da nennt er unter ihren Manifestationen auch die Öffnung von Gefängnissen und die Befreiung von Sklaven (vgl. III, 475); damit greift er Ziele auf, die hauptsächlich von liberalen Politikern verfochten wurden.25 Noch deutlichere politische Stellungnahmen finden sich im vierten Gesang. Der Abschnitt, in dem Urania die segensreichen Wirkungen der menschlichen Grundfähigkeit „SENSATION“ (IV, 183) schildert, enthält die Verse: So HOWARD, MOIRA, BURDETT, sought the cells, Where want, or woe, or guilt in darkness dwells; With Pity’s torch illumed the dread domains, Wiped the wet eye, and eased the galling chains; With Hope’s bright blushes warm’d the midnight air, And drove from earth the Demon of Despair.

[IV, 205–210]

Die drei Namen in Vers 205 verweisen auf den Gefängnisreformer John Howard, der auch in anderen Gedichten Darwins gepriesen wird, sowie auf zwei Oppositionspolitiker (Francis Rawdon Hastings, Lord Moira, und Sir Francis Burdett), die sich der zeitweiligen Aufhebung des Habeas Corpus Act durch William Pitt im Jahr 1793 widersetzt und sich gegen widerrechtliche Inhaftierungen und

22 Vgl. The Loves of the Triangles, S. 127 f. (Fußnote zu Canto I, V. 39). 23 Vgl. ebd., S. 137 (Canto I, V. 130–133). 24 Vgl. ebd., S. 148–151 (Canto I, V. 247–295). 25 Zur abolitionistischen Bewegung im Großbritannien des späten 18. Jahrhunderts und zu Darwins Engagement für die Abschaffung des Sklavenhandels vgl. Fara, Erasmus Darwin. Sex, Science, and Serendipity, S. 164–184.

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inhumane Zustände in Gefängnissen engagiert hatten.26 Etwas später im vierten Gesang lässt Darwin seine Urania-Figur die „patriot heroes“ (IV, 273) Großbritanniens emphatisch dazu auffordern, die Pressefreiheit zu schützen;27 dieser Aufruf besaß angesichts repressiver Gesetzesmaßnahmen der Regierung Pitts ebenfalls unmittelbare Aktualität und Brisanz.28 Schließlich stellte Darwin seinem Gedicht ein Frontispiz voran, das als Anspielung auf eine berüchtigte Episode der Französischen Revolution verstanden werden konnte: Der Stich nach einer Zeichnung von Johann Heinrich Füssli (Henry Fuseli) zeigt eine Frau, die den Schleier von der Statue einer Göttin mit drei Brüsten entfernt und die Menschen zu ihren Füßen zur Verehrung aufzufordern scheint.29 Das Bild ist offenbar als Illustration zur Schlusspassage des Gedichts gemeint, konnte um 1800 aber auch an Feierlichkeiten zu Ehren der Vernunft oder der Göttin der Natur im revolutionären Paris erinnern.30 Angesichts der politischen Bedeutungen, die atheistischen und materialistischen Positionen zeitgenössisch zugeschrieben wurde, mussten auch die Bezugnahmen auf Lukrez, die in The Temple of Nature zahlreicher und deutlicher waren als in Darwins früheren Lehrgedichten, als Provokation wirken. An Lukrez lässt The Temple of Nature fast unweigerlich schon durch seine Thematik und einzelne Thesen denken: Auch das fünfte Buch von De rerum natura sucht die Ursprünge des Lebens und der menschlichen Gesellschaft aufzuspüren, indem es darlegt, dass in der Frühzeit unserer Erde Pflanzen, Tiere und Menschen aus dem feuchten Erdboden hervorgegangen seien, und im Anschluss daran die Anfänge der Zivilisation und die Entstehung von Gesellschaften beschreibt. Darwins Gedicht über „The Origin of Society“ wies damit deutliche 26 Vgl. Priestman, The Poetry of Erasmus Darwin, S. 197; vgl. auch ebd., S. 160. 27 „Oh save, oh save, in this eventful hour | The tree of knowledge from the axe of power; | With fostering peace the suffering nations bless, | And guard the freedom of the immortal Press!“ (IV, 283–286) 28 Vgl. Maureen McNeil, Under the banner of science. Erasmus Darwin and his age, Manchester 1987, S. 72 f. 29 In dieser Schlusspassage besteigt Urania den Altar der Göttin Natur, entfernt ihren „mystic veil“ und kniet vor ihr nieder (vgl. IV, 515–524). Wo diese Statue der Göttin Natur im ersten Gesang beschrieben wird, wird sie mit „hundred breasts“ (I, 132) ausgestattet. Zu der Tradition allegorischer Darstellungen der Natur als einer vielbrüstigen Göttin (Diana Ephesia) vgl. Wolfgang Kemp, Natura. Ikonographische Studien zur Geschichte und Verbreitung einer Allegorie, Diss. Tübingen 1973, vor allem S. 25–29. 30 Vgl. Irwin Primer, „Erasmus Darwin’s Temple of Nature: Progress, Evolution, and the Eleusinian Mysteries“, in: Journal of the History of Ideas, 25/1964, 1, S. 58–76, hier S. 70–72. Primer zitiert hier (auf S. 70 f.) aus dem 1797/1798 erschienenen Werk Proofs of a Conspiracy against all the Religions and Governments of Europe [. . .] von John Robison, in dem eine derartige Zeremonie in der Kathedrale von Notre Dame beschrieben wird.

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Parallelen zum Werk des Lukrez auf, die allerdings nicht als solche intendiert gewesen sein müssen, sondern sich schlicht aus Ähnlichkeiten zwischen den Zielen oder naturphilosophischen Annahmen ergaben. Aber Darwin machte selbst auf einige dieser Ähnlichkeiten aufmerksam, indem er seine Urania in einer Rekapitulation ihrer Lehren von „wandering atoms“ (IV, 147) sprechen ließ und in der Fußnote zu diesem Vers auf die Ansichten der antiken Atomisten einging: Hätten diese Philosophen das Verhalten der Atome nicht auf den blinden Zufall, sondern auf die unveränderlichen, vom Schöpfer verliehenen Eigenschaften der Atome zurückgeführt (wie es Darwin tut), so hätten ihre Lehren den Glauben an eine Gottheit gestützt, statt zum Atheismus zu führen. Damit verteidigte er die Theorie der spontanen Entstehung des Lebens gegen den Atheismusvorwurf und markierte zugleich Überschneidungen und Differenzen zwischen seiner Position und derjenigen der antiken Atomisten wie Epikur und Lukrez. Schließlich stellte Darwin gleich im Eingang des ersten Gesangs von The Temple of Nature demonstrativ einen Bezug zu Lukrez her, indem er auf den einleitenden Musenanruf eine Apostrophe an „IMMORTAL LOVE“ (I, 15) folgen ließ, die deutlich auf die berühmt-berüchtigte Invokation der Venus im Proömium des ersten Buchs von De rerum natura anspielte. Die Verarbeitung wissenschaftlicher Theorien in seinem umfassenden Naturgedicht erfüllte für Darwin also die folgenden Funktionen: Das Gedicht sollte in unterhaltsamer und ästhetisch ansprechender Form Grundgedanken seiner naturgeschichtlichen und psychologischen Theorien vermitteln und dabei auch an die wissenschaftliche Fachdiskussion heranführen. Darüber hinaus nutzte Darwin das Gedicht dazu, einige besonders kühne Ideen über die Entwicklung des Lebens erstmals konsequent zu entfalten. Nicht zuletzt aber skizzierte er auf der Basis der naturgeschichtlichen Theorien eine Gesellschaftstheorie und Ethik, deren normativer Gehalt als wissenschaftlich fundiert erscheinen sollte.

1.2 Jacques Delille: Les Trois Règnes de la Nature (1808) Als Jacques Delille 1813 starb, galt er in der französischen Öffentlichkeit weithin als größter Dichter der Nation.31 Seinen Ruhm begründete Delille im Jahr 1770

31 Zur Biographie Delilles vgl. Ursel-Margret Becker, Jacques Delille „L’Imagination“ – Ein Beitrag zu einer Imaginationstheorie des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Diss. masch. Bonn 1987, S. 39–57. – Delille hat in der Forschung der letzten Jahrzehnte insgesamt wenig Aufmerksamkeit erhalten. Wichtig ist weiterhin: Guitton, Jacques Delille (1738–1813) et le poème de la nature en France de 1750 à 1820. Guitton hält allerdings Les Trois Règnes de la Nature für ein gescheitertes Gedicht; vgl. ebd., S. 524–535, vor allem S. 528. Eine grundsätzliche

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mit einer Übersetzung von Vergils Georgica, die Voltaire so sehr beeindruckte, dass er den gerade zweiunddreißigjährigen Verfasser für einen Sitz in der Académie française vorschlug. Delille wurde zunächst abgelehnt, zwei Jahre später aber doch aufgenommen. Auch in seinen eigenen Gedichten orientierte er sich häufig am Vorbild Vergils: so in seinem vermutlich bekanntesten Werk, dem Lehrgedicht Les Jardins (1782), sowie in L’Homme des Champs, ou les Géorgiques françaises (1800). In dem zuletzt genannten deskriptiv-didaktischen Gedicht wandte sich Delille erstmals ausführlicher den Naturwissenschaften zu: Die vier Gesänge widmen sich alle dem Landleben und schildern es aus der Perspektive eines Weisen, eines fortschrittlichen Landwirts, eines Naturforschers und eines Dichters. Nach Delilles eigener Aussage waren es Reaktionen auf den dritten Gesang dieses Gedichts, die ihn dazu bewogen, ein ganzes, umfangreiches Gedicht der wissenschaftlichen Sicht auf die Natur zu widmen. Dieses Gedicht erschien 1808 unter dem Titel Les Trois Règnes de la Nature. Delilles Gedicht ist zunächst durch eine Reihe von formalen und strukturellen, aber auch inhaltlichen Ähnlichkeiten mit Darwins The Temple of Nature verbunden.32 Ebenso wie Darwins Gedicht realisiert es die mit Lukrez assoziierte Form des großen, auf eine Erfassung des Ganzen der Natur zielenden Lehrgedichts. Les Trois Règnes de la Nature gliedert sich in acht Gesänge, die jeweils etwa 600 oder 700 Verse in Alexandrinern enthalten. Die Disposition des Gesamtgedichts ergibt sich aus einer Addition zweier traditioneller Ordnungsschemata der Naturgeschichte: Die ersten vier Gesänge widmen sich je einem der vier Elemente, die folgenden vier Gesänge behandeln die im Gedichttitel genannten drei Reiche der Natur (Minerale, Pflanzen, Tiere), wobei das dritte dieser Naturreiche nicht nur einen, sondern zwei Gesänge zugeteilt bekommt. Ähnlich wie bei Darwin drückt somit schon die an den Überschriften der Gesänge ablesbare Makrostruktur des Gedichts den Anspruch aus, die Natur in ihrer Totalität abzubilden. Die Gesänge fünf bis acht in Delilles Gedicht

Neubewertung der „poésie scientifique“ Delilles und anderer französischer Autoren haben in jüngerer Zeit die Mitglieder der Forschungsgruppe Euterpe vollzogen, indem sie erhellende Studien zu den Kontexten und Ambitionen dieser Gedichte vorgelegt haben. Vgl. vor allem Marchal, „L’ambassadeur révoqué “; ders. (Hrsg.), Muses et ptérodactyles. La poésie de la science de Chénier à Rimbaud, Paris 2013; ders., „Une science aimable“, in: ebd., S. 103–107. 32 Das in zwei Bänden erschienene Gedicht wird zitiert nach dieser Ausgabe: Jacques Delille, Les Trois Règnes de la Nature. Avec des notes par M. Cuvier, de l’Institut, et autres savants. [2 tomes.] Paris 1808. Zitate werden durch Angabe des Gesangs (in römischen Ziffern) und der Seitenzahl nachgewiesen. Die Seitenzahlen beziehen sich für die ersten vier Gesänge auf Band 1, für die letzten vier auf Band 2.

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präsentieren zudem in der sukzessiven Erörterung von Steinen, Pflanzen, Tieren und schließlich dem Menschen eine aufsteigende Reihe, wie sie sich bei Darwin über das gesamte Gedicht erstreckt. Der Rekurs auf antike Modelle des Lehrgedichts wird von Delille noch ausdrücklicher vorgenommen als von Darwin, der seine Anlehnung an Lukrez angesichts der zeitgenössischen Attacken auf Atheismus und Materialismus kaum expliziter machen konnte, als er es tat. Delille hingegen stellt seinem Gedicht einen ausführlichen „Discours préliminaire“ voran, indem er die Genese und die Zielsetzungen des Werks erläutert und sich auch über das Gedicht des Lukrez äußert.33 Delille macht einerseits deutlich, dass sein eigenes Vorhaben demjenigen des Lukrez verwandt ist, bringt andererseits aber auch seine Distanz gegenüber der lukrezischen Naturlehre und Philosophie zum Ausdruck, denen er die Lehren Vergils, des Sängers des ‚frommen Aeneas‘, gegenüberstellt.34 Ferner vergleicht er die Werke Lukrez’ und Vergils auch im Hinblick auf ihre poetischen Qualitäten, um die Überlegenheit des Letzteren aufzuzeigen.35 So gibt Delille schon in der Vorrede zu erkennen, dass sein Gedicht zwar in gewissem Sinne auf dem Modell von De rerum natura beruht, aber keine lukrezische oder epikureische Philosophie verbreiten soll und zudem auch in der sprachlichen Gestaltung weniger dem Vorbild des Lukrez als dem Vergils verpflichtet ist. Die Parallelen zwischen den Gedichten Delilles und Darwins erstrecken sich auch auf verschiedene Aspekte der Form. Jeder Gesang bei Delille ist wie bei Darwin mit einer Inhaltszusammenfassung („Argument“) in Prosa ausgestattet. Im Anschluss an jeden Gesang von Les Trois Règnes de la Nature findet sich ein längerer Abschnitt mit Anmerkungen, die allerdings – wie schon auf dem Titelblatt kenntlich gemacht wird – nicht von Delille selbst stammen, sondern von „M. Cuvier, de l’Institut, et autres savants“.36 Delille verfügte im Gegensatz zu Darwin nicht über eine naturwissenschaftliche Ausbildung und gab dies auch offen zu; doch mit Georges Cuvier hatte sich einer der prominentesten französischen Naturforscher seiner Zeit bereit erklärt, zu den fachwissenschaftlichen Anmerkungen des Gedichts beizutragen.37

33 Vgl. Delille, Les Trois Règnes de la Nature. Tome premier, Paris 1808; der „Discours préliminaire“ auf S. 9–38, zu Lukrez S. 11–30. 34 Vgl. ebd., S. 17–19; zu Vergil als „le chantre du pieux Énée“ S. 13. In demselben Satz spricht Delille auch von dem „caractère religieux“ Vergils (ebd., S. 14). 35 Vgl. ebd., S. 20–30. 36 Ebd. (Titelblatt). 37 Vgl. zu diesen Anmerkungen: Marchal, „L’ambassadeur révoqué“, v. a. S. 33; ders., „Gros plan sur . . . Delille et ses naturalistes“, in: Ders. (Hrsg.), Muses et ptérodactyles, S. 118–122.

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Aber auch in der Faktur der Gesänge selbst zeigen sich Ähnlichkeiten zwischen Les Trois Règnes de la Nature und The Temple of Nature. Delilles Gedicht ist wie dasjenige Darwins über weite Strecken durch Verfahren der Reihung oder Aufzählung charakterisiert, die durch Digressionen oder durch die aufwändige Gestaltung einzelner Aufzählungsglieder aufgelockert werden. In dem ersten Gesang, der dem Element des Feuers gewidmet ist, zählt der Sprecher unter anderem verschiedene Erscheinungsweisen und Wirkungen des Lichts auf (I, S. 47–50), wobei die Erwähnung des Polarlichts ihm eine Gelegenheit zu einer längeren Abschweifung gibt (I, S. 50–55), um danach verschiedene Wirkungen der Wärme vorzustellen (I, S. 55 f.) und schließlich vielfältige Manifestationen des Grundelements Feuer überhaupt zu sichten (I, S. 56–68). Das reihende Verfahren dieses Abschnitts wird vom Sprecher selbst offengelegt, wenn er ausruft: „Sous combien de couleurs, de formes séduisantes, | Le feu montre à nos yeux ses forces complaisantes!“ (I, S. 59) Im letzten Teil des Gesangs wendet sich der Sprecher den segensreichen Wirkungen zu, die das Feuer in Gestalt des wärmenden Kaminfeuers den Menschen während der Wintermonate zuteilwerden lässt. Was die Inhalte der Gedichte Darwins und Delilles betrifft, so ergibt sich auf einer ganz allgemeinen Ebene eine Ähnlichkeit daraus, dass auch Delille die ausgedehnte Revue zahlreicher Naturerscheinungen mit Darlegungen verflicht, die im weiten Sinne ethische und religiöse, aber auch geschichtsphilosophische Fragen betreffen. Sobald man allerdings die konkreten Inhalte dieser Stellungnahmen betrachtet, treten in erster Linie erhebliche Differenzen gegenüber Darwin zutage. Ein grundlegender Unterschied besteht darin, dass in Delilles Darstellung des Naturganzen die Konzepte des Fortschritts oder der Evolution so gut wie keine Rolle spielen; die Tendenz zur Verzeitlichung, deren Bedeutung für die Naturforschung des späten 18. Jahrhunderts häufig beschrieben worden ist, kommt in Delilles Naturgedicht nur sehr bedingt zur Geltung. Die Arten der Lebewesen werden als konstant und von gleichbleibenden Gesetzen und Launen bestimmt beschrieben: Combien, soigneuse, encor de leur postérité, Par des moyens divers la nature puissante Conserve chaque espèce à jamais renaissante! [. . .] Chaque espèce a ses lois, ses règles, ses caprices.

[VII, S. 150]

Dabei greift Delille im vierten Gesang zustimmend die These Cuviers auf, dass Fossilienfunde auf den Untergang einiger Arten von Lebewesen schließen

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lassen,38 und in dem Abschnitt über die Geologie hebt er die gigantischen Veränderungen hervor, denen die Gestalt der Erdoberfläche im Laufe der Jahrhunderte unterworfen war (vgl. IV, S. 269). Doch diese Veränderungen konstituieren keine gerichtete, in irgendeinem Sinne progressive Bewegung, und die Befunde hinsichtlich der Erdoberfläche und des Aussterbens einiger Arten werden von Delilles Sprecher nicht zu einer dynamisierten oder temporalisierten Sicht auf die Natur insgesamt ausgeweitet. Er zeigt sich auch wenig interessiert daran, die umfassende Gültigkeit anderer Gesetzmäßigkeiten oder Prinzipien nachzuweisen. Gleich zu Beginn des ersten Gesangs erteilt er dem „esprit systématique“ eine Absage (I, S. 45) und bekennt sich zur Erfahrung als seiner einzigen Führerin (vgl. ebd.). Die Empirie aber lehrt ihm zufolge, dass Regelmäßigkeiten meist auch Ausnahmen aufweisen, wie die Rede von den „caprices“ in der eben zitierten Stelle andeutet.39 Das Bestreben des Sprechers zielt insgesamt weniger auf den Nachweis strenger, ausnahmsloser Gesetzmäßigkeiten als auf eine Darstellung der großen Vielfalt der Natur.40 Während bei Darwin die konsequent evolutionistische Sichtweise auch den Unterschied zwischen Tieren und Menschen als einen graduellen erscheinen lässt, hebt Delilles Gedicht in der Erörterung der Tiere zwar eingehend ihre menschenähnlichen Verhaltensweisen hervor (vgl. etwa VII, S. 131 f.), besteht aber schließlich doch auf der Existenz eines Hiatus zwischen Tieren und Menschen. Dass der Mensch innerhalb des „règne animal“ die unanfechtbare Spitzenstellung eines Königs einnehme, begründet der Sprecher zunächst auf weitgehend traditionelle Weise (vgl. VIII, S. 258–265): Der Mensch besitze als einiges Lebewesen die Vernunft, ein reflexives Bewusstsein, die Fähigkeit, sich selbst Gesetze aufzuerlegen, sowie die Sprache. Zudem können nur die Menschen ihre Lernerfolge an die folgenden Generationen weitergeben und akkumulieren. Dieser Gedanke weist voraus auf das Argument für die menschliche Sonderstellung, das als letztes und am ausführlichsten entwickelt wird und am meisten Gewicht erhält: Die „dignité de la nature humaine“ zeigt sich, so Delilles Sprecher, am deutlichsten im Verhältnis des Menschen zum Tod (VIII, S. 265). Der Illustration dieser These dient ein ausführlich entwickeltes Tableau von der letzten Stunde eines Familienvaters, das den Abschluss des gesamten Gedichts bildet (VIII, 265–267). Der

38 Vgl. IV, S. 268 39 Für eine explizite Aussage in diesem Sinne vgl. VIII, S. 240: „Mais soit qu’on juge l’homme ou le reste du monde, | Sur les exceptions la vérité se fonde.“ 40 Vgl. etwa in VII, S. 132, die Rede von „l’immense trésor de la variété“. Zur Bedeutung des Begriffs der „variété“ für Delille vgl. Paul Viallaneix, „Cette variété, séduisante déesse“, in: [Fabre u. a.], Delille est-il mort?, S. 269–291.

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Mensch stehe dem Tod schon deswegen anders gegenüber als die Tiere, weil er auf ein Leben nach dem Tod hoffen kann. Doch dieser Gedanke an ein jenseitiges Leben erhält weit weniger Raum als die Darstellung irdischer Kontinuitäten, die den Tod des Einzelnen überdauern. Vorgeführt wird, wie der Sterbende, seine Ehefrau und seine Kinder sich bis zu seinem letzten Lebensmoment gegenseitig ihre Zuneigung bezeugen; damit soll offenbar anschaulich gemacht werden, dass die familiären Gefühle und die auf sie gegründeten Bindungen über den Tod des Individuums hinweg Bestand haben, so wie auch der Landbesitz des Sterbenden seinem ältesten Sohn übertragen wird. Der Mensch zeichnet sich demnach besonders durch seinen liebevollen Respekt gegenüber den Verstorbenen und ihrem Vermächtnis sowie durch die Fähigkeit zur vorausschauenden Sorge für die folgenden Generationen aus. Diese Deutung der „dignité humaine“ berührt sich mit Ausführungen zur Politik, die Delille in sein umfangreiches Lehrgedicht L’Imagination (1806) integriert hatte: Dort betrachtet er als eine wesentliche Grundlage des Gemeinwesens das ehrende Gedenken der Verstorbenen, das mithilfe von Ritualen und Monumenten zu institutionalisieren sei.41 Auch die Auffassung vom Wesen und der Würde des Menschen, die am Ende von Les Trois Règnes de la Nature entworfen wird, besitzt Affinitäten zu einer konservativen oder traditionalistischen Haltung in der Politik. Zudem lässt sie eine patriarchalische Ordnung der Gesellschaft als die natürliche und wünschenswerte erscheinen. In dem Gesang aus L’Imagination, der sich der Politik widmet, lässt Delille die Herrschaft eines aufgeklärten Monarchen als Ideal erscheinen.42 Wie Delille in seine Darstellung des Naturganzen keine evolutionistischen Gedanken aufnimmt, so entwirft er auch vom Fortschritt der Wissenschaft und Technik ein signifikant anderes Bild als Darwins Lehrgedichte und unter ihnen besonders The Temple of Nature. Darwin sucht in diesem Werk plausibel zu machen, dass die Tendenz zur progressiven Veränderung in den Grundeigenschaften der Materie selbst angelegt ist und dass die Evolution der Lebewesen ebenso wie die kulturelle Entwicklung der Menschheit letztlich aus diesen Grundeigenschaften hervorgeht. Bei Delille impliziert das Fehlen evolutionistischer oder

41 Vgl. Jacques Delille, L’Imagination. Poëme en VIII chants, accompagné de notes historiques et littéraires. [2 tomes.] Tome deuxième. Paris 1806, S. 144–155 (Chant VII). Zu L’Imagination vgl. Becker, Jacques Delille „L’Imagination“; zu den politischen Ausführungen im siebten Gesang vgl. ebd., S. 145–151. 42 Vgl. hierzu und zu den politischen Positionen, die Delille in seinen Gedichten vertrat, insgesamt: Ludwig Bertholdt, Jacques Delille. Seine Dichtung und seine Zeit, Nürnberg 1914, S. 77–83.

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progressiver Züge in der Naturauffassung auch, dass der kulturelle Fortschritt nicht oder in viel geringerem Maße als ein in den Gesetzen der Natur selbst verankertes Phänomen erscheint. Die Fähigkeit zum Lernen und zur Tradierung von Lernerfolgen wird zwar als ein Wesenszug des Menschen gedeutet, aber die Anwendung dieser Fähigkeit vollzieht sich nicht mit gesetzmäßiger Notwendigkeit, sondern häufig in kontingenter, dem Zufall geschuldeter Weise. So heißt es in der Erörterung des Lichts, dass schon lange vor Newtons Entdeckung der Gesetze der Optik spielende Kinder mit Seifenblasen das Licht zerlegten; Newton aber habe als einziger Wissenschaftler dieses Phänomen wahrgenommen, und so zieht der Sprecher die Schlussfolgerung: „[. . .] [T]ant le progrès de l’art | Est le fruit de l’étude et souvent du hasard!“ (I, S. 49) Als Ausdruck einer solchen Auffassung vom Fortschritt der Wissenschaften kann man auch die narrative Digression deuten, die Delilles Sprecher in seine Erörterung des Polarlichts einbaut: Das Polarlicht wird hier als eine Person vorgestellt, die sich eines Tages bei Gott über die abstrusen Theorien und Legenden beklagt habe, die die Menschen erdacht haben, um sich diese Erscheinung zu erklären. Gott versichert dem Polarlicht, er werde bald einen Forscher seine wahre Natur entdecken lassen.43 Diese erzählerische Phantasie ist zwar ein Einzelfall innerhalb des Gedichts, doch auch an vielen anderen Stellen werden einzelne Forscher für ihre Leistungen gewürdigt.44 Auch diese personalisierende Darstellungsweise fügt sich in eine Auffassung von der Geschichte der Wissenschaft, der zufolge diese keine gesetzmäßige, kontinuierlich aufsteigende Entwicklung darstellt, sondern in beträchtlichem Maße von Zufällen und singulären Taten bestimmt wird. Auch in einer weiteren Hinsicht entwirft Delilles Gedicht ein anderes Bild vom wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt als Darwins The Temple of Nature: In Delilles Les Trois Règnes de la Nature werden einzelne Erscheinungsweisen dieses Fortschritts entschieden kritisiert, ohne dass er deswegen in toto verworfen würde. Delilles Sprecher feiert die Leistungen einiger Forscher in emphatischen Wendungen, und in der Schlusspassage des Gedichts werden auch technologische Errungenschaften als eine Manifestation der besonderen Eigenschaften des Menschen gewürdigt (vgl. VIII, S. 263 f.).45 Doch gleich im

43 Vgl. I, S. 52–55. 44 Vgl. etwa das hymnische Lob Georg Forsters in: IV, S. 266 f. Zur ‚Heroisierung großer Forscher‘ in Delilles Gedicht vgl. auch Hugues Marchal, „Sully Prudhomme ou le lyrisme de la perte des repères“, in: Hufnagel/Krämer (Hrsg.), Das Wissen der Poesie, S. 153–173, hier S. 163. 45 In seinem Lehrgedicht L’Homme des Champs stellte Delille im zweiten Gesang ausführlich neue technische Entwicklungen in der Landwirtschaft vor, um für sie zu werben. Vgl. dazu Jean Ehrard, „Modernité du nouveau Virgile“, in: [Fabre u. a.], Delille est-il mort?, S. 201–211.

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ersten Gesang, im Rahmen der Erörterung des Feuers, beklagt der Sprecher auch ausführlich, dass die Menschen von ihren Einsichten in das Wesen dieses Elements einen fatalen Gebrauch gemacht hätten, indem sie das Schießpulver erfanden. Eine Passage von knapp sechzig Versen, die unverkennbar auch auf die Revolutionskriege anspielt, soll das Unheil andeuten, das diese Erfindung den Menschen gebracht habe (I, S. 65–68). Beachtung verdient in diesem Zusammenhang ferner ein Abschnitt aus dem achten Gesang, die zugleich ein Resultat und ein Mittel des wissenschaftlichen Fortschritts behandelt, nämlich die Praxis der Vivisektion von Tieren zu Forschungszwecken (VIII, S. 254–257); sie wird vom Sprecher in leidenschaftlichen Worten als barbarische Grausamkeit verurteilt. Während einige Philosophen im 18. Jahrhundert die Vivisektion an Tieren für verwerflich hielten, wenn sie aus bloßer Neugier, aber für akzeptabel, wenn sie mit dem Ziel der Erkenntnis durchgeführt wurde,46 lehnt Delilles Sprecher dieses Verfahren ausdrücklich auch dann ab, wenn es wissenschaftliche Fragen wie etwa die nach der Lage eines bestimmten Organs beantworten soll (VIII, S. 255). Er will schließlich formell die Rechte der Tiere festsetzen, wie andere die Menschenrechte deklariert haben: Autrefois, dans Carthage, un roi syracusain, Stipulant en vainqueur les droits du genre humain, Abolit à jamais ces sanglants sacrifices Que de ses dieux cruels exigeaient les caprices; Et moi, plaidant leur cause auprès de mes égaux, Je stipule aujourd’hui les droits des animaux: [. . .].

[VIII, S. 256]

Der Mensch wurde von Gott mit Mitleid ausgestattet und zum Herrn, aber nicht zum Mörder der Tiere bestimmt: „Ah! le ciel en plaçant la pitié dans son sein, | De l’homme a fait leur maître, et non leur assassin.“ (VIII, S. 255) Im Anschluss an die zitierte Passage über die „droits des animaux“ verallgemeinert er seine Behauptung und die damit einhergehende Forderung, indem er die ideale Figur eines ‚Weisen‘ mit gutem Herzen evoziert, dessen Liebe und Mitleid sich auf alle atmenden und fühlenden Wesen und auch auf die Pflanzen erstreckt. Die Passage ist von grundsätzlichem Interesse, weil sie einige der für Delille besonders zentralen ethischen Ideale versammelt, ihnen

46 Zur Geschichte der Vivisektion an Tieren und der Diskussion um ihre Legitimität vgl. Nuno Henrique Franco, „Animal Experiments in Biomedical Research: A Historical Perspective“, in: Animals, 3/2013, S. 238–273; zur Diskussion im 17. und im 18. Jahrhundert ebd., S. 241–246, zu Kants Position S. 241.

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eine religiöse Fundierung zuschreibt und eine politische Implikation dieser Ideale andeutet: [. . .] [D]’un bon cœur la vertu bienfaisante Ne peut même souffrir l’assassin d’une plante. A tout ce qui l’entoure étendant son bonheur, Le sage s’intéresse au destin d’une fleur: Dans le bois qu’il planta, dans l’ormeau qui l’ombrage, Il voit son bienfaiteur, son ami, son ouvrage; Ainsi, plein des besoins d’un cœur compatissant, Sur tout ce qui respire et sur tout ce qui sent, Il verse cet amour dont son cœur surabonde; La terre alors sourit au monarque du monde, Le ciel voit le bonheur se repandre en tout lieu, Et l’homme bienfaisant est l’image de Dieu.

[VIII, S. 256 f.]

Dieser Abschnitt, dessen letzte Verse eine thematisch verwandte Passage aus der vierten Epistel von Popes Essay on Man variieren,47 evoziert zusammen mit dem Ideal eines liebenden Mitleids, das allen fühlenden Wesen gilt, auch die Leitvorstellung einer Kultur und Technik, deren Erzeugnisse sich harmonisch in die Natur einfügen oder sie fortsetzen. Was diese Harmonie und damit den in den letzten Versen umrissenen Zustand allgemeinen Glücks ermöglicht, ist der richtige Umgang des Menschen mit dem ihm verliehenen Status eines Monarchen im Naturreich. Die hier skizzierte Ethik weist, etwa hinsichtlich der zentralen Bedeutung von Liebe und Mitleid und ihrer Ausdehnung auf die außermenschliche Natur, durchaus substantielle Berührungspunkte mit den Vorstellungen Erasmus Darwins auf. Doch bei Darwin finden sich Konkretisierungen des Ideals von Liebe und Mitleid, die bei Delille keine oder zumindest keine prominente Rolle spielen, etwa in der Forderung nach einer Abschaffung der Sklaverei oder nach Reformen der Gefängnisse. Ein grundsätzlicherer Unterschied betrifft die Frage, was für soziale und politische Ordnungen als ein günstiger Rahmen für das Gedeihen von Liebe und Mitleid gezeigt werden: Bei Delille ist dies eine hierarchische, auf als naturgegeben konzipierten Herrschaftsbeziehungen basierende Ordnung, bei Darwin eine weitgehend egalitäre.

47 Vgl. Pope, An Essay on Man, IV, 361–372, insbesondere die Verse 369–372: „Wide and more wide, th’o’erflowings of the mind | Take ev’ry creature in of ev’ry kind; | Earth smiles around, with boundless bounty blest, | And Heav’n beholds its image in his breast.“ – Delille hat auch eine Übersetzung des Essay on Man vorgelegt: [Alexander] Pope, L’Essai sur l’Homme. Traduit en vers français par Jacques Delille. Paris 1821.

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1.3 Resümee Die Lehrgedichte Erasmus Darwins und die meisten Lehrgedichte Jacques Delilles verwirklichen einen Gedichttyp, dessen Legitimität oder poetischer Wert um 1800 schon seit längerem umstritten ist: den Typ des deskriptiv-didaktischen Gedichts von epischem Umfang, ausgestattet mit Prosazusammenfassungen zu den Gedichtteilen und mit ausführlichen Anmerkungen. Delilles Vorreden zu seinen Gedichten geben deutlich zu erkennen, dass er die von ihm gepflegte Gattung als eine der Rechtfertigung bedürftige wahrnahm.48 Doch der beträchtliche Erfolg, den Delille und Darwin zumindest mit einigen dieser Gedichte beim Publikum und auch bei Kritikern erzielten, ist ein Beleg dafür, dass der fragliche Gedichttyp um 1800 immer noch bei vielen Lesern beliebt war, dass der Rückgang seines Ansehens mithin ein langwieriger, vermutlich nicht linear verlaufender Prozess war. In komparatistischer Perspektive fällt auf, dass es in der deutschen Literatur derselben Zeit keine Gedichte dieses Typs zu geben scheint, die einen vergleichbaren Zuspruch fanden. Sofern sich dies bestätigen lässt, stellt sich die Frage, ob das ‚Fehlen‘ eines deutschsprachigen Pendants als Zufall zu werten ist oder aber als Indiz dafür gelten kann, dass der Reputationsverlust der deskriptiven Dichtung in Deutschland schon weiter vorangeschritten war als in den zwei anderen Nationalliteraturen. Dieses Kapitel hat allerdings nicht Darwins und Delilles Praxis des deskriptiv-didaktischen Gedichts im Allgemeinen untersucht, sondern einen spezielleren Vergleichspunkt fokussiert. Darwin wie Delille haben je ein Gedicht dieser Art verfasst, in dem sie nach dem Muster des Lukrez das Ganze der Natur zu repräsentieren versuchen. Zwischen ihren Durchführungen dieses Vorhabens bestehen weitreichende Unterschiede, die zum Teil darauf zurückzuführen sind, dass Delille im Gegensatz zu Darwin nicht selbst Naturforscher war, zum wesentlichen Teil auch darauf, dass sie unterschiedliche naturwissenschaftliche Theorien und

48 So schrieb Delille in der Vorbemerkung zu seinem Lehrgedicht Les Jardins: „Ce poème a d’ailleurs un très-grand inconvénient, celui d’être un poème didactique. Ce genre est nécessairement un peu froid, & doit le paroître encore davantage à une nation qui ne supporte guère, comme on l’a souvent remarqué, que les vers composés pour le théâtre, & qui sont la peinture des passions ou des ridicules. Peu de personnes, je dirois même peu de gens de lettres, lisent les Géorgiques de Virgile [. . .].“ (Jacques Delille, Les Jardins, ou L’art d’embellir les paysages. Poème. Deuxième édition. Paris 1782, S. iii f. („Avertissement“). Auch in der Vorrede zu den Trois Règnes de la Nature zeigt sich Delille der Tatsache bewusst, dass die Gattung des Gedichts als ein Nachteil gesehen werden könnte, wobei er das Gedicht hier der deskriptiven Poesie zuordnet: „Ce poëme ne peut se disculper d’appartenir au genre descriptif. Les inconvénients et les avantages de ce genre d’ouvrages sont encore un objet de contestation entre les critiques et les auteurs.“ (Delille, Les Trois Règnes de la Nature, Bd. 1, S. 9 [„Discours préliminaire“])

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Ordnungsmuster zugrunde legten. Gleichwohl gibt es zwischen ihren Ausformungen des großen lukrezischen Naturgedichts auch auf der Ebene der Gesamtkonzeption eine wichtige Ähnlichkeit: Beide Autoren nutzen diesen Gedichttyp auch dafür, ethische, politische und religiöse Annahmen zu formulieren und die von ihnen propagierten Werte und Normen als in eine umfassende Naturordnung eingebettet zu präsentieren. Diese Funktionalisierung der Form des großen naturwissenschaftlichen Lehrgedichts ist um 1800 keineswegs eine neue Erscheinung: Sie stiftet vielmehr, wenn nicht eine Kontinuität, so zumindest eine entfernte Verwandtschaft zwischen Delilles und Darwins Gedichten und Lehrgedichten des frühen 18. Jahrhunderts, insbesondere physikotheologischen Lehrgedichten.49 In formaler Hinsicht unterscheiden sich The Temple of Nature und Les Trois Règnes de la Nature von diesen physikotheologischen Gedichten wie etwa Blackmores Creation unter anderem durch einige Merkmale – etwa in der Verwendung der Anmerkungen –, die man als Niederschlag der fortgeschrittenen Professionalisierung und institutionellen Reglementierung der Naturforschung deuten kann. Darwins eigene Anmerkungen machen ebenso wie die Anmerkungen Cuviers und anderer Forscher zu Delilles Les Trois Règnes de la Nature unverkennbar deutlich, dass die Naturwissenschaft einen getrennten Diskurs mit seinen spezifischen Regeln und Autoritäten darstellt, einen Diskurs, der nicht einfach in das Gedicht integriert werden kann. Obwohl Delille und – noch stärker – Darwin diesen Veränderungen Rechnung tragen, suchen sie doch in ihren Gedichten eine Gesamtvision der Natur zu entwerfen, die durch die zeitgenössische Wissenschaft informiert oder inspiriert ist und als Hinführung zu dieser Wissenschaft fungieren kann, zugleich aber mit Aussagen über moralische und politische Werte und eine gottgewollte Ordnung aufgeladen ist.

2 Vom Lehrgedicht zur philosophischen Lyrik: Friedrich Schiller und Johann Wolfgang Goethe Im Artikel „Lehrdichtung“ des Metzler-Literatur-Lexikon (2. Aufl., 1990) heißt es über Schillers Der Spaziergang und Goethes Gedichte Die Metamorphose der Pflanzen und Metamorphose der Tiere, sie seien „Höhepunkte und zugleich ein die Gegensätze zwischen Didaktik und Dichtung aufhebender Abschluß“ der

49 Zu einigen Ähnlichkeiten zwischen den Lehrgedichten Erasmus Darwins und Blackmores Creation vgl. Logan, The Poetry and Aesthetics of Erasmus Darwin, S. 133–136.

2 Vom Lehrgedicht zur philosophischen Lyrik

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Lehrdichtung.50 Diese Formulierung ist repräsentativ für eine Tendenz, die in Aussagen der Forschung über die Lehrgedichte oder die sogenannten ‚Ideengedichte‘ oder ‚weltanschaulichen Gedichte‘ Schillers und Goethes häufiger zu beobachten ist: Wo eine Filiationsbeziehung zwischen ihnen und den Lehrgedichten früherer Epochen konstatiert oder zumindest für möglich angesehen wird, wird meist zugleich der große Abstand betont, der Schillers und Goethes Produkte von älteren Lehrgedichten trenne. Diese Differenz wird dabei aber nicht selten vor allem als ein Unterschied des ästhetischen Niveaus beschrieben, während die Frage, welche inhaltlichen, formalen oder strukturellen Veränderungen sich in einer deskriptiven Sicht feststellen lassen, weitgehend ungeklärt bleibt.51 Dieses Kapitel will nicht bestreiten, dass Gedichte wie Schillers Der Spaziergang oder Goethes Die Metamorphose der Pflanzen sich in wichtigen Hinsichten von repräsentativen Lehrgedichten des 18. Jahrhunderts unterscheiden, aber diese Unterschiede – und damit zugleich die Kontinuitäten – präziser bestimmen, als es in der Forschung bisher geschehen ist. Dabei wird sich zeigen, dass von den Texten dieser Autoren, die gelegentlich als Lehrgedichte, häufig aber auch als ‚Ideengedichte‘ oder ‚weltanschauliche Gedichte‘ eingeordnet werden, tatsächlich einige noch relativ klar der Gattung Lehrgedicht zugerechnet 50 Günther Schweikle, [Art.] „Lehrdichtung“, in: Ders./Irmgard Schweikle (Hrsg.), MetzlerLiteratur-Lexikon. Begriffe und Definitionen, 2., überarb. Aufl., Stuttgart 1990, S. 262 f., hier S. 263. 51 Werner Keller etwa spricht in einem Aufsatz zunächst unzweideutig davon, dass Goethe Lehrgedichte geschrieben habe, zu denen etwa die Gedichte über Howards Wolkenlehre gehören; vgl. Werner Keller, „‚Die antwortenden Gegenbilder‘. Eine Studie zu Goethes Wolkendichtung“, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 1968, S. 191–236, hier S. 194; zu Howards Ehrengedächtnis als Lehrgedicht vgl. ebd., S. 220, 222. Keller stellt dann aber diese generische Einordnung in Frage, weil sie Goethes Gedichte in schlechte Gesellschaft bringt: „Indes zögert man, Goethes Verse zu Howards Wolkenbestimmung [. . .] ein Lehrgedicht zu nennen, zumal wenn man sich an Dichtungen in der Manier von Tiedges ‚Urania‘ erinnert, die in ermüdender Weitläufigkeit philosophische Themen popularisieren. Goethes Lehrgedichte konzentrieren sich auf die Natur – und auf die Darstellung von Begriff und Gesetz in einer vollkommen sinnlichen Anschauung.“ (Ebd., S. 194) Kellers Begründung dafür, dass die Einordnung von Howards Ehrengedächtnis als Lehrgedicht problematisch sei, vermischt auf unklare Weise ein – auch an und für sich fragwürdiges – thematisches Kriterium (Natur statt Philosophie als Gegenstand) und ein Wertkriterium. – Vgl. auch T.J. Reeds Aussagen über die Differenzen zwischen Schillers ‚Ideengedichten‘ und den Lehrgedichten Hallers und Tiedges: „[Schiller’s poetry] was frankly a poetry of ideas. Yet it must be insisted, against the background of eighteenth-century philosophical verse – Haller’s austere reflections, say, or the popular didacticism of Tiedge’s Urania – how much Schiller’s was a poetry of ideas. [. . .] [H]is rhythms and phrasing at their best have the characteristic of poetry, that they induce in the reader an emotion not explicable by the mere idea-content of the words.“ (T. J. Reed, The Classical Centre. Goethe and Weimar 1775–1832, Oxford 2001 [zuerst 1986], S. 160)

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werden können, andere hingegen nur noch wenige Merkmale dieser Gattung verwirklichen und insofern als Grenzfälle zu gelten haben. Diesem Umstand ist es auch geschuldet, dass im Folgenden gelegentlich etwas unbestimmt von den ‚Lehrgedichten und philosophischen Gedichten‘ Schillers oder Goethes die Rede ist. Solche etwas vagen Formulierungen lassen sich anhand der Texteigenschaften begründen und erscheinen auch insofern als angemessen, als sich für beide Autoren plausibel machen lässt, dass sie die überlieferten Schreibmuster des Lehrgedichts gezielt umzuformen suchten, also Gedichte mit einem nur partiellen Anschluss an die Gattungstradition schreiben wollten. Die angrenzende Gattung, der sich diese Gedichte nähern, soll hier als philosophische Lyrik oder philosophisches Gedicht bezeichnet werden.52 Ein weiteres Hauptinteresse dieses Kapitels gilt den Gründen, derentwegen Schiller und Goethe die Tradition des Lehrgedichts aufgriffen und einer Transformation unterzogen, anstatt sie gänzlich zu verwerfen. Eine konsequente Vermeidung erschiene zumindest für die Phase der Klassik in mancher Hinsicht als die naheliegende Haltung gegenüber einer Gattung, die erstens in einem problematischen Verhältnis zum Postulat der Autonomie der Dichtung steht53 und zweitens bei Autoren und Lesern um 1800 eng mit der Literatur der ersten zwei Drittel des 18. Jahrhunderts assoziiert war, also einer Epoche der deutschen Literatur, von der Goethe und Schiller sich in ihrem ‚klassischen‘ Jahrzehnt dezidiert abzugrenzen und die sie zu überbieten trachteten.54 Dass sie das Lehrgedicht gleichwohl nicht streng mieden, wirft die Frage nach den Leistungen auf, die diese Gattung für sie attraktiv und einer erneuernden Umformung wert machte. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Leistungen, für die Goethe und Schiller das Lehrgedicht nutzten, sich von einigen der Absichten, die Autoren des früheren 18. Jahrhunderts oder auch Erasmus Darwin und Jacques Delille mit ihren Lehrgedichten verfolgten, nicht so weitgehend unterscheiden, wie es die formalen Differenzen vermuten lassen könnten.

52 Die Bezeichnungen ‚philosophische Lyrik‘ oder ‚philosophisches Gedicht‘ empfehlen sich dadurch, dass sie englische und französische Pendants besitzen (‚philosophical poetry‘, ‚poésie philosophique‘). Gegenüber den Bezeichnungen ‚Gedankenlyrik‘ und ‚weltanschauliches Gedicht‘ haben sie zudem den Vorzug, nicht mit voraussetzungsreichen Wort- und Begriffsgeschichten belastet zu sein. 53 Zur Autonomieästhetik der Weimarer Klassik vgl. etwa: Wolfgang Wittkowski (Hrsg.), Revolution und Autonomie. Deutsche Autonomieästhetik im Zeitalter der Französischen Revolution. Ein Symposium, Tübingen 1990; Gerhard Sauder, „Ästhetische Autonomie als Norm der Weimarer Klassik“, in: Friedrich Hiller (Hrsg.), Normen und Werte, Heidelberg 1982, S. 130–150. 54 Zu Goethes und Schillers kritischer Abgrenzung von der Literatur des frühen und mittleren 18. Jahrhunderts vgl. Reed, The Classical Centre, S. 79–97.

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2.1 Friedrich Schiller: Lehren ohne Lehrer Schillers Gedichte Die Götter Griechenlandes, Die Künstler, Das Ideal und das Leben (ursprünglich: Das Reich der Schatten) sowie Der Spaziergang (ursprünglich: Elegie) werden häufig als philosophische Gedichte oder als philosophische Lyrik eingeordnet.55 Vom späteren 19. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein war für sie der Begriff „Gedankenlyrik“ gebräuchlich, der mittlerweile jedoch vielfach und aus unterschiedlichen Gründen kritisiert worden ist und kaum noch Verwendung findet.56 Im Reallexikon-Artikel „Gedankenlyrik“ heißt es über die stattdessen zu wählende Bezeichnung der betreffenden Texte: „Gedichte, die man früher als Gedankenlyrik bezeichnet hat (z. B. Schillers ‚Das Ideal und das Leben‘), gelten heute als ‚lyrisierte‘ [. . .] Varianten der Lehrdichtung.“57 Damit werden Gedichte Schillers wie etwa Das Ideal und das Leben, das früher häufig als Höhepunkt der Schiller’schen Gedankenlyrik galt,58 in die Tradition der Lehrdichtung, und genauer wohl des Lehrgedichts, gestellt. Sowohl der Bezug zur Gattungstradition als auch Schillers Abweichung von derselben wurden schon von Friedrich Bouterwek ähnlich beurteilt. In seiner Ästhetik (1806) schrieb er, dass die „meisten Gedichte von Schiller“ zwischen den „Classen“ der lyrischen und der didaktischen Poesie „in der Mitte schweben“,59 und im elften Band seiner Geschichte der Poesie und Beredsamkeit (1819) heißt es über die „lyrischen Gedichte[]“ Schillers, dass in

55 Vgl. Peter-André Alt, Schiller. Leben – Werk – Zeit. 2. Bd. 2., durchges. Aufl. München 2004, S. 261: „Philosophische Lyrik (1788–1800)“ (Kapitelüberschrift). 56 Vgl. für eine konzise Zusammenfassung von Einwänden gegen den Begriff: Klaus Weimar, „[Art.] Gedankenlyrik“, in: RLW, Bd. 1, S. 668 f., hier S. 668. Vgl. auch Asmuth, „Das gedankliche Gedicht“, S. 25 f.; Rudolf Brandmeyer, „Gedankenlyrik“, in: Dieter Lamping (Hrsg.), Handbuch der literarischen Gattungen, Stuttgart 2009, S. 297–306. Schon in dem Artikel in der Vorgängerauflage des Reallexikon von 1958 heißt es gleich zu Beginn, dass der „Name ‚Gedankenlyrik‘“ „immer seltener werde[]“ (Herbert Cysarz, „[Art.] Gedankenlyrik“, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. 2. Aufl. Hrsg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Erster Band. Berlin 1958, S. 526–531, hier S. 526). Eine kritische Prüfung des Begriffs der Gedankenlyrik auf seine Tauglichkeit ist auch ein Ziel von Henning Falkenstein, Das Problem der Gedankenlyrik und Schillers lyrische Dichtung, Diss. masch. Marburg 1963. Falkenstein plädiert schließlich für eine Ersetzung des Begriffs ‚Gedankenlyrik‘ durch ‚thematische Lyrik‘ (vgl. ebd., S. 116–120). Seine Argumentationen basieren aber hier wie andernorts auf problematischen Annahmen über das ‚Wesen‘ der Lyrik und der Dichtung überhaupt. 57 Weimar, „[Art.] Gedankenlyrik“, S. 668. 58 Vgl. etwa Falkenstein, Das Problem der Gedankenlyrik, S. 74. 59 Fr[iedrich] Bouterwek, Aesthetik. Zweiter Theil: Theorie der schönen Künste. Leipzig 1806, S. 365.

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ihnen „das eigentlich lyrische Interesse gewöhnlich in das philosophischdidaktische über[geht]“.60 Dies gelte etwa für „Die Götter Griechenlands, die Künstler, und die classische Elegie Der Spaziergang.“61 Eine Verbindung zwischen Schillers Gedichten und dem Lehrgedicht des früheren 18. Jahrhunderts, konkret den Gedichten Hallers, nimmt auch Adalbert Elschenbroich im Nachwort seiner Haller-Ausgabe an, wobei er allerdings diese Traditionslinie gerade nicht mit dem Begriff ‚Lehrgedicht‘, sondern mit dem der ‚philosophischen Lyrik‘ verbinden möchte. Die wesentliche Leistung der Gedichte Hallers, so Elschenbroich, liege nicht in den Zügen, die sie mit der Lehrdichtung gemein haben, sondern in ihrem Beitrag zur „Begründung unserer philosophischen Lyrik“: „Bei ihm [scil. Haller; O.K.] beginnt der Weg, der durch das 18. Jahrhundert zu Schiller führte und dann über Schiller hinaus in Hölderlin seine Vollendung fand.“62 Ähnlich heißt es in einem Standardwerk zur deutschen Literaturgeschichte, Haller entwickle im frühen 18. Jahrhundert „eine moderne philosophische Dichtung, die von Schiller und in gewissem Sinne auch Hölderlin weiterentwickelt, aber nicht übertroffen wird.“63 Schillers Vertrautheit mit den Lehrgedichten der Aufklärung ist gut dokumentiert.64 Neben den Lehrgedichten Hallers hat ihn offenbar auch Johann Peter Uz’ Gedicht Theodicee sehr beeindruckt und in ihm den Wunsch nach einer überbietenden Nachahmung geweckt.65 Dass diese Gedichte, insbesondere diejenigen

60 Friedrich Bouterwek, Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts. Eilfter Band, Göttingen 1819, S. 418. 61 Ebd. 62 Adalbert Elschenbroich, „Nachwort“, in: Albrecht von Haller, Die Alpen und andere Gedichte. Adalbert Elschenbroich (Hrsg.), Stuttgart 2009 [zuerst 1965], S. 87–118, hier S. 102. Was für Elschenbroich die philosophische Lyrik vom Lehrgedicht unterscheidet, ist allerdings nicht eigentlich ihr lyrischer Charakter im engeren Sinne, sondern der Umstand, dass in ihr der Dichter selbst nicht als Lehrer auftritt, sondern als „ein Philosophierender“, der abgründige Fragen stelle, aber keine Lösungen biete. Vgl. ebd., S. 102 f., Zitat S. 102. Zum Anteil der „Lehrdichtung“ an Hallers Gedichten vgl. ebd., S. 101 f. 63 Jørgensen/Bohnen/Øhrgaard, Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik 1740–1789, S. 220. Vgl. auch die knappen Ausführungen zu Schillers produktiver Rezeption der didaktischen Tradition in seinen „Ideengedichte[n]“ bei Asmuth, „Das gedankliche Gedicht“, S. 19–21, Zitat S. 19. 64 Vgl. Andrea Bartl, „Schiller und die lyrische Tradition“, in: Koopmann (Hrsg.), SchillerHandbuch, S. 123–142, hier S. 134–138. 65 Vgl. eine von Karl Philipp Conz überlieferte, auf 1792 datierte Gesprächsäußerung Schillers: NA 42, S. 153. – Die von Reinhard Buchwald ohne Begründung vorgebrachte Behauptung, eine solche Überbietung des Theodicee-Gedichts von Uz habe Schiller in dem Gedicht Das Reich der Schatten liefern wollen, wurde übernommen von: Karl Pestalozzi, Die Entstehung des lyrischen Ich. Studien zum Motiv der Erhebung in der Lyrik, Berlin 1970, S. 97 (mit Anm. 37).

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Hallers, für seine dichtungstheoretischen Reflexionen wichtig waren, zeigt sich etwa in dem oben schon behandelten Abschnitt aus Ueber naive und sentimentalische Dichtung. Es ist eine naheliegende Vermutung, dass er sich auch in seinen eigenen Gedichten mit philosophischem Inhalt an dieser Tradition orientiert und sie auf selbstständige Weise abzuwandeln versucht hat. Doch bisher ist kaum einmal eingehender untersucht worden, wie sich seine philosophischen Gedichte zum Lehrgedicht der Aufklärung verhalten.66 Die folgenden Analysen suchen diese Beziehung für einige Gedichte Schillers näher zu bestimmen. 2.1.1 Resignation Eines der frühesten philosophischen Gedichte Schillers ist das 1786 in der Thalia erschienene Gedicht Resignation.67 Es besteht aus zwanzig Strophen zu je fünf Versen, die teils fünf-, teils dreihebige Jamben und das Reimschema abaab aufweisen.68 Der Sprecher präsentiert sich in den ersten Strophen als ein vom Leben Enttäuschter: Der Anfangsvers „Auch ich war in Arkadien geboren“ drückt hier das Bewusstsein des Sprechers aus, dass auch ihm an seiner „Wiege“ von der „Natur“ „Freude zugeschworen“ worden war, die ihm im Leben aber kaum zuteil wurde. In der dritten Strophe heißt es: „Da steh ich schon auf deiner Schauerbrüke | Ehrwürdige Geistermutter – Ewigkeit.“ (11 f.) Der Sprecher ist offenbar gestorben oder stirbt gerade und tritt nun auf dem Übergang zur Ewigkeit einer unbestimmten transzendenten Instanz gegenüber, die er auch als „verhüllte Richterin“ anspricht und der er seine „Klage“ vorträgt. Man habe ihm versprochen, dass hier, in der Ewigkeit, „Schreken auf den Bösen“ und „Freuden auf

Dass diese Ansicht der Quellengrundlage entbehrt, hat zu Recht hervorgehoben: Jürgen Stenzel, „Uz ein Metaphysiker! Bemerkungen zur philosophischen Lehrdichtung des Johann Peter Uz“, in: Rohmer/Verweyen (Hrsg.), Dichter und Bürger in der Provinz, S. 133–156, hier S. 146 (Anm. 63). Zu dem Theodicee-Gedicht vgl. ebd., S. 145–149. 66 Einen zentralen Unterschied zwischen Schillers philosophischen Gedichten und den Lehrgedichten etwa Hallers hat man darin gesehen, dass Metaphern und andere Bilder bei Haller restlos in Begriffe übersetzt und ‚dechiffriert‘ werden können, während das Bild bei Schiller „selbständigen künstlerischen Wert“ erhalte, nicht „vollständig“ übersetzt werden könne. Vgl. Bartl, „Schiller und die lyrische Tradition“, S. 137 f., Zitate S. 137. Abgesehen von den theoretischen Problemen, die solche Aussagen über die vollständige Übersetzbarkeit einzelner Metaphern aufwerfen, gilt es zu betonen, dass mit der Beschaffenheit der Bilder nur ein Aspekt der Faktur der Gedichte angesprochen ist. 67 Das Gedicht wird zitiert nach: NA 1, S. 166–169. Zitate werden durch Angabe der Verse im Haupttext nachgewiesen. 68 Dabei enthalten der erste, dritte und vierte Vers jeder Strophe fünf, der zweite und fünfte drei Jamben. Eine Ausnahme bildet der auch inhaltlich besonders wichtige Vers 94 mit sechs Jamben.

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den Redlichen“ warten. Ein „Götterkind“, das man ihm als „Wahrheit“ vorgestellt habe, habe ihn zum Verzicht auf seine Jugend und auf seine geliebte Laura aufgefordert und ihm einen Lohn in einem anderen Leben versprochen. Diese Rede des ‚Götterkindes‘ wird vom Sprecher wörtlich zitiert, ebenso wie die spöttischen Kommentare, die er für seinen Gehorsam gegenüber diesen Aufforderungen von der „Welt“ und von dem „Schlangenheer der Spötter“ geerntet habe. Diese Spötter suchten ihn zu überzeugen, dass das jenseitige Leben und der dort wartende Lohn nur Lügenmärchen seien. Der Sprecher aber vertraute, wie er noch einmal versichert, trotz dieser ihn bestürmenden Einwände auf „den Götterschwur“ (80) und fordert nun „[s]einen Lohn“ (85). Er erhält eine abschlägige Antwort von einem unsichtbaren „Genius“: „Mit gleicher Liebe lieb ich meine Kinder, rief unsichtbar ein Genius. Zwei Blumen, rief er – hört es Menschenkinder – Zwei Blumen blühen für den weisen Finder, sie heißen Hofnung und Genuß. „Wer dieser Blumen Eine brach, begehre die andre Schwester nicht. Genieße wer nicht glauben kann. Die Lehre ist ewig wie die Welt. Wer glauben kann, entbehre. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. „Du hast gehoft, dein Lohn ist abgetragen, dein Glaube war dein zugewognes Glük. Du konntest deine Weisen fragen, was man von der Minute ausgeschlagen gibt keine Ewigkeit zurük.

[86–100]

Dass Schiller in diesem Gedicht auf Traditionen des Lehrgedichts zurückgreift, lässt sich zunächst aufgrund der philosophischen Thematik und der argumentativen Partien behaupten.69 Bemerkenswert ist auch, dass der Sprecher in der Rückschau auf sein Leben eine agonale Situation schildert, in der zwei Lebenslehren einander gegenüberstehen, wobei eine dieser Positionen in vielen Punkten der Lehre entspricht, gegen die viele Lehrgedichte des frühen 18. Jahrhunderts gerichtet waren: Wenn die Spötter das jenseitige Leben bestreiten, die religiösen Lehren

69 Nach Keller bietet Resignation eine „scharfsinnige[] Argumentation“ und unterscheidet sich damit von dem thematisch und dem mutmaßlichen biographischen Entstehungshintergrund nach verwandten Gedicht Freigeisterei der Leidenschaft, das durch „Gefühlseruptionen“ und ein „fesselloses Sprechen“ beherrscht werde (Werner Keller, Das Pathos in Schillers Jugendlyrik, Berlin 1964, S. 159).

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vom Jenseits einerseits als ein Produkt von Ängste und Hoffnungen, andererseits als ein Herrschaftsmittel zu entlarven suchen und den diesseitigen Genuss propagieren, so vertreten sie damit Ansichten, die man im 18. Jahrhundert vor allem Epikur, Lukrez und ihren neuzeitlichen Anhängern zuschrieb.70 Auf der anderen Seite erscheint die Lehre von der Belohnung in einem jenseitigen Leben, die der Sprecher von dem angeblichen „Götterkind“ vermittelt bekommt und der er folgt, als eine etwas eigenwillige Abwandlung einer Doktrin, die einen wesentlichen Bestandteil des Christentums sowie der meisten Versionen der ‚natürlichen Religion‘ im 18. Jahrhundert bildete. Das Gedicht lässt mithin Vertreter gegensätzlicher philosophischer Positionen auftreten und ihre Auffassungen miteinander konfrontieren, und es inszeniert schließlich eine Gerichtssituation, in der ein unsichtbarer Genius einen Urteilsspruch formuliert. Vergleicht man diese abschließende Urteilsverkündung mit den zuvor präsentierten Positionen, so ergeben sich einige Deutungsprobleme. Sie resultieren zum Teil daraus, dass im Laufe des Gedichts mehrere Gegensätze aufgebaut und verschiedene Fragen aufgeworfen werden und dass die finalen Aussagen des Genius nur einen Teil dieser Fragen beantworten. Als der Sprecher beginnt, der „Richterin“ (17) seine „Klage“ (16) vorzutragen, da gibt er die „frohe Sage“ (18), die auf Erden verbreitet werde und der er gefolgt sei, so wieder: „Hier – spricht man – warten Schreken auf den Bösen, | und Freuden auf den Redlichen.“ (21 f.) Damit wird ein Gegensatz zwischen „Bösen“ und „Redlichen“ eingeführt. Der Genius aber spricht am Ende von den zwei Blumen „Hofnung und Genuß“ (90) und von den Menschen, die glauben können, und jenen, die nicht glauben können. Er sagt außerdem, dass er seine „Kinder“ „[m]it gleicher Liebe“ liebe (86). Wie verhält sich nun die Dichotomie zwischen Glaubenden und Hoffenden einerseits, Genießenden und Nichtglaubenden andererseits zu dem vorher aufgebauten Gegensatz zwischen „Redlichen“ und „Bösen“? Sind

70 Wolfgang Riedel hat in diesen religionskritischen Reden der „Spötter“ Indizien für eine Hume-Rezeption Schillers, genauer für Anlehnungen an The Natural History of Religion (1757; dtsch. Übers. 1759) gesehen. Vgl. Wolfgang Riedel, „Abschied von der Ewigkeit [zu: Friedrich Schiller, Resignation]“, in: Norbert Oellers (Hrsg.), Gedichte von Friedrich Schiller, Stuttgart 1996, S. 51–63, hier S. 60–63. Dabei hat er vor allem auf Humes Thesen verwiesen, religiöse Überzeugungen wurzelten in Leidenschaften und insbesondere in ‚hopes and fears‘; diese Thesen fänden in Schillers Gedicht einen Widerhall. Da Formulierungen der Annahme, die Furcht habe die Götter geschaffen, schon in der Antike bezeugt sind, scheint mir diese Argumentation wenig zwingend. Auch in Johann Jakob Duschs 1754 erschienenem Lehrgedicht Die Wissenschaften finden sich im sechsten Gesang die Verse: „Hier baut er [i. e. der gekrönte Vater; O.K.] eine Hölle, dort ein Elisien, | Die Hofnung machte Götter, die Furcht schuf Furien.“ (Johann Jakob Dusch, Die Wissenschaften. Ein Lehrgedicht, in: Ders., Vermischte Werke in verschiedenen Arten der Dichtkunst, Jena 1754, S. 1–122, hier S. 91)

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die Genießenden identisch mit den Bösen, liebt der Genius also die Bösen ebenso wie die Redlichen? Oder stehen die Unterscheidungen quer zueinander? Eine ähnliche Frage lässt sich mit Bezug auf das „Schlangenheer der Spötter“ (51) stellen, dessen ‚freches Witzeln‘ (vgl. 51) in fünf ganzen Strophen zitiert wird: Gibt der Genius ihnen Recht? Diese „Spötter“ skizzieren aber auch in polemischen Formulierungen eine Erklärung für die Genese und Fortdauer religiöser Vorstellungen, und zu diesen Ansichten bezieht der Genius überhaupt nicht Stellung. Eine dieser Fragen, die nach der Bewertung der egoistischen oder bösen Genießenden im finalen Urteilsspruch, ist in Interpretationen auf verschiedene Weisen beantwortet worden. Werner Keller hat mit Blick auf Resignation geschrieben: Da es in pathetischer Ausschließlichkeit nur um eine eindeutige Antwort für den Jüngling geht, wird die andere mögliche Haltung, die des Genusses, ohne Bedenken aufgewertet: ‚Mit gleicher Liebe lieb ich meine Kinder‘ (v. 86).71

Das dürfte so zu verstehen sein, dass Schiller eigentlich nicht die Auffassung vertrat, die Haltung des Genusses sei uneingeschränkt positiv zu beurteilen, dass er aber um seiner zentralen Aussageintention willen bereit war, seinem Genius diese vorbehaltlose Wertung in den Mund zu legen. Dagegen haben spätere Interpreten dem Gedicht Züge des ‚Nihilismus‘ und ‚Amoralismus‘ zugeschrieben, die in „allzu glättende[n] Deutungen“ eskamotiert worden seien.72 Diesen Deutungen zufolge soll der „Genius“ wirklich gegenüber dem Unterschied von Gut und Böse gleichgültig sein, also alle Freunde des ‚Genusses‘ gleichermaßen lieben, auch wenn sie für ihren Genuss über Leichen gehen. Im Gegensatz zu den Anhängern der zuletzt genannten Deutungsrichtung scheint es mir kaum Indizien dafür zu geben, dass Schiller in den Jahren um 1786 wirklich von Nihilismus und Amoralismus angezogen gewesen wäre. Aber

71 Keller, Das Pathos in Schillers Jugendlyrik, S. 157. 72 So Michael Hofmann, „Resignation (1786)“, in: Matthias Luserke-Jaqui (Hrsg.), SchillerHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2005, S. 261 f., hier S. 262: „Gegen allzu glättende Deutungen ist der nihilistische Zug des Gedichts zu betonen, mit dem sich Schillers Nähe zu radikalen Positionen der Spätaufklärung dokumentiert.“ Und: „Das Gedicht ist also ein interessantes Dokument der Geisteshaltung des frühen Schiller, der als Vertreter der Spätaufklärung gewissermaßen zwischen Amoralismus und Pflichtethik, zwischen de Sade und Kant schwankt und in seiner weltanschaulichen Krise noch zu keiner klassischen Synthese gelangt ist.“ (Ebd.) Mit der Formulierung „zwischen de Sade und Kant“ schließt Hofmann an einen Aufsatz Steinhagens an: Harald Steinhagen, „Der junge Schiller zwischen Marquis de Sade und Kant. Aufklärung und Idealismus“, in: DVjs, 56/1982, S. 135–157.

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selbst wenn man bei Schiller in dieser Zeit solche Tendenzen sieht und die Antwort des Genius in Resignation als Niederschlag dieser Tendenzen interpretiert, hätte man weitere Deutungsprobleme zu bewältigen. So scheinen die Spötter dem entsagungsvollen Dasein des Sprechers ein dem Genuss geweihtes Leben – ein Leben für „gewiße Güter“ (72) – nicht nur als eine ebenso legitime, sondern als die bessere Lebensweise entgegenzustellen. Diese Auffassung erhält nicht die Zustimmung des Genius, der vielmehr das Leben im Zeichen von Glauben und Entbehrung und das Leben für den Genuss als gleichrangig bewertet. Die Spötter aber werden nicht vom Genius über ihren Irrtum belehrt; das widerfährt nur dem Sprecher. Ferner ist daran zu erinnern, dass die Spötter ja nicht behaupten, eine hedonistische Lebensweise würde im Jenseits ebenso belohnt werden wie eine asketische, sondern vielmehr die Existenz eines jenseitigen Lebens und transzendenter Wesen bestreiten. Was bedeutet es also mit Blick auf diese Annahmen der Spötter, dass der Sprecher nach seinem Tod der Ewigkeit als einer ‚verhüllten Richterin‘ entgegentritt und von einem ‚unsichtbaren Genius‘ belehrt wird? Schließlich stellt sich auch die Frage, was der Glaube und die Hoffnung sein sollen, von denen der Genius am Ende spricht, wenn sie nicht mehr ein Glaube an und eine Hoffnung auf ein Jenseits sind.73 Diese Unstimmigkeiten und Unklarheiten sollten in der Interpretation des Gedichts nicht verwischt werden, zumal man begründete Vermutungen darüber anstellen kann, wie es zu diesen gedanklichen Inkonsistenzen oder losen Fäden kam. Keller hat die „Inkonsequenzen“ des Gedichts auf seine „dramatische Disposition und die pathetisch-einseitige Vorstellungsart“ zurückgeführt,74 und dies kann in der Tat als eine plausible Erklärungshypothese gelten: Schiller versucht in dem Gedicht, verschiedene Fragen der Ethik und Religion zu einem Gegensatz zwischen zwei Positionen zu bündeln und – vor allem – den Konflikt zwischen ihnen mit einem pointierten Urteilsspruch aufzuheben. Was Keller als „pathetisch-einseitige Vorstellungsart“ bezeichnet, manifestiert sich in den Schlussstrophen des Gedichts darin, dass die Aussagen des Genius ohne alle Abwägungen, Differenzierungen und Einschränkungen auskommen. Mit Blick auf die Frage, ob in dem Gedicht nun das jenseitige Leben und die Existenz transzendenter Wesen bestritten werden oder nicht, ist ein weiterer, bei Keller nicht erwähnter Gesichtspunkt relevant. Diese Unklarheit kommt

73 Vgl. Hofmann, „Resignation (1786)“, S. 261: Aus den Aussagen des Genius ergebe sich die „paradoxe[] Konsequenz [. . .], dass Glaube und Hoffnung zu selbstreflexiven Einstellungen werden, deren Objektbezug gekappt wird.“ 74 Keller, Das Pathos in Schillers Jugendlyrik, S. 157.

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dadurch zustande, dass Schiller den Konflikt zwischen den menschlichen Parteien durch den ‚unsichtbaren Genius‘ entscheiden lässt. Dieser „Genius“ bleibt in theologisch-philosophischer Hinsicht eine gesichtslose, schemenhafte Instanz, die weder in der christlichen noch in einer anderen Religion beheimatet ist. Es spricht vieles dafür, dass Schiller den Genius nicht als Repräsentanten einer bestimmten Konzeption von Jenseits oder Transzendenz verstanden wissen wollte. Die Eigenschaft, um derentwillen er diese Figur eines Genius heranzog, war vermutlich nicht die Jenseitigkeit oder ‚Übernatürlichkeit‘ als solche, sondern die uneingeschränkte, nicht begründungsbedürftige Autorität. Das Gedicht endet mit dem Spruch einer transzendenten Macht, der eine nicht hinterfragbare Geltung besitzt. Die Aussagen des Genius enthalten denn auch nicht nur keine Differenzierungen, sondern auch so gut wie keine Argumente: Der Genius muss nicht den einen oder anderen Glauben rechtfertigen, sondern kann einfach sagen, welcher Glaube richtig ist. Die zuletzt hervorgehobenen Züge von Resignation sind zugleich diejenigen, die Kontinuitäten zwischen diesem Gedicht und späteren philosophischen Gedichten Schillers stiften. Bevor dies näher ausgeführt wird, gilt es aber auch die Eigenschaften herauszustellen, die Resignation als einen Sonderfall von den anderen philosophischen Gedichten trennen: Dies sind vor allem die ausgeprägten dramatischen Elemente, also die Gestaltung einer Szene mit zwei Figuren (Sprecher und Genius), die beide das Wort ergreifen und von denen eine noch weitere Figuren (das ‚Götterkind‘, die Spötter) wörtlich zitiert. Spätere philosophische Gedichte Schillers enthalten zwar ebenfalls szenische Elemente, aber keine vergleichbaren Dialog- und Zitatstrukturen. Zudem muss Resignation aufgrund der ‚phantastischen‘ Beschaffenheit der dargestellten Situation als ein Einzelfall innerhalb der philosophischen Gedichte Schillers gelten. Doch neben diesen eigentümlichen Aspekten sind in Resignation eben auch Züge angelegt, die sich in Schillers späteren philosophischen Gedichten in abgewandelter Form wiederfinden. Erstens weisen auch diese späteren Gedichte noch eine starke Neigung zu dem auf, was man mit Keller eine „pathetisch-einseitige Vorstellungsart“ nennen kann. Zweitens treten in diesen Gedichten immer wieder Sprecherinstanzen auf, die aus einer überlegenen Position heraus sprechen und auf eine Begründung ihrer Behauptungen weitestgehend verzichten. 2.1.2 Zwischen Predigt und Hymne: Das Reich der Schatten Das Gedicht Das Reich der Schatten verfasste Schiller im Sommer 1795, kurz nach Fertigstellung der Abhandlung Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen, mit der es inhaltlich denn auch eng verbunden ist. Da der Titel des Gedichts zu Missverständnissen Anlass gab, änderte Schiller ihn zweimal. In der

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ersten Auflage seiner Gedichte (1800) gab er ihm die Überschrift Das Reich der Formen, in der zweiten Auflage (1804) benannte er es zu Das Ideal und das Leben um.75 Zugleich kürzte Schiller das Gedicht bei diesem Wiederabdruck um drei Strophen.76 Das Reich der Schatten wird in der Forschung häufig als Lehrgedicht eingeordnet,77 galt aber lange Zeit auch als Musterbeispiel und Höhepunkt der ‚Gedankenlyrik‘ Schillers.78 Die besondere Relevanz des Gedichts für die vorliegende Untersuchung erhellt auch aus dem Brief, den Schiller nach der Niederschrift seiner Elegie an Wilhelm von Humboldt schickte. Darin heißt es: Mit der Elegie verglichen ist das Reich der Schatten bloß ein Lehrgedicht. Wäre der Innhalt des letztern so poetisch ausgeführt worden, wie der Inhalt der Elegie, so wäre es in gewissem Sinn ein Maximum gewesen.79

Diese abwertende Äußerung – ‚nur ein Lehrgedicht‘ – ist erstaunlich, wenn man sie neben den Brief hält, den Schiller keine vier Monate zuvor mit dem eben beendeten Gedicht Das Reich der Schatten an Humboldt geschickt hatte. Dort hieß es:

75 Für die ursprüngliche Fassung (Das Reich der Schatten) vgl. NA 1, S. 247–251. Für die endgültige Fassung unter dem Titel Das Ideal und das Leben vgl. NA 2/1, S. 396–400. Die folgende Analyse gilt der Erstfassung (Das Reich der Schatten); auf sie beziehen sich die Zitatnachweise im Klammern. 76 Vgl. zu den Änderungen knapp: Walter Hinderer, „Konzepte einer sentimentalischen Operation [zu: Friedrich Schiller, Das Reich der Schatten]“, in: Oellers (Hrsg.), Gedichte von Friedrich Schiller, S. 128–148, hier S. 130 f.; ausführlich: Norbert Oellers, „Schillers ‚Das Reich der Schatten‘ und ‚Das Ideal und das Leben‘ – Ein Gedicht“, in: Heinrich Lützeler (Hrsg., in Zusammenarbeit mit Gerhard Pfafferott und Eckart Strohmaier), Kulturwissenschaften. Festgabe für Wilhelm Perpeet zum 65. Geburtstag, Bonn 1980, S. 292–305. 77 Vgl. Gerhard Storz, Der Dichter Friedrich Schiller, Stuttgart 1959, S. 216 f.; Emil Staiger, Friedrich Schiller, Zürich 1967, S. 26 f. – Staiger wendet sich dabei entschieden gegen die Auffassung, die Zugehörigkeit zur Gattung Lehrgedicht impliziere einen Mangel an poetischer Qualität. Sein polemischer Einspruch gegen solche Wertungen mag sich implizit auch gegen Storz richten, der tatsächlich andeutet, dass das Gedicht in dem Maße, in dem es ein Lehrgedicht ist, kein eigentlich „dichterisches Gebilde“ ist (vgl. Storz, Der Dichter Friedrich Schiller, S. 217 f., Zitat S. 217). 78 Vgl. Falkenstein, Das Problem der Gedankenlyrik, S. 74, 118. Falkenstein verweist auf andere Forscher, die das Gedicht als Höhepunkt der Schiller’schen Gedankenlyrik bewertet haben, und schließt sich dieser Einschätzung – allerdings mit einer anderen Begründung – an. 79 Friedrich Schiller an Wilhelm von Humboldt, Brief vom 29./30.11.1795, in: NA 28, S. 115–122, hier S. 118.

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Wenn Sie diesen Brief erhalten, liebster Freund, so entfernen Sie alles was profan ist, und lesen in geweyhter Stille dieses Gedicht. Haben Sie es gelesen, so schließen Sie Sich mit der Li ein, und lesen es ihr vor.80

Zusammengenommen, lassen diese Briefe vermuten, dass Das Reich der Schatten für Schiller vor allem aufgrund seines Inhalts ein exzeptionelles Werk von nahezu sakraler Dignität war, das „in geweyhter Stille“ gelesen zu werden verdiente, dass er diesem Inhalt aber eine Form gegeben hatte, die ihm nach einiger Zeit als zu ‚didaktisch‘ erschien. Es gilt also zu fragen, welche Aspekte von Das Reich des Schatten verantwortlich dafür gewesen sein könnten, dass Schiller es als „nur ein Lehrgedicht“ abqualifizierte. Doch es ist auch von Interesse, die Momente des Inhalts genauer zu bestimmen, die ihn zu seiner emphatischen Aufforderung an Humboldt veranlassten. Es dürfte bezeichnend sein, dass er sich gerade bei dem Versuch, diese spezifischen Inhalte in Versform zu bringen, auf den Abweg des ‚bloßen Lehrgedichts‘ locken ließ. Wenn man fragt, was das Gedicht in Schillers Augen zu einem Lehrgedicht machte, so könnte man zunächst auf die schon erwähnte inhaltliche Nähe zu philosophischen Abhandlungen Schillers verweisen, insbesondere zu Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. Über das Gedicht ist etwa gesagt worden, das es „eine versifizierte Theorie der ästhetischen Erfahrung [entwickelt]“.81 Doch mit Blick auf dieses Argument wäre zum einen zu bedenken, dass das Gedicht aus den komplexen theoretischen Konstruktionen der Abhandlungen nur einzelne – wenn auch zweifellos besonders wichtige – Gedanken herauslöst, aber nicht einmal so zentrale Unterscheidungen wie die zwischen Stofftrieb und Formtrieb als solche wiedergibt, geschweige denn umfangreichere Gedankengänge zusammenfasst. Zum anderen ist zu betonen, dass auch diese aus den Abhandlungen herausgelösten Gedanken im Gedicht nicht etwa in besonders zugänglicher und einfacher Form präsentiert werden. Sowohl Wilhelm von Humboldt als auch August Wilhelm Schlegel befanden das Gedicht für schwierig, und Humboldt zeigte sich überzeugt, dass es nur von wenigen verstanden werden würde. In einer Interpretation heißt es zu Recht, der „‚philosophische Inhalt‘“ des Gedichts „verlang[e] [. . .] eine Bekanntschaft mit Schillers anthropologisch begründeter Ästhetik“, vor allem mit den Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen.82 Die Abhandlungen helfen also beim Verstehen des Gedichts; dass hingegen das Gedicht dabei helfen könnte, die Abhandlungen besser zu

80 Friedrich Schiller an Wilhelm von Humboldt, Brief vom 9. August 1795, in: NA 28, S. 22 f., hier S. 22. 81 Alt, Schiller. Leben – Werk – Zeit, Bd. 2, S. 273. Vgl. auch ebd., S. 274. 82 Hinderer, „Konzepte einer sentimentalischen Operation“, S. 130.

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verstehen, dürfte kaum einmal behauptet worden sein. Das Gedicht ist also nicht didaktisch in dem Sinne, dass es einen anspruchsvollen philosophischen Inhalt in einer leicht nachvollziehbaren, allgemeinverständlichen Form präsentierte. In der Forschung ist auch die Ansicht vertreten worden, das Gedicht trage zum überwiegenden Teil den Charakter des Lehrgedichts, weil „auf eine beträchtliche Strecke“ der „Gang der Argumentation [. . .] an Stelle einer dichterisch bestimmten Folge“ trete.83 Belegt wird dies mit dem Hinweis auf die Strophen 9 bis 16, die im Wechsel mit „Wenn“ und „Aber“ beginnen.84 Doch dass hier viermal hintereinander auf diese Weise ein Gegensatz hervorgehoben wird, erweckt zumindest auf den ersten Blick weniger den Eindruck des Fortschreitens als den einer insistierenden Bekräftigung.85 Sieht man sich den Inhalt der Strophen an, so bestätigt sich dieser Eindruck, da im Wesentlichen immer wieder derselbe Gegensatz aufgestellt und variiert wird. Die inhaltlichen Unterschiede oder Akzentverschiebungen, die es zwischen den vier Strophenpaaren gibt, beruhen nicht auf dem stufenweisen Voranschreiten eines durchgehenden Gedankengangs. Auch der Ausdruck „Argumentation“ ist, streng genommen, nur bedingt auf diese Strophen und auf das Gedicht insgesamt anwendbar: Argumentationen im Sinne begründender Sprachhandlungen werden kaum einmal ausdrücklich realisiert; in erster Linie reiht das Gedicht Behauptungen und Aufforderungen aneinander. Diese zahlreichen Aufforderungen konstituieren einen der Züge, die das Gedicht zu einem Lehrgedicht im Sinne der für die vorliegende Arbeit leitenden Definition machen, und sie dürften auch mit dafür verantwortlich sein, dass es von Schiller schließlich in seinem Brief an Humboldt als Lehrgedicht eingestuft wurde. Doch bevor dies näher ausgeführt wird, sei auf eine Unterscheidung hingewiesen, die Schiller in diesem Brief an Humboldt verwendet. Gemeint ist die Unterscheidung zwischen Lehren und Darstellen. Sie kommt in dem Brief zum Tragen, als Schiller seine Absicht erklärt, die in der Schlussstrophe von Das Reich der Schatten evozierte Verklärung des Herkules zum Gegenstand eines eigenen Gedichts zu machen, das sie dann aber „darstellend“ und nicht „lehrend“ zeigen sollte.86 Diesen Gegensatz von Lehren und Darstellen hatte Schiller kurz zuvor auch in seiner Abhandlung Ueber naive und sentimentalische

83 Storz, Der Dichter Friedrich Schiller, S. 216 f., Zitat S. 217. 84 Vgl. ebd., S. 216 f. 85 Vgl. ähnlich zum Ordnungsprinzip dieser Strophenreihe: Pestalozzi, Die Entstehung des lyrischen Ich, S. 93, 99. Für Pestalozzi können die „vier ‚wenn-aber‘-Strophenpaare [. . .] als Phasen einer historischen Abfolge verstanden werden. [. . .] Andrerseits aber werden sie durch die Reihung einander gleichgeordnet.“ (Ebd., S. 99) 86 Schiller an W. von Humboldt, Brief vom 29./30.11.1795, in: NA 28, S. 119.

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Dichtung gebraucht, um ein Defizit der Lehrgedichte Hallers auf den Begriff zu bringen. Worin bestand für Schiller die Differenz zwischen einer lehrenden und einer darstellenden Schreibweise? Seine diesbezüglichen Andeutungen erlauben die Vermutung, dass für ihn zwei Punkte entscheidend waren. Erstens spricht ein lehrendes Gedicht allgemeine, abstrakte Sachverhalte aus, während ein darstellendes Gedicht konkrete Beispiele dieser Sachverhalte zeigt. Damit strebt Schiller eine Versinnlichung von abstrakten Gedanken an, wie sie auch von früheren Theoretikern des Lehrgedichts gefordert worden war. Neuartig sind bei Schiller mit Rücksicht auf diesen Punkt vor allem die anthropologischen und geschichtsphilosophischen Überlegungen, mit denen er diese Forderung begründet.87 Zweitens gehört zur lehrenden Schreibweise eine sich als solche artikulierende Sprecherinstanz, die sich womöglich auch explizit an Adressaten wendet. Dass die Präsenz einer solchen belehrenden Sprecherinstanz für Schiller zu den problematischen, zu vermeidenden Eigenschaften von Lehrgedichten zählte, lässt sich zugegebenermaßen nicht durch ausdrückliche Aussagen in diesem Sinne belegen, aber doch anhand seiner philosophischen Gedichte – nicht zuletzt anhand der Unterschiede zwischen Das Reich der Schatten und der Elegie – wahrscheinlich machen. Die Form und Struktur von Das Reich der Schatten erscheint bereits in beträchtlichem Maße als geprägt durch das Bestreben, das Lehren zugunsten des Darstellens zurückzudrängen. So weist gleich die erste Strophe Eigenschaften auf, die sich in diesem Sinne deuten lassen: Ewig klar und spiegelrein und eben Fließt das zephyrleichte Leben Im Olymp den Seligen dahin. Monde wechseln und Geschlechter fliehen, Ihrer Götterjugend Rosen blühen Wandellos im ewigen Ruin. Zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden Bleibt dem Menschen nur die bange Wahl. Auf der Stirn des hohen Uraniden Leuchtet ihr vermählter Strahl.

[1–10]

87 Vgl. hierzu und zur Relevanz dieser anthropologisch und geschichtsphilosophisch begründeten Forderung für Das Reich der Schatten: Hinderer, „Konzepte einer sentimentalischen Operation“, v. a. S. 131 f., 135, 139 f.

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Der Gegensatz zwischen dem Leben der olympischen Götter und dem der Menschen wird hier fast ausschließlich in bildhafter Form, kaum anhand von Begriffen dargestellt. Die abstrakteste Aussage ist die über „Sinnenglück und Seelenfrieden“, zwischen denen der Mensch zu wählen habe. Den Gedanken, dass die Götter diese gegensätzlichen Güter mühelos vereinigen können, suchen die letzten zwei Verse aber wieder in ein Bild zu zwingen. Ferner ist beachtenswert, dass diese kontrastierenden Bilder vom Götter- und Menschenleben gewissermaßen ‚absolut‘ und selbstständig dastehen, insofern nämlich das Sprechersubjekt hier nicht explizit hervortritt, also auch keine belehrende Absicht bekundet. Ähnliche Feststellungen ließen sich über die zwei letzten Strophen des Gedichts machen, die zunächst die irdischen Kämpfe des Herakles und dann seinen Aufstieg in den Olymp und seine Verklärung vor Augen stellen. In den Strophen 3 bis 15 hingegen werden die abstrakten Aussagen über das Reich der Schönheit und über das Leben zwar ebenfalls konsequent in Bilder – häufig mythologischer Herkunft – übersetzt, doch in ihnen artikuliert sich deutlich das Sprechersubjekt. Der Sprecher verwendet zwar nicht das Pronomen ‚ich‘, spricht aber namenlose Adressaten mit „ihr“ an und belehrt sie darüber, wie sie sich schon innerhalb des von Unfreiheit und Vergänglichkeit gezeichneten Lebens zu Freiheit, „Unendlichkeit“ (18) und Gottgleichheit aufschwingen können: Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen, Frey seyn in des Todes Reichen, Brechet nicht von seines Gartens Frucht. An dem Scheine mag der Blick sich weiden, Des Genußes wandelbare Freuden Rächet schleunig der Begierde Flucht.

[21–26]

Dieser Gestus der Aufforderung, der sich mit dem Versprechen einer alles übertreffenden Belohnung verbindet, prägt den größten Teil des Gedichts. Der eben zitierte Imperativ aus Strophe 3 („Brechet nicht von seines Gartens Frucht“) wird in den zwei folgenden Strophen variiert.88 Die Strophen 9, 11, 13 und 15, die alle mit „Wenn“ beginnen, schildern jeweils eine vom diesseitigen Leben gestellte Herausforderung und benennen in konjunktivisch formulierten Aufforderungen die angemessene Haltung ihr gegenüber: „Wenn der Menschheit Leiden euch

88 Vgl. 37–40 („Wollt ihr hoch auf ihren Flügeln schweben, | Werft die Angst des Irrdischen von euch, | Fliehet aus dem engen dumpfen Leben | In der Schönheit Schattenreich!“), 41–48 („Und vor jenen fürchterlichen Schaaren | Euch auf ewig zu bewahren, | Brechet muthig alle Brücken ab. [. . .] Opfert freudig auf, was ihr besessen, | Was ihr einst gewesen, was ihr seyd, [. . .].“)

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umfangen, | [. . .] Da empöre sich der Mensch!“ (141–144) Die mit „Aber“ einsetzenden Strophen 10, 12, 14 und 16 evozieren dagegen das Dasein im Reich der Schönheit, das allen Kampf und alles Leid hinter sich gelassen hat. Wie lassen sich diese Beobachtungen zur Schwierigkeit des Gedichts, zum weitgehenden Fehlen von Argumentationen, zum Gebrauch sprachlicher Bilder, zum Sprechersubjekt und zum Gestus der Aufforderung verbinden? Man kann die meisten von ihnen in die Thesen integrieren, dass das Gedicht die Schönheit in erster Linie nicht theoretisch erklären, sondern feiern will und dass es durch die emphatische Beschwörung der im Reich der Schönheit wartenden Seligkeit dazu anspornen will, den Aufschwung in dieses Reich zu wagen. Die Bilder und die mythologischen Anspielungen führen, wie schon angedeutet, kaum dazu, dass der theoretische Gehalt des Gedichts leichter verständlich würde, doch eben dies dürfte auch nicht ihre primäre Funktion sein. Sie scheinen vor allem daraufhin angelegt zu sein, die von der Schönheit gewährte Befreiung und Beseligung im höchsten Glanz erstrahlen zu lassen und mit einer das Sakrale streifenden Hoheit auszustatten.89 So sucht das Gedicht zu einer Haltung und einem Streben anzuspornen, die ausdrücklich nicht als eine moralische Pflicht, sondern als etwas die Pflichten Übersteigendes präsentiert werden: Der erste Imperativ des Gedichts („Brechet nicht von seines Gartens Frucht“) ist an den Konditionalsatz „Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen“ gekoppelt, und diese grammatische Konstruktion dürfte wörtlich zu nehmen und so zu verstehen sein, dass hier ein höchstes Ideal aufgestellt wird, dem nachzueifern den Menschen nicht als Pflicht auferlegt werden soll. Solche Pflichten werden hingegen durch die konjunktivisch ausgedrückten Aufforderungen in den „Wenn“-Strophen bezeichnet,

89 Petschs Auffassung, dass das Gedicht „am besten etwa als eine ‚hymnische Paränese‘ bezeichnet“ werden könne, scheint mir insofern tatsächlich einen wichtigen Zug des Textes zu erfassen. Vgl. Robert Petsch, „Schiller: Das Ideal und das Leben“, in: Heinz Otto Burger (Hrsg.), Gedicht und Gedanke. Auslegungen deutscher Gedichte, Halle 1942, S. 119–139, hier 128. Dass Schiller dabei letztlich christliche Gehalte ausdrücken wolle (vgl. ebd., S. 137), wird von Petsch allerdings nicht plausibel begründet. Über das Verhältnis des Gedichts zum Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts äußert er sich im Übrigen wie folgt: „Man kann sich keinen größeren Unterschied denken, als den zwischen der ‚Lehrdichtung‘ des 18. Jahrhunderts (mit Einschluß der Versuche Albrechts von Haller und G. E. Lessings) und Schillers gnomischer Dichtung höchsten Stils.“ (Ebd., S. 123) Der vorangehende Satz zeigt, welche Gedichte Petsch meint, und liefert zugleich eine ‚Begründung‘, die sich allerdings einer sachlichen Diskussion weitgehend entzieht: „Schillers große Spruchdichtungen [. . .], die ‚Künstler‘ wie der ‚Spaziergang‘ und vor allem ‚Das Ideal und das Leben‘ wurzeln in Erlebnissen, die sich im Reiche der Erfahrung über alles Erfahrbare und Aussprechbare weit erheben und an menschliche Wertungen rühren, die nur der Phantasie im engsten Bunde mit dem Gedanken zugänglich sind, deren Ausdruck in Prosa banal wirken müßte, weil ihr feinster Duft sich nur dem Zauber der Form erschließt.“ (Ebd.)

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etwa in den schon zitierten Versen: „Wenn der Menschheit Leiden euch umfangen, | [. . .] Da empöre sich der Mensch!“ (141–144) Das Streben nach Gottgleichheit hingegen erscheint als ein Ideal, vielleicht auch als die ‚Bestimmung‘ des Menschen, nicht als Gebot.90 2.1.3 Vom Lehren zum Darstellen: Elegie Schiller hat in seinem bereits erwähnten Brief an Humboldt erklärt, der Inhalt von Das Reich der Schatten sei in geringerem Maße „poetisch ausgeführt“ gewesen als der Inhalt der Elegie. Zu der Frage, was Schiller hier unter einer poetischen Ausführung verstehen könnte, hat Hans-Wolf Jäger die folgenden Vermutungen angestellt: Was die ‚Elegie‘ auszeichnet, ist die monologische Form: die sinnlichen und gedanklichen Erfahrungen sind zum Erlebnis eines Ich zusammengebunden. Nicht Natur wird beschrieben, nicht Lehrsätze werden deklamiert, vielmehr wird der Leser in den Prozeß eines Naturerlebens und der sich anschließenden Reflexionen hineingenommen.91

Jäger deutet ferner an, dass die Technik von Schillers Elegie damit – ob intendiert oder nicht – einer von Engel schon 1783 formulierten Empfehlung entspreche: Der Lehrdichter, so Engel, solle möglichst „nicht blos die Wahrheit“ vorführen; vielmehr „lasse [er] sie uns in der Seele, die sie denkt, erkennen“.92 Engel stimme mit anderen Theoretikern in der Forderung überein, dass „das didaktische Gedicht neuer Art“ die „zu vermittelnde[] Erkenntnis in den Prozeß ihrer Entstehung im dichterischen Gemüt“ übersetzen solle.93 Obwohl Jäger dies als eine Forderung an neue, zeitgemäße Lehrgedichte deutet, vertritt er auch die Ansicht, dass Schillers Elegie mit ihrer „monologische[n] Form“ den Gedichten Brockes’ sowie Hallers Unvollkommenem Gedicht über die Ewigkeit nahe stehe.94 Dass in der Elegie die „sinnlichen und gedanklichen Erfahrungen [. . .] zum Erlebnis eines Ich zusammengebunden [sind]“,95 macht schließlich

90 Für eine Deutung des im Gedicht evozierten Ideals der Gottähnlichkeit vgl. Gerhard Kaiser, „Vergötterung und Tod. Die thematische Einheit von Schillers Werk“ [1967], in: ders., Von Arkadien nach Elysium. Schiller-Studien, Göttingen 1978, S. 11–44, hier v. a. S. 27 f., 33 f. – Etwas andere Akzente setzt die Einordnung des Gedichts in Schillers Religionsverständnis bei Manfred Misch, „Schiller und die Religion“, in: Koopmann (Hrsg.), Schiller-Handbuch, S. 210–228, hier S. 225. 91 Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“, S. 569. 92 [Engel], Anfangsgründe, S. 97. 93 Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“, S. 569. 94 Vgl. ebd., S. 569. 95 Ebd.

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das Gedicht für Jäger zu einem Beispiel für die um 1800 zu beobachtende „Subjektivierung“96 des Lehrgedichts. Im Folgenden soll das Verfahren der Elegie auf andere Weise als bei Jäger beschrieben und gedeutet und auf dieser Basis auch ein anderer Vorschlag dazu entwickelt werden, weshalb Schiller die ‚Ausführung‘ des Inhalts in diesem Gedicht als besonders poetisch und dem Reich der Schatten überlegen ansah. Zugleich sollen Zweifel an der These geweckt werden, dass man es in der Elegie mit einer Subjektivierung des Lehrgedichts zu tun habe. Die Elegie lässt sich grob in drei Sinnabschnitte gliedern:97 Ein erster Abschnitt zeigt den Sprecher, der aus „des Zimmers Gefängnis | Und dem engen Gespräch“ „entflohen“ ist (7 f.), auf seinem Spaziergang, der ihn über eine Wiese, durch einen Wald, eine Bergwand hinauf und am Ufer eines Stromes entlangführt. Die Schilderung der bebauten Felder, die er aus der Höhe erblickt, geht an einem nicht klar zu fixierenden Punkt in etwas über, das von Interpreten als ein „imaginärer Gang durch die Geschichte“,98 als „geschichtsphilosophische[] Reflexion“99 oder als „historische[] Vision“100 bezeichnet worden ist: Auf die Beschreibung der vom Landbau geprägten Welt folgt die Schilderung einer Stadt, in der Künste, Wissenschaften und staatliche Ordnung entstehen, auf deren Wachstum schließlich ein Umschlag und die Verbreitung von Lüge, Heuchelei, Gewalt und Willkür folgen. Der dritte Sinnabschnitt des Gedichts (189–216) setzt ein mit dem ‚Erwachen‘ des Sprechers, der sich plötzlich in einer kargen und öden Landschaft findet, sich aber nach einem neuerlichen Moment der Besinnung freudig an die

96 Ebd., S. 571. 97 Die Elegie wird hier zitiert nach dem Abdruck in: NA 1, S. 260–266. Zitate werden durch Angabe der Verszahl in Klammern nachgewiesen. – Die Elegie und die spätere Fassung des Gedichts, Der Spaziergang, sind Gegenstand zahlreicher Interpretationen, mit denen sich die folgenden Überlegungen nicht im Detail auseinandersetzen können. Die wichtigsten neueren Interpretationen sind: Jörg Schuster, Poetologie der Distanz. Die ‚klassische‘ deutsche Elegie 1750–1800, Freiburg i. Br. 2002, S. 245–290; Wolfgang Riedel, „Der Spaziergang“. Ästhetik der Landschaft und Geschichtsphilosophie der Natur bei Schiller, Würzburg 1989. 98 Rüdiger Zymner, „‚Vergeistigungskünste‘: Zu Schillers philosophischen Gedichten“, in: Christiane Schildknecht/Dieter Teichert (Hrsg.), Philosophie in Literatur, Frankfurt a.M. 1996, S. 278–298, hier S. 293; Riedel, „Der Spaziergang“, S. 81. 99 Jörg Schuster, „‚Ein Fremdling in der Sinnenwelt‘? Schillers Elegie“, in: Caroline Welsh/ Christina Dongowski/Susanna Lulé (Hrsg.), Sinne und Verstand. Ästhetische Modellierungen der Wahrnehmung um 1800, Würzburg 2001, S. 53–70, hier S. 63. 100 Riedel, „Der Spaziergang“, S. 97. Der Ausdruck „Vision“ auch ebd., S. 99. Anderswo spricht Riedel mit Bezug auf den Mittelteil aber auch von einer „geschichtsphilosophischen Reflexion“ (ebd., S. 100) oder von „kulturkritischen und geschichtsphilosophischen Betrachtungen, in die der Wanderer [. . .] wie in einen Tagtraum, ohne der Außenwelt weitere Aufmerksamkeit zu schenken, ‚versinkt‘.“ (Ebd., S. 81)

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„fromme Natur“ (210) wendet, die ihm „den fröhlichen Muth hoffender Jugend“ (206) zurückgebe, da sie bei allen von „Wille“ und „Thaten“ bewirkten Umwälzungen „[i]mmer dieselbe“, immer jugendlich und immer schön bleibt und „dem Manne“ zurückgeben kann, was „der Jüngling“ ihr anvertraut hat (207–212). Was die Elegie zu einem Lehrgedicht oder zumindest einem am Rande zum Lehrgedicht situierten Grenzfall macht, ist in erster Linie der lange Mittelteil mit seiner Darstellung der Zivilisationsgeschichte. Daher gilt es zu analysieren, wie diese Darstellung eines umfassenden Geschichtsverlaufs in den Bericht von einem Spaziergang hineingerät, was für einen Status also diese Geschichtsdarstellung innerhalb der Fiktion des Gedichts hat. In Interpretationen des Gedichts erhält diese Frage häufig nur wenig Aufmerksamkeit. Wie oben angedeutet, ist die Darstellung der kulturgeschichtlichen Entwicklung in der Forschung mit unterschiedlichen Begriffen belegt worden, und die Wahl dieser Bezeichnungen wird in den meisten Fällen nicht näher erläutert und begründet. Gelegentlich wird einfach gesagt, dass auf die Beschreibung der Natur die Darstellung eines Geschichtsverlaufs folge, ohne dass darauf eingegangen würde, ob und wie sich diese Abfolge konsistent in die Fiktion vom Spaziergang des Gedichtsprechers einfügt.101 Andere Interpreten sprechen, wie schon erwähnt, von einem „imaginäre[n] Gang durch die Geschichte“,102 einer „gedankenvollen Zeitreise“,103 einer „geschichtsphilosophischen Reflexion“104 oder einer „Vision“,105 ohne dies näher zu begründen und zu erläutern. Eine Ausnahme bildet in dieser Hinsicht die Interpretation Jörg Schusters, der die Frage nach dem Status der Geschichtsdarstellung explizit anspricht: Schließlich hängt mit dem Übergang von der Naturbeschreibung zur Darstellung der historischen Entwicklung aber auch noch ein Wandel zusammen, der den Status des lyrischen Ich betrifft. Denn es ist klar, daß die Beschreibung nun nicht mehr Dingen gilt, die das lyrische Ich bei seinem Gang durch die Landschaft sieht. Die historiographische Imagination tritt an die Stelle der Anschauung der Natur, die Fiktion einer kulturgeschichtlichen Narration an die Stelle der Beschreibung der ‚realen‘ Landschaft, die Phantasie löst die Schilderung der ‚Wirklichkeit‘ ab.106

101 So etwa bei: Jürgen Stenzel, „‚Zum Erhabenen tauglich‘. Spaziergang durch Schillers ‚Elegie‘“, in: JBDSG, 19/1975, S. 167–191, hier S. 175 f.; ders., „Die Freiheit des Gefangenen: Schillers Elegie Der Spaziergang“, in: Wulf Segebrecht (Hrsg.), Gedichte und Interpretationen. Bd. 3: Klassik und Romantik, Stuttgart 1984, S. 67–77, hier S. 72. 102 Zymner, „‚Vergeistigungskünste‘“, S. 293; Riedel, „Der Spaziergang“, S. 81. 103 Alt, Schiller. Leben – Werk – Zeit, 2. Band, S. 291. 104 Schuster, „‚Ein Fremdling in der Sinnenwelt‘?“, S. 63. 105 Riedel, „Der Spaziergang“, S. 97. Der Ausdruck „Vision“ auch ebd., S. 99. 106 Schuster, Poetologie der Distanz, S. 259.

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Wenn Schuster schreibt, es sei „klar“, dass im Mittelteil nicht mehr etwas beschrieben wird, was „das lyrische Ich bei seinem Gang durch die Landschaft sieht“, so ist dem zuzustimmen: Unter der Voraussetzung einer nach realistischen Maßstäben entworfenen fiktiven Welt ist es nicht denkbar, dass der Sprecher die im Mittelteil dargebotenen Gegenstände und Vorgänge mit seinen Augen sieht. Doch Schuster geht von dieser negativen Feststellung ohne eigene Begründung zu der positiven Aussage weiter, es handle sich um eine „Imagination“ oder eine „Phantasie“. Dieser Schluss wäre nur überzeugend, wenn außer Sehen und Imaginieren oder Phantasieren keine weiteren Optionen denkbar wären; aber von anderen Interpreten werden durchaus solche Möglichkeiten angeboten, etwa die Einordnung als Reflexion oder als Vision. Welche dieser Bezeichnungen man wählt, ist durchaus von Belang, da sie dem Inhalt der Geschichtsdarstellungen einen jeweils spezifischen epistemischen Status zuweisen: Ob man diesen Inhalt als Produkt einer Imagination, als Ergebnis einer Reflexion oder als Gegenstand einer Vision auffasst, ist für die Interpretation nicht unerheblich. Welche Bezeichnung für die Geschichtsdarstellung trifft ihren Status am ehesten? Zumindest für ihren Anfang und für ihren größten Teil, so soll hier argumentiert werden, ist die Rede von einer ‚Vision‘ besonders treffend und jedenfalls angemessener als die Bezeichnung als Reflexion oder Imagination. Als erstes ist zu betonen, dass der Übergang zwischen der Schilderung der vom Spaziergänger gesehenen Landschaft zur Geschichtsdarstellung im Gedicht nicht explizit markiert wird: Es findet sich keinerlei ausdrücklicher Hinweis darauf, dass der Spaziergänger bei der Betrachtung der Landschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einer Reflexion oder Imagination begänne. In dieser Hinsicht kann die betreffende Passage aus der Elegie mit dem Abschnitt aus dem ersten Teil von Hallers Ueber den Ursprung des Uebels kontrastiert werden, wo der Übergang vom Anschauen der schönen Landschaft zur Reflexion explizit markiert wird („Ich sann in sanfter Ruh dem holden Vorwurf nach [. . .]“).107 Zweitens kann man darüber hinausgehend feststellen, dass die Zäsur zwischen Landschaftsschilderung und Geschichtsdarstellung nicht nur nicht hervorgehoben, sondern sogar subtil verschleiert wird. Diese Verschleierung wird bewirkt durch die Beschreibung einer ‚bukolischen‘ Landschaft mit Äckern, Herden und Dörfern, in der ein „[g]lückliches Volk“ (57) lebt und „mit [s]einer Flur 107 Vgl. Albrecht von Haller, Ueber den Ursprung des Uebels, Erstes Buch, V. 65 bis 70: „Ich sann in sanfter Ruh dem holden Vorwurf nach, | Bis daß die Dämmerung des Himmels Farben brach, | Die Ruh der Einsamkeit, die Mutter der Erfindung, | Hielt der Begriffe Reih in schließender Verbindung, | Und nach und nach verknüpft, kam mein verwirrter Sinn, | Uneinig mit sich selbst, zu diesen Worten hin: | [. . .].“

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fröhlich das enge Gesetz“ teilt (58; vgl. 39 bis 60). Diese Landschaft kann der Leser zumindest bis zu der am Ende der Passage stehenden Apostrophe „Glückliches Volk der Gefilde!“ als eine Landschaft auffassen, die der Sprecher tatsächlich sieht, da keines ihrer Elemente mit der bisher im Gedicht aufgebauten fiktiven Welt des Spaziergängers unvereinbar ist. Erst wenn die Beschreibung der Stadt folgt, die mit der Schilderung aufeinander folgender Entwicklungsphasen verbunden ist, kann man rückwirkend die Passage über die bukolische Landschaft schon als ersten Teil der Geschichtsdarstellung auffassen. Diese fehlende Markierung oder gezielte Verschleierung des Übergangs aber führt dazu, dass dem Leser die im Folgenden geschilderte Stadt und ihre Entwicklung ebenso wie die zuvor beschriebene Landschaft als etwas erscheinen, das der Spaziergänger sieht. Da er diesen Geschichtsprozess aber nicht tatsächlich sehen kann, dürfte man der Konstruktion des Textes am ehesten gerecht werden, wenn man ihn als etwas auffasst, das der Spaziergänger mit dem Geiste ‚sieht‘, also als den Inhalt einer Art von Vision. Für diese Deutung spricht auch, dass der Sprecher im langen Mittelteil selbst zweimal die Aufforderung „Siehe“ verwendet (77, 119) und sowohl die ‚heiligen Steine‘ der Stadt als auch die Spartaner, die sich für ihr Vaterland opferten, direkt anredet (91, 103). Die historischen Vorgänge und ihre Akteure werden an diesen Stellen mithin als etwas präsentiert, das der Sprecher vor sich ‚sieht‘ und auf das er folglich zeigen kann.108 Wie ist diese höchst kalkuliert erscheinende Art und Weise, in der die Geschichtsdarstellung in den Bericht vom Spaziergang eingebettet wird, zu deuten? Dass die geistige Aktivität des Spaziergängers kaum oder gar nicht hervorgehoben wird und die historischen Vorgänge als etwas gleichsam Sichtbares, sich selbst Darbietendes erscheinen, macht es sehr schwierig, die Geschichtsdarstellung als Wiedergabe der persönlichen Meinungen des Sprechers aufzufassen. Positiv ausgedrückt: Dieses Bild der Geschichte, das neben Schilderungen auch anspruchsvolle Erklärungen historischer Entwicklungen umfasst, wird als ein weitestgehend fraglos gültiges präsentiert, das während des Spaziergangs vom Sprecher nicht erst allmählich von ihm entwickelt wird, sondern ihm zu

108 Schiller selbst bezeichnete in einem Brief an Humboldt den Inhalt des Mittelteils als die „Betrachtungen“ des Sprechers: Er wies darauf hin, dass er „biß da, wo die Betrachtungen über die Corruption angehen, beynahe immer von einem äusern Objekt ausgehe“, dass es immer „sinnliche[] Gegenstände“ gebe, „an denen der Gedanke fortläuft“. In dem Moment, wo die Betrachtungen über den Verfall beginnen, übernehme die „Einbildungskraft“ die Kontrolle: „Bey der Corruption war es in der Natur der Sache, daß das Gemüth in sich selbst versinkt, und die Einbildungskraft die ganze Kosten des Gemähldes trägt.“ (Schiller an W. von Humboldt, Brief vom 29./30.11.1795, in: NA 28, S. 115–122, hier S. 116.)

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Bewusstsein kommt. Das poetische Verfahren im Mittelteil der Elegie zielt mithin nicht, wie von Jäger vorgeschlagen, auf eine Subjektivierung, sondern in gewissem Maße gerade auf eine Entsubjektivierung. Es dürfte auch sinnvoll sein, dieses ‚Visions-Verfahren‘ der Elegie im Zusammenhang mit Schillers in Ueber naive und sentimentalische Dichtung formulierter Kritik an Haller zu sehen, der zufolge Haller in seinen Lehrgedichten zu viel lehre, anstatt darzustellen. In der Elegie nun tritt der Sprecher – anders als der Sprecher im Reich der Schatten – nicht als ein Lehrender auf. Stattdessen dominiert ein Modus der Darstellung; aber dargestellt werden nicht nur Erlebnisse und Reflexionen des Sprechers, sondern auch zivilisationsgeschichtliche Entwicklungen: Diese werden nicht primär als vom Sprecher so gedachte oder imaginierte präsentiert, sondern als tatsächlich so verlaufene Entwicklungen, die dem Sprecher hier in einer Art von Vision bewusst werden.109 Die hier vorgeschlagene Deutung des Mittelteils impliziert, dass der dritte und letzte Teil des Gedichts und die in ihm formulierten Gedanken einen grundsätzlich anderen Status haben als die Geschichtsdarstellung. In diesem Schlussteil tritt nun eindeutig das Fühlen und Denken des Sprechers als solches in den Vordergrund. Die Struktur des Gesamtgedichts lässt sich mithin so deuten: In der Elegie lässt Schiller einen fiktiven Angehörigen der modernen urbanen Zivilisation, der deutlich sentimentalische Züge besitzt, auftreten, konfrontiert ihn mit Wahrheiten über den Verlauf der Menschheitsgeschichte und zeigt am Ende die intellektuelle und emotionale Reaktion dieses Subjekts auf diese Konfrontation. Insofern Schiller mit der Elegie in expliziter Form philosophische Lehren vermitteln wollte, sind diese Lehren im Mittelteil zu finden. Die Gedanken des Spaziergängers im Schlussteil hingegen sind zunächst und in erster Linie als Gedanken dieser fiktiven Figur und damit als Teil der fiktiven Handlung des Gedichts zu verstehen. Betrachtet man den Schlussabschnitt des Gedichts aus dieser Perspektive, so erscheint eine Eigenschaft dieses Teils, die mehreren Interpreten Schwierigkeiten 109 Gerhard Kaisers Deutung bedient sich anderer Formulierungen, schreibt dem Inhalt der Geschichtsdarstellung aber einen ähnlichen epistemischen Status zu wie die vorliegende Interpretation: „Der Übertritt aus der Anschauung in die Vision ist kein Bruch des Gedichts, das damit sein Grundmuster – räumliche Wahrnehmung als Geschichtsvergegenwärtigung – verlöre. Vielmehr vollzieht sich im Bewußtsein des Spaziergängers ein ähnlicher Vorgang, wie es der historische Ablauf ist, von dem er spricht: Entwicklung von Wissen und Gedanklichkeit und deren Ausbreitung ins Spezielle, Absehen von der Natur, Naturverlust, Vereinzelung, Verfall an den Wahn. Dergestalt erfährt und weiß der Spaziergänger, wovon er spricht. Es ist die Krise seiner Kultur, deren Einbruch er in der eigenen Seele erlebt.“ (Gerhard Kaiser, Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis zur Gegenwart. Band 1: Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis Heine. Ein Grundriß in Interpretationen. Zweiter Teil, Frankfurt a.M. 1988, S. 444.)

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bereitet und zu besonders kontroversen Deutungen Anlass gegeben hat, weniger rätselhaft. Mehrere Ausleger des Gedichts haben auf eine fehlende Übereinstimmung zwischen dem Gedichtschluss und der Geschichtsphilosophie Schillers, wie er sie in seinen Abhandlungen entwickelt hatte, hingewiesen: Auf das im Mittelteil geschilderte Stadium der Zivilisation und ihre Verwerfungen folge keine Rückkehr zur Natur auf einer höheren Stufe, keine „Herstellung der Natur in der Menschheit in veredelter Gestalt“,110 wie es in Heinrich Viehoffs Interpretation aus dem 19. Jahrhundert heißt. Viehoff sah hierin einen Mangel des Gedichts, wohingegen Friedrich Meinecke später dieselbe Diskrepanz zwischen Gedicht und Philosophie Schillers konstatierte,111 aber als eine Stärke des Gedichts wertete. Schiller sei hier in einem „einmalige[n] Moment dichterischer Schau“ „über sich selbst hinausgewachsen“, indem er den „Fortschrittsgedanken der Aufklärung [. . .] beiseite gelassen“112 und stattdessen „die ungeheure Tragik der Geschichte [. . .] ans Licht gerissen“113 habe. Andere Interpreten haben dagegen den Gedichtschluss mit Schillers Philosophie zur Deckung zu bringen versucht. Gegen sie und in partiellem Anschluss an Meinecke hat zuletzt Schuster wieder auf der Unvereinbarkeit zwischen philosophischen Konzeptionen und Gedichtende insistiert.114 Hier soll ähnlich wie bei Schuster und früheren Interpreten die Ansicht vertreten werden, dass das Finale der Elegie nicht Schillers geschichtsphilosophische Konzeption einer Versöhnung von Natur und Freiheit ins Bild setzt. Doch es soll nicht angenommen werden, dass Schiller in diesem Schlussteil eine philosophische Position artikulierte, mit der er seine andernorts entfaltete Geschichtsphilosophie revidieren oder in Frage stellen wollte. Bei der Deutung des Schlussteils lohnt es sich, eine Frage zu stellen, die in den genannten Interpretationen kaum einmal aufgeworfen wird: die Frage, wie Schiller eine Bezugnahme auf das ‚Elysiums‘-Stadium der Geschichte überhaupt in die Fiktion seines Gedichts hätte einbauen können. Der Sprecher ist eindeutig im naturfernen,

110 Heinrich Viehoff, Schillers Gedichte erläutert und auf ihre Veranlassungen, Quellen und Vorbilder zurückgeführt. Sechste umgearbeitete Aufl. Bd. 2. Stuttgart 1887, S. 102. 111 Vgl. Friedrich Meinecke, „Schillers ‚Spaziergang‘“ [1959], in: Jost Schillemeit (Hrsg.), Deutsche Lyrik von Weckherlin bis Benn, Frankfurt a.M. 1976 [zuerst 1965], S. 99–112, hier S. 109: „Der Weg der ästhetischen Erziehung des Menschen, wie ihn die ästhetischen Briefe zeigen, oder, wie es in Naiv-Sentimentalisch heißt, der Weg nach dem Elysium einer zur höchsten sittlichen Würde hinaufgeläuterten Natur, da wir nach dem Arkadien der einfachen Natur nicht zurückkönnen, ist in dem Gedichte nicht ausgedrückt. Sondern die Natur bleibt in ihm ‚immer dieselbe‘ [. . .].“ 112 Ebd., S. 110. 113 Ebd., S. 109. 114 Vgl. Schuster, Poetologie der Distanz, S. 245–290, vor allem S. 245–249, 276–284.

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zivilisierten Mittelstadium der Geschichte beheimatet; Schiller hätte ihn also allenfalls am Ende den Wunsch oder die Hoffnung äußern lassen können, dass es in der Zukunft zu so einer Versöhnung von Natur und Freiheit kommen möge. Darüber, weshalb Schiller seinem Gedicht nicht eine solche Auflösung gab, kann man letztlich nur spekulieren. Vielleicht hätte es in seinen Augen einen zu großen Bruch bedeutet, wenn der Sprecher nach seiner Erschütterung angesichts des negativen Geschichtsverlaufs zu philosophieren beginnen und an die utopische Möglichkeit einer Vereinigung von Natur und Freiheit denken würde. Was Schiller stattdessen tat, kann man jedenfalls so beschreiben: Er ließ seine sentimentalische Sprecherfigur am Ende eine tröstende und vergewissernde Erfahrung von der Art machen, wie sie auch den ‚in dürftiger Zeit‘ lebenden Menschen zugänglich ist.115 Doch die tröstende, wiederbelebende und bestärkende Wirkung, die die Natur oder die „Sonne Homers“ am Ende auf den Sprecher ausübt, dürfte von Schiller nicht als ein Gegenmodell zu dem Elysiums-Stadium seiner geschichtsphilosophischen Abhandlungen gemeint sein; vielleicht sollte sie eine sinnbildliche oder synekdochische Repräsentation dieser umfassenderen Versöhnung sein, aber eine solche Deutung ist keineswegs zwingend. Ein anderer Aspekt des Schlussteils ist noch hervorzuheben: In der Apostrophe an die Natur, mit der das Gedicht schließt, drückt der Sprecher nicht nur seine Erleichterung und seine Dankbarkeit gegenüber der Natur aus, die ihm „den fröhlichen Muth hoffender Jugend zurück[gibt]“, sondern auch Ehrfurcht gegenüber einem „Gesetz“, das hier indirekt mit den Attributen des Heiligen oder Göttlichen ausgestattet wird. Die Natur wird mit einem „reinen Altare“ gleichgesetzt (205), und dass sie „züchtig das alte Gesetz [ehrt]“, trägt ihr das Epitheton ‚fromm‘ ein (210). Wenn ein Interpret meint, dass die Natur selbst hier als „heilig“ erscheine,116 so ist das zwar streng genommen ungenau, aber angesichts der Ungreifbarkeit des ‚Gesetzes‘ und der emphatischen Anrede der Natur durch das Ich nachvollziehbar: Die Eigenschaft des Verehrungswürdigen,

115 Schuster fasst dieses Trosterlebnis des Sprechers als ein fragwürdiges und aporetisches auf, da es auf einem „sentimentalische[n] Münchhausen-Trick des lyrischen Ich“ beruhe, das angesichts der furchtbaren Gegenwart einfach „die schreckliche Natur [scil. die ‚schauerliche Öde‘, in der das Ich sich befindet, vgl. Vers 197; O.K.] zur rettenden [erklärt] und die desaströse Menschheitsgeschichte zum unwirklichen ‚Traum‘“ (Schuster, Poetologie der Distanz, S. 279). Mir scheint der Sprecher hier nicht die „desaströse Menschheitsgeschichte“ selbst, sondern nur seine mentale Vergegenwärtigung derselben zum ‚Traum‘ zu erklären. Dem Erleben der ewig schönen Natur wird in meinen Augen auch nicht die Fähigkeit zugesprochen, die katastrophale Entwicklung der Kultur ungeschehen zu machen oder zu überwinden, sondern nur die Fähigkeit, den Betroffenen momentane Entlastung zu gewähren. Dass der Übergang von der schrecklichen zur schönen Natur hier einen abrupten Charakter hat, sei damit nicht bestritten. 116 Meinecke, „Schillers ‚Spaziergang‘“, S. 107.

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die hier explizit dem „Gesetz“ zugeschrieben wird, strahlt gewissermaßen auch auf die fromme, verehrende Natur aus. Die letzten Verse der Elegie evozieren jedenfalls mit der Natur und ihrem Gesetz ein Ideal oder eine Norm, schreiben ihnen mithilfe eines religiösen Vokabulars einen sakralen oder quasi-sakralen Status zu und führen anhand des Gedichtsprechers eine zugleich ehrfürchtige und dankbare Haltung gegenüber diesem Ideal vor. Diese Züge der Schlusspartie begründen eine Ähnlichkeit zwischen derselben und dem Gedicht Das Reich der Schatten, verbinden sie aber auch mit weiteren Lehrgedichten Schillers. Solche Ähnlichkeiten sollen im folgenden Resümee noch etwas systematischer zusammengefasst werden. 2.1.4 Resümee Zumindest ein Teil derjenigen Gedichte Schillers, die meist als philosophische Gedichte oder Ideengedichte bezeichnet werden, kann der Gattung des Lehrgedichts zugerechnet werden. Dabei ist auch in diesen Gedichten deutlich, dass Schiller sich auf der Ebene der Textstruktur von älteren Lehrgedichten, gerade auch von den bekannten Lehrgedichten des 18. Jahrhunderts, abzugrenzen sucht. Die formalen und strukturellen Eigenschaften, durch die sich seine Gedichte von den Lehrgedichten Hallers, aber auch von jenen Creuz’ distanzieren, lassen sich aber nur bedingt mithilfe der Begriffe erfassen, in denen Schiller selbst in Ueber naive und sentimentalische Dichtung seine Forderungen an wahre Lehrgedichte formuliert. Wie oben dargelegt, vertritt Schiller dort die Auffassung, dass Lehrgedichte den von ihnen bearbeiteten Begriff ‚zur Idee hinaufführen sollen‘ – was keines der bisher existierenden Lehrgedichte erfülle. Man kann annehmen, dass er selbst mit seinen in den folgenden Jahren entstandenen philosophischen Gedichten diesem Anspruch gerecht werden wollte. Wilhelm von Humboldt bescheinigte ihm später in seinem Essay Ueber Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung, dass ihm dies geglückt sei, und bemerkte über die Gedichte, die „vorzugsweise der Ausführung philosophischer Ideen gewidmet sind“: „Sie erzeugen die Idee, umkleiden sie nicht bloß mit einem dichterischen Schmuck. Sie erfüllen dadurch die Forderung dieser Gattung der Poesie.“117 Doch wie Schiller nicht erläutert, woran man erkennt, ob ein Gedicht einen Begriff ‚zur Idee hinaufgeführt‘ hat oder nicht, so geht auch Humboldt nicht näher darauf ein, woran man erkennt, ob ein Gedicht eine Idee ‚erzeugt‘ oder sie bloß ‚umkleidet‘. Gleichwohl lassen Schillers Lehrgedichte in ihrer formalen Gestaltung eine Tendenz erkennen, die man auf ein Bestreben, sich von ‚traditionellen‘ 117 Humboldt, „Vorerinnerung. Ueber Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung“, S. 54.

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Lehrgedichten zu distanzieren, zurückführen kann. Schiller vermeidet es in diesen Gedichten weitgehend, eine Sprecherinstanz mit ausdrücklich belehrendem Gestus auftreten zu lassen, also einen Sprecher, der Thesen vorträgt und begründet, einen geordneten Gedankengang mit explizit markierten Schritten vorträgt, womöglich gegenteilige Ansichten kritisiert oder Mahnungen und Aufrufe formuliert. Der Sprecher in Das Reich der Schatten äußert noch zahlreiche Aufforderungen; dies könnte ein Grund für Schillers abwertendes Urteil sein, dieses Gedicht sei doch „nur ein Lehrgedicht“. Doch auch hier bietet der Sprecher kaum Begründungen seiner Behauptungen und präsentiert seinen Gedankengang nicht als einen stringent voranschreitenden. Insofern lässt auch Das Reich der Schatten in der Gestaltung der Sprecherinstanz die beschriebene Tendenz erkennen, die in der Elegie dann noch deutlicher hervortritt. Als eine frühe Manifestation dieser Tendenz kann man es werten, dass Schiller in Resignation die zentralen Lehren des Gedichts einer jeder Begründungspflicht enthobenen übermenschlichen Instanz, einem „Genius“, in den Mund legt. Ähnliche Konstruktionen der Sprecherfiguren finden sich in anderen, hier nicht näher behandelten Lehrgedichten Schillers sowie in philosophischen Gedichten, die zumindest an der Grenze zum Lehrgedicht stehen. Zu nennen wären hier etwa Der Tanz und – vor allem – Das Lied von der Glocke. Das Gedicht Der Tanz entstand wie Das Reich der Schatten und die Elegie im Jahr 1795, direkt nach Schillers Rückkehr von der Philosophie zur Poesie.118 In diesem Gedicht wird zwar, wie ein Interpret zutreffend festgestellt hat, „eine dialogische Situation [imaginiert], in der ein Wissender und Kundiger von einem hohen, Überschau gewährenden Standpunkt ein Du anredet“.119 Insofern verfolgt die Sprecherinstanz eine ausdrücklich belehrende Absicht. Doch bemerkenswert ist, dass die Lehren, die der Sprecher dem Adressaten nahebringen will, von ihm als Wahrheiten präsentiert werden, die der Adressat – trotz ihrer abstrakten Qualität – sehen kann, wenn er die Tanzenden betrachtet. Es handelt sich nicht um Lehren, die der Sprecher gleichsam selbst verantwortet und begründen muss. Etwas Ähnliches gilt, trotz der großen Unterschiede zwischen den Gedichten, auch für Das Lied von der Glocke, das von Kritikern und Forschern häufig als Lehrgedicht120 oder lyrisch-didaktisches Gedicht eingeordnet wurde. Einen lehrhaften Charakter hat man dem Gedicht dabei, was in der Tat plausibel erscheint,

118 Vgl. zu diesem Gedicht: Jochen Golz, „Nemesis oder die Gewalt der Musik [zu: Schiller, Der Tanz]“, in: Oellers (Hrsg.), Gedichte von Friedrich Schiller, S. 114–122; zur Entstehungsgeschichte dort S. 114. 119 Golz, „Nemesis oder die Gewalt der Musik [zu: Schiller, Der Tanz]“, S. 115. 120 Vgl. Johann Baptist Rousseau, „Über Wesen und Form der didaktischen Poesie, mit Beziehung auf Schiller’s Glocke“, in: Ders., Kunststudien, München 1834, S. 1–26, hier S. 11 f.

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aufgrund der Abschnitte wechselnder Länge zugeschrieben, die zwischen die regelmäßig gebauten Liedstrophen über den Glockenbau gesetzt sind und von den Stationen des menschlichen Lebens sowie von Gedeihen und Gefährdung der städtischen Gesellschaft handeln. Als der Sprecher dieser Gedichtpartien dürfte der Meister der Glockengießer zu verstehen sein;121 er wird aber kaum als ein solcher profiliert, sondern erscheint eher als eine Instanz, die aus einer überlegenen Perspektive das individuelle und soziale Leben der Menschheit überblickt.122 Wichtig ist, dass dieser Sprecher keine ausdrückliche belehrende Absicht verfolgt und auch – mit einer Ausnahme – kaum einmal Aufforderungen oder Mahnungen formuliert.123 Über weite Strecken präsentieren sich seine „guten Reden“ einfach als Schilderungen der bürgerlichen Wirklichkeit.124 Einen lehrhaften und indirekt auffordernden Charakter erhalten diese Beschreibungen typisierter Figuren vor allem durch die eingebauten Wertungen.125 Insofern lässt sich auch die Sprechhaltung in diesen Teilen von Das Lied von der Glocke auf Schillers Forderung aus Ueber naive und sentimentalische Dichtung beziehen, in didaktischen Gedichten solle nicht ‚gelehrt‘, sondern ‚dargestellt‘ werden. So vielfältig die Sprecherinstanzen und ihre Redehaltungen in den Lehrgedichten Schillers mithin gestaltet sind, heben sie sich doch so gut wie alle deutlich von den Sprecherfiguren ab, die für die Lehrgedichte Hallers, Hagedorns und anderer aufklärerischer Lehrdichter charakteristisch oder konstitutiv waren: von Sprecherfiguren, die ausdrücklich belehren oder jedenfalls über bestimmte Themen räsonieren wollen und die ihre Positionen begründen und gegen

121 So etwa Klaus L. Berghahn, „Der Deutschen liebstes Lied [zu: Friedrich Schiller, Das Lied von der Glocke], in: Oellers (Hrsg.), Gedichte von Friedrich Schiller, S. 268–281, hier S. 273; Alt, Schiller. Leben – Werk – Zeit. Bd. 2, S. 301. Im 19. Jahrhundert vertrat Götzinger die Ansicht, dass in allen Teilen des Gedichts „immer der Meister spricht“ (Götzinger, Deutsche Dichter. II. Theil. 5. Aufl. 1870, S. 327). 122 Auf die Distanz des Sprechers zu dem von ihm geschilderten Leben der Gemeinschaft wird überzeugend hingewiesen bei Kevin Hilliard, „The Poet“, in: Paul E. Kerry (Hrsg.), Friedrich Schiller. Playwright, Poet, Philosopher, Historian, Bern [u. a.] 2007, S. 59–94, hier S. 90 f. 123 Explizit mahnende und verurteilende Äußerungen finden sich nur in jenem Abschnitt, der eine gewaltsame revolutionäre Erhebung beschreibt. 124 Vgl. auch Leonard Forster, „A Cool Fresh Look at Schiller’s Das Lied von der Glocke“, in: Publications of the English Goethe Society, 42/1975, S. 90–115, hier S. 102: „The reflective passages contain not only reflexion but also description.“ 125 Wie der Sprecher über weite Strecken nicht als argumentierende oder ermahnende Instanz auftritt, so zeigt er sich auch nicht einmal für die inhaltliche Disposition seiner Ausführungen verantwortlich: Diese Betrachtungen folgen vielmehr, so die Suggestion des Gedichts, den Arbeitsphasen des Glockenbaus und präsentieren sich als etwas wie allegorische Auslegungen dieser Arbeitsvorgänge. Vgl. zu diesen Beziehungen zwischen den zwei Strängen des Gedichts: Berghahn, „Der Deutschen liebstes Lied“, S. 273–275; Alt, Schiller. Leben – Werk – Zeit. Bd. 2, S. 302 f.

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konträre Positionen verteidigen. Insofern kann man mit einer gewissen Zuspitzung sagen, dass die Gedichte Lehren ohne Lehrer bieten. Dieser Zug der Schiller’schen Lehrgedichte und philosophischen Gedichte erscheint als eines der wichtigsten formalen Distinktionsmerkmale, durch die sich diese Gedichte vom älteren Lehrgedicht abgrenzen. Zu dieser Abgrenzung in formaler Hinsicht tragen gewiss auch andere Züge bei, vielleicht auch solche, die man unter dem Begriff ‚Lyrisierung‘ verbuchen mag;126 aber dieser Rede vom lyrischen oder lyrisierten Charakter der Gedichte ist zunächst einmal recht unscharf, und die damit bezeichneten Eigenschaften dürften weniger klar greifbar sein als die spezifische Gestaltung der Sprecherinstanzen. Neben diesem formalen Grundzug haben die Analysen auch inhaltliche Ähnlichkeiten zwischen den Lehrgedichten Schillers herausgearbeitet, um Vermutungen darüber zu entwickeln, welchen Zwecken diese Gattung für ihn diente. Betrachtet man diese übergreifenden inhaltlichen Eigenschaften und Funktionen der Gedichte, so fallen im Verhältnis zu früheren Lehrgedichten des 18. Jahrhunderts eher Kontinuitäten als entschiedene Umorientierungen auf. Ein inhaltlicher Zug, der eine Reihe von Lehrgedichten Schillers miteinander verbindet, besteht in der Darstellung oder Evokation von umfassenden Ganzheiten. Die Elegie beziehungsweise Der Spaziergang sucht den gesamten Verlauf der Zivilisationsgeschichte zu vergegenwärtigen, wie es – in einer anderen strukturellen Rahmung und mit einer anderen Einschätzung des Geschichtsverlaufs – auch schon Die Künstler getan hatte. In Das Reich der Schatten wird, wie es der spätere Titel Das Ideal und das Leben deutlich macht, das menschliche Leben als Ganzes evozieren und zu der Sphäre des Ideals in Beziehung setzen. Besonders deutlich ist das Streben nach der Repräsentation einer Totalität im Lied von der Glocke ausgeprägt, in dem die menschlichen Lebensstationen von Kindheit bis Tod, die Bestimmungen von Mann und Frau und die sozialen Zustände von Ordnung und Chaos an typischen Figuren und Vorgängen exemplifiziert, mit dem Glockenbau parallelisiert und so auch äußerlich zu einer Ganzheit verbunden werden.127 Vergleichbare Bemühungen, das menschliche Leben, die Geschichte oder die Natur

126 Vgl. Weimar, „[Art.] Gedankenlyrik“, S. 668: „Gedichte, die man früher als Gedankenlyrik bezeichnet hat (z. B. Schillers ‚Das Ideal und das Leben‘), gelten heute als ‚lyrisierte‘ [. . .] Varianten der Lehrdichtung.“ 127 Vgl. zu diesem Totalitätsanspruch als einer Gemeinsamkeit des Lieds von der Glocke und des Spaziergangs etwa Götzinger, Deutsche Dichter. II. Theil. 5. Aufl. 1870, S. 324. Peter-André Alt hat als Ähnlichkeit zwischen den zwei Gedichten hervorgehoben, dass sie „eine Verbindung zwischen Naturbeschreibung und anthropologisch-historischer Skizze“ anstreben (Alt, Schiller. Leben – Werk – Zeit, 2. Bd. , S. 285 f., Zitat S. 285). Vgl. zum Lied von der Glocke auch Rousseau, „Über Wesen und Form der didaktischen Poesie, mit Beziehung auf Schiller’s Glocke“, S. 11 f.

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als eine geordnete Ganzheit zu repräsentieren, kennzeichnen nicht nur die um 1800 entstandenen Lehrgedichte Erasmus Darwins und Jacques Delilles, sondern auch viele Lehrgedichte des 18. Jahrhunderts: Blackmores Creation ebenso wie Popes Essay on Man, Hallers Ueber den Ursprung des Uebels oder Creuz’ Lucrezische Gedanken und seinen Versuch vom Menschen. Ohne dass die großen, unübersehbaren Unterschiede in der Art und Weise der Umsetzung geleugnet oder für irrelevant erklärt werden sollen, gilt es doch, auch die Ähnlichkeit zwischen den grundlegenden Zielsetzungen zu berücksichtigen. Eine weitere zentrale Funktion der Lehrgedichte Schillers, die sie ebenfalls mit älteren Lehrgedichten verbindet, besteht in der Behauptung von Normen, Werten und Idealen sowie im Vorführen einer verehrungsvollen Haltung ihnen gegenüber. Schon im frühen Gedicht Resignation verkündet ein „Genius“ in apodiktischen Formulierungen, welcher Wert verschiedenen Lebenswegen zukommt; hier verbindet sich die Setzung ethischer Grundregeln allerdings vor allem mit der polemischen Desavouierung einer bestimmten Tugendvorstellung, während der Ausdruck von Ehrfurcht oder Verehrung kaum eine Rolle spielt. In Das Reich der Schatten hingegen tritt diese letztere Dimension ganz in den Vordergrund: Der gedankliche Gehalt vieler Strophen ist im Einzelnen nicht leicht zu dechiffrieren, aber der Gestus der sehnsuchtsvollen Beschwörung, mit der das „zephyrleichte Leben“ der „Seligen“ und die Möglichkeit eines gottähnlichen Lebens auf Erden evoziert werden, bringt sich durchgehend zur Geltung, bis die emphatischen Schilderungen der Götter und der gottähnlichen Menschen schließlich in die Apotheose des Herakles münden. In der Elegie wendet sich der Sprecher am Ende dankbar und ehrfürchtig an die ewige, ‚fromme‘ Natur, und im Lied von der Glocke feiern die Sprecher die bürgerlichen Tugenden von Fleiß und Pflichtbewusstsein sowie die „[h]eil’ge Ordnung, segenreiche | Himmelstochter“, die auch das „teuerste der Bande | Wob, den Trieb zum Vaterlande“, aber auch den Wert der Eintracht sowie schließlich den Frieden. In Der Tanz macht der Sprecher das angeredete Du nicht nur auf das im Tanz sichtbare „stille[] Gesetz“ aufmerksam, dem „des Wohllauts mächtige Gottheit“ zur Herrschaft verhilft: Er fordert den Angeredeten auch eindringlich auf, sich von diesem „Wohllaut der großen Natur“ „ergreif[en]“ und begeistern zu lassen und somit eine ähnliche Haltung einzunehmen, wie er selbst sie in seiner Schilderung des Tanzgeschehens zum Ausdruck brachte.

2.2 Johann Wolfgang Goethe: Naturlehre und Naturverehrung Während Schillers theoretische und dichterische Auseinandersetzung mit dem Lehrgedicht in der Forschung nur sporadisch zum Thema gemacht worden ist,

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hat man Goethes Werk häufiger und expliziter unter diesem Gesichtspunkt betrachtet. Einen konzisen Überblick über die „[d]idaktische Dichtung“ bei Goethe bietet Hans-Wolf Jäger in einem Artikel für das Goethe-Handbuch.128 Jäger führt zunächst aus, dass „[n]ach den Grundsätzen der Poetik und der Literaturkritik zwischen Aufklärung und Biedermeier [. . .] reiche Gedichtgruppen G[oethes] ohne Zwang der didaktischen Poesie zurechenbar [wären], entgegen dessen eigenem Verständnis der späten Jahre.“129 Jäger nennt als solche Gedichtgruppen im Folgenden einige an Personen gerichtete Episteln, vor allem aber die zahlreichen Epigramme Goethes sowie seine im Alter verfassten Sprüche, mit denen er „die alte Lehrform des Apophthegmas“ erneuert habe.130 Als Gedichte, mit denen Goethe an die Tradition des eigentlichen Lehrgedichts anschloss, werden Die Metamorphose der Pflanzen und Metamorphose der Tiere angeführt. Jäger verweist auch auf nicht realisierte Lehrgedichtspläne Goethes, so insbesondere auf das um 1800 gefasste Vorhaben eines großen Naturgedichts nach dem Vorbild des Lukrez. Als „später Ersatz“ für dieses Naturgedicht sei „sicherlich“ die von Goethe 1827 in der Ausgabe letzter Hand eingerichtete Rubrik Gott und Welt gedacht gewesen.131 Schließlich behandelt Jäger auch Goethes einzige längere theoretische Äußerung über das Lehrgedicht, den 1827 veröffentlichten Aufsatz Ueber das Lehrgedicht. Ergänzend könnte man darauf hinweisen, dass Goethe schon vor den Metamorphose-Gedichten und vor der Italienreise einige Gedichte verfasste, bei denen argumentiert werden könnte, dass sie Strukturen des Lehrgedichts aufgreifen und sich produktiv anverwandeln. Zu diesen Gedichten gehören vor allem zwei Gedichte, die gelegentlich als ‚weltanschauliche Gedichte‘ bezeichnet oder der ‚Gedankenlyrik‘ zugerechnet werden, nämlich Grenzen der Menschheit und Das Göttliche.132 Sie könnten in die Tradition der sogenannten Lehrode gestellt werden, einer Variante des Lehrgedichts, zu deren prominentesten Exemplaren einige Gedichte von Johann Peter Uz gehören.133 Aber auch an Goethes Gedicht Ilmenau wäre hier zu denken, auf dessen didaktische Züge man indirekt durch die Bezeichnung als „Fürstenspiegel[]“ hingewiesen hat.134

128 Vgl. Hans-Wolf Jäger, „Didaktische Dichtung“, in: GHB, Bd. 4/1, S. 203–206. 129 Ebd., S. 204. 130 Vgl. ebd. (dort auch das Zitat). 131 Ebd., S. 205. 132 Vgl. Martin Bollacher, „Gott/Götter/Göttliches“, in: GHB, Bd. 4/1, S. 438–443, hier S. 442; Terence James Reed, „Grenzen der Menschheit“, in: GHB, Bd. 1, S. 198–202, hier S. 200 f. 133 Zur Lehrode und zu Gedichten von Uz als Repräsentanten dieser Gattung vgl. Siegrist, Das Lehrgedicht der Aufklärung, S. 31–34. 134 Keller, „‚Die antwortenden Gegenbilder‘“, S. 207.

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Dennoch ist der Ansicht Jägers zuzustimmen, dass die ersten Gedichte, mit denen Goethe unverkennbar an die Gattungstradition des Lehrgedichts anschloss, die Gedichte über die Metamorphose der Pflanzen und über die Metamorphose der Tiere waren (sofern man mit der Mehrheit der Forscher annimmt, dass das letztere Gedicht schon Ende der 1790er Jahre entstand). Da Goethe auch später noch Lehrgedichte mit naturwissenschaftlichem Inhalt verfasste, wird ein Schwerpunkt der folgenden Untersuchung auf diesen Gedichten liegen. Daneben sollen andere Texte und Textgruppen analysiert werden, die auch bei Jäger angeführt werden, nämlich der Aufsatz Ueber das Lehrgedicht, der vor allem auf sein Verhältnis zu Goethes Praxis des Lehrgedichts zu befragen ist, sowie die Gedichtgruppe Gott und Welt. Ferner wendet sich die Untersuchung im Anschluss an die naturwissenschaftlichen Gedichte dem Zyklus Urworte. Orphisch zu, den Goethe später in die Rubrik Gott und Welt aufnahm und dort an zentraler Stelle platzierte. Die leitenden Fragen der folgenden Analysen sind oben bereits formuliert worden: Sie zielen zum einen auf die von Goethe vorgenommenen Modifikationen des Gattungsmusters, zum anderen auf die Funktionen, die seine Lehrgedichte erfüllen sollten. 2.2.1 Naturwissenschaftliche Lehrgedichte Dass Goethe um die Mitte der 1790er Jahre ein verstärktes Interesse an der Gattung des Lehrgedichts entwickelte und schließlich den Plan eines umfassenden Naturgedichts entwarf, wurde vermutlich durch mehrere Anregungen begünstigt.135 Sein Freund Karl Ludwig von Knebel arbeitete seit dem Anfang des Jahrzehnts an einer Übersetzung des lukrezischen De rerum natura in deutsche Hexameter.136 Goethe verfolgte dieses Unternehmen von Beginn an mit Interesse und wurde von Knebel auch in metrischen Fragen beraten.137 Anfang 1798 lernte er Erasmus Darwins The Economy of Vegetation, den ersten Teil des zweiteiligen Lehrgedichts The Botanic Garden, kennen und teilte Schiller seine – fast durchgehend ungünstigen – Eindrücke von dem Werk mit.138 Es ist

135 Vgl. zum Folgenden auch Richter, „Wissenschaft und Poesie ‚auf höherer Stelle‘ vereint“. 136 Vgl. dazu H. B. Nisbet, „Karl Ludwig von Knebel’s Hexameter Translation of Lucretius“, in: German Life and Letters, 41/1987/1988, 4, S. 413–425. Zu dem (mutmaßlichen) Beginn der Arbeit Knebels vgl. ebd., S. 414. 137 Vgl. ebd., S. 417; Karl Bapp, „Goethe und Lukrez“, in: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft, 12/1926, S. 47–67, hier v. a. S. 47–51. 138 Vgl. Johann Wolfgang Goethe an Friedrich Schiller, Brief vom 26./27.1.1798, in: FA II, 4, S. 485–489; zu Darwins Gedicht ebd., S. 486–488.

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denkbar, dass die Begegnung mit Darwins Gedicht, das ihm als ein Beispiel für eine verfehlte Art der poetischen Belehrung erschien, Goethe mit zu dem Gedicht Die Metamorphose der Pflanzen anregte, an dem er einige Monate später zu arbeiten begann. Auch der Hymnus an Flora des dänischen Dichters Friedrich Carl Emil von der Lühe, der im Gegensatz zu Darwins Gedicht Goethes Beifall erhielt, ist als eine mögliche Inspirationsquelle des Gedichts über die Pflanzenmetamorphose genannt worden.139 Neben solchen einzelnen Erfahrungen dürfte relevant sein, dass Goethe seit der Italienreise seine naturwissenschaftlichen Forschungen intensiviert hatte und bestrebt war, eine Verbindung zwischen der Naturforschung und Dichtung oder Kunst allgemein herzustellen oder, genauer: die ihm zufolge existierende Verbindung auch in poetischer Form zu demonstrieren.140 Seinen in den späten 1790er Jahren entwickelten Plan, ein großes Naturgedicht nach dem Vorbild des Lukrez zu verfassen, gab Goethe wohl schon kurz nach 1800 wieder auf.141 Sein Hexameter-Gedicht Metamorphose der Tiere entstand wahrscheinlich Ende der 1790er und dürfte zunächst als ein Teil des umfassenden Naturgedichts konzipiert worden sein.142 Dass er von dem Plan eines solchen am lukrezischen Vorbild orientierten Gedichts Abstand nahm, bedeutete aber nicht, dass ihm die Bearbeitung naturwissenschaftlicher Themen in Versform grundsätzlich suspekt geworden wäre. Dies zeigen etwa die 1820 erstmals veröffentlichten Gedichte über die Wolkenlehre Luke Howards, aber auch diverse Gedichte, die in engem inhaltlichen Zusammenhang mit seiner Farbenlehre stehen, so etwa Entoptische Farben. An Julien. In den meisten dieser Gedichte werden naturwissenschaftliche Beobachtungen, Vermutungen oder Theorien dargeboten, die Goethe auch in Aufsätzen

139 Vgl. Jäger, „Didaktische Dichtung“, S. 205. 140 Vgl. hierzu Richter, „Wissenschaft und Poesie ‚auf höherer Stelle‘ vereint“. 141 Vgl. dazu Nisbet, „Lucretius in Eighteenth-Century Germany“, S. 106; Margarethe Plath, „Der Goethe-Schellingsche Plan eines philosophischen Naturgedichts. Eine Studie zu Goethe’s ‚Gott und Welt‘“, in: Preußische Jahrbücher, 106/1901, S. 44–74, vor allem S. 44, 47. 142 So etwa Mihaela Zaharia, „Gedichte zur Morphologie“, in: Manfred Wenzel (Hrsg.), Goethe-Handbuch. Supplemente, Bd. 2: Naturwissenschaften, Stuttgart/Weimar 2012, S. 418–420, hier S. 419; John Neubauer, „ΑΘΡΟΙΣΜΟΣ – Metamorphose der Tiere“, in: Gerhard Sauder (Hrsg.), Goethe-Gedichte. Zweiunddreißig Interpretationen, München [u. a.] 1996, S. 181–188, hier S. 181; Reiner Wild, Goethes klassische Lyrik, Stuttgart/Weimar 1999, S. 167 f. Auch Nisbet scheint zu dieser Vermutung zu neigen: Nisbet, „Lucretius in Eighteenth-Century Germany“, S. 106 f. Die Argumente für eine Entstehung um 1798/99 sowie für eine Herkunft aus der Arbeit an dem „nie vollendeten größeren Lehrepos“ resümiert auch Maike Arz, „Metamorphose der Tiere“, in: GHB, Bd. 1, S. 458–463, hier S. 459.

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oder Abhandlungen niederschrieb und veröffentlichte.143 Die zentrale Frage, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung an diese Gedichte zu stellen ist, ist die nach der Art der Wissensvermittlung oder Wissensbearbeitung, die sie für Goethe leisten sollten. Damit geht das folgende Kapitel für ein begrenztes, generisch definiertes Textkorpus einer Frage nach, die in der Goetheforschung seit langem diskutiert wird, der Frage nach dem Verhältnis von Naturwissenschaft und Dichtung bei Goethe. Den Stand der Diskussion fasste Monika Fick in einem Forschungsbericht über Goethes Naturbegriff wie folgt zusammen: Daß Naturforschung und Dichtung bei Goethe in einer engen Wechselbeziehung, ja, Wechselwirkung stehen, gehört zu den Gemeinplätzen der Goethephilologie. Zur Debatte steht die Frage, wie dieser Wechselbezug präzise zu fassen und für die Analyse des poetischen Werks fruchtbar zu machen ist.144

Die folgenden Analysen der naturwissenschaftlichen Lehrgedichte Goethes wollen nun aber nicht diese Gedichte als repräsentatives Beispiel für den Kontakt, vielleicht auch die „Wechselbeziehung“ zwischen Naturwissenschaft und Dichtung überhaupt bei Goethe betrachten. Sie sind vielmehr von der Vermutung geleitet, dass diese Beziehung sich bei Goethe in verschiedenen literarischen Gattungen unterschiedlich gestaltete: dass also etwa die (vorläufig gesprochen) poetische ‚Verarbeitung‘ der morphologischen Theorien in den Metamorphose-Gedichten eine andere Funktion erfüllt haben könnte als die Auseinandersetzung mit der Chemie in Die Wahlverwandtschaften. Diese Vermutung wird sich in gewissem Maße erhärten lassen, auch wenn sie nicht durch einen eingehenderen Vergleich mit der Rolle der Naturwissenschaften etwa in dem genannten Roman oder in Faust II gestützt werden kann. Goethe selbst hat sich an verschiedenen Stellen darüber geäußert, welche Funktionen die Darbietung von naturwissenschaftlichen Beobachtungen und Gedanken in Gedichtform erfüllen könnte. Über sein Gedicht Die Metamorphose der Pflanzen schrieb er später, er habe damit bei seiner Geliebten und bei Freundinnen um Verständnis für sein Interesse an der Botanik werben wollen.145 Als er 1820 seinen Aufsatz über Luke Howards Klassifikation der Wolkenformen (Wolkengestalt nach Howard) in der Zeitschrift Zur Naturwis-

143 Eine Ausnahme in dieser Hinsicht sind die Gedichte zu Howards Wolkenlehre, in denen Goethe die Theorie eines anderen Forschers zum Vorwurf nahm. 144 Monika Fick, „Goethes Naturbegriff. Neuere Publikationen“, in: Philosophische Rundschau, 48/2001, S. 49–68, hier S. 63. 145 Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Schicksal der Druckschrift (1817), in: FA I, 24, S. 418–425.

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senschaft überhaupt veröffentlichte,146 druckte er im Anschluss daran die erste Fassung des Gedicht Howards Ehrengedächtnis ab und begründete dies so: Und nun, da man von jeher die Poesie als wohlgeschickt zu summarischen Darstellungen gehalten, so folge noch zum Ehrengedächtnis unsers Meisters die Grundlehre, damit sie sich immer mehr verbreite, in wohlmeinende Reime verfaßt.147

Gedichte eignen sich demnach für eine konzentrierte Zusammenfassung von Ergebnissen der Naturforschung. Schließlich deutete er aber auch an, die Dichtung könnte eine ‚Dimension‘ der Naturvorgänge, die der Erfahrung nicht direkt zugänglich und in Begriffen nicht fassbar sei, umschreiben oder evozieren. In dem Aufsatz Bedenken und Ergebung (1820) etwa erläutert er die „Schwierigkeit [sic] Idee und Erfahrung mit einander zu verbinden“.148 In der Idee sei „Simultanes und Sukzessives innigst verbunden, auf dem Standpunkt der Erfahrung hingegen immer getrennt“, und so bleibe der „Widerstreit zwischen Aufgefaßtem und Ideiertem [. . .] immerfort unaufgelöst“.149 An diese Feststellung schließt er den Satz an: „Deshalb wir uns denn billig zu einiger Befriedigung in die Sphäre der Dichtkunst flüchten und ein altes Liedchen mit einiger Abwechselung erneuern: [. . .].“150 Es folgt das Gedicht „So schauet mit bescheidnem Blick“, das Goethe später mit der Überschrift Antepirrhema in die Gruppe Gott und Welt aufgenommen hat. Goethe spricht hier der „Sphäre der Dichtkunst“ eine Fähigkeit zu, die die wissenschaftliche Sprache nicht besitzt, behauptet aber nicht, in der Dichtkunst sei der Widerstreit zwischen Erfahrung und Idee gelöst oder könne die Idee selbst zur Darstellung gebracht werden. Die bescheidene Formulierung „zu einiger Befriedigung“ lässt auch die Deutung zu, dass das Gedicht mit seiner bildlichen Sprache etwas wie ein sinnliches Analogon zu der Idee vor Augen stellen kann. In der Forschung hat man noch weitere Leistungen genannt, welche die naturwissenschaftlichen Gedichte Goethes erfüllten. Einer Sichtweise zufolge übersetzen die Gedichte die wissenschaftlichen Theorien in sinnliche Anschauung und machen Konzepte der Naturforschung zu Formprinzipien der Poesie.151 Dieser Deutung steht die Auffassung nahe, dass die naturwissenschaftlichen

146 Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Wolkengestalt nach Howard, in: LA I, 8, S. 73–93. 147 Ebd., S. 92. 148 Johann Wolfgang Goethe, Bedenken und Ergebung (1820), in: FA I, 24, S. 449 f. 149 Goethe, Bedenken und Ergebung (1820), in: FA I, 24, S. 449. 150 Ebd., S. 450. 151 Vgl. Keller, „‚Die antwortenden Gegenbilder‘“, S. 194.

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Lehrgedichte die Verbindungen zwischen Naturwissenschaft und Kunst demonstrieren sollen.152 Schließlich hat man die Leistung der Gedichte darin gesehen, dass sie eine Ganzheit der Natur evozieren, in die auch der Mensch selbst eingeordnet ist.153 Damit sind eine Reihe recht unterschiedlicher Aufgaben benannt, die die poetische Verarbeitung naturwissenschaftlicher Theorien in Lehrgedichten erfüllen könnte. Untersucht man nun einige der bedeutendsten Lehrgedichte Goethes unter diesem Gesichtspunkt, so kann man zwischen ihnen auffällige Gemeinsamkeiten in der Art und Weise feststellen, wie sie mit den naturwissenschaftlichen Inhalten umgehen, und diese gemeinsamen Züge lassen sich einigen der eben referierten Funktionsbestimmungen zuordnen. Für andere Arten der Funktionalisierung hingegen gibt es kaum Beispiele. Im Folgenden soll zunächst das Gedicht Metamorphose der Tiere eingehender analysiert werden, da es in vielen Hinsichten repräsentativ für den Umgang mit naturwissenschaftlichen Theorien in Goethes Lehrgedichten ist. Diese Einschätzung werden die weiteren Abschnitte zu untermauern versuchen, indem sie ähnliche Züge in anderen Lehrgedichten herausstellen: zum einen in dem etwa zur selben Zeit entstandenen Gedicht Die Metamorphose der Pflanzen, zum anderen in den deutlich später verfassten Texten Howard’s Ehrengedächtnis und Entoptische Farben. An Julien.154 Dabei soll auch gezeigt werden, dass die späteren Gedichte sich von den in der Zeit der Klassik entstandenen zwar stilistisch deutlich unterscheiden, dass diese Veränderungen aber nicht mit einer grundlegend veränderten Funktionalisierung des Lehrgedichts einhergehen. 2.2.1.1 Metamorphose der Tiere als repräsentatives Gedicht Das Gedicht Metamorphose der Tiere155 entstand wahrscheinlich Ende der 1790er Jahre. Veröffentlicht wurde es erstmals 1820 in einem Heft der Reihe Zur Morphologie, in der Goethe seine großenteils schon vor längerer Zeit entstandenen Studien zur Morphologie der Pflanzen und Tiere der Öffentlichkeit

152 Vgl. Richter, „Wissenschaft und Poesie ‚auf höherer Stelle‘ vereint“. 153 Vgl. Gertrud Overbeck, „Goethes Lehre von der Metamorphose der Pflanzen und ihre Widerspiegelung in seiner Dichtung“, in: Publications of the English Goethe Society, 31/1961, S. 38–59, hier S. 54 f. 154 Vgl. FA I, 2, S. 503 f. (Howard’s Ehrengedächtnis), 505 f. (Entoptische Farben. An Julien). 155 Das Gedicht wird hier zitiert nach: FA I, 2, S. 498–500. Zitate werden mit Angabe der Verszahl im Haupttext nachgewiesen. Die folgende Analyse entspricht weitgehend einem Abschnitt meines Aufsatzes „Transformationen des wissenschaftlichen Lehrgedichts um 1800“, hier S. 53–59.

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vorstellte.156 Das Gedicht trug hier noch den Titel „ΑΘΡΟΙΣΜΟΣ“. Mit diesem griechischen Ausdruck, der so viel wie ‚Versammlung, Anhäufung‘ bedeutet, wollte Goethe das Gedicht vielleicht als eine komprimierte Zusammenfassung jener Überlegungen ausweisen, die der direkt vor dem Gedicht abgedruckte „Erste[] Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie“ entwickelte.157 Als er einige Jahre die Vollständige Ausgabe letzter Hand seiner Werke zusammenstellte, nahm Goethe das Gedicht in die im dritten Band enthaltene Rubrik „Gott und Welt“158 auf und änderte seinen Titel. Die Absicht dabei war offensichtlich, die inhaltliche Nähe zu dem Gedicht Die Metamorphose der Pflanzen hervorzuheben, das in der Rubrik neben Metamorphose der Tiere platziert war.159 Das Gedicht Metamorphose der Tiere umfasst 61 Verse in Hexametern und kann in inhaltlicher Hinsicht in drei Abschnitte untergliedert werden. Der erste Abschnitt beginnt unvermittelt mit der Anrede einer Sprecherinstanz an nicht genauer bezeichnete Adressaten: „Wagt ihr, also bereitet, die letzte Stufe zu steigen | Dieses Gipfels, so reicht mir die Hand und öffnet den freien | Blick ins weite Feld der Natur.“ (1–3) In den folgenden Versen charakterisiert der Sprecher in allgemeiner Weise das Verhältnis zwischen der „Göttin“ (4) Natur und ihren „Kinder[n]“ (10). Der zweite und längste Gedichtabschnitt (12–49) greift unter den Lebewesen im „weite[n] Feld der Natur“ die Tiere heraus; hier lässt Goethe den Sprecher in stark verknappter Form einige Grundgedanken seiner Studien zur vergleichenden Tieranatomie formulieren. In einer seiner einschlägigen Abhandlungen wies Goethe die im 18. Jahrhundert verbreitete teleologische Sichtweise zurück, nach der die verschiedenen Lebewesen bestimmte Funktionen innerhalb der Gesamtheit der Schöpfung zu erfüllen hätten; entsprechend heißt es im Gedicht: „Zweck sein selbst ist jegliches Tier [. . .].“ (12)160 Die folgenden Verse erklären, dass den verschiedenen Gestalten der

156 Das Gedicht wird in dieser ursprünglichen Form und in seinem ursprünglichen Kontext abgedruckt in: FA I, 24, S. 472–474. 157 Vgl. Goethe, „Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie“, in: FA I, 24, S. 227–281. Auf das Gedicht folgte in diesem Heft ein weiterer Aufsatz zur Tieranatomie: Goethe, „Dem Menschen wie den Tieren ist ein Zwischenknochen der obern Kinnlade zuzuschreiben“; vgl. ebd., S. 16–24 und 475. Zum ursprünglichen Gedichttitel „ΑΘΡΟΙΣΜΟΣ“: Dorothea Kuhn, die Herausgeberin des einschlägigen Bandes der Frankfurter Ausgabe, nimmt an, dass das Wort hier „im Sinn einer Vergewisserung oder Summa“ zu verstehen sei (FA I, 24, S. 1084). 158 Die Gedichtgruppe ist abgedruckt in: FA I, 2, S. 489–512. 159 Vgl. Neubauer, „ΑΘΡΟΙΣΜΟΣ – Metamorphose der Tiere“, S. 183. 160 Zu Goethes Zurückweisung dieser teleologischen Denkweise vgl. H. B. Nisbet, Goethe and the Scientific Tradition, London 1972, S. 58–61. Nisbet weist hier auch darauf hin, dass sich

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Tiere eine gemeinsame Urform, ein Typus, zugrunde liege, eine Annahme, die Goethe in seinen wissenschaftlichen Studien für die Wirbeltiere zu konkretisieren versuchte:161 „Alle Glieder bilden sich aus nach ew’gen Gesetzen | Und die seltenste Form bewahrt im Geheimen das Urbild.“ (14–15) Zwar suche im Innern der Lebewesen ein „Geist“ (33) mit seiner „Willkür“ den „Kreis“ (34) dieses Typus zu durchbrechen: „doch was er beginnt, beginnt er vergebens.“ (35) Diese Versicherung leitet zu Versen über, die das sogenannte Etatprinzip oder Kompensationsprinzip der anatomischen Studien Goethes formulieren.162 Diesem Prinzip zufolge besitzt der „Bildungstrieb“ für die Ausgestaltung jedes Organismus nur einen begrenzten „Etat[]“;163 wenn er also einen Teil, etwa die Extremitäten, besonders aufwändig gestaltet, muss er bei einem anderen Teil sparen und kann ihn nur in rudimentärer Form ausbilden.164 Der dritte Gedichtabschnitt schließlich fasst zunächst die im mittleren Abschnitt dargelegten Gesetzmäßigkeiten zusammen in der Wendung: „Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür | Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung, | Vorzug und Mangel [. . .]“. Dieser „schöne Begriff“, so heißt es im Folgenden, habe auch Gültigkeit für verschiedene Bereiche des menschlichen Lebens und sei sogar der ‚höchste Begriff‘, den Künstler, sittliche Denker, tätige Menschen und Herrscher erwerben könnten. Hugh Barr Nisbet hat die These vertreten, das Gedicht Metamorphose der Tiere weise über das Metrum des Hexameters und die naturwissenschaftliche Thematik hinaus zahlreiche enge Bezüge zum Gedicht des Lukrez auf:165 Die einleitenden Verse über die Natur als Mutter und Göttin, so Nisbet, bilden ein Äquivalent zu der Apostrophe an Venus im Eingang von De rerum natura, und

ähnliche kritische Abgrenzungen von der teleologischen Naturbetrachtung, die etwa Christian Wolff vertreten habe, auch bei Charles Bonnet und bei Herder finden und dass sie zumindest bei Bonnet auf den Einfluss Leibniz’ zurückzugehen scheinen (vgl. ebd., S. 58 f.; zu Wolff kurz auf S. 60). Daher erscheint Neubauers Behauptung problematisch, der zufolge Goethes Sprecher im Gedicht, wenn er „den Lebewesen Selbstzweck zu[schreibt]“, „damit ästhetische Ideen von Kant und Karl Philipp Moritz auf die Natur [überträgt].“ (Neubauer, „ΑΘΡΟΙΣΜΟΣ – Metamorphose der Tiere“, S. 186) 161 Vgl. Goethe, „Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie“, in: FA I, 24, S. 227–281. Zu Goethes Aufstellung eines osteologischen Typus für die Wirbeltiere vgl. Margrit Wyder, Goethes Naturmodell. Die Scala Naturae und ihre Transformationen, Köln [u. a.] 1998, S. 229–233. 162 Vgl. Nisbet, „Lucretius in Eighteenth-Century Germany“, S. 108; Neubauer, „ΑΘΡΟΙΣΜΟΣ – Metamorphose der Tiere“, S. 184. 163 Goethe, „Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie“, in: FA I, 24, S. 233. 164 Vgl. ebd., S. 233–235. 165 Vgl., auch zum Folgenden: Nisbet, „Lucretius in Eighteenth-Century Germany“, S. 107 f.

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in den zweiten Gedichtteil habe Goethe aus seinen tieranatomischen Arbeiten solche Gedanken aufgenommen, zu denen sich verwandte Positionen bei Lukrez finden,166 während eine seiner wichtigsten zoologischen Theorien, die ‚Wirbeltheorie des Schädels‘, die bei Lukrez kein Pendant habe, unerwähnt bleibe. Außerdem verwende Goethe, wo er in dem Gedicht das Kompensationsprinzip formuliert, keine der ökonomischen Metaphern, die er in diesem Zusammenhang sonst vorzugsweise gebraucht. Kurz: Sprache und gedankliche Substanz des Gedichts seien zumindest bis Vers 49 „eminently Lucretian.“167 Aber trotz dieser Affinitäten, so Nisbet, gibt es weitreichende Differenzen zwischen den Gedichten: „Where Lucretius is expansive and discursive, Goethe is selective and concentrated.“168 Die selektive und konzentrierte Darbietung der wissenschaftlichen Theorien, so wäre zu ergänzen, verbindet sich in dem Gedicht mit einer formalen Gestaltung, die wesentlich darauf angelegt zu sein scheint, seine Kohärenz und die Unterordnung seiner Teile unter eine Gesamtordnung hervorzuheben. So enthält der Text auffällig viele Konnektoren wie „so“, „also“, „denn“ und „doch“, die immer wieder die Verbindungen zwischen aufeinander folgenden Sätzen betonen; allein die Konjunktion „denn“ taucht in den 61 Versen des Gedichts an sechs Stellen auf (6, 23, 32, 36, 44, 48).169 Einem Streben nach Geschlossenheit kann man es auch zuschreiben, dass das Gedicht, obwohl seine Thematik dies nahelegen würde, keine Beschreibungen von Tiergestalten enthält. So wird etwa das Etatprinzip nicht durch eine Reihe von Tieren, sondern nur knapp durch eine einzige Art, den Löwen, exemplifiziert: Siehst du also dem einen Geschöpf besonderen Vorzug Irgend gegönnt, so frage nur gleich: wo leidet es etwa Mangel anderswo? und suche mit forschendem Geiste; Finden wirst du sogleich zu aller Bildung den Schlüssel. Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den obern Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirne getragen, Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter Ganz unmöglich zu bilden, und böte sie alle Gewalt auf; Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne Völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben.

[40–49]

166 Nisbet verweist etwa für Goethes Kritik an einer teleologischen Naturauffassung und für den Gedanken, dass die Glieder eines Lebewesens sich stets in Harmonie miteinander befinden, auf ähnliche Aussagen bei Lukrez (vgl. ebd., S. 107 f.). 167 Ebd., S. 108. 168 Ebd., S. 209. 169 Das Wort „so“ findet sich in den Versen 15, 22, 27 und 44; „[d]och“ in 29, 32 und 35; „[a]lso“ in 25 und 40.

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In einem Entwurf des Gedichts werden auch noch Schlange, Frosch und Kröte als Beispiele für das Etatprinzip angeführt, und Gestalt und Bewegungsart der Schlange werden über mehr als zehn Verse beschrieben: Laß uns furchtlos die Schlange beschauen es dränget im Grase Sich ihr Haupt am feinen Halse durch bebende Halme Hell ist ihr Blick beweglich die Zunge sie wandelt es schwancken Von des vielgeringleten [?] Leibes entwickelter Regung Lange Reihen von Blumen und Kräutern und täuschen das Auge Ungemessen bildete sich die Länge des Thieres Schlanck Denn an Gliedern sparte sie das an Händen und Füßen …………….. [unleserliche Zeile] Also sind die Lacerten verkürzte Schlangen es konnte Jenen Aufwand der Länge zu kurzen Füßen verwenden Gab sie längere Füße dem Frosch sie mußte den Körper Kürzer bilden und so tritt die breitere Kröte Unbeholfen einher auf kurzen dicken Gestellen Wende von diesen zweydeutigen Thieren die forschenden Blicke [. . .]170

Das veröffentlichte Gedicht beschränkt sich auf das Exempel des Löwen, lässt sich aber nicht auf eine eigentliche Beschreibung ein, sondern kehrt sogleich – in fast redundanter Weise – zu der allgemeinen Aussage über „Zähne“ und „Hörner“ zurück, die das Beispiel stützen soll (V. 44–45 und 48–49). Dass Goethe die Beispiele von Schlange, Frosch und Kröte strich und schließlich nur noch den Löwen erwähnte, mag auch durch das Bestreben motiviert gewesen sein, den gehobenen, ernsten und feierlichen Ton nicht zu stören, der das Gedicht durchgehend prägt und der ebenfalls zum Eindruck von Einheit und Geschlossenheit beiträgt. Dieser Ton wird schon in den ersten Versen etabliert: Er verdankt sich hier dem leicht archaisierenden Partizip „also bereitet“ (im Sinne von ‚auf diese Weise vorbereitet‘) und der Rede vom ‚Wagnis‘ und einer „letzte[n] Stufe“, die den folgenden „Blick ins weite Feld der Natur“ (3) unter das Zeichen des Ernstes und der Gefahr stellt, ohne dass klar wäre, worin die Gefahr besteht. Die eben skizzierten Mittel zur Erzeugung von Kohärenz und Geschlossenheit kann man als Versuche deuten, das für die Weimarer Klassik zentrale Ideal einer Autonomie der Kunst171 in sinnfälliger Weise umzusetzen und das Gedicht als

170 Der Entwurf ist abgedruckt in: WA I, 53, S. 549–552; die Passage über Schlange, Frosch und Kröte ebd., S. 551 f. 171 Vgl. hierzu etwa Sauder, „Ästhetische Autonomie als Norm der Weimarer Klassik“.

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unabhängig und selbstständig erscheinen zu lassen – als ein Werk, das „Zweck sein selbst“ ist. Doch trotz der großen formalen Geschlossenheit kann man dem Gedicht in einer Hinsicht nur bedingt Autonomie bescheinigen: Einige seiner zentralen Aussagen bestehen aus wissenschaftlichen Thesen Goethes oder stützen sich auf sie, aber diese Thesen werden nur so knapp umrissen, dass der Leser anhand des Gedichts allein kaum ihren Gehalt ganz erfassen, vor allem aber nicht ihre empirische Begründung nachvollziehen konnte, die Goethe zufolge ja durchaus vorlag. Insofern ist das Gedicht auf jene wissenschaftlichen Studien angewiesen, in deren direkter Nachbarschaft es zuerst publiziert wurde, von denen es sich in späteren Ausgaben aber löste. Die starke Reduktion der expositorischen Teile des Gedichts führt somit einerseits dazu, dass es gewissermaßen von den wissenschaftlichen Abhandlungen abhängig bleibt, kann aber andererseits auch als Indiz dafür gedeutet werden, dass Goethe dem Gedicht eine Funktion zuzuweisen suchte, die sich möglichst klar von derjenigen der Abhandlungen unterschied. Was das Gedicht anstelle der breiten und anschaulichen Wiedergabe wissenschaftlicher Theorien übernimmt, ist zweierlei. Erstens präsentiert es die Grundgedanken von Goethes anatomischen Studien in einer feierlichen und antike Vorbilder wie Lukrez evozierenden Sprache und verleiht diesen Gedanken so eine gesteigerte Dignität. Zweitens zeigt das Gedicht die Beziehungen auf, die zwischen den beschriebenen Phänomenen der außermenschlichen Natur und dem Bereich des menschlichen Lebens bestehen; diese Beziehungen begründen wesentlich jene Wichtigkeit und Würde der Gedanken zur Tieranatomie, die die Sprache des Gedichts unterstreicht. Um diese Aspekte des Gedichts deutlicher werden zu lassen, sei der dritte Abschnitt vollständig zitiert: Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung, Vorzug und Mangel, erfreue dich hoch; die heilige Muse Bringt harmonisch ihn dir, mit sanftem Zwange belehrend. Keinen höhern Begriff erringt der sittliche Denker, Keinen der tätige Mann, der dichtende Künstler; der Herrscher, Der verdient es zu sein, erfreut nur durch ihn sich der Krone. Freue dich, höchstes Geschöpf, der Natur, du fühlest dich fähig Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang, Nachzudenken. Hier stehe nun still und wende die Blicke Rückwärts, prüfe, vergleiche, und nimm vom Munde der Muse Daß du schauest, nicht schwärmst, die liebliche volle Gewißheit.

[50–61]

Diese Verse behaupten emphatisch einen Zusammenhang zwischen den Bereichen des künstlerischen Schaffens, der menschlichen Tätigkeit im Allgemeinen, des politischen Herrschens und des Nachdenkens über Fragen der Sittlichkeit, einen

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Zusammenhang, der sich in der übergreifenden Relevanz des in den ersten drei Versen benannten „Begriff[s]“ (50) offenbart. Dieser Begriff wird als „schön[]“ (50) und als der höchste erreichbare Begriff gepriesen (vgl. 54); dazu passt es, dass er auf „harmonisch[e]“ Weise und „mit sanftem Zwange“ durch eine „heilige Muse“ vermittelt wird (52 f.). Die angemessene Haltung gegenüber diesem Begriff oder gegenüber den mit ihm erfassten Naturerscheinungen ist ‚Freude‘ (vgl. 52, 57). So nachdrücklich allerdings einerseits die Schönheit und Verehrungswürdigkeit dieser übergreifenden „Ordnung“ beschworen werden, so unklar bleibt andererseits, worauf der behauptete Zusammenhang zwischen den Wirklichkeitsbereichen beruht, was also die metaphysische Grundlage dieser Analogien bildet. Undeutlich bleibt aber auch, wie sich „Willkür“ und „Freiheit“, „Gesetz“ und „Maß“ im Bereich der politischen Machtausübung, des sittlichen Handelns oder des künstlerischen Schaffens konkret manifestieren. Angesichts des mutmaßlichen Entstehungsdatums des Gedichts ist es etwa nicht ausgeschlossen, dass die Rede vom „Herrscher“ und seiner „Krone“ auch eine Anspielung auf die Französische Revolution enthält. Doch aus den betreffenden Versen lässt sich kaum eine Aussage darüber ableiten, ob und inwiefern Ludwig XVI. den „schöne[n] Begriff von Macht und Schranken, von Willkür | Und Gesetz“ zu achten versäumt hat. Zieht man andere Werke Goethes hinzu, so kann man zu diesen zwei offenen Fragen präzise Antworten plausibel machen. Das Gedicht aber soll für Goethe offenbar nicht oder kaum solche Begründungen und Konkretisierungen bieten, sondern vor allem die Existenz der übergreifenden Ordnung behaupten und die angemessene Haltung ihr gegenüber demonstrieren.

2.2.1.2 Beziehungen zwischen Mensch und außermenschlicher Natur Im Schlussteil des Gedichts Metamorphose der Tiere weist der Sprecher, wie gesehen, darauf hin, dass der am Körperbau der Tiere beobachtete „schöne Begriff von Macht und Schranken“ auch in verschiedenen Bereichen des menschlichen Lebens zu entdecken sei. Solche Ähnlichkeiten zwischen der außermenschlichen Natur und dem Menschen werden auch in allen anderen hier berücksichtigten naturwissenschaftlichen Gedichten Goethes hervorgehoben. Es lässt sich kaum ein anderer inhaltlicher oder formaler Grundzug ausmachen, der in diesen Gedichten mit derselben Konstanz wiederkehrt. Worin sich die Gedichte in dieser Hinsicht unterscheiden, ist die Art und Weise, wie die Analogien hergestellt oder auch nur angedeutet werden. In der Elegie Die Metamorphose der Pflanzen folgt ähnlich wie in Metamorphose der Tiere auf den der außermenschlichen Natur gewidmeten Mittelteil ein Schlussabschnitt, der den Blick auf den menschlichen Bereich lenkt. Auch im

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Pflanzengedicht172 sagt der Sprecher explizit, worauf die Ähnlichkeit zwischen den verschiedenen Bereichen beruht, aber seine Formulierungen sind etwas allgemeiner als die entsprechenden Ausdrücke im Tiergedicht: Es sind „der Göttin heilige Lettern“ (67), die im Pflanzenwachstum wie bei Tieren und bei Menschen zu entdecken seien, und diese ‚heiligen Lettern‘ scheinen gleichbedeutend zu sein mit „ew’gen Gesetze[n]“ (65). Die Ähnlichkeiten werden vom Sprecher im Folgenden vor allem dadurch angedeutet, dass er Vorgänge des menschlichen Lebens mit Metaphern aus der Botanik beschreibt. Diese Annäherung der menschlichen an die außermenschlichen Phänomene ist im Mittelteil bereits durch die anthropomorphisierende Schilderung des Pflanzenwachstums vorbereitet worden. Schließlich gibt es zwei zentrale Begriffe, die der Sprecher – in verschiedenen Abwandlungen – sowohl auf die Pflanzen wie die Menschen anwendet: ‚Gestalt‘ (36, 44, 70, 75) und ‚Bildung‘ oder ‚bilden‘ (33, 38, 70). Die Analogien zwischen Pflanzen und Menschen, die so hergestellt werden, sind etwas weniger abstrakt als die in Metamorphose der Tiere behauptete Gemeinsamkeit zwischen den Gesetzen der Tieranatomie und jenen des menschlichen Lebens. Eine Analogie besteht darin, dass Menschen wie Pflanzen aus eigener Kraft ihre Gestalt ändern und bilden können, aber dabei keine unbegrenzte Freiheit haben.173 Weit ausführlicher als diese Analogie zwischen Pflanzenwachstum und menschlichem Bildungsprozess wird die zwischen dem Pflanzenwachstum und der Liebe zwischen Menschen ausgestaltet. Die Ähnlichkeit ergibt sich dadurch, dass auch die Liebe allmählich aus dem ‚Keim‘ einer holden Bekanntschaft heraus entsteht, dass an ihrem Wachstum äußere Einflüsse mitwirken und dass sie ihre ‚Krönung‘ schließlich in Blüte und Frucht findet. Auch Goethes Gedichte zur Wolkenlehre Luke Howards174 stellen Bezüge zwischen den außermenschlichen Naturerscheinungen, hier also den Wolkenformen,

172 Vgl. FA I, 2, S. 495–498. 173 Über die Pflanzen wird dies in den Versen 23 bis 34 gesagt; über die Menschen heißt es in Vers 70: „Bildsam ändre der Mensch selbst die bestimmte Gestalt.“ 174 Goethe veröffentlichte zunächst 1820 die Gedichte oder Gedichtteile „Stratus“, „Kumulus“, „Cirrus“ und „Nimbus“ in der Zeitschrift Zur Naturwissenschaft überhaupt, wo sie den Schluss des Aufsatzes Wolkengestalt nach Howard bildeten. Für den Abdruck in einer englischen Zeitschrift fügte er die Verse 1 bis 22 („Wenn Gottheit Camarupa“ bis „Erinnre dankbar deiner sich die Welt“) und einen kurzen Prosakommentar mit dem Titel Goethe zu Howards Ehren hinzu. Diese Texte veröffentlichte er dann 1822 wieder in der Zeitschrift Zur Naturwissenschaft überhaupt, wobei er sie noch um die Gedichte Atmosphäre und Wohl zu merken (zunächst ohne Überschriften) ergänzte. Vgl. zur Veröffentlichungsgeschichte Hugh B[arr] Nisbet, „Howard’s Ehrengedächtnis“, in: GHB, Bd. 1, S. 463–466, hier S. 463. Zu den Gedichten im Zusammenhang mit Goethes meteorologischen Studien vgl. Mark Sommerhalder, „Pulsschlag

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und dem Bereich des Menschen her.175 Das Gedicht Howard’s Ehrengedächtnis widmet vier der von Howard unterschiedenen Wolkenformen je eine Strophe. Jede Wolkenform wird zu menschlichen Eigenschaften, Erfahrungen oder Einstellungen in Beziehung gesetzt. So heißt es über die Cumulus-Wolke, dass sie entstehe, wenn „zu höhrer Atmosphäre | Der tüchtige Gehalt berufen wäre“. In der Strophe über die Cirrus-Wolke ist von dem „edle[n] Drang“ und von „Erlösung“ die Rede,176 und die Schilderung der Nimbus-Wolke bezieht sich auf „[d]er Erde tätigleidendes Geschick“ und auf das Verhältnis von „Rede“ und „Geist“. Es liegt nahe, diese Züge der Gedichte als Artikulation von Grundgedanken der Goethe’schen Naturauffassung zu deuten, wie sie in der Forschung mehrfach analysiert und historisch verortet worden sind. Goethe hat sich immer wieder zu der Überzeugung bekannt, dass die Natur einschließlich des Menschen eine Einheit sei, die eine göttliche Schöpfungskraft enthalte und von durchgehenden Gesetzen bestimmt werde.177 Diese Einheit konzipierte er meist nach dem traditionsreichen Muster einer Stufenleiter der Wesen, ohne allerdings dieses Modell streng systematisch auszuarbeiten.178 Um die Verbindungen zwischen den Bereichen der Natur und damit ihre Einheit aufzuzeigen, war es für Goethe wie für andere Denker seiner Zeit erforderlich, nach Analogien zu suchen.179 Goethe stellte denn auch in seinen wissenschaftlichen Schriften immer wieder solche Analogiebeziehungen her, warnte aber auch wiederholt vor

der Erde!“ Die Meteorologie in Goethes Naturwissenschaft und Dichtung, Bern [u. a.] 1993, S. 279–314. 175 Darauf weisen übereinstimmend mehrere Interpreten hin, wobei sie diese Analogien unterschiedlich konkret formulieren. Vgl. Nisbet, „Howard’s Ehrengedächtnis“, S. 464 f.; Keller, „‚Die antwortenden Gegenbilder‘“, S. 220–222; Albrecht Schöne, „Über Goethes Wolkenlehre“, in: Ders., Vom Betreten des Rasens. Siebzehn Reden über Literatur. Hrsg. von Ulrich Joost, Jürgen Stenzel, Ernst-Peter Wieckenberg. München 2005, S. 132–163, hier S. 140; Sommerhalder, „Pulsschlag der Erde!“, S. 297–302. 176 Vgl. dazu auch Keller, „‚Die antwortenden Gegenbilder‘“, S. 220–222. Dort heißt es über die Cirrus-Strophe unter anderem: „Wieder wird die Natur ethisch, ja sogar religiös prädikatisiert. Den neutralen Fachterminus des ‚Aufgleitens‘ der Wolkensubstanz setzt Goethe in den sakralen Begriff der Erlösung um. [. . .] Die Natur ist es, die das ‚antwortende Gegenbild‘ bereithält für den inneren Vorgang, den die Mystiker unablässig zu verbildlichen suchten: für die Vergeistigung, für den transzendierenden Geist wie für die Vereinigung mit Gott.“ (Ebd., S. 222) 177 Vgl. dazu und zum Folgenden: Nisbet, Goethe and the Scientific Tradition, S. 6–12. 178 Goethe setzte damit eine Konzeption der Natur voraus, die stark durch neuplatonische Lehren und ihre Adaption bei Leibniz, Herder und Bonnet geprägt war. Vgl. dazu knapp, aber präzise: Nisbet, Goethe and the Scientific Tradition, S. 6–12. Ausführlich zu Goethes Aneignung des traditionellen Modell seiner Stufenordnung der Natur: Wyder, Goethes Naturmodell. 179 Vgl. Nisbet, Goethe and the Scientific Tradition, S. 15–17.

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übereilten oder willkürlichen Analogien180 und vor einer Überschätzung ihrer Aussagekraft: Analogien können, so erklärte er gelegentlich, nichts erklären oder beweisen, sondern nur Andeutungen geben und an das grundsätzliche Ziel eines Nachweises der Einheit der Natur erinnern.181 Goethe skizzierte, wie erwähnt, auch in wissenschaftlichen Publikationen immer wieder Analogien zwischen menschlichem Leben und außermenschlicher Natur.182 Dennoch kann man die Darbietung solcher Analogien als eine der spezifischen Funktionen betrachten, die Goethe seinen naturwissenschaftlichen Lehrgedichten zuwies, denn in den Gedichten erhalten diese Bezüge weit mehr Raum als in den Abhandlungen.183 Zudem äußert sich Goethe in den wissenschaftlichen

180 Vgl. zu diesen verschiedenen Facetten der Haltung Goethes zu Analogien im Bereich der Naturforschung: ebd., S. 17; Uwe Pörksen, „Goethes Kritik naturwissenschaftlicher Metaphorik und der Roman ‚Die Wahlverwandtschaften‘“, in: JBDSG, 25/1981, S. 285–315, vor allem S. 286–300. Eines der methodischen Prinzipien Goethes verlangt vom Forscher, die Gegenstände zunächst nur ‚im Bezug auf sich selbst‘ zu betrachten und erst danach analogische Verbindungen zu anderen Naturbereichen herzustellen. Vgl. dazu Holger Helbig, „Der ‚Bezug auf sich selbst‘. Zu den erkenntnistheoretischen Implikationen von Goethes Naturbegriff“, in: Goethe-Jahrbuch, 124/2007, S. 48–59, vor allem S. 54 f., 58. 181 Nisbet, Goethe and the Scientific Tradition, S. 17. 182 Als ein (fast beliebig herausgegriffenes) Beispiel kann etwa der bekannte Satz aus dem Vorwort der Farbenlehre dienen, nach dem die Farben „Taten des Lichts, Taten und Leiden“ seien. Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Zur Farbenlehre, in: FA I, 23/1, S. 12 („Vorwort“). 183 Die Beobachtung, dass die Evokation einer einheitlichen Naturordnung eine der spezifischen Funktionen der naturwissenschaftlichen Lehrgedichte Goethes ist, findet sich auch schon in einem Aufsatz Overbecks, die diesen Befund allerdings mit einigen problematischen Deutungen verbindet: „Das, was sich an Goethes Naturbetrachtung in wissenschaftlicher Prosa nicht darstellen lässt und was erst in dichterischer Sprache zu Wort kommen kann, ist sein Glaube an einen letzten ganzheitlichen Zusammenhang aller Erscheinungen. Goethe formuliert ihn einmal in seinem Aufsatz Der Versuch als Vermittler zwischen Subjekt und Objekt: [. . .]. Aber er ist sich zugleich der Unmöglichkeit bewusst, diesen letzten Zusammenhang aus dem irrationalen Bereich des Glaubens in den des greifbar wirklichen Wissens zu überführen. [. . .] Der Raum der Dichtung ist es nun, wo Goethe der ahnenden Gewissheit um die innere Verbundenheit aller Erscheinungen Ausdruck verleihen kann, wo er einer Bestätigung durch Forschung und Analyse nicht bedarf. Hier kann er über die Grenzen der realen Erscheinungen hinausgreifen und die grossen Synthesen herstellen, die seinem ganzheitlichen Bild der Welt entsprechen.“ (Overbeck, „Goethes Lehre von der Metamorphose der Pflanzen“, S. 54 f.) Es ist fraglich, ob Goethe mit der Bezeichnung des Bereichs des Glaubens als ‚irrational‘ einverstanden gewesen wäre. Zudem vermischt Overbeck in unklarer Weise zwei Gründe dafür, dass Goethe seinen Glauben an einen letzten Zusammenhang vorzugsweise in Gedichten und kaum einmal in Prosa ausgedrückt habe: Ein Grund sei, dass der Zusammenhang nur in Poesie, nicht in Prosa darstellbar gewesen sei, ein anderer, dass Goethe in Gedichten nicht wie in wissenschaftlichen Texten einem Begründungszwang ausgesetzt war. Mit Blick auf die erste dieser Begründungen ist kritisch anzumerken, dass Goethe sich durchaus auch in Prosatexten

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Schriften nicht nur knapper, sondern auch tendenziell zurückhaltender als in den Gedichten über solche Analogien. In den Gedichten hingegen werden häufig sehr weitreichende Analogien ohne irgendwelche Vorbehalte behauptet – so etwa besonders explizit in den Schlusspartien der Metamorphose-Gedichte. Aber auch wenn die Gedichte emphatisch darauf hinweisen, dass es diese Bezüge zwischen menschlichem Leben einerseits, Pflanzen, Tieren und Wolken andererseits gibt, suchen sie diese nur in geringem Maße zu konkretisieren. Obwohl etwa die umfassende Naturordnung, die anhand dieser Ähnlichkeiten evoziert wird, als eine Ordnung mit ethischen Implikationen gekennzeichnet wird, werden diese Implikationen nicht eigentlich ausbuchstabiert. Die Aufgabe der betreffenden Gedichtteile scheint für Goethe nicht in der Entfaltung solcher konkreten Folgerungen zu liegen, sondern in der Affirmation der umfassenden Ordnung als solcher sowie in der Vorführung angemessener Haltungen ihr gegenüber. 2.2.1.3 Darstellung der schönen und göttlichen Züge der Natur „Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür | Und Gesetz [. . .] erfreue dich hoch!“ So heißt es im Schlussabschnitt des Gedichts Metamorphose der Tiere, und wenige Verse später wiederholt der Sprecher emphatisch die Aufforderung zur Freude: „Freue dich, höchstes Geschöpf, der Natur!“ Dieser „schöne Begriff“ wird von der „heilige[n] Muse“ überbracht, und er fasst Erscheinungen zusammen, die dem Wirken der „Göttin“ Natur zu verdanken sind. In vergleichbarer Weise werden auch in den anderen naturwissenschaftlichen Lehrgedichten Goethes – zusammen mit den Analogien zwischen Mensch und außermenschlicher Natur – vielfach ausdrücklich schöne, erfreuliche, göttliche oder heilige Züge der Naturerscheinungen hervorgehoben. Auch dort wird als angemessene Haltung gegenüber diesen Erscheinungen eine Haltung der Freude, des Staunens oder auch der Ehrfurcht evoziert. So zeigt das Gedicht über die Pflanzenmetamorphose das Wachstum der Pflanze durchgehend als einen in ästhetischer wie moralischer Hinsicht erfreulichen Vorgang. Die Erde, der Samen und die Natur werden nicht nur anthropomorphisiert, ihr Handeln und ihr Umgang miteinander werden auch als von Wohlwollen und Vertrauen getragen charakterisiert: Die Erde entlässt den Samen „hold“ (12) in das Leben und „empfiehlt“ (14) den Bau der Blätter dem Licht; der Kern ‚vertraut sich‘ beim Emporstreben „milder Feuchte“ (19); die Natur lenkt die Bildung der Blätter „sanft in das Vollkommnere hin“ (34). Die Gestalt, die die Blätter und die Pflanze insgesamt schließlich erlangen, wird

über die Einheit der Natur geäußert und auch dort Analogien zwischen verschiedenen Naturbereichen aufgestellt hat.

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mehrfach als eine vollendete, vollkommene, herrliche bezeichnet. Am Zustandekommen dieser Vollkommenheit sind göttliche, heilige Instanzen beteiligt: das ‚heilige Licht‘ (13), „die göttliche Hand“ (50), eine „Göttin“ (67).184 Die Haltung, die der Wachstumsvorgang und sein Ergebnis in der angesprochenen Betrachterin hervorrufen, ist eine des Staunens: „Und so erreicht es zuerst die höchst bestimmte Vollendung, | Die bei manchem Geschlecht dich zum Erstaunen bewegt.“ (29 f.) „Immer staunst du auf’s Neue, sobald sich am Stengel die Blume | Über dem schlanken Gerüst wechselnder Blätter bewegt.“ (47 f.) Dieses Staunen dürfte der Sprecher damit auch als die angemessene Haltung gegenüber dem geschilderten Naturgeschehen präsentieren. Das Gedicht Howard’s Ehrengedächtnis ist auf einen weniger feierlichen Ton gestimmt als die Metamorphose-Gedichte, aber auch hier werden die sich wandelnden Wolkenformen ausdrücklich als Erscheinungen präsentiert, die Staunen hervorrufen („Da staunen wir und traun dem Auge kaum“, 6), den Betrachter ‚erquicken‘ und ‚erfreuen‘ und die im Künstler den Wunsch wecken, sie zu ‚fühlen‘, zu ‚fassen‘ und zu ‚bilden‘.185 Auch hier begegnet in der Charakterisierung der Naturerscheinungen ein religiöses Vokabular („Erlösung“, 40; „Dem Vater oben“, 44). Der Sprecher des Gedichts Entoptische Farben. An Julien schließlich fordert die angesprochene Julie dazu auf, sich an den ‚allerschönsten‘, ‚herrlichsten‘ Farbenspielen zu freuen. Wie die Hervorhebung von Analogien zwischen Mensch und außermenschlicher Natur, so lassen sich auch diese wiederkehrenden Züge der Gedichte in Goethes Auffassungen von Natur und Naturforschung einordnen, wie er sie in anderen Texten dargelegt hat. An der Annahme, dass in der Natur ein göttliches Wesen walte, hat Goethe von der Zeit seines Frühwerks an bis in seine letzten Lebensjahre festgehalten, auch wenn seine Deutung dieses göttlichen Wesens verschiedenen Wandlungen unterworfen war.186 Spätestens seit seiner

184 Siegrist meint in seiner Interpretation des Gedichts, die Wendung „göttliche Hand“ sei „ebenso metaphorisch zu verstehen wie die ‚Göttin‘ Natur: nicht auf die Erschaffung durch einen biblischen Schöpfergott wird die dynamische Naturentwicklung zurückgeführt, sondern diese wird als unendlicher, sich selbst reproduzierender und sich weiter entwickelnder universaler Metamorphosenprozeß verstanden“ (Christoph Siegrist, „Die Metamorphose der Pflanzen“, in: Sauder [Hrsg.], Goethe-Gedichte, S. 171–177, hier S. 175 f.). Auf einen „biblischen Schöpfergott“ dürften die Ausdrücke im Gedicht zwar tatsächlich nicht verweisen, aber daraus folgt nicht, dass sie „metaphorisch“ verstanden werden müssten. Die Möglichkeit, dass hier ein anderer Gottesbegriff als der biblische im Hintergrund stehen könnte, wird von Siegrist offenbar nicht in Erwägung gezogen. 185 Vgl. auch Sommerhalder, „Pulsschlag der Erde!“, S. 292, 295 f. 186 Zu den religiösen Aspekten des Goethe’schen Naturverständnisses vgl. Alfred Schmidt, „Natur“, in: GHB, Bd. 4/2, S. 755–776. Zu Goethes religiösen Ansichten vgl. zunächst die

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ersten Beschäftigung mit Spinoza war für Goethe das göttliche Wirken in der Natur eng mit ihren Gesetzmäßigkeiten verknüpft. Es liegt daher nahe, die in den Gedichten verwendeten religiösen Vokabeln wie ‚Göttin‘ oder ‚heilig‘ als Ausdruck dieser Aspekte des Goethe’schen Natur- und Gottesverständnisses zu deuten und sie nicht als ihres religiösen Gehalts entledigte Mittel der Emphatisierung zu verstehen. Da Goethe auch in anderen Texten, einschließlich seiner wissenschaftlichen Abhandlungen, seiner Überzeugung vom in der Natur waltenden Göttlichen Ausdruck verliehen hat, stellt sich wiederum die Frage, inwiefern er seine Lehrgedichte in dieser Hinsicht für spezifische Zwecke nutzt. Zunächst wäre – ähnlich wie mit Blick auf die Analogien zwischen Mensch und außermenschlicher Natur – festzuhalten, dass die Evokationen des Göttlichen in der Natur in den Lehrgedichten zahlreicher und prominenter begegnen als in den Abhandlungen. Das heißt allerdings nicht, dass die Annahmen über dieses Göttliche in den Gedichten genauer entfaltet und präzisiert würden. Ob etwa diese Gottesvorstellung als eine pantheistische zu verstehen ist, lässt sich allein anhand dieser Gedichte kaum klären, denn die göttlichen Züge der Natur werden dort kaum einmal zum Gegenstand von Behauptungen gemacht, sondern eher durch einzelne Vokabeln ‚aufgerufen‘. Die spezifische Leistung der Lehrgedichte mit Bezug auf dieses Thema dürfte am ehesten darin zu sehen sein, dass sie verschiedene menschliche Haltungen gegenüber dem Göttlichen sprachlich artikulieren. Goethes Interesse an solchen Haltungen bezeugt sich unter anderem in seinen Äußerungen über das Staunen gegenüber der Natur und Gott oder in den Überlegungen zum Begriff der Ehrfurcht, die er in seinem Spätwerk

instruktiven Überblicksartikel: Bollacher, „Gott/Götter/Göttliches“; Hans-Jürgen Schings, „Religion/Religiosität“, in: GHB, Bd. 4/2, S. 892–898. Vgl. ferner Wolfgang Frühwald, „Goethe und das Christentum. Anmerkungen zu einem ambivalenten Verhältnis“, in: Goethe-Jahrbuch, 130/2013, S. 43–50; Terence James Reed, „Der säkulare Goethe und seine Religion“, in: ebd., S. 59–64; Ernst Feil, Religio. Vierter Band: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 614–642. Die genannten Arbeiten befassen sich mit Goethes religiösen Überzeugungen in einer vorwiegend historisch rekonstruierenden Perspektive. Für eine umfassende theologische Untersuchung mit einem systematischen Interesse vgl. Peter Hofmann, Goethes Theologie, Paderborn [u. a.] 2001. Diese Studie ist zwar aufgrund ihres Materialreichtums hilfreich, in ihren Deutungen aber vielfach nur bedingt überzeugend, da sie dazu tendiert, alle Teile des Goethe’schen Werks zu Manifestationen seiner theologischen Überzeugungen zu homogenisieren. Vgl. dazu die kritischen Bemerkungen bei Friedrich Niewöhner, „Du aber bist mystisch rein. Lob der Bienenpolizei: Eine Studie über Goethe und die Religion“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.12.2002, Nr. 295, S. 34 (Feuilleton).

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entwickelt hat.187 Die naturwissenschaftlichen Lehrgedichte gestalten nun ein kleines Spektrum von Einstellungen, die meist durch einen Anteil an Ehrfurcht oder Verehrung definiert sind, diesen aber vielfältig abwandeln: In Die Metamorphose der Pflanzen verbindet sich das ehrfürchtige Staunen mit Ansätzen einer hymnischen Begeisterung, die sich der Liebesthematik verdankt, in Metamorphose der Tiere eher mit feierlichem Ernst. Die Sprecher in Howard’s Ehrengedächtnis und Entoptische Farben. An Julien hingegen nehmen zwar auch eine respektvoll verehrende Haltung gegenüber der Naturordnung und ihrem göttlichen Grund ein, begegnen ihren Erscheinungen aber zugleich mit einer leicht spielerischen und humorvollen Einstellung. 2.2.1.4 Suggestivität statt Anschaulichkeit Goethe hat vielfach die Auffassung vertreten, dass es in der Naturforschung zunächst und vor allem auf eine sorgfältige Beobachtung der Gegenstände ankomme. Daher könnte man vermuten, dass er sich in seinen Gedichten mit naturwissenschaftlichen Inhalten besonders bemühte, die Naturerscheinungen in ihrer konkreten Besonderheit möglichst anschaulich darzustellen. So hat denn auch Werner Keller geschrieben: „Goethes Lehrgedichte konzentrieren sich auf die Natur – und auf die Darstellung von Begriff und Gesetz in einer vollkommen sinnlichen Anschauung.“188 Im Folgenden soll diese Ansicht kritisch in Frage gestellt, soll also ansatzweise plausibel gemacht werden, dass es Goethe in seinen naturwissenschaftlichen Lehrgedichten nicht um eine möglichst anschauliche Darstellung der Naturgegenstände ging. Die Ausführungen stehen dabei unter einem gewissen Vorbehalt: Der Begriff der Anschaulichkeit weist eine kaum tilgbare subjektive Komponente auf, die das Begründen von Urteilen über die Anschaulichkeit oder Unanschaulichkeit von Naturdarstellungen schwierig macht. Um den Begriff handhabbar zu machen, setze ich im Folgenden voraus, dass eine Darstellung von Naturgegenständen als anschaulich gelten kann, wenn sie besonders viele sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften der Gegenstände benennt, die sich zu einem kohärenten Bild zusammenfügen. Unter Goethes einschlägigen Gedichten scheint an erster Stelle die Elegie Die Metamorphose der Pflanzen eine Bewertung als besonders anschaulich beanspruchen zu dürfen, denn sie bietet immerhin über 54 Verse eine Schilderung des Pflanzenwachstums. Karl Richter hat über dieses Gedicht bemerkt, die

187 Vgl. dazu: Schings, „Religion/Religiosität“, S. 896 f.; Hofmann, Goethes Theologie, S. 384–394. 188 Keller, „‚Die antwortenden Gegenbilder‘“, S. 194.

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von Goethe oft betonte „Bindung des Erkennens an die sinnliche Anschauung [werde] in dem Gedicht [. . .] um vieles deutlicher bewußt gemacht“ als in den wissenschaftlichen Schriften:189 [. . .] [D]ie zeigende und prozessuale Vergegenwärtigung des pflanzlichen Werdens in der Sprache der Verse gibt dem Typus der Pflanze noch immer eine Sinnlichkeit, eine Anschaulichkeit und Gegenwärtigkeit, die er in der wissenschaftlichen Abhandlung so nicht erlangt.190

Es lohnt sich, diese Verse daraufhin zu untersuchen, wie viel „sinnliche Anschauung“ oder „Anschaulichkeit“ sie tatsächlich bieten. Die Schilderung des Pflanzenwachstums erzeugt den Eindruck großer Konkretheit, vor allem durch Vokabeln wie „Samen“ (15), „Blatt“ (17, 26), „Wurzel“ (17), „Kern“ (18), „Knoten“ (24), „Rippe des Stiels“ (38), „Stengel“ (47). Zudem verwendet Goethe Adjektive wie ‚gekerbt‘, ‚gerippt‘ und ‚gezackt‘ (vgl. 27, 31), die jeweils prägnant eine bestimmte Art der Formung bezeichnen; da sie zugleich einen eher prosaischen, für poetische Texte ungewöhnlich sachlichen Charakter haben, können sie den Eindruck hervorrufen, das Gedicht sei auf eine möglichst präzise Beschreibung der Pflanze hin angelegt. Doch hält man sich nicht an einzelne Ausdrücke, sondern betrachtet Abschnitte der Beschreibung im Ganzen, so ist es weit weniger offenkundig, dass diese Beschreibung auf möglichst große Anschaulichkeit zielt. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht ein Vergleich mit Goethes Abhandlung über die Pflanzenmetamorphose, der Richter ein geringeres Maß an „Anschaulichkeit“ und „Gegenwärtigkeit“ attestiert. Gut vergleichen lassen sich die Partien von Gedicht und Abhandlung, die die Wachstumsphasen zwischen dem Erscheinen der Samenblätter und dem Übergang zum Blütenstande schildern und dabei vor allem die sich ändernde Gestalt der Blätter, die den aufeinander folgenden Knoten entspringen, deutlich zu machen suchen. Der entscheidende Passus in der Abhandlung lautet: § 20 Doch breitet sich die fernere Ausbildung unaufhaltsam von Knoten zu Knoten durch das Blatt aus, indem sich die mittlere Rippe desselben verlängert und die von ihr entspringenden Nebenrippen sich mehr oder weniger nach den Seiten ausstrecken. Diese verschiedenen Verhältnisse der Rippen gegeneinander sind die vornehmste Ursache der mannichfaltigen Blattgestalten. Die Blätter erscheinen nunmehr eingekerbt, tief eingeschnitten, aus mehreren Blättchen zusammengesetzt, in welchem letzten Falle sie uns vollkommene kleine Zweige vorbilden. Von einer solchen sukzessiven höchsten Vermannichfaltigung der einfachsten Blattgestalt gibt uns die Dattelpalme ein auffallendes

189 Richter, „Wissenschaft und Poesie ‚auf höherer Stelle‘ vereint“, S. 157. 190 Ebd., S. 158.

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IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800

Beispiel. In einer Folge von mehreren Blättern schiebt sich die Mittelrippe vor, das fächerartige einfache Blatt wird zerrissen, abgeteilt, und ein höchst zusammengesetztes, mit einem Zweige wetteiferndes Blatt wird entwickelt.191

Goethe stellt dem Leser hier zunächst die „mittlere Rippe“ des Blatts und „die von ihr entspringenden Nebenrippen“ vor Augen und entwirft so gewissermaßen einen Grundriss des Blatts. Zugleich benennt er mit konkreten Bewegungsverben die Hauptveränderung, die sich im Verlaufe des Pflanzenwachstums an diesem Grundriss vollzieht: Die mittlere Rippe „verlängert“ sich, während die Nebenrippen sich „mehr oder weniger nach den Seiten ausstrecken“. Auf die Beschreibung dieses Grundschemas folgt die Aufzählung verschiedener besonderer Blattformen, die sich im Zuge dieses Vorgangs bilden können. Bis hierher bezieht sich die Schilderung auf das Wachstum einjähriger Pflanzen ganz allgemein; als ein „auffallendes Beispiel“ für diesen typischen Prozess führt Goethe schließlich noch die Dattelpalme an. Auch hier verwendet er fast ausschließlich Verben und Adjektive, die Bewegungen oder räumliche Formen bezeichnen. Als grammatische Subjekte erscheinen in der Passage vor allem die „fernere Ausbildung“ der Pflanze, die „Rippe“/„Mittelrippe“, die „Nebenrippen“ und die „Blätter“. Die Pflanze und ihre eigenen Organe erscheinen also selbst als tätig, ihr Wachstum verdankt sich keinen von außen eingreifenden Instanzen. Die Schilderung derselben Wachstumsphase im Gedicht unterscheidet sich wesentlich von dieser Passage der Abhandlung, und die Unterschiede gestatten es kaum, dem Gedichtabschnitt größere Anschaulichkeit zuzusprechen: Gleich darauf ein folgender Trieb, sich erhebend, erneuet, Knoten auf Knoten getürmet, immer das erste Gebild. Zwar nicht immer das gleiche; denn mannichfaltig erzeugt sich, Ausgebildet, du siehst’s, immer das folgende Blatt, Ausgedehnter, gekerbter, getrennter in Spitzen und Teile, Die verwachsen vorher ruhten im untern Organ. Und so erreicht es zuerst die höchst bestimmte Vollendung, Die bei manchem Geschlecht dich zum Erstaunen bewegt. Viel gerippt und gezackt, auf mastig strotzender Fläche, Scheinet die Fülle des Triebs frei und unendlich zu sein.

[23–32]

Im Gedicht findet sich keine Entsprechung zu der in der Abhandlung verwendeten Unterscheidung von ‚mittlerer Rippe‘ und ‚Nebenrippen‘ des Blatts, so dass die Strukturierung der Blattfläche weniger deutlich wird. Zugleich tauchen in der Gedichtpassage mehr abstrakte Größen auf als in der Abhandlung: Ein

191 Johann Wolfgang Goethe, Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären, in: FA I, 24, S. 109–151, hier S. 115.

2 Vom Lehrgedicht zur philosophischen Lyrik

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Entwicklungsstand der Pflanzen wird als „die höchst bestimmte Vollendung“ bezeichnet“; was sich als „[v]iel gerippt und gezackt“ zeigt, ist nicht etwa nur das Blatt, sondern „die Fülle des Triebs“, die zudem „frei und unendlich zu sein“ scheine. Die Beschreibung im Gedicht entwirft somit kaum ein kohärentes, in allen Teilen bestimmtes Bild der Blätter, sondern isoliert und akzentuiert einige charakteristische wahrnehmbare Eigenschaften („gerippt und gezackt, auf mastig strotzender Fläche“), um sie mit Hinweisen auf die unsichtbaren Agentien ‚hinter‘ dem sichtbaren Vorgang („die Fülle des Triebs“) sowie auf die Wirkung des Naturvorgangs auf die Betrachterin („Die bei manchem Geschlecht dich zum Erstaunen bewegt“) zu verschränken. Eine ähnliche Differenz zeigt sich zwischen den Teilen der Abhandlung beziehungsweise des Gedichts, die dem Übergang zum Blütenstande selbst gewidmet sind. Hier fällt auf, dass in der Abhandlung die Beschreibung der sichtbaren Vorgänge klar getrennt wird von der Hypothese über die – nicht direkt sichtbaren – Prozesse und Mechanismen, die diesen Vorgängen zugrunde liegen: Die Beschreibung findet sich in Paragraph 29, die Erklärungshypothese wird in Paragraph 30 angedeutet, der Gedanken aus früheren Teilen (§§ 26 bis 28) aufgreift. Zu sehen ist laut Paragraph 29, dass im letzten Abschnitt des Stengels die Blätter wieder kleiner werden und die Knoten sich „feiner und schmächtiger“ ausbilden.192 Die Ursache hierfür, so Goethes Vermutung, besteht darin, dass die Säfte, die in die oberen Blätter eindringen, reiner und feiner sind als die in den unteren. Im Gedicht wird die Beschreibung der Veränderung von Stengel und Blättern mit der Offenlegung der Ursache, dem ‚mäßiger‘ fließenden „Saft“, in wenigen Versen zusammengedrängt: Doch hier hält die Natur, mit mächtigen Händen, die Bildung An und lenket sie sanft in das Vollkommnere hin. Mäßiger leitet sie nun den Saft, verengt die Gefäße, Und gleich zeigt die Gestalt zärtere Wirkungen an. Stille zieht sich der Trieb der strebenden Ränder zurücke, Und die Rippe des Stiels bildet sich völliger aus. Blattlos aber und schnell erhebt sich der zärtere Stengel, Und ein Wundergebild zieht den Betrachtenden an.

[33–40]

192 „§ 29 Den Übergang zum Blütenstande sehen wir schneller oder langsamer geschehen. In dem letzten Falle bemerken wir gewöhnlich, daß die Stengelblätter von ihrer Peripherie herein sich wieder anfangen zusammenzuziehen, besonders ihre mannichfaltigen äußern Einteilungen zu verlieren, sich dagegen an ihren untern Teilen, wo sie mit dem Stengel zusammenhängen, mehr oder weniger auszudehnen; in gleicher Zeit sehen wir wo nicht die Räume des Stengels von Knoten zu Knoten merklich verlängert, doch wenigstens denselben gegen seinen vorigen Zustand viel feiner und schmächtiger ausgebildet.“ (Ebd., S. 118.)

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IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800

Bemerkenswert ist hierbei auch, dass die angebotene Erklärung für die „zärtere“ Gestalt wiederum eine abstrakte Größe (die Natur“) als handelnde Instanz einführt und dass das Ziel dieser Wachstumsphase mit dem unanschaulichen Ausdruck „das Vollkommnere“ bezeichnet wird. Alle diese Eigenschaften der Gedichtpassage, insbesondere die Rekurse auf Abstrakta wie „die Natur“ sowie auf nicht direkt sichtbare Vorgänge im Inneren der Pflanze, verringern die Einheit und Geschlossenheit der Pflanzenbeschreibung und reduzieren damit auch ihre Anschaulichkeit (wenn der Begriff im oben erläuterten Sinne verwendet wird). Das soll selbstverständlich nicht heißen, dass diese Eigenschaften dysfunktional seien. Aber ihre Funktion kann kaum in einer Erhöhung der Anschaulichkeit bestehen, und so bieten sie Gründe für die Annahme, dass diese Qualität für Goethe nicht die oberste Priorität besaß. Worauf es ihm in dieser Darstellung des Pflanzenwachstums ankam, ließe sich eher als Suggestivität denn als Anschaulichkeit charakterisieren. Die Verse setzen einzelne anschauliche Eigenschaften der Pflanze in Beziehung zu abstrakten Größen wie ‚der Natur‘ oder der ‚Fülle des Triebs‘, die als die eigentlichen bewegenden Kräfte erscheinen, und sie ergänzen die Beschreibungen und Erklärungen der Vorgänge um emphatische Wertungen und um Schilderungen der angemessenen Reaktion (Erstaunen, Faszination). So wird der konkrete Vorgang des Pflanzenwachstums nur hinsichtlich isolierter Eigenschaften anschaulich beschrieben, dafür aber andeutungsweise in umfassendere, die gesamte Natur, den Menschen und das Göttliche einschließende Bezüge eingeordnet. Das Gedicht über die Metamorphose der Pflanzen ist, wie oben bemerkt, unter Goethes naturwissenschaftlichen Lehrgedichten dasjenige, das der Beschreibung einer Naturerscheinung den breitesten Raum gibt. Für die anderen Gedichte gilt in noch höherem Maße, dass das Streben nach einer möglichst anschaulichen Vergegenwärtigung der Naturphänomene als anderen Zielsetzungen nachgeordnet erscheint.

2.2.1.5 Veränderungen zwischen Klassik und Spätwerk Die obigen Ausführungen haben verschiedentlich knapp auf formale Unterschiede zwischen den um 1800 entstandenen Metamorphose-Gedichten und den etwa zwanzig Jahre später verfassten Gedichten Entoptische Farben. An Julien und Howards Ehrengedächtnis hingewiesen. Diese Differenzen sollen nun noch systematischer untersucht und zu inhaltlichen und strukturellen Unterschieden in Beziehung gesetzt werden. Eine übergeordnete Tendenz, der sich mehrere dieser Veränderungen zuordnen lassen, besteht in einer zunehmenden Konzentration auf bestimmte Funktionen der Lehrgedichte, die bereits herausgearbeitet wurden.

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Ein wichtiger Unterschied zwischen Entoptische Farben. An Julien und den Gedichten zu Howards Wolkenlehre einerseits, den Metamorphose-Gedichten andererseits liegt darin, dass die späteren Gedichte weit weniger auf eine eigentliche Exposition der behandelten naturwissenschaftlichen Befunde oder Theorien zielen als die früheren. Schon in den Metamorphose-Gedichten, insbesondere am Gedicht über die Tiere, wurde der selektive Umgang mit Goethes einschlägigen Theorien beobachtet. Doch in den späteren Gedichten fallen die Darstellungen der Theorien beziehungsweise – in Entoptische Farben. An Julien – des erörterten Experiments deutlich knapper aus als in den Metamorphose-Gedichten, und sie bedienen sich zudem großenteils einer anspielungsund metaphernreichen Ausdrucksweise, die das Behandelte eher verfremdet als verständlich macht. So bestand das Gedicht Howards Ehrengedächtnis ursprünglich nur aus den vier Abschnitten „Stratus“, „Cumulus“, „Cirrus“ und „Nimbus“. Als die Veröffentlichung einer englischen Übersetzung geplant wurde, wies man Goethe darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen diesen Strophen und der Leistung Luke Howards nicht deutlich erkennbar wäre, so dass Goethe drei einleitende Strophen und die Vorbemerkung Goethe zu Howards Ehren hinzufügte.193 In Entoptische Farben. An Julien wird ein Versuchsaufbau nur in diesen Versen skizziert: Spiegel hüben, Spiegel drüben, Doppelstellung, auserlesen; Und dazwischen ruht im Trüben Als Crystall das Erdewesen.

[Entoptische Farben, 5–8]

Die Verse lassen zwar vermuten, dass es hier um ein Experiment geht, in dem zwei Spiegel einander gegenübergestellt werden und zwischen ihnen ein Kristall platziert wird; doch die elliptische Formulierung „Doppelstellung, auserlesen“ sowie die Aussage, dass „dazwischen“ das „Erdewesen“ „im Trüben“ ruhe, machen diese Beschreibung des Versuchsaufbaus eher rätselhafter als klarer. Dorothea Hölscher-Lohmeyer hat denn auch über Entoptische Farben. An Julien festgestellt, es sei „wohl das verrätseltste unter den Goethischen Gedichten“, und dies unter anderem deshalb, weil es ein „Lehrgedicht“ sei, „das aber das Verstehen seines Lehrgegenstands schon voraussetzt“.194 Von den Metamorphose-Gedichten unterscheiden sich Entoptische Farben. An Julien und die Howard-Gedichte auch dadurch, dass in ihnen die Schilderung 193 Vgl. hierzu Nisbet, „Howard’s Ehrengedächtnis“, S. 463; Eibl, „Kommentar“, in: FA I, 2, S. 1099 f. 194 Dorothea Hölscher-Lohmeyer, „‚Entoptische Farben‘. Gedicht zwischen Biographie und Experiment“, in: Etudes Germaniques, 38/1983, S. 56–72, hier S. 65 f.

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IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800

der außermenschlichen Naturphänomene weniger klar von den Aussagen über den Menschen abgegrenzt ist. In beiden Metamorphose-Gedichte werden zunächst die Erscheinungen der Pflanzen- bzw. Tierwelt für sich beschrieben, bevor ganz explizit Analogien zum Menschenleben gezogen werden. Auch wenn diese Analogien in den Beschreibungen der Pflanzen und Tiere bereits durch anthropomorphisierende Ausdrücke wie „die holden Paare“ oder Begriffe wie „Bildung“ vorbereitet werden, so hat man es doch mit klar getrennten Gedichtabschnitten zu tun. In Howards Ehrengedächtnis hingegen werden in den Strophen über die Wolkenformen verschiedene Analogien zwischen diesen Himmelserscheinungen und dem menschlichen Leben angedeutet, aber es folgt kein eigener Gedichtteil, der diese Beziehungen selbst ins Zentrum rückte und weiter ausformulierte. In Entoptische Farben steht zwar zunächst der optische Versuch im Vordergrund, bevor die letzten zwei Strophen dann das beschriebene Phänomen in größere Zusammenhänge stellen; aber schon die knappe Evokation des Experiments ist mit Versen durchsetzt, die sich auf das menschliche Leben und seine Gesetzmäßigkeiten zu beziehen scheinen.195 Ferner werden die menschlichen Erfahrungen, Tätigkeiten oder Entwicklungen, die in den Gedichten über die Wolkentypen und über die entoptischen Farbphänomene aufgerufen werden, weit allgemeiner und abstrakter benannt als in den Metamorphose-Gedichten. Diese verwiesen mit Ausdrücken wie „Bekanntschaft“, „Freundschaft“ und „Liebe“ beziehungsweise „Denker“, „Künstler“ und „Herrscher“ auf konkrete menschliche Erfahrungen und Tätigkeitsfelder; die Wolkengedichte dagegen verwenden Ausdrücke wie „tüchtige[r] Gehalt“ und „Machtgewalt“, „edle[r] Drang“ und „Erlösung“ sowie „Rede“ und „Geist“, die sich auf Erscheinungen in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen beziehen können.196 Die Gedichte zu Howards Wolkenlehre und Entoptische Farben unterscheiden sich von den Metamorphose-Gedichten schließlich auch hinsichtlich des Tons und der Stilhöhe. Zu der großen formalen Geschlossenheit der zwei Metamorphose-

195 Vgl. vor allem die zweite, aber auch die dritte Strophe. Die zweite lautet: „Spiegel hüben, Spiegel drüben, | Doppelstellung, auserlesen; | Und dazwischen ruht im Trüben | Als Kristall das Erdewesen.“ Die dritte Strophe schließt mit den Versen: „Dämmerlicht, das beide schicken, | Offenbart sich dem Gefühle.“ 196 Keller beschreibt in seiner Deutung die menschlichen Phänomene, auf die hier Bezug genommen werde, auf relativ konkrete Weise (vgl. Keller, „‚Die antwortenden Gegenbilder‘“, vor allem S. 222 f., 229–232). Aber zu diesen konkreten Beschreibungen gelangt er, indem er andere Werke Goethes heranzieht, in denen Cirrus-Wolken oder Gewitter als Symbole oder Metaphern verwendet werden. Das ist gewiss nicht illegitim und in mancher Hinsicht erhellend; aber es bleibt festzuhalten, dass das Gedicht selbst – anders als die zwei Metamorphose-Gedichte – nicht solche konkreten menschlichen Phänomene benennt, herausgreift und zu den Naturerscheinungen in Beziehung setzt.

2 Vom Lehrgedicht zur philosophischen Lyrik

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Gedichte gehört es, dass sie von Anfang bis Ende einen sehr einheitlichen Ton aufweisen. In beiden Gedichten handelt es sich um einen gehobenen, feierlichen Ton, der im Pflanzengedicht allerdings eine hymnisch-begeisterte Färbung erhält, im Tiergedicht eher eine ernste und würdevolle. In den späteren Gedichten ist der Ton zum einen insgesamt variabler; zum anderen finden sich zwar auch hier ernst, feierlich oder und gewichtig dargebotene Aussagen, doch sie dominieren aufs Ganze gesehen nicht, da sie immer wieder durch spielerische oder heiterironische Formulierungen relativiert werden. So beginnt etwa die „Cirrus“-Strophe in Howards Ehrengedächtnis mit zwei Versen, die das Höhersteigen des „edle[n] Drang[s]“ feiern und mit dem Wort „Erlösung“ religiöse Fragen nach den letzten Dingen anklingen lassen, aber direkt danach wird die Wolkenform erst ebenso salopp wie anschaulich als „[e]in Aufgehäuftes“ und „flockig“ charakterisiert und dann mit „Schäflein trippelnd, leichtgekämmt zu Hauf“ verglichen (39–44). Auch die Qualität des Rätselhaften, die Teilen der Howard-Gedichte und dem Gedicht Entoptische Farben insgesamt eigen ist, ähnelt höchstens in einzelnen Versen der Dunkelheit von Orakelsprüchen; oft handelt es sich eher um eine spielerisch wirkende Rätselhaftigkeit, die auf Freude an ausgefallenen Formulierungen zu beruhen scheint. So verdankt sich in den Wolkengedichten die Rätselhaftigkeit unter anderem den voraussetzungsreichen Anspielungen auf „Gottheit Camarupa“ (1) oder den „Wolkenbote[n]“ (13), und in Entoptische Farben haben einige Wortkombinationen den Reiz von Bilderrätseln: „Schwarz wie Kreuze wirst du sehen, | Pfauenaugen kann man finden“ (13 f.). Die einzelnen beobachteten Veränderungen zwischen den früheren und den späteren Lehrgedichten lassen sich wie folgt zusammenfassen und deuten: Von den Leistungen, die die poetische Verarbeitung wissenschaftlicher Theorien in den Metamorphose-Gedichten übernimmt, erhalten in den späteren Gedichten zwei Funktionen zunehmend den Vorrang, während eine dritte stark zurücktritt. Was immer weniger Raum und Gewicht erhält, ist die Exposition oder die summarische Zusammenfassung der wissenschaftlichen Theorien und Beobachtungen. Stattdessen konzentrieren sich die Gedichte zum einen auf die Evokation einer umfassenden Naturordnung, die sich in Analogien zwischen Mensch und außermenschlicher Natur manifestiert, zum anderen auf die Kultivierung variabler menschlicher Haltungen gegenüber dieser umfassenden Naturordnung mit ihrer göttlichen Dimension. Angemerkt sei noch, dass einige Gedichte des späten Goethe die hier herausgearbeiteten Tendenzen noch etwas weiter treiben, und zwar so weit, dass sie nicht mehr als Lehrgedichte angesehen werden können. Gemeint sind einige Gedichte aus dem West-östlichen Divan (etwa Wiederfinden und Hochbild) und aus dem Zyklus Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten (etwa Dämmrung senkte sich von oben) sowie schließlich die Dornburger Gedichte. Diese

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IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800

Gedichte schildern Naturphänomene, weisen ihnen dabei symbolische, auf das menschliche Leben bezogene Bedeutungen zu und drücken meist auch eine Haltung der Andacht oder Verehrung aus. Naturwissenschaftliche Theorien, etwa Gedanken aus Goethes Farbenlehre, sind in den Gedichten noch präsent, aber nur in Form von nicht ohne weiteres erkennbaren Anspielungen.197 2.2.1.6 Zwischenfazit Die Analysen haben gezeigt, dass Goethes Verarbeitung naturwissenschaftlicher Theorien in seinen Lehrgedichten vor allem von drei Absichten geleitet war, die allerdings nicht durchgehend ein gleiches Gewicht besaßen. Erstens dürfte es Goethe in einigen dieser Gedichte darum gegangen sein, eine ‚summarische Darstellung‘ von Ergebnissen der Naturforschung zu geben, wie er es mit Bezug auf Howards Ehrengedächtnis selbst angedeutet hat.198 Diese Aufgabe erfüllen insbesondere die Metamorphose-Gedichte, in gewissem Maße auch noch die Gedichte zu Howards Wolkenlehre mit ihrer andeutungshaften Schilderung der vier Wolkentypen. Doch schon in diesen Gedichten, die knappe Zusammenfassungen von Forschungsergebnissen bieten, wird diese Funktion von anderen überlagert, und wenn man die Gesamtheit der naturwissenschaftlichen Gedichte Goethes überblickt, so erweisen sich zwei andere Funktionen als die dominierenden. In fast allen dieser Gedichte werden Erscheinungen eines bestimmten Naturbereichs mithilfe von Analogien und Vergleichen zu anderen Bereichen, insbesondere aber zum menschlichen Leben in Beziehung gesetzt. Die Gedichte suggerieren damit eine Vorstellung von der Einheit der – menschlichen wie außermenschlichen – Natur, wie sie Goethe in nicht-poetischen Texten vielfach ausdrücklich behauptet hat. Eng verbunden mit dem Aufzeigen oder Andeuten einer Mensch und Natur übergreifenden Einheit ist eine dritte Funktion: Die Gedichte fordern immer wieder zu einer bewundernden, ehrfurchtsvollen oder verehrenden Haltung gegenüber der Natur auf oder führen sie selbst ‚performativ‘ vor; in den späteren Gedichten begegnet diese Haltung allerdings in diversen Abwandlungen, die durch humorvolle, ironische oder spielerische Akzente gekennzeichnet sind.

197 Vgl. zu den genannten Gedichten, ihren naturwissenschaftlichen Zügen und symbolischen Verfahren: Karl Richter, „Lyrik und Naturwissenschaft in Goethes West-östlichem Divan“, in: Études Germaniques, 38/1983, S. 84–101; ders., „Naturwissenschaftliche Voraussetzungen der Symbolik am Beispiel von Goethes Alterslyrik“, in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins, 92/93/1988/ 1989, S. 9–24; ders., „Licht, Finsternis und Farben. Lyrik und Naturwissenschaft in Goethes Dornburger Gedichten“, in: Zeitschrift für Germanistik, N. F. 19/2009, 1, S. 90–96. 198 Vgl. Goethe, Wolkengestalt nach Howard, in: LA I, 8, S. 92.

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Diese Befunde lassen sich noch genauer konturieren, indem Goethes naturwissenschaftliche Lehrgedichte einerseits mit Lehrgedichten des früheren 18. Jahrhunderts verglichen wird, andererseits mit weiteren literarischen Werken Goethes, die sich auf die Naturwissenschaften beziehen. Was zunächst das Verhältnis der Gedichte zu älteren Lehrgedichten des 18. Jahrhunderts angeht, so ist – mit Blick auf die Funktionen der Gedichte – zunächst ein erhebliches Maß an Kontinuität festzustellen. Auch ein physikotheologisches Lehrgedicht wie Blackmores Creation soll Ergebnisse der Naturforschung referieren, ferner eine umfassende, den Menschen integrierende Naturordnung darstellen und schließlich Ehrfurcht und Bewunderung gegenüber den schönen und erhabenen Zügen der göttlichen Schöpfung zum Ausdruck bringen. Die letzten zwei dieser Absichten sind, mit einer gewissen Vereinfachung gesprochen, auch für Naturschilderungen in Hallers Lehrgedichten wie auch für einige Abschnitte über die ‚Kette der Wesen‘ in Popes Essay on Man leitend. Auch von vielen Gedichten aus Brockes’ Irdischem Vergnügen in Gott sind die naturwissenschaftlichen Lehrgedichte Goethes in der genannten Hinsicht nicht durch eine Kluft getrennt. Die Unterschiede zwischen seinen Lehrgedichten und den genannten Texten des frühen 18. Jahrhunderts liegen zunächst darin, dass die Wiedergaben wissenschaftlicher Beobachtungen und Theorien in seinen Gedichten von vornherein erheblich gedrängter ausfallen als in repräsentativen Lehrgedichten der Aufklärung. Das heißt, andersherum gewendet, dass Goethes Gedichte sich stärker auf die Evokation der Beziehungen zwischen Mensch und außermenschlicher Natur sowie auf den Ausdruck vielfältiger Spielarten von Ehrfurcht und Bewunderung spezialisieren. Hinzu kommen selbstverständlich wichtige Unterschiede, die nicht die Funktion, sondern die Form der poetischen Verarbeitung wissenschaftlicher Theorien betreffen, also etwa Unterschiede in den Metren und Strophenformen, im Gebrauch von Metaphern und Vergleichen und in der Gestaltung der gedichtinternen Kommunikationssituationen. Die Ergebnisse dieser Analysen zu Goethes naturwissenschaftlichen Lehrgedichten sollen ferner, wie oben angekündigt, auf die vieldiskutierte Frage nach dem Verhältnis von Dichtung und Naturwissenschaft bei Goethe bezogen werden. Zu Beginn dieses Abschnitts wurde bereits die These skizziert, dass dieses Verhältnis sich in verschiedenen literarischen Gattungen je spezifisch ausbildet. Zur Überprüfung und gegebenenfalls Untermauerung dieser Vermutung wären eingehende Analysen zu einschlägigen Romanen und Dramen erforderlich, die hier nicht geleistet werden können. Dennoch sei eine These dazu formuliert, wie sich der Umgang mit der Naturwissenschaft in Goethes Lehrgedichten von ihrer Verarbeitung in seinen Romanen und Dramen unterscheidet: Relevant ist in dieser Hinsicht vor allem der Befund, dass die Lehrgedichte durchgehend schöne und ‚erfreuliche‘ Züge der Natur, in denen sich etwas Göttliches manifestiert, in

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IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800

den Vordergrund stellen und auch das Eingebundensein des Menschen in die Einheit der Natur als einen Anlass zur Freude präsentieren, als einen Sachverhalt, der dem Menschen Orientierung und Vergewisserung schenkt. Die Analogien zwischen menschlichem Leben und außermenschlicher Natur hingegen, die im Roman Die Wahlverwandtschaften (1809) dem Leser nahegelegt und von den Figuren selbst diskutiert werden, erhalten dort eine entschieden beunruhigende Qualität, da sie eine weitreichende Relativierung oder sogar Negation der menschlichen Freiheit zu implizieren scheinen.199 Und während die in den Lehrgedichten vorgeführten Haltungen gegenüber der Natur offenbar als vorbildliche oder angemessene Einstellungen gemeint sind, hat Goethe etwa in Faust II auch Arten des forschenden Umgangs mit der Natur in Szene gesetzt, die er vermutlich als moralisch fragwürdig oder verwerflich begriff.200 Die naturwissenschaftlichen Lehrgedichte Goethes sind mithin nicht repräsentativ für ‚die‘ Verbindung von Naturwissenschaft und Literatur in seinem Werk, sondern realisieren einen spezifischen Aspekt derselben. 2.2.2 Parallelen zwischen den naturwissenschaftlichen Lehrgedichten und Urworte. Orphisch (1820) Goethes Gedicht Urworte. Orphisch (1820)201 weist zwar deutliche Bezüge zur Tradition der didaktischen Dichtung auf, schließt dabei aber in erster Linie weniger an die Untergattung des Lehrgedichts als an die der Spruchdichtung an.202 Der

199 Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Die Wahlverwandtschaften [1809], in: FA I, 8, S. 269–529; vgl. dort v. a. das sogenannte ‚Chemiegespräch‘ der Hauptfiguren: ebd., S. 300–311. Vgl. ferner die von Goethe im Morgenblatt für gebildete Stände veröffentlichte Anzeige des Romans, in der es über den „seltsamen Titel“ heißt, der „Verfasser“ habe „wohl in einem sittlichen Falle, eine chemische Gleichnisrede zu ihrem geistigen Ursprunge zurückführen mögen, um so mehr, als doch überall nur eine Natur ist, und auch durch das Reich der heitern Vernunft-Freiheit die Spuren trüber leidenschaftlicher Notwendigkeit sich unaufhaltsam hindurchziehen [. . .].“ (Abgedruckt in: FA I, 8, S. 974.) – Die Fragen, welcher Status dieser Anzeige in der Romaninterpretation beizumessen ist und in welchem Maße die Figuren der Determination durch eine „leidenschaftliche[] Notwendigkeit“ unterworfen sind, haben in der Forschung vielfältige Antworten erhalten. 200 Zu denken ist hier v. a. an die Erzeugung des Homunculus. 201 Das Gedicht wird im Folgenden zitiert nach: FA I, 2, S. 501 f. 202 In der Forschung hat man auf die inhaltliche Nähe von Urworte. Orphisch zu einem 1815 veröffentlichten, aber wohl schon 1789 verfassten Gedicht Karl Ludwig von Knebels mit dem Titel Nach dem Griechischen hingewiesen (vgl. etwa Eibl, „Kommentar“, in: FA I, 2, S. 1092 f.; der Gedichttitel dort ungenau als Aus dem Griechischen wiedergegeben). Dieses Gedicht beginnt mit Versen, die sich ausdrücklich auf einen „alte[n] Spruch“ berufen: „Den Menschen treiben vier besondre Mächte | Durchs Leben, sagt ein alter Spruch der Weisen.“ ([Karl Ludwig Knebel], Sammlung kleiner Gedichte, Leipzig 1815, S. 46)

2 Vom Lehrgedicht zur philosophischen Lyrik

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Umfang von fünf Stanzen ist allerdings für ein Gedicht der Spruchform eher untypisch und rückt den Text in die Nähe des Lehrgedichts. Somit kann Urworte. Orphisch zumindest als ein Grenzfall des Lehrgedichts angesehen werden und soll als solcher hier behandelt werden. Eine eigene Betrachtung verdient der Text hier auch deshalb, weil Goethe ihn später in die Gedichtrubrik Gott und Welt aufnahm und ins Zentrum dieser Gruppe setzte, die wiederum in ihrer Gesamtheit auf die Tradition des großen Lehrgedichts verweist. Die folgende Interpretationsskizze konzentriert sich auf einzelne Aspekte des sehr häufig interpretierten Gedichts, von denen aus sich Verbindungen zu den naturwissenschaftlichen Lehrgedichten Goethes herstellen lassen. Urworte. Orphisch wurde von Goethe zuerst in den Heften Zur Morphologie veröffentlicht; schon dieser Umstand wirft die Frage nach Beziehungen zu Goethes Studien über die Morphologie der Pflanzen und Tiere und den ihnen thematisch zugehörigen Gedichten auf. In der Forschung hat man denn auch vorgeschlagen, Urworte. Orphisch als ein Gedicht über die Metamorphose des Menschen zu deuten, das als solches neben die zwei anderen Metamorphose-Gedichte gestellt werden könne. In der Rubrik Gott und Welt ließ Goethe es auch tatsächlich auf diese Gedichte folgen. Eine inhaltliche Verbindung wird vor allem durch die Schlussverse der Daimon- und die Anfangsverse der Tyche-Strophe nahegelegt, also: „Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt | Geprägte Form die lebend sich entwickelt.“ (7 f.) Und: „Die strenge Grenze doch umgeht gefällig | Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt“ (9 f.). Diese Verse entwerfen die Vorstellung von einer gesetzmäßigen Entwicklung, die durch Grenzen bestimmt ist, aber gleichwohl ein gewisses Maß an freier oder zufälliger Variation zulässt. In ähnlicher Weise werden auch in den zwei Metamorphose-Gedichten Wachstumsprozesse charakterisiert.203 Dabei wird in diesen Gedichten bereits darauf hingewiesen, dass es zu den beschriebenen Vorgängen im Dasein der Pflanzen und Tiere auch Analoga im menschlichen Leben gebe. In Urworte. Orphisch werden nun, so könnte man in einer ersten Annäherung feststellen, die betreffenden Züge des menschlichen Lebens selbst ausführlich in den Blick genommen. Diese relativ konkreten inhaltlichen Bezüge zwischen Urworte. Orphisch und den Metamorphose-Gedichten sollen hier nicht im Einzelnen entwickelt werden. Sie verweisen aber, allgemein gesprochen, auch darauf, dass das menschliche Leben in Urworte. Orphisch wie in den naturwissenschaftlichen Lehrgedichten als eingefügt in eine umfassende Ordnung gedeutet wird. Diese

203 Vgl. in Die Metamorphose der Pflanzen etwa: „Bildsam ändre der Mensch selbst die bestimmte Gestalt!“ (70) Vgl. auch die Verse 23 bis 28 dieses Gedichts. In Metamorphose der Tiere vgl. vor allem die Verse 27 bis 35.

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IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800

Ordnung konkretisiert sich in Urworte. Orphisch nicht in Naturerscheinungen und den zwischen ihnen bestehenden Analogien, sondern zunächst in den ‚Mächten‘ oder abstrakten Größen, die in den Überschriften der Stanzen benannt werden. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich darauf, wie das Leben des einzelnen Menschen zu der umfassenden Ordnung, die durch diese fünf Instanzen repräsentiert wird, in Beziehung gesetzt wird. Die Beschaffenheit der größeren Ordnung, die in Urworte. Orphisch umrissen wird, kann auf unterschiedliche Weisen charakterisiert werden. Im Kommentar der Frankfurter Ausgabe heißt es, das Gedicht handle von den „Grundmächten des menschlichen Lebens“204; einem Interpreten zufolge spricht es von menschlichen „Grunderfahrungen“.205 Beide Aussagen erscheinen auf den ersten Blick als treffend und miteinander vereinbar: Urworte. Orphisch beschreibt als typisch vorgestellte Erfahrungen und ordnet sie den fünf ‚Grundmächten‘ zu, die in den Überschriften der fünf Stanzen genannt werden – Daimon, Tyche, Eros, Ananke und Elpis. Dass die Erfahrungen den Grundmächten ‚zugeordnet‘ werden, ist so zu verstehen, dass diese Grundmächte sich in den jeweiligen Erfahrungen manifestieren oder zur Geltung bringen. Hervorzuheben ist zunächst, dass Goethe nicht nur menschliche Erfahrungen zu fünf Grunderfahrungen bündelt und jeweils auf einen Begriff bringt, sondern auch gezielt die Vorstellung aufruft, dass es ‚Mächte‘ im Sinne von göttlichen oder jedenfalls übermenschlichen Wesen gebe, die auf das menschliche Leben einwirken und sich in den Grunderfahrungen wie Liebe und Nötigung zur Geltung bringen. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht ein Vergleich mit Karl Ludwig von Knebels Gedicht Nach dem Griechischen, das zwei Jahre vor Goethes Abfassung von Urworte. Orphisch erschien und das „vier besondre Mächte“ vorstellt, die einem „alte[n] Spruch der Weisen“ zufolge ‚den Menschen durchs Leben treiben‘: der Dämon, das Glück, die Liebe und die Not.206 Vergleicht man Urworte. Orphisch mit diesem Gedicht Knebels, so fällt neben der Hinzufügung der Elpis-Strophe sowie der Wahl der Stanzen-Form als ein weiterer Unterschied auf, dass Goethe den Strophen jeweils eine eigene Überschrift gibt und in ihnen die griechischen Ausdrücke verwendet. Über diese „griechischen Urworte“ hat ein Interpret plausibel gesagt, sie seien „halb nur Abstrakta, halb aber Namen; Götter und Geister werden darin genannt.“207 Deutet man die Gedichte Knebels

204 Eibl, „Kommentar“, in: FA I, 2, S. 1074. 205 Jochen Schmidt, Goethes Altersgedicht Urworte. Orphisch. Grenzerfahrung und Entgrenzung, Heidelberg 2006, S. 31. 206 [Knebel], Sammlung kleiner Gedichte, S. 46. 207 Wilhelm Flitner, „Elpis. Betrachtungen über Goethes ‚Urworte. Orphisch‘“, in: Goethe. Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft, N. F. 4/1939, S. 128–147, hier S. 136.

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und Goethes als Versuche einer entmythisierenden Aktualisierung der alten griechischen Lehren, so geht Knebels Gedicht in dieser Entmythisierung weiter als Urworte. Orphisch.208 Goethe evoziert mit diesem Gesamttitel wie mit den Überschriften der einzelnen Stanzen die Vorstellung einer von göttlichen Wesen getragenen Ordnung, die das Leben des einzelnen Menschen bestimmt. Diese mithilfe der Strophenüberschriften aufgerufene Vorstellung nun ist mit unterschiedlichen, fast gegensätzlichen Konnotationen verbunden: Einerseits deutet sie an, dass das menschliche Leben übermächtigen Kräften unterworfen und ausgesetzt ist. Andererseits verleiht sie dieser determinierenden Ordnung die Dignität göttlicher, in Mythen verewigter Mächte. Wie im Folgenden zu sehen sein wird, werden in den Stanzen selbst beide Facetten der Vorstellung aufgegriffen, aber zugleich auch beide in gewissem Maße relativiert, und dies nicht nur durch den Gehalt einzelner Aussagen, sondern durch die stilistische Gestaltung der Strophen. Aber zunächst sei der Inhalt der in den Strophen dargebotenen Lehren ins Auge gefasst. In ihnen werden, wie angedeutet, menschliche Grunderfahrungen skizziert, die den in den Überschriften genannten Instanzen zugeordnet werden. Wenn man nachzuvollziehen versucht, um welche Grunderfahrungen es sich handelt und welcher der fünf Mächte sie zugeordnet werden, stößt man auf Mehrdeutigkeiten. Eine von ihnen, die kaum anders denn als eine intendierte, mit Bedacht gestaltete aufgefasst werden kann, ist in Interpretationen häufig beschrieben worden: Das Gedicht erzeugt einerseits immer wieder den Eindruck, dass es in den fünf Stanzen aufeinander folgende Lebensphasen thematisiert, suggeriert andererseits aber auch, dass die fünf Mächte – oder zumindest mehrere von ihnen – zugleich und in jedem Lebensabschnitt aktiv sind.209

208 Dies gilt es auch mit Blick auf Interpreten zu betonen, die Goethes Gedicht in erster Linie nicht mit dem Gedicht Knebels, sondern mit den Mytheninterpretationen Creuzers vergleichen und dabei die ‚aufklärerischen‘, rationalen Züge in Goethes Umgang mit den Mythen betonen. So hat etwa Eibl geschrieben, Goethes Gedicht stelle „fast ein kleines aufklärerisches Konkurrenzunternehmen“ zu den Arbeiten Creuzers dar (Eibl, „Kommentar“, in: FA I, 2, S. 1095). 209 Vgl. M. R. Minden, „‚Urworte. Orphisch‘“, in: German Life & Letters, 36/1982/1983, S. 77–86, hier S. 85. Schmidt zufolge „prägen sich in den ‚Urworten‘ [. . .] zwei übergreifende Strukturen aus: eine zyklische und eine prozessuale.“ (Schmidt, Goethes Altersgedicht Urworte. Orphisch, S. 32; vgl. auch ebd., S. 16). Mit der prozessualen Struktur ist dabei eine „prozessual-lebensgeschichtliche Ordnung“ gemeint (ebd., S. 16). Flitner hat die These vertreten, dass das Gedicht einerseits das „Zusammenwirken der Schicksalsmächte“ als einen „dämonischen Zirkel“, einen „höllischen Kreis“ beschreibe (Flitner, „Elpis“, S. 137), andererseits einen „Lebenslauf“ evoziere (ebd., S. 139). In der „Entwicklung, die über das Altern zum Tode führt“, mache sich zugleich eine „höhere“ Entwicklung geltend, „die nicht dem Unselig-Dämonischen, sondern dem reinen Göttlichen zugehört“ (ebd., S. 140) und in die Aussicht auf

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IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800

Den Eindruck einer zeitlichen Abfolge bewirken etwa die Bezugnahme auf den Tag der Geburt in der Daimon-Strophe, die Rede von den „[s]chon“ vollendeten Jahren und dem ‚Harren‘ in der Tyche-Strophe, das „wieder“ und die Wendung „nach manchen Jahren“ in der Ananke-Strophe. Liest man das Gedicht so, dann muss man die Hoffnung, von der die letzte Strophe handelt, fast unvermeidlich als eine auf den Tod und ein Jenseits bezogene Hoffnung verstehen. Aber fast in jeder Strophe findet sich auch mindestens eine Aussage, die eine nicht zeitlich relativierte, sondern für das gesamte Leben charakteristische Erfahrung zu benennen scheint: „Im Leben ist’s bald hin- bald wiederfällig, | Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt.“ (13 f.) „Bedingung und Gesetz und aller Wille | Ist nur ein Wollen, weil wir eben sollten.“ (26 f.) Als Folge dieser Überlagerung einer statischen und einer sukzessiv-temporalen Struktur ist es zweifelhaft, ob nun etwa die Macht von Tyche sich nur in der Jugend oder auch im reifen Alter bemerkbar macht, ob Daimon nur bis zum und Ananke erst nach dem Beginn des Erwachsenenalters mächtig ist und ob Eros sich nur in einer bestimmten Lebensphase, an der Schwelle von Jugend zum Erwachsenenalter, zur Geltung bringt. Neben dieser durchgehenden Zweideutigkeit finden sich Spannungen, die bei der direkten Konfrontation einzelner Aussagen aus verschiedenen Strophen entstehen. Solche Spannungen oder sogar Widersprüche bestehen vor allem zwischen der Ananke- und der Daimon-Strophe. Die ersten Verse der AnankeStrophe scheinen zu besagen, dass sie von demselben, nämlich dem in den „Planeten“ (2) oder „Sterne[n]“ (25) manifestierten „Gesetz“ (4, 26) handeln, um das es auch in der Daimon-Strophe geht. Doch in der ersten Strophe wird dieses „Gesetz“, also die „geprägte Form“ der Individualität oder des Charakters, in vorwiegend positivem Licht gezeigt. Der Satz „dir kannst du nicht entfliehen“ lässt diese Individualität für einen Moment auch als Begrenzung, fast als ein Gefängnis erscheinen, aber in erster Linie erscheint die Individualität doch als etwas, was den Menschen integriert, ihm eben eine „Form“ gibt, und zudem als etwas, was Selbstbestimmung nicht ausschließt; die Formulierung „die lebend sich entwickelt“ lässt diese Entwicklung zumindest als einen weitgehend ‚von innen heraus‘ bestimmten Prozess erscheinen. Die emphatische Versicherung, dass „keine Zeit und keine Macht“ diese „[g]eprägte Form“ ‚zerstückeln‘ könne, ist nur dann verständlich, wenn diese Form und ihre Entwicklung als etwas Wertvolles

„Unsterblichkeit“ mündet (ebd., S. 141). Vgl. auch Ruth Klüger, „Die Pforte entriegeln“, in: Dies., Gemalte Fensterscheiben. Über Lyrik, Göttingen 2007, S. 33–35, hier S. 33. Klüger gibt in ihrer knappen, sich weitgehend auf eine Paraphrase beschränkenden Interpretation dem Aspekt des „Nacheinander“ den Vorzug gegenüber dem „Nebeneinander“ oder der „Aufzählung“ (ebd.).

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gelten.210 Dagegen wird das „Gesetz“, um das es in der Ananke-Strophe geht, eindeutig als eine negative, bedrängende und tendenziell zerstörerische Macht gezeigt. Viele Interpreten nehmen denn auch an, dass das „Gesetz“ und das „harte [] Muß“ der Ananke-Strophe nicht mit dem Gesetz der Daimon-Strophe, also der geprägten Form, zu identifizieren ist. Aber auch bei dieser Deutung sind die Aussagen der Strophe nicht leicht miteinander zu vereinbaren: Die erste Strophe versichert emphatisch, dass nichts die geprägte Form zerstören könne; wenn hingegen die vierte Strophe erklärt, dass „Will’ und Grille“ sich dem „harten Muß“ zu ‚bequemen‘ hat, so ist nicht mehr die Rede davon, dass irgendetwas diesem „harten Muß“ widerstehen und sich noch ‚lebend entwickeln‘ könne.211 Diese Zweideutigkeiten und Spannungen lassen verschiedene Deutungen zu. Sie dürften aber unter anderem ein Hinweis darauf sein, dass Goethe in Urworte. Orphisch doch nicht das bieten sollte, was das Gedicht auf den ersten Blick darstellt: ein durch eine Reihe von Grunderfahrungen definiertes Schema des menschlichen Lebens, dem einzelne Lebensläufe als besondere Fälle subsumiert werden können. Die fünf Stanzen präsentieren eher eine Gruppe von miteinander verknüpften Begriffen und Bildern, die zur Deutung individueller Biographien verwendet werden können. Die oben herausgestellten Ambivalenzen kann man als Hinweis darauf verstehen, dass konkrete Erfahrungen sich nicht unbedingt eindeutig als Manifestationen der einen oder anderen ‚Grundmacht‘ einordnen lassen, dass die Charakterisierungen dieser Grundmächte also auch nicht solche definitiven Klassifikationen, sondern vorläufige Deutungen der Erfahrungen ermöglichen sollen. Diese Interpretation der leitenden Ansprüche und Absichten von Urworte. Orphisch erhält eine Stützung in einem Brief, den Goethe 1818 an seine Schwiegertochter schrieb.212 Er schickte ihr einige Gedichte aus dem West-östlichen Divan sowie Urworte. Orphisch und bemerkte dazu:

210 Jochen Schmidt hat betont, dass die Verse der Daimon-Strophe „keineswegs einen gänzlich positiven, sondern einen ambivalenten Individualitätsbegriff [formulieren]“ (Schmidt, Goethes Altersgedicht Urworte. Orphisch, S. 18). Ich sehe zwar auch solche ambivalenten Züge, meine aber, dass die positive Bewertung der Individualität in dieser Strophe das größere Gewicht erhält. 211 Vgl. Minden zu der Ananke-Strophe: „[. . .] [T]he final couplet, in its return to the initial ‚law‘ of ‚Dämon‘, seems to modify what had been a strongly positive announcement of the indestructibility of personality into – here – a simple and now completely negative lack of freedom.“ (Minden, „Urworte. Orphisch“, S. 83) 212 Auch Schmidt zieht diesen Brief heran, um ihm Aufschlüsse über die „künstlerischen Intentionen“ Goethes zu entnehmen; vgl. Schmidt, Goethes Altersgedicht Urworte. Orphisch, S. 29–32, Zitat S. 29.

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IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800

Die Wirkung dieser Gedichte [aus dem ‚West-östlichen Divan‘; O.K.] empfindest du ganz richtig, ihre Bestimmung ist, uns von der bedingenden Gegenwart abzulösen und uns für den Augenblick dem Gefühl nach in eine gränzenlose Freiheit zu versetzen. Dies ist zu einer jeden Zeit wohlthätig, besonders zu der unseren. Ebenso darf ich dir die fünf Stanzen fernerhin empfehlen. Wie jene Gedichte das Gefühl, die Einbildungskraft erweitern, so eröffnen diese dem Nachdenken einen unendlichen Raum, und lassen alles, was wir nur erfahren haben, wie in tausendfältigen Spiegeln wieder erblicken.213

Goethe beansprucht hier eine denkbar umfassende Anwendbarkeit seines Gedichts, eine Anwendbarkeit auf „alles, was wir nur erfahren haben“. Aber diese Anwendung soll von eigentümlicher Art sein, nämlich darin bestehen, dass die konkreten Erfahrungen der einzelnen Person von dem Gedicht ‚tausendfältig gespiegelt‘ werden. Diese Formulierung dürfte für Goethe selbst mehrere Bedeutungsfacetten gehabt haben. In diesem Zusammenhang ist aber besonders wichtig, dass ‚tausendfältiges Spiegeln‘ offensichtlich etwas Anderes als die Subsumtion individueller Erfahrungen unter die Begriffe und Aussagen des Gedichts bezeichnet.214 Wenn die individuelle Leserin ihre Erfahrungen im Lichte der Urworte betrachtet, soll sie demnach auch nicht primär versuchen, diese Erfahrungen als Manifestationen von Daimon, Tyche oder Ananke zu klassifizieren, sondern eher reflektieren, wie sich in den Erfahrungen die Wirkungen dieser Mächte überkreuzen, worin überhaupt der Daimon ihres Lebens besteht und wie er sich zu Tyche, Eros und zu Ananke verhält. In die hiermit skizzierte Deutung lässt sich auch ein auffälliges formales Merkmal des Gedichts integrieren, nämlich die stilistische Differenz oder Distanz zwischen Strophenüberschriften und Strophen. Eine solche Distanz wird schon dadurch erzeugt, dass die Überschriften konsequent gleichförmig gestaltet sind, der Ton und die Stilhöhe der Strophen aber durchaus variiert.215 Die ehrwürdigen

213 Goethe an seine Schwiegertochter Ottilie, Brief vom 21.6.1818, in: FA II, 8, S. 208 f., Zitat ebd. 214 Schmidt weist darauf hin, dass Goethe, wenn er als (beabsichtigte) Wirkung der Stanzen das „Nachdenken“ nennt, sie als „Reflexionspoesie“ charakterisiere und „das Reflexionsmoment durch die Rede von den ‚Spiegeln‘ [verstärkt]“. „Allerdings legt er Wert darauf, daß sich die Reflexion nicht wie bei manchen Romantikern abstrakt verselbständigt und begrifflich autonomisiert, sondern in der lebensgeschichtlichen Erfahrung gründet und auf das weitere Nachdenken über Erfahrungen zielt.“ (Schmidt, Goethes Altersgedicht Urworte. Orphisch, S. 30) 215 Vgl. dazu auch Minden, „‚Urworte. Orphisch‘“, S. 80 f.; diesem Aufsatz sind die folgenden Ausführungen für mehrere Einzelbeobachtungen verpflichtet. Es macht eine Stärke des knappen Aufsatzes von Minden aus, dass er auf stilistische Nuancen des Gedichts eingeht, die in vielen weit umfangreicheren Untersuchungen unberücksichtigt bleiben.

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Ausdrücke „Orphisch“ und „Urworte“ in Verbindung mit den griechischen Strophenüberschriften lassen einen ernsten, entschiedenen, vielleicht auch etwas orakelhaft-dunklen Sprachduktus erwarten, und die erste Strophe erfüllt – abgesehen von der orakelhaften Dunkelheit – diese Erwartung. Doch schon die TycheStrophe schlägt einen leichteren, ironischen und fast heiteren Ton an, etwa wenn es heißt: „Im Leben ist’s bald hin-, bald widerfällig, | Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt.“ Die Wortbildung ‚durchtandeln‘ ist ein Neologismus, den man als metaphorische Exemplifikation eben der lässigen und zwanglosen Lebensweise deuten mag, von der diese Verse sprechen. Die folgende Eros-Strophe changiert zwischen verschiedenen Stilhöhen und Sprechweisen: Der kurze Ausruf „Die bleibt nicht aus!“ zu Beginn stellt innerhalb des gesamten Gedichts eine markante syntaktische Ausnahme dar. Die Rede von der „alten Öde“ entspricht dann der ernsten und feierlichen Haltung, die man von ‚orphischen Urworten‘ erwartet, während die folgenden Verse, die das subjektive Erleben der Liebe evozieren, alles Feierliche und Strenge vermeiden und den widerspruchsvollen Empfindungen durch Oxymora, auffällige Substantivierungen („ein Wohl im Weh“) und ‚innige‘ Adjektive („süß und bang“) gerecht zu werden suchen. In der Ananke-Strophe dominieren wieder ein ernstes Vokabular und der Duktus entschiedener Aussagesätze, doch in der Elpis-Strophe findet die verkündete Aussicht auf Befreiung auch eine formale Entsprechung in dem elliptischen Ausruf des Schlussverses. So korrespondieren die Variationen im Ton zwar den Unterschieden zwischen den behandelten Mächten, erzeugen aber gleichwohl eine Distanz gegenüber den einheitlich gestalteten Strophenüberschriften wie gegenüber dem zusammenfassenden Titelausdruck „Urworte“. Diese Veränderungen des Tons lassen sich auf die oben vorgeschlagene Deutung der Absichten des Gedichts beziehen. Dass die fünf Stanzen nicht ein allgemeines Schema des Lebens bieten, dem einzelne Lebensläufe subsumiert werden könnten, kann man als indirekten Ausdruck eines emphatischen Individualitätsbegriffs interpretieren: Die Biographie des Einzelnen weist demnach zu komplexe Eigenschaften auf, als dass sie auf eine Summe von Einflüssen der fünf Grundmächte reduziert werden könnte. Schon auf der inhaltlichen Ebene insistiert das Gedicht somit gewissermaßen auf dem Eigenrecht des individuellen Lebens gegenüber den ewigen Mächten oder Grundmustern, und etwas Ähnliches leisten die beschriebenen stilistischen Variationen: Sie exemplifizieren eine Haltung gegenüber den ‚Mächten‘, die dem Einzelnen zur Deutung seines Lebens angeboten werden, und zwar eine Haltung, die Ernst und Ehrfurcht mit Selbstbewusstsein und ironischer Distanz mischt. Der Sprecher des Gedichts verkündet zwar den Einfluss von Instanzen, die schon durch den Titel als ‚uralte‘ oder ‚ewige‘ ausgewiesen werden, auf das Leben jedes Menschen; aber er ist kein unpersönliches Verlautbarungsmedium dieser Instanzen, und er lässt sich von ihrer Macht und

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IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800

ihren ehrwürdigen Namen nicht in dem Maße beeindrucken, dass er nicht mehr zu einem individuell getönten, facettenreichen, Ironie und Humor einschließenden Sprechen über die menschlichen ‚Grunderfahrungen‘ fähig wäre. Die Belehrung, die Goethe in Urworte. Orphisch gibt, lässt sich mithin zusammenfassend wie folgt charakterisieren: Das Gedicht stellt ‚Mächte‘ oder ‚Kräfte‘ dar, die das menschliche Leben formen, wobei die Schilderung dieser Mächte und ihrer Wirkungen diverse Vagheiten und Mehrdeutigkeiten aufweist. Diese gewisse Unschärfe und Offenheit dürfte von Goethe intendiert gewesen sein und lässt verschiedene Deutungen zu: Sie könnte gewissermaßen epistemologische Zweifel an der Möglichkeit eindeutiger Erklärungen von Lebensverläufen ausdrücken, aber auch einer Auffassung von Individualität und von der Würde und Autonomie des einzelnen Lebens entspringen, die unvereinbar ist mit der Annahme, ein Lebensverlauf könnte einem allgemeinen Schema einfach subsumiert oder auf die Wirkungen unpersönlicher Kräfte reduziert werden. So bietet das Gedicht dem Leser ein Ensemble von Begriffen und Bildern für die Lebensdeutung an, dessen Leistung durch ein mehrfaches Einerseits/Andererseits gekennzeichnet werden kann: Einerseits legt dieses Ensemble ein großes Gewicht auf die Zwänge, denen das menschliche Leben untersteht, andererseits setzt es diesen Zwängen am Ende die Hoffnung entgegen. Einerseits scheint es eine rationalisierende ‚Übersetzung‘ der mythischen Namen in Beschreibungen menschlicher Grunderfahrungen anzubieten, andererseits führt es diese Übersetzung oder Ersetzung nicht konsequent durch und ermöglicht so auch eine mythisierende Überhöhung der genannten Grunderfahrungen. Einerseits behauptet es die Wirksamkeit ‚ewiger‘ oder allgemeiner Kräfte und Gesetze, andererseits insistiert es auf einen irreduziblen Rest an Mehrdeutigkeit und Eigenheit des einzelnen Lebensverlaufs. Diese Deutung von Urworte. Orphisch lässt Verwandtschaften zwischen diesem Gedicht und den naturwissenschaftlichen Lehrgedichten Goethes hervortreten, die zu den direkteren inhaltlichen Bezügen hinzukommen. Auch Urworte. Orphisch zeigt das menschliche Leben als eingefügt in eine umfassende Ordnung, ohne aber eindeutige Rückführungen konkreter Erfahrungen auf allgemeine Gesetze nahezulegen. Die stilistische Gestaltung des Gedichts scheint wesentlich dem Zweck zu dienen, eine bestimmte Haltung gegenüber der umfassenden Daseinsordnung vorzuführen, und zwar eine Haltung, die neben Ernst und Demut auch Humor, Ironie und Selbstbewusstsein einschließt. Mit den Variationen im Ton und dem Facettenreichtum der dadurch vermittelten Haltung steht Urworte. Orphisch den späteren naturwissenschaftlichen Lehrgedichten näher als den Metamorphose-Gedichten, zu denen es in inhaltlicher Hinsicht besonders enge Beziehungen unterhält. In Goethes naturwissenschaftlichen Lehrgedichten und in Urworte. Orphisch zeigt sich somit eine produktive Rezeption der Gattungstradition, die in

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formaler Hinsicht – mit Blick auf Umfang, Strophenformen, Metrum und die stilistische Gestaltung – ein hohes Maß an Vielfalt aufweist, hinsichtlich der Funktionen, der Art der intendierten Belehrung, aber durch deutliche Konstanten gekennzeichnet ist. In Goethes ausführlichster theoretischer Äußerung über das Lehrgedicht aber wird keiner dieser Züge seiner Praxis reflektiert, weder die formale Variabilität noch die spezifische Leistung der Gedichte. 2.2.3 Der Aufsatz Ueber das Lehrgedicht (1827): Ein eigenwilliges Gattungsporträt Goethes Aufsatz Ueber das Lehrgedicht wurde zuerst 1827 in der Zeitschrift Kunst und Altertum veröffentlicht.216 Den Anlass zu seiner Entstehung bildete einem Brief Goethes zufolge die Begegnung mit Friedrich Konrad Griepenkerls Lehrbuch der Ästhetik (1826). In dem betreffenden Brief an Zelter erklärt Goethe, er habe das Buch aufgeschlagen, sei zufällig auf die Formulierung „[d]ie gewöhnliche Eintheilung in lyrische, didaktische, dramatische und epische Poesie“ gestoßen, habe das Buch daraufhin zugeschlagen und seine Ausführungen zum Lehrgedicht diktiert.217 Die Aussagen dieses Aufsatzes kann man zu zwei Hauptthesen zusammenfassen. Die erste These ist ein kritischer Einwand gegen Griepenkerl: Goethe besteht darauf, dass es nicht zulässig sei, die didaktische Dichtung als eine vierte Dichtart neben der lyrischen, epischen und dramatischen aufzufassen. Der weitaus größere Teil des Aufsatzes befasst sich mit der Frage nach der Legitimität und dem Wert der didaktischen Poesie oder des Lehrgedichts. Die hierzu von Goethe vertretene Position kann als die zweite Hauptthese des Aufsatzes angesehen werden; sie besagt, dass die didaktische Poesie ihre Berechtigung und ihren (begrenzten) Wert habe. Gleichwohl kommt der didaktischen Poesie nicht die höchste Rangstufe unter den Ausprägungen der Dichtkunst zu; das hängt wesentlich damit zusammen, dass sie eine „Ab- und Nebenart“ der Poesie ist, ein „Mittelgeschöpf zwischen Poesie und Rhetorik“.218 Im vorliegenden Zusammenhang ist Goethes Entfaltung der zweiten These von zentralem Interesse. Goethe bestimmt hier den Wert und Nutzen, den didaktische Gedichte haben oder haben können, wie folgt:

216 Vgl. Johann Wolfgang Goethe, „Ueber das Lehrgedicht“ [1827]. In: FA I, 22, S. 317 f. 217 Vgl. Johann Wolfgang Goethe an Zelter, Brief vom 29. November 1825, in: FA II, 10, S. 329–331, hier S. 329. – Für die Formulierung bei Griepenkerl vgl. F[riedrich] K[onrad] Griepenkerl, Lehrbuch der Ästhetik. In zwei Theilen, Braunschweig 1826, S. 336. Für die eingehendere Erörterung der didaktischen Poesie vgl. ebd., S. 343–345, zum Lehrgedicht S. 345. 218 Goethe, „Ueber das Lehrgedicht“. In: FA I, 22, S. 317.

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IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800

Dem näher und billig Betrachtenden daher fällt sogleich auf, daß die didaktische Poesie um ihrer Popularität willen schätzbar sey; selbst der begabteste Dichter sollte es sich zur Ehre rechnen auch irgend ein Capitel des Wissenswerthen also behandelt zu haben.219

Im Weiteren geht Goethe auf die besonderen Schwierigkeiten ein, mit denen die didaktische Poesie konfrontiert sei, sowie auf die Mittel, deren sie sich in der Erfüllung ihrer Aufgabe bedienen könne oder sollte. Die Schwierigkeit besteht darin, „ein Werk aus Wissen und Einbildungskraft zusammenzuweben: zwey einander entgegengesetzte Elemente in einem lebendigen Körper zu verbinden.“220 Ein besonders probates Mittel zur Bewältigung dieser Herausforderung verwenden Goethe zufolge „sehr preiswürdige Arbeiten“ der „Engländer“: „sie schmeicheln sich in Scherz und Ernst erst ein bey der Menge und bringen sodann in aufklärenden Noten dasjenige zur Sprache, was man wissen muß, um das Gedicht verstehen zu können.“221 Goethe verweist schließlich auf ein „von einem Mitgliede der geologischen Gesellschaft zu London“ verfasstes Lehrgedicht, das die „Geognosie“ behandle und dabei ganz „imaginativen“ Charakter habe.222 Damit dürfte er das Gedicht King Coal’s Levee or Geological Etiquette (1819) von John Scafe gemeint haben, das er auch in Briefen erwähnt und dessen Inhalt er für sich schriftlich resümiert hatte.223 Nachdem Goethe zu Beginn die Auffassung von der Didaktik als einer eigenen Gattung kategorisch verwirft, kann, so Hans-Wolf Jäger, die „differenzierte und tolerante Argumentation“ der folgenden Abschnitte „erstaun[en]“.224

219 Ebd. 220 Ebd., S. 318. 221 Ebd., S. 317 f. – Hierzu schreibt Jäger: „G. charakterisiert hiermit ein Verfahren, das seit der Antike üblich und auch für die deutsche didaktische Aufklärungsdichtung verbindlich war: mit Apostrophierung des Lesers, mit Bildern und Beispielen, mit empfindungsreichen Passagen im Gedichtcorpus sowie mit Noten geographischer (Albrecht von Haller), moralischer (Johann Peter Uz) oder juridischer Art (Magnus Gottfried Lichtwer).“ (Jäger, „Didaktische Dichtung“, S. 205) Auch hier scheint mir Jäger die eigenwilligen Akzente in Goethes Ausführungen auszublenden. Das von Goethe beschriebene Verfahren besteht letztlich darin, dass der eigentliche Gedichttext als Lockung wirkt und die Noten den lehrhaften Gehalt nachreichen; das trifft aber auf Hallers Gedichte nicht einmal annähernd zu, und auch Uz’ Versuch über die Kunst stets fröhlich zu seyn wäre damit nicht zutreffend beschrieben. Auch Goethes Hervorhebung des Humors als geeignetes Mittel steht in einem Kontrast zu dem Umstand, dass unter den bekannten, repräsentativen Lehrgedichten der deutschen Aufklärung nur wenig komische Gedichte sind. 222 Goethe, „Ueber das Lehrgedicht“, in: FA I, 22, S. 318. 223 Vgl. Johann Wolfgang Goethe, „[King Coal]“, in: FA I, 25, S. 617–620. Vgl. auch Jäger, „Didaktische Dichtung“, S. 205, sowie den Stellenkommentar in: FA I, 22, S. 1143. 224 Jäger, „Didaktische Dichtung“, S. 204.

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Einen eigentlichen Widerspruch gibt es hier, wie auch Jäger feststellt, aber nicht: Dass die Didaktik keine eigene Gattung neben Dramatik, Epik und Lyrik konstituiert, sagt noch nichts über den Wert oder Unwert der didaktischen Gedichte; die Aussage, dass das Lehrgedicht ein Zwitter zwischen Rhetorik und Poesie sei, suggeriert hingegen eine gewisse Abwertung,225 schließt aber nicht aus, dass die Lehrgedichte einen begrenzten Wert oder Nutzen haben können. Die Ausführungen Goethes, die auf die apodiktischen Aussagen der ersten Absätze folgen, stehen also zu diesen nicht im Widerspruch, weisen aber einige überraschende, um nicht zu sagen befremdliche Aspekte auf. Goethe macht sich hier geradezu zum Anwalt der didaktischen Poesie, indem er sie als eine Dichtungsart bezeichnet, die praktiziert zu haben ‚selbst dem begabtesten Dichter zur Ehre gereiche‘. Aber das einzige Lehrgedicht, auf das er im ganzen Aufsatz hinweist, ist ein obskures englisches Gedicht eines unbekannten Autors, das in erster Linie als ein Kuriosum erscheint. Man könnte meinen, dass für den Zweck einer Verteidigung des Lehrgedichts eine Erinnerung an die unbestrittenermaßen bedeutenden Exemplare dieser Dichtungsart geeignet gewesen wäre. Doch in dem Aufsatz bleiben nicht nur Haller, Kästner und alle anderen Lehrdichter des 18. Jahrhunderts unerwähnt, sondern auch Vergil und Lukrez, für den Goethe andernorts seine Bewunderung ausgesprochen hat.226 Nun ist bei Goethes empfehlendem Hinweis auf John Scafes King Coal zu berücksichtigen, dass er dieses Werk wohl kurze Zeit vor Verfassen des LehrgedichtAufsatzes gelesen hat und von ihm offensichtlich angetan war. Aber es bleibt auffällig, dass er nur dieses Werk nennt. An Goethes Verweis auf King Coal und generell auf die „preiswürdige[n]“ englischen Lehrgedichte ist noch etwas anderes beachtenswert: Diese Gedichte haben zumindest der Form nach sehr wenig mit den Gedichten Goethes gemein, die in der Rezeption und teilweise auch von ihm selbst der didaktischen Poesie zugerechnet wurden, also mit Gedichten wie Die Metamorphose der Pflanzen, Metamorphose der Tiere und Howard’s Ehrengedächtnis. Goethe hat kein didaktisches Gedicht geschrieben, das sich durch Humor beim Leser ‚einschmeichelt‘ und in den Noten den eigentlichen Lehrinhalt präsentiert. Die Beispiele für didaktische Poesie, die Goethe hier anführt und als Muster empfiehlt, ähneln mithin nur in sehr geringem Maße seinen Gedichten Die Metamorphose der Pflanzen

225 Werner Keller hingegen schreibt: „Die didaktische Dichtung ist ihm [scil. Goethe; O.K:] ‚ein Mittelgeschöpf zwischen Poesie und Rhetorik‘, ohne daß aus dieser Zwischenstellung ein Mangel abgeleitet werden dürfe, da ihr Wert einzig von der rhythmisch-imaginativen Darstellungskraft abhängig ist.“ (Keller, „‚Die antwortenden Gegenbilder‘“, S. 194) 226 Zu Goethes Einstellung zu Lukrez vgl. Bapp, „Goethe und Lukrez“; Hugh Barr Nisbet, „Lukrez“, in: GHB, Bd. 4/2, S. 673 f.

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IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800

und Metamorphose der Tiere: Diese Goethe’schen Gedichte, die sich besonders deutlich in die Tradition des Lehrgedichts stellen, weisen gerade keine Fußnoten auf und bedienen sich auch nicht des Humors, um eine ‚Vermittlung‘ von ‚Wissen und Einbildungskraft‘ zu leisten. Und wenn Goethe in dem Aufsatz unterstreicht, dass „die didaktische Poesie um ihrer Popularität willen schätzbar sey“, so lobt er an dieser Poesie eine Qualität, die man seinen eigenen didaktischen Gedichten höchstens sehr bedingt zusprechen kann und die er für sie vermutlich auch gar nicht in Anspruch nehmen wollte. Zu diesen didaktischen Gedichten zählte Goethe in einem Brief ausdrücklich seine Gedichte über Luke Howards Wolkenlehre. Aber als diese Gedichte in einer englischen Zeitschrift abgedruckt werden sollten, ergänzte sie Goethe auf Wunsch des Herausgebers um einige das Verständnis erleichternde Strophen sowie um einen erklärenden Text in Prosa. Auf „Popularität“ waren die zuerst abgefassten Gedichte also kaum angelegt, und auch der Gedichtgruppe in ihrer endgültigen Gestalt kann man diese Eigenschaft höchstens für einzelne Teile attestieren. Zudem ist in dem Aufsatz nirgends die Rede davon, dass Lehrgedichte die Aufgaben erfüllen können, die ihnen Goethe in seiner dichterischen Praxis immer wieder zugewiesen hat, also die Aufgaben, empirische naturwissenschaftliche Befunde in ein größeres Ganzes einzuordnen, sie mithilfe von Analogien zu Phänomenen des menschlichen Lebens in Beziehung zu setzen, die schönen und göttlichen Züge der Naturordnung zu evozieren und eine ehrfurchtsvolle Haltung ihnen gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Wie verhalten sich also Goethes Ausführungen in diesem Aufsatz zu seiner eigenen dichterischen Praxis? Es gibt hier nicht unbedingt einen Widerspruch, aber eine auffällige Diskrepanz. Sucht man nach einer Erklärung für sie, so ist zunächst zu bedenken, wie ambivalent letztlich Goethes Bewertung der didaktischen Poesie in seinem Aufsatz bleibt: Er bezeichnet sie zwar als legitim, gesteht ihr zu, dass sie dichterischen Wert haben könne, und spricht vage von „dem besten was man dahin zählen mag“, hält aber doch daran fest, dass sie „eine Abund Nebenart“ der Poesie sei, eben „ein Mittelgeschöpf zwischen Poesie und Rhetorik“. Es erscheint durchaus als denkbar, dass Goethe Gedichte wie die Metamorphose-Gedichte oder Urworte. Orphisch zu sehr schätzte, um sie in einem publizierten Text einer „Ab- und Nebenart“ der Poesie zuzuschlagen. In einem privaten Brief hingegen, daran sei erinnert, bezeichnete er die Gedichte von Gott und Welt als „wohl didaktisch zu nennende[] Gedichte[]“.227 Dass Goethe die Funktionen, die er in seiner dichterischen Praxis regelmäßig seinen didaktischen Gedichten, insbesondere den naturwissenschaftlichen Gedichten, anvertraute,

227 Goethe an Chr. L. F. Schultz, Brief vom 28.11.1821, in: FA II, 9, S. 222–224, hier S. 223.

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nicht auch theoretisch erörtert hat, mag man zudem mit seiner auch in anderen Fällen zu beobachtenden Scheu erklären, die eigenen dichterischen Produkte öffentlich hinsichtlich zugrunde liegender theoretischer Prinzipien zu kommentieren. 2.2.4 Die Gedichtgruppe Gott und Welt (1827) Goethe stellte diese Gruppe für den dritten Band der Ausgabe letzter Hand zusammen, der (ebenso wie der erste, zweite und vierte Band) im Jahr 1827 erschien.228 Alle hier bisher behandelten Gedichte – die zwei Metamorphose-Gedichte, Howards Ehrengedächtnis, Entoptische Farben, Urworte. Orphisch – sind in dieser Rubrik enthalten. Mehrere Forscher haben die Beziehung dieser Gedichtgruppe zur Gattungstradition des Lehrgedichts erörtert und dabei meist die These vertreten, Goethe habe mit der Gruppe eine neue Variante des Lehrgedichts schaffen wollen.229 Verbreitet ist in der Forschung auch die Ansicht, die Rubrik Gott und Welt sei ein Ersatz für das große Naturgedicht, das Goethe um 1800 geplant, aber nicht ausgeführt hatte.230 Die Art und Weise, wie Goethe sich mit dieser Gedichtgruppe auf die Tradition des Lehrgedichts bezieht, ist aber bisher nur selten eingehender analysiert worden, und darüber, wie diese Gattungsreferenzen zu interpretieren sind, besteht zwischen den betreffenden Forschern keine Einigkeit. Albertsen meint, dass „diese Sammlung als eine Metamorphose des Lehrgedichts ins Lyrische interpretierbar“231 sei und dass „ein Symboliker wie Goethe“ das geplante kosmische Lehrgedicht „nicht in epischer, wohl aber in lyrischer Form zu verfassen vermochte“.232 Katrin Seele kommt in ihrer Monographie über Gott und Welt zu

228 In der Werkausgabe von 1815 hatte es bereits eine Gruppe „Gott, Gemüth und Welt“ gegeben. Sie ist wiedergegeben in: FA I, 2, S. 379–383. Diese Gruppe enthält gut vierzig meist zweioder vierzeilige Sprüche; nur zwei dieser Spräche tauchen in der späteren Rubrik Gott und Welt (unter der Überschrift Proœmion) auf. – Für einen hilfreichen Überblick über die von Goethe zusammengestellten Gedichtsammlungen vgl.: Regine Otto, „Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789–1827“, in: GHB, Bd. 1, S. 18–31; zur Gruppe Gott, Gemüth und Welt auf S. 23, 26, zu Gott und Welt S. 28 f. 229 Vgl. Leif Ludwig Albertsen, „Gott und Welt“, in: Text & Kontext, 15/1987, S. 70–96; Katrin Seele, Das ‚geistige Band‘. Naturforschung, Didaktik und Poesie in Goethes Gedichtsammlung Gott und Welt, Würzburg 2008. Das erklärte Ziel dieser Monographie ist es, „eine neue Lesart der Gedichtsammlung Gott und Welt als Lehrgedicht vorzustellen.“ (Ebd., S. 16.) 230 Vgl. etwa: Eibl, „Kommentar“, in: FA I, 2, S. 1072; Otto, „Die Gedichtsammlungen in den autorisierten Ausgaben von Goethes Werken 1789–1827“, S. 28; Jäger, „Didaktische Dichtung“, S. 205. 231 Albertsen, „Gott und Welt“, S. 82. 232 Ebd., S. 70.

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dem Ergebnis, dass die Gruppe sich durch eine ausgeprägte „Variabilität und Heterogenität“ auszeichne, die eine ähnliche Funktion erfülle wie das von Pörksen an Goethes naturwissenschaftlichen Prosaschriften beobachtete Verfahren der ‚Synonymenvariation‘.233 Die Nutzung dieses „Prinzips der ‚Synonymenvariation‘“ sei auch das, was Gott und Welt von älteren Formen des Lehrgedichts unterscheide.234 Barbara Mahlmann-Bauer hingegen hat zu zeigen versucht, dass Goethe in Gott und Welt die Tradition des großen lukrezischen Lehrgedichts nur aufrufe, um sie als obsolet zu erweisen, da sie mit einem uneinlösbaren Erkenntnisanspruch verknüpft sei.235 Die folgende Interpretation schließt sich der Annahme an, dass Goethe mit Gott und Welt auf die Tradition des Lehrgedichts rekurrierte, und deutet den intendierten Sinn dieser Bezugnahme nicht als eine Verabschiedung, sondern eher als eine Erneuerung der Tradition. Auch gegenüber den einzelnen Lehrgedichten Goethes, die oben untersucht wurden, bringt der Zyklus Gott und Welt noch etwas prinzipiell Neues. Die Art der Abwandlung und Erneuerung der Lehrgedichtstradition ist in den bisher vorliegenden Analysen aber noch nicht befriedigend herausgearbeitet worden. 2.2.4.1 Das Verhältnis der Gruppe zur Tradition des lukrezischen Lehrgedichts Zunächst seien die Eigenschaften der Rubrik Gott und Welt vorgestellt, die für die Annahme sprechen, dass sie nicht nur an die Tradition didaktischer Gedichte ganz allgemein, sondern speziell auch auf die Tradition des großen, thematisch umfassenden Lehrgedichts des lukrezischen Typs anschließen sollte. Schon der Titel Gott und Welt drückt einen denkbar weitgespannten Anspruch aus, wie er für das Gedicht des Lukrez und andere Gedichte in seiner Nachfolge kennzeichnend ist. Entscheidend ist aber die Komposition der Rubrik selbst. Zunächst seien die Titel aller Gedichte der Gruppe, wie sie in der Ausgabe letzter Hand abgedruckt wurden, aufgelistet: Proœmion Wiederfinden Weltseele

233 Seele, Das ‚geistige Band‘, S. 275. 234 Ebd., S. 278. 235 Vgl. Barbara Mahlmann-Bauer, „Poetische Darstellungen des Kosmos in der Nachfolge des Lukrez. Bruno – Kepler – Goethe“, in: Thomas Leinkauf (Hrsg.), Der Naturbegriff in der Frühen Neuzeit. Semantische Perspektiven zwischen 1500 und 1700, Tübingen 2005, S. 109–186, zu „Gott und Welt“ dort S. 172–186.

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Dauer im Wechsel Eins und Alles Parabase Die Metamorphose der Pflanzen Epirrhema Metamorphose der Tiere Antepirrhema Urworte. Orphisch Atmosphäre Howard’s Ehrengedächtnis Entoptische Farben. An Julien Wohl zu merken Was es gilt. Dem Chromatiker Herkömmlich Allerdings. Dem Physiker Ultimatum Die Weisen und die Leute

Ein Problem wirft die Platzierung des Gedichts Entoptische Farben. An Julien zwischen Howard’s Ehrengedächtnis und Wohl zu merken auf. Diese letzten zwei Gedichte hatte Goethe zusammen mit Atmosphäre in einer Zeitschrift zusammen abgedruckt, und Wohl zu merken nimmt explizit wieder auf den Inhalt von Atmosphäre Bezug. Diese offenbar eine Dreiergruppe bildenden Gedichte werden nun also durch Entoptische Farben. An Julien auseinandergerissen. Da dieses Gedicht zudem ein Thema aus dem Umkreis der Farbenlehre behandelt und somit inhaltlich mit Was es gilt. Dem Chromatiker und Herkömmlich verbunden ist, haben mehrere Herausgeber – auch Eibl in der Frankfurter Ausgabe – ein Versehen angenommen und die Reihenfolge von Entoptische Farben. An Julien und Wohl zu merken geändert. Dass die ursprüngliche Platzierung von Entoptische Farben. An Julien für ein Versehen gehalten werden kann, liegt also zum Teil gerade daran, dass die Anordnung der Gedichte insgesamt thematische Beziehungen zu berücksichtigen scheint und eine Untergliederung der Gruppe in inhaltlich bestimmte Binnensektionen nahelegt: Gott und Welt ist, so Eibl, „ein wohlkomponiertes Ensemble von ‚einander freundlich antwortenden‘ Gedichten mit einer einheitlichen Grundintention, mit klar gegliederten Binnengruppen, dabei bemüht um Variabilität und ‚didaktische‘ Zugänglichkeit.“236 Eibl hat eine überzeugende Beschreibung der Binnengliederung vorgelegt, die sich mit den diesbezüglichen Vorschlägen Albertsens und Mahlmann-Bauers in mehreren Punkten trifft und die hier im

236 Eibl, „Kommentar“, in: FA I, 2, S. 1073 f.

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Wesentlichen übernommen wird.237 Einigkeit besteht vor allem darüber, dass die Rubrik drei große Hauptsektionen aufweist: Auf das Eingangsgedicht Proœmion folgen vier Gedichte, die thematisch verwandt sind und die man als kosmologische Gedichte bezeichnen kann: Wiederfinden, Weltseele, Dauer im Wechsel und Eins und Alles. Parabase scheint als ein Zwischenstück zwischen der ersten und der zweiten Binnengruppe zu fungieren. Als diese zweite Binnengruppe kann man die zwei Metamorphose-Gedichte, Urworte. Orphisch, die Gedichte zur Wolkenlehre und schließlich die zur Farbenlehre auffassen. Es handelte sich also um eine Binnengruppe, die vor allem Gedichte mit naturwissenschaftlichem Inhalt versammelt, die aber als Zentrum – das zugleich das Zentrum der ganzen Rubrik ist – ein Gedicht über den Menschen enthält. Zur internen Gliederung der Gruppe dürfte neben dieser Positionierung von Urworte. Orphisch auch gehören, dass die Gegenstände der naturwissenschaftlichen Gedichte eine aufsteigende Reihe bilden: Pflanzen, Tiere, Wolken, Licht.238 Die dritte Hauptgruppe bilden drei polemische und satirische Gedichte: Allerdings. Dem Physiker, Ultimatum und Die Weisen und die Leute. Zwischen einigen der genannten Texte sind kürzere Gedichte platziert, die schon durch die Überschriften als ‚Zwischenstücke‘ ausgewiesen werden: so insbesondere Epirrhema und Antepirrhema. Die überleitenden Gedichte behandeln oft (im weiten Sinne) wissenschaftstheoretische Fragen, während die von ihnen eingeschlossenen oder eingeführten, meist umfangreicheren Zentralstücke die eigentliche Substanz der Lehren bieten. Als eine Bezugnahme auf die Tradition des lukrezischen Lehrgedichts kann man vor allem die Gestaltung der mittleren Binnensektion deuten, in der nacheinander verschiedene Naturbereiche behandelt werden. Diese Sektion scheint so in einem kleineren Rahmen eine Totalität der Natur abbilden zu wollen, wie sie Lukrez in epischer Breite zu repräsentieren sucht. Auf andere Weise streben auch die kosmologischen Gedichte der ersten großen Binnensektion nach der Erfassung oder Evokation einer solchen Totalität, indem sie übergeordnete Gesetzmäßigkeiten umschreiben, die das Ganze der Welt beherrschen. Ein Forscher hat ferner die Ansicht vertreten, dass das Eingangsgedicht Prooemion sich als ein Gedicht „zum Preise der schaffenden Gottheit“ mit „dem Eingangshymnus des Lukrez auf die Venus genetrix vergleichen läßt.“239 Schließlich wäre zu erwägen, ob auch die Integration polemischer und satirischer Gedichte in die Rubrik zu den ‚Systemreferenzen‘ zu zählen ist; sowohl bei Lukrez selbst 237 Die monographische Studie von Katrin Seele (vgl. Seele, Das ‚geistige Band‘) liefert Einzelinterpretationen zu allen Gedichten der Rubrik, geht aber auf die Frage nach der Komposition der Gruppe nicht ein. 238 So Albertsen, „Gott und Welt“, S. 81 f. 239 Bapp, „Goethe und Lukrez“, S. 66.

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als auch in vielen Anti-Lukrez-Gedichten und anderen bekannten Lehrgedichten des 18. Jahrhunderts wird ja die Mitteilung einer Lehre durch die Bekämpfung entgegengesetzter Positionen flankiert. Ob Goethe, als er neben den didaktischen Gedichten über Natur und Mensch auch die polemischen und satirischen aufnahm, eine solche Anknüpfung an die Lehrgedichtstradition intendierte, ist allerdings schwer auszumachen. Beachtung verdient in diesem Zusammenhang auch, wie Goethe selbst in Briefen die Rubrik beschrieb und was für ihn die verbindenden Eigenschaften der darin versammelten Gedichte waren. Die Anfänge der Planung der Rubrik lassen sich anhand überlieferter Briefe gut nachvollziehen. Den ersten Anstoß zur Zusammenstellung der Gruppe gab offenbar Riemer, als er in einem Brief vom Oktober 1821 Goethe darauf hinwies, „dass bereits Gedichte wie Die Metamorphose der Pflanzen, Howards Ehrengedächtnis, Weltseele und Orphische Worte u. s. w. existiren“ und dass „eine solche Anlage wohl Grund und Anlass genug geben [könne], sie gelegentlich zu vermehren“.240 Zu diesem Zweck könne es hilfreich sein, „sämmtliche auf Natur und Weltansicht, physisch wie sittlich, bezügliche Gedichte [. . .] in Abschrift zusammenzustellen“ und diese Sammlung „als ein tägliches Brevier zu durchlaufen“, um festzustellen, „was man noch zu behandeln wünschte“.241 Für Riemer bestand die Einheit der anvisierten Gedichtsammlung darin, dass sich alle Gedichte „auf Natur und Weltansicht, physisch wie sittlich“, bezogen. In den folgenden Monaten erwähnte Goethe verschiedentlich seine Arbeit an einer Gedichtsammlung, bei der er es sich um die schließlich als Gott und Welt veröffentlichte handeln dürfte.242 In einem Brief erklärt er ausdrücklich, dass die betreffenden Gedichte als didaktische Gedichte bezeichnet werden könnten; er schickte dem Adressaten das Gedicht Howards Ehrengedächtnis und bemerkte im Brief dazu: Gedichte dieser Art, die wohl zu den didaktischen gerechnet werden können, habe mehr geschrieben [sic] als ich selbst wußte; ein Freund veranlaßt mich alles zu sammeln, was sich gleicherweise auf Naturwissenschaft bezieht, und es findet sich schon manches was einander freundlich antwortet.243

Das gemeinsame Merkmal der didaktischen Gedichte, mit deren Sammlung er beschäftigt sei, besteht demnach in ihrem Bezug „auf Naturwissenschaft“. Die Bemerkung, dass diese Gedichte ‚einander freundlich antworten‘, deutet 240 Riemer an Goethe, Brief vom 29.10.1821; zitiert nach: WA, IV, 35, S. 354 (Apparat). 241 Ebd. 242 Die wichtigsten Zitate aus diesen Briefen sind zusammengestellt bei: Eibl, „Kommentar“, S. 1072 f. 243 Goethe an Chr. L. F. Schultz, Brief vom 28.11.1821, in: FA II, 9, S. 222–224, hier S. 223.

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zudem an, dass sie über diese grundlegende thematische Gemeinsamkeit hinaus spezifischere inhaltliche Beziehungen aufweisen. In anderen Briefen erklärt Goethe, er wolle Gedichte zusammenstellen, die „sich auf natura naturans beziehen“244 oder die er „seit mehreren Jahren zu Ehren der hohen natura naturans gedichtet“.245 Dies kann man als Hinweis darauf verstehen, dass Goethe die Funktion der betreffenden didaktischen Gedichte nicht nur in einer Belehrung im engen Sinne, sondern auch in dem Lobpreis der Natur und des in ihr wirkenden göttlichen Prinzips sah. Für die Annahme, dass Gott und Welt als Ersatz für das um 1800 geplante große Naturgedicht dienen sollte, bieten Goethes briefliche Äußerungen kaum eine solide Stütze. Vergleicht man diese Aussagen mit der schließlich veröffentlichten Rubrik, so kann man ferner feststellen, dass von den satirischen und polemischen Gedichten in Goethes Briefen nicht die Rede ist. Es ist anzunehmen, dass Goethes Konzeption der Gruppe sich nach der Phase Ende 1821, der die zitierten Briefe entstammen, noch weiterentwickelt hat. Doch die Grundzüge dieser Konzeption, wie sie Goethe hier andeutet, finden sich in der 1827 veröffentlichten Rubrik verwirklicht. Wichtig ist im vorliegenden Zusammenhang vor allem, dass die Annahme, Gott und Welt könne wie ein größeres Lehrgedicht interpretiert werden, in diesen Briefäußerungen einen gewissen Anhalt findet: Goethe betrachtete ausdrücklich zumindest einen Teil der in der Rubrik versammelten Gedichte als didaktische, und die Gruppe sollte außer durch allgemeine thematische Gemeinsamkeiten durch speziellere Bezüge zwischen einzelnen Texten strukturiert sein. Es erscheint somit als eine plausible Vermutung, dass Goethe durch die Komposition der Gruppe Gott und Welt wie durch ihren Titel auf die Tradition des großen, umfassenden Lehrgedichts des lukrezischen Typs Bezug nehmen wollte. Aber Gott und Welt ist eben kein großes Lehrgedicht von mehreren tausend Versen, sondern eine überschaubare Gruppe von kurzen und etwas längeren Gedichten, in denen kosmologische Vorstellungen umrissen, Phänomene und Gesetze verschiedener Naturbereiche vorgestellt, methodologische Maximen formuliert und gegnerische Auffassungen attackiert werden. Damit stellt sich die Frage, wie Goethes Bezugnahme auf die Tradition des umfassenden Lehrgedichts zu deuten ist. Insbesondere ist zu fragen, was die Anspielungen auf diese Tradition über den epistemischen Anspruch der Gruppe aussagen: ob also Goethe zu verstehen geben wollte, dass die Rubrik Gott und Welt mit

244 Goethe an Riemer, Brief vom 1.11.1821, in: WA IV, 35, S. 165. (Das Zitat stammt aus einem wohl unvollständigen Briefkonzept; vgl. den Kommentar ebd., S. 354.) 245 Goethe an S. Boisserée, Brief vom 18.11.1821, in: FA II, 9, S. 219–221, hier S. 221.

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anderen Mitteln etwas Ähnliches leisten sollte wie große Lehrgedichte des lukrezischen Typs. In der Forschung ist diese Frage, wie bereits angedeutet, auf gegensätzliche Weisen beantwortet worden. Einige Interpreten und Herausgeber nehmen in der Tat an, dass die Rubrik für Goethe einem ähnlichen Anspruch verpflichtet war wie das Gedicht des Lukrez und dass er hier zumindest im Kleinen und ansatzweise das zu verwirklichen suchte, was er um 1800 in der Form eines großen Naturgedichtes umsetzen wollte.246 Dagegen hat MahlmannBauer, die Gott und Welt im Rahmen eines umfangreichen Aufsatzes und zusammen mit Lehrgedichten von Giordano Bruno und Johannes Kepler behandelt,247 die These vertreten, dass Goethe in dieser Rubrik die Ansprüche dieser traditionellen Gattung für illusionär erklären, sich auch von seinem früheren Plan eines großen Naturgedichts distanzieren und dieses Vorhaben aus erkenntnistheoretischen Gründen für sinnlos verurteilen wollte. Zu diesem Zweck habe er in den Zyklus kosmologische Gedichte wie Wiederfinden, Weltseele und Eins und Alles aufgenommen, in denen allgemeinste Gesetze des Makrokosmos formuliert und ihre Geltung auch für den Bereich des menschlichen Lebens behauptet werden.248 Die umfassenden Erkenntisansprüche, die die Gedichte damit erheben, werden Mahlmann-Bauer zufolge in den wissenschaftstheoretischen und polemischen Gedichten des Zyklus kritisch reflektiert und letztlich zurückgewiesen, so vor allem im Anfangs- und im Schlussgedicht, in Proœmion und Die Weisen und die Leute.249 Diese Gedichte brechen ihr zufolge den Stab über alle Versuche, „mit Hilfe des Urteils- und Vorstellungsvermögens über das, was nur in Raum und Zeit empirisch erfahrbar ist, hinauszugelangen“,250 „Fragen nach dem Ursprung des Seins, dem Anfang der Dinge, den Grenzen von Raum und Zeit oder nach Zufall und Notwendigkeit alles Geschehens“251 zu beantworten. Sie bringen damit eine erkenntnistheoretische Position zum Ausdruck, die in wesentlichen Punkten der Metaphysikkritik Kants in der „Transzendentalen Dialektik“ der Kritik der reinen Vernunft entspreche und von ihr beeinflusst sein könnte.252 Da er zur

246 Vgl. Albertsen, „Gott und Welt“, v. a. S. 70, 87; Sommerhalder, „Pulsschlag der Erde!“, S. 289–291, 312–314. Vgl. auch Eibl, „Kommentar“, S. 1073 f. 247 Vgl. Mahlmann-Bauer, „Poetische Darstellungen des Kosmos“, S. 172–186. 248 Vgl. ebd., S. 173 f. (zu den vier kosmologischen Gedichten des Zyklus insgesamt), S. 176–178 (zu den einzelnen Gedichten). 249 Vgl. ebd., S. 176, 179 f., 182 f. 250 Ebd., S. 183. 251 Ebd., S. 186. 252 Vgl. ebd., S. 181–183 sowie 184 f.

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Überzeugung gelangt sei, dass Fragen über die Welt als Ganzes das menschliche Erkenntnisvermögen übersteigen, habe Goethe nicht den Plan eines großen lukrezischen Lehrgedichts wieder aufgegriffen, sondern „nur einen Zyklus sich gegenseitig antwortender sibyllinischer Verse [vollendet]“.253 In Gott und Welt, so Mahlmann-Bauer, „sprengt Goethe die Form des naturphilosophischen Lehrgedichts“, nachdem Kants Metaphysikkritik ihre „Existenzberechtigung [. . .] angegriffen“ habe.254 So stellt sie ihre Untersuchung des Zyklus unter die pointierte Überschrift „Das Ende der Lehrdichtung“.255 Es ist ein Verdienst der Studie Mahlmann-Bauers, die Frage nach dem epistemischen Anspruch der Gedichtgruppe explizit gestellt und mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen den im engeren Sinne lehrhaften und den satirischen oder ‚wissenschaftstheoretischen‘ Gedichten verbunden zu haben. Doch ihre Beantwortung dieser Fragen erscheint in mehrfacher Hinsicht problematisch. Die Interpretationen der rahmenden Texte Proœmion und Die Weisen und die Leute, auf die sich ihre Deutung der Rubrik stützt, sind zumindest anfechtbar; es spricht einiges dagegen, Proœmion als soziologische Relativierung aller Religionen und Die Weisen und die Leute als ein ‚skeptizistisches‘ Gedicht zu deuten.256 Zur Stützung ihrer Annahmen über die wissenschaftstheoretischen und naturphilosophischen Ansichten des späten Goethe werden in der Studie neben dem Gedichtzyklus

253 Ebd., S. 181. 254 Ebd., S. 186. 255 Ebd., S. 172 (Zwischenüberschrift: „7. Das Ende der Lehrdichtung. Goethes Zyklus Gott und Welt“). Vgl. auch ebd., S. 173, zu den „Gründe[n]“ für Goethes „Distanznahme“ gegenüber seinem Projekt eines großen Naturgedichts: „Die Tradition des naturphilosophischen Lehrgedichts war an ein Ende gelangt.“ 256 Für diese Deutung von Proœmion vgl. ebd., S. 179, 181. Die Verfasserin stützt sich dabei vor allem auf die Gedichtaussage, es sei „der Völker löblicher Gebrauch | Daß jeglicher das Beste was er kennt, | Er Gott, ja seinen Gott benennt“ (Proœmion, 22–24; FA I, 2, S. 490). Sie scheint mir dabei nicht zu berücksichtigen, dass es direkt vorher heißt: „Im Innern ist ein Universum auch; | Daher der Völker löblicher Gebrauch [. . .].“ Diese Verse schreiben den verschiedenen Gottesbegriffen ein reales und universales Fundament zu. Eibl sieht hier eine „leicht ironische [. . .] Konzession an die ‚positiven‘ Religionen, die als kontingenter, bildhafter Ausdruck der davor formulierten universellen Religion akzeptiert werden.“ (Eibl, „Kommentar“, in: FA I, 2, S. 1076) Anfechtbar ist auch Mahlmann-Bauers knappe Interpretation des Gedichts Parabase, in dem sie eine Distanzierung Goethes von früheren Naturauffassungen ausgedrückt findet; vgl. Mahlmann-Bauer, „Poetische Darstellungen des Kosmos“, S. 178 f. Doch das Gedicht beginnt zwar mit den Versen „Freudig war, vor vielen Jahren, | Eifrig so der Geist bestrebt, [. . .]“, enthält im Folgenden aber keine kritische Abgrenzung von diesem eifrigen Streben. Keine solche Distanzierung, sondern die Beschreibung einer kontinuierlichen Entwicklung sieht hier auch Wulf Segebrecht, „Symbiose von Naturwissenschaft und Poesie. Zu Goethes Gedicht Parabase“, in: Sauder (Hrsg.), Goethe-Gedichte, S. 310–314.

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selbst nur wenige weitere Quellen angeführt, die kaum eine hinreichende Begründung dieser Annahmen bieten.257 Die Argumentation Mahlmann-Bauers beruht dabei auch auf einer strikten Dichotomie zwischen empirisch-experimenteller Naturforschung und umfassender Naturphilosophie oder Metaphysik;258 doch es ist mit guten Gründen dafür argumentiert worden, dass Goethe in seiner Naturforschung diese Traditionen zu verbinden suchte.259 Auffällig ist ferner, dass in der Interpretation des Zyklus die zwei Metamorphose-Gedichte sowie Urworte. Orphisch kaum Beachtung finden. Es bleibt unklar, ob für Mahlmann-Bauer auch die in den Metamorphose-Gedichten behaupteten Analogien zwischen dem Menschenleben und der außermenschlichen Natur zu den naturphilosophischen Spekulationen gehören, die von den polemischen und wissenschaftstheoretischen Gedichten hinterfragt und gleichsam widerrufen werden. Kaum bestreitbar ist hingegen die These, dass die Ansprüche von Gott und Welt insofern weniger umfassend als die der Lehrgedichte des Lukrez oder Giordano Brunos sind, als sich

257 Vgl. die Deutungen zweier Äußerungen Goethes bei Mahlmann-Bauer, „Poetische Darstellungen des Kosmos“, S. 181, 184. Ob die ebd., S. 181, zitierte Briefäußerung Goethes „an das Ergebnis der Metaphysikkritik Immanuel Kants in der ‚Transzendentalen Dialektik‘ der Kritik der reinen Vernunft an[schließt]“ (ebd.), erscheint mir fraglich. Im Übrigen vertritt MahlmannBauer einerseits die Auffassung, Goethe sei nach jahrzehntelangen experimentellen Naturforschungen „allmählich skeptisch gegenüber idealistischen Versuchen zu einer systematischen Naturphilosophie“ geworden und habe sich der Metaphysikkritk Kants angeschlossen (ebd., S. 184); andererseits führt sie als Beleg für Goethes Zustimmung zu Kants „Kritik am transzendentalen Schein der leerlaufenden Vernunft in den Antinomien“ ein Zitat aus der vermutlich um 1785 entstandenen Studie nach Spinoza an (vgl. ebd., S. 184 f., Zitat 184). In den 1790er Jahren aber entstanden auch Mahlmann-Bauer zufolge die „naturphilosophischen Gedichte Weltseele, Die Metamorphose der Pflanzen und Metamorphose der Tiere“ und der Plan zu einem großen lukrezischen Naturgedicht (ebd., S. 183). 258 Vgl. etwa ebd., S. 180: „Ex negativo entwickelt Goethe in den wissenschaftstheoretischen und polemischen Versen eine Experimentalphilosophie.“ Zu Goethes „Experimentalphilosophie“ auch ebd., S. 184. Kritisch habe Goethe dagegen „idealistischen Versuchen zu einer systematischen Naturphilosophe“ (ebd.) gegenübergestanden. 259 Dass Goethe in seiner Naturforschung einerseits metaphysische Theorien aus der Philosophie Leibniz’ sowie der über Leibniz vermittelten neo-platonischen Tradition, andererseits aber auch Positionen der empiristischen Tradition aufgegriffen und miteinander zu verbinden versucht habe, ist eine zentrale These von Nisbet, Goethe and the Scientific Tradition. Zu der Methode des explorativen Experimentierens, die für Goethe in seiner Farbenforschung leitend war, vgl. grundlegend Friedrich Steinle, „‚Das Nächste ans Nächste reihen‘. Goethe, Newton und das Experiment“, in: Philosophia Naturalis, 39/2002, S. 141–172. Steinle zeigt hier, dass Goethes Auffassung vom Experiment konsistent war und in einer speziellen, von der Newton’schen unterschiedenen Tradition stand, nimmt aber zugleich an, dass Goethe einer „neuplatonischen Auffassung von der Natur als einer einheitlichen verpflichtet war“ (ebd., S. 160 f.).

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aus den „ineinander gespiegelten Perspektiven“ von Goethes Zyklus „schwerlich“ eine „systematische Naturphilosophie [. . .] entwickeln“ lasse.260 Doch das bedeutet noch nicht, dass Goethe diesen Perspektiven auf die Ordnung der Welt und die Stellung des Menschen darin einen geringen Wert zugeschrieben hätte. Ebenso wenig folgt aus diesem Befund schon, dass Goethe mit dem Zyklus Gott und Welt einen Schlussstrich unter die Tradition des großen naturphilosophischen Lehrgedichts ziehen, nicht aber eine produktive Transformation dieser Gattung bieten wollte. Diese letzten Gedanken seien noch etwas weiter ausgeführt. Goethe hat sich auch in seinen späten Jahren immer wieder zu zwei Überzeugungen bekannt: erstens zu der Überzeugung, dass die Natur eine einheitliche Gesamtordnung aufweise, in der sich das Göttliche manifestiert, und zweitens zu der Überzeugung, dass diese Ordnung für den Menschen nicht direkt erkennbar sei, dass sie sich nur andeutungsweise offenbare. Besonders deutlich sind diese Annahmen etwa in den einleitenden Sätzen der 1825 verfassten Schrift Versuch einer Witterungslehre ausgedrückt: Das Wahre, mit dem Göttlichen identisch, läßt sich niemals von uns direkt erkennen, wir schauen es nur im Abglanz, im Beispiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen.261

Das heißt aber, dass die wiederum andeutungshafte Darstellung dieser Ordnung mithilfe von Analogien, Symbolen und ‚sich freundlich antwortenden‘ oder sich wechselseitig spiegelnden Gedichten das Höchste ist, was für den Menschen auf dem Gebiet der Erkenntnis des Ganzen erreichbar ist. Es gilt ferner zu bedenken, dass Goethe zwar die Ordnung des Naturganzen nicht für direkt und mit Gewissheit erkennbar hielt, aber durchaus Ansichten darüber vertrat, wie einige Grundzüge dieser Ordnung beschaffen waren. Dazu gehörten etwa seine Ansichten über Polarität und Steigerung als Grundprinzipien der Natur. Dass er nicht den Anspruch erhob, die Wirksamkeit dieser Prinzipien in allen Bereichen der Natur nachweisen zu können, bedeutete nicht, dass er diese Ansichten einfach für unbegründete Meinungen hielt, deren Negationen ebenso gut wahr sein könnten. Den epistemischen Status solcher Annahmen hat Goethe gelegentlich auch mit

260 Mahlmann-Bauer, „Poetische Darstellungen des Kosmos“, S. 181. 261 Johann Wolfgang Goethe, Versuch einer Witterungslehre 1825, in: FA I, 25, S. 274–300, hier S. 274. Der Text wurde zuerst 1833 gedruckt. Karl Richter hat diese Eingangssätze der Abhandlung für die Interpretation naturwissenschaftlicher Bezüge in Altersgedichten Goethes fruchtbar gemacht; vgl. Richter, „Naturwissenschaftliche Voraussetzungen der Symbolik“, S. 12 f.

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Ausdrücken wie ‚Schauen‘, ‚Ahnen‘ und ‚Glauben‘ angedeutet, so etwa in einem Brief von 1827, in dem er ‚Glauben‘ und ‚Ahnen‘ als „Fühlhörner“ bezeichnet, „mit denen der Mensch in’s Universum tastet“.262 So folgt die hier vorgeschlagene Interpretation derjenigen MahlmannBauers zwar in der Annahme, dass Goethe mit Gott und Welt insofern einen bescheideneren epistemischen Anspruch als Lukrez und andere Autoren dieser Tradition erhebt, als er keine systematische Naturphilosophie entwickelt und nicht behauptet, alle in den Gedichten enthaltenen Aussagen über die Natur wissenschaftlich begründen zu können. Aber das bedeutet nicht, so ist gegen Mahlmann-Bauers Deutung zu betonen, dass die Gruppe insgesamt im Zeichen des Skeptizismus oder der Resignation stünde. Goethe versucht vielmehr, den Totalitätsanspruch des lukrezischen Lehrgedichtstyps unter veränderten Bedingungen aufrecht zu erhalten. Er zieht sich keineswegs auf die Position zurück, dass der Mensch über die Gesamtheit der Natur und ihre Ordnungen nichts wissen und nichts Sinnvolles sagen könne, sondern besteht darauf, dass dem Menschen ‚Ahnungen‘ von dieser Gesamtordnung möglich sind, und hält diese Ahnungen für so wichtig, dass er ihnen eine sorgfältig komponierte Gedichtgruppe widmet. Damit sind für die Gedichtgruppe Gott und Welt im Ganzen eine ähnliche Absicht und ein ähnlicher Anspruch leitend wie für die einzelnen naturwissenschaftlichen Lehrgedichte, die oben näher untersucht wurden: Wie die Gedichte Analogien zwischen einzelnen Naturerscheinungen und dem menschlichen Leben herstellen und so den Menschen in eine größere Naturordnung einfügen, so lässt die Rubrik durch das geordnete Nebeneinander von Gedichten über verschiedene Naturbereiche weitere Ähnlichkeitsbeziehungen hervortreten und platziert den Menschen als Mikrokosmos und als „höchstes Geschöpf“ (Metamorphose der Tiere, 57) in diesem Makrokosmos der Natur. Auch ein weiterer Grundzug der naturwissenschaftlichen Gedichte, der Ausdruck einer ehrfurchtsvollen Haltung gegenüber der Natur, wird in der Gedichtgruppe noch breiter entfaltet: Im Eingangsgedicht Proœmium wie in den kosmologischen Gedichten liegt ein Hauptakzent auf der Artikulation einer solchen Haltung. Doch Goethe verfolgt in der Gedichtgruppe Gott und Welt noch eine weitere Zielsetzung, die gegenüber den einzelnen Lehrgedichten etwas grundlegend Neues darstellt: Er hebt auf verschiedene Weisen hervor, dass diese Gruppe und die in ihr dargebotene Sicht auf Mensch, Natur und Gott das Ergebnis seiner individuell unternommenen Anstrengungen sind.

262 Goethe an Ch. D. von Buttel, Brief vom 3. Mai 1827, in: FA II, 10, S. 472–474, hier S. 473.

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2.2.4.2 Totalitätsentwurf als individuelle Leistung Von entscheidender Bedeutung für diese Dimension von Gott und Welt ist das Gedicht, das in der Ausgabe letzter Hand zusammen mit dem Sektionstitel „Gott und Welt“ auf einer eigenen Seite abgedruckt war, also als Motto oder Vorspruch zur gesamten Gruppe fungierte:263 Weite Welt und breites Leben, Langer Jahre redlich Streben, Stets geforscht und stets gegründet, Nie geschlossen, oft geründet, Ältestes bewahrt mit Treue, Freundlich aufgefaßtes Neue, Heitern Sinn und reine Zwecke: Nun! man kommt wohl eine Strecke.

Dieses Gedicht war 1817 in Zur Naturwissenschaft überhaupt erschienen und hatte dort als Einleitungsgedicht des ersten Hefts gedient. Es gibt noch so gut wie keine Aufschlüsse über den Inhalt der naturwissenschaftlichen Abhandlungen beziehungsweise der Gedichte, denen es 1817 und 1827 vorangestellt wurde. Stattdessen weist es die Abhandlungen wie die Gedichte als Früchte einer viele Jahre hindurch betriebenen Arbeit aus und benennt übergeordnete Richtlinien dieser Arbeit. Diese Richtlinien bestehen vor allem in moralischen Werten („redlich“, „mit Treue“, „[f]reundlich“, „reine Zwecke“) und in einer heiteren, zuversichtlichen Einstellung. Hinzu kommen Maximen, die man im weiten Sinne als methodologische bezeichnen könne, nämlich die Grundsätze, oft zu ‚ründen‘, aber nicht zu ‚schließen‘ und das Älteste wie das Neue zu respektieren. Im letzten Vers schließlich drückt der Sprecher bescheiden, aber doch unzweideutig Zufriedenheit mit dem Erreichten aus. Mit Blick auf den ersten Publikationsort des Gedichts ist bemerkenswert, dass hier die naturwissenschaftliche Forschung als ein entschieden individuelles Unternehmen gedeutet wird, in dem der Einzelne sich mit seiner ganzen Person zu bewähren hat und dafür auch als einzelne Person ‚vorankommt‘. Bei der ersten Veröffentlichung des Gedichts wie bei dem Wiederabdruck in Gott und Welt musste es sich für Leser aufdrängen, die Rede vom „Streben“ „[l]anger Jahre“ auf den Verfasser Goethe zu beziehen, dessen langjährige Bemühungen um Literatur wie Naturwissenschaft allgemein bekannt waren.264

263 Vgl. FA I, 2, S. 489. 264 Beim ersten Abdruck des Gedichts wurde eine solche Lesart zusätzlich durch den Untertitel der Zeitschrift Zur Naturwissenschaft überhaupt nahegelegt. Der Untertitel lautete: „Erfahrung, Betrachtung, Folgerung durch Lebensereignisse verbunden“. Vgl. LA I, 8, S. 1.

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Was das Gedicht im dritten Band der Ausgabe letzter Hand als eine Errungenschaft des Autors Goethe präsentiert, ist – so zumindest eine naheliegende Deutung – nicht allein das Korpus der unter der Überschrift Gott und Welt versammelten Gedichte als solches, sondern auch die in ihnen vermittelte Sicht auf „Gott und Welt“. Wenn das Mottogedicht in diesem Sinne verstanden wird, stellt sich die Frage, ob damit der Geltungsanspruch der in den Gedichten entwickelten Sicht auf Natur, Gott und Mensch relativiert werden soll. In den Gedichten der Gruppe, die einen besonders ausgeprägten lehrhaften Charakter haben, finden sich keine solchen subjektivierenden Einschränkungen; die Lehren von der Metamorphose der Tiere und der Pflanzen, von der Wolkenbildung und von den Grundmächten des menschlichen Lebens werden fast durchgehend in entschiedenen Aussagen mit allgemeinem Geltungsanspruch formuliert. Das Mottogedicht nun weist die Gedichte zwar ausdrücklich als Teil des Lebenswerks eines Individuums aus, verbindet damit aber keine explizite Relativierung des Wahrheitsanspruchs. Inwiefern der Inhalt der Gedichte und ihrer Lehren durch die Individualität der Person geprägt sind, deren langjährigem Streben sie sich verdanken, wird offen gelassen. Die im Vorspruch geleistete Rückbindung der Gedichtgruppe Gott und Welt an das „Leben“ und das langjährige „Streben“ des Autors verdiente vielleicht weniger Beachtung, wenn es in der Rubrik selbst keine Texte gäbe, die Ansätze einer persönlichen Dimension aufweisen und eine Verbindung zum Leben Goethes herzustellen erlauben. Doch eben diese persönliche Dimension findet sich in einigen der polemischen und satirischen Gedichte, also in der dritten der oben unterschiedenen Binnensektionen der Gruppe. Ein Beispiel hierfür liefert etwa der wohl bekannteste unter den polemischen Texten, das Gedicht Allerdings. Dem Physiker, in dem Goethe Verse aus Albrecht von Hallers philosophischem Gedicht Die Falschheit menschlicher Tugenden (etwas ungenau) zitiert.265 Allerdings. Dem Physiker ‚Ins Innre der Natur –‘ O du Philister! – ‚Dringt kein geschaffner Geist.‘ Mich und Geschwister Mögt ihr an solches Wort Nur nicht erinnern:

265 Dazu, wie die Verse Hallers („Ins innre der Natur dringt kein erschaffner Geist, | Zu glücklich, wann sie noch die äußre Schale weist!“) im Kontext von Hallers Natur- und Erkenntnisbegriff zu verstehen sind, vgl. Toellner, Albrecht von Haller, S. 64–67.

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Wir denken: Ort für Ort Sind wir im Innern. ‚Glückselig! wem sie nur Die äußre Schale weist!‘ Das hör’ ich sechzig Jahre wiederholen, Ich fluche darauf, aber verstohlen; Sage mir tausend tausendmale: Alles gibt sie reichlich und gern; Natur hat weder Kern Noch Schale, Alles ist sie mit einemmale; Dich prüfe du nur allermeist, Ob du Kern oder Schale seist.266

In der Forschung gibt es divergierende Ansichten darüber, wer das eigentliche Ziel dieser Polemik ist; neben Haller selbst sind auch Nicolai und Kant ins Spiel gebracht worden. Kant hat in der Kritik der reinen Vernunft „die Klagen: Wir sehen das Innere der Dinge gar nicht ein“ kritisiert und dabei eine Formulierung gebraucht, die auf Hallers Diktum anspielen dürfte.267 Aber wenn man annimmt, dass Goethe sich in seinem Gedicht auch auf Kant bezieht, so ist keineswegs offensichtlich, welcher Art diese Bezugnahme ist: Man hat hier sowohl einen Anschluss an Kants Position268 als auch eine Kritik an Haller und Kant

266 FA I, 2, S. 507 f. 267 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 333 f. Eine Anspielung auf Haller dürfte mit der folgenden Formulierung intendiert sein: „Ins Innre der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, und man kann nicht wissen, wie weit dieses mit der Zeit gehen werde.“ (Ebd., B 334) 268 Dass Goethe hier an Kant anschließe, meint: Mahlmann-Bauer, „Poetische Darstellungen des Kosmos“, S. 181 (mit Anm. 158); zu Allerdings. Dem Physiker dort S. 179 f. Theda Rehbock zufolge „wendet sich Goethe hier nicht oder höchstens bedingt gegen die Kantische Philosophie, mit deren Metaphysikkritik sich Goethe in diesem Punkt vielmehr in voller Übereinstimmung befindet. Vgl. hierzu insbesondere Kants fast gleichlautende Kritik des Hallerschen Skeptizismus in: KrV B 333 f.“ (Rehbock, Die Rettung der Phänomene, S. 163, Anm. 120) Hierzu sei zunächst angemerkt, dass es sehr fraglich ist, ob man Hallers Position als „Skeptizismus“ bezeichnen kann. Für eine Rekonstruktion dessen, was Haller mit den zitierten Versen gemeint haben dürfte, vgl. Toellner, Albrecht von Haller, S. 64–67. Toellner vertritt hier mit überzeugenden Gründen die Ansicht, dass Kant die Position Hallers missverstanden hat. Was Kant kritisiert, ist eine Klage darüber, dass der Mensch „nicht durch den reinen Verstand [begreift], was die Dinge, die uns erscheinen, an sich sein mögen“. (Kant, KrV B 333) Aber eine solche Klage konnte Haller überhaupt nicht anstimmen, weil ihm das Konzept des Ding an sich unbekannt war. – Abgesehen davon ist es eine erhebliche Übertreibung, wenn Rehbock behauptet, dass Kants Stellungnahmen in der zitierten Passage und Goethes Kritik in Allerdings. Dem Physiker „fast gleichlautend[]“ seien: Pendants zu Goethes Versen „Ort für Ort | Sind wir im Innern“ oder „Natur hat weder Kern | Noch Schale | Alles ist sie mit einemmale“ lassen sich bei Kant kaum finden. – Ob Goethes

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gesehen, eine Kritik, die sich auf die „Überwindung der Kantischen Philosophie durch die idealistischen Systeme von Fichte und Schelling“269 stütze. Die Frage, auf welche Person oder Lehre Goethe mit dem Gedicht genau zielte, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Wichtiger als der Gegenstand der Kritik ist im Zusammenhang dieser Untersuchung der Modus, in dem diese Kritik vorgebracht wird. Der Sprecher des Gedichts stellt sich als jemanden dar, der mit seiner Naturauffassung zwar nicht allein ist, aber einer Minderheit angehört („Mich und Geschwister“), der über Jahrzehnte hinweg immer wieder die entgegengesetzte Auffassung als common sense anhören muss und seine abweichende Ansicht nicht offen vertreten kann oder möchte.270 Es verdient Interesse, wie der thematisierte Dissens in diesem Gedicht perspektiviert wird. Die kritisierte Auffassung wird als eine Auffassung präsentiert, die von Naturforschern vertreten wird und vermutlich auch ihre Forschung in irgendeiner Weise lenkt. Der Sprecher stellt dieser kritisierten Auffassung seine eigene Überzeugung entgegen, bietet aber so gut wie keine Begründung dafür, dass seine Auffassung richtig und die zitierte falsch ist. Stattdessen gibt er mit einem angedeuteten argumentum ad hominem zu verstehen, dass die Personen, die der angegriffenen Naturauffassung zustimmen, damit menschliche oder moralische Defizite zu erkennen geben, nämlich sich als „Philister“ oder als ‚kernlose‘, nur aus ‚Schale‘ bestehende Menschen entlarven.271 Beachtung

bildhafte und aphoristisch-knappe Formulierungen tatsächlich eine Position umschreiben sollen, die der Kantschen ähnelt, müsste im Rahmen einer umfassenderen Untersuchung seines Verhältnisses zu Kant geklärt werden. Zu einigen jüngeren Analysen dieser Beziehung vgl. Fick, „Goethes Naturbegriff. Neuere Publikationen“, S. 51–53, 56. Fick resümiert den Diskussionsstand wie folgt: „Die Frage, die der Klärung bedarf, wäre so zu stellen: Entspricht das ‚Unerforschliche‘, vor dem Goethe ‚resigniert‘, dem Kantschen ‚Ding an sich‘? Meint er mit der Kluft zwischen Idee und Erfahrung das Gleiche wie Kant? Oder berührt Goethe, wo er zu solchen Erkenntnissen gelangt, eine Dimension der Natur, die Kant nie ins Auge faßte, und wie läßt sich der Unterschied beschreiben?“ (Ebd., S. 53) 269 Wolf von Engelhardt, Goethes Weltansichten. Auch eine Biographie, Weimar 2007, S. 315; vgl. zu Allerdings im Kontext von Goethes Kant-Rezeption ebd., S. 312–315. 270 Es mag sein, dass Goethes Invektive auf Nicolai zielte, der in einem Aufsatz in der Berliner Monatsschrift (Mai 1799) geschrieben hatte: „Der Ausspruch des philosophischen Dichters wird ewig wahr bleiben: ‚Ins Innre der Natur dringt kein erschaffner Geist; / Zu glücklich, wenn sie ihm die äussre Schale weist!‘“ Vgl. dazu und auch zum Kontext der Äußerung Nicolais: Robert Boxberger, „Zu Goethes Gedicht ‚Allerdings. Dem Physiker‘“, in: Archiv für Litteraturgeschichte, 9/1880, S. 264–266, das Nicolai-Zitat auf S. 265. 271 Etwas anders deutet diese Schlussverse Gernot Böhme. Ihm zufolge wird hier, „was zunächst nur eine methodologische Forderung an die Forschung war, zu einer ethischen Forderung an den Forscher: Er solle prüfen, ob er an sich die Differenz von Kern und Schale feststellen kann.“ Goethe stelle hier der „aus gesellschaftlichen Gründen im 18. Jahrhundert

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verdient schließlich auch das affektive Engagement des Sprechers, das in dem Ausruf „O du Philister!“, vor allem aber in seinem ‚Fluchen‘ auf diese Philister zutage tritt. In diesem Gedicht werden somit Auffassungen von der Natur und vom Verhältnis des Menschen, insbesondere auch des Forschers, zur Natur als Überzeugungen gedeutet, in denen sich die moralische Statur ihrer Anhänger offenbart. Ob diese Auffassungen selbst wissenschaftlichen Gründen und Einwänden zugänglich sind oder auf Glaubenseinstellungen oder Entscheidungen basieren, lässt das Gedicht offen. Indem es von möglichen Gründen für und wider diese Naturauffassung weitestgehend absieht und ganz die Ebene der menschlichen Qualitäten in den Vordergrund rückt, kann es zumindest den Eindruck nahelegen, dass die Festlegung auf die eine oder andere Naturauffassung typischerweise nicht durch Gründe bestimmt wird. Das Gedicht Allerdings. Dem Physiker unterscheidet sich hinsichtlich des Umfangs, der metrischen und strophischen Form und des Sprechduktus von Gedichten wie Die Metamorphose der Pflanzen so sehr, dass sie kaum vergleichbar sind. Dennoch gibt es Beziehungen zwischen ihnen, die ihr Nebeneinander innerhalb derselben Rubrik als konsistent erscheinen lassen. Die Metamorphose-Gedichte heben, wie oben dargelegt, die Analogien zwischen Mensch und außermenschlicher Natur und damit die umfassende Einheit der Natur hervor, fordern den Menschen zur Erkenntnis dieser Einheit sowie der schönen und weisen Ordnung der göttlichen Natur auf und führen Staunen und Freude als die angemessene Haltung gegenüber dieser Natur vor. Es ist gewissermaßen die Kehrseite dieser mit ästhetischen, ethischen und religiösen Konzepten verschränkten Naturdeutung, dass abweichende Naturauffassungen auch als Angriffe auf diese ästhetischen, ethischen und religiösen Vorstellungen behandelt werden. Der Abwehr eines solchen Angriffs dient neben Allerdings. Dem Physiker auch das Gedicht Was es gilt. Dem Chromatiker – genauer: eines der zwei kurzen Gedichte, die unter dieser Überschrift in Gott und Welt abgedruckt sind.272 Dort wendet sich der Sprecher an Forscher, die „das Licht zerstückeln, | Farb’ um Farbe draus entwickeln, | Oder andre Schwänke führen“ wollen, bis der „Hörer ganz erschrocken“ ist; ihnen hält der Sprecher die Zuversicht entgegen, dass er sich nicht vom Wege

sehr gepflegten Differenz von Innen und Außen mit dem Sturm und Drang die Forderung der Authentizität entgegen. Man soll sich so geben, wie man ist, und das auch wirklich sein, als was man erscheint.“ (Gernot Böhme, „Natur hat weder Kern noch Schale. Goethes Methode der Naturbetrachtung“, in: Karl Richter/Gerhard Sauder [Hrsg.], Goethe: Ungewohnte Ansichten, St. Ingbert 2001, S. 9–21, Zitate S. 21) 272 Vgl. FA I, 2, S. 506.

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abbringen lassen und sein Ziel erreichen wird: „Kräftig wie wir’s angefangen, | Wollen wir zum Ziel gelangen.“ Das satirische Gedicht Die Weisen und die Leute,273 das die Rubrik Gott und Welt beschließt, hat eine andere Stoßrichtung als die polemischen Gedichte Allerdings. Dem Physiker und Was es gilt. Dem Chromatiker. Diese polemischen Gedichte attackieren bestimmte Auffassungen von der Natur insgesamt oder vom Wesen des Lichts und der Farben. Die „Leute“ hingegen, die im Schlussgedicht die Zielscheibe der Kritik bilden, vertreten selbst keine Ansichten über die Natur oder den Menschen, sondern treten ausdrücklich als „Frager“ auf und werden als solche kritisiert. Dabei ist nicht evident, ob die Kritik primär auf den Inhalt ihrer Fragen oder auf die Art ihres Fragens zielt. Mahlmann-Bauer zufolge sind es die Fragen selbst, die hier desavouiert werden sollen.274 Aber es spricht vieles dafür, dass die Kritik sich primär gegen die Frager selbst und gegen ihre Art des Fragens richtet: Ihr Fehler besteht darin, dass sie eine rein passive Rolle einnehmen und von den Weisen fertige Antworten geliefert bekommen wollen. Viele der ironischen, sarkastischen oder ausweichenden Antworten der Weisen laufen darauf hinaus, dass die Frager sich selbst erforschen und sich im praktischen Leben bewähren sollen; dabei würden sie ihre eigenen Erfahrungen mit der Willensfreiheit und ihren Schranken oder mit dem Besserungstrieb und seinen Grenzen machen.275 Solche eigenen Erfahrungen aber, dies könnte man als eine implizite Lehre des Schlussgedichts verstehen, sind wertvoller als alle Aussagen über Freiheit oder Besserungstrieb, die ‚die Leute‘ von Autoritäten verkündet bekommen könnten. Mit einer solchen Deutung stimmt es zusammen, dass Goethe – gerade auch im Alter – das unermüdliche Tätigsein als eine Pflicht oder Tugend von geradezu religiöser Dignität, als einen Teil seiner ‚Weltfrömmigkeit‘ oder seines ‚privaten Christentums‘ angesehen hat.276 So gedeutet, enthielte die Botschaft des satirischen Schlussgedichts auch die Aufforderung an die ‚Leute‘, das plumpe Fragen aufzugeben und sich eine Haltung anzueignen, wie sie dem Mottogedicht zufolge den Verfasser von Gott

273 Vgl. ebd., S. 508–512. 274 Vgl. Mahlmann-Bauer, „Poetische Deutungen des Kosmos“, S. 180–186. 275 Auf die Frage der ‚Leute‘, was „Unendlichkeit“ sei (vgl. 19), antwortet Parmenides: „Wie kannst du so dich quälen! | Geh’ in dich selbst! Entbehrst du drin | Unendlichkeit in Geist und Sinn, | So ist dir nicht zu helfen!“ (20–23) Auf die Frage, ob „Zufall bloß und Augentrug“ herrsche, entgegnet Epikur: „Ich bleib’ in meinem Gleise. | Den Zufall bändige zum Glück, | Ergetz’ am Augentrug den Blick; | Hast Nutz und Spaß von beiden.“ (58–61) 276 Vgl. dazu, mit einschlägigen Belegen und Hinweisen auf weitere Forschungsliteratur: Frühwald, „Goethe und das Christentum“, S. 48 f.

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und Welt charakterisiert: also eine Haltung, die auf der Bereitschaft zum unermüdlichen „Streben“ und zum Fortsetzen von immer unabgeschlossenen Studien beruht.

2.3 Schillers und Goethes Lehrgedichte im Vergleich Goethe nutzt seine naturwissenschaftlichen Lehrgedichte dazu, einzelne Theorien oder Beobachtungen knapp zusammenzufassen, die darin angesprochenen Naturerscheinungen über Analogien zu anderen Naturbereichen und insbesondere zum menschlichen Leben in Beziehung zu setzen und das in solchen Verwandtschaften sich äußernde göttliche Prinzip in der Natur zu ehren. Von diesen Funktionen tritt in den späteren Lehrgedichten die erste insofern gegenüber den anderen zurück, als die summarischen Wiedergaben der Theorien knapper ausfallen und keine eigenständigen Gedichtabschnitte mehr darstellen, sondern mit den analogisierenden Bezugnahmen auf das menschliche Leben oder die Weltordnung im Ganzen verschränkt sind. Zugleich erhält in diesen späteren Gedichten das Sprechen von der göttlichen Ordnung des Makrokosmos im Vergleich zu den Metamorphose-Gedichten eine variablere Gestalt, die nicht mehr durch einen konsequent feierlichen Ton, sondern durch ein Changieren zwischen ernsten, feierlichen, ironischen und humorvollen Sprechweisen geprägt ist. Die Rubrik Gott und Welt schließlich setzt zum einen Tendenzen der einzelnen Gedichte fort, insofern Analogien zwischen verschiedenen Naturbereichen, wie sie innerhalb der Texte hergestellt werden, nun zusätzlich durch das Arrangement dieser Texte hervorgehoben werden und die Ehrung der umfassenden göttlichen Naturordnung durch mehrere Gedichte zu Beginn der Gruppe als eine Grundintention hervorgehoben wird. Zum anderen weist diese Rubrik gegenüber den einzelnen Gedichten eine zusätzliche Dimension auf, da sie das Korpus dieser Gedichte sowie die in ihnen entworfene Sicht auf Gott und Welt als etwas präsentiert, das der Autor Goethe in langjährigem Streben erarbeitet, geformt und mit persönlichem Einsatz gegen anderslautende Naturauffassungen verteidigt hat. Vergleicht man Goethes und Schillers Umgang mit den charakteristischen Merkmalen des Lehrgedichts, fallen sowohl Parallelen als auch Differenzen auf. Schillers philosophische Gedichte unterscheiden sich von repräsentativen Lehrgedichten der Aufklärung dadurch, dass sie argumentative, begründende Sprechhandlungen sowie abwägende Gedankengänge mit Konzessionen oder einer Darstellung des Für und Wider weitgehend vermeiden. Als eine Parallele hierzu kann man es betrachten, dass Goethe in seinen naturwissenschaftlichen Lehrgedichten die eigentliche Beschreibung der behandelten Naturerscheinungen stark zurückdrängt; die deskriptiven Partien sind entweder sehr knapp

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oder in hohem Maße mit Metaphern, Vergleichen oder Bezugnahmen auf abstrakte Größen vermischt. Diese Vermeidung oder sehr sparsame Verwendung argumentativen und räsonierenden beziehungsweise deskriptiven Sprechens kann man auf das Bestreben Schillers und Goethes zurückführen, sich von den Lehrgedichten des 18. Jahrhunderts zu distanzieren. Ein charakteristischer Unterschied zeigt sich hingegen zwischen Schillers und Goethes Umgang mit einem anderen Merkmal des traditionellen Lehrgedichts, der als Lehrer auftretenden Sprecherinstanz. Schillers philosophische Gedichte zeugen von dem Bemühen darum, eine solche Sprecherinstanz zu vermeiden und den philosophischen Gehalt anders denn als Inhalt einer vom Sprecher-Ich dargebotenen Verkündung darzubieten. In Goethes Lehrgedichten hingegen treten immer wieder Sprecherinstanzen auf, die ausdrücklich eine belehrende Absicht verfolgen. Dabei sind die Lehrsituationen, die in den Gedichten inszeniert werden, und die ihnen zugeordneten Modi des belehrenden Sprechens vielfältiger Art: In Die Metamorphose der Pflanzen belehrt ein kundiger Naturforscher seine Geliebte, in Entoptische Farben. An Julien wendet sich der Sprecher im vertraulichen, gelegentlich scherzhaften Ton an ein Du, das – wie der Titel nahelegt – offenbar ein junges Mädchen repräsentiert. Das Gedichtensemble Howards Ehrengedächtnis führt verschiedene Sprecherhaltungen und Belehrungsarten vor: In den rahmenden Gedichten erscheint der Sprecher als ein überlegener Weiser, der einem ratlosen Frager in lakonischen Worten erläutert, wie man sich ‚im Unendlichen findet‘. Der Sprecher der mittleren Gedichte hingegen tritt vor allem als jemand auf, der sich am Schauspiel der Wolken freut und dem Forscher Luke Howard seinen Dank dafür ausdrückt, dass er die Wolkenformen zu unterscheiden hilft. Was man in Goethes Lehrgedichten nicht oder kaum findet, ist eine Sprecherfigur, die es sich zur Aufgabe macht, eine namenlosen Menge von unwissenden Adressaten systematisch mit empirischen Befunden und Theorien der Naturforschung vertraut zu machen. Am ehesten kommt die gedichtinterne Kommunikationssituation von Die Metamorphose der Tiere diesem Modell nahe; aber auch hier deutet die Sprecherinstanz ihr belehrendes Sprechen weniger als Vermittlung von fachwissenschaftlichen Kenntnissen an ein Laienpublikum denn als Heranführung ausgewählter Personen an die letzten und würdevollsten Geheimnisse der Natur.277 In der formalen Gestaltung ihrer Lehrgedichte nutzen Goethe und Schiller somit teils vergleichbare, teils ganz unterschiedliche Verfahren, um sich von den Lehrgedichten des 18. Jahrhunderts abzugrenzen. Was hingegen die

277 Vgl. den Beginn des Gedichts: „Wagt ihr, also bereitet, die letzte Stufe zu steigen | Dieses Gipfels, so reicht mir die Hand und öffnet den freien | Blick ins weite Feld der Natur.“ (1–3)

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intendierten Funktionen der Gedichte betrifft, so sind vor allem Ähnlichkeiten zwischen den Texten Goethes und Schillers festzustellen, die zugleich eine Kontinuität zu älteren Lehrgedichten begründen: Goethe wie Schiller verwenden Lehrgedichte zu dem Zweck, umfassende Ganzheiten und Ordnungen wie die der Natur, der Geschichte oder des Menschenlebens zu evozieren, um moralische Werte und Ideale zu affirmieren und – in einigen Fällen – zu sakralisieren und um Ehrfurcht gegenüber göttlichen Instanzen oder heiligen Idealen zum Ausdruck zu bringen. Der konkrete Gehalt der in Goethes und Schillers Texten entwickelten ethischen und religiösen Konzepte unterscheidet sich in wesentlichen Hinsichten von den Inhalten der Lehrgedichte etwa Hallers, Hagedorns, Popes, Voltaires, Youngs, Creuz’ oder auch Erasmus Darwins; doch die Konzentration auf ethische und religiöse Themen sowie das Bemühen um eine allumfassende, an Totalitäten wie ‚der Natur‘, ‚der Welt‘ oder ‚dem Leben‘ orientierten Perspektive stiftet eine Kontinuität zu älteren Lehrgedichten, die den Menschen innerhalb der göttlichen Schöpfung verorteten und diese Einordnung mit dem Aufstellen ethischer Normen verbanden.

3 Resümee und Ausblick Das frühe 19. Jahrhundert, in das die Analyse der Lehrgedichte Goethes eine gewisse Strecke hineingeführt hat, erscheint als ein sinnvoller Endpunkt für diese gattungsgeschichtliche Untersuchung. Das liegt nicht daran, dass in dieser Zeit das Lehrgedicht selbst endgültig stürbe oder zumindest in die literarische Marginalität abgedrängt würde. Die historische Zäsur besteht eher darin, dass eine Reihe von Autoren die überlieferten Muster des Lehrgedichts zu einer Variante der Lyrik umformen, die man als philosophische Lyrik bezeichnen kann. Diese Transformation wurde hier am Beispiel Schillers und Goethes untersucht; sie könnte in je eigener Weise auch an den Gedichten Wordsworths oder Shelleys,278 Lamartines, de Vignys und Victor Hugos studiert werden.279 Während diese 278 Mit Blick auf Wordsworth vgl. etwa Alan Bewell, Wordsworth and the Enlightenment. Nature, Man, and Society in the Experimental Poetry, New Haven/London 1989, S. 6–13. Bewell vertritt hier die These, dass Wordsworth in seinem Projekt The Recluse an eine Tradition des aufklärerischen philosophischen Gedichts anschloss, die u. a. von Popes Ethic Epistles und Richard Payne Knights Progress of Civil Society repräsentiert wurde (vgl. v. a. ebd., S. 6 f.). Zu Beziehungen zwischen Gedichten Shelleys (insbesondere dem Gedicht Queen Mab) und der Tradition der didaktischen Dichtung vgl. kurz Duff, „Antididacticism“, S. 254. 279 Zu didaktischen Zügen in der Lyrik Lamartines, Vignys und Hugos vgl. Laurence M. Porter, „Empathy, Framing, and Structural Artifice: Implicit Didacticism in French Romantic Verse“, in: Romance Studies, 26/2008, 3, S. 221–232. Vgl. auch Aurelie Loiseleur, „Lamartine et le ‚philosophe

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Autoren die Strukturen des Lehrgedichts tiefgreifend umformen, mit anderen Gattungen kombinieren und wirkungsmächtige Beispiele der philosophischen Lyrik schaffen, werden aber auch traditionellere Formen des Lehrgedichts weiterhin gepflegt. Die naturwissenschaftlichen Lehrgedichte Darwins und Delilles, aber auch die weiter oben analysierte Urania Tiedges können als Ausgangspunkte solcher literaturgeschichtlichen Stränge gelten, in denen jeweils eine Variante des Lehrgedichts fortgesetzt wird. Diesen Strängen ist im 19. Jahrhundert und zum Teil darüber hinaus eine mehr oder weniger lange Fortdauer beschieden. Doch bevor diese Behauptungen in einem skizzenhaften Ausblick etwas konkretisiert werden, sollen zunächst die wichtigsten Befunde dieser Untersuchung gebündelt werden. Ein Ziel der Arbeit war es, ein geläufiges historiographisches Schema vom Aufstieg und Niedergang des Lehrgedichts im 18. Jahrhundert zu revidieren. Diesem Schema zufolge dient das Lehrgedicht in den ersten zwei Dritteln des Jahrhunderts der popularisierenden Verbreitung von neuen Erkenntnissen der Philosophie und Naturwissenschaften und manifestiert so in exemplarischer Weise einige – angenommene – Grundzüge der Aufklärungsepoche, nämlich ihren Rationalismus, ihren Erziehungsoptimismus und ihr instrumentelles Literaturverständnis. Im späteren 18. Jahrhundert gerate das Lehrgedicht zunehmend in Misskredit oder zumindest unter Legitimationsdruck, weil eben diese Grundlagen an Überzeugungskraft verloren haben, weil also Gefühl und Leidenschaft gegenüber der Vernunft aufgewertet werden und für die Literatur nachdrücklicher eine Autonomie gegenüber Philosophie, Wissenschaften und Religion reklamiert wird. Autoren von Lehrgedichten suchen sich in der zweiten Jahrhunderthälfte diesen veränderten Bedingungen anzupassen, indem sie den Gedichten etwa stärker emotionale oder subjektive Züge geben. Das Lehrgedicht traditionellen Gepräges werde um 1800 zunehmend zu einer Randerscheinung, während die ‚lyrisierte‘ Schrumpfform weiterhin Anerkennung finde. Gegen diese Sichtweise hat die vorliegende Arbeit zunächst zu zeigen unternommen, dass es den Autoren der einflussreichen Lehrgedichte des früheren 18. Jahrhunderts nicht darum ging, von der Philosophie oder den Naturwissenschaften erarbeitete Theorien an eine breitere Leserschaft zu vermitteln. Pope, Haller und Voltaire stellten nicht naturwissenschaftliche, sondern ethische und religiöse Themen ins Zentrum ihrer Lehrgedichte, und sie gaben darin nicht

mourant‘. Méditations poétiques, impressions philosophiques“, in: Romantisme, 124/2004, 3, S. 43–52.

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fertig vorliegende Theorien von Philosophen oder Theologen wieder, sondern verarbeiteten solche Theorien auf eigenständige Weise und bezogen so selbst Positionen innerhalb der zeitgenössischen Debatten. Die poetische Form wurde von diesen Autoren nicht allein als ein Mittel begriffen und genutzt, die ernsten und spröden Inhalte für ein Laienpublikum attraktiv oder verständlich zu machen, sondern erfüllte vielfältige Funktionen. Insbesondere wurde sie von Pope und anderen Autoren als ein Instrument aufgefasst, philosophischen und theologischen Kontroversen eine zivilisierte und womöglich auch zivilisierend wirkende Gestalt zu geben. Doch für die Motive der Autoren waren nicht nur Annahmen darüber wichtig, was die Poesie für die philosophischen Themen tun konnte, sondern auch Annahmen darüber, was die philosophischen Themen für die Poesie tun konnten: Haller und andere deutschsprachige Dichter betrachteten die ‚gedankenschweren‘ Inhalte philosophischer Lehrgedichte als ein Mittel zur Ansehenssteigerung der Poesie, und Voltaire wollte mit seinen philosophischen Gedichten wahrscheinlich auch die Leistungsfähigkeit der Verssprache unter Beweis stellen. Es gab neben den einflussreichen Lehrgedichten dieser Autoren auch Lehrgedichte, die sich tatsächlich der Popularisierung naturwissenschaftlicher oder philosophischer Theorien widmeten. Zum Teil dürften die Autoren dieser Gedichte von den Texten Brockes’, Hallers oder Popes angeregt worden sein und die Form des Lehrgedichts eigenen Zielsetzungen dienstbar gemacht haben; zum Teil mögen sie an andere literarische Traditionen, etwa die des georgischen Gedichts, anknüpfen. In jedem Fall sollte man sie nicht als repräsentativ für das Lehrgedicht der Aufklärung insgesamt ansehen. Die seit der Jahrhundertmitte entstehenden Lehrgedichte, die wie Youngs Night Thoughts in Abgrenzung von den Lehrgedichten der vorangegangenen Jahrzehnte einen Neuansatz markieren, übernehmen dabei zentrale Ansprüche dieser Gedichte und verbinden sie mit neuen Inhalten und Beglaubigungsverfahren. Charakteristisch für die prominenten Lehrgedichte des frühen 18. Jahrhunderts sind die Konzentration auf ethische und religiöse Themen sowie das Bestreben, diese im Rahmen einer besonders umfassenden und grundsätzlichen Perspektive zu erörtern. Gedichte wie Youngs Night Thoughts, Wielands Die Natur der Dinge oder die Lehrgedichte Creuz’ sind von ähnlichen Absichten geleitet, verleihen ihren Sprecherinstanzen und den von ihnen verkündeten Lehren aber auf neue Weisen Autorität, nämlich durch Aktualisierungen der vates-Rolle oder allgemeiner durch eine Berufung auf Begeisterung und erhabene Empfindungen. Die formalen Innovationen, die sich aus dieser Aufwertung bestimmter Emotionen ergeben, verschränken sich in mehreren dieser Gedichte mit Verfahren der Textstrukturierung, wie sie für traditionelle Lehrgedichte charakteristisch sind. In inhaltlicher Hinsicht

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setzen sie bei der Erörterung der ethischen und religiösen Themen dezidiert neue Akzente, indem sie etwa emphatisch die Würde des Menschen feiern und die umfassende Weltordnung, in die der Mensch eingefügt ist, als eine zeitlich bestimmte konzipieren. Auch um 1800 werden noch vielbeachtete Lehrgedichte veröffentlicht, die hinsichtlich ihrer thematischen Schwerpunkte wie ihrer leitenden Absichten den prominenten Lehrgedichten des frühen und mittleren 18. Jahrhunderts nah verwandt sind. Die entscheidende Veränderung in diesem Zeitraum besteht darin, dass sich diese charakteristischen Absichten und Themen gleichsam von den charakteristischen Textstrukturen des Lehrgedichts abkoppeln: Einige Autoren präsentieren Deutungen der Welt-, Natur- oder Lebensganzheit im Rahmen von Gedichten, die bei allen formalen Neuheiten oder Spezifika im Einzelnen doch in ihrem Umfang, in der Strukturierung des Textes und in der Gestaltung der gedichtinternen Kommunikationssituationen traditionelle Muster des Lehrgedichts variierend weiterführen. Autoren wie Schiller und Goethe hingegen entwerfen in Gedichten ebenfalls solche Totalitätsdeutungen mit ethischen Implikationen, formen dabei aber die tradierten Muster des Lehrgedichts konsequent um, indem sie den Gedichtumfang stark reduzieren und nur einen Teil der typischen Verfahren des Lehrgedichts weiterführen. Sie vermeiden also längere argumentative oder deskriptive Passagen, explizite Markierungen der Textstruktur oder die Konstruktion einer Sprecherfigur, die ausdrücklich eine belehrende Absicht verfolgt. Die Geschichte des Lehrgedichts im 18. Jahrhundert lässt sich mithin nicht auf die Formel eines Aufstiegs und Niedergangs bringen, in denen sich Herrschaft und Entthronung eines instrumentellen Dichtungsbegriffs sowie die begrenzte Dauer eines aufklärerischen Erziehungsoptimismus manifestieren. Die Annahmen über die Signaturen der Epoche, die in solchen Sichtweisen auf das Lehrgedicht vorausgesetzt werden, sind schon an und für sich zweifelhaft und finden in der Geschichte des Lehrgedichts, wenn diese genauer analysiert wird, keine Stütze. Aber die neuere Forschung zum 18. Jahrhundert stellt auch andere Thesen über umfassende Epochentendenzen bereit, und in manche dieser Tendenzen fügen sich auch die hier herausgearbeiteten Entwicklungslinien des Lehrgedichts ein. Angesichts der Prominenz religiöser Themen in den Lehrgedichten des 18. Jahrhunderts ist zunächst die religionsgeschichtliche Forschung von besonderer Relevanz. Die literaturgeschichtlichen Befunde zum Lehrgedicht lassen sich hier fruchtbar an Studien anschließen, die als Grundzug der europäischen Religionsgeschichte seit dem 17. Jahrhundert nicht mehr einen allumfassenden Prozess der Säkularisierung ansehen, sondern eher ein komplexes Neben- und Ineinander von Vorgängen der Säkularisierung oder Entchristianisierung einerseits, einer Individualisierung und Pluralisierung religiöser Traditionen – die auch Tendenzen der Rechristianisierung

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einschließt – andererseits.280 Als ein Teil dieser Pluralisierung von Religionskulturen oder als eine Anschlusserscheinung dieses Vorgangs lassen sich auch das Aufkommen und die Verbreitung des Begriffs ‚Weltanschauung‘ im 19. Jahrhundert sowie die Konjunktur der damit bezeichneten Sache einordnen, da die Weltanschauungen häufig als Religionsersatz oder ‚neue Religion‘ propagiert wurden.281 Mit Blick auf die Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts hat Thomé auch von einer „Subjektivierung der Sinnstiftungsdiskurse“ gesprochen.282 An diesem komplexen und langfristigen Prozess partizipieren auch bedeutende Stränge der Entwicklung des Lehrgedichts im 18. Jahrhundert. Für diese historische Verortung spricht, dass sie jene Charakteristika der Lehrgedichte einzufangen vermag, die sich im Durchgang durch das Jahrhundert als besonders beständig erwiesen haben, nämlich die Prominenz explizit religiöser Themen oder eines religiösen Vokabulars, die Tendenz zu einer umfassenden, auf das Ganze der Welt zielenden Betrachtungsweise und – damit direkt verbunden – die Darbietung von Lehren mit orientierender, handlungsleitender oder sinnstiftender Qualität. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang ferner, dass in vielen Lehrgedichten Sprecherfiguren auftreten, die sich mit verschiedenen philosophischen Systemen und theologischen Doktrinen konfrontiert zeigen und die nicht als Philosophen oder Theologen, sondern als Menschen oder Bürger innerhalb dieses Streits der Systeme eine Position beziehen und verantworten wollen. Der Titel, aber bis zu einem gewissen Grad auch der Inhalt von Drydens Religio Laici können insofern emblematisch für einen Grundzug des Lehrgedichts stehen, der die Entwicklung der Gattung das ganze 18. Jahrhundert hindurch prägt. Die Lehrgedichte, die Sprecherinstanzen dieser Art präsentieren, liefern stilisierte

280 Aus der umfangreichen, verschiedenen Disziplinen entstammenden Forschung hierzu seien stellvertretend genannt: Hartmut Lehmann (Hrsg.), Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung im neuzeitlichen Europa. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 1997. Darin neben dem einleitenden und dem resümierenden Beitrag Hartmut Lehmanns als Studien mit langfristigen diachronen Perspektiven besonders: Alois Hahn, „Religion, Säkularisierung und Kultur“, in: ebd., S. 17–31; Wolfgang Schieder, „Säkularisierung und Sakralisierung der religiösen Kultur in der europäischen Neuzeit“, in: ebd., S. 308–313. Ferner: Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004. 281 Zur Geschichte des Konzepts ‚Weltanschauung‘ sowie zur Weltanschauungsliteratur vgl. Horst Thomé, „Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp“, in: Lutz Danneberg/Friedrich Vollhardt (Hrsg.), Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 338–380, v. a. S. 338–351. Zu Weltanschauungen und dem Bedürfnis nach einer ‚neuen Religion‘ ebd., S. 344. Vgl. auch ders., [Art.] „Weltanschauung“, in: HWbPh, Bd. 12, Sp. 453–460. 282 Thomé, „Weltanschauungsliteratur“, S. 345.

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Konkretisierungen eines Postulats der Selbstbestimmung in religiösen Fragen, das einen entscheidenden Anteil an der Individualisierung wie der Privatisierung der Religion in diesem Jahrhundert besaß. Doch die Lehrgedichte haben an den Prozessen der Pluralisierung und Individualisierung religiöser Traditionen nicht ‚nur‘ insofern Teil, als sie bestimmte Konzeptionen Gottes, der göttlichen Weltordnung oder der Unsterblichkeit des Menschen präsentieren und sie mit spezifischen Begründungen versehen. Die historische Relevanz der Gedichte mit Blick auf diese umfassenden Prozesse dürfte vielmehr auch wesentlich darin liegen, dass sie den modifizierten oder grundlegend umgeformten religiösen Deutungsmustern eine sprachliche Form geben. Die Sprecherinstanzen der Lehrgedichte formulieren nicht nur (im weiten Sinne) religiöse Überzeugungen, die sie mit mehr oder weniger elaborierten Begründungen versehen; sie bringen auch Haltungen der Verehrung und Ehrfurcht zum Ausdruck, die innerhalb des hier untersuchten Gedichtkorpus sehr unterschiedliche Ausprägungen annehmen: Das Spektrum reicht von den Artikulationen von Demut und Unterwerfung bei Albrecht von Haller und den teils gelassen-resignativen, teils vorsichtig enthusiastischen Invokationen der göttlichen Weltordnung in Popes Essay on Man über den leidenschaftlichen Enthusiasmus der Night Thoughts Youngs bis zu den wiederum vielfältigen, feierlichen, hymnischen oder ironisch-spielerischen Anrufungen der göttlichen Natur bei Goethe. Zu dieser sprachlichen Gestalt, mit der die religiösen oder religionsäquivalenten Sinnkomplexe in den Gedichten versehen werden, gehören aber auch die Indienstnahmen mythologischer Symbole und Figuren, die sich sowohl bei Schiller (etwa in Das Reich der Schatten) als auch bei Erasmus Darwin finden. Die Partizipation an den genannten historischen Prozessen verschränkt sich in den Lehrgedichten des 18. Jahrhunderts mit dem Einfluss spezifischer innerliterarischer Entwicklungen, zu denen der Wandel von Stilidealen ebenso gehört wie das Aufkommen neuer Dichtungsbegriffe. Besonders relevant sind dabei Veränderungen in der Art und Weise, wie Dichter und Theoretiker das konzipieren und zu fundieren versuchen, was man als die Autorität von Gedichten – und ihren Äußerungen zu religiösen, ethischen oder allgemeiner philosophischen Fragen – bezeichnen kann. Gerade weil die Autoren der hier untersuchten Lehrgedichte meist nicht allein vorgegebene philosophische oder theologische Lehren popularisieren, sondern eigenständige Wissensansprüche erheben wollen, müssen sie begründen können, weshalb die in Gedichten vorgetragenen Positionen zu solchen Fragen ernst genommen werden sollten. Die Lehrdichter der ersten Jahrhunderthälfte verlassen sich weitgehend darauf, dass Gedichte sich mithilfe derselben Qualitäten Autorität erwerben können wie nicht-poetische Texte. Pope etwa lässt es als eine spezifische Leistung philosophischer Lehrgedichte erscheinen, dass sie

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IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800

konfliktträchtige Streitfragen in einer sozialverträglichen, die Normen gepflegter Konversation respektierenden Form erörtern können. Für Haller hingegen beziehen philosophische Lehrgedichte ihre Autorität, sofern sie diese denn besitzen, eher aus einer Verbindung von intellektueller Kompetenz, moralischer Rechtschaffenheit und religiöser Verantwortlichkeit des Autors und seiner Lehren. Der Rekurs auf die Modelle des dichterischen Enthusiasmus und göttlicher Inspiration bei Young, bei dem Wieland der Natur der Dinge und noch bei Tiedge stellt sich hingegen auch als ein Versuch dar, den Gedichten und ihren Lehren eine poesiespezifische Autorität zuzuschreiben. In den Lehrgedichten der Weimarer Klassiker hingegen lassen sich kaum einheitliche textuelle Verfahren ausmachen, die der Beglaubigung einer genuinen poetischen Autorität dienen. Eine Gemeinsamkeit dieser Gedichte kann man eher in der negativ bestimmten Eigenschaft sehen, dass in ihnen der Gebrauch rhetorischer Verfahren, die an wissenschaftliche oder philosophische Abhandlungen oder auch an Predigten erinnern könnten, zunehmend reduziert wird. Zugleich formulieren Schiller und Goethe aber theoretische Überlegungen zur Begründung einer genuinen Autorität der Dichtung, die in der Rezeption – beginnend etwa mit Wilhelm von Humboldt – auf ihre eigenen Gedichte appliziert werden. Die Entwicklung, wie sie hier holzschnittartig resümiert wurde, erlaubt auch die zusammenfassende Feststellung, dass sich in der Geschichte des Lehrgedichts im 18. Jahrhundert auf spezifische Weise der Vorgang einer Autonomisierung der Literatur niederschlägt. Doch es gilt zu präzisieren, worin diese gesteigerte Autonomie hier besteht: Sie besteht nicht darin, dass die Lehrgedichte um 1800 keine philosophischen, theologischen oder naturwissenschaftlichen Aussagenkomplexe mehr enthielten; in diesem Falle gäbe es keinen Grund mehr, die Gedichte als Lehrgedichte oder auch nur als Grenzfälle des Lehrgedichts einzuordnen. Die gesteigerte Autonomie besteht auch nicht darin, dass die Gedichte zwar philosophische oder wissenschaftliche ‚Lehren‘ (im Sinne von Aussagenkomplexen) enthielten, diese aber von Autoren wie Rezipienten nur noch danach beurteilt würden, ob sie schön oder erhaben oder anderweitig poetisch überzeugend sind. Eine solche Transformation des Gattungsverständnisses wird zwischen 1750 und 1770 von Lessing, Mendelssohn und Georg Friedrich Meier in theoretischen Texten und von Creuz in der Vorbemerkung zu einem Lehrgedicht eher tentativ skizziert, setzt sich aber nicht auf breiter Front durch und wird um 1800 von wirkungsmächtigeren Konzepten der Weimarer Klassiker und der Philosophen des Idealismus verdrängt. Die Autonomie, die dem Lehrgedicht in diesen theoretischen Entwürfen zugeschrieben wird, beruht darauf, dass sie Wahrheiten eigener Art vortragen. Das kann etwa bedeuten, dass sie, wie Schiller es vom Lehrgedicht fordert, Ideen zur Darstellung bringen, was in nichtpoetischer Sprache unmöglich sei. Parallel zu dieser theoretischen ‚Autonomisierung‘ betreiben Autoren

3 Resümee und Ausblick

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wie Schiller und Goethe in der Dichtungspraxis eine textstrukturelle Autonomisierung des Lehrgedichts, also eine Distanzierung von Textstrukturen, die ihre Gedichte in die Nähe philosophischer – und sei es ‚popularphilosophischer‘ – oder ‚rednerischer‘ Texte und Gattungen rücken könnten. Die Funktionen aber, die ihre Lehrgedichte und philosophischen Gedichte erfüllen sollen, bleiben den Funktionen nichtpoetischer Texte nahe verwandt, insofern auch diese Gedichte Wahrheiten über Gott und die Welt, den Menschen und die Moral vermitteln sollen. Um 1800 stehen die Lehrgedichte, die die beschriebene textstrukturelle Autonomisierung vollzogen haben und die deswegen teilweise schon eher der philosophischen Lyrik zuzurechnen sind, noch neben solchen, die traditionelle Strukturen der Gattung weiterführen. Die weitere Entwicklung dieser Varianten des Lehrgedichts sei nun in einem knappen Ausblick skizziert, soweit die Forschungslage dies erlaubt. Dass auch formal eher traditionelle Lehrgedichte wie Tiedges Urania von dem langfristigen Prozess einer Individualisierung religiöser Deutungsbestände mitbedingt und gefördert wurden, lässt ein plötzliches Abbrechen dieses gattungsgeschichtlichen Strangs als unwahrscheinlich erscheinen, zumal die dichtungstheoretischen Positionen der Klassiker, von deren Warte aus solche Lehrgedichte als verfehlt gelten mussten, bekanntlich nicht – und erst recht nicht sofort – die gesamte literarische Szene beherrschten. Tatsächlich verschwanden Gedichte vom Typ der Urania in den Jahren nach 1800 nicht abrupt von der Bildfläche, und auch das von Erasmus Darwins und Jacques Delilles Lehrgedichten repräsentierte Modell blieb noch längere Zeit lebendig. Um mit der von Tiedges Urania verkörperten Variante des Lehrgedichts zu beginnen: Tiedges Gedicht erweist sich in einer umfassenderen diachronen Perspektive als eine bedeutende gattungsgeschichtliche Scharnierstelle, da es einerseits ein spätes Glied in der Reihe deutschsprachiger Lehrgedichte bildet, die von Young oder Klopstock angeregt waren, andererseits aber auch als Modell für Lehrgedichte der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts diente, die sich ebenfalls als ‚lyrisch-didaktische Gedichte‘ bezeichnen. Zu diesen Werken gehören das Gedicht Thauma. Oder: Der Gang durch das Leben (1826) des Predigers und Pädagogen Daniel Gottlieb Mehring und das Gedicht Ewiges im Zeitenwechsel (1844) des österreichischen Juristen und Schriftstellers Eduard Freiherr von Badenfeld.283 In formaler Hinsicht haben 283 Vgl. [Daniel Gottlieb Gebhard Mehring], Thauma. Oder: Der Gang durchs Leben. Ein lyrisch-didaktisches Gemälde der vier Lebensstufen. In vier Gesängen, Berlin 1826; Eduard Silesius [d.i. Eduard Freiherr von Badenfeld], Ewiges im Zeitenwechsel. (En Kai Pan. Alleinigkeit.) Lyrisch-didaktisches Gedicht. Neue Ausgabe, Dresden/Leipzig 1848 [zuerst 1844]. Zu von

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diese Gedichte abgesehen von einem relativ großen Umfang trotz dieser einheitlichen Bezeichnung nicht allzu viel gemein. Was sie miteinander und mit Tiedges Urania verbindet, dürfte vor allem ihr feierliches und erbauliches Gepräge sein: Sie entwickeln religiös oder philosophisch begründete Welt- und Lebenssichten, die Trost und Vergewisserung bieten, indem sie auf das individuelle Leben überwölbende, sinnstiftende Ordnungen verweisen.284 Der Ausdruck „lyrisch-didaktisches Gedicht“ scheint sich hier als Name für eine Spielart dessen zu etablieren, was Friedrich Sengle als „erbauliche[] Versdidaktik“285 der Biedermeierzeit bezeichnet hat. Als den „bedeutendsten Repräsentanten“ dieser Spielart der Didaktik, für die auch Sengle zufolge Tiedges Urania ein wichtiges Initialmoment darstellte, betrachtet er Leopold Schefer, vor allem aufgrund der vielgelesenen Dichtung Laienbrevier (1834/1835).286 Einen anderen Strang, in dem Traditionen des Lehrgedichts fortgesetzt werden, bilden umfangreiche Gedichte mit naturwissenschaftlichem Inhalt, wie sie um 1800 etwa von Erasmus Darwin und Jacques Delille verfasst wurden. Dem gegenwärtigen Forschungsstand zufolge wurde dieser Gedichttyp im 19. Jahrhundert vor allem in Frankreich noch intensiv gepflegt. Eine vorsichtige Formulierung erscheint hier angezeigt, weil die Literaturgeschichtsschreibung von der Existenz dieser französischen Gedichte lange Zeit keine Notiz nahm und es als verbürgt ansah, dass die ‚poésie scientifique‘ um 1820, also mit dem Auftreten von romantischen Dichtern wie Lamartine, endgültig ausgestorben sei.287 Erst in jüngerer Zeit hat die Forschungsgruppe Euterpe ein Korpus von mehr als dreihundert naturwissenschaftlichen Lehrgedichten erschlossen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts publiziert wurden; allein zwischen 1842 und 1871

Badenfeld und seinem Pseudonym Eduard Silesius vgl.: Robert Mühlher, „Badenfeld, Eduard Karl Franz Heinrich Eusebius Johann Sarkander Freiherr von“, in: NDB, Bd. 1, S. 510. 284 Mehring formulierte in seinem Vorwort zu Thauma die Absicht des Gedichts wie folgt: „Der Verfasser dieses kleinen Gedichts hat eine Lieblingsidee: das Fortschreiten der Menschheit zum Bessern in einer unermeßlichen Laufbahn, eine Idee, deren Verwirklichung ja der Zweck aller christlichen Regierungen, wie die frohe Hoffnung des denkenden Menschenstandes ist, in einem lyrisch-didaktischen Gemälde der vier Stufen jedes einzelnen Menschenlebens der lesenden Welt vor das geistige Auge geführt.“ ([Mehring], Thauma, S. IX f. [Vorwort]). 285 Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 2: Die Formenwelt, S. 97. 286 Ebd. Zu der Bedeutung von Urania für diese erbauliche Lehrdichtung des Biedermeier vgl. die knappen Andeutungen ebd., S. 95–97. Zu den formalen Innovationen, die Schefers Laienbrevier gegenüber Tiedge bringt (lakonisches und sinnbildliches Sprechen), vgl. ebd., S. 97. 287 Vgl. Muriel Louâpre/Hugues Marchal, „Introduction“, in: Muriel Louâpre/Hugues Marchal/Michel Pierssens (Hrsg.), La Poésie scientifique, de la gloire au déclin. www.epistemocri tique.org (veröffentlicht Januar 2014, letzter Zugriff am 08.04.2019), S. 5–18, hier S. 5–7.

3 Resümee und Ausblick

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erschienen gut hundertfünfzig solcher Gedichte.288 Es ist nicht auszuschließen, dass es auch in der deutsch- und der englischsprachigen Literatur eine größere Zahl vergessener Gedichte dieses Typs gibt. Vereinzelte Texte, die das Fortbestehen dieser Tradition zumindest in kleinem Maßstab bezeugen, lassen sich jedoch benennen, so etwa Franz von Kobells Die Urzeit der Erde.289 Die langlebigste Fortsetzung der Lehrgedichtstradition und zugleich diejenige, die am meisten kanonische Texte enthält, stellt aber offenkundig die philosophische Lyrik dar, für die um 1800 Schiller und Goethe einflussreiche Muster lieferten. Dabei ist zu betonen, dass gewiss nicht in allen Gedichten, die sich dieser unscharf begrenzten Spielart der Lyrik zurechnen lassen, Rekurse auf die Tradition des Lehrgedichts nachweisbar sind. Mit solchen Bezügen ist insbesondere in Gedichten zu rechnen, die einen größeren Umfang haben, die ‚große‘ Fragen erörtern und eine umfassende Welt- oder Lebensdeutung entwerfen und die eine deutlich profilierte Sprecherinstanz auftreten lassen. Dabei dürften Referenzen auf das Lehrgedicht meist mit Anleihen bei anderen Gattungstraditionen verschränkt sein. Ein Beispiel für besonders komplexe Transformationen diverser Traditionen bieten gleich um 1800 die philosophischen Gedichte Friedrich Hölderlins;290 auch für die Gedichte in Alphonse de Lamartines einflussreicher Sammlung Méditations poétiques (1820) hat man die Umformung verschiedener 288 Vgl. Louâpre, „La poésie scientifique: autopsie d’un genre“, S. 25; vgl. auch Louâpre/Marchal, „Introduction“, S. 5–7. 289 Vgl. Franz von Kobell, Die Urzeit der Erde. Ein Gedicht, München 1856. 290 Hans-Wolf Jäger hat in seinem grundlegenden Aufsatz von 1970 am Rande darauf hingewiesen, dass sich bei Hölderlin das Lehrgedicht „mit Hymne und Ode [. . .] liiert“ (Jäger, „Zur Poetik der Lehrdichtung in Deutschland“, S. 567). Seitdem haben die Beziehungen der Gedichte Hölderlins zum Lehrgedicht des 18. Jahrhunderts, soweit ich sehe, in der Forschung kaum Beachtung gefunden. Mögliche Ausgangspunkte für eine solche Untersuchung bieten Hölderlins frühe Young-Rezeption (vgl. dazu Martin Vöhler, „Frühe Hymnen“, in: Johann Kreuzer [Hrsg.], Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2002, S. 290–308, hier S. 292), vor allem aber die agonalen Bezüge vieler Gedichte Hölderlins zu Gedichten Schillers (wie Resignation, Die Künstler und Elegie) – Bezüge, die sich nach Ulrich Gaier bis ins Spätwerk hinein verfolgen lassen (vgl. Ulrich Gaier, „Rousseau, Schiller, Herder, Heinse“, in: ebd., S. 72–89, hier S. 78–82). Wolfgang Groddeck deutet eine Beziehung von Brod und Wein zur Tradition des Lehrgedichts an, wenn er schreibt: „So wurde und wird die Elegie als eine Art Summe von H[ölderlin]s Gedankenlyrik gewertet und vor allem als weltanschauliches Lehrgedicht aufgefaßt. Eine solche Betrachtung ist auch vom Genre der Elegie her gesehen durchaus gerechtfertigt, dennoch würde eine bloß doxographische Deutung das Sprachkunstwerk Brod und Wein um wesentliche poetische Dimensionen verkürzen.“ (Wolfgang Groddeck, „Elegien“, in: Kreuzer [Hrsg.], Hölderlin-Handbuch, S. 320–335, hier S. 327) Wenn Groddeck meint, dass eine Deutung als Lehrgedicht nicht die ‚wesentlichen poetischen Dimensionen‘ des Gedichts erfassen könnte, setzt er einen recht engen Begriff des Lehrgedichts voraus.

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IV Die Aufspaltung der Gattung um 1800

Gattungstraditionen, darunter der des Lehrgedichts oder des ‚discours en vers‘, als konstitutiv herausgestellt.291 Die französische und die englische Literatur des 19. Jahrhunderts haben eine größere Zahl kanonisierter philosophischer Gedichte vorzuweisen, die nach ihren Bezügen zum Lehrgedicht zu befragen ergiebig sein dürfte. Doch auch in der deutschen Literatur ist es nicht so, dass die philosophische Lyrik nach dem Rückzug der Philosophie des Idealismus, die für diese Art von Gedichten einen besonders günstigen Rahmen bot, vorerst verschwunden wäre, um erst in der klassischen Moderne – etwa bei Rilke – wieder aufzutauchen. Auch im Œuvre von Nikolaus Lenau oder Annette von Droste-Hülshoff finden sich Gedichte, die man als philosophische bezeichnen kann und die Elemente der Tradition des Lehrgedichts aufgreifen.292 Die Literatur der klassischen Moderne oder des modernism schließlich wird bekanntlich im deutschsprachigen wie im angloamerikanischen und im französischen Gebiet nicht zuletzt durch ambitionierte philosophische Gedichte repräsentiert.

291 Vgl. Andreas Kablitz, Alphonse de Lamartines ‚Méditations poétiques‘. Untersuchungen zur Bedeutungskonstitution im Widerstreit von Lesererwartung und Textstruktur, Stuttgart 1985, S. 200–213. 292 Gedichte Lenaus, bei denen man Rekurse auf die Tradition des Lehrgedichts ausmachen kann, sind etwa die frühen Gedichte Fantasie, Die Zweifler und Glauben. Wissen. Handeln. Vgl. Nikolaus Lenau, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Helmut Brandt [u. a.]. Band 1: Gedichte bis 1834. Hrsg. von Herbert Zeman [u. a.]. Wien 1995, S. 7–11, 17–19, 183–190. Auf andere, jeweils eigene Weise dürften aber auch das Gedicht Auf meinen ausgebälgten Geier und der bekannte Zyklus Waldlieder auf das Lehrgedicht Bezug nehmen; vgl. Lenau, Werke und Briefe. Bd. 2: Neuere Gedichte und lyrische Nachlese. Hrsg. von Antal Mádl. Wien 1995, S. 22–26, 309–318. Das Gedicht Auf meinen ausgebälgten Geier wird mit distanzierenden Anführungszeichen als „‚Lehrgedicht‘“ bezeichnet bei: Wolfgang Martens, „Das letzte Wort haben die Geier. Zu Lenaus Gedicht Die Drei“, in: Günter Häntzschel (Hrsg.), Gedichte und Interpretationen. Bd. 4: Vom Biedermeier zum Bürgerlichen Realismus, Stuttgart 1983, S. 132–144, hier S. 142 und 143. – Unter den Texten Droste-Hülshoffs wäre zunächst Die Mergelgrube als ein Gedicht zu nennen, das Strukturen des Lehrgedichts aufgreift. Vgl. Annette von Droste-Hülshoff, Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Winfried Woesler. Band I,1: Gedichte zu Lebzeiten. Text. Bearbeitet von Winfried Theiss, Tübingen 1985, S. 50–53. Knappe Bemerkungen zu den Anleihen dieses Gedichts bei der Gattung Lehrgedicht finden sich bei: Lothar Jordan, „Annette von Droste-Hülshoffs langes Gedicht Die Mergelgrube: Paläontologie und literarische Innovation“, in: Dietrich von Engelhardt/Hans Wißkirchen (Hrsg.), Von Schillers Räubern zu Shelleys Frankenstein. Wissenschaft und Literatur im Dialog um 1800, Stuttgart 2006, S. 131–156, hier v. a. S. 137 f., 153 f. Der erste, gut dreißig Verse umfassende Abschnitt des Gedichts stellt nach Jordan „ein geologisch-theologisches Lehrgedicht“ dar (ebd., S. 137). Thomas Pittrof zufolge ruft das Gedicht die Tradition des Lehrgedichts hingegen allenfalls auf, um mit ihr zu brechen: vgl. Thomas Pittrof, „‚Bertuchs Naturgeschichte‘; les’t Ihr das? Annette von Droste-Hülshoff: ‚Die Mergelgrube‘. Naturgeschichte, Poesie, Apokalypse“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 42/2001, S. 145–173, hier S. 168.

3 Resümee und Ausblick

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Die Texte der philosophischen Lyrik des 19. Jahrhunderts und der Moderne haben sich von den charakteristischen Textstrukturen des Lehrgedichts so weit entfernt, dass die terminologische Differenzierung als sinnvoll anzusehen ist. Aber diese begriffliche Trennung sollte nicht den Blick auf die Kontinuitäten verstellen, die sich auf den Ebenen der Inhalte und der Autorabsichten ausmachen lassen. Das Lehrgedicht des Aufklärungsjahrhunderts, wie es sich in den hier untersuchten Werken realisiert, ist mithin nicht der Endpunkt einer kontinuierlich auf die Antike zurückgehenden Tradition, die von der modernen Literatur durch eine Kluft – etwa eine Kluft namens Autonomieästhetik – getrennt wäre. Es geht vielmehr aus einer selektiven Aneignung älterer Gattungstraditionen hervor, und es bildet neue Textmodelle aus, von denen einige bis weit ins 19. Jahrhundert und manche bis in die literarische Moderne hinein weiterwirken.

V Anhang 1 Verzeichnis der Siglen und Abkürzungen 1.1 Editionen Best.

Corr. FA

HA Haller/Hirzel

LA

NA

OCV

TE

WA

[Voltaire]: Voltaire’s Correspondence. Theodore Besterman (Hrsg.). 107 Bände. Genf: Institut et Musée Voltaire Les Délices 1953–1965. [Briefzitate werden mit der ihnen in dieser Edition gegebenen Nummer in der Form „Best. 1371“ nachgewiesen, also ohne Angabe des Bandes.] [Pope, Alexander]: The Correspondence of Alexander Pope. Hrsg. von Georg Sherburn. [Fünf Bände.] Oxford: Clarendon Press 1956. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Hrsg. von Friedmar Apel u.a. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1987–2013. [Angabe der Abteilung in römischen, des Bandes in arabischen Ziffern; d.h.: FA I, 2 = 1. Abteilung, 2. Band.] Johann Wolfgang Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von Erich Trunz. Hamburg: Wegner / München: C.H. Beck 1948–1964. Albrecht von Haller: Gedichte. Hrsg. und eingeleitet von Ludwig Hirzel. Frauenfeld: Verlag von J. Huber 1882 (Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz und ihres Grenzgebietes, Bd. 3). Johann Wolfgang Goethe: Goethe. Die Schriften zur Naturwissenschaft. Vollständige mit Erläuterungen versehene Ausgabe im Auftrage der Deutschen Akademie der Naturforscher (Leopoldina). Begründet von Lothar Wolf und Wilhelm Troll. Hrsg. von Dorothea Kuhn und Wolf von Engelhardt. 17 Textund 11 Kommentarbände. Weimar: Böhlau 1947–2014. Friedrich Schiller: Schillers Werke. Nationalausgabe. Im Auftrag des Goetheund Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums und der Deutschen Akademie hrsg. von Julius Petersen und Gerhard Fricke. Weimar: Böhlau 1943 ff. [Voltaire]: Les Œuvres complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire. Hrsg. von W. H. Barber/Theodore Besterman/Nicholas Cronk/Ulla Kölving/Haydn T. Mason. Oxford: The Voltaire Foundation / Taylor Institution 1974 ff. Alexander Pope: The Poems of Alexander Pope. General editor John Butt. London: Methuen/New Haven: Yale University Press 1951–1969. [= Twickenham Edition] Johann Wolfgang Goethe: Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 143 Bände. Weimar 1887–1919. Nachdruck München 1987. [nebst] Bd. 144–146: Nachträge und Register zur IV. Abt.: Briefe. Hrsg. von Paul Raabe. Bd. 1–3. München 1990.

https://doi.org/10.1515/9783110348491-005

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V Anhang

1.2 Sonstige DVjs GG

GHB HWbPh JBDSG KLL

MLN NDB PMLA RLW

TRE

Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. [7 Bände und 1 Registerband mit 2 Teilbänden.] Stuttgart: Klett-Cotta 1972–1997. Bernd Witte [u.a.] (Hrsg.): Goethe-Handbuch. Stuttgart/Weimar: Metzler 1996–2012. [Bisher fünf Bände und drei Supplement-Bände.] Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. [12 Bände und 1 Registerband.] Basel: Schwabe 1971–2007. Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft Wilhelm Kühlmann [u.a.] (Hrsg.): Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes. 2., vollständig überarbeitete Aufl. [Zwölf Bände und ein Registerband.] Berlin/New York: De Gruyter 2008–2012. Modern Language Notes Neue Deutsche Biographie. [Bisher 25 Bände.] Berlin: Duncker & Humblot 1953 ff. Publications of the Modern Language Association of America Klaus Weimar [u.a.] (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. [Drei Bände.] Berlin/New York: De Gruyter 1997–2003. Gerhard Krause [u.a.] (Hrsg.): Theologische Realenzyklopädie. [36 Bände und 1 Registerband.] Berlin/New York [u.a.] 1977–2006: De Gruyter.

2 Quellen und vor 1900 erschienene Forschung

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2 Quellen und vor 1900 erschienene Forschung [Anon.]: „[Rez. zu:] Friedrich Carl Casimirs Freyherrn von Creutz, [. . .] Oden und andere Gedichte, auch kleine prosaische Aufsätze, neue vermehrte und geänderte Aufl. [. . .] 1769“, in: Neue deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste, Band 11, 1770/1771, Leipzig 1770, S. 96–120. Ayre, [William]: Truth. A Counterpart to Mr. Pope’s Esay [sic] on Man. Epistle the First, London: R. Minors 1734. Barnard, John (Hrsg.): Alexander Pope. The Critical Heritage, London/Boston: Routledge & Kegan Paul 1973. [Batteux, Charles]: Einleitung in die Schönen Wissenschaften. Nach dem Französischen des Herrn Batteux, mit Zusätzen vermehret von Karl Wilhelm Ramler. Dritter Band. Vierte und verbesserte Aufl. Leipzig: M. G. Weidmanns Erben und Reich, 1774. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Ästhetik. Übersetzt, mit einer Einleitung, Anmerkungen und Register hrsg. von Dagmar Mirbach. Lateinisch-deutsch. 2 Bände. Hamburg: Meiner 2007 (Philosophische Bibliothek, Bd. 572,a und 572,b). Becker, Karl Friedrich: Die Dichtkunst aus dem Gesichtspunkte des Historikers betrachtet, Berlin: C. G. Nauk 1803. Beethoven, Ludwig van: Werke. Hrsg. vom Beethoven-Archiv Bonn unter Leitung von Joseph Schmidt-Görg. Abteilung XII. Band 1: Lieder und Gesänge mit Klavierbegleitung. Hrsg. von Helga Lühning. München: G. Henle Verlag 1990. Bernays, Michael: „Zur Lehre von den Citaten und Noten“ [1892], in: ders., Schriften zur Kritik und Litteraturgeschichte. Bd. 4: Zur neueren und neuesten Litteraturgeschichte. II. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Georg Witkowski. Berlin: B. Behr’s Verlag 1899, S. 253–347. Bion, Udo: Beiträge zur Kenntnis des Lebens und der Schriften des Dichters Fr. Carl Casimir von Creuz, Meiningen: Keyssner’sche Hofbuchdruckerei 1894. Blackmore, Sir Richard: Creation. A Philosophical Poem. Demonstrating the Existence and Providence of a God. Third edition, London 1715. Blackmore, Sir Richard: Redemption: A Divine Poem, In Six Books. [. . .], London: A. Bettesworth 1722. Blackmore, Sir Richard: Essays upon Several Subjects [1716]. Nachdruck der Ausgabe London 1716. Hildesheim/New York: Olms 1976 (Anglistica & Americana, Bd. 164). Boileau [Despréaux, Nicolas]: Œuvres complètes. Introduction par Antoine Adam. Textes établis et annotés par Françoise Escal. Paris: Gallimard 1966 (Bibliothèque de la Pléiade). Bouterwek, Friedrich: Geschichte der Poesie und Beredsamkeit seit dem Ende des dreizehnten Jahrhunderts. Eilfter Band. Göttingen: Röwer 1819. Breitinger, Johann Jacob: Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. [Zwei Bände.] Stuttgart: Metzler 1966. [Breitinger, Johann Jacob]: Vertheidigung der Schweitzerischen Muse, Hrn. D. Albrecht Hallers, Zürich: Heidegger und Comp. 1744. Buddeus, Johann Franz: Theses theologicae de atheismo et superstitione. Variis observationibus illustratae et in usum recitationum academicarum editae. Jena: Bielcke 1717. Buddeus, Johann Franz: Lehr-Sätze Von der Atheisterey und dem Aberglauben. Mit gelehrten Anmerckungen erläutert, und zum Behueff seiner Auditorum in lateinischer Sprache herausgegeben, wegen des daraus zu hoffenden Nutzens aber zu iedermanns Gebrauch

576

V Anhang

durch Theognostvm Evsebivm, Der wahren Weißheit und Gottseeligkeit Beflissenem. Jena: Bielcke 1717. Butler, Joseph: Fifteen Sermons Preached at the Rolls Chapel Upon the Following Subjects. [. . .], London: James and John Knapton 1726. [Creuz, Friedrich Carl Casimir von]: Die Gräber, ein Philosophisches Gedicht, in Sechs Gesängen; nebst einem Anhange neuer Oden und philosophischer Gedanken, Frankfurt/ Mainz:Franz Varrentrapp 1760. Creuz, Friederich Carl Casimir Freiherr von: Oden und andere Gedichte auch kleine prosaische Aufsätze. Neue vermehrte und geänderte Aufl. [Zwei Bände.] Frankfurt a.M.: Franz Varrentrapp 1769. Creuz, Friederich Carl Casimir Freyherr von: Versuch über die Seele. Zweyter Theil. Frankfurt/ Leipzig: Knoch- und Eßlingersche Buchhandlung 1754. Cronegk, Freyherr Johann Friederich von: Schriften. Erster Band, Leipzig: Jacob Christoph Posch 1771. Crousaz, Jean-Pierre de: Examen de l’Essay de monsieur Pope sur l’Homme, Lausanne: MarcMich. Bousquet & Comp. 1737. Crousaz, Jean-Pierre de: Commentaire sur la traduction en vers de M. l’Abbé Du Resnel, de l’Essai de M. Pope sur l’homme, Genf: Pellissari & Comp. 1738. Cumberland, Richard: A Treatise of the Laws of Nature. Made English from the Latin by John Maxwell. London: Printed by R. Phillips; and Sold by J. Knapton [. . .] 1727. [Darwin, Erasmus]: The Botanic Garden. Part II. Containing The Loves of the Plants. A Poem. With Philosophical Notes. The second edition. London: J. Johnson 1790. [Darwin, Erasmus:] The Botanic Garden. Part I. Containing The Economy of Vegetation. A Poem. With Philosophical Notes. London: J. Johnson 1791. Darwin, Erasmus: The Temple of Nature; or, The Origin of Society. A Poem. With Philosophical Notes, London 1803. Darwin, Erasmus: Zoonomia; or, The Laws of Organic Life. 2 Bände. Bd. I: London 1794; Bd. II: London 1796. Delille, Jacques: L’Imagination. Poëme en VIII chants, accompagné de notes historiques et littéraires. [2 tomes.] Paris: Giguet et Michaud 1806. Delille, Jacques: Les Jardins, ou L’art d’embellir les paysages. Poème. Deuxième édition. Paris: Imprimerie de Philippe-Denys Pierres 1782. Delille, Jacques: Les Trois Règnes de la Nature. Avec des notes par M. Cuvier, de l’Institut, et autres savants. [2 tomes.] Paris: Nicolle/Giguet et Michaud 1808. [Diomedes]: Diomedis Artis grammaticae Libri III. In: Grammatici latini. Heinrich Keil (Hrsg.). Bd. I. Leipzig: Teubner 1857, S. 297–529. Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Winfried Woesler. 14 Bände. Tübingen: Niemeyer 1978–2000. Dryden, John: The Poems of John Dryden. Paul Hammond (Hrsg.). 5 Bände. London/New York: Longman 1995–2005. [Dusch, Johann Jakob]: Briefe zur Bildung des Geschmacks. An einen jungen Herrn von Stande. Dritter Theil. Leipzig/Breslau: Johann Ernst Meyer 1767. Dusch, Johann Jakob: Die Wissenschaften. Ein Lehrgedicht, in: Ders., Vermischte Werke in verschiedenen Arten der Dichtkunst, Jena: Christian Henrich Cuno 1754, S. 1–122. [Engel, Johann Jacob]: Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten aus deutschen Mustern entwickelt. Erster Theil, Berlin/Stettin: Friedrich Nicolai 1783.

2 Quellen und vor 1900 erschienene Forschung

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Eschenburg, Johann Joachim: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften. Zur Grundlage bei Vorlesungen. Neue, umgearbeitete Ausgabe. Berlin/Stettin,bey Friedrich Nicolai, 1789. Fambach, Oscar (Hrsg.): Schiller und sein Kreis in der Kritik ihrer Zeit, Berlin: AkademieVerlag 1957. Frey, Ad[olf]: „Einleitung“, in: Haller und Salis-Seewis. Auswahl. Hrsg. A[dolf] Frey. Berlin/ Stuttgart: Spemann [o.J.] (Deutsche National-Litteratur, 41. Bd., 2. Abt.), S. III–XLVIII. Frey, Adolf: Albrecht von Haller und seine Bedeutung für die deutsche Literatur, Leipzig: Haessel 1879. [Gastrell, Francis]: A Moral Proof of the Certainty of a Future State, London: William and John Innys 1725. [Gleim, Johann Wilhelm Ludwig]: Halladat oder Das rothe Buch, Hamburg: Bode 1774. [Gleim, Johann Wilhelm Ludwig]: Versuch in Scherzhaften Liedern. Zweeter Theil. Berlin: [o.V.] 1745. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig/Heinse, Wilhelm: Briefwechsel zwischen Gleim und Heinse. [2 Bände], Carl Schüddekopf (Hrsg.), Weimar: Felber 1894–1895. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig: Ausgewählte Werke, Walter Hettche (Hrsg.), Göttingen: Wallstein 2003. Gleim, Johann Wilhelm Ludwig: Halladat oder Das rothe Buch. In: Ders., Ausgewählte Werke, Walter Hettche (Hrsg.), S. 381–426 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig: J.W.L. Gleim’s sämmtliche Werke. Erste Originalausgabe aus des Dichters Handschriften. [8 Bände], Wilhelm Körte (Hrsg.), Halberstadt: Bureau für Literatur und Kunst [Bd. 8: Leipzig: Brockhaus] 1811–1841. Goethe, Johann Wolfgang: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 143 Bde. Weimar: Böhlau 1887–1919. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände, Hendrik Birus [u.a] (Hrsg.), Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1987 ff. Gottsched, Johann Christoph: Ausgewählte Werke. Joachim Birke (Hrsg.). Erster Band: Gedichte und Gedichtübertragungen. Berlin: De Gruyter 1968. Gottsched, Johann Christoph: Gedichte. Bey der itzigen zweyten Auflage übersehen, und mit dem II. Theile vermehret, nebst einer Vorrede ans Licht gestellet von M. Johann Joachim Schwaben. Leipzig: Bernhardt Christoph Breitkopf 1751. Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen [. . .], Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf 1730. Götzinger, M[ax] W[ilhelm]: Deutsche Dichter. Zweiter Theil. 5. Aufl. Leipzig: Hartknoch 1870. Griepenkerl, F[riedrich] K[onrad]: Lehrbuch der Ästhetik. In zwei Theilen, Braunschweig: Vieweg 1826. Hagedorn, Friedrich von: Briefe. Horst Gronemeyer (Hrsg.). [Zwei Bände. Bd. 1: Text. Bd. 2: Apparat / Kommentar.] Berlin/New York: De Gruyter 1997. Hagedorn, Friedrich von: Moralische Gedichte, Hamburg: Johann Carl Bohn 1750. Hagedorn, Friedrich von: Moralische Gedichte. Zweyte, vermehrte Ausgabe. Hamburg: Johann Carl Bohn 1753. [Hagedorn, Friedrich von]: Oden und Lieder in fünf Büchern, Hamburg: Bohn 1754. Hagedorn, Friedrich von: Poetische Werke. Mit seiner Lebensbeschreibung und Charakteristik und mit Auszügen seines Briefwechsels begleitet von Johann Joachim Eschenburg. Fünf Theile. Erster Theil: Lehrgedichte und Epigrammen, Hamburg: Carl Ernst Bohn 1800.

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V Anhang

Haller, Albrecht von: „Schreiben an den Herrn Regierungs-Präsidenten Freyherrn von Gemmingen in Stuttgart über die Vergleichung zwischen Hagedorns und Hallers Gedichten“, in: [Albrecht von Haller], Sammlung kleiner Hallerischer Schriften. Zweite, verbesserte und vermehrte Aufl. [Drei Bände.] Dritter Theil. Bern: Emanuel Haller 1772, S. 335–352. Haller, Albrecht von: „Vorrede zu den Werlhofischen Gedichten“ [1749], in: [Albrecht von Haller], Sammlung Kleiner Hallerischer Schrifften, Bern: Emanuel Haller 1756, S. 161–172. Haller, Albrecht von: Gedichte. Hrsg. und eingeleitet von Ludwig Hirzel. Frauenfeld: Verlag von J. Huber 1882 (Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz und ihres Grenzgebietes, Bd. 3). Haller, Albrecht von: Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst. [Hrsg. Johann Georg Heinzmann.] [2 Bde.] Bern: In der Hallerschen Buchhandlung 1787. Photomechanische Reproduktion: Frankfurt a.M.: Athenäum 1971. Haller, Albrecht: Versuch Schweizerischer Gedichte. Vierte, vermehrte und veränderte Aufl. Göttingen: Abram Vandenhoeck 1748 Haller, Albrecht: Versuch Von Schweizerischen Gedichten. Zweyte, vermehrte und veränderte Aufl. Bern: Niclaus Emanuel Haller 1734. [Haller, Albrecht]: Versuch Schweizerischer Gedichten, Bern: Niclaus Emanuel Haller 1732. Hartmann, Carl: Friederich Carl Casimir Freiherr von Creuz und seine Dichtungen, Heidelberg: Universitäts-Buchdruckerei von J. Hörning 1890. Himmel, Friedrich Heinrich: Gesänge aus Tiedge’s Urania in Musik gesetzt. Op. 18, Oranienburg: Werckmeister 1804. Hirzel, Ludwig: „Einleitung: Hallers Leben und Dichtungen“, in: Albrecht von Haller, Gedichte. Hrsg. und eingeleitet von Ludwig Hirzel. Frauenfeld: Verlag von J. Huber 1882 (Bibliothek älterer Schriftwerke der deutschen Schweiz und ihres Grenzgebietes, Bd. 3), S. III–DXXXVI. Hottinger, J. J.: Versuch einer Vergleichung der deutschen Dichter mit den Griechen und Römern, Mannheim: [o.V.] 1789. Humboldt, Wilhelm von: „Vorerinnerung. Ueber Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung“, in: Friedrich Schiller/Wilhelm von Humboldt, Briefwechsel. Mit einer Vorerinnerung über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung von Wilhelm von Humboldt, Stuttgart/Tübingen: Cotta 1830, S. 3–84. [Hume, David]: „Of the Dignity of Human Nature“, in: Ders., Essays, Moral and Political. Edinburgh: Printed by R. Fleming and A. Alison, for A. Kincaid Bookseller 1741, S. 161–171. [Hutcheson, Francis]: An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue; In Two Treatises. I. Concerning Beauty, Order, Harmony, Design. II. Concerning Moral Good and Evil. The Third Edition. Corrected. London: J.J. Knapton [. . .] 1729. Jacobi, [Johann Georg]: Nachtgedanken, [Halberstadt]: [1769]. Jean Paul: Vorschule der Aesthetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit. Zweite Abtheilung. Zweite, verbesserte und vermehrte Aufl. Stuttgart/Tübingen, in der Cotta’schen Buchhandlung 1813. Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften. Hrsg. Bd. 1–22: Preußische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin: Reimer [ab 1922: De Gruyter] 1900 ff.

2 Quellen und vor 1900 erschienene Forschung

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Kästner, Abraham Gotthelf: Vermischte Schriften, Altenburg: In der Richterischen Buchhandlung 1755. Kern, Reinold: Beiträge zur Charakteristik des Dichters Tiedge, Berlin: Speyer & Peters 1895. King, William: An Essay on the Origin of Evil. Translated from the Latin, with large Notes; tending to explain and vindicate some of the Author’s Principles Against the Objections of Bayle, Leibnitz, the Author of a Philosophical Enquiry concerning Human Liberty; and others. To which is prefix’d A Dissertation Concerning the Fundamental Principle and immediate Criterion of Virtue. As also, The Obligation to, and Approbation of it. With some account of The Origin of the Passions and Affections. London: Printed for W. Thurlbourn Bookseller in Cambridge; and sold by R. Knaplock, J. and J. Knapton, and W. Innis in St. Paul’s Church-Yard London 1731. Kleist, Franz von: Zamori, oder die Philosophie der Liebe. In 10 Gesängen, Berlin: Vieweg 1793. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Adolf Beck [u.a.]. Hrsg. von Horst Gronemeyer [u.a.]. Berlin/New York 1974 ff. [Klügel, Georg Simon]: „[Rez.] Halladat oder Das rothe Buch“, in: Allgemeine deutsche Bibliothek, 35/1778, 2, S. 496–499. [Knebel, Karl Ludwig]: Sammlung kleiner Gedichte, Leipzig: Göschen 1815. Knight, Richard Payne: The Progress of Civil Society. A Didactic Poem, in Six Books, London: Printed by W. Bulmer and Co. for G. Nicol, Bookseller, Pall-Mall, 1796. Kobell, Franz von: Die Urzeit der Erde. Ein Gedicht, München: Literarisch-artistische Anstalt 1856. Körte, Wilhelm: Johann Wilhelm Ludewig Gleims Leben. Aus seinen Briefen und Schriften, Halberstadt: Büreau für Literatur und Kunst 1811. La Mettrie, Julien Offray de: Discours sur le bonheur. Critical edition by John Falvey, Banbury: Voltaire Foundation 1975 (Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, Bd. 134). [Law, Edmond:] „The Translator’s Preface“, in: William King, An Essay on the Origin of Evil. Translated from the Latin, with large Notes [. . .]. London: Printed for W. Thurlbourn Bookseller in Cambridge [. . .] 1731, S. iii–x. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Essais de théodicée. In: Ders., Die philosophischen Schriften. C. J. Gerhardt (Hrsg.). [Sieben Bände.] Sechster Band. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Berlin 1890. Hildesheim: Olms 1961. Leibniz, Gottfried Wilhelm: La monadologie, in: Ders., Monadologie und andere metaphysische Schriften. Französisch–Deutsch. Hrsg., übersetzt, mit Einleitung, Anmerkungen und Registern versehen von Ulrich Johannes Schneider. Hamburg: Meiner 2002 (Philosophische Bibliothek, Bd. 537), S. 110–151. Lenau, Nikolaus: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Helmut Brandt [u.a.]. [Acht Bände.] Wien: Deuticke/Klett-Cotta 1989–2004. Lessing, Gotthold Ephraim/Mendelssohn, Moses: Pope ein Metaphysiker!, in: Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 3, S. 614–650. Lessing, Gotthold Ephraim: Die Religion [1751]. In: Ders., Werke. Herbert G. Göpfert (Hrsg.). Band 1: Gedichte. Fabeln. Lustspiele. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1970, S. 169–181. Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. Wilfried Barner [u.a.]. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985–2003. Lichtwer, M[agnus] G[ottfried]: Das Recht der Vernunft, in fünf Büchern, Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf 1758. Lowth, Robert: De Sacra Poesi Hebraeorum [. . .], notas et epimetra adjecit, Ioannes David Michaelis [. . .], Göttingen 1758/61.

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Lucretius: De Rerum Natura. With an English Translation by W. H. D. Rouse. Revised by Martin Ferguson Smith. Reprinted with revisions. Cambridge (MA), London 1992. Lukrez: De rerum natura / Welt aus Atomen. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. von Karl Büchner. Stuttgart: Reclam 2008 [zuerst 1973]. Mandeville, Bernard: The Fable of the Bees: or, Private Vices, Publick Benefits. With a Commentary Critical, Historical and Explanatory by F. B. Kaye. [Zwei Bände.] Reprint der Ausgabe von 1924. Oxford: Clarendon Press 1966. [Mauvillon, Jakob/ Unzer,Ludwig August]: Ueber den Werth einiger Deutschen Dichter und über andere Gegenstände den Geschmack und die schöne Litteratur betreffend. Ein Briefwechsel. [Zwei Teile.] Frankfurt/Leipzig: [o.V.] 1771/1772. [Mehring, Daniel Gottlieb Gebhard]: Thauma. Oder: Der Gang durchs Leben. Ein lyrischdidaktisches Gemälde der vier Lebensstufen. In vier Gesängen, Berlin: Pauli’sche Buchhandlung 1826. Montaigne, Michel de: Les Essais. Édition établie par Jean Balsamo, Catherine MagnienSimonin et Michel Magnien. Paris: Gallimard 2007 (Bibliothèque de la Pléiade). Np.: [Rez.]„ Tiedge, C. Urania. Ueber Gott, Unsterblichkeit und Freyheit 2. Aufl.“, in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek, 86/1804, 2. St., S. 497–499. Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey [1624]. Studienausgabe. Herbert Jaumann (Hrsg.), Stuttgart: Reclam 2002. Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Handschrift für Freunde. Neu herausgegeben (getreu dem Original) und mit einer Einleitung sowie Anmerkungen versehen von Ernst Friedel. [Zwei Teile.] Berlin: Frensdorff 1907. Pascal [, Blaise]: Œuvres complètes. Jacques Chevalier (Hrsg.). Paris: Gallimard 1954 (Bibliothèque de la Pléiade). Poetry of the Anti-Jacobin. Fourth edition. London: J. Wright 1801. Polignac, Melchior de: Anti-Lucretius, sive De Deo et Natura. Libri Novem. [2 Bände.] Paris: Coignard & Boudet 1747. Polignac, Cardinal [Melchior] de: L’Anti-Lucrèce, Poëme sur la Religion Naturelle. Traduit par M. De Bougainville. [2 Bände.] Paris: H.-L. Guerin & J. Guerin 1749. Polignac, Cardinal [Melchior] de: L’Anti-Lucrèce, Poëme sur la Religion Naturelle. Traduit par M. De Bougainville. [2 Bände.] Paris: H.-L. Guerin & J. Guerin 1749. [Pope, Alexander]: The Correspondence of Alexander Pope. Georg Sherburn (Hrsg.). [Fünf Bände.] Oxford: Clarendon Press 1956. [Pope, Alexander]: The Poems of Alexander Pope. General editor John Butt. London: Methuen/ New Haven: Yale University Press 1951–1969 [= Twickenham Edition]. Pope, [Alexander]: L’Essai sur l’Homme. Traduit en vers français par Jacques Delille. Paris: Michaud 1821. Pope, Alexander: „Against Barbarity to Animals“ [1713], in: Ders., The Prose Works. Newly collected and edited by Norman Ault. Vol. I. The Earlier Works, 1711–1720. Oxford: Blackwell 1936, S. 107–114. Pope, Alexander: An Essay on Man. Maynard Mack (Hrsg.). London: Methuen 1958 [= Twickenham Edition, Vol. III.i] [zuerst 1950]. Pope, Alexander: Epistle III. To Allen Lord Bathurst. In: Ders., Epistles to Several Persons (Moral Essays). F. W. Bateson (Hrsg.). Second edition. London: Methuen/New Haven: Yale University Press 1961 [= Twickenham Edition III.ii] [zuerst 1951], S. 83–125.

2 Quellen und vor 1900 erschienene Forschung

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Sucro, Christoph Joseph: Versuche in Lehrgedichten und Fabeln. Halle im Magdeburgischen: Carl Hermann Hemmerde. 1747. Mit einem Nachwort herausgegeben von Yvonne Wübben. Hannover: Wehrhahn 2008. Sucro, Christoph Joseph: „Abhandlung von philosophischen Gedichten“, in: Ders., Versuche in Lehrgedichten und Fabeln. Halle im Magdeburgischen: Carl Hermann Hemmerde. 1747. Mit einem Nachwort herausgegeben von Yvonne Wübben. Hannover: Wehrhahn 2008, S. 7–25. Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Zweyter Theil, von K bis Z. Leipzig: Bey M. G. Weidmanns Erben und Reich 1774. Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Neue vermehrte zweyte Auflage. Dritter Theil. Leipzig, in der Weidmannschen Buchhandlung 1793. The Spectator. Edited with an introduction and notes by Donald F. Bond. [Fünf Bände.] Oxford: Clarendon Press 1965. Thomson, James: The Seasons. James Sambrook (Hrsg.). Oxford: Clarendon Press 1981. Thst.: „[Rez. zu:] Friedrich Carl Casimirs Freyherrn von Creutz, [. . .] Oden und andere Gedichte, auch kleine prosaische Aufsätze, neue vermehrte und geänderte Auflage. [. . .] 1769“, in: Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften. Hrsg. von Herrn Klotz. 13. Stück, Halle: Johann Justinus Gebauer 1769, S. 57–83. Tiedge, C[hristoph] A[ugust]: Urania, über Gott, Unsterblichkeit und Freiheit: ein lyrischdidactisches Gedicht in sechs Gesängen, Halle: Renger 1801. Tiedge, Christoph August: C. A. Tiedge’s Leben und poetischer Nachlaß. Karl Falkenstein (Hrsg.). Erster Band: Tiedge’s Jugend und Mannesalter, Leipzig: Teubner 1841. Vergil: Georgica. Vom Landbau. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam 1994. Viehoff, Heinrich: Schillers Gedichte erläutert und auf ihre Veranlassungen, Quellen und Vorbilder zurückgeführt. Sechste umgearbeitete Aufl. Bd. 2. Stuttgart: Conradi 1887. Voltaire: Discours en vers sur l’homme. Critical edition by Haydn T. Mason. In: Les Œuvres complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire. W. H. Barber [u.a.] (Hrsg.). Bd. 17, Oxford: The Voltaire Foundation / Taylor Institution 1991, S. 389–535. Voltaire: Épître à Uranie. Critical edition by H. T. Mason. In: Les Œuvres complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire. W. H. Barber [u.a.] (Hrsg.). Bd. 1B, Oxford: The Voltaire Foundation / Taylor Institution 2002, S. 463–502. Voltaire: La Henriade. Edition critique par O. R. Taylor. Deuxième édition entièrement revue et mise à jour. In: Les Œuvres complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire. W. H. Barber [u.a.] (Hrsg.). Bd. 2. Genf: Institut et Musée Voltaire 1970. Voltaire: Le Mondain. Critical edition by H. T. Mason. In: Les Œuvres complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire. W. H. Barber [u.a.] (Hrsg.). Bd. 16, Oxford: The Voltaire Foundation / Taylor Institution 2003, S. 269–313. [Voltaire]: Les Œuvres complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire. W. H. Barber/ Theodore Besterman/Nicholas Cronk/Ulla Kölving/Haydn T. Mason (Hrsg.). Oxford: The Voltaire Foundation / Taylor Institution 1974 ff. Voltaire: Lettres philosophiques. Édition critique avec une introduction et un commentaire par Gustav Lanson. Nouveau tirage revu et complété par André M. Rousseau. [2 Bände] Paris: Librairie Marcel Didier 1964.

2 Quellen und vor 1900 erschienene Forschung

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Voltaire: Mélanges. Préface par Emmanuel Berl. Texte établi et annoté par Jacques van den Heuvel. Paris: Gallimard 1961 (Bibliothèque de la Pléiade). Voltaire: Poème sur la loi naturelle. Critical edition by H. T. Mason and Thomas Wynn. In: Les Œuvres complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire. W. H. Barber [u.a.] (Hrsg.). Bd. 32B, Oxford: The Voltaire Foundation / Taylor Institution 2007, S. 1–96. Voltaire: Poème sur le désastre de Lisbonne. Critical edition by David Adams and Haydn T. Mason. In: Les Œuvres complètes de Voltaire / The Complete Works of Voltaire. W. H. Barber [u.a.] (Hrsg.). Bd. 45A. Oxford: The Voltaire Foundation / Taylor Institution 2009, S. 269–358. Voltaire: Recueil de poésies fugitives en prose et en vers, Paris 1740. [Voltaire]: Voltaire’s Correspondence. Theodore Besterman (Hrsg.). 107 Bände. Genf: Institut et Musée Voltaire Les Délices 1953–1965. Vt.: „[Rez.] Tiedge, C. Urania. Ueber Gott, Unsterblichkeit und Freyheit“, in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek, 78/1803, 1. St., S. 60–62. Warburton, [William]: A Critical and Philosophical Commentary on Mr. Pope’s Essay on Man. London: John and Paul Knapton 1742. Warton, Joseph: An Essay on the Writings and Genius of Pope. [2 volumes. Vol. I.] London: M. Cooper 1756. Warton, Joseph: Odes on Various Subjects, London: R. Dodsley 1746. Wetzel, Friedrich Gottlob: Rhinoceros. Anhang zu Tiedge’s Urania. 2. Aufl. Nürnberg 1818. [Wetzel, Friedrich Gottlob]: Rhinoceros; ein lyrisch-didaktisches Gedicht in Einem Gesange. Nürnberg 1810. [Wieland, Christoph Martin]: Die Natur der Dinge in sechs Büchern. Mit einer Vorrede Georg Friedrich Meiers, Halle: Carl Hermann Hemmerde 1752. [Wieland, Christoph Martin]: Musarion, oder die Philosophie der Grazien. Ein Gedicht, in drey Büchern, Leipzig: M. G. Weidmanns Erben und Reich 1768. [Wieland, Christoph Martin]: „[Rez.] Halladat oder Das rothe Buch“, in: Der Teutsche Merkur, 1775, 2, S. 281–285. Wieland, Christoph Martin: Die Natur der Dinge oder die vollkommenste Welt, in: Ders., Sämmtliche Werke. Supplemente. Erster Band, Leipzig 1798. Reprint der 1794–1811 erschienenen Ausgabe der Sämmtlichen Werke: Hrsg. von der ‚Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur‘ in Zusammenarbeit mit dem ‚Wieland-Archiv‘, Biberach, und Hans Radspieler, Hamburg 1984, S. 3–274. Wieland, Christoph Martin: Gesammelte Schriften. Deutsche Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.). Abteilung I: Werke. Abteilung II: Übersetzungen. Berlin: Weidmann [bzw. Akademie-Verlag] 1909–1975. Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. In: Ders., Werke in zwölf Bänden. Gonthier-Louis Fink [u.a.] (Hrsg.). Bd. 3. Hrsg. von Klaus Manger, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1986. Wieland, Christoph Martin: Übersetzung des Horaz. In: Ders., Werke in zwölf Bänden. Gonthier-Louis Fink u.a. (Hrsg.). Bd. 9. Hrsg. von Manfred Fuhrmann, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1986. Wieland, Christoph Martin: Wielands Briefwechsel, [20 Bände], Hans Werner Seiffert [u.a.] (Hrsg.), Berlin: Akademie-Verlag 1963–2007. Wilmot, John: The Poems of John Wilmot, Earl of Rochester. Keith Walker (Hrsg.), Oxford [u.a.]: Blackwell 1984.

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V Anhang

Wyttenbach, Johann Hugo/Neurohr, Johann Anton: Aussprüche des reinen Herzens und der philosophirenden Vernunft über die der Menschheit wichtigsten Gegenstände. Zusammen getragen aus den Schriften älterer und neuerer Denker. 3 Bde. 2. Aufl. Leipzig 1801/1802. Young, [Edward]: A Vindication of Providence: or, A True Estimate of Human Life. Discourse I, London: Tho. Warrell 1728. Young, Edward: Night Thoughts. Stephen Cornford (Hrsg.), Cambridge [u.a.]: Cambridge University Press 1989.

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Personenregister Addison, Joseph 81, 127, 130, 199, 300 Akenside, Mark 46, 305 Arat von Soloi 7, 10f., 16, 19, 25 Aristoteles 11f., 109, 147, 280, 352, 417 Atterbury, Francis 84 Augustinus 99, 192 Badenfeld, Eduard Freiherr von 567f. Bathurst, Allen, First Earl 87f., 104, 117, 140, 144–160 Batteux, Charles 38f., 48, 280, 396 Baumgarten, Alexander Gottlieb 283, 286, 413, 415, 417f., 420, 431, 436 Bayle, Pierre 89, 92, 186, 191, 274 Beethoven, Ludwig van 396 Bentley, Richard 90, 141 Blackmore, Sir Richard 67, 75–82, 85f., 97, 116, 132, 137, 156, 161f., 199, 296, 301, 321, 350, 470, 499, 527 Blake, William 47 Blunt, Sir John 148, 150f., 153 Bodmer, Johann Jakob 37, 195f., 233 Boileau, Nicolas 67–69, 226, 239, 248, 258, 265, 287 Bolingbroke, Henry St. John, Viscount 66f., 82, 84f., 91–93, 96, 111, 117–120, 124, 131f., 135f., 138–140, 146, 158f., 318 Bond, Denis 148 Bonnet, Charles 96, 507 Bossuet, Jacques-Bénigne 71 Bouhours, Dominique 241 Bouterwek, Friedrich 169, 373, 389, 421, 473f. Boysen, Friedrich Eberhard 372, 375–377 Breitinger, Johann Jakob 39, 160, 282f., 410–412 Brockes, Barthold Heinrich 35, 39, 42, 52, 163, 165f., 217, 220–222, 225, 354, 372, 487, 527, 562 Bruno, Giordano 547, 549 Budde, Johann Franz 185f. Buffon, Georges-Louis Leclerc de 400 Butler, Joseph 132

https://doi.org/10.1515/9783110348491-006

Campanella, Tommaso 28 Canning, George 456 Cardano, Girolamo 266, 268 Carriere, Moriz 437 Cervantes, Miguel de 240 Châtelet, Émilie du 257 Cicero 118 Cowper, William 46 Crabbe, George 46, 305 Cranmer, Thomas 400 Creuz, Friedrich Carl Casimir Freiherr von 59, 306, 319, 328–346, 352, 357, 366, 369f., 381f., 385, 393f., 399, 403–405, 420–422, 438f., 441–443, 495, 560, 562, 566 Cronegk, Johann Friedrich Freiherr von 306, 319, 328f., 345, 402 Crousaz, Jean-Pierre de 63, 94, 125, 256, 259 Cumberland, Richard 111f. Cuvier, Georges 461f., 463 Darwin, Erasmus 446–466, 468–470, 472, 499, 501f., 560f., 565, 567f. Delille, Jacques 8f., 48f., 247f., 446f., 460–470, 472, 499, 561, 567f. Diomedes 12 Droste-Hülshoff, Annette Freiin von 570 Dryden, John 67, 70–75, 80–82, 99, 120, 132, 158, 162, 199, 301, 564 Dusch, Johann Jakob 38, 228, 439, 477 Ebeling, Christoph Daniel 196f. Ebert, Johann Arnold 308, 328, 356 Empedokles 9, 11f., 25 Engel, Johann Jakob 38f., 196, 258, 289–292, 323, 356, 369, 397, 408f., 487 Epikur 27, 76f., 79, 92f., 156, 417f., 460, 477, 557 Eschenburg, Johann Joachim 169, 216f. Fénelon (François de Salignac de La MotheFénelon) 203, 252–254

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Personenregister

Filmer, Robert 117f. Forster, Georg 13, 421–424, 427f., 430, 436, 497 Foster, James 241f. Friedrich II., König von Preußen (Friedrich der Große) 264, 268 Friedrich IV., Landgraf von HessenHomburg 330 Füssli, Johann Heinrich (Henry Fuseli) 459 Gay, John 102 Gellert, Christian Fürchtegott 41f. Geßner, Salomon 345f., 357, 380 Gleim, Johann Wilhelm Ludwig 41, 306, 346, 366, 371–385, 407, 420, 439 Godwin, William 457 Goethe, Johann Wolfgang von 3f., 9, 13, 40, 51, 208, 280, 331, 352, 364, 370, 371f., 376, 446f., 449, 470–472, 492, 497, 499–534, 536–548, 550–560, 563, 565–567, 569 Goldsmith, Oliver 46, 305, 439 Gottschall, Rudolph 437 Gottsched, Johann Christoph 39, 279f., 293f., 410–412 Griepenkerl, Friedrich Konrad 537 Gryphius, Andreas 341 Hagedorn, Friedrich von 2, 39, 41, 76, 163–166, 170, 215–247, 278, 291, 295–297, 302, 308, 336f., 349, 351f., 358, 364, 373, 420, 445, 497, 560 Haller, Albrecht von 2, 8f., 13, 28, 32, 38f., 41f., 52, 75, 98, 163–172, 174f., 177–180, 182–216, 218–220, 222–225, 237, 244–249, 278, 281, 283f., 287f., 290–293, 295–297, 300–303, 308, 326, 329, 332, 336f., 342, 349, 352–355, 364, 371, 373, 399, 409, 411–415, 419, 431, 433–435, 439, 442, 445, 471, 474f., 484, 486f., 490, 492, 495, 497, 499, 527, 538f., 553f., 560–562, 565f. Harsdörffer, Georg Philipp 7, 596 Helvétius, Claude Adrien 247f. Herder, Johann Gottfried 336, 416, 507, 513 Hervey, John, Lord 125f. Hesiod 7, 10–12, 15f., 25

Himmel, Friedrich Heinrich 396 Hobbes, Thomas 70, 82, 90f., 105–107, 116–119, 156, 162, 266, 268, 297 Hoffmannswaldau, Christian Hoffmann von 164 Hölderlin, Friedrich 28, 432, 474, 569 Homer 11, 321f., 377 Horaz 31, 67, 74, 216–221, 224–227, 230, 232f., 235, 239, 245, 248, 265, 287, 419 Hottinger, Johann Jakob 359f., 578 Howard, John 458 Howard, Luke 3, 471, 502–504, 512, 522–526, 540–545, 559 Hugo, Victor 560 Humboldt, Wilhelm von 437, 481–483, 487, 491, 495, 566 Hume, David 105f., 109, 112, 116, 121, 286, 322, 477 Hutcheson, Francis 91, 105f., 112, 243 Jacobi, Johann Georg 381 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 409 Juvenal 167

Kant, Immanuel 385, 389f., 392, 406f., 431, 432, 440, 443, 467, 478, 507, 547f., 549, 554f. Karsch, Anna Louisa 383 Kästner, Abraham Gotthelf 38, 42, 163, 285, 349, 539 Keats, John 47 Kepler, Johannes 542, 547 King, William 65, 88f., 96, 99, 103, 156, 448, 538 Kleist, Ewald Christian von 52, 431 Klopstock, Friedrich Gottlieb 2, 242, 306–308, 345, 351, 352, 378–381, 402, 428, 431, 567 Knebel, Karl Ludwig von 501, 528, 530f. Knight, Richard Payne 457f. Körner, Christian Gottfried 421–430, 436 Kyrle, John 149f. La Mettrie, Julien Offray de 212, 265, 267–269, 278 La Rochefoucauld, François de 107, 121, 188

Personenregister

Laktanz 192 Lamartine, Alphonse de 446, 560, 568 Las Casas, Bartolomé de 400 Leibniz, Gottfried Wilhelm 43, 89, 93, 96f., 125f., 160, 190f., 258, 273, 277, 289, 299, 325, 343, 356, 507, 513, 549 Lenau, Nikolaus 570 Lessing, Gotthold Ephraim 38, 52, 98f., 101, 163, 204, 298, 306, 346, 374, 377f., 380, 383, 413, 416–421, 427, 431, 436, 441, 486, 566 Lichtwer, Magnus Gottfried 41, 246, 538 Locke, John 96, 105, 107, 109, 111, 115–120, 299 Lohenstein, Daniel Caspar von 164, 199, 201, 209, 301 Lowth, Robert 378 Lühe, Carl Emil von der 502 Lukrez 7, 9–12, 15f., 18, 20f., 26–29, 49, 53, 66f., 76–81, 86, 92f., 97, 118, 144, 156, 161, 178, 296f., 336, 348–350, 409, 413, 416f., 447, 452, 456f., 459–462, 469f., 477, 500–502, 507f., 510, 539, 542, 544, 546–549, 551 Malpighi, Marcello 339 Mandeville, Bernard 90f., 107f., 112, 116, 121, 125f., 162, 252 Manilius 7, 9, 11, 16 Mauvillon, Jakob 445 Mehring, Daniel Gottlieb 567f. Meier, Georg Friedrich 38, 347, 413, 414–416, 421f., 429, 431, 436 Melon, Jean-François 252 Mendelssohn, Moses 98f., 101, 344, 413, 416–421, 427, 431, 436, 441, 566 Milton, John 24, 78, 81, 83, 92, 99, 199, 311, 321f. Montaigne, Michel de 107f., 121, 126, 186, 223f., 227, 230, 233f., 245 Newton, Sir Isaac 54, 113, 203, 208f., 466, 549, 605, 614 Nicolai, Friedrich 396 Nietzsche, Friedrich 43

623

Opitz, Martin 8f., 11, 42, 220 Ovid 7, 18, 20 Paine, Thomas 457 Parthey, Gustav 396, 402 Pascal, Blaise 121, 256–261, 264, 271, 278 Pitt, William (der Jüngere) 458 Platon 99 Polignac, Kardinal Melchior de 53, 296, 350, 413 Pope, Alexander 13, 32f., 41f., 44–46, 52, 59, 63–68, 81–99, 101–127, 129–134, 137–150, 152, 156, 158–162, 182, 189, 198f., 217, 233, 245, 249f., 256–261, 263, 265f., 275–278, 281, 283, 287, 291–293, 295–298, 300–303, 305, 308, 310f., 318f., 321–323, 326f., 336, 349, 352, 354f., 364, 394, 399, 409, 412f., 416–421, 439, 442, 445, 468, 499, 527, 560–562, 565 Pound, Ezra 9f. Priestley, Joseph 457 Pyra, Immanuel Jacob 308 Racine, Louis 48, 203, 256, 260f., 298 Ramler, Karl Wilhelm 396 Recke, Elisa von der 396, 402, 405 Riemer, Friedrich Wilhelm 545f. Rilke, Rainer Maria 28, 570 Rochester, John Wilmot, Second Earl of 67–70, 81f., 121f., 129, 162 Rousseau, Jean-Jacques 339 Ryle, Gilbert 55 Sack, August Friedrich Wilhelm 333f. Saint-Lambert, Jean-François de 50, 247 Schefer, Leopold 568 Schiller, Friedrich 3f., 40, 51, 280, 370f., 385f., 390, 405, 410, 413, 421–424, 426, 428–438, 446f., 470–484, 486–489, 491–499, 501, 558–560, 563, 565– 567, 569f. Schlosser, Johann Georg 64 Semler, Johann Salomo 377 Seneca 24, 268, 418 Servius 12, 16

624

Personenregister

Sévigné, Marie de Rabutin-Chantal, Marquise de 241 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, Third Earl of 89, 91, 99, 105f., 108, 111f., 116, 121, 125–130, 134, 160, 186, 190, 223, 226, 241–243, 297, 300 Shelley, Percy Bysshe 46f., 446, 560 Simon, Richard 71f. Spalding, Johann Joachim 242, 333f., 344, 356, 391f., 441 Spence, Joseph 94 Spinoza, Baruch de 65, 186, 266, 268, 517 Stähelin, Benedikt 171, 173–176, 182–185, 187, 189, 197, 343 Stolberg, Friedrich Leopold Graf zu 421–424, 427f. Sucro, Christoph Joseph 283–288, 291f., 420, 432f. Sulzer, Johann Georg 37–39, 76, 286–292, 294 Swift, Jonathan 67, 83, 88f., 102, 139, 162 Thomasius, Christian 36, 115, 185f. Thomson, James 141 Tiedge, Christoph August 3, 40, 306, 385–393, 394, 399f., 402–407, 438f., 441–443, 471, 561, 566–568 Ulrike Louise zu Solms-Braunfels (Ulrike Louise von Hessen-Homburg) 330 Unzer, Ludwig August 445 Uz, Johann Peter 474f., 500, 538

Vergil 7, 9–13, 15f., 18–20, 22, 24, 26, 45, 78, 81, 88, 297, 447, 461f., 539 Vigny, Alfred de 446, 560 Voltaire (François-Marie Arouet) 13, 32f., 43, 48, 50, 59, 64, 101, 169, 171f., 179, 199, 247–273, 276–278, 291f., 295–297, 300–302, 442, 461, 560–562 Walpole, Sir Robert 84f., 139, 157 Warburton, William 63, 87, 96, 108, 125, 146 Warton, Joseph 305, 326, 445 Warton, Thomas 305, 445 Werlhof, Paul Gottlieb 201, 206 Wieland, Christoph Martin 31, 38, 166, 224, 233, 289, 306, 308, 332, 345–361, 363–366, 368–371, 373f., 380, 382–385, 394, 402–405, 407, 413–415, 420, 422, 438–443, 562, 566 Wilhelmine, Markgräfin von BrandenburgBayreuth (Wilhelmine von Preußen) 265 Withof, Johann Philipp Lorenz 41 Wittgenstein, Ludwig 55f. Wolff, Christian 34, 36, 43, 219, 222, 224, 286, 299, 343, 353, 356, 431f., 507 Wollaston, William 65, 243 Wordsworth, William 46f., 327, 445f., 560 Young, Edward 46, 51, 59, 114, 199, 305, 308–331, 346f., 352, 356f., 366, 369–371, 381f., 384f., 388, 393, 399, 402–405, 407, 409, 438f., 441–443, 451, 560, 562, 565–567, 569