Die Wiederaufnahme des Verfahrens im schweizerischen Strafprozeßrecht [1 ed.] 9783428430727, 9783428030729

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Die Wiederaufnahme des Verfahrens im schweizerischen Strafprozeßrecht [1 ed.]
 9783428430727, 9783428030729

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ADAM·CLAUS ECKERT

Die Wiederaufnahme des Verfahrens im schweizerischen Strafprozeßrecht

Schriften zum Strafrecht

Band 19

Die Wiederaufnahme des Verfahrens im swweizeriswen Strafprozeßrewt

Von

Dr. Adam" Claus Eckert

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Alle Redlte vorbehalten

© 1914 Duncker & Humblot, Berlin 41

Gedruckt 1914 bei Feese & Sdlulz, Berlin 41 Printed in Germany ISBN 3 428 03012 9

Inhaltsverzeichnis Abkfirzungsverzeichnis ................................................

8

Abkürzungen der Kantone ............................................

10

Einleitung

11

Erster Teil Rechtstheoretische Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens 1. 2.

2.1 2.2

2.3 2.4 2.41 2.42 2.421 2.422 2.423 3. 3.1 3.2 3.21 3.22 3.221

Der Begriff der Wiederaufnahme ............................... . Allgemeine Bemerkungen zur Rechtskraftslehre ................. . Bedeutung der Rechtskraft für das Wiederaufnahmerecht ....... . Historische Entwicklung der Rechtskraftslehre ................. . Die formelle Rechtskraft - Voraussetzungen und Wirkungen - zugleich ein kurzer Überblick über die Rechtsmittel im Schweizer Strafprozeß ................................................... . Die materielle Rechtskraft und der Grundsatz "ne bis in idem" ... . Welche Entscheidungen sind der materiellen Rechtskraft fähig? ... . Die Definition der Tatidentität ................................. . Die Identität der Tat in der deutschen und französischen Lehre und Rechtsprechung ............................................ . Die schweizerische Lehre und Rechtsprechung ................... . Zusammenfassung ............................................. . Rechtskraft und Gerechtigkeit ................................. . Die Antinomie zwischen Rechtskraft und Wiederaufnahme des Verfahrens ..................................................... . Fehlurteil und Wiederaufnahme des Verfahrens ................ Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten .................... Wiederaufnahme zuungunsten des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtfertigen sich besondere Gründe für die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Beschuldigten? ......................

15 15 15 15

16 19 25 25 26 27

28 30 31 32 34 35 35 38

Zweiter Teil Art. 397 StGB und seine Bedeutung für das Wiederaufnahmerecht 1. 1.1 1.2

42

Das Verhältnis des Art. 397 StGB zum kantonalen Recht.... ...... 42 Das "Scheinproblem der Verfassungsmäßigkeit" von Art. 397 StGB 42 Art. 397 StGB als bundesrechtlicher Wiederaufnahmegrund 44

6 2. 2.1 2.2 2.21 2.22 2.23 2.24 2.3 2.31 2.32

Inhaltsverzeichnis Analyse des Art.397 StGB ...................................... Wiederaufnahmefähige Entscheidungen .......................... Auslegung des Art. 397 StGB .................................... Tatsachen... . ... . ... . ... .... .................................... Beweismittel.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erheblichkeit.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuheit......................................................... Bundesgerichtliche Kontrolle der kantonalen Wiederaufnahmepraxis .......................................................... Voraussetzung für die Zulässigkeit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Voraussetzung für die Zulassung eines auf Nova gestützten Wiederaufnahmegesuches ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46 46 50 50 51 52 53 58 58 59

Dritter Teil Kantonales Recht 1. 1.1 1.11 1.12 1.121 1.122 1.123 1.13 1.14 1.2 1.21 1.22 2. 2.1 2.2 2.3 2.31 2.32 2.321 2.322 3. 4. 5. 5.1 5.2

Die Wiederaufnahmegründe .................................... Die Gründe für die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten.. Vorbemerkung.................................................. Der allgemeine Wiederaufnahmegrund wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel .............................................. Wiederaufnahmefähige Entscheidungen .......................... Erheblichkeit und Neuheit ...................................... Erfolgsaussicht .................................................. Widersprechendes Urteil ........................................ Strafbare Handlung ............................................ Die Gründe für die Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten... ............................. .... Die Wiederaufnahme zuungunsten "propter nova" ................ Besondere Gründe für die Wiederaufnahme zuungunsten des Beschuldigten ...................................................... Das Wiederaufnahmeverfahren .................................. Die zuständige Behörde .......................................... Die Antragsberechtigten ........................................ Die Form des Wiederaufnahmegesuches und die Wahrung bestimmter Fristen ................................................ Die Form ...................................................... Die Fristen ...................................................... Wiederaufnahmegesuch zugunsten des Verurteilten.............. Wiederaufnahmegesuch zuungunsten des Beschuldigten .......... Die Wirkungen des Wiederaufnahmeantrages .................... Die Mitwirkung des Verteidigers im Wiederaufnahmeverfahren.. Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung ........................ Die Zulässigkeitsprüfung ........................................ Die Begründetheitsprüfung ......................................

63 63 63 63 65 68 70 74 76 78 81 81 82 82 82 86 88 88 88 88 89 91 91 93 94 96

Inhaltsverzeichnis 6. 7. 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.51 7.52 7.6 7.7 7.8 7.9 8. 8.1 8.2

Entscheid über den Wiederaufnahmeantrag ...................... Das wiederaufgenommene Verfahren ............................ Entscheidung ohne Wiederholung der Hauptverhandlung ........ Entscheidung auf Grund erneuerter Hauptverhandlung .......... Zuständigkeit für die erneuerte Hauptverhandlung .............. Verfahrensprinzipien ............................................ Das Problem der Verjährung im wiederaufgenommenen Verfahren Die Verfolgungsverjährung ...................................... Die Vollstreckungsverjährung .................................... Einzelfragen .................................................... Das Verbot der reformatio in peius .............................. Entschädigung und Wiedergutmachung .......................... Anrechnung verbüßter Strafen .................................. Sonderfälle der Wiederaufnahme des Strafverfahrens ............ Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Verurteilten ex officio .......................................................... Das außerordentliche Wiederaufnahmebegehren nach § 215 StpQ Solothurn .......................................................

1

99 101 102 102 103 104 104 104 106 106 107 109 112 113 113 114

Gesetze ............................................................... 117 Literaturverzeichnis ................................................... 118

Ahkürzungsverzeichnis

a.A.

anderer Ansicht

a.a.O.

am angegebenen Ort

Art.

Artikel

AS BG

Amtliche Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen

BGE

Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts zitiert nach Band, Teil und Seite

BGH

Deutscher Bundesgerichtshof

BGHSt

Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen zitiert nach Band und Seite

BJM

Basler Juristische Mitteilungen zitiert nach Jahrgang und Seite

BStrP

Bundesgesetz über die Bundesstrafrechtspftege vom 15. Juni 1934 mit seitherigen Änderungen

BV

Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874 mit seitherigen Änderungen

cpp

Code de procedure penale

dStPO

Deutsche Strafprozeßordnung v. l. Februar 1877 mit seitherigen Änderungen

EMKG

Entscheid des Militärkassationsgerichtes

Fn

Fußnote Gerichtsverfassungsgesetz

GVG

Schweizerisches Bundesgericht

JR

Juristische Rundschau zitiert nach Jahrgang und Seite

JuS

Juristische Schulung zitiert nach Jahrgang und Seite

JZ

Juristenzeitung zitiert nach Jahrgang und Seite

KV

Kantonsverfassung

MDR

Monatschrift für Deutsches Recht zitiert nach Jahrgang und Seite

MStrGO

Militärstrafgerichtsordnung vom 28. Juni 1889

m.E.

meines Erachtens

Abkürzungsverzeichnis

9

NZZ

Neue Zürcher Zeitung

Rdnr.

Rspr.StrS

Randnummer Entscheidungen des Reichsgerichtes in Strafsachen zitiert nach Band und Seite Rechtsprechung in Strafsachen, Bulletin de jurisprudence penale

s.

siehe

S.

Seite

SJK

Schweizerische Juristische Kartothek

SJZ

Schweizerische Juristenzeitung zitiert nach Band (Jahrgang) Seite

StGB

Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 1. 1. 1942 mit seitherigen Änderungen

StPO

Strafprozeßordnung

RGSt

vgl.

vergleiche

z.B.

zum Beispiel

ZBJV

Zeitschrift des Bernischen Juristenvereins zitiert nach Band (Jahrgang) Seite

ZR

Blätter für zürcherische Rechtsprechung zitiert nach Band und Nummer

ZSR

Zeitschrift für schweizerisches Recht zitiert nach Band (Jahrgang) Seite

ZStrR

Zeitschrift für schweizerisches Strafrecht zitiert nach Band (Jahrgang) Seite

ZStW

Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zitiert nach Jahrgang und Seite

Abkürzungen der Kantone AG

Aargau

AI

Appenzell-Innerrhoden

AR

Appenzell-Außerrhoden

BL

Basel-Landschaft

BS

Basel-Stadt

BE

BernlBerne

FR

Freiburg/Fribourg

GE

GenflGeneve

GL

Glarus

GR

Graubünden

LU

Luzern

NE

Neuenburg/Neuchätel

NW

Unterwaiden nid dem WaldlNidwalden

OW

Unterwaiden ob dem WaldlObwaiden

SG

St. Gallen

SH

Schaffhausen

SO

Solothurn

SZ

Schwyz

TG

Thurgau

TI

Tessin/Ticino

UR

Urt

VD

WaadtNaud

VS

WallisNalais

ZG

Zug

ZH

Zürich

Einleitung Die vorliegende Arbeit ist dem Rechtsmittel der Wiederaufnahme des Strafverfahrens (Revision) gewidmet, einem Rechtsmittel, das in der schweizerischen Literatur wiederholt Beachtung gefunden hat und Gegenstand von Dissertationen und Aufsätzen war. Zwei Gründe waren für die Wahl des Themas ausschlaggebend: Zur Vorbereitung der Reform des Wiederaufnahmerechtes in Deutschland wurden vom MaxPlanck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg i. Br. rechtsvergleichende Gutachten über das Wiederaufnahmerecht im Ausland angefertigt, wobei der Verfasser dieser Arbeit das Gutachten, welches das schweizerische Recht betraf, verfaßte; zwangsläufig mußten jedoch viele Fragen im Gutachten entweder ganz unberücksichtigt bleiben oder nur sehr kurz abgehandelt werden, so daß eine zusammenfassende Gesamtdarstellung weiterhin ihre Berechtigung behielt. Zum anderen aber schien es besonders reizvoll, ein Rechtsmittel und seine Ausgestaltung in 27 verschiedenen Prozeßordnungen zu untersuchen, das wie kein anderes Grundfragen des Strafprozesses tangiert. Aus diesem Grunde wurde dann auch als Ausgangspunkt die Antinomie zwischen der Rechtssicherheit und der Gerechtigkeit gewählt und die Wiederaufnahme des Verfahrens als ein Rechtsmittel verstanden, mit dem dieses Spannungsverhältnis aufgehoben werden kann. So gesehen kommt der Regelung des Wiederaufnahmeverfahrens oder der Wiederaufnahmegründe nicht nur im Prozeß Bedeutung zu, sondern weit darüber hinaus. Die einseitige Betonung der Gerechtigkeit durch die grundsätzliche Anerkennung der Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens muß in der Ausgestaltung des Wiederaufnahmeverfahrens und in der Regelung seiner Voraussetzungen ein Korrektiv finden, damit auch das Prinzip der Rechtssicherheit im Wiederaufnahmerecht zur Geltung kommt!. In keinem Land ließen sich die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten des Gesetzgebers besser untersuchen als in der Schweiz. Dieser Vorzug bedeutet jedoch zugleich eine erhebliche Erschwernis. Die für einen Ausländer überraschende Tatsache, daß jeder Schweizer Kanton eine eigene Strafprozeßordnung kennt sowie die unterschiedliche legislative Technik und Vollkommenheit, stellen bei der Behandlung straf1

s. unten I. Teil, 3.1.

Einleitung

12

prozessualer Fragen den Bearbeiter immer wieder vor Schwierigkeiten. Zum besseren Verständnis scheint es mir deshalb gerechtfertigt, einen kurzen überblick über die Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Straf- und Strafverfahrensrechts zu geben. Die föderative Struktur der Schweiz war im Zeitpunkt der Verfassungsgesetzgebung (zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts) so stark ausgeprägt, daß der Entwurf einer Bundesverfassung vom 5. März 1872, welcher stark zentralistisch ausgerichtet war, sowohl von den Stimmberechtigten als auch von den Ständen am 12. Mai 1872 abgelehnt wurde. In ihm war unter anderem eine Vereinheitlichung des Zivil- und Strafrechts, beides mit Einschluß des Prozeßrechts, vorgesehen. Die überarbeitete Fassung, welche am 19. April 1874 angenommen wurde, verzichtete fast gänzlich auf diese Forderungen und beschränkte die Vereinheitlichung des Rechtes auf wenige zivilrechtliche Gegenstände. Erst durch eine Verfassungsänderung vom 13. November 1898 (AS 16, 888) bekam der Bund die Kompetenz für die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Strafrechts2 • Gleichzeitig wurde jedoch ausdrücklich die Kompetenz der Kantone für die Organisation der Gerichte, das gerichtliche Verfahren und die Rechtsprechung in der Verfassung statuiert (Art. 64 bis Bundesverfassung). Den Kantonen blieb durch Art. 335 Strafgesetzbuch auch die Gesetzgebung über das Übertretungsstrafrecht insoweit vorbehalten, als es nicht Gegenstand der Bundesgesetzgebung

ist.

Daneben wurde der Bund auch für die Beurteilung einzelner Verbrechen und Vergehen zuständig (Art. 340 ff. Strafgesetzbuch), wozu er am 15. Juni 1934 ein Gesetz über die Bundesstrafrechtspflege erließ. Die Bedeutung dieses Gesetzes erschöpft sich nicht in der Regelung des Verfahrens vor den Strafgerichtsbehörden des Bundes; indem der Bundesgesetzgeber in Art. 268 ff. BStrR das Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des Bundesgerichtes gegen Urteile kantonaler Gerichte wegen Verletzung eidgenössischen Rechts geregelt hat', wurde gleichzeitig eine Rechtsmittelinstanz auf Bundesebene geschaffen, womit die Einheitlichkeit der Rechtsprechung gewährleistet werden sollte. Alle Versuche, dem Bund auch auf dem Gebiet des Prozeßrechts eine allgemeine Gesetzgebungskompetenz zu geben, blieben erfolglos4, 2 Durch den Erlaß des Schweizerischen Strafgesetzbuches vom 21. Dezember 1937 (in Kraft seit 1. Januar 1942, zuletzt geändert durch Bundesgesetz vom 18. März 1971) hat der Bundesgesetzgeber von dieser Kompetenz Gebrauch gemacht. 3

s. u. 1. Teil, 2.3; H. Teil, 2.3.

Vgl. H. F. Pfenninger, Eidgenössisches Strafrecht und kantonales Strafprozeßrecht, in: SJZ 51 (1955), 197 ff.; M. Waiblinger, Zur Frage der Vereinheitlichung des schweizerischen Strafprozeßrechts, in: ZStrR 67 (1952), 217 ff. 4

Einleitung

13

so daß heute alle nicht der Bundesgerichtsbarkeit unterliegenden strafbaren Handlungen von den kantonalen Behörden nach den Verfahrensbestimmungen der kantonalen Gesetze verfolgt und beurteilt werden (Art.343 Strafgesetzbuch). Wenn auch Tendenzen sichtbar sind, allzu große Verschiedenheiten zwischen den einzelnen kantonalen Strafprozeßordnungen auszugleichen, und wenn auch das Bundesgesetz über die Strafrechtspflege teilweise die Funktion eines "Modells" hat, welches bei Änderungen oder Neufassungen der kantonalen Prozeßordnungen berücksichtigt wird5 , so sind immer noch gewaltige Unterschiede in der Regelung einzelner Fragen vorhanden. In der vorliegenden Arbeit werden neben dem Gesetz über das Bundesstrafverfahren (BStP) und der Militärstrafgerichtsordnung vom 28. Juni 1889 (MStrGO) die Strafprozeßordnungen aller 25 Kantone und Halbkantone berücksichtigt werden6 • Das Vorhandensein bzw. das Fehlen von Literatur und Rechtsprechung beeinflußte natürlich die Ausführlichkeit bei der Darstellung des kantonalen Rechts. Dank dem freundlichen Entgegenkommen des Obergerichtspräsidenten des Kantons Zürich, Dr. Egg, des Präsidenten des Bezirksgerichts Zürich, Dr. Müller, sowie des Obergerichts des Kantons Aargau und des ehemaligen Präsidenten seiner Strafabteilung, Dr. Real, war es mir möglich, zahlreiche unveröffentlichte Urteile und Beschlüsse aus den Kantonen Zürich und Aargau für meine Arbeit auszuwerten. Dafür möchte ich ihnen an dieser Stelle sehr herzlich danken. Mein besonderer Dank gilt Herrn Staatsanwalt Professor Dr. Robert Hauser, Zürich, welcher das Zustandekommen dieser Arbeit ganz wesentlich unterstützt hat. Sollte es mir gelungen sein, das schweizerische Wiederaufnahmerecht nicht ausschließlich durch eine "deutsche Brille" gesehen und dargestellt zu haben, so ist dies das Verdienst vieler Gespräche, die ich mit ihm führen durfte. Wenn Krümpelmann7 vom "sens de la mesure" im Schweizer Haftrecht schreibt, daß er sich einer Darstellung fast durchweg entziehe, so gilt Gleiches für das Wiederaufnahmerecht. Manche Kritik an der Regelung von Einzelfragen mußte wieder revidiert werden, da ihre Anwendung durch die Gerichte sie in einem anderen Licht erscheinen ließ. Wo rechtsvergleichend deutsche Literatur oder Rechtsprechung herangezogen wurde, zeigte sich immer wieder, daß trotz teilweise paralleler Rechtsentwick5 Vgl. J. Krümpetmann, in: Jescheck-Krümpelmann, Die Untersuchungshaft, S. 594. 6 Die kantonalen Strafprozeßordnungen werden im folgenden Text mit dem abgekürzten Kantonsnamen und der Artikel- bzw. Paragraphenzahl zitiert. Bei Kantonsverfassungen und Gerichtsverfassungsgesetzen wird die Abkürzung KV bzw. GVG angefügt. Werden mehrere Kantone hintereinander zitiert, so in der Reihenfolge, wie sie in Art. 1 BV aufgeführt sind. 7 In: Jescheck-Krümpetmann, Die Untersuchungshaft, S.672.

Einleitung

14

lung Unterschiede bestehen, die eine übertragbarkeit der Erkenntnisse fast verunmöglichen. Während auf der einen Seite (in Deutschland) ein außerordentlich ausführlich kommentiertes Gesetz, eine Literatur, in welcher teilweise dogmatische Probleme bis in ihre feinste Verästelung dargestellt und untersucht werden, vorhanden sind, lassen sich in der Schweiz teilweise sehr unvollständige Strafprozeßordnungen, Literatur, die sich im wesentlichen auf praktisch relevante Fragen beschränkt und nur eine zurückhaltende Publizierung von Urteilen finden. Wenn Hauser8 sagt, in der Schweiz bemühe man sich, das Wiederaufnahmerecht "pragmatisch" zu handhaben, und § 1 Abs.II der Strafprozeßordnung für den Kanton Zug bestimmt: "Wo das Gesetz keine Anweisung gibt, ist nach bewährter Lehre und übung diejenige Entscheidung zu treffen, welche der Ermittlung der Wahrheit und den Absichten des Gesetzgebers am besten dient", so dokumentiert sich darin ein in langer Zeit gewachsenes und gefestigtes Vertrauen zu den rechtsprechenden Behörden, das in Deutschland in dieser Form nicht anzutreffen ist. Soweit zu bestimmten Fragen eine eigene Stellungnahme abgegeben wurde, habe ich mich bemüht, diesen Unterschied zu berücksichtigen.

8

In: Eckert, Bericht, ZStW 1972, S.950.

Erster Teil

Rechtstheoretische Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens 1. Der Begriff der Wiederaufnahme

Die Bezeichnung für das Rechtsmittel ist in den kantonalen Prozeßrechten nicht einheitlich. Während die meisten deutschsprachigen Kantone den Begriff Wiederaufnahme gewählt haben!, wird das gleiche Rechtsmittel in allen welschen Kantonen, einigen deutschsprachigen sowie in der BStrPO und der MStrGO als Revision bzw. Revisione bezeichnet2 ; Schaffhausens benutzt gleichberechtigt beide Bezeichnungen in seiner StPO. Die verschiedene Bezeichnung bedeutet nun keineswegs einen sachlichen Unterschied, sondern ist eher entwicklungsgeschichtlich zu erklären4 • Die kantonalen Gesetzgeber waren in unterschiedlicher Weise vom ausländischen Recht beeinflußt, so daß die Bezeichnung Revision als übernahme des französischen Ausdrucks angesehen werden muß. PfenningerS hält den Ausdruck Revision für ungenau, da er nichts weiter als überprüfung besagen will und plädiert dafür, daß der Bezeichnung "Revision" die Bezeichnung "Wiederaufnahme des Verfahrens" vorzuziehen sei. Im folgenden soll einheitlich die Bezeichnung Wiederaufnahme gebraucht werden, lediglich in Zitaten kann der Ausdruck Revision vorkommen. 2. Allgemeine Bemerkungen zur Bechtskraftslehre 2.1 Bedeutung der Rechtskraft für das Wiederaufnahmerecht

Die Bedeutung, welche die Lehre von der Rechtskraft für die Wiederaufnahme hat, zeigt sich an drei wichtigen Punkten: 1 ZH 439; BE 347; UR 125; ZG 76; SO 208; BS 287; BL 169; SG 198; GR 147; AG 230; TG 233. r LU 147; SZ 227; OW 159; NW 76; GL 164; FR 59; AI 69; AR 122; TI 248; VD 455; VS 195; NE 262; BStrPO 229; MStrGO 199. 3 SH 46. , H. F. Pfenninger, Probleme, S. 315. S H. F. Pfenninger, Probleme, S. 315.

16

1. Teil:

Rechtstheoretische Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens

a) Sie ist Voraussetzung für die Zulässigkeit, da fast alle Strafprozeßordnungen Wiederaufnahme nur gegen rechtskräftige Urteile zulassen. b) Der Umfang der Rechtskraft bestimmt maßgebend die Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechtes. Würde man die der materiellen Rechtskraft zukommende Verzehr- und Sperrwirkung sehr eng fassen, so könnte man ein sehr restriktives Wiederaufnahmerecht zuungunsten des Beschuldigten praktizieren, während auf der anderen Seite das Wiederaufnahmerecht ein Korrektiv für eine sehr weit gefaßte Sperrwirkung sein kann6 • c) Anerkennt man die Möglichkeit, daß ein Strafurteil "rechtskräftig" wird, so bedeutet die Wiederaufnahme des Verfahrens eine Durchbrechung dieses Prinzips, und es besteht zwischen Rechtskraft und Wiederaufnahme ein Spannungsverhältnis, welches für die Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechtes von Bedeutung sein kann. 2.2 Historische Entwicklung der Rechtskraftslehre

Die Geschichte des Strafprozesses zeigt, daß die Rechtskraft strafgerichtlicher Entscheidungen keineswegs immer unumstritten war7 • Sowohl im römischen Kriminalprozeß war die Endgültigkeit richterlicher Entscheidungen - abgesehen von ganz bestimmten Ausnahmen, die sich aus der Struktur dieses Verfahrens ergaben - anerkannt, wie auch, ihm folgend, im kanonischen Verfahren und im älteren deutschen Recht. Mit der Ausbildung des Inquisitionsverfahrens und der damit einhergehenden Verdrängung des Anklageprozesses bahnte sich eine Wandlung an, die schließlich zur völligen Aufhebung des Grundsatzes "ne bis in idem" führte. An seine Stelle trat die "absolutio ab instantia" als Ausspruch richterlichen Zweifels über Schuld oder Nichtschuld des Betroffenen. Ihren Ausgangspunkt findet diese Entwicklung in der italienischen Rechtslehre des 16. Jahrhunderts. Indem so die Möglichkeit geschaffen wurde, einen Angeklagten, über dessen Schuld oder Unschuld Zweifel bestanden, vorläufig aus der Untersuchung zu entlassen, jedoch sich ständig die Neuaufnahme des Verfahrens vorzubehalten, wurde zwar die Rechtskraft richterlicher Ent6 VgI. A. Meyer, Die Bindung des Strafrichters an die eingeklagte Tat (Tatidentität), Diss. Zürich 1972, S. 101 ff. 7 Die rechtsgeschichtliche Entwicklung des Grundsatzes "ne bis in idem" im Strafprozeß hat G. Schwarplies in seiner Zürcher Dissertation 1970 (mit diesem Titel) dargestellt. In den folgenden Ausführungen stütze ich mich im wesentlichen auf seine Arbeit. Gleichzeitig wird in diesem Kapitel als neuer Begriff die "Neuaufnahme" eingeführt; damit soll die Wiederaufnahme eines Verfahrens bezeichnet werden, die entweder aufgrund fehlender Rechtskraft möglich ist oder aber in anderer Weise grundsätzlich vom Rechtsmittel Wiederaufnahme abweicht.

2. Allgemeine Bemerkungen zur Rechtskraftslehre

11

scheidungen für einen großen Teil zweifelhafter Fälle beseitigt, jedoch noch nicht gänzlich abgeschafft. Es blieben immerhin neben der absolutio ab instantia die Fälle, in denen der Angeklagte verurteilt oder freigesprochen wurde. Schwarplies zeigt in seiner Arbeit8 , daß anfänglich, trotz Vorhandenseins der absolutio, die Rechtskraft freisprechender oder verurteilender Erkenntnisse, wohl noch aus der Tradition des römischen Rechts heraus, anerkannt wurde. Es scheint teilweise gerade die Anerkennung der Rechtskraft richterlicher Urteile gewesen zu sein, welche die Prozessualisten veranlaßte, diese Möglichkeiten der Freisprechung von der Instanz in den Strafprozeß einzuführen. Ihren Grund findet sie letzten Endes aber in dem Streben nach materieller Gerechtigkeit, die nur dann verwirklicht werden kann, wenn das Urteil so lange abgeändert werden kann, bis es der Wirklichkeit entspricht. Deshalb war es auch nur konsequent, wenn die Rechtsgelehrten der damaligen Zeit (17. Jahrhundert) erkannten, daß mit der Instanzentbindung erst der halbe Weg zurückgelegt sei. Anzustreben sei vielmehr die Möglichkeit der Neuaufnahme, egal wie das Verfahren beendet worden ist. Nach Schwarplies9 und den dort zitierten Quellen wurde jedoch überwiegend diese Möglichkeit für freisprechende Urteile gefordert, während die generelle Möglichkeit der Neuaufnahme nur sehr vereinzelt verlangt wurde. Allerdings lassen sich schon in diesem Stadium Ansätze eines echten Wiederaufnahmerechtes erkennen, welche jedoch nur neben die Möglichkeit der Instanzentbindung traten. Insofern kann man wohl auch Schwarplies zustimmen, wenn er sagt, "daß dem gemeinen Strafprozeß eine Rechtskraft nur insoweit bekannt war, als das den Rechtskraftwirkungen zu Grunde liegende Urteil mit der materiellen Wahrheit übereinstimmte"lo. Der Wandel, den die Aufklärung in der Rechtskraftslehre bewirkte, ist wohl nicht allein mit den negativen Wirkungen, die mit der Ablehnung der Rechtskraft verbunden waren, erklärbar. Ausschlaggebend war, daß das ganze Inquisitionsverfahren mit den Ideen und Gedanken der Aufklärung in Widerspruch standl l . Die Entwicklung der Rechtskraftslehre im 19. Jahrhundert und damit auch die Entwicklung des Wiederaufnahmerechtes ist m. E. von besonderem Interesse, da sie für das Verständnis dieses Rechtsmittels besonders wertvolle Hinweise liefert. Die Entwicklung in Deutschland wurde zunehmend vom französischen Recht beeinflußt, so daß ein kurzer Blick auf das französische Recht G. Schwarplies, Die rechtsgeschichtliche Entwicklung, s. 59 ff. G. Schwarplies, Die rechtsgeschichtliche Entwicklung, S.60. 10 G. Schwarplies, Die rechtsgeschichtliche Entwicklung, S.64. 11 Vgl. etwa Kern-Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 349: "Das Verfahren war inquisitorisch, d. h. der Verdächtige, der alsbald in Untersuchungshaft genommen wurde, stand so gut wie wehrlos als Objekt der Untersuchung dem Untersuchungsführer gegenüber; die ganze Untersuchung zielte auf ein Geständnis, das erforderlichenfalls durch die peinliche Frage erpreßt wurde." 8

9

2 Edtert

18

I. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens

gerechtfertigt ist, zumal auch die Gesetzgebung in der Schweiz dem französischen Einfluß unterlag. Während der Inquisitionsprozeß in Deutschland fast zur völligen Auflösung der Rechtskraft richterlicher Strafurteile führte, war dies in Frankreich nie der Fall. Hier scheint die römisch-rechtliche Tradition sich in weit stärkerem Maße erhalten zu haben. Da der aus dem römischen Recht rezipierte Begriff der Rechtskraft einer Neuaufnahme des Verfahrens entgegenstand, bedurfte es eines besonderen Eingriffs, um ein fehlerhaftes Urteil zu korrigieren. Der "recours par voie de proposition d'erreurs", welcher zum ersten Mal im 14. Jahrhundert auftaucht, sollte hier Abhilfe schaffen12 • Diese, zwar noch als reines Gnadenmittel ausgestaltete Möglichkeit, ein rechtskräftiges, fehlerhaftes (sowohl rechtlich wie tatsächlich) Urteil aufzuheben, wurde in der Folgezeit von Ludwig XIV. durch die "lettres de revision" (Ordonnanz von 1678) abgelöst. Damit tauchte zum ersten Mal der Name "Revision", wie er seither in den französischsprachigen Ländern für Wiederaufnahme üblich ist, auf. Obwohl hiermit zum ersten Mal die Wiederaufnahme in weitem Umfang geregelt wurde und fast alle die Punkte umfaßte, welche durch heute geltendes Recht im wesentlichen auch geregelt werden, handelt es sich auch hier noch nicht um ein Rechtsmittel, da es im Ermessen des Königs bzw. des "Conseil du roi" stand, ob die Wiederaufnahme gewährt wurde oder nicht13 • Dieser Rechtszustand blieb im wesentlichen bis zur französischen Revolution erhalten. 1792 wurde jegliche Möglichkeit der Wiederaufnahme abgeschafft. Die Gründe liegen einmal in dem Mißtrauen, welches die damaligen Gesetzgeber gegenüber allem, was nach königlichen Vorrechten aussah, hatten, zum anderen aber auch in den Gedanken der Aufklärung: Es kam zu einer totalen Umgestalung des Strafprozesses, indem jetzt das Anklageprinzip, die Mündlichkeit und Öffentlichkeit sowie das Schwurgericht eingeführt wurden. Im ersten überschwang war man sicher, daß durch all diese Neuerungen jegliche Fehlermöglichkeit zum Nachteil des Angeschuldigten ausgeschlossen sei, so daß eine Neu- bzw. Wiederaufnahme des Verfahrens für unnötig angesehen wurde. Dieser Strafprozeß und die ihm zugrundeliegenden staatsphilosophischen Gedanken beeinflußten in starkem Maße die Umgestaltung des deutschen Strafprozesses. Dabei ist es für das Thema der Arbeit besonders wichtig, daß man sich vergegenwärtigt, aus welchen Gründen im französischen und im deutschen Inquisitionsprozeß die Rechtskraft angegriffen wurde. Während es im gemeinen deutschen Strafprozeß das Streben nach materieller Wahrheit war, welches über die absolutio ab instantia schließlich zu einer fast völligen Auflösung 12 13

Vgl. hierzu R. Fazy, De 1a Revision, S.7 ff. R. Fazy, De 1a Revision, S. 11 ff. (S. 19).

2. Allgemeine Bemerkungen zur Rechtskraftslehre

19

der Rechtskraft richterlicher Urteile führte, war in Frankreich von Anfang an der Gedanke maßgebend, daß einem zu Unrecht Verurteilten die Wiederaufnahme seines Verfahrens ermöglicht werden müsse. Daraus folgt, daß diese Vorläufer des Rechtsmittels der Wiederaufnahme, wie wir sie in Frankreich kennengelernt haben, ausschließlich zugunsten des Verurteilten gewährt wurden. So war es dann nur konsequent, wenn der französische Gesetzgeber, nachdem er eingesehen hatte, daß sein Optimismus nicht gerechtfertigt war, schrittweise die Wiederaufnahme des Verfahrens als Rechtsmittel zugunsten des Verurteilten zuließ und dabei gar nicht auf die Idee kam, auch die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeschuldigten zu normieren. In Deutschland, wo mit der Abschaffung des Inquisitionsprozesses ebenfalls die Rechtskraft stärker beachtet wurde, empfand man sie jedoch sofort als Hemmnis für das Streben nach materieller Gerechtigkeit. Daraus entwickelte sich dann in der Lehre ein Komprorniß, nach dem eine Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten fast unbeschränkt möglich war, während eine für den Betroffenen ungünstige Wiederaufnahme nur unter sehr engen Voraussetzungen für zulässig angesehen wurde14 • Damit wurde sowohl die unter der Herrschaft des Inquisitionsprozesses erhobene Forderung berücksichtigt, daß verurteilende Erkenntnisse nicht rechtskräftig werden sollen, wie auch die Anerkennung der Rechtskraft richterlicher Strafurteile. Die verfahrensrechtliche Neuerung lag darin, daß jetzt ein völlig neues Verfahren anzufangen war, während nach altem Recht der Prozeß weitergeführt, d. h. wieder neu aufgenommen wurde15 • Von der im 19. Jahrhundert entstandenen und im wesentlichen heute noch so gültigen Rechtskraftslehre interessieren im Rahmen dieser Arbeit einmal die Voraussetzungen und Wirkungen der formellen Rechtskraft sowie die der materiellen Rechtskraft eigentümliche Sperrwirkung16 • 2.3 Die formelle Rechtskraft - Voraussetzungen und Wirkungenzugleich ein kurzer l1berblick über die Rechtsmittel im Schweizer StrafprozeB

Voraussetzung der formellen Rechtskraft ist, daß das Urteil mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr angefochten werden kann11 • 14 G. Schwarplies, Die rechtsgeschichtliche Entwicklung, S. 72 f. Dieser Kompromiß zeigt deutlich den Einfluß der Aufklärung, welche den einzelnen und seine Rechte in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellt. 15 K. Dippel, Die Reform des Wiederaufnahmerechts, GA 1972, 105. 16 Im folgenden soll versucht werden, die Voraussetzungen und \Virkungen der Rechtskraft darzustellen, um ein, wie oben gezeigt wurde, zentrales Problem dieser Arbeit zu definieren. 11 Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rdnr.230.

2'

I. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens

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Will man somit feststellen, ob ein Urteil formell rechtskräftig ist, so muß man zunächst untersuchen, welche Rechtsmittel gegen das Urteil noch ergriffen werden können und nach welchen Kriterien diese Rechtsmittel als ordentliche bzw. außerordentliche einzustufen sind. Während für das deutsche Recht diese Frage leicht zu beantworten ist18 , liegt die besondere Problematik des Schweizer Rechts in der unterschiedlichen Einzelregelung der jeweiligen Rechtsmittel in den kantonalen Prozeßrechten. Komplizierend wirkt dazu die Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht wegen ihrer Funktion und ihrer Wechselwirkung zu den kantonalen Rechtsmitteln. Die Frage nach den zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln und ihrer Natur kann hier nicht für alle Schweizer Kantone untersucht werden. Ein solches Unterfangen würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Aus diesem Grunde beschränke ich mich darauf, einen groben überblick über die Arten der Rechtsmittel zu geben und dann die Kriterien aufzuzeigen, welche für ihre Einordnung als ordentliche bzw. außerordentliche eine Rolle spielen. Mit Ausnahme des Bundesstrafverfahrens und der Prozeßrechte von Freiburg, Neuchätel, Tessin und Vaud gibt es in allen Schweizer Rechten das Rechtsmittel der "Berufung", das terminologisch als "Berufung" (Zürich, Aargau) oder "Appellation" (Bern, Basel-Stadt) bezeichnet wird. Auch der "Appel" des Kantons Genf gegen die Urteile des tribunal de police soll, obwohl er deutlich Züge der Kassation hat, noch zur Berufung gerechnet werden19 • In allen Kantonen entspricht der Umfang der Berufung dem deutschen Recht20 : überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. In den Kantonen Aargau, Bern und Zürich ist für einen Teil der Entscheidungen die Berufung, für einen anderen Teil die Nichtigkeitsbeschwerde das zulässige Rechtsmittel21 • Die Nichtigkeitsbeschwerde, ein der deutschen Revision22 vergleichbares Rechtsmittel, kennen mit Ausnahme der Kantone Basel-Landschaft, Graubünden, Nidwalden und Zug alle Kantone, wobei auch andere Bezeichnungen dafür verwendet werden, wie Kassationsbeschwerde 23 , Nichtigkeitsklage!4, recours en cassation25 , recours en nullite, recours en reforme26 • Mit diesem Rechts18

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Vgl. Kern-Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 254 f. GE 406 lit. a--c. §§ 312 ff. dStPO. Für Genf vgl. GE 406 lit. d und e. §§ 333 ff. dStPO. AG 227. BE 327. GE 437. VD 411, 415.

2. Allgemeine Bemerkungen zur Rechtskraftslehre

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mittel kann ein error in iudicando und ein error in procedendo27 gerügt werden. Die Beschränkung der Rügemöglichkeit auf Rechtsfehler wird jedoch in den Kantonen, in denen die Nichtigkeitsbeschwerde das einzige oder wichtigste Rechtsmittel darstellt, nicht strikt durchgeführt28 • Hier zeichnet sich eher eine Tendenz ab, den Begriff des Rechtsfehlers weit auszulegen. Außer diesen bei den kantonalen Rechtsmitteln gibt es in einigen Kantonen noch Zwischenformen, wie z. B. die Beschwerde gegen nicht appellable Urteile im Kanton Basel-Stadt29 , die der Sache nach eine an enge Voraussetzungen gebundene im Verfahren stark vereinfachte Nichtigkeitsbeschwerde ist. Manche kantonalen Prozeßordnungen sehen ausdrücklich vor, daß die kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wegen Verletzung kantonalen materiellen Rechts gegeben ist30 • Die Verletzung materiellen Bundesrechts kann in der Regel durch die Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des BundesgerichtsSI gerügt werden. Dieses Rechtsmittel ist von zwei Prinzipien bestimmt: Einmal soll die überprüfung des materiellen Bundesrechts und ein ausreichender Rechtsmittelschutz gewährleistet werden, andererseits bemüht sich das Gericht - aus Gründen der einheitlichen Rechtsanwendung - gerade bei unbestimmten Rechtsbegriffen, eine möglichst einheitliche Auslegung des Bundesrechts zu vermitteln. Die Frage ist nun, inwieweit diese Rechtsmittel den Eintritt der formellen Rechtskraft hindern, m. a. W., ob es sich bei ihnen um ordentliche oder außerordentliche Rechtsmittel handelt. Die eine Möglichkeit, eine Unterscheidung zu treffen, ist formeller Art; als ordentliche Rechtsmittel können solche bezeichnet werden, denen nach dem Gesetz Devolutiveffekt und Suspensiveffekt32 eignet. Damit werden alle Rechtsmittel erfaßt, die den Prozeß fortsetzen. Demgegenüber bewirken die außerordentlichen Rechtsmittel ein neues Verfahren. In diesem Sinne unterscheidet die deutsche StPO die RechtsmitteJ33. Danach bedeutet formelle Rechtskraft, daß ein Urteil hinsichtlich des Entscheidungsthemas das letzte Wort darstellt, im Rahmen dieses Prozesses als unumstoßbar maßgeblich ist34 • Eine zweite Möglichkeit, rechts!7

F. Clerc, Proces penal, S.143.

Insbesondere Vaud, Genf. BS 256 f. 30 So z. B. ZH 430 b; BE 327 f. 31 BStrP 268 ff. 3! über das Verhältnis von formeller Rechtskraft und Vollstreckbarkeit siehe unten S. 22 ff. 33 Dazu kommt noch ein terminologischer Unterschied in der deutschen Stpo: Außerordentliche Rechtsmittel werden nicht "Rechtsmittel" genannt sondern "Rechtsbehelf" (vgl. Kern-Roxin, Strafverfahrensrecht, S.254). 34 Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rdnr. 230. 28

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I. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens

krafthemmende von nicht rechtskrafthemmenden Rechtsmitteln abzugrenzen, ist materieller Art; danach wird die Unterscheidung nach der materiellen Funktion und Rügemöglichkeit des Rechtsmittels getroffen 35 . Als ordentliche Rechtsmittel werden solche anerkannt, die eine umfassende überprüfung des angefochtenen Entscheids ermöglichen, während die außerordentlichen Rechtsmittel nur noch eine Korrektur ganz bestimmter Mängel erlauben. Hagenbüchle 36 ist durchaus zuzustimmen, wenn er fordert, daß die formelle Unterscheidung der Rechtsmittel in Einklang stehen solle mit derjenigen nach ihren materiellen Funktionen und Rügemöglichkeiten. Leider ist jedoch diese Forderung in den Schweizer Prozeßordnungen nicht verwirklicht worden, so daß Hagenbüchle wohl zu Recht den Eindruck gewinnt, "daß das Wesen der formellen Rechtskraft, deren Unterscheidung im absoluten und relativen Sinne sowie die Unterscheidung von ordentlichen und außerordentlichen Rechtsmitteln im formellen und materiellen Sinn, dem Gesetzgeber oft unklar oder gar nicht bewußt war"37. Die schweizerische Strafprozeßlehre unterteilt die Rechtsmittel i. d. R. nach ihrer materiellen Funktion und Rügemöglichkeit. Damit verbunden ist eine Unterscheidung der formellen Rechtskraft in eine absolute und eine relative. Mit der relativen formellen Rechtskraft ist das Urteil bereits vollstreckbar, während die absolute formelle Rechtskraft erst dann eintreten soll, wenn gegen das Urteil keinerlei Rechtsmittel mehr möglich sind. Der Zeitpunkt, in welchem die relative formelle Rechtskraft eintritt, kann demnach vom Gesetzgeber frei bestimmt werden. Wegen des Nebeneinanderbestehens von kantonalen und bundesrechtlichen Rechtsmitteln hat diese Unterscheidung zur Folge, daß es keine absolute formelle Rechtskraft kantonaler Urteile gibt, solange noch die Möglichkeit besteht, Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des Bundesgerichts einzulegen. Der Sinn dieser Aufspaltung der formellen Rechtskraft liegt darin, daß die Vollstreckung und die übrigen Urteilswirkungen nicht unerträglich verzögert werden38 . Um dies zu erreichen, soll es genügen, daß das Urteil gewisse Garantien der Rechtmäßigkeit bietet und daher "für den Eintritt der Urteilswirkungen genügend reif erscheint"39. So verstanden wird die formelle Rechtskraft zu einem "prozessualen Zwischentermin", ihr Begriff wird also erheblich abgeschwächt und bedeutet nur noch einen Zustand relativer 35 A. Hagenbüchle, Prozessuale Probleme der formellen Rechtskraft und Vollstreckbarkeit, in: ZSR 67 (1948), 12. 36 A. Hagenbüchle, Prozessuale Probleme, ZSR 67 (1948), 12. 37 A. Hagenbüchle, Prozessuale Probleme, ZSR 67 (1948), 15. 38 A. Hagenbüchle, Prozessuale Probleme, ZSR 67 (1948), 8. 39 A. Hagenbüchle, Prozessuale Probleme, ZSR 67 (1948), 9.

2. Allgemeine Bemerkungen zur Rechtskraftslehre

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Rechtsbeständigkeit des Urteils40 . Meines Erachtens ist diese Definition der formellen Rechtskraft sehr problematisch41 . Wenn auch die meisten der sogenannten außerordentlichen Rechtsmittel mit fakultativem Suspensiveffekt ausgestattet sind, so ist die Vollstreckung eines Strafurteils, welches noch wegen schwerwiegender Verfahrensmängel, ja sogar wegen fehlerhafter Anwendung des Strafrechts durch ein Rechtsmittel mit Devolutiveffekt angefochten werden kann, nicht allein mit "praktischen Erwägungen" und der "unerträglichen Verzögerung der Urteilswirkungen" zu erklären42 • Dieses Argument hat im Zivilprozeß seine Berechtigung, wo die möglichen Schäden eines "vorläufig vollstreckbaren Urteils" (und eben darum handelt es sich hier auch) durch Sicherheitsleistung abgewendet werden können. Durch ein verurteilendes Straferkenntnis wird jedoch in der Regel in die wichtigsten Rechtsgüter des Verurteilten eingegriffen, und dafür dürfte es nicht genügen, daß das Urteil nur "gewisse" Garantien seiner Rechtmäßigkeit bietet, sondern es sollte, soweit dies überhaupt möglich ist, "garantiert rechtmäßig sein". Der Gesetzgeber kann zwar nach freiem Ermessen bestimmen, ob überhaupt Rechtsmittel gegen ein Urteil gewährt werden und wie diese ausgestaltet sind, wenn er jedoch Fehlermöglichkeiten bei der Urteilsfindung einkalkuliert, dann sollten die Rechtsmittel, welche sich gegen diese Fehler richten, wenigstens im Strafprozeß vollstreckungs hemmende Wirkung haben. Weitere Bedenken bestehen vor allem deshalb, da eine so verstandene formelle Rechtskraft, welche gleichzusetzen ist mit Vollstreckbarkeit, nicht das leistet, was ihre eigentliche Aufgabe ist, nämlich das Prozeßende zu determinieren. Hierfür bedarf es dann der "absoluten" formellen Rechtskraft, welche erst "mit Erschöpfung aller Parteirechtsbehelfe" eintreten so1l43. Da aber auch die Wiederaufnahme des Verfahrens ein "Parteirechtsbehelf" ist, hätte das zur Folge, daß praktisch kein Strafurteil absolut formell rechtskräftig werden kann. Hier wird man also zumindest einschränkend sagen müssen, daß nur die Parteirechtsbehelfe gemeint sein können, welche den Prozeß fortsetzen. Dann stimmt die Abgrenzung von ordentlichen und außerordentlichen Rechtsmitteln genau mit der in Deutschland üblichen formellen Unterscheidung überein, und auch die "absolute" formelle Rechtskraft wird genau gleich definiert wie in Deutschland die formelle Rechtskraft. Da, wie Clerc 44 schreibt, Literatur und Rechtsprechung sich darin einig sind, von einem Urteil, welches mit dem Rechtsmittel der WieA. HagenbüchIe, Prozessuale Probleme, ZSR 67 (1948), 9. 41 Vgl. auch R. Chevalier, Der Grundsatz "ne bis in idem", S.34. 42 Vgl. auch H. F. Pfenninger, Probleme, S.310. 43 A. HagenbüchIe, Prozessuale Probleme, ZSR 67 (1948), 8. 44 F. CIerc, Des conditions de fond, S.51 und die von ihm zitierten Angaben in Fn.1 auf S.51. 40

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I. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens

deraufnahme angefochten werden soll, zu verlangen, es müsse rechtskräftig sein, muß geprüft werden, ob damit nur die relative formelle Rechtskraft gemeint ist, oder ob das Urteil absolut formell rechtskräftig sein muß. Auf diese Frage gibt Art. 275 Abs. I BStrP eine Antwort. Nach ihm wird die Entscheidung des Kassationshofes des BG über eine Nichtigkeitsbeschwerde ausgesetzt, wenn gegen den angefochtenen Entscheid bei der zuständigen kantonalen Behörde ein Wiederaufnahmebegehren (Revisionsbegehren) anhängig ist. Aus dieser Regelung folgt. daß zumindest der Gesetzgeber des BStrP davon ausgegangen ist, daß für die Wiederaufnahme nur ein relativ formell rechtskräftiges Urteil vorliegen muß. Der Grund für diese Bestimmung ist darin zu sehen, daß das Bundesgericht nicht auf der Grundlage eines Urteils Recht sprechen soll, dessen Tatbestand noch eine Änderung erfahren kann. Damit gilt das gleiche auch für die kantonalen Regelungen45 , es sei denn, man trifft eine dritte Unterscheidung in relative und absolute formelle Rechtskraft auf kantonaler Ebene und dann noch einmal in bezug auf das Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des Bundesgerichts. Dafür besteht jedoch keine sachliche Notwendigeit, im Gegenteil, es würden damit die obengenannten Unterscheidungskriterien verwischt werden. Die Zulässigkeit der Wiederaufnahme gegen bereits relativ formell rechtskräftige Urteile ist jedoch nicht nur aus prozeßökonomischen Gründen zu vertreten; wichtiger scheint mir zu sein, daß sie wegen der Vollstreckbarkeit des Urteils, welche mit der relativen formellen Rechtskraft eintritt, zugelassen wird. Dadurch werden auch die Bedenken, welche oben gegen die Unterscheidung von relativer und absoluter formeller Rechtskraft vorgebracht wurden, gemildert. Obwohl durch diese Regelung die absolute formelle Rechtskraft ihre unmittelbare Bedeutung für das Wiederaufnahmerecht verliert, kann sie dennoch im Rahmen dieser Arbeit nicht gänzlich vernachlässigt werden. Die absolute formelle Rechtskraft bedeutet das definitive Ende des Prozesses, d. h. das Urteil kann im Rahmen desselben Prozesses nicht mehr abgeändert werden46 • Aus dieser, der formellen Rechtskraft zukommenden Wirkung47 ergibt sich dann, daß der durch (absolut) formell rechts45 NE 262 scheint dies deutlich auszusprechen, indem dort "la revision d'une procedure terminee par un jugement executoire" zugelassen wird. übersetzt man executoire mit vollstreckbar = relativ formell rechtskräftig, so wird die hier vertretene Auffassung bestätigt. Diese Interpretation scheint mir auch dadurch gerechtfertigt, da die StPO NE den Begriff rechtskräftig (la chose jugee) kennt (Art. 23) und ihn im Sinne der absoluten formellen Rechtskraft (entsprechend der deutschen formellen RK) gebraucht. 46 Die Sperrwirkung der formellen Rechtskraft bezieht sich also immer auf den gleichen Prozeß, im Unterschied zur Sperrwirkung der materiellen Rechtskraft, vgl. hierzu unten I. Teil, 2. 42. 47 R. Chevalier, Der Grundsatz "ne bis in idem", S.11.

2. Allgemeine Bemerkungen zur Rechtskraftslehre

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kräftiges Urteil erledigte Streitgegenstand in einem neuen Verfahren und in einem neuen Urteil nicht wiederum Streitgegenstand sein darf (materielle Rechtskraft). Allein dadurch wird die streiterledigende Wirkung der formellen Rechtskraft über den Prozeß hinaus gewährleistet. 2.4 Die materielle Rerhtskraft und der Grundsatz "ne bis in idem"

2.41 Welche Entscheidungen sind der materiellen Rechtskraft fähig? Unter welchen Voraussetzungen die Wirkungen der materiellen Rechtskraft, die man im allgemeinen mit dem Satz "ne bis in idem" auszudrücken pflegt, eintreten, soll im folgenden untersucht werden. Festzuhalten ist jedoch, daß die materielle Rechtskraft die logische Konsequenz der Anerkennung der formellen Rechtskraft ist. Die erste Frage ist, welche Entscheidungen der materiellen Rechtskraft fähig sind. Den Sachurteilen kommt eine unbeschränkte Rechtskraftwirkung sicherlich zu, weil sie einen umfassenden Ausspruch über den gesamten Prozeßgegenstand enthalten48 • Inwieweit dem Strafbefehl materielle Rechtskraft zukommt, läßt sich nicht einheitlich beantworten. In Bern49 kann eine Handlung, welche unter eine schwerere Strafbestimmung fällt, als die im Strafbefehl angewandte, auch nach formeller Rechtskraft des Strafbefehls noch gerichtlich verfolgt werden. Die materielle Rechtskraft ist für diesen Fall also kraft Gesetzes ausgeschlossen50 • Demgegenüber fehlt eine solche Bestimmung in allen anderen Kantonen, woraus z. B. die zürcherische RechtsprechungS1 gefolgert hat, daß ein nicht angefochtener Strafbefehl dieselbe Wirkung zeitigt wie ein ordentliches (und rechtskräftiges) Urteil erster Instanz52 , 53. Diese Auffassung dürfte auch in den anderen Kantonen mit vergleichbarer Regelung gelten54 • Entscheidungen, mit welchen das Verfahren 48 H. Stotz, Der Grundsatz "ne bis in idem" im schweizerischen Strafprozeßrecht, S. 14. 49 BE 224. 50 a. A. H. Stotz, Der Grundsatz "ne bis in idem" im schweizerischen Strafprozeßrecht, S. 14. 51 ZR 42 Nr.130 S.342; 56 Nr.82; 57 Nr.115; 68 Nr.158. 52 F. M. Altdorfer, Der Strafbefehl im Kanton Zürich, Diss. Zürich 1966, S.85f. 53 ZH 325: Der Strafbefehl erlangt die Wirkung eines rechtskräftigen Urteils, soweit nicht rechtzeitig Einsprache erhoben worden ist, oder wenn die Einsprache zurückgezogen wurde. 54 LU 133 Abs. 3; SO 136; BS 227; BL 209 Abs.2; SH 179 h; SG 131 Abs.3; GR 176; AG 198; in Neuchätel bekommt der nichtangefochtene Strafbefehl die Wirkung eines vollstreckbaren Urteils. Da die Stpo NE auch den Ausdruck rechtskräftiges Urteil kennt (Art.23), ist anzunehmen, daß der Strafbefehl das Klagerecht nicht konsumiert. Für Deutschland bestimmt zwar

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I. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens

durch die Untersuchungs- und Anklagebehörde eingestellt wird, erwachsen nicht in Rechtskraft55. Dies gilt auch für Basel-Stadt, obwohl BS 287 die Wiederaufnahme eines derart beendeten Verfahrens unter dem 11. Titel: "Die Wiederaufnahme des Verfahrens" regelt. Da in BS 288 die Wiederaufnahme ausdrücklich für rechtskräftige Urteile geregelt wird, folgt, daß die Einstellungsentscheidung nicht als rechtskräftiges Urteil aufgefaßt wird56 •

2.42 Die Definition der Tatidentität Die zweite Frage, deren Beantwortung für den Umfang der materiellen Rechtskraft erheblich ist, ist die Frage nach der Identität der Tat, die Frage also, wann liegt "eadem res" vor. Untersucht man dieses Problem, so geht es einem sehr schnell wie F. Staub, der resignierend feststellt, daß diese Frage in Wissenschaft und Rechtsprechung von jeher Gegenstand lebhafter Erörterungen gewesen sei und verschiedene, mehr oder weniger freie Auslegungen erfahren habe57• Es erscheint mir aber nicht sachgerecht, wenn er dieser Frage deshalb keine Bedeutung für die Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechtes zumißt, da "auch die freieste Auslegung des Grundsatzes ,ne bis in idem' nicht für alle die Fälle zu genügen vermag, in denen eine nochmalige Behandlung und Beurteilung eines Straffalles Forderung der Gerechtigkeit und der Billigkeit ist"58. Meines Erachtens gilt vielmehr die oben59 formulierte These, daß sich das Rechtsmittel der Wiederaufnahme nur aus der Anerkennung der Rechtskraft her erklären läßt, so daß es darauf ankommt, sich über den Umfang der materiellen Rechtskraft Klarheit zu verschaffen. In der schweizerischen Lehre waren es insbesondere Pfenninger6°, Waiblinger 6t, F rey 62, Chevalier 63 und Stämpfli64 , die sich mit diesem § 410 stPO, daß ein Strafbefehl, gegen welchen nicht rechtzeitig Einspruch

erhoben wurde, die Wirkung eines rechtskräftigen Urteils erlangt, doch haben die Rechtsprechung und die herrschende Lehre ihm nur beschränkte Rechtskraft zuerkannt. Gegen diese, etwa der Regelung der StPO Bern entsprechende Auffassung wendet sich mit überzeugenden Argumenten insbesondere Th. Vogler (Die Rechtskraft des Strafbefehls, Karlsruhe 1959, S.35). 55 F. Clerc, SJK Nr.955 (zu Art. 397 StGB) Ziff.15 f., Ausnahme: St. Gallen Art. 124. 56 a. A. H. Stotz, Der Grundsatz "ne bis in idem" im schweizerischen Strafprozeßrecht, S.14. 57 F. Staub, Die Gründe der Wiederaufnahme, S. 1. 58 F. Staub, Die Gründe der Wiederaufnahme, S. 2. 59 Vgl. 1. Teil, 2. 1. 60 H. F. Pfenninger, "Ne bis in idem", ZStrR 27 (1913), 165 ff. 61 M. Waiblinger, Kommentar, Rdnr.6 zu Art. 4. 62 E. Frey, Die Anklage im schweizerischen Strafprozeßrecht, S. 89 ff. 63 R. Chevalier, Der Grundsatz "Ne bis in idem", S. 68 ff. 64 F. Stämpfli, ZBJV Bd.49 (1913), 612 ff.

2. Allgemeine Bemerkungen zur Rechtskraftslehre

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Problem beschäftigt haben6:>. Da alle diese Autoren die deutsche und die französische Lehre und Rechtsprechung zum Vergleich heranziehen, um sie dann entweder zu übernehmen oder sie zu modifizieren, rechtfertigt sich eine kurze Darstellung derselben, um so die in der Schweiz vertretene Position besser zu erkennen.

2.421 Die Identität der Tat in der deutschen und französischen Lehre und Rechtsprechung Rechtsprechung und herrschende Lehre66 in Deutschland fassen die "Tat" als einheitlichen und spezifisch verfahrensrechtlichen Begriff auf. Er bezeichnet "den geschichtlichen Vorgang", den das Gericht im Rahmen des Eröffnungsbeschlusses abzuurteilen rechtlich in der Lage war61, 68, 69. Dabei wird Tatidentität immer dann anzunehmen sein, wenn der neuen Anklage dasselbe "Factum", derselbe historische Vorgang zu Grunde liegt10. In Frankreich verstand die Rechtsprechung zunächst ganz in Verfolgung des liberalen Rechtssicherheitsideals der Revolutionszeit die Tatidentität als Tatsachenidentität. Im Jahre 1812 änderte sich die Rechtsprechung und verstand seither unter "les memes faits" die Identität der "juristischen" oder "qualifizierten" Tat. Die Literatur widersprach dieser Auffassung, da die materielle Rechtskraft des Sachurteils einer erneuten Verfolgung derselben natürlichen (materiellen) Tat unter einer anderen oder zusätzlichen Qualifizierung entgegenstehe71 ,72. 65 Als neueste Veröffentlichung zu diesem Thema siehe A. Meyer, Die Bindung des Strafrichters an die eingeklagte Tat (Tatidentität), Diss. Zürich 1972. 66 Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rdnr. 296 ff.; Kern-Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 92 f., 249. 67 BGHSt 6, 95. 68 R. D. Herzberg, "Ne bis in idem", in: JuS 1972, 113 f. 69 Vgl. insbesondere die Formulierung in RGSt 72, 340; " ,Tat' bedeutet den vom EB betroffenen Vorgang, einschließlich aller damit zusammenhängenden und darauf bezüglichen Vorkommnisse und tatsächlichen Umstände, die geeignet sind, das in diesen Bereich fallende Tun des Angeklagten unter irgendeinem rechtlichen Gesichtspunkt als strafbar erscheinen zu lassen, also das gesamte Verhalten des Angeklagten, soweit es mit den durch den EB bezeichneten, geschichtlichen Vorkommnissen nach der Auffassung des Lebens einen einheitlichen Vorgang bildet." Eb. Schmidt, in: JR 59, 428: "Aber mit alledem ist keine einheitliche Begriffsbestimmung gegeben, sondern nur ein Versuch gemacht, für die Prüfung der Tatidentität im einzelnen Fall Ansatzpunkte für die richterlichen überlegungen zu geben." 70 Daß diese Auffassung in letzter Zeit wieder zunehmend kritisiert wird, soll hier nur am Rande vermerkt werden. Vgl. hierzu insbesondere den Aufsatz von R. D. Herzberg, "Ne bis in idem", in: JuS 1972, 113 ff. mit weiteren Nachweisen. 71 Rec. Dalloz 1957 Jurispr. S.33 zitiert nach K. Tiedemann, Entwicklungstendenzen, S. 34 f. 72 Die weitere Entwicklung der französischen Rechtskraftslehre in der

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I. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens

2.422 Die schweizerische Lehre und Rechtsprechung

Die in der Schweizer Literatur73 zu der Frage nach der Tatidentität vertretenen Meinungen reichen von einem sehr eng gefaßten Tatbegriff, wonach schon bei einer anderen juristischen Qualifikation einer Handlung Tatidentität verneint wird, bis zu der sehr weiten, in Deutschland herrschenden Auffassung, nach der Tatidentität immer dann anzunehmen ist, wenn der neuen Anklage derselbe historische Vorgang zugrunde liegt. Chevalier74 spricht sich für die in Deutschland herrschende Meinung aus, da es, wie er glaubt, keine allgemein gültige und nie versagende Regelung zur Bestimmung der Tatidentität gibt. Auch Pfenninger i5 hat sich dafür ausgesprochen, daß der Umfang der materiellen Rechtskraft davon abhängen solle, ob dem früheren Verfahren das gleiche "historische Vorkommnis" zu Grunde lag und inwieweit das Urteilsrecht des früheren Richters reichte. In seinem 1913 erschienenen Aufsatz "ne bis in idem" im zürcherischen Strafprozeß76 empfiehlt er ausdrücklich für den Kanton Zürich eine Neuformulierung der entsprechenden Paragraphen der StPO, damit die Anwendung der deutschen Rechtsprechung in Zürich ermöglicht werde. Dieser Forderung wurde dann auch durch die Änderung des § 182 StPO vom 6. Juli 1941 (Art. 30 EG StGB) zum Teil entsprochen. Frey, welcher in seiner Dissertation über die Anklage im schweizerischen Strafprozeß ebenfalls kurz auf die Problematik der Tatidentität für den Umfang der materiellen Rechtskraft zu sprechen kommt, spricht sich dafür aus, daß ein Verbrauch der Strafklage nur insoweit eintritt, als das Gericht das eingeklagte historische Ereignis tatsächlich beurteilt hat77• Dabei soll es keine Rolle spielen, ob das Gericht aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen daran gehindert war, die Tat vollumfänglich zu würdigen, oder ob es aus Nachlässigkeit oder Unwissen dies unterlassen hat78 • StämpflF 9 und ihm teilweise folgend auch Waiblinger 80 versuchen an Hand eines materiellrechtlichen Maßstabes die Identität der Tat zu bestimmen. Diese Theorie, wie sie insbesondere von Stämpfli vertreten wird, erinnert an die französische Rechtsprechung. Sie baut auf der Tatsache auf, daß eine physisch einheitliche Tat rechtlich eine Deliktsmehrheit darRechtsprechung kann hier unberücksichtigt bleiben, da sie den Schweizer Autoren unbekannt war. 73 s. Fn. 60-65. 74 R. Chevalier, Der Grundsatz "Ne bis in idem", S.76, 83. 711 H. F. Pjenninger, Anklage, Urteil und Rechtskraft, in: SJZ 39 (1943), 353 ff. (359). 76 SJZ 9, 233 ff. 77 E. Frey, Die Anklage im schweizerischen Strafprozeßrecht, S. 118. 78 E. Frey, Die Anklage im schweizerischen Strafprozeßrecht, S.92. 79 F. Stämpfli, Ne bis in idem, in: ZBJV 1913, 612 ff. 80 M. Waiblinger, Kommentar, Rdnr.4 zu Art. 4.

2. Allgemeine Bemerkungen zur Rechtskraftslehre

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stellen kann (Bsp. Idealkonkurrenz). Nach dieser Theorie soll Strafklageverbrauch und damit "ne bis in idem" erst dann eintreten, wenn der Täter für das schwerste Delikt verurteilt wurde. Das heißt, konkurrieren ein Vergehen und ein Verbrechen ideal miteinander, so verbraucht das Urteil über das Verbrechen auch das Urteil über das Vergehen, während im umgekehrten Fall der Strafanspruch weiter besteht, nach der Ansicht von Stämpfli ungeachtet der Gründe, warum das Gericht das Verbrechen nicht beurteilt hat81 • Waiblinger8% schränkt diese Theorie dahingehend ein, daß eine zweite Verfolgung nur dann möglich sein soll, wenn die Beurteilung der Handlung unter dem Gesichtspunkt einer schwereren Straftat im ersten Verfahren tatsächlich oder rechtlich unmöglich war. Das heißt, werden erst nach Abschluß des ersten Verfahrens Tatsachen bekannt, welche im Zusammenhang mit den Tatsachen des ersten Verfahrens einen ideell konkurrierenden schweren Tatbestand erfüllen, so kann ohne weiteres (ohne Wiederaufnahme des Verfahrens) eine neue Strafverfolgung für das ideell konkurrierende Delikt eingeleitet werden. Die Stellung der Rechtsprechung zur Bestimmung der Tatidentität läßt sich auf Grund der wenigen publizierten Entscheide nicht genau bestimmen83 • Wenn Hauser84 sagt, daß die theoretische Breite und Schwierigkeit des Themas (Rechtskraft) im umgekehrten Verhältnis zu seiner praktischen Bedeutung stehe, so wird diese Aussage durch das fast völlige Fehlen von Entscheiden unterstrichen. Die zürcherische Rechtsprechung hat sich nach einer Periode großer Schwankungen85, welche aber durch die zu dieser Zeit geltende StPO bedingt waren, in einem Entscheid des Obergerichts vom 19. Juni 195686 unter Berufung auf Eb. Schmidt der in Deutschland herrschenden Meinung angeschlossen. Darin wird ausdrücklich gesagt, daß Identität der Tat dann vorliegt, wenn "das historische Vorkommnis, wie es sich in den in Untersuchung und Hauptverhandlung ermittelten Umständen darstellt", schon der ersten Anklage zu Grunde lag. Allerdings hat das Zürcher Obergericht dabei nicht berücksichtigt, daß die Klageumgestaltungsbefugnis nach dieser Formel viel weiter geht, als es § 182 III StPO ZH nach der Rechtsprechung eben dieses Gerichts zuläßt. Eine 81

8! 83

F. Stämpfli, Ne bis in idem, in: ZBJV 1913, 620. M. Wa.iblinger, Kommentar, Rdnr.6 zu Art. 4. Vgl. H. Stotz, Der Grundsatz "ne bis in idem" im schweizerischen Straf-

prozeßrecht, S. 12. 114 R. Ha.user, Das Strafprozeßrecht der ostschweizerischen Kantone, Skriptum einer Vorlesung, gehalten im WS 70/71 und SS 71 an der Universität Bern. Masch. vervielf. S. 158. 85 Vgl. die Hinweise bei E. Frey, Die Anklage im schweizerischen Strafprozeßrecht, S. 91. 88 ZR 58 (1959) Nr. 52 (S. 101 ff.).

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens

Klageänderung nach § 182 III StPO ZR soll nämlich nur dann zulässig sein, wenn die wirklichen Verhältnisse bereits in der der Anklage vorausgehenden Untersuchung festgestellt worden sind87 . Nach der Definition von Eb. Schmidt gehören jedoch zur "Tat" "der von der Anklage bzw. vom Eröffnungsbeschluß betroffene Vorgang, einschließlich aller damit zusammenhängenden und darauf bezüglichen Vorkommnisse und tatsächlichen Umstände, die geeignet sind, das in diesen Bereich fallende Tun des Angeklagten unter irgendeinem rechtlichen Gesichtspunkt als strafbar erscheinen zu lassen"88, was nur bedeuten kann, daß auch nicht im Eröffnungsbeschluß genannte Vorkommnisse und tatsächliche Umstände in die Beurteilung des angeklagten "Vorgangs" miteinbezogen werden können und somit auch durch das rechtskräftige Urteil umfaßt werden89 . Die Berner Rechtsprechung hat sich in einem Urteil90 , welches in der Literatur durch Stämpfli 91 stark kritisiert wurde, ebenfalls unter Berufung auf die deutsche Theorie und Praxis dieser angeschlossen. In dem Urteil wird ausdrücklich hervorgehoben, daß diese Auffassung ständige Praxis der Kammer sei und kein Grund vorliege, von ihr abzuweichen. Die Kritik von Stämpfli war dann jedoch Grund, daß die Strafkammer ihre Rechtsprechung änderte und sich der Auffassung von Stämpfli anschloß92,9S. 2.423 Zusammenfassung Obwohl die in Deutschland herrschende Lehre in der Schweizer Literatur zum Teil auf Kritik gestoßen ist9 4, hat sie sich in der Rechtsprechung weitgehend durchgesetzt. Danach gilt also auch in der Schweiz die Definition der Tat als historisches Ereignis. Da in fast allen Fällen, in denen im ersten Verfahren der Sachverhalt falsch oder unvollkommen festgestellt wurde, einer neuen Anklage das Verbot des "ne bis in idem" entgegensteht, läßt sich eine Neubeurteilung und damit auch die Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit nur über die 87 Urteil des KassG v. 7.6.1956 in SJZ 53 (1957), S. 40 f. 88 So die Formulierung von RGSt 72, 340, welcher sich Eb. Schmidt in JR 1959, 428 ausdrücklich anschließt. 89 Eb. Schmidt, Lehrkommentar I, Rdnr.296. 90 ZBJV 1913, 646 Urteil der 1. Strafkammer vom 5. Febr. 1913. 91 ZBJV 1913, 612 ff. 92 ZBJV 52, S. 298 ff. 93 Nach K. Tiedemann (Entwicklungstendenzen, S.34 Fn.80) soll jedoch die neuere Praxis des Kantons Bern der deutschen Rechtsprechung entsprechen. 94 Wobei sich die Kritik hauptsächlich gegen die Konsequenzen richtet, zu welchen die strikte Durchführung dieser Lehre in der deutschen Rspr. geführt hat, vgl. H. F. Pfenninger, Probleme, S.335.

3. Rechtskraft und Gerechtigkeit

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Wiederaufnahme des Verfahrens erreichen. Auf die daraus entstehenden Folgen für das Wiederaufnahmerecht wurde bereits oben95 hingewiesen. Es ist hier nicht der Platz, eine Lehre von der Identität der Tat zu entwickeln, welche eine stärkere Beschränkung des Wiederaufnahmerechtes ermöglichen würde. Die Arbeiten, die zu dieser Frage in letzter Zeit erschienen sind96 , zeigen jedoch deutlich das Bemühen, den weiten Tatbegriff der herrschenden Lehre einzugrenzen, was dann auch zu Folgerungen im Wiederaufnahmerecht führen müßte9 7 • 3. Rechtskraft und Gerechtigkeit Diese, der materiellen Rechtskraft zugrunde liegende Definition von der Identität der Tat kann in Einzelfällen zu einem schwer erträglichen Widerspruch mit der materiellen Gerechtigkeit führen. Verletzt nämlich eine Handlung mehrere Straftatbestände und wird sie nur auf Grund eines davon beurteilt, so verhindert die Sperrwirkung eine neuerliche Beurteilung. Das gleiche gilt auch für den umgekehrten Fall, wenn nach rechtskräftiger Verurteilung sich herausstellt, daß die angeklagte Tat zuungunsten des Angeklagten falsch beurteilt wurde. Auch hier verhindert die Rechtskraft ein Zurückkommen auf den Streitgegenstand des beendeten Prozesses. Ein Zurückkommen auf diesen Streitgegenstand ist nur möglich, wenn man zuvor die Rechtskraft des Urteils beseitigt, und eben dies ermöglicht das Rechtsmittel der Wiederaufnahme98. Unter diesem Blickwinkel erklärt sich auch die Trennung in Wiederaufnahmeverfahren und wiederaufgenommenes Verfahren. Das erste dient nur der Prüfung, ob die Voraussetzungen für die Zulässigkeit und die Begründetheit des Rechtsmittels vorliegen, mit anderen Worten, ob die materielle Rechtskraft des angegriffenen Urteils beseitigt werden soll. Erst wenn diese Frage positiv beantwortet ist, kann ein zweites Verfahren in der Sache selbst stattfinden. Das wiederaufgenommene Verfahren ist also nie Teil des Wiederaufnahmeverfahrens, sondern ein selbständiger Prozeß99. 95 s. I. Teil, 2. 1. 96 Vgl. vor allem eh. Bertel, Die Identität der Tat, Wien 1970; R. D. Herzberg, Ne bis in idem, JuS 1972, 113 ff.; A. Meyer, Die Bindung des Strafrichters an die eingeklagte Tat, Diss. Zürich 1972. 97 A. Meyer, Die Bindung des Strafrichters an die eingeklagte Tat, S. 102; dazu s. auch unten I. Teil, 3. 1 und 3. 22. 98 Die Auffassung von P. Boner (Die Wiederaufnahme im Solothurnischen Strafprozeß, S. 40) übersieht m. E., daß es diese, der materiellen Rechtskraft zukommende Sperrwirkung ist, welche mit dem Rechtsmittel Wiederaufnahme in Widerspruch steht. 99 Dies gilt jedoch nur unter gewissen Einschränkungen, vgl. im einzelnen II!. Teil, 7.

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1. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens

In welchem Umfang der Gesetzgeber die Aufhebbarkeit der materiellen Rechtskraft zuläßt, unterliegt prinzipiell seinem freien Ermessen1OO• Die Regelung, die diese Frage in den kantonalen Strafprozeßordnungen gefunden hat, zeigt, daß man dies durchaus verschieden regeln kann. Die im folgenden angestellten überlegungen zu den rechtstheoretischen Grundbegriffen können deshalb nicht als Kritik am schweizerischen Wiederaufnahmerecht angesehen werden. Sie sollen vielmt>hr, wie Eb. Schmidt 101 es gesagt hat, "dem juristischen Denken festen Halt und zielsichere Richtung geben. Sie (die rechtstheoretischen Grundbegriffe) müssen dem Juristen bei Auslegung und Anwendung jeder einzelnen prozessualen Bestimmung gegenwärtig sein; dann bewahren sie ihn vor einem schwankenden Pragmatismus". 3.1 Die Antinomie zwischen Rechtskraft und Wiederaufnahme des Verfahrens

Die Behandlung, welche die Rechtskraft bisher im Rahmen dieser Arbeit gefunden hat, beschränkte sich darauf, ihre Voraussetzungen und ihren Umfang zu definieren, da beide Punkte für die Existenz und die Bedeutung der Wiederaufnahme des Verfahrens relevant sind102 • Unbeachtet gelassen wurde dabei die Funktion der Rechtskraft als einer Erscheinung, die etwas mit dem Ziel des Strafprozesses zu tun hat. Da die Rechtskraft als solche kein Prozeßziel ist103, bleibt zu fragen, welches Ziel der Gesetzgeber damit zu erreichen sucht. Hierbei kann es sich nur um die Rechtssicherheit handeln. Demgegenüber steht die Forderung nach Gerechtigkeit, welche ebenfalls durch den Strafprozeß verwirklicht werden soll. In gleicher Weise, wie durch die Anerkennung der Rechtskraft die Rechtssicherheit gewährleistet wird, gewährleistet die Wiederaufnahme des Verfahrens die Gerechtigkeit. Daraus hat Schmidhäuser 104 gefolgert: "Aber so wenig wir die Gerechtigkeit mehr als das Ziel des Strafprozesses sehen können, wenn wir zugleich unter gewissen Voraussetzungen an ungerechten Urteilen festzuhalten bereit sind, so wenig können wir in der Rechtssicherheit das Ziel des Strafprozesses sehen, wenn wir zugleich die Beständigkeit einer einmal getroffenen 100 Die kantonalen Gesetzgeber sind zwar in ihrem Ermessen durch die Vorschrift des Art.397 StGB eingeschränkt, der Bundesgesetzgeber war jedoch, sieht man einmal von der Frage seiner Kompetenz ab (dazu H. Teil, 1. 1), völlig frei. 101 Eh. Schmidt, Lehrkommentar I, S. 4. 102 s. oben 1. Teil, 2. 1 lit. a) und b). 103 VgI. E. Schmidhäuser, Zur Frage nach dem Ziel des Strafprozesses, in: Festschrift für Eb. Schmidt, Göttingen 1961, S. 514 f. 104 Ebd., S. 515.

3. Rechtskraft und Gerechtigkeit

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Entscheidung unter wenn auch engen Voraussetzungen wieder aufzugeben bereit sind (wie dies im Falle der ,Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens' tatsächlich geschieht)." Somit sind also weder Rechtssicherheit noch Gerechtigkeit mehr Ziele des Strafprozesses, sondern höchstens noch "Einzelwerte"105, hinter denen man letztlich ein übergeordnetes Ziel finden kann. Dieses Ziel sieht Schmidhäuser im Rechtsfrieden. Damit gelingt es ihm zwar, die einander teilweise widersprechenden "Einzelwerte" Rechtssicherheit und Gerechtigkeit in einer Synthese zusammenzufassen, ohne jedoch zu sagen, wie diese Synthese zu verwirklichen ist. Verwirklichen läßt sie sich jedoch nur, wenn keiner der beiden "Einzelwerte" ausschließlich auf Kosten des anderen zur Geltung kommt. Nun liegt aber der Widerspruch nicht in dem Begriffspaar Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, sondern in den Mitteln, die zur Erreichung dieser Werte vom Gesetzgeber zur Verfügung gestellt werden. Im Rahmen dieser Arbeit interessieren dabei die Rechtskraft als Mittel zur Erreichung der Rechtssicherheit und die Wiederaufnahme des Verfahrens zur Erreichung der Gerechtigkeit. Hier jedoch scheint eine Synthese nicht möglich, da die Wiederaufnahme des Verfahrens per definitionem die Durchbrechung der Rechtskraft bewirkt und sie somit negiert. Damit scheint jedoch auch eine Synthese von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit unmöglich zu sein, da die oben aufgestellte Forderung, daß in ihr kein Wert ausschließlich auf Kosten des anderen vp.rwirklicht werden darf. nicht erfüllt werden kann, wenn die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens als Mittel zur Erreichung der Gerechtigkeit zugelassen wird. Es muß also eine Methode gefunden werden, welche erlaubt, bereits bei den Mitteln einen Ausgleich herbeizuführen. Geht man dabei von der Gleichwertigkeit der Ziele aus (Rechts sicherheit und Gerechtigkeit), so läßt sich dies m. E. dadurch erreichen, daß beiden Mitteln dergestalt Grenzen gezogen werden, daß sie zu optimaler Wirksamkeit gelangen können. Während dies bei der Rechtskraft insbesondere bei dem Teilaspekt der Tatidentitätt06 erfolgen könnte, scheint mir im Wiederaufnahme recht besonders die Regelung der Wiederaufnahmegründe und die Ausgestaltung des Zulässigkeits- und Begründetheitsverfahrens dafür geeignet zu sein. Hier gilt es jeweils abzuwägen, ob sich eine Begrenzung des Wiederaufnahmerechtes zugunsten der Rechtskraft vornehmen läßt, ohne damit die Gerechtigkeit gegenüber der Rechtssicherheit allzusehr einzuschränken. Dadurch, daß man auf dieser Ebene den Widerspruch "harmonisiert", läßt sich die Synthese von Rechtskraft und Gerechtigkeit im Rechtsfrieden verwirklichen. Schmidhäuser spricht dies am Schluß seiner Arbeit deutlich aus: "Gerade das 106 Ebd., S. 524. 108 S. oben I. Teil, 2. 423. 3 Edtert

I. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens

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Widerspiel von Rechtskraft des Urteils und Wiederaufnahme des Verfahrens ist deutlicher Ausdruck des Strebens nach Rechtsfrieden über Gerechtigkeit und Rechtssicherheit als Einzelwerte hinaus, mag auch die gesetzliche Regelung im einzelnen hier immer nur ein Versuch sein können, dem letzten idealen Ziel näherzukommen107.'' 3.2 Fehlurteil und Wiederaufnahme des Verfahrens

Ein Urteil kann verschiedene Mängel aufweisen, welche es in Widerspruch mit der materiellen Gerechtigkeit bringen. Sie lassen sich im wesentlichen in zwei Fälle unterscheiden. Entweder ist ein durchaus richtig festgestellter Sachverhalt rechtlich falsch beurteilt worden, oder aber es war der Sachverhalt selbst im Zeitpunkt der Urteilsfällung nur ungenügend aufgeklärtl°8 • Daneben können noch Mängel im Verfahren vorliegen, welche ebenfalls die Richtigkeit des Urteils in Frage stellen109 • In allen Fällen steht die Rechtskraft des Urteils einer zweiten Verhandlung im Wege, so daß es eigentlich zu ihrer Korrektur des Rechtsmittels der Wiederaufnahme des Verfahrens bedürfte. Wenn dies für den ersten Fall abgelehnt wird, so sprechen dafür gute Gründe. Rechtsanwendung auf einen festgestellten Sachverhalt ist ein logisch deduktiver Vorgang, welcher, in der Regel zumindest, leicht nachgeprüft werden kann. Zu diesem Zweck sind aber in allen kantonalen Strafprozeßordnungen Rechtsmittel vorhanden, mit welchen die Rechtsanwendung kontrolliert werden kann. Des weiteren kann sich die rechtliche "Fehlerhaftigkeit" eines Urteils auch erst nachträglich ergeben, indem die Rechtsprechung für diesen Fall sich ändert. Wollte man in solchen Fällen eine Wiederaufnahme des Verfahrens zulassen und bereits rechtskräftig gewordene Urteile einer geänderten Rechtsprechung anpassen, so würde dies einerseits jegliche Änderung der Rechtsprechung verhindern, da die Konsequenzen unüberschaubar wären, es würde aber auch die materielle Gerechtigkeit einseitig überbetonen, da durch die Wiederaufnahme des Verfahrens die Rechtskraft von Urteilen beseitigt würde, die ursprünglich sowohl tatsächlich als auch rechtlich korrekt waren110 • Etwas anderes gilt für den zweiten Fall, wobei ich ihn dahingehend weiter unterscheiden möchte, daß der Angeklagte auf Grund ungenügender Sachverhaltsfeststellung zu Unrecht verurteilt wurde, oder daß er zu Unrecht freigesprochen oder zu milde bestraft wurde. 107 108

E. Schmidhäuser, S.524. H. F. Pfenninger, Probleme, S.314.

109 Zu der nach Eintritt der Rechtskraft noch möglichen Korrektur dieser Mängel siehe unten III. Teil, 8. 2. 110 H. F. Pfenninger, Probleme, S.314.

3. Rechtskraft und Gerechtigkeit

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3.21 Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten Was die Verurteilung eines Unschuldigen wegen mangelhafter Aufklärung des Sachverhalts angeht, so bedarf die Begründung für die Zulässigkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens keiner großen Ausführungen. Maunoir 111 hat zu Recht darauf hingewiesen, daß in solchen Fällen die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht nur, wie das auch für andere Rechtsmittel gilt, dazu dient, die Wahrheit zu finden; in solchen Fällen sei sie vornehmlich ein Recht desjenigen, welcher zu Unrecht verurteilt worden ist, die Beseitigung dieses Irrtums zu verlangen. So verstanden kommt der Wiederaufnahme des Verfahrens neben ihrer eigentlichen Funktion die Aufgabe zu, die Persönlichkeitsrechte des einzelnen, welche vom Staat verletzt wurden, zu garantieren. Die Forderung nach "Harmonisierung" zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit bedeutet in diesem Fall die grundsätzliche Zulassung der Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten zum Schutz der materiellen Gerechtigkeit, während die Rechtssicherheit durch die Ausgestaltung des Verfahrens zu Geltung gebracht werden muß112. überlegenswert ist in diesem Zusammenhang, ob diese grundsätzliche Zulassung der Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten auch in den Fällen berechtigt ist, in welchen lediglich eine mildere Strafe, jedoch auf Grund desselben Gesetzes, in Frage kommt. Die deutsche StPO hält in diesen Fällen eine Wiederaufnahme für unzulässig113 , was durchaus so interpretiert werden kann, daß der Gesetzgeber die Rechtskraft nur soweit einschränken wollte, als es zur Vermeidung grober materieller Ungerechtigkeiten unbedingt erforderlich ist. Versteht man jedoch die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Angeklagten als Garantie der Persönlichkeitsrechte des einzelnen, so kann dieser Einschränkung nicht gefolgt werden114 • Angesichts der teilweise sehr weiten Strafmaßnahmen des StGB kann eine Milderung der Strafe auf Grund derselben Strafbestimmungen von größerer Bedeutung sein, als sie eine Verurteilung auf Grund eines milderen Strafgesetzes sein würde 115 •

3.22 Wiederaufnahme zuungunsten des Beschuldigten Nicht so klar ist die Beantwortung der Frage für den zweiten Fall, nämlich der zu Unrecht erfolgten Freisprechung oder der zu milden Y. Maunoir, La revision penale, S.125. Dazu siehe unten IH. Teil, 2. 113 § 363 dStPO. 114 In diesem Sinne wohl auch P. Boner, Die Wiederaufnahme, S. 151, obwohl er zuvor ausdrücklich die der deutschen Regelung entsprechende Vorschrift der (inzwischen revidierten) solothurnischen StPO gelobt hatte; vgl. jedoch vor allem BGE 69 IV 140. 115 Vgl. hierzu unten H. Teil, 2.23. 111

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I. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens

Bestrafung eines Angeklagten. Das Problem scheint auf den ersten Blick das gleiche zu sein, wie bei der Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten, nämlich eine Kollision zwischen den Wirkungen der Rechtskraft und der materiellen Gerechtigkeit, welche dadurch, daß bei den Prinzipien Grenzen gezogen werden, gelöst werden muß. Allein bereits die legislative Lösung, welche dieser Konflikt in den verschiedenen kantonalen Strafprozeßordnungen gefunden hat, zeigt, daß möglicherweise doch eine differenzierende Betrachtung vonnöten ist. So kennt zum Beispiel die StPO GE116 überhaupt keine Wiederaufnahme zuungunsten eines Freigesprochenen oder Verurteilten, während andere Kantone sie nur unter wesentlich engeren Voraussetzungen als die Wiederaufnahme zugunsten zulassen. Aber auch ein Blick über die Landesgrenzen hinaus zeigt, daß viele Länder die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten nicht kennen117. Versteht man unter Gerechtigkeit eine abstrakte Idee, so scheint es wirklich keinen Grund zu geben, die für die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten gefundene Lösung nicht auch auf die zuungunsten des Freigesprochenen zu übertragen, und das Prinzip der Rechtskraft durch eine besondere Ausgestaltung des Verfahrens zu sichern. In diesem Sinne argumentiert Pfenninger118 , für den die materielle Wahrheit und Gerechtigeit unteilbar ist, so daß, gestützt auf sie, die Wiederaufnahme zugunsten wie zuungunsten ihre Rechtfertigung findet. Auch Boner ll9 begründet seine positive Haltung gegenüber der Wiederaufnahme zuungunsten mit dem "Postulat der materiellen Gerechtigkeit des Strafrechts". Meines Erachtens verkennt diese Meinung das Wesen der Beziehung zwischen Wiederaufnahme und Gerechtigkeit und damit auch die Möglichkeit der Harmonisierung für diese Fälle. Bereits oben wurde auf die Bedeutung des Begriffs der "Identität der Tat" hingewiesen. Dazu kommt, was bereits bei der Wiederaufnahme zugunsten gesagt wurde, daß es primär Aufgabe des Grundverfahrens ist, ein mit der materiellen Wahrheit übereinstimmendes Urteil zu ermöglichen. Um dies zu erreichen, stehen aber den Untersuchungs- und Anklagebehörden weit mehr Mittel zur Verfügung als 116 GE 452. 117 z. B. Italien, Frankreich, Belgien, die Niederlande, Spanien, England und Wales, die USA und Japan. Dabei muß jedoch noch einmal auf den Zusammenhang mit der Tatidentität und dem Umfang der Rechtskraft hingewiesen werden. Solange diese Frage für die genannten Länder nicht geklärt ist, kommt der Tatsache, daß sie keine Wiederaufnahme zuungunsten vorsehen, nur eine beschränkte Aussagekraft zu. Zur Diskussion in Deutschland über die Wiederaufnahme zuungunsten vgl. EckeTt, Bericht, ZStW 1972, 947 ff. 118 H. F. Pfenninger, Probleme, S.340. 119 P. BoneT, Die Wiederaufnahme, S. 42.

3. Rechtskraft und Gerechtigkeit

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dem Beschuldigten. Dies gilt selbst dann, wenn der Beschuldigte einen Verteidiger zur Seite hat, da die personellen und sachlichen Mittel, welche dem Staat zur Untersuchung und Aufklärung von Straftaten zur Verfügung stehen, immer denen eines einzelnen überlegen sind. Daraus folgt aber, daß bereits im Grundverfahren das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit weitgehend verwirklicht werden kann, ohne daß es dafür erforderlich ist, die materielle Rechtskraft der Urteile einzuschränken. Dies hat dann auch Eb. Schmidt 120 zu der Äußerung veranlaßt, "er sehe überhaupt keinen Grund, daß, wenn pflichtgemäß von den Justizbehörden gearbeitet worden sei, noch einmal zuungunsten des Betroffenen die ganze Geschichte von vorne beginnen könne". Gegen die Wiederaufnahme zuungunsten spricht meines Erachtens aber auch, daß das "Postulat der materiellen Gerechtigkeit des Strafrechts" nicht mit der abstrakten Idee der Gerechtigkeit als solcher gleichgesetzt werden kann. Meyer 121 weist zu Recht auf den fragmentarischen und exemplifikativen Charakter des Strafrechts hin sowie auf die vielfältigen Bedingtheiten und Zufälligkeiten strafprozessualer Selektionsmechanismen. Beides steht schon per se der Verwirklichung absoluter Gerechtigkeit entgegen, woraus man die Folgerung ziehen kann, daß der Staat von sich aus seinem Strafanspruch Grenzen gezogen hat. Gleichfalls gilt bei der Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen nicht, was oben bei der Wiederaufnahme zugunsten festgestellt wurde, daß nämlich die Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit gleichzeitig die elementaren Rechte des Betroffenen schützt. Der qualitative Unterschied zwischen der ungerechten Verurteilung und dem ungerechten Freispruch wird, wie Meyer 122 ausführt, besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß der zu Unrecht zu einer Freiheitsstrafe Verurteilte im Vollzug Tag für Tag das Unrecht seiner Verurteilung am eigenen Leibe aktuell erfährt, während der zu Unrecht Freigesprochene zu der großen Schar derer gehört, die dem Zugriff der Strafjustiz aus einer Vielzahl von Gründen tagtäglich entgehen. Aus diesen Ausführungen ergibt sich, daß die Lösung des Konflikts zwischen Rechtskraft und materieller Gerechtigkeit für den Fall der zu Unrecht erfolgten Freisprechung eine andere sein muß, als für den Fall der zu Unrecht erfolgten Verurteilung. Würde man beide Fälle gleich behandeln, so würde das für die Wiederaufnahme zuungunsten eine Verletzung der Forderung nach "Harmonisierung der Mittel" bedeuten, welche verlangt, daß ein Weg gesucht werden muß, der beide Werte (den der Gerechtigkeit und den der Rechtskraft) optimal zur Wirkung kommen läßt. Vgl. EckeTt, Bericht, zStw 1972, 947. J. MeyeT, Aktuelle Probleme der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, ZStW 1972, 926. 122 J. MeyeT, Aktuelle Probleme der Wiederaufnahme, ZStW 1972, 926. 120 121

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I. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens

3.221 Rechtfertigen sich besondere Gründe für die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Beschuldigten? Der sachliche Unterschied, welcher zwischen der Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten und zuungunsten des Freigesprochenen besteht, findet seinen Ausdruck in vielen kantonalen Strafprozeßordnungen, welche die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten nur unter wesentlich engeren Voraussetzungen zulassen123• Es soll deshalb im folgenden untersucht werden, ob die besonderen Fallgruppen, für welche der Gesetzgeber die Wiederaufnahme zuungunsten vorgesehen hat124 , die Durchbrechung der Rechtskraft zwingend erfordern. Dies kann stellvertretend für alle hier zitierten Rechte an Hand des § 443 Ziff. 1 und 2 StPO ZH erfolgen. Nach § 443 StPO ZH wird das Verfahren zuungunsten eines rechtskräftig Freigesprochenen oder Verurteilten wieder aufgenommen: 1. wenn durch ein Verbrechen oder Vergehen, z. B. Bestechung oder falsches Zeugnis, auf das frühere Strafverfahren zugunsten des Angeklagten eingewirkt worden ist; 2. wenn der Freigesprochene vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis abgelegt hat oder wenn andere Tatsachen oder Beweismittel entdeckt worden sind, welche für sich allein zu einer Verurteilung des Angeschuldigten hinreichen würden125 • In der Diskussion über die Reform des Wiederaufnahmerechtes, welche gegenwärtig in Deutschland stattfindet, wurde vom Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer der Standpunkt vertreten126 , daß für den Fall der Herbeiführung eines Freispruchs durch eine strafbare Handlung es an der vorausgesetzten Grundlage eines objektiven Richterspruchs überhaupt gefehlt habe, so daß die Wiederaufnahme des Verfahrens möglich sein müsse. Demgegenüber hat Meyer 127 zu Recht 123 Die Darstellung der Wiederaufnahme zuungunsten erfolgt aus systematischen Gründen im dritten Teil der Arbeit bei der Darstellung des positiven Rechts. Die Trennung von den allgemein rechtstheoretischen Fragen läßt sich jedoch für das hier behandelte Problem, nämlich nach der Frage der Notwendigkeit der Wiederaufnahme zuungunsten, nicht durchführen, ohne daß die Verständlichkeit darunter leiden würde. 124 ZH 443; BE 347 Ziff.l, 2, 4; UR 125 II; SZ 227 lit. b; GL 164 II; FR 59 lit. a) und c); so 208 lit. e) und d); BS 289; BL 169 Ziff. 1, 2, 4; SG 198 Ziff. 1; AG 230 Ziff.2 und 4; TG 233 Ziff.2; TI 250; VS 135; NE 262 II; BStrP 229 Ziff.2 und 3; MStrGO 199 II. 125 In diesem Zusammenhang interessiert nur Ziff. 1 und die erste Alternative von Ziff.2. Für das folgende vgl. insbesondere: J. Meyer, Aktuelle Probleme der Wiederaufnahme, zstw 1972, 924 ff. und Eckert, Bericht, ZStW 1972, 947 ff. sowie die Diss. von Y. Maunoir, La revision penale, S.168 ff. 126 Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts, S. 76. 127 J. Meyer, Aktuelle Probleme der Wiederaufnahme, ZStW 1972, 927.

3. Rechtskraft und Gerechtigkeit

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darauf hingewiesen, es müsse zunächst einmal eine überzeugende Abgrenzung zur Lehre vom nichtigen Urteil entwickelt werden, bevor man aus dieser Feststellung die Forderung nach der Zulässigkeit der Wiederaufnahme zuungunsten ableite. Spaltet man jedoch den Wiederaufnahmegrund der strafbaren Handlung auf in einen Fall, in dem die strafbare Handlung vom Angeklagten selbst und in einen, in welchem sie von einem Dritten begangen wurde, so zeigt sich, daß sich Wege finden lassen, welche das Prinzip der Rechtskraft nicht tangieren und dennoch dem Verlangen nach materieller Gerechtigkeit entgegenkommen. Im ersten Fall bleibt nämlich der Angeklagte wegen aller Straftaten, durch die er auf das frühere Verfahren eingewirkt hat, strafbar, und es kann bei der Strafzumessung der mit der Straftat verfolgte Zweck strafschärfend berücksichtigt werden128 . Wird jedoch von einem Dritten, ohne Mitwirkung des Angeklagten, durch eine Straftat das frühere Verfahren beeinfiußt, so kann dieser dafür bestraft werden. Ob die Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit gegenüber der Rechtssicherheit des einzelnen, hier Freigesprochenen, in diesem Fall wirklich erforderlich ist, erscheint zumindest zweifelhaft. Liegt gar ein Richterdelikt vor, so muß sich meines Erachtens der Staat dies zurechnen lassen und kann daraus nicht den Anspruch herleiten, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Betroffenen zu fordern. Der zweite Fall, nämlich daß vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis abgelegt wurde, hat insbesondere Pfenninger veranlaßt, die Zulassung der Wiederaufnahme des Verfahrens auch zuungunsten des Betroffenen zu verlangen129. In der bereits oben erwähnten Denkschrift hat sich der Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer gegen eine Berücksichtigung des außergerichtlichen Geständnisses ausgesprochen, "weil damit Zuträgern in unerfreulicher Weise Vorschub geleistet würde"130. Ob aber diesem Wiederaufnahmegrund noch praktische Bedeutung zukommt, wenn man nur das vor einem Gericht abgelegte Geständnis gelten läßt, ist nicht sehr wahrscheinlich131 . Pfenninger, welcher in seinem bereits zitierten Aufsatz zu dieser Frage Stellung nimmt, zeigt dann auch, daß es nicht so sehr die Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit ist, welche ihn für die Fälle des Geständnisses die Wiederaufnahme zuungunsten für erforderlich halten läßt, sondern "kriminalpolitische überlegungen" ausschlaggebend sind132• Für die Möglichkeit, nach einem Geständnis das Ver128

129 130 131 132 sion

J. Meyer, Aktuelle Probleme der Wiederaufnahme, ZStW 1972, 927. H. F. Pfenninger, Probleme, S. 331 f.

Denkschrift, Leitsatz 49.

J. Meyer, Aktuelle Probleme der Wiederaufnahme, zstw 1972, 928. H. F. Pfenninger, Probleme, S.331. Dies wurde auch in einer Diskus-

anläßlich der Sitzung des Kuratoriums des Max-Planck-Instituts für

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I. Teil: Rechtstheoretische Grundlagen des Wiederaufnahmeverfahrens

fahren zuungunsten wieder aufzunehmen, werden hauptsächlich solche Fälle angeführt, in denen sich der Freigesprochene seiner Tat rühmt, möglicherweise sogar noch Geld mit seinem Geständnis verdient, indem er es als "spektakuläres Illustriertengeständnis" an eine Zeitung verkauft. Betrachtet man aber diese Fälle näher, so stellt man fest, daß hier gar nicht so sehr der materiell möglicherweise zu Unrecht erfolgte Freispruch das Rechtsempfinden beeinträchtigt, sondern "das skandalon", daß sich einer nach seinem Freispruch mit seiner Tat rühmt133 • Sieht man einmal von der Glaubwürdigkeit und der sachlichen Substanz eines solchen "Geständnisses" ab 134 , das ja ohnehin der freien richterlichen Beweiswürdigung unterliegt, so stellt sich doch die Frage, ob man dagegen unbedingt die Durchbrechung der Rechtskraft zulassen muß oder ob für solche Fälle nicht eine Vorschrift nach Art des "contempt of court" geeigneter ist135 • Ist das Ärgerliche an solchen Fällen jedoch tatsächlich der ungerechte Freispruch, so müßte man eigentlich, wie auch Maunoir 136 schreibt, die Wiederaufnahme des Verfahrens generell wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel zulassen. Daß dies jedoch in dieser Form ausschließlich auf Kosten der Rechtskraft und des Rechtsfriedens geschehen könnte und damit gegen das Prinzip einer "Harmonisierung der Mittel" verstoßen würde, wurde bereits oben gezeigt. Ein letztes Argument gegen die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Betroffenen liegt in dem fehlenden praktischen Bedürfnis für dieses Rechtsmittel. Die kriminologische Forschungsgruppe in Tübingen untersuchte 1115 in Deutschland durchgeführte Wiederaufnahmeverfahren, worunter nur 91 zuungunsten des Angeklagten durchgeführt wurden 137 • Hauser 138 berichtete aus dem Kanton Zürich, daß er während seiner Praxis dort nur einen Fall einer Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten hatte, welcher jedoch erfolglos verlaufen seil 39 • Auch von Hentig 140 zeigt, daß der Wiederaufnahme zuungunsten nur "eine geringe praktische Bedeutung" zukommt, möchte sie jedoch trotzdem beibehalten. ausländisches und internationales Strafrecht am 3. März 1972 in Freiburg i. Br. deutlich. VgI. hierzu: Eckert, Bericht, ZStW 1972, 947 ff. 133 Vgl. Eser, in: Eckert, Bericht, ZStW 1972, 948. 134 VgI. J. Meyer, Aktuelle Probleme der Wiederaufnahme, ZStW 1972,927. 135 Vgl. Eser, in: Eckert, Bericht, ZStW 1972, 948. 136 Y. Maunoir, La revision p{male, S.179. 137 VgI. K. Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, S.574. 138 R. Hauser, in: Eckert, Bericht, zstw 1972, 947. 139 VgI. auch F. Clerc, Le proces penal, S. 152; sowie die, allerdings unvollständige Statistik in: Jescheck-Meyer, Die Wiederaufnahme ..., Bonn 1974, Landesbericht Schweiz, S. 625. 140 H. v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 110.

3. Rechtskraft und Gerechtigkeit

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Zieht man das Resumee aus dem oben Gesagten, so ergibt sich, daß die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten keine zwingende Voraussetzung für die Gewährleistung der materiellen Gerechtigkeit ist, vorausgesetzt, daß man diese Gerechtigkeit nicht verabsolutiert und sie im Kontext mit den anderen Zielen, welche das Strafverfahren hat, sieht. Eine Wiederaufnahme zuungunsten wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel würde auf Kosten der Wirkungen, welche der materiellen Rechtskraft zukommen, gehen, während für die Spezialfälle gezeigt wurde, daß andere, weniger einschneidende Möglichkeiten bestehen, unter Berücksichtigung der Rechtskraft das notwendige Maß an Gerechtigkeit zu erreichen. Wenn Engisch1U von der Abschaffung der Wiederaufnahme zuungunsten befürchtet, daß dies psychologische Rückwirkungen auf den erstinstanzlichen Richter haben könnte, da dieser sich dann sagen müsse, wenn er jetzt freispreche, sei das definitiv, so kann diesem Einwand nicht gefolgt werden. Die richterliche Überzeugung über Schuld oder Unschuld des Angeklagten muß unbeeinfiußt von der Möglichkeit einer späteren Wiederaufnahme des Verfahrens auf Grund des durch die Untersuchung und die Hauptverhandlung festgestellten Sachverhalts erfolgen. Der Satz "in dubio pro reo" behält seine Gültigkeit unabhängig davon, ob die Möglichkeit besteht, das Verfahren später zuungunsten des Freigesprochenen noch einmal aufnehmen zu können.

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Engisch, in: Eckert, Bericht, ZStW 1972, 949.

Zweiter Teil

Art. 397 StG B und seine Bedeutung für das Wiederaufnahmerecht 1. Das Verhältnis des Art. 397 StGB zum kantonalen Remt Wenn der zweite Teil der Arbeit mit einer Untersuchung des Art. 397 StGB begonnen wird und nicht sofort die speziellen Bestimmungen über das Rechtsmittel der Wiederaufnahme in den einzelnen Strafprozeßordnungen untersucht werden, so hat dies seinen Grund in der besonderen Bedeutung, die Art. 397 StGB für das Recht der Wiederaufnahme in der Schweiz hat. Obwohl nach seinem Wortlaut1 nur eine Anweisung an die Kantone, die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten propter nova zuzulassen, ist er auf Grund seiner Stellung im Strafgesetzbuch und der Interpretation, welche er in der Rechtsprechung des Bundesgerichts erfahren hat, eine zentrale Bestimmung des schweizerischen Wiederaufnahmerechtes. Dank der hervorragenden Arbeiten von Clerc2 und Maunoir3 sind heute die meisten Fragen, welche mit Art. 397 StGB zusammenhängen, weitgehend geklärt, so daß es im folgenden im wesentlichen darum gehen wird, die Querverbindungen und den Einfluß von Art. 397 StGB auf das kantonale Recht aufzuzeigen und auf Einzelfragen nur insoweit eingegangen wird, als eine neue Lösung vorgeschlagen wird bzw. soweit es zu ihrem Verständnis erforderlich erscheint. 1.1 Das ..SdJ.einproblem der Verfassungsmllßigkelt" von Art. 397 StGB Der Einfluß von Art. 397 StGB auf das Rechtsmittel der Wiederaufnahme resultiert in erster Linie aus seiner Stellung im StGB. Damit wurde die Voraussetzung geschaffen, daß das Bundesgericht die An1 Art.397 StGB lautet: Die Kantone haben gegenüber Urteilen, die auf Grund dieses oder eines anderen Bundesgesetzes ergangen sind, wegen erheblicher Tatsachen oder Beweismittel, die dem Gericht zur Zeit des früheren Verfahrens nicht bekannt waren, die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten zu gestatten. 2 F. Clerc, Des conditions de fond, Recueil de travaux, S. 37 ff.; De quelques problemes, ZStrR 61 (1946), 229 ff. 3 Y. Maunoir, La revision penale, S. 123 ff.

1. Das Verhältnis des Art. 397 StGB zum kantonalen Recht

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wendung dieser Vorschrift durch die kantonalen Gerichte überprüfen kann, da ihre Verletzung mit der Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des Bundesgerichts gemäß Art. 268 ff. BStrP gerügt werden kann. Um dem Bundesgericht diese Möglichkeit zu verschaffen, nahm der Gesetzgeber in Kauf, mit der Einführung des Art. 397 StGB möglicherweise in die verfassungsmäßigen Rechte der Kantone eingegrüfen zu haben. Da nach Art. 64 bis BV die Organisation der Gerichte, das gerichtliche Verfahren und die Rechtsprechung zur Gesetzgebungskompetenz der Kantone gehören, bedurfte es einer besonderen Begründung dafür, daß der Bundesgesetzgeber auf diesem Gebiet tätig geworden ist. Die Gründe, welche sich in den Verhandlungsprotokollen der an der Gesetzgebung beteiligten Kommissionen und Räte finden4 , lassen sich nicht auf einen einheitlichen Nenner bringen. War zuerst die beabsichtigte Einschränkung des Gnadenrechts Anlaß für die Schaffung des Art. 397 (im Entwurf 421), so wurden, nachdem diese Einschränkung wieder fallen gelassen worden war, mehr allgemeine Gründe vorgebracht, wie: diese Bestimmung sei "evidemment necessaire"5, bzw.: "sie sei unentbehrlich für eine einheitliche Anwendung des schweizerischen Strafrechts"6. Maunoir 7 hat diesen Gründen einen weiteren hinzugefügt, welcher sich zwar kaum aus den Materialien herauslesen läßt, der aber dennoch Beachtung verdient. Es sind die gleichen überlegungen, welche mich oben dazu bewogen haben, dem Rechtsmittel der Wiederaufnahme eine größere Bedeutung einzuräumen als anderen Rechtsmitteln, da es weit über die eigentliche Funktion eines Rechtsmittels hinausgreift und die Frage nach dem Verhältnis von materieller Gerechtigkeit und Rechtskraft stellt, die auch für Maunoir den Ausschlag gegeben haben, die Aufnahme des Art. 397 in das Schweizer StGB zu befürworten. All diese Gründe sagen jedoch letzten Endes wenig über die Verfassungsmäßigkeit des Art. 397 aus, da dieses Problem in der Schweiz in dieser Form nicht relevant wird8 • Nach Art. 113 BV sind die von der Bundesversammlung erlassenen Gesetze für das Bundesgericht maßgebend, d. h. das Gericht hat keine Prüfungs- bzw. Verwerfungskompetenz bezüglich der von ihm anzuwendenden Normen, so daß ein Streit über die Vereinbarkeit von Art. 397 StGB mit Art. 64 bis BV rein akademischer Natur bleibt9 • 4 Vgl. insbesondere F. Clerc, Des conditions de fond, Reeueil de travaux, S. 40 f.; H. F. Pfenninger, Probleme, S. 316 ff. S BuH. steno Conseil national, 5. März 1930, S. 99 (Logoz). 6 BuH. steno Conseil des Etats, 22. Dezember 1931, S. 754 (Baumann). 7 Y. Maunoir, La revision penale, S. 124 f. 8 F. Clerc, Des eonditions de fond, Reeueil de travaux, S.41. 9 Dies hat Clerc (Reeueil de travaux, S. 41) dazu veranlaßt, die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit als "überflüssig" zu bezeichnen. Die von den Berichterstattern genannten Gründe sind m. E. nicht geeignet,

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H. Teil: Art. 397 StGB u. seine Bedeutung f. d. Wiederaufnahmerecht 1.2 Art. 397 StGB als bundesrechtllcher Wiederaufnahmegrund

Nicht ohne praktische Auswirkung ist dagegen die Kontroverse über die Interpretation des Art. 397 StGB: Ist er lediglich als eine Weisung an die Kantone aufzufassen, wie es nach seinem Wortlaut naheliegt und wie insbesondere CIerc lO und Müller ll ihn verstanden wissen wollen, oder ist er ein bundesrechtlicher Wiederaufnahmegrund, eine Auffassung, welche das Bundesgericht12 und Pfenninger 13 vertreten14 ? Relevant wird diese Frage insbesondere dann, wenn gegen eine Entscheidung, durch welche die Wiederaufnahme zugelassen oder abgelehnt worden ist, ein Rechtsmittel ergriffen wirdl5 • Dadurch, daß die Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des Bundesgerichts nach Art. 268 ff. BStrP nur wegen Verletzung eidgenössischen Rechts zulässig ist, während für die Verletzung kantonalen Rechts die kantonale Nichtigkeitsbeschwerde Platz greift, könnte die Auffassung von Clerc und Müller zur Folge haben, daß Entscheidungen, durch welche ein Wiederaufnahmegesuch wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel abgelehnt wird, dann nicht der Kontrolle des Bundesgerichts unterliegen, wenn das kantonale Recht ebenfalls diesen Wiederaufnahmegrund vorsieht und der Gesuchsteller sein Wiederaufnahmebegehren auf ihn gestützt hat. Clerc vertritt in seinem bereits zitierten Aufsatz (S.48) die Auffassung, daß diese Konsequenz nicht zwingend sei, da mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde nach Art. 268 ff. BStrP auch eine indirekte. mittelbare Verletzung von Bundesrecht gerügt werden kann, so daß der Kassationshof auch nach dieser Auffassung die Einheit der Rechtsprechung auf diesem Gebiet gewährleisten kann. Trotzdem würden die Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Art.397 StGB zu beseitigen. So läßt sich die Unentbehrlichkeit für eine einheitliche Anwendung des Strafrechts für andere Verfahrensvorschriften wesentlich leichter begründen, ohne daß sie jedoch in das StGB aufgenommen worden wären. Die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit ist vielmehr eine Umschreibung der Frage nach der Zweckmäßigkeit und der Realisierbarkeit der Kompetenztrennung für die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Strafrechts und des Strafprozeßrechts nach Art. 64 bis BV (vgl. dazu H. F. Pfenninger, Eidgenössisches Strafrecht und kantonales Strafprozeßrecht, SJZ 51 [1955] 197 ff.). So verstanden kommt ihr eine erhebliche praktische Bedeutung zu, welche jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht erörtert werden kann. 10 F. Clerc, Des conditions de fond, Reeueil de travaux, S. 44 ff. 11 O. Milller, Revisio propter nova, ZStrR 61 (1946), 40. 12 BGE 69 IV 137: "Dieser (der Wortlaut) verleitet zur Meinung, daß die Bestimmung lediglich eine Weisung an die Kantone zur Aufstellung eines kantonalrechtlichen Revisionsgrundes enthalte. Allein das ist nicht ihr Sinn; die Bestimmung stellt einen bundesrechtlichen Revisionsgrund auf." 13 H. F. Pfenninger, Probleme, S.324. 14 In diesem Sinne auch Y. Maunoir, La revision penale, S. 155; E. Hafter, Besprechung, ZStrR 1947 (62), 111. 15 Zur Frage der Rechtsmittel gegen Wiederaufnahmeentscheidungen siehe unten HI. Teil, 6.

1.

Das Verhältnis des Art. 397 StGB zum kantonalen Recht

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sich m. E. aus der Auffassung von eIerc Schwierigkeiten ergeben, die ihre Ursache in der Aufteilung der Rechtsmittel zwischen Bund und Kantonen haben. Interpretiert man den Art. 397 StGB als eine Anweisung an die Kantone, einen Wiederaufnahmegrund propter nova zu schaffen, so kann ein Wiederaufnahmegesuch im Falle des Vorhandenseins nur auf die kantonalrechtliche Vorschrift gestützt werden. Wird diese Vorschrift des kantonalen Rechts vom Gericht falsch ausgelegt, so wären zwei Möglichkeiten denkbar. Entweder hat das Gericht gleichzeitig gegen die Grundprinzipien des Art. 397 StGB verstoßen, (in diesem Falle wäre die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde wegen mittelbarer Verletzung eidgenössischen Rechts zulässig) oder Art. 397 StGB wurde durch die falsche Auslegung nicht tangiert, sondern nur die kantonale Bestimmung (dann wäre nur die kantonale Nichtigkeitsbeschwerde zulässig). Will man diese Schwierigkeiten, welche eine solche Differenzierung mit sich bringt, vermeiden, so geht das nur auf die Art, welche das Bundesgericht vertritt, indem man in Art. 397 StGB einen selbständigen Wiederaufnahmegrund sieht. Diese Interpretation gegen den Wortlaut ist, wie Maunoir 16 schreibt, in diesem Fall zulässig. Da sich der Gesetzgeber dieser Konsequenzen nicht bewußt war, mußte die Rechtsprechung eine Lösung finden, welche den Willen des Gesetzgebers verwirklicht, dabei jedoch die Schwierigkeiten beseitigt, welche sich auf Grund der mißglückten Formulierung des Gesetzes in der Praxis ergeben. Somit sind zwar beide Auffassungen vertretbar, die Auffassung des Bundesgerichts hat jedoch den Vorteil der größeren Klarheit und bewirkt eine leichtere Anwendbarkeit des Art. 397 StGB. Für das Verhältnis zwischen Art.397 StGB und den Wiederaufnahmegründen des kantonalen Rechts folgt aus dieser Auffassung, daß Art. 397 StGB gleichermaßen ein zusätzlicher Wiederaufnahmegrund ist, auf den sich ein Wiederaufnahmegesuch stützen kann. Dadurch ist es nicht erforderlich, daß der kantonalrechtliche Wiederaufnahmegrund, soweit er mit Art. 397 StGB nicht übereinstimmt, ergänzt oder geändert wird. Ein Wiederaufnahmegesuch, welches neue Tatsachen oder Beweismittel geltend macht, wird vom Gericht sowohl nach den Vor.;. schriften des kantonalen Rechts (sofern dieser Wiederaufnahme grund in ihm enthalten ist), wie auch nach Art. 397 StGB geprüft werden müssenl7 • Stimmen beide Vorschriften überein, so besteht für die kantonale keine Notwendigkeit, da ihre Verletzung nur über Art.397 StGB gerügt werden kann18 • Stellt die kantonale Bestimmung, mit welcher die Wiederaufnahme propter nova zugelassen wird, strengere Anforderungen an den Gesuchsteller als sie Art.397 StGB vorsieht, so verliert sie 18 17 18

Y. Maunoir, La revision penale, S. 155. In diesem Sinn auch Y. Maunoir, La revision penale, S.159. Vgl. ZR 1953 Nr.123, S.211; im einzelnen siehe hierzu unten IH. Teil, 1.1.

46

H. Teil: Art. 397 StGB u. seine Bedeutung f. d. Wiederaufnahmerecht

ebenfalls ihre Wirkung, da das Wiederaufnahmegesuch immer noch auf Grund des Art. 397 StGB geprüft werden muß. Lediglich in den Fällen, in denen die kantonale Bestimmung die Wiederaufnahme des Verfahrens unter leichteren oder teilweise leichteren Voraussetzungen ermöglicht als Art. 397 StGB, behält sie ihre Bedeutung19 • 2. Analyse des Art. 397 StGß Folgt man der Interpretation des Bundesgerichts, wonach Art. 397 StGB ein bundesrechtlicher Wiederaufnahmegrund ist, welcher - wie oben gezeigt wurde - teilweise die kantonalrechtlichen Wiederaufnahmegründe verdrängt, teilweise zu ihnen hinzukommt, so scheint es mir gerechtfertigt, von der Untersuchung der kantonalrechtlichen Wiederaufnahmegründe eine Analyse des Art. 397 StGB vorzunehmen. Die genaue Kenntnis des Art. 397 StGB ist erforderlich, um zu sehen, inwieweit die Wiederaufnahmegründe der kantonalen Strafprozeßordnungen auch Gültigkeit besitzen bzw. durch Art. 397 StGB überflüssig geworden sind. Zwei Fragenkomplexe interessieren in diesem Zusammenhang besonders: Einmal die Frage, gegen welche Entscheidung Art. 397 StGB die Wiederaufnahme zuläßt (2.1), zum anderen, was unter "erheblichen Tatsachen oder Beweismitteln, die dem Gericht zur Zeit des früheren Verfahrens nicht bekannt waren" zu verstehen ist (2.2)20. 2.1 Wiederaufnahmefäbige Entscheidungen

Obwohl Art. 397 einen bundesrechtlichen Revisionsgrund aufstellt, ist er nur auf Urteile kantonaler Gerichte anwendbar. Die Wiederaufnahme von Urteilen in Bundesstrafsachen, welche in erster Instanz durch das Bundesgericht beurteilt werden, wird ausschließlich durch die Art. 229 ff. BStrP geregelt. Die Erklärung hierfür ist, daß der Bundesgesetzgeber durch Art. 397 StGB eine Minimalvorschrift schaffen wollte, welche von den Kantonen bei der "im übrigen ihnen obliegenden Ordnung dieses Rechtsmittels als Minimum zu berücksichtigen sein würde"21. Des weiteren ist erforderlich, daß das Urteil auf Grund eines Bundesgesetzes ergangen ist, wobei es keine Rolle spielt, woher die Kompe19

Y. Maunoir, La revision plmale, S.

1~9.

20 Da diese Fragen sowohl von F. Clerc, Des eonditions de fond, Reeueil

de travaux, S. 51 ff. und S. 66 ff., sowie von Y. Maunoir, La revision p€male, S. 149 ff. und 126 ff. eine sehr sorgfältige und im wesentlichen übereinstimmende Erörterung erfahren haben, beschränke ich mich hier auf eine Zusammenfassung, soweit ich nicht von ihrer Meinung abweichen will. !1 BGE 69 IV 137.

2. Analyse des Art. 397 StGB

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tenz der kantonalen Behörde kommt (z. B. Art. 343 StGB, Art. 344 StGB oder Art. 18 BStrP)22. Für den Fall, daß ein Urteil gleichzeitig Bundesrecht wie auch kantonales Recht anwendet, soll, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts23 , die Anwendbarkeit von Art. 397 StGB davon abhängen, ob der Irrtum den Teil der Entscheidung, welcher das bundesrechtliche Vergehen betrifft, verfälscht hat oder den anderen, das kantonale Vergehen betreffenden24 • Wenn auch in Art. 397 StGB die Rede von einem früheren Verfahren ist, so sagt diese Vorschrift nichts darüber aus, ob dieses frühere Verfahren durch ein "rechtskräftiges" Urteil beendet worden sein muß. Daraus folgt, daß es in die Kompetenz der Kantone fällt, den Zeitpunkt zu bestimmen, in welchem die Wiederaufnahme des Verfahrens, gestützt auf Art. 397 StGB, begehrt werden kann25 • Da Art. 397 StGB ein Wiederaufnahmegrund zugunsten des Verurteilten ist, muß es sich bei dem angegriffenen Urteil um eine "Verurteilung" handeln26 • Eine Verurteilung ist immer dann gegeben, wenn im Urteil eine Strafe ausgesprochen wird. Dabei unterscheidet das Gesetz nicht nach der Art oder der Höhe der Strafe, so daß die Wiederaufnahme des Verfahrens auch in übertretungsstrafsachen zulässig ist27 • Nach Art. 397 StGB kommt es also nicht darauf an, ob ein auf Bundesrecht beruhendes Straferkenntnis nach kantonalem Strafprozeßrecht ein Urteil darstellt oder nicht. Die Wiederaufnahme des Verfahrens ist deshalb auch zulässig gegenüber Strafbefehlen und Strafverfügungen, die meistens in der Form des Beschlusses zu erlassen sind28 • Dabei spielt es auch keine Rolle, ob die Strafverfügung von einer Verwaltungsbehörde oder von einem Gericht erlassen wurde29. Ebenfalls wiederaufnahmefähig sind Entscheidungen, in denen ein Rehabilitationsgesuch, die Löschung eines Strafregistereintrages, der Widerruf des bedingten Strafvollzuges sowie die Umwandlung einer Buße in Haft infolge eines Tatsachenirrtums abgewiesen bzw. angeordnet wurden30 • In diesen Fällen spricht das Gericht oder die entscheiY. Maunoir, La revision penale, S. 149. Zitiert bei Y. Maunoir, S. 150. 24 Vgl. hierzu F. eIere, Des eonditions de fond, Reeueil de travaux, S. 59 ff. 25 Vgl. hierzu oben S.24 und F. eIere, Des eonditions de fond, Reeueil de travaux, S.52; betreffend die Wiederaufnahme gegen Kontumazialurteile s. unten II!. Teil, 1.121. 26 F. eIere, SJK 955 (Art. 397 StGB) Rdnr. 13. 27 Dies zu gewährleisten, war mit einer der Gründe, welcher in den Beratungen für die Aufnahme von Art.397 in das Strafgesetzbuch geltend gemacht wurde. 28 Rechtspr. in Strafsachen 1962 Nr. 40. 29 SJZ 65 (1969), 296; 60 (1964), 326 f. 30 F. eIere, SJK 955 (Art. 397 StGB) Rdnr.10, 13; ders., Des eonditions de fond, Reeueil de travaux, S. 65. 22

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II. Teil: Art. 397 StGB u. seine Bedeutung f. d Wiederaufnahmerecht

dende Behörde zwar keine Strafe aus, im Ergebnis wird jedoch die Stellung des Betroffenen verschlechtert. Gleich verhält es sich dann, wenn im Urteil auf eine Maßnahme erkannt wird (Art. 42 ff. StGB), wobei es keinen Unterschied machen darf, ob die Maßnahme an die Stelle einer an sich verwirkten Strafe tritt, oder ob sie wegen Schuldunfähigkeit des Täters ausgesprochen wurde. Beidesmal wird der Betroffene durch das Urteil beschwert, so daß sich die Zulassung der Wiederaufnahme des Verfahrens rechtfertigt, wenn sich herausstellt, daß die Maßnahme auf Grund unzureichender oder falscher tatsächlicher Annahmen ausgesprochen wurde. In diesem Zusammenhang ist ein Blick ins deutsche Recht von Interesse: Nach § 359 Ziff.5 dStPO ist die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten zulässig, "wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die ... eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Sicherung und Besserung zu begründen geeignet sind". Inwieweit das oben Ausgeführte auch auf einen Schuldspruch ohne Strafausspruch, auf einen Freispruch wegen Unzurechnungsfähigkeit sowie auf einen Freispruch mangels Beweises zutrifft, ist sehr zweifelhaft. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um ein spezielles Problem des Wiederaufnahmerechtes, es geht dabei allgemein um die Zulässigkeit von Rechtsmitteln zugunsten eines derart Verurteilten bzw. Freigesprochenen. Was den Schuldspruch ohne Strafausspruch betrifft, war in der schweizerischen Rechtsprechung lange Zeit die Meinung herrschend, daß gegen ihn kein Rechtsmittel zulässig sei. Begründet wurde dies damit, daß der Schuldspruch keine selbständige Bedeutung habe, sondern lediglich Begründung für die im Urteilsspruch ausgesprochenen Rechtsfolgen sei31 • Diese Rechtsprechung wurde in der Literatur vor allem durch Waiblinger3 2 heftig kritisiert. Das Bundesgericht hat daraufhin33 die Zulässigkeit eines Rechtsmittels (im konkreten Fall war es die eidg. Nichtigkeitsbeschwerde an den Kassationshof des Bundesgerichts) bejaht. Dabei setzt sich das Bundesgericht mit der Frage auseinander, ob der Betroffene durch die angefochtene Entscheidung beschwert ist und somit ein rechtliches Interesse an ihrer Aufhebung oder Abänderung hat. Unter Hinweis auf die Tragweite des Schuldspruches, der feststellt, daß der Angeschuldigte eine strafbare Handlung begangen hat, sowie darauf, daß dieser Vorwurf nicht nur den Ruf des Angeschuldigten schädigen, sondern auch rechtliche Nachteile nach sich ziehen und BGE 70 IV 50; 73 IV 262; 79 IV 89; 80 IV 276; 81 IV 76; 91 IV 172. M. Waiblinger, Der rechtliche Charakter und die Bedeutung der Schuldigerklärung im Strafprozeß, in: Strafprozeß und Rechtsstaat, Festschrift für H. F. Pfenninger, Zürich 1956, S. 157 ff. (S. 160 f.) mit weiteren Nachweisen. 33 BGE 96 IV 64. 31

32

2. Analyse des Art. 397 StGB

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für den Betroffenen ebenso belastend wirken kann wie eine Bestrafung, wurde ein rechtlich schützenswertes Interesse anerkannt34 • Ob man mit der gleichen Begründung auch auf die Zulässigkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens in diesem Fall schließen kann, erscheint deshalb fraglich, da der mit ihr verfolgte Zweck neben der Berichtigung eines materiell-unrichtigen Urteils gleichzeitig eine erhebliche Milderung der Strafe sein muß, eine solche jedoch gerade fehlt. Anerkennt man jedoch, wie es jetzt auch das Bundesgericht getan hat, daß der strafprozessuale Schuldspruch auch eine selbständige materiellstrafrechtliche Bedeutung hat, und von der Straffolge völlig unabhängige rechtliche Nachteile nach sich ziehen kann, so fällt es einem schwer, die Wiederaufnahme des Verfahrens in diesen Fällen nur deshalb nicht zuzulassen, da eine "Strafmilderung" ohnehin nicht in Betracht kommt. Gleichzeitig hätte dies zur Folge, daß die allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzung der Rechtsmittel, die Beschwer durch das Urteil, unterschiedlich definiert würde, je nachdem ob das Urteil mit der Nichtigkeitsbeschwerde angegriffen wird, oder ob die Wiederaufnahme des Verfahrens verlangt wird. Aus diesen Gründen ist m. E. in diesen Fällen die Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig, wobei jedoch die Forderung zu stellen ist, daß die Nova geeignet sein müssen, einen Freispruch herbeizuführen. Daß ein Rechtsmittel auch gegen Freispruch wegen Mangels an Beweisen oder wegen Schuldunfähigkeit des Täters zulässig sein soll, ist eine in Deutschland besonders von Henrichs 35 vorgetragene Forderung. Obwohl viele der von ihm angeführten Argumente die Berechtigung seiner Forderung zeigen, sollte man m. E. eine Wiederaufnahme des Verfahrens in diesen Fällen nicht zulassen. Bei diesem Rechtsmittel muß berücksichtigt werden, daß seine Zulassung immer die Rechtssicherheit tangiert. Aus diesem Grunde gilt es, zwischen den Prinzipien der materiellen Gerechtigkeit auf der einen Seite und der Rechtssicherheit auf der anderen abzuwägen. Bei einem Freispruch mangels Beweises anstatt wegen erwiesener Unschuld wird die Gerechtigkeit jedoch nicht in dem Maße eingeschränkt, daß es sich dafür rechtfertigen würde, die Rechtskraft solcher Freisprüche zur Disposition des Freigesprochenen zu stellen. In diesem Sinn sind wohl auch Art. 512 Ziff. 2, 513 Ziff. 2 der italienischen Strafprozeßordnung36 zu verstehen, wonach gegen einen Freispruch mangels Beweises die Berufung (appello) zulässig ist, die Wiederaufnahme des Verfahrens jedoch ausdrücklich für unzulässig erklärt wird. BGE 96 IV 64 (67 f.). W. Henrichs, Freispruch und Menschenwürde, l\IDR 1956, 196 ff. (197). 36 Codice di procedura penale, Königliches Dekret vom 19. Oktober 1930, Nr.1399. 34

35

4 Edtert

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H. Teil: Art. 397 StGB u. seine Bedeutung f. d. Wiederaufnahmerecht

Daß Art. 397 StGB auf eine Verurteilung zu den Kosten keine Anwendung findet, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. In diesen Fällen fehlt es an der Anwendung von Bundesrecht, welches eine der Voraussetzungen für Art. 397 StGB ist37 • Inwieweit Art. 397 StGB auch auf Kontumazialurteile anwendbar ist, läßt sich unmittelbar aus seinem Wortlaut nicht entnehmen. Zwar handelt es sich auch bei Kontumazialurteilen um Entscheidungen, welche "auf Grund eines Bundesgesetzes ergangen sind", so daß einer Anwendung des Art. 397 StGB bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen nichts im Wege stünde, doch muß man dabei auch den Charakter des Rechtsmittels der Wiederaufnahme berücksichtigen. Ihre Aufgabe ist es in erster Linie, einen Ausgleich zwischen den Wirkungen der materiellen Rechtskraft und der Gerechtigkeit zu bewirken, so daß sie erst dann ihre Berechtigung hat, wenn ein materiell-rechtskräftiges Urteil vorliegt, welches mit der materiellen Gerechtigkeit in Widerspruch steht. Aus diesem Grunde muß die Zulässigkeit der Wiederaufnahme von Kontumazialurteilen davon abhängig gemacht werden, daß sie nicht mehr durch ein anderes Rechtsmittel in tatsächlicher Hinsicht abgeändert werden können38 • In diesem Fall unterliegen sie Art. 397 StGB. Inwieweit die Möglichkeit eines anderen Rechtsmittels vorhanden ist, ist jedoch eine Frage, welche das kantonale Recht betrifft; bei der Untersuchung, gegen welche Urteile das kantonale Recht die Wiederaufnahme zuläßt, wird darauf zurückzukommen sein31 • 2.2 Auslegung des Art. 397 StGB

Die Kantone haben gern. Art. 397 StGB wegen "erheblicher Tatsachen oder Beweismittel, die dem Gericht zur Zeit des früheren Verfahrens nicht bekannt waren", die Wiederaufnahme zu gestatten. Im folgenden gilt es also zu untersuchen, was unter Tatsachen und Beweismitteln zu verstehen ist, unter welchen Voraussetzungen sie erheblich sind und wonach sich schließlich ihre Neuheit bestimmt.

2.21 Tatsachen Was in Art. 397 StGB unter Tatsachen verstanden wird, war in der Literatur zeitweise umstritten. Insbesondere Clerc40 vertrat die Ansicht, daß zu unterscheiden sei, ob: "l'information du juge se revele incom37 F. Clerc, Des eonditions de fond, Reeueil de travaux, S. 61; Y. Maunoir, La revision penale, S. 153. 38 F. Clerc, Reeueil de travaux, S. 53 f. 31 s. unten S. 70. 40 F. Clerc, Des eonditions de fond, Reeueil de travaux, S. 67 ff.

2. Analyse des Art. 397 StGB

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plE~te, ou l'information appara~t fausse 4!." Unter Tatsachen und Beweismittel seien nur die zu rechnen, welche geeignet sind, die Unvollständigkeit der Urteils grundlage zu zeigen, nicht jedoch, wenn durch eine strafbare Handlung das Urteil beeinflußt wurde, zwei einander widersprechende Urteile gefällt wurden oder der Verurteilte unter einem falschen Namen (etat civil) verurteilt wurde. Die überwiegende Lehreu ist Clerc bei dieser Unterscheidung nicht gefolgt, und auch Clerc hat sich später von dieser Auffassung distanziert4!. Danach ist unter Tatsache jeder Umstand zu verstehen, der geeignet ist, den vom Richter seinem Entscheid zugrunde gelegten Sachverhalt zu verändern, d. h. der im Rahmen des dem Urteil zugrunde gelegten Sachverhaltes von Belang sein kann. Selbstverständlich ist auch bei dieser weiten Auslegung des Begriffes Tatsachen daran festzuhalten, daß damit nur ein Umstand gemeint sein kann, der objektiv, also von jedermann gleicherweise wahrgenommen werden kann. Bei dieser Definition des Begriffes "Tatsache" kann nicht verlangt werden, daß ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Tatsache und dem Sachverhalt, wie er dem ersten Prozeß zugrunde lag, bestehen muß44. So kann auch eine wissenschaftliche Entdeckung eine "Tatsache" sein, wenn sie geeignet ist, die Methode eines Gutachtens, welches im ersten Verfahren erstattet wurde, als ungenau oder falsch zu erweisen45 •

2.22 Beweismittel Neben den neuen Tatsachen können auch Beweismittel als Wiederaufnahmegrund angeführt werden. Wenn auch ein Beweismittel allein nie geeignet sein wird, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu erlangen, da es sich immer auf eine Tatsache beziehen muß46, so findet die Unterscheidung in Tatsachen oder Beweismittel ihre Berechtigung jedoch darin, daß durch neue Beweise Tatsachen, welche bereits im ersten Verfahren behauptet, jedoch vom Gericht als unglaubwürdig verworfen wurden, nachgewiesen werden können. Nach Art. 249 BStrP soll die entscheidende Behörde die Beweise frei würdigen und ist nicht an gesetzliche Beweisregeln gebunden, woraus folgt, daß alle Beweismittel, auch wenn sie dem kantonalen Recht unbekannt sind, gleichermaßen zulässig sind47 • F. Clerc, Des eonditions de fond, S. 70. E. Hafter, ZStrR 1947 (62), 113; H. F. Pfenninger, Probleme, S.326; Y. Maunoir, La revision p{male, S. 132. 43 F. Clere, SJK 955 (Art.397 StGB) Rdnr.48. 44 So aber F. Clerc, Des eonditions de fond, Reeuen de travaux, S.78. 45 Y. Maunoir, La revision penale, S. 133. 46 a. A. F. Clerc, Des eonditions de fond, Reeuen de travaux, S.72; wie hier Y. Maunoir, La revision penale, S.136. 47 F. Clerc, Des eonditions de fond, Reeuen de travaux, S.75. 41

42

4'

11. Teil: Art. 397 StGB u. seine Bedeutung f. d. Wiederaufnahmerecht

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2.23 Erheblichkeit Die Tatsachen oder Beweismittel müssen erheblich sein48 • Wann dies der Fall ist, sowie unter welchen Voraussetzungen es sich um "neue" Tatsachen oder Beweismittel handelt (dazu unten 2.24), gehört mit zu den umstrittensten Fragen des Wiederaufnahmerechtes. Zur Frage der Erheblichkeit hat das Bundesgericht in mehreren Entscheidungen49 Stellung genommen. Danach sind Tatsachen oder Beweismittel dann erheblich, "wenn sie geeignet sind, die der Verurteilung zugrunde liegenden Feststellungen so zu erschüttern, daß auf Grund des veränderten Sachverhaltes ein wesentlich milderes Urteil möglich ist"50. In BGE 69 IV 134 (139 f.) wird die Auffassung des Bundesgerichtes zur Frage der Erheblichkeit noch deutlicher. Dort wird ausdrücklich festgestellt, daß die Nova nicht die Freisprechung oder zumindest die Anwendung eines milderen Strafgesetzes herbeizuführen geeignet sein müssen, sondern daß es genügt, wenn sie ein milderes Urteil, sei es auch auf Grund der gleichen Strafbestimmung, herbeiführen können. Damit findet die oben51 vertretene Forderung, daß nicht auf das zur Anwendung kommende Strafgesetz abgestellt werden darf, sondern daß es auf die konkrete Möglichkeit einer Strafmilderung ankommt, ihre Bestätigung. Leider schränkt das Bundesgericht diese liberale Interpretation dann sofort wieder dadurch ein, daß es verlangt, "die mögliche Abänderung des Urteils infolge der neuen Tatsache muß jedoch eine bedeutende sein" (a. a. O. S. 141). Neue Tatsachen sind somit nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes nur dann erheblich, wenn sie eine bedeutende Änderung bzw., da es um die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten geht, eine bedeutende Milderung des angefochtenen Urteils ermöglichen. Als Begründung für seine Forderung führt das Bundesgericht weiter aus: "dies liegt im Begriff der Erheblichkeit der Tatsache und folgt zudem aus der Notwendigkeit verständiger Beschränkung des Rechtsmittels gegen rechtskräftige Verurteilung, die um ihrer formalen Geltung willen nur aus schwerwiegenden Gründen in Frage gestellt werden darf, und das fordert schließlich auch die Ökonomie des Verfahrens, zumal die Wiederaufnahme andererseits dadurch erleichtert ist, daß die Tatsache nicht neu entdeckt zu sein braucht52• " In dieser Begründung lassen sich unschwer Anklänge an die Forderung nach "Harmonisierung der Mittel" finden. Durch das Erfordernis der Erheblichkeit bzw. der bedeutenden Milderung wird die WiederVgl. hierzu oben I. Teil, 3.21. BGE 69 IV 134; BGE 72 IV 45; BGE 76 IV 34; BGE 81 IV 42; 82 IV 184: 86 IV 78; 92 IV 177. 50 So BGE 92 IV 177 (179) unter Hinweis auf die ältere Judikatur. 51 s. I. Teil, 3.21. 112 BGE 69 IV 141. 48

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2. Analyse des Art. 397 StGB

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aufnahme des Verfahrens auf die Fälle beschränkt, in denen die Diskrepanz zwischen gefälltem Urteil und materiell-gerechtem Urteil eine gewisse Größe hat. Gleichwohl bestehen Bedenken, die sich weniger gegen das Ergebnis richten als vielmehr gegen die Begründung. Schon Boner53 kritisiert, daß mit der Argumentation des Bundesgerichts die Zulässigkeit bzw. die Begründetheit der Wiederaufnahme in weitem Umfang dem Ermessen des Richters anheimgestellt ist. M. E. ließe sich die vom Bundesgericht geforderte "verständige Beschränkung des Rechtsmittels" besser dadurch erreichen, daß man das Ermessen des Richters auf die Strafzumessung beschränkt. Konkret bedeutet dies folgendes: Eine neue Tatsache oder ein Beweismittel sind immer dann erheblich, wenn der Richter bei ihrer Kenntnis die im ersten Urteil ausgesprochene Strafe für unangemessen hält. Damit wird eine Beschränkung des Rechtsmittels erreicht, da eine im ersten Urteil ausgesprochene Strafe im Verhältnis zu einer nur unbedeutenden reduzierten Strafe immer noch angemessen ist. In diesem Sinn wurde vom Bundesgericht in einem Fall entschieden54 , in welchem der Gesuchsteller im Wiederaufnahmeverfahren eine um 50 % verminderte Zurechnungsfähigkeit anstatt der im ersten Verfahren angenommenen 30 % geltend machte. Vom Bundesgericht wird das die Wiederaufnahme ablehnende Urteil aufrechterhalten, da die Strafe auch unter der Annahme einer um 50 0/0 verminderten Zurechnungsfähigkeit noch angemessen sei. Kommt das Gericht jedoch zu dem Ergebnis, daß eine Änderung des Urteils in Frage kommt, so darf die Beurteilung, ob es sich dabei um eine bedeutende oder unbedeutende handelt, nicht über das Schicksal des Wiederaufnahmegesuches entscheiden. Einmal lassen sich keine Kriterien finden, wann eine Änderung bedeutend ist und wann nicht, darüber hinaus wird dadurch die unterschiedliche Strafempfindlichkeit des Betroffenen nicht berücksichtigt. 2.24 Neuheit

Daß die Tatsache oder das Beweismittel nur für das Gericht, welches das mit dem Verdacht des Irrtums behaftete Urteil fällte, neu sein muß und nicht auch für den Gesuchsteller, wurde von Clerc55 überzeugend begründet und auch vom Bundesgericht56 nie in Frage gestellt. Die Gefahr, daß der Gesuchsteller es damit in der Hand habe, ein Wiederaufnahmeverfahren zu provozieren, obwohl er die Tatsachen- oder Beweismittel bereits im ersten Verfahren hätte vorbringen können, tritt P. Boner, Die Wiederaufnahme, S. 149 f. BGE 76 IV 34. 55 F. eIere, Des conditions de fond, Reeueil de travaux, S. 74 ff.; vgl. auch Y. Maunoir, La revision penale, S. 142 ff. 56 BGE 69 IV 134 und ständige Rechtsprechung. 53 54

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II. Teil: Art. 397 StGB u. seine Bedeutung f. d.. Wiederaufnahmerecht

zurück hinter den negativen Konsequenzen, welche sich aus der gegenteiligen Auffassung ergeben würden, wie z. B. eine Verletzung des Schweigerechts des Angeklagten, der Offizialmaxime im Strafverfahren und des Grundsatzes, daß nicht der Beschuldigte den Beweis für seine Unschuld erbringen muß, sondern es Aufgabe der Staatsanwaltschaft ist, ihm seine Schuld nachzuweisen. Wenn auch über diesen Punkt heute Einigkeit besteht, so sind insbesondere folgende drei Fragen sehr umstritten: a) Für welchen Richter muß die Tatsache oder das Beweismittel neu sein? b) Ist neu nur das, was der Richter nicht kennen konnte oder auch das, was er, trotz vorhandener Möglichkeit, nicht gekannt hat? c) Wie kann die Neuheit bewiesen werden und wer trägt die Beweislast? a) Auf die erste Frage gibt Art. 397 StGB eine Antwort, indem dort die Rede davon ist, daß die Tatsache oder das Beweismittel "dem Gericht zur Zeit des früheren Verfahrens nicht bekannt waren". Daraus folgt, daß die Unkenntnis bei allen Personen vorhanden sein muß, welche das Urteil gefällt haben, also auch bei den Beisitzern und Geschworenen57 • Kenntnis des Staatsanwaltes oder des Untersuchungsrichters hingegen schadet nicht und beläßt der Tatsache oder dem Beweismittel den Charakter der Neuheit. b) Die Problematik, welche Anforderungen an die "Neuheit" zu stellen sind, ist wesentlich schwieriger zu beantworten und soll an Hand einiger Beispiele verdeutlicht werden. Der einfachste Fall ist der, daß eine Tatsache58 dem Gericht zur Zeit des früheren Verfahrens völlig unbekannt war, wie z. B. die Unzurechnungsfähigkeit des Angeklagten. Hat das Gericht in keinem Zeitpunkt des früheren Verfahrens Zweifel bezüglich der Zurechnungsfähigkeit gehegt, so liegt hier eindeutig eine "neue" Tatsache vor. Gleiches gilt für das Beweismittel, so z. B. wenn sich erst nach rechtskräftiger Verurteilung ein Tatzeuge meldet. Wie verhält es sich jedoch in den Fällen, in denen eine Tatsache von einem Prozeßbeteiligten lediglich in Form einer Hypothese genannt wurde, ohne jedoch besonderen Wert auf sie zu legen, so daß es sehr unwahrscheinlich ist, daß sie das Urteil beeinfiußt hat? Das Bundesgericht59 und ihm folgend auch Clerc60 sind der Meinung, daß eine Tatsache dann nicht mehr neu ist, wenn sie, sei es auch bloß in Form Y. Maunoir, La revision p{male, S. 145. Selbstverständlich kann es sich dabei nur um Tatsachen handeln, die zur Zeit der Urteilsfällung bestanden haben, so daß sie, wären sie bekannt gewesen, bei der Beurteilung berücksichtigt worden wären. 59 BGE 73 IV 43; 80 IV 40. 60 F. Clerc, SJK 955 (Art. 397 StGB) Rdnr.31. (In der Karte Nr.32 [Druckfehler!]) 57

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2. Analyse des Art. 397 StGB

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irgendeiner Hypothese, im ersten Verfahren in Erwägung gezogen wurde. Demgegenüber vertritt Maunoir6 1 die Auffassung, daß dadurch die Neuheit nicht tangiert würde, dies sei nur dann der Fall, d. h. die Tatsache sei nicht mehr neu, wenn sie ausdrücklich dem Gericht vorgetragen worden sei, das Gericht sie jedoch, sei es aus Mangel an Beweisen oder weil es sie für unerheblich hielt, nicht berücksichtigt hatte. M. E. verdient die Auffassung des Bundesgerichts den Vorzug, da es in der Praxis immer so sein wird, daß eine im ersten Verfahren bloß als Hypothese vorgebrachte Tatsache im Wiederaufnahmegesuch näher substantiiert wird. Kein Verteidiger wird ein Wiederaufnahmegesuch wieder auf eine Hypothese stützen, wenn er nicht zugleich Tatsachen oder Beweismittel geltend machen kann, welche die bloß hypothetisch vorgebrachten Tatsachen als real erscheinen lassen. In diesem Moment sind es jedoch diese vom Verteidiger angerufenen Tatsachen oder Beweismittel, welche auf ihre Neuheit überprüft werden müssen, und nicht die im früheren Verfahren geltend gemachten. Nach der Ansicht von CZerc62 soll das gleiche gelten für ein im früheren Verfahren angerufenes Beweismittel, dessen Erhebung aber das Gericht abgelehnt hat. Dem kann jedoch entgegengehalten werden, "daß nur die prüfende Kenntnisnahme durch das Gericht der entscheidende Punkt ist, nicht das bloße Erscheinen des Beweismittels in t:inem Beweisantrag"63. Wenn man für die Beurteilung der Neuheit nur auf das abstellt, was dem Gericht im Zeitpunkt des früheren Verfahrens bekannt war, so spricht einiges dafür, ein Beweismittel, von dem das Gericht keine Kenntnis genommen hat, für unbekannt, also neu, zu halten. Gerade bei Zeugen kommt es in besonderem Maße auf den persönlichen Eindruck an. Dem wird man entgegenhalten können, daß damit die Würdigung, welche das erkennende Gericht dem Beweismittel gegeben hat, in Frage gestellt wird und eine bloße Änderung einer rechtlichen Würdigung niemals Wiederaufnahmegrund sein kann. Allein durch die Anerkennung eines zwar benannten, vom Gericht jedoch nicht gehörten Zeugen als "neues" Beweismittel ist noch nichts über seine Erheblichkeit ausgesagt. Damit eine Tatsache oder ein Beweismittel als Wiederaufnahmegrund akzeptiert wird, genügt es nicht, daß sie neu sind, sondern sie müssen auch geeignet sein, eine für den Verurteilten mildere Beurteilung herbeizuführen. Aus dieser Verbindung ergibt sich, wie Eh. Schmidt 64 zu Recht schreibt, die Möglichkeit, mißbräuchlichen Wiederaufnahmeanträgen entgegenzuwirken. 61 62

Y. Maunior, La revision penale, S. 146.

F. CZerc, SJK 955 (Art. 397 StGB) Rdnr.35.

63 H. v. Henting, Wiederaufnahmerecht, S. 94, vgl. dazu auch J. Meyer, Aktuelle Probleme der Wiederaufnahme, Zstw 1972, 931 f. und Eckert, Bericht, ZStW 1972, 949 ff. 84 Eb. Schmidt, Lehrkommentar II, § 359 Rdnr.22 in fine.

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H. Teil: Art. 397 StGB u. seine Bedeutung f. d. Wiederaufnahmerecht

Inwieweit ein Gutachten als neues Beweismittel angerufen werden kann, ist in Lehre und Rechtsprechung umstritten. Das Bundesgericht hat in einer grundsätzlichen Stellungsnahme zu dieser Frage entschieden, daß "nach Art. 397 gestützt auf ein neues Gutachten die Wiederaufnahme des Verfahrens dann zu bewilligen ist, wenn es in früheren Verfahren nicht bekannt gewesene Tatsachen glaubhaft macht, die den Tatbestand des beurteilten Falles so verändern, daß das neue Urteil, das der Verurteilte anstrebt, für diesen günstiger ausfallen kann"65. Kein Wiederaufnahmegrund liegt dagegen nach Ansicht des Bundesgerichts vor, "wenn das neue Gutachten lediglich als angeblich neues Beweismittel zu einer bereits in früheren Verfahren geltend gemachten erheblichen Tatsache, die der Richter nicht als bewiesen erachtet hat, angerufen wird". Gegenüber dieser Auffassung, welche nicht das neue Gutachten als erheblich ansieht, sondern nur danach fragt, ob durch dieses Gutachten "in früheren Verfahren nicht bekannte (also neue) Tatsachen glaubhaft gemacht werden", ist die Auffassung der Lehre weiter. Nach ihr ist ein neu es Gutachten zwar dann kein Wiederaufnahmegrund, wenn es nur eine verschiedene Würdigung derselben Tatsachen durch eine andere Person beinhaltet, aber es ist es dann, wenn durch das neue Gutachten nachgewiesen oder wahrscheinlich gemacht wird, daß das Gericht im ersten Verfahren geirrt hat, und daß dieser Irrtum das Urteil beeinflußt hat66 (Frage der Erheblichkeit, dazu oben 2.23). Damit kann also ein neues Gutachten durchaus als Wiederaufnahmegrund angerufen werden, wenn damit nachgewiesen werden kann, daß eine vom Richter als unbewiesen angesehene Tatsache wirklich existiert. Das Bundesgericht begründet seine ablehnende Haltung gegen die Zulassung von neuen Gutachten bzw. neuen Gutachtern als Wiederaufnahmegrund damit, daß ein Gutachter lediglich dem Richter die zur Feststellung oder zum Verständnis des Sachverhalts nötigen Fachkenntnisse vermitteln soll. Das Aufdecken von Lücken in der Fachkenntnis des Richters sei aber kein Revisionsgrund, gleichgültig, ob die Erleuchtung auf der Beziehung literarischer Werke, der Entdeckung neuer wissenschaftlicher Methoden oder der Beibringung eines neuen Gutachtens beruhe67 • Als weiteres Argument, gleichsam als ob das Gericht von seiner Begründung nicht völlig überzeugt sei, wird dann ausgeführt, daß ein neuer Gutachter kein dem Gerichte zur Zeit des früheren Verfahrens unbekannt gewesenes Beweismittel im Sinne des Art. 397 StGB sei, da der Sachrichter wisse, daß er weitere SachverBGE 76 IV 34 ff. (36 f.), bestätigt in BGE 78 IV 50 ff. (56). J. Graven, La täche et les pouvoirs de la eour de eassation; Le eentenaire de la Cour de eassation de Geneve 1848-1948, Reeueil commemoratif, Genf 1951, S.48. 67 BGE 76 IV 37. 65

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2. Analyse des Art. 397 StGB

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ständige zu Rate ziehen könne, wenn ihm ein Gutachten nicht schlüssig zu sein scheine, um ihn vom Bestand einer geltend gemachten Tatsache zu überzeugen68 • Die Auffassung des Bundesgerichtes verkennt m. E. die Funktion des Gutachters im Wiederaufnahmerecht. Da die Wiederaufnahme des Verfahrens ein auf Grund unvollständigen oder falschen Sachverhalts gefälltes Urteil korrigieren soll, kann es bei der Würdigung eines von einem neuen Gutachter erstellten Gutachtens nur um die Frage gehen, ob damit nachgewiesen oder wahrscheinlich gemacht wird, daß das Gericht im ersten Verfahren geirrt hat. Somit kann der Nachweis einer wissenschaftlichen Entdeckung, die, hätte sie der Richter im ersten Verfahren gekannt, ihn zu einer anderen Beurteilung ver anlaßt hätte, durchaus wahrscheinlich machen, wenn nicht sogar beweisen, daß im ersten Verfahren ein Irrtum unterlaufen ist. Zu dem Argument des Bundesgerichts, ein neu es Gutachten bzw. ein anderer Gutachter sei deshalb kein neues Beweismittel, da der Sachrichter wisse, daß er weitere Sachverständige zu Rate ziehen könne, gilt das gleiche, was oben allgemein zur Frage der Neuheit von Beweismitteln ausgeführt wurde: Die Neuheit eines Beweismittels wird nicht dadurch tangiert, daß es vom Richter hätte angenommen werden können, sondern beurteilt sich danach, ob es dem Richter bekannt war oder nicht, wobei es keine Rolle spielen darf, aus welchen Gründen der Richter davon keine Kenntnis genommen hat, etwa weil es ihm völlig unbekannt war, oder weil es im Rahmen der Sachverhaltsfeststellung nicht für erforderlich gehalten wurde. Das letztere ist eine Frage der Erheblichkeit, aber nicht der Neuheit. Der Gefahr, welcher das Bundesgericht durch die restriktive Zulassung von neuen Gutachtern vorbeugen will, nämlich, daß sich immer ein Gutachter finden läßt, welcher eine andere Meinung vertritt als der Erstgutachter, kann auch auf andere Weise begegnet werden. Auch nach der Auffassung von Graven ist sichergestellt, daß nicht lediglich eine andere Würdigung bereits bekannter Tatsachen als Wiederaufnahmegrund geltend gemacht werden kann. Erforderlich ist vielmehr, daß das neue Gutachten das Beweisfundament des angefochtenen Urteils erschüttert69 • In dem Moment, wo man die Eignung eines neuen Gutachtens für die Wiederaufnahme davon abhängig macht, daß damit zugleich eine neue, dem urteilenden Gericht unbekannt gewesene Tatsache wahrscheinlich gemacht wird, kommt es in Wirklichkeit eben nicht mehr auf das Beweismittel an, sondern auf die neue Tatsache, und das Gutachten bzw. der Gutachter dient nur der Glaubhaftmachung. Damit wird jedoch vom Bundesgericht die Unterscheidung in Tatsachen oder Beweismittel, wie sie Art. 397 StGB zu 88 Zu dieser Argumentation vgl. Eb. Schmidt, Lehrkommentar n, § 359 Rdnr.23. 89 Vgl. oben S.56.

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Recht trifft, wenigstens, was das Beweismittel des Gutachters betrifft, aufgehoben. e) Wie der Beweis der Neuheit erbracht werden kann und wer ihn erbringen muß, ist primär eine Frage des kantonalen Rechts70 und wird bei der Darstellung des Wiederaufnahmeverfahrens zu erörtern sein. 2.3 Bundesgericlttliche Kontrolle der kantonalen Wiederaufnahmepraxis

2.31 Voraussetzung für die Zulässigkeit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde Als letzten Punkt im Zusammenhang mit der Untersuchung des Art. 397 StGB soll noch auf ein verfahrensrechtliches Problem eingegangen werden. Wenn Art. 397 StGB nicht nur eine Anweisung an die Kantone ist, in ihrem kantonalen Strafprozeßrecht die Wiederaufnahme unter den angegebenen Voraussetzungen zu gewähren, sondern ein bundesrechtlicher Wiederaufnahmegrund ist, so muß seine Anwendung ebenfalls durch den Bund festgelegt werden. Da der Gesetzgeber diesen Schritt in Rücksicht auf Art. 64 bis Bundesverfassung nicht getan hat, oblag es dem Bundesgericht, zur Sicherung der einheitlichen Anwendung des Art. 397 StGB gewisse Grundsätze aufzustellen. Dies geschah im Rahmen der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde (Art. 268 ff. BStrP), welche gegen kantonale Urteile wegen Verletzung von Bundesrecht an den Kassationshof des Bundesgerichtes zulässig ist. Allerdings ist die Prüfungsbefugnis des Bundesgerichts sehr beschränkt, da es an die tatsächlichen Feststellungen des kantonalen Richters gebunden ist (Art. 277 bis Abs. I BStrP) und alles, was die Beweiskraft der neuen Tatsachen oder Beweismittel betrifft zum Tatsächlichen des Falles gehört71 , Die Nichtigkeitsbeschwerde ist also nur zulässig, wenn a) das Gesuch trotz Tatsachen und Beweismittel, die das kantonale Gericht selbst als erheblich und neu bezeichnet hat (Fragen der Beweiswürdigung), abgewiesen wurde72, 73; b) die Erheblichkeit der Tatsachen oder Beweismittel aus rechtlichen Gründen verneint wurde; e) soweit es um die Würdigung der rechtlichen Tragweite neuer Tatsachen geht, deren Feststellung jedoch wieder ausschließlich dem kantonalen Gericht zusteht74 • 70 71 72 73

74

Y. Maunoi'l", La revision penale, S. 145. BGE 72 IV 45. F. Clerc, SJK 955 (Art. 397 8tGB) Rdnr. 49. BGE 85 IV 169. BGE 72 IV 45.

2. Analyse des Art. 397 StGB

59

2.32 Voraussetzung für die Zulassung eines auf Nova gestützten Wiederaufnahmegesuches Die wichtigste Frage, zu der das Bundesgericht Stellung nehmen mußte, betraf die Voraussetzung, unter der die kantonale Wiederaufnahme-Instanz ein Gesuch, welches sich auf Art. 397 StGB beruft, gutheißen muß. Nach der Rechtsprechung des Kassationshofes des Bundesgerichtes, die in BGE 73 IV 43 ff. begründet wurde, genügte es für die Gutheißung eines auf Art. 397 StGB gestützten Wiederaufnahmegesuches, daß die vorgebrachten neuen Tatsachen oder Beweismittel vom Gesuchsteller glaubhaft gemacht wurden. Das Bundesgericht glaubt, durch einen Vergleich der deutschen Fassung mit der französischen und der italienischen (viennent ä etre invoques bzw. esistere) die richtige Lösung dadurch zu finden, daß es zwischen beiden einen Mittelweg wählte, also mehr verlangte, als das bloße Anrufen von Nova und weniger, als daß sie bereits bestehen, also offenbar auch bewiesen sein müßten. Daß es eine zu strenge Anforderung wäre, als Nova nur das anzuerkennen, was bereits bewiesen sei, ergibt sich für das Bundesgericht aus der überlegung, daß die Kantone die Wiederaufnahme des Verfahrens trotz Bestehens neuer Tatsachen in den meisten Fällen ablehnen könnten, weil es für den Gesuchsteller fast unmöglich sei, ein schlüssiges Beweismittel schon mit dem Gesuch einzureichen. Auf der anderen Seite genüge auch nicht, daß der Verurteilte eine neue Tatsache bloß behaupte, da er sonst das Gericht jederzeit "leichtfertig nötigen könne, auf eine rechtskräftig beurteilte Sache zurückzukommen"15. Mit dieser Rechtsprechung ließ das Bundesgericht die verschiedenen Ordnun~en des Wiederaufnahmeverfahrens durch die Kantone unberücksichtigt, was in der Folge zu einer Änderung der Rechtsprechung führte. Die alte Rechtsprechung des Bundesgerichtes paßte im Grunde nur für die Kantone, welche die Entscheidung über das Wiederaufnahmegesuch nicht in eine Zulässigkeits- und eine Begründetheitsprüfung unterteilten. Schwierigkeiten ergaben sich immer dann, wenn das Gericht das Gesuch materiell prüfte, d. h. also die glaubhaft gemachten Tatsachen oder Beweismittel auf ihre Existenz oder ihren Beweiswert hin untersuchte. Versteht man nämlich unter der Formulierung: "Die Kantone haben die Wiederaufnahme des Verfahrens zu gestatten", daß die Kantone damit das wiederaufgenommene Verfahren, also ein neues Verfahren zulassen müssen76 , so wäre die materielle Begründetheitsprüfung des Wiederaufnahmegesuches im Wiederaufnahmeverfahren eigentlich überflüssig gewesen, da es für die Zulässigkeit des wiederaufgenommenen Verfahrens genügt hätte, daß der Gesuchsteller 75

76

BGE 73 IV 43 (45).

Und das Bundesgericht hat dies offensichtlich so verstanden.

11. Teil: Art. 397 StGB u. seine Bedeutung f. d. Wiederaufnahmerecht

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die Nova glaubhaft gemacht hat. Aus diesem Grund wurden dann auch wiederholt Nichtigkeitsbeschwerden an das Bundesgericht gerichtet mit der Begründung, obwohl eine erhebliche neue Tatsache glaubhaft gemacht worden sei, hätte das kantonale Gericht eine erneuerte Hauptverhandlung nicht zugelassen, sondern selbst eine Beweiserhebung und Beweiswürdigung vorgenommen. Das Bundesgericht hat diese Beschwerden immer abgewiesen mit der Begründung, die sachliche Zuständigkeit der kantonalen Wiederaufnahme-Instanzen unterstehe der Ordnung des kantonalen Prozeßrechts und falle somit nicht unter die Prufungsbefugnis des Kassationshofes 77 • So begründet diese Rechtsprechung auch war, sie entsprach dennoch nicht der oben genannten Interpretation von: "die Wiederaufnahme gestatten." Das Bundesgericht hatte zwei Möglichkeiten, diesen Widerspruch zu beseitigen: Es konnte einmal Art. 397 StGB dahingehend interpretieren, daß unter "die Wiederaufnahme zu gestatten" nur zu verstehen sei, das Bewilligungsverfahren (also das Verfahren, in welchem über die Zulässigkeit und die Begrundetheit entschieden wird) zu gestatten. Die zweite Möglichkeit bestand darin, als Voraussetzung für die Zulässigkeit einer erneuerten Hauptverhandlung nicht mehr das Glaubhaftmachen ausreichen zu lassen, sondern strengere Anforderungen zu stellen, nämlich den Beweis der Nova zu verlangen. Den ersten Weg konnte das Bundesgericht nicht gehen, da es damit den Kantonen praktisch die Einführung eines Vorverfahrens vorgeschrieben hätte, was jedoch Art. 64 bis BV den Kantonen anheimstellte. Also blieb nur die zweite Möglichkeit, welche dann auch vom Bundesgericht in BGE 92 IV 177 ff. (180 ff.) übernommen wurde. Auf Grund dieser Rechtsprechung muß das Verfahren von Bundesrechts wegen erst dann wieder aufgenommen werden, wenn eine neue erhebliche Tatsache dargetan ist oder ein neues erhebliches Beweismittel vorliegt. Damit enthält sich das Bundesgericht einer Stellungnahme zu der Nützlichkeit und der Funktion des Wiederaufnahmeverfahrens und überläßt es den Kantonen, die Beweiserhebung und Beweiswürdigung bereits durch das Wiederaufnahmegericht oder den Wiederaufnahmerichter vornehmen zu lassen. Wenn diese Rechtsprechung auch de facto nicht zu einer erschwerten Zulässigkeit des wiederaufgenommenen Verfahrens führte, da das Bundesgericht, insoweit inkonsequent, eine auf vorweggenommener Beweiserhebung oder Würdigung beruhende Ablehnung der Wiederaufnahme für zulässig erachtet hat, so erschwert sie de jure die Zulässigkeit der Wiederaufnahme doch erheblich, da jetzt die Tatsachen dargetan bzw. das neue Beweismittel vorhanden sein muß. Bedenken dagegen könnten sich aus folgendem Grund ergeben: In aller Regel wird 77

BGE 92 IV 177 (180) und die dort zitierte Rechtsprechung.

2. Analyse des Art. 397 StGB

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es dem Gesuchsteller unmöglich sein, den Beweis der Nova in seinem Wiederaufnahmegesuch zu erbringen. Allein dies wird nicht von ihm verlangt. Zur Begründung des Gesuches reicht es aus, daß die neuen Tatsachen oder Beweismittel angerufen werden, womit gleichzeitig zum Ausdruck gebracht wird, daß der Gesuchsteller die neuen Tatsachen zu begründen und die Beweismittel, auf die er sich berufen will, näher zu bezeichnen haF8. Gleichzeitig wird von der über das Wiederaufnahmegesuch entscheidenden Behörde verlangt, daß sie, bevor sie ein Wiederaufnahmegesuch abweist, die zum Nachweis der neuen Tatsache angeführten Beweise gewürdigt oder das zum Beweis einer alten Tatsache angerufene neue Beweismittel auf seine Beweiskraft geprüft haFt. Durch diese, das Verfahren betreffende Interpretation des Art. 397 StGB wird die obenso aufgestellte Forderung erfüllt. Während es im Wiederaufnahmeverfahren um die Frage geht, ob die Rechtskraft des Urteils aufgehoben werden soll, steht im wiederaufgenommenen Verfahren die Rechtskraft nicht mehr zur Diskussion. Dadurch, daß das Bundesgericht an die Zulässigkeit des wiederaufgenommenen Verfahrens hohe Anforderungen stellt, ist gewährleistet, daß die materielle Rechtskraft nur in den Fällen beseitigt wird, in welchen ein Grund dafür vorhanden ist. Dieser Gedanke klingt auch in der Entscheidung an, indem es dort heißt81 : "Die Kantone, in denen der Entscheid über die Zulassung der Wiederaufnahme einer besonderen Revisionsinstanz vorbehalten wird, zu verhalten, den endgültigen Entscheid über das Wiederaufnahmebegehren erst nach erteilter Bewilligung und damit oft erst nach Aufhebung des rechtskräftigen Urteils durch den Sachrichter im wiederaufgenommenen Verfahren fällen zu lassen, käme einem zu weit gehenden Eingriff in das kantonale Prozeßrecht gleich, der vom Bundesgesetzgeber nicht beabsichtigt sein kann." Da die Trennung in Wiederaufnahmeverfahren und wiederaufgenommenes Verfahren der Gewährleistung der materiellen Rechtskraft dienen soll, kann man an die Stelle des "zu weit gehenden Eingriffs in das kantonale Prozeßrecht" den "zu weit gehenden Eingriff in die materielle Rechtskraft" setzen. Daß dieser Eingriff durch die alte Rechtsprechung nicht erfolgte, lag, wie oben ausgeführt, an der widersprüchlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtes, die zwar einerseits nur das Glaubhaftmachen der Nova für die Zulässigkeit der Wiederaufnahme ausreichen ließ, andererseits jedoch tolerierte, daß die Instanz, welche über das Wiederaufnahmegesuch entscheidet, die Beweisfrage im Zulassungsverfahren endgültig beantworten konnte. Insofern liegt der Ver78

79 80

81

So BGE 92 IV 177 (182). BGE 92 IV 177 (181). Vgl. I. Teil, 3.1. BGE 92 IV 177 (181).

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lI. Teil: Art. 397 StGB u. seine Bedeutung f. d. Wiederaufnahmerecht

dienst dieser Entscheidung, durch welche das Bundesgericht seine bisherige Rechtsprechung änderte, darin, die oben geforderte Begrenzung des Rechtsmittels nicht nur zu tolerieren, sondern selbst vorzunehmen. Daß damit aber noch nicht alle Probleme, welche mit der Anerkennung dieses Prinzips auch im Rahmen des Art. 397 StGB verbunden sind, gelöst wurden, sei nur ganz kurz noch erwähnt, da diese Fragen ausschließlich durch kantonales Recht geregelt werden können. Hierbei handelt es sich um die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts bei der Beweisermittlung, die Verteidigerbestellung sowie die Beweislastverteilung82.

82 Dazu unten IlI. Teil, 4; m. E. wäre das Bundesgericht befugt, auch zu diesen Fragen Stellung zu nehmen, da durch sie direkt die einheitliche Anwendung des Art.397 StGB betroffen wird. Wenn dem entgegensteht, daß damit ausschließlich verfahrensrechtliche Punkte betroffen sind, deren Regelung in die Gesetzgebungskompetenz der Kantone gehört (Art. 64 bis BV), so ist dies ein Argument gegen die Aufnahme von Art. 397 in das Strafgesetzbuch, der jedoch zugleich, wenn man seine Notwendigkeit bejaht, die ganze Fragwürdigkeit einer Trennung der Kompetenzen für das StGB und das Verfahrensrecht aufzeigt.

Dritter Teil Kantonales Recht

1. Die Wiederaufnahmegründe 1.1 Die Gründe für die Wiederaufnahme zugunsten des Verurtellten

1.11 Vorbemerkung Wie oben ausgeführt, ist Art.397 StGB keine Weisung an die Kantone, einen entsprechenden Wiederaufnahmegrund zu schaffen, sondern gilt als bundesrechtlicher Wiederaufnahmegrund unmittelbar. Daneben behalten die im kantonalen Recht vorgesehenen Wiederaufnahmegründe ihre volle Geltung, soweit es sich um die Wiederaufnahme von Urteilen, welche in Anwendung kantonalen Rechts ergangen sind, handelt. Für die Wiederaufnahme von Verfahren, welche sich auf Bundesrecht stützen, müssen jedoch die Kantone die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten unter mindestens ebenso leichten Voraussetzungen ermöglichen, wie das nach Art. 397 StGB der Fall ist, da Art. 397 StGB nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes1 von den Kantonen "als Minimum" zu berücksichtigen ist. Danach steht es zwar im Ermessen der Kantone, die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten unter leichteren Bedingungen zuzulassen, eine Erschwernis gegenüber Art. 397 StGB bliebe jedoch regelmäßig wirkungslos, da das Wiederaufnahmegesuch dann immer auf Grund des Art. 397 StGB zugelassen werden müßte, sofern dessen Voraussetzungen erfüllt sind. Da durch den Wiederaufnahmegrund der "neuen Tatsachen oder Beweismittel" des Art. 397 StGB alle speziellen Wiederaufnahmegründe wie widersprechendes Urteil oder strafbare Einwirkung auf die Urteilsfindung erfaßt werden, scheint es auf den ersten Blick, als bestünde für die Kantone keine Möglichkeit mehr, über das "Mindestprogramm"! hinausgehen, so daß gleichzeitig auch die Ansicht des Bundesgerichtes für unzutreffend erklärt werden müßte, da es sich um kein Mindestprogramm mehr handelt. Daß das Bundesgericht jedoch zu Recht dieser Meinung war, ergibt sich einmal aus der überlegung, 1

!

BGE 69 IV 137. H. F. Pfenninger, Probleme, S.325.

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II!. Teil: Kantonales Recht

daß, obwohl m. E. dafür keine Notwendigkeit besteht, die Kantone auch die Wiederaufnahme zuungunsten eines Freigesprochenen oder zu milde Verurteilten zulassen können3 , und daß auch die Wiederaufnahme zugunsten für den Verurteilten vorteilhafter geregelt werden kann, als dies in Art. 397 8tGB geschehen ist. Insbesondere können die Kantone vorsehen, daß bei Vorliegen bestimmter Tatsachen oder Beweismittel die Wiederaufnahme zu gestatten ist, unabhängig davon, ob durch sie das Urteil beeinflußt wurde oder nicht. Im Grunde handelt es sich dabei darum, daß die Erheblichkeit dieser Tatsachen gesetzlich vermutet wird, so daß sie daraufhin im Wiederaufnahmeverfahren nicht überprüft werden dürfen. Im folgenden werden also die Gründe für die Wiederaufnahme zugunsten des Angeklagten, welche nach kantonalem Recht gegeben sind, zu untersuchen sein. Dabei lassen sich vier verschiedene Möglichkeiten bezüglich ihres Verhältnisses zu Art. 397 8tGB denken4 : a) 8ie stimmen genau mit Art. 397 8tGB überein: In diesem Fall sind sie eigentlich überflüssig, da ihre Anwendung gleichbedeutend ist mit der Anwendung von Art. 397 8tGB (also Bundesrecht) und somit ihre Verletzung in den meisten Fällen5 nur mittelbar, nämlich als gleichzeitig erfolgte Verletzung von Bundesrecht mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde gerügt werden kann6 • 8ie sind jedoch nicht überflüssig, wenn das wiederaufzunehmende Verfahren nach kantonalem Recht beurteilt wurde. b) 8ie erschweren die Wiederaufnahme des Verfahrens gegenüber Art. 397 8tGB: In diesem Fall haben sie für die Wiederaufnahme des Verfahrens, welches nach Bundesrecht beurteilt wurde, keine Geltung mehr, da sich dann die Zulässigkeit der Wiederaufnahme nach Art. 397 8tGB bestimmt. e) 8ie erleichtern die Wiederaufnahme gegenüber Art.397 8tGB: Dann behalten sie ihre volle Geltung. d) Teilweise gestatten sie die Wiederaufnahme des Verfahrens unter leichteren Bedingungen, teilweise unter erschwerten: Maunoir7 schlägt für diesen Fall folgende Lösung vor: Da eine Verbindung der beiden Bestimmungen (von Art. 397 8tGB und der kantonalen Bestimmung) dahingehend, daß die für den Gesuchsteller günstigen Voraussetzungen zusammengefaßt werden, zu einer Verfälschung des gesetzgeberischen Willens führen würde, kann nur eine getrennte Anwendung der beiden 3 H. F. Pfenninger, Probleme, S. 325. , Y. Maunoir, La revision penale, S. 159.

Ii Nämlich immer dann, wenn mit der kantonalen Nichtigkeitsbeschwerde nur die Verletzung kantonalen Rechts gerügt werden kann. a Vgl. ZR 1953 Nr. 123, S.212. 7 Y. Maunoir, La revision penale, S. 159.

1. Die Wiederaufnahmegründe

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Vorschriften in Frage kommen. Danach wird also das Wiederaufnahmegesuch sowohl auf Grund des Art. 397 StGB wie auch, getrennt davon, auf Grund der kantonalen Bestimmung auf seine Zulässigkeit bzw. Begrundetheit für eine Wiederaufnahme des Verfahrens geprüft. Selbstverständlich spielen all diese überlegungen keine Rolle, soweit es um die Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten geht. Da sich Art. 397 StGB auf die Wiederaufnahme zugunsten beschränkt, steht die Regelung der Wiederaufnahme zuungunsten im Ermessen der Kantone.

1.12 Der allgemeine Wiederaufnahmegrund wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel Der Wiederaufnahmegrund der neuen Tatsachen oder Beweismittel (propter nova) findet sich in allen Schweizer Strafprozeßordnungen8 , wobei jedoch in der Formulierung sich einige Unterschiede feststellen lassen. Durch eine erste grobe Einteilung lassen sich zunächst einmal zwei Gruppen unterscheiden, von denen die eine nur diesen allgemeinen Wiederaufnahmegrund zugunsten des Verurteilten kennt9 , während die zweite daneben noch andere Wiederaufnahmegründe vorsiehtl°. Zunächst sollen die Kantone untersucht werden, welche, wie Art. 397 StGB, nur den allgemeinen Wiederaufnahmegrund propter nova kennen. Ist doch zu vermuten, daß sie am ehesten mit der vom Bund getroffenen Regelung übereinstimmen. So stimmt denn auch der Text von VD 455 genau mit Art. 397 StGB überein, GR 147 und NE 262 entsprechen ihm ebenfalls und ZG 76 Ziff. 1 sowie AI 69 stellen die übereinstimmung her, indem sie auf Art.397 StGB jeweils hinweisen. Schaffhausen hat durch einen Vermerk in seiner StPO Art. 397 StGB für die Wiederaufnahme des Verfahrens für maßgebend erklärt und gleichzeitig durch Art. 59 EGStGB bestimmt, daß die Wiederaufnahme des Verfahrens im Sinne der Art. 246 ff. StPO SH nur zugunsten eines Verurteilten statthaft ist11 • Einzig NW 76 und AR 122 weichen deutlich 8 ZR 449 Ziff.3; BE 347 Ziff.3; LU 255 Ziff. 1; UR 125 lit. a; SZ 227 lit. a; OW 159; NW 76; GL 164 Ziff.l; ZG 76 Ziff.l; FR 59 lit. b; SO 208 lit. a; BS 288; BL 169 Ziff.3; SR 246; AI 69; AR 122; SG 198 Ziff.2; GR 147; AG 230 Ziff.l; TG 233 Ziff.l; TI 243 Ziff.3; VD 455; VS 195 lit. b; NE 262; GE 452 lit. d; BStrP 229 Ziff.la); MStrGO 199. 9 LU 255; NW 76; ZG 76; AI 69; AR 122; GR 147; VD 455; NE 262; MStrGO 199. 10 ZR 449; BE 47; UR 125; SZ 227; OW 159; GL 164; FR 59; SO 208; BS 289; BL 169; SR 246; SG 198; AG 203; TG 233; TI 243; VS 195; GE 452; BStrP 229. 11 Dies ist insofern mißverständlich, als Art. 246 Abs. 2 lit. d StPO SR die Wiederaufnahme zuungunsten eines Freigesprochenen propter nova für zulässig erklärt und, wie die Praxis zeigt (RStrS 1956 Nr.252), durch Art. 59 EGStGB nicht aufgehoben wurde. Art. 59 EGStGB ist also wohl dahingehend zu verstehen, daß die Wiederaufnahmegrunde zugunsten des Verurteilten in Art. 246 Abs. II lit. a-c durch Art. 397 StGB ersetzt werden.

5 Eckert

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IH. Teil: Kantonales Recht

von Art. 397 StGB ab, da sie die Wiederaufnahme nur bei Vorliegen neuer Beweismittel zulassen. Dabei ist bei AR 122 nicht ganz klar, was der Verweis auf Art. 397 StGB bedeutet. Vermutlich ist darin ein Hinweis zu sehen, daß der Gesetzgeber heute allein Art. 397 StGB für die Wiederaufnahme von Urteilen, welche auf Grund eines Bundesgesetzes ergangen sind, für maßgeblich erachtet. Das gleiche muß aber auch für NW 76 gelten, obwohl dort ein entsprechender Hinweis fehlt, da die Beschränkung auf Beweismittel mit Art. 397 StGB in Widerspruch steht. Die entsprechende Vorschrift von Luzern (LU 255 Ziff.1) weicht von Art. 397 StGB insofern ab, als sie nicht nur erhebliche Nova verlangt, sondern auch noch, daß diese geeignet sind, einen Freispruch oder ein bedeutend milderes Urteil herbeizuführen. Die Forderung nach der Erheblichkeit in Art. 397 StGB hat jedoch den Sinn, daß die Nova geeignet sein müssen, ein bedeutend milderes Urteil herbeizuführen; Luzern zieht also mit dieser Formulierung nur die Konsequenzen aus der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 397 StGB. Da jedoch, wie oben (11. Teil, 2.23) ausgeführt wurde, die Rechtsprechung des Bundesgerichts keineswegs immer konstant war, und die Forderung nach einer "bedeutenden" Strafmilderung dem Wiederaufnahmerichter ein unkontrollierbares Ermessen einräumt, sollte auf sie verzichtet werden, bzw. zumindest sehr weit interpretiert werden. Aus dem Fehlen von besonderen Wiederaufnahmegründen in den genannten Kantonen und in der MStrGO darf ohne weiteres gefolgert werden, daß alle im allgemeinen Wiederaufnahmegrund der Nova enthalten sind l2 , so daß auf die Ausführungen zu Art. 397 StGB verwiesen werden kannl3 • Die Kantone, welche neben dem allgemeinen Wiederaufnahmegrund noch spezielle Wiederaufnahmegründe kennen l 4, nennen neben dem "widersprechenden Urteil"15 (dazu unten 1.13), daß durch eine strafbare Handlung auf das frühere Strafverfahren eingewirkt worden ist16 (dazu unter 1.14). Trotz Vorhandenseins dieses besonderen Wiederaufnahmegrundes sind Fälle bekannt, in denen die Gerichte eine strafbare Handlung, durch welche auf das frühere Verfahren eingewirkt wurde, auch unter den allgemeinen Wiederaufnahmegrund der neuen Tatsachen oder Beweismittel subsumieren. Der Kassationshof des Kantons Bern So ausdrücklich für MStrGO 199 H. F. Pfenninger, Probleme, S. 326. s. H. Teil, 2.2. 14 s. Fußnote 10, IH. Teil. 15 ZH 449 Ziff.2; BE 347 Ziff.2; FR 59 lit. a; SO 208 lit. c; BL 169 Ziff.2; AG 230 Ziff.3; TG 233 Ziff.3; TI 243 Ziff.2; VS 195 lit. a; GE 452 lit. a; BStrP 229 Ziff. 1 b). 18 ZH 449 Ziff.l; BE 347 Ziff.l; UR 125 lit. b; SZ 227 lit. b; OW 159 lit. b; GL 164 Ziff. 2; FR 59 lit. c; SO 208 lit. b; BS 289; BL 169 Ziff. 1; SG 198 Ziff.l; AG 230 Ziff. 2; TG 233 Ziff. 2; TI 243 Ziff. 1; VS 195 lit. c; GE 452 lit. b. 12 13

1.

Die Wiederaufnahmegründe

61

hatte sich mit einem Wiederaufnahmegesuch zu befassen, in welchem geltend gemacht wurde, daß das Urteil sich auf wissentlich falsche Aussagen eines Zeugen stützte11• Der Generalprokurator, dem das Gesuch gemäß 352 StPO BE zur Antragstellung überwiesen wurde, gelangte zu einem Abweisungsbeschluß, da die Falschaussage nicht durch Strafurteil festgestellt worden sei, wie dies 347 Ziff.1 StPO BE verlangt. Diesem Antrag folgte der Kassationshof nicht, da seines Erachtens durch das Vorbringen des Gesuchstellers eine neue Tatsache i. S. des Art.397 StGB und des inhaltlich mit ihm übereinstimmenden 347 Ziff.3 StPO BE geltend gemacht worden sei. Zu diesem Urteil ist zu sagen, daß der Generalprokurator zu Recht das Wiederaufnahmegesuch auf Grund des 347 Ziff. 1 StPO BE für unzulässig gehalten hat, dabei aber übersehen hat, daß noch geprüft werden muß, ob es gemäß Art. 397 StGB zulässig ist. Dies hat der Kassationshof nachgeholt und dabei, ohne daß dafür eine Notwendigkeit bestanden hat, die Fälle, in denen durch eine strafbare Handlung auf das erste Verfahren eingewirkt wurde, ebenfalls dem kantonalen Wiederaufnahmegrund der Nova unterstellt18• Dieser Auffassung sind, soweit ersichtlich, die anderen Kantone nicht gefolgt. Danach sind also die Umstände, welche einen besonderen Wiederaufnahmegrund nach kantonalem Recht darstellen, keine neuen Tatsachen oder Beweismittel. Schon Hafter 19 hat jedoch darauf hingewiesen, daß auch die Umstände, welche in den kantonalen Strafprozeßordnungen als besondere Wiederaufnahmegründe geregelt werden, "Tatsachen" seien, und daß der Begriff der "Tatsachen" künstlich eingeschränkt würde, wenn man sie davon ausnähme. Einige Kantone haben daraus die Konsequenzen gezogen und bei der Revision ihrer StPO auf die kasuistische Aufzählung einzelner Wiederaufnahmegründe verzichtet, was von Clerc 20 , dem Autor der StPO von Neuchätel, mit dem Hinweis auf Art. 397 StGB begründet wird. Die Unterscheidung in Tatsachen oder Beweismittel wird in der Praxis des Kantons Zürich nicht immer vorgenommen, ohne daß daraus jedoch dem Gesuchsteller ein Nachteil erwachsen würde. So wurde ein Wiederaufnahmegesuch, in dem sich der Gesuchsteller auf verminderte Zurechnungsfähigkeit im Zeitpunkt der Tatbegehung berufen hatte und dies durch ein psychiatrisches Gutachten auch nachwies, vom Gesamtobergericht21 auf Grund der neuen Tatsache gutgeheißen, obwohl bereits das erkennende Gericht bei der Urteils beratung die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit aufgeworfen, dann aber verneint hatte. Vgl. ZBJV 1955, S.70. ZBJV 1955, S. 70 (71); siehe dazu auch unten III. Teil, 1.14. 19 E. Hafter, Besprechung, ZStrR 62 (1947), 113. 20 Vgl. F. C~erc, Le proces penal, S.153. 21 Unveröffentlichter Beschluß vom 25. Mai 1966 in Sachen A. R. gegen Staatsanwaltschaft. 17

18

5'

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HI. Teil: Kantonales Recht

Damit war eigentlich nur noch das Gutachten geeignet, als neues Beweismittel zu einer bereits in Erwägung gezogenen Tatsache im Wiederaufnahmegesuch angeführt zu werden. Ähnlich verhielt es sich in einem anderen Fall22 , in dem der Gesuchsteller neue Zeugen für eine bereits behauptete Tatsache beibrachte. Die I. Strafkammer gewährte die Wiederaufnahme des Verfahrens, ohne dabei streng zwischen Tatsachen und Beweismitteln zu unterscheiden. Dies geschah, da der Sachrichter die behauptete Tatsache bereits als Hypothese gewürdigt hatte, jedoch auch bei ihrem tatsächlichen Vorliegen das gleiche Urteil gefällt hätte. Die I. Strafkammer vertrat die Auffassung, daß dies nur auf Grund aktenwidriger Annahme hätte geschehen können und wollte offensichtlich verhindern, daß sich das im wiederaufgenommenen Verfahren wiederholt. Nach Zürcher Recht (§ 308 StPO) ist die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht zulässig, wenn bei Ehrverletzungen durch die Presse der verantwortliche Redakteur, der Verleger oder der Drucker die Verantwortung gegenüber dem Ankläger übernommen hat, und erst nach rechtskräftiger Verurteilung der Verfasser oder Verleger bekannt wird. Obwohl nach dieser Regelung eine neue Tatsache nicht als Wiederaufnahmegrund anerkannt wird, ist sie mit Art. 397 StGB vereinbar. Nach Art. 27 StGB ist zwar für eine strafbare Handlung, welche durch das Mittel der Druckerpresse begangen wird, der Verfasser allein verantwortlich, doch gilt als Verfasser i. S. des Art. 27 StGB nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts23 nicht nur, wer einen Artikel für die Presse verfaßt, sondern auch wer ihn als eigene Meinungsäußerung zur Publikation übergibt oder sich in anderer Weise als Verfasser ausgibt und die Verantwortung dafür übernimmt. Im folgenden soll bezüglich des allgemeinen Wiederaufnahmegrundes "propter nova" noch untersucht werden, wie die Kantone den Begriff des Urteils definieren24, was unter "Erheblichkeit" verstanden wird und unter welchen Voraussetzungen Tatsachen oder Beweismittel "neu" sind. Um Wiederholungen zu vermeiden25, beschränke ich mich dabei auf Abweichungen gegenüber der Auslegung, welche Art. 397 StGB erfahren hat. 1.121 Wiederaufnahmefähige Entscheidungen Wie bereits oben (S. 22 f.) ausgeführt, muß es sich bei dem Urteil, welches mit dem Rechtsmittel der Wiederaufnahme angegriffen wird, 22

Unveröffentlichter Beschluß I. Strk. vom 24. Januar 1963 in Sachen

A. S. gegen Staatsanwaltschaft. 23 24

25

BGE 73 IV 218 ff. (220). Vgl. für Zürich insbesondere Hauser/Hauser, zu 48 GVG N 17, S.143. Vgl. oben H. Teil, 2.1.

1.

Die Wiederaufnahmegrunde

69

nicht um ein absolut formell-rechtskräftiges Urteil handeln, da der Bundesgesetzgeber vorgeschrieben hat, daß die Einlegung dieses Rechtsmittels gleichzeitig oder vor Einlegung der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde zulässig ist. Wenn dennoch fast alle Kantone nur gegen "rechtskräftige" Urteile die Wiederaufnahme zulassen, so kann damit nur eine "relative Rechtskraft" gemeint sein. Nicht so klar ist, ob auch die Kantone26, welche die Voraussetzung des "rechtskräftigen Urteils" nicht in ihren Gesetzestext aufgenommen haben, dennoch die Wiederaufnahme nur gegen relativ rechtskräftige Urteile zulassen. Eine Antwort findet sich in den Bestimmungen über die Wirkung des Wiederaufnahmegesuchs; da i. d. R. dem Wiederaufnahmegesuch ein fakultativer Suspensiveffekt zugebilligt wird, muß zumindest ein vollstreckbares (vgl. NE 262), also relativ formell-rechtskräftiges Urteil vorliegen. Einige Kantone27 gestatten auch die Wiederaufnahme gegenüber Aufhebungs- oder Einstellungsverfügungen. Obwohl es sich dabei m. E. nicht um eine Wiederaufnahme des Verfahrens, sondern um eine Neuaufnahme handelt, da materiell nicht entschieden wurde2 8 , sondern das Verfahren ausschließlich aus prozeßrechtlichen Gründen erledigt wurde, wird dadurch dem Umstand Rechnung getragen, daß der Betroffene weiterhin mit dem Verdacht belastet bleibt, wenn seine Unschuld nicht durch ein Urteil ausdrücklich festgestellt wird. Am deutlichsten kommt dies in 287 StPO BS zum Ausdruck, nachdem ein Strafverfahren, das durch Entscheid der überweisungs behörde oder des instruierenden Gerichtspräsidenten beendigt worden ist, wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel wieder aufgenommen werden kann, auf Grund derer ein Angeschuldigter, gegen den das Verfahren wegen mangelnden Beweises eingestellt wurde, sich als unschuldig erweist. Damit wird die oben aufgestellte These unterstützt, daß auch in einer Nichtverurteilung eine Beschwer liegen kann. Trotzdem scheint mir die Basler Regelung zu weitgehend, da sie sich nicht auf gerichtliche Urteile beschränkt, sondern bereits auf die Verfügungen der überweisungsbehörde. Hier trifft das oben Ausgeführte (lI. Teil, 2.1) nicht zu, daß mit der Zulassung der Anklage bereits ein erheblicher Tatverdacht artikuliert wird, welcher durch einen Freispruch mangels Beweises bestehen bleibt, da ja bereits die Anklage nicht zugelassen wurde. Die Wiederaufnahme des Verfahrens wurde vom Kassationsgericht des Kantons Freiburg29 in einem Fall, in dem ein wegen Unzurechnungsfähigkeit von der Anklage des Diebstahls freigesprochener Minderjähriger, bei dem sich später herausstellte, daß er nicht der Täter sein konnte, bewilligt, wodurch 26

27 28

29

GL 164; ZG 76; FR 59; BS 288; SG 198; VD 455; VS 195; NE 262. GL 164; BS 288; SG 198; TG 233. Ausnahme St. Gallen Art. 124 Abs. II stpo. Extraits 1936, S. 262.

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IH. Teil: Kantonales Recht

dem Umstand Rechnung getragen wurde, daß bei einem Freispruch wegen Unzurechnungsfähigkeit der Tatvorwurf aufrechterhalten bleibt3D . Aus anderen Kantonen ist eine vergleichbare Rechtsprechung nicht bekannt. Gegen freisprechende, jedoch den Angeklagten mit den Kosten belastende Urteile läßt Luzern auf Grund einer ausdrücklichen Bestimmung (§ 256 StPO) die Wiederaufnahme wegen neuer Tatsachen und Beweismittel zu. Ebenso verfährt die Praxis des Kassationsgerichts des Kantons Freiburg31.32. Unter dem Gesichtspunkt, daß die Wiederaufnahme immer dann gegeben sein sollte, wenn durch ein Urteil ein Angeklagter zu Unrecht beschwert wird, ist die Vorschrift der Strafprozeßordnung Luzern bzw. die Rechtsprechung des Kassationsgerichts des Kantons Freiburg zu begrüßen. Dazu kommt, daß eine Verurteilung zu den Kosten durchaus eine Straffunktion haben kann, da sie im Falle eines Freispruchs nur erfolgen darf, wenn der Beschuldigte "die Einleitung der Untersuchung durch ein verwerfliches oder leichtfertiges Benehmen verursacht oder ihre Durchführung erschwert hat" (189 StPO ZR). Stellt sich in so einem Fall nachträglich heraus, daß die Einleitung der Untersuchung nicht durch das Verhalten des Beschuldigten verursacht wurde, so muß ihm eine Gelegenheit gegeben werden, eine neue Kostenentscheidung herbeizuführen. Die Frage, ob gegen Kontumazialurteile die Wiederaufnahme zulässig ist, wurde bereits oben33 kurz gestreift. Alle Kantone, welche ein Verfahren gegen Abwesende kennen, sehen gleichzeitig vor, daß der Verurteilte entweder durch einfache Erklärung gegenüber dem Gericht die Neubeurteilung verlangen kann oder gestehen ihm die ordentlichen Rechtsmittel zu. Beides wird in der Regel von der Einhaltung einer Frist seit Kenntnis des Urteils abhängig gemacht, bei deren Nichteinhaltung das Kontumazialurteil rechtskräftig wird und dann nur noch mit dem Rechtsmittel der Wiederaufnahme angefochten werden kann. 1.122 Erheblichkeit und Neuheit Wie oben ausgeführt wurde, ist bei dem Wiederaufnahmegrund des Art.397 StGB zwar nicht erforderlich, daß die Nova geeignet sein 3D F. Clerc, SJK 955 (Art.397 StGB) Rdnr.14. 31 F. Clerc, SJK 955 (Art.397 StGB) Rdnr.16. 32 Das Gesamtobergericht des Kantons Zürich hatte über ein Wiederaufnahmegesuch gegen ein freisprechendes, den Freigesprochenen jedoch zur Tragung der Kosten und zur Leistung einer Umtriebsentschädigung verpflichtendes Urteil zu entscheiden und die Wiederaufnahme abgelehnt, da eine Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Gesuchstellers bei Freispruch nicht möglich sei (Unveröffentl. Beschluß vom 4. Oktober 1962 i. Sachen A. S. gegen Staatsanwaltschaft). 83 s. H. Teil, 2.1, S. 50.

1. Die Wiederaufnahmegründe

11

müssen, einen Freispruch oder eine Bestrafung auf Grund eines leichteren Gesetzes herbeizuführen, auf der anderen Seite genügt aber auch nicht jede noch so geringe Strafmilderung, sondern es muß sich um eine "bedeutende" handeln. Diese Rechtsprechung, welche dem Richter ein schwer zu kontrollierendes Ermessen zubilligt, hat ganz wesentlich die kantonale Regelung beeinflußt34 • Auf der einen Seite führte sie dazu, daß auf das Erfordernis der möglichen Anwendung eines milderen Strafgesetzes verzichtet wurde3 5, auf der anderen Seite bewirkte sie, daß heute fast alle Strafprozeßordnungen das Erfordernis, daß die Nova eine bedeutende Minderung der Strafe ermöglichen müssen, enthalten36 • Wo das nicht der Fall ist3 7, wird die bedeutende Milderungsmöglichkeit in der Regel von der Rechtsprechung38 verlangt. Diese Rechtsprechung ist jedoch, wie eine nähere Untersuchung im Kanton Zürich zeigt, keineswegs konstant. So hat die erste Strafkammer ein Wiederaufnahmegesuch gutgeheißen, mit der Begründung: "Es ist nicht erforderlich, daß die neuen Tatsachen allein oder in Verbindung mit früher festgestellten unbedingt zu einer Änderung des Urteils im Sinne des Freispruchs oder der milderen Bestrafung führen müssen, sondern es genügt zur Gutheißung des Wiederaufnahmegesuchs schon, daß die Richtigkeit des früheren Urteils ernstlich in Zweifel gezogen werden kann39 ." Doch ist diese Formulierung insofern unglücklich, als sie bezüglich der Erheblichkeit nur aussagt, daß eine mildere Bestrafung genügt und auf das "bedeutend" verzichtet, im übrigen jedoch nur dahingehend verstanden werden kann, daß der Grad der Erfolgsaussicht, der für die Gutheißung des Wiederaufnahmegesuchs erforderlich ist, damit beurteilt wurde. Obwohl das Zürcher Obergericht immer wieder betont, daß § 449 Ziff. 3 StPO ZH mit Art. 397 StGB inhaltlich genau übereinstimmt, finden sich Urteile, in denen nicht auf die Höhe der Strafmilderung abgestellt wurde, sondern in denen das Obergericht sich regelmäßig damit begnügte, daß überhaupt eine Strafmilderung in

34

B. Brühlmeier, Die Wiederaufnahme, S. 256.

s. die Änderung des Art.347 Ziff.3 stpo BE durch Art.3 Ziff.54 des Gesetzes über den Ausbau der Rechtspflege vom 10. Februar 1952; auch Art. 252 Ir StPO SH, nach dem eine bloße Strafmilderung innerhalb der im früheren Urteil angewendeten Strafbestimmung im Wiederaufnahmeverfahren nicht stattfindet, dürfte durch Art. 59 EGStGB SH außer Kraft gesetzt sein. 36 Vgl. die Formulierung in LU 255 Ziff.1: "... sofern sie geeignet sind, einen Freispruch oder ein bedeutend milderes Urteil herbeizuführen." 37 ZH 449 Ziff. 3; NW 76; TG 233 Ziff. 1; VS 195 lit. b. 38 ZR 1955 Nr.70, wo trotz unterschiedlicher Formulierung die übereinstimmung zwischen Art. 397 StGB und § 449 Ziff.3 StPO ZH festgestellt wird. 39 Unveröffentlichter Beschluß I. Strk. vom 21. Januar 1963 in Sachen H. G. gegen Staatsanwaltschaft; Sträuli, Kommentar, N 5 zu § 449. 35

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II!. Teil: Kantonales Recht

Betracht kam40 • Dies wird besonders deutlich in einem Entscheid41 , in dem das Wiederaufnahmegesuch gegen eine Verurteilung wegen Diebstahls zu einem Monat Haft beurteilt wurde. Als Wiederaufnahmegrund wurde eine in mittlerem Grade verminderte Zurechnungsfähigkeit geltend gemacht. Obwohl die Staatsanwaltschaft in ihrer Vernehmlassung darauf hingewiesen hatte, daß das Gericht mit seiner Strafe von einem Monat unter den gesetzlichen Strafrahmen gegangen sei, und obwohl das Obergericht selber erkannte, "daß unter diesen Umständen eine weitere Milderung der Strafe nicht leichthin verantwortet werden könne", hieß es trotzdem das Wiederaufnahmegesuch gut, da "die in mittlerem Grade verminderte Zurechnungsfähigkeit eine noch weitere Milderung der Strafe rechtfertigen könnte". Diese Rechtsprechung trägt den Bedenken Rechnung, welche gegen die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 397 StGB vorgebracht wurden, indem sie dann, wenn ein für die Strafzumessung bedeutender Umstand, welcher vom erkennenden Gericht nicht berücksichtigt wurde, dargetan wird, die Wiederaufnahme zuläßt. Dies folgt wie die erste Strafkammer des Obergerichts in einem anderen Beschluß ausführt42 , daraus, daß "der Angeklagte im Rechtsstaat Anspruch auf die richtige Bemessung der Strafe hat". Wie bei der Beurteilung der Erheblichkeit wurde auch bei der Neuheit die Rechtsprechung der kantonalen Gerichte ganz wesentlich durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtes beeinflußt. Eine Ausnahme macht das Obergericht des Kantons Solothurn, das in zwei Urteilen43 eine zur Zeit der Urteilsfällung noch nicht existierende Tatsache, nämlich einen Bundesratsbeschluß, durch den rückwirkend die Pflicht zur Bezahlung der Militärsteuer aufgehoben wurde, nachdem bereits eine Verurteilung wegen schuldhafter Nichtbezahlung erfolgte, als neue Tatsache anerkannte und das Wiederaufnahmegesuch schützte. Sowohl Clerc 44 wie Boner45 vertreten die Auffassung, daß hier nur eine Begnadigung in Frage gekommen wäre. Sowohl gegen die Begründung wie gegen das Ergebnis dieser Ansicht scheinen mir Zweifel gerechtfertigt. Das alleinige Abstellen auf den Zeitpunkt der faktischen Existenz des Bundesratsbeschlusses verkennt, daß er rechtlich im Zeitpunkt der Urteilsfällung als in Kraft stehend zu gelten hat. Das Gericht hat somit 40 Unveröffentlichter Beschluß Gesamtobergericht vom 14. Dezember 1966 (K. S. gegen Staatsanwaltschaft); Gesamtobergericht vom 28. Mai 1962 (E. S. gegen Staatsanwaltschaft); Gesamtobergericht vom 25. Mai 1966 (A. R. gegen Staatsanwaltschaft). 41 Unveröffentlichter Beschluß des Gesamtobergerichts vom 20. Dezember 1961 (E. M gegen Staatsanwaltschaft). 42 Unveröffentlichter Beschluß I. Strk des Obergerichts Zürich vom 30. Mai 1963 (W. F. gegen Staatsanwaltschaft). 43 Siehe P. Boner, Die Wiederaufnahme, S. 135. 44 F. Clerc, SJK 955 (Art. 397) Rdnr. 30. 45 P. Boner, Die Wiederaufnahme, S. 136.

1.

Die Wiederaufnahmegründe

73

seiner Verurteilung keinen falschen Sachverhalt zugrunde gelegt, sondern einen Sachverhalt zu unrecht als strafbar qualifiziert. Damit handelte es sich hier jedoch um einen Fall falscher Rechtsanwendung, welche mit dem Rechtsmittel der Wiederaufnahme nicht korrigiert werden kann, so daß im Ergebnis der Lösung von eIere und Boner zugestimmt werden müßte. Wenn hier trotzdem die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens für die bessere und sachgerechtere gehalten wird, dann aus folgenden Gründen: Die Fälle, in denen rückwirkend ein Verhalten für straflos erklärt wird, liegen so klar und sind so selten, daß eine Wiederaufnahme des Verfahrens mit nachfolgendem Freispruch keine besondere Belastung der Justiz zur Folge hat. Eine Begnadigung hat dazu für den Verurteilten nicht die gleiche Wirkung wie ein gerichtlicher Freispruch, da durch sie nicht das Urteil aufgehoben wird, sondern nur der Vollzug der Strafe. Beschränkt auf diese Fälle scheint mir eine analoge Anwendung der Wiederaufnahmebestimmungen zulässig und vernünftig zu sein. Ob eine Tatsache, wenn sie bereits im ersten Verfahren als Hypothese in Erwägung gezogen wurde, doch "neu" ist, wurde vom Obergericht des Kantons Zürich48 bejaht. Allerdings kann dieses Urteil nicht zur Unterstützung der Ansicht von Maunoir47 herangezogen werden, da das Obergericht dabei nicht zwischen Tatsachen oder Beweismitteln unterschieden hatte und in Wirklichkeit ein Fall vorlag, in welchem durch ein neues Beweismittel ein bereits in Erwägung gezogener Umstand glaubhaft gemacht wurde. Insofern kann also daran festgehalten werden, daß eine Tatsache nur dann neu ist, wenn sie dem Gericht nie zur Beurteilung vorlag48. Das Obergericht des Kantons Aargau hat zur Frage der Neuheit in einem unveröffentlichten Urteil vom 20. August 1965 (A. W. gegen Staatsanwaltschaft) Stellung genommen. Dabei ging es um folgenden Fall: Das Bezirksgericht verurteilte A. W. zu einer bedingten Haftstrafe. Wegen einer neuen Verurteilung beantragte die Staatsanwaltschaft den Widerruf der im ersten Urteil bedingt ausgesprochenen Haftstrafe, wobei sie jedoch übersehen hatte, daß die zweite Verurteilung wegen einer Tat ausgesprochen wurde, welche erst nach Ablauf der Bewährungsfrist begangen wurde. Obwohl dies aus den Akten klar ersichtlich war, und das Gericht diese Akten auch beigezogen hatte, wurde dem Widerrufs antrag der Staatsanwaltschaft entsprochen. Das gegen dieses Urteil eingereichte Wiederaufnahmegesuch wurde vom 48 Unveröffentlichter Beschluß Gesamtobergericht vom 25. Mai 1966 (A. R. gegen Staatsanwaltschaft). 47 s. oben H. Teil, 2.24. 48 In diesem Sinn auch B. Briihlmeier, Die Wiederaufnahme, S. 226 (für den Kanton Aargau).

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III. Teil: Kantonales Recht

Obergericht gutgeheißen mit der Begründung, "es sei untragbar, den Gesuchsteller entgelten zu lassen, daß der Irrtum des Gerichts bei der erforderlichen Aufmerksamkeit hätte vermieden werden können. Maßgebend sei schließlich nicht, ob das Gericht schon im Widerrufsverfahren die entscheidende Tatsache des Zeitpunkts der neuerlichen Begehung der übertretung hätte erkennen können, sondern daß es sie tatsächlich nicht erkannt hat". Damit wird die oben vertretene Auffassung bestätigt, daß nicht auf das Kennenkönnen bei der Beurteilung der Neuheit abzustellen ist, sondern daß es darauf ankommen muß, ob das Gericht die Tatsache oder das Beweismittel tatsächlich gekannt hat. 1.123 Erfolgsaussicht Als letztes Problem im Zusammenhang mit dem Wiederaufnahmegrund "propter nova" soll noch untersucht werden, welche Erfolgsaussicht für die Gutheißung des Wiederaufnahmegesuchs verlangt wird und welche Anforderungen an die neuen Tatsachen oder Beweismittel gestellt werden. Die erste Frage läßt sich ohne genaue Kenntnis der Rechtsprechung fast nicht beantworten. Aus diesem Grund soll ihr zuerst an Hand des vorhandenen Materials nachgegangen werden. Nach der Rechtsprechung des Obergerichts des Kantons Zürich genügt für die Begründetheit, daß eine Änderung des angefochtenen Urteils zugunsten des Gesuchstellers "ernsthaft in Betracht zu ziehen ist"", oder "daß es möglich ist, daß das Gericht im wiederaufgenommenen Verfahren den Strafaufschub gewährt"50. Es wird also nicht verlangt, daß die Nova unbedingt eine Milderung der Strafe herbeiführen, sondern es genügt bereits die Möglichkeit dazu. Dabei geht die Zürcher Praxis noch einen Schritt weiter, indem sie ausdrücklich den Grundsatz "in dubio pro reo" für anwendbar erklärt51 • Das Obergericht hatte ein Wiederaufnahmegesuch abgewiesen und dies damit begründet, daß der vom Gesuchsteller neu aufgerufene Zeuge möglicherweise nicht die Wahrheit gesagt haben könnte. Da es diesen Verdacht auf "rein spekulative Hypothesen" stützte, "die in den Akten nicht den geringsten Anhaltspunkt finden", erachtete das Kassationsgericht den Bereich des pflichtgemäßen richterlichen Ermessens für überschritten. Bei objektiver Würdigung der neuen Zeugenaussage müsse ein rechtlich erheblicher Zweifel an der Schuld des Angeklagten bejaht werden und deshalb das Wiederaufnahmegesuch gutgeheißen werden. In einem Urteil des 49 Unveröffentlichter Beschluß Gesamtobergericht vom 22. November 1962 (F. M. gegen staatsanwaltschaft). 50 Unveröffentlichter Beschluß I. Strk. vom 30. Mai 1963 (W. F. gegen Staatsanwaltschaft). 51 Unveröffentlichter Beschluß des Kassationsgerichts Zürich vom 6. Oktober 1969 (E. P. gegen Staatsanwaltschaft).

1.

Die Wiederaufnahmegründe

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Obergerichts wird diese Haltung noch deutlicher; dort52 wird ausgeführt: "Da im gesamten Strafverfahren, also auch im Wiederaufnahmeverfahren bei der Beurteilung der Beweislage der Grundsatz ,in dubio pro reo' zur Anwendung zu kommen hat, müssen sich Zweifel zugunsten des Gesuchstellers auswirken, d. h. zur Gutheißung des Wiederaufnahmegesuches führen." Eine andere Auffassung scheint Andres53 zu vertreten, wenn er von der "Umkehrung der Beweislast im Wiederaufnahmeverfahren" spricht. Ebenso wurde in DeutschlandM einhellig die Meinung vertreten, daß im Wiederaufnahmeverfahren der Grundsatz "in dubio pro reo" keine Anwendung findet. Erst in jüngster Zeit wird von der Literatur55 hervorgehoben, daß dieser Grundsatz, entsprechend der schweizerischen Praxis, auch im Wiederaufnahmeverfahren beachtet werden muß. Ich möchte mich dieser Auffassung um so mehr anschließen, da gerade die deutsche Praxis zeigt, daß die hohen Anforderungen an den Nachweis der Geeignetheit der Nova fast jedes Wiederaufnahmegesuch zum Scheitern verurteilen. Nicht damit verwechselt werden darf die Frage, ob die Wiederaufnahme bereits dann zuzulassen ist, wenn die neuen Tatsachen oder Beweismittel glaubhaft gemacht worden sind, oder ob erforderlich ist, daß sie nachgewiesen sind. Nachdem das Bundesgericht in konstanter Rechtsprechung sich mit der Glaubhaftmachung begnügte, haben auch die kantonalen Gerichte diesen Ausdruck oft in ihren Urteilen, durch welche ein Wiederaufnahmegesuch gutgeheißen wurde, gebraucht56 • An Hand einiger Urteile des Obergerichts Zürich läßt sich jedoch erkennen, daß bei der Prüfung der Begründetheit immer auch auf einen Nachweis der Nova Wert gelegt wurde. Das Zürcher Obergericht hat dann auch zu Recht erkannt57, daß durch die Änderung der Rechtsprechung in BGE 92 IV 177 von Bundesrechts wegen nichts anderes verlangt wird, als bisher schon für das zürcherische Recht galt: Um ein Wiederaufnahmegesuch gutheißen zu können, müssen die darin aufgestellten Behauptungen im Wiederaufnahmeverfahren eine genügende Bestätigung gefunden haben. Es wurde bereits oben ausgeführt, daß damit de jure eine Erschwerung der Wiederaufnahme herbeigeführt wurde. Die damit zusammenhängenden Fragen, welche momentan auch in Deutschland 52 Unveröffentlichter Beschluß Gesamtobergericht Zürich vom 20. November 1968 (H. W. gegen staatsanwaltschaft); vgl. auch ZR Bd.37 Nr.185. 53 W. Andres, Das Rechtsmittel der Revision, S.74. M Vgl. die Nachweise bei B. Schünemann, Die Anwendung des Grundsatzes ,in dubio pro reo' im Wiederaufnahmeverfahren, ZStW 1972, 874. 55 Kern-Roxin, Strafverfahrensrecht, S.287; B. Schünemann, Die Anwendung, ZStW 1972, S. 870 ff. 56 Vgl. ZR 52 Nr. 123. 117 II. Strafkammer, in: SJZ 66 (1970),307.

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III. Teil: Kantonales Recht

die Diskussion um eine Reform des Wiederaufnahmerechtes bestimmenss, sollen im Zusammenhang mit der Darstellung des Verfahrens näher behandelt werden. Inwieweit die Änderung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung die kantonalen Gerichte beeinflußt hat, läßt sich mangels veröffentlichter Urteile nicht sagen. Immerhin kann vermutet werden, daß sie auf die kantonale Rechtsprechung keinen großen Einfluß haben wird, da durch diese Änderung die Rechtsprechung des Bundesgerichts an die kantonale Praxis angeglichen wurde69 • Für den Kanton Thurgau dürfte sich allerdings eine neue Lage ergeben, da er in seiner neuen StPO in übereinstimmung mit der alten Rechtsprechung des Bundesgerichts nur verlangt, daß die Nova glaubhaft gemacht werden müssen. Damit erlaubt § 233 StPO Thurgau zweifellos leichter die Wiederaufnahme des Verfahrens als Art. 397 StGB in der Interpretation des Bundesgerichts, obwohl durch die Formulierung von § 233 StPO TG eine möglichst genaue übereinstimmung erreicht werden sollte. Diese übereinstimmung könnte dadurch wieder hergestellt werden, daß an das "Glaubhaftmachen" sehr strenge Anforderungen gestellt werden.

1.13 Widersprechendes Urteil Dieser Wiederaufnahmegrund wird in einigen Kantonen" sowie im Bundesstrafprozeß61 neben dem allgemeinen Wiederaufnahme grund "propter nova" genannt. Mit Ausnahme der Kantone Freiburg, Schaffhausen und Tessin muß es sich bei dem widersprechenden Urteil stets um ein Strafurteil handeln, wobei umstritten ist, ob es darüber hinaus ein verurteilendes Erkenntnis sein muße oder ob auch ein freisprechendes genügt63. Letztlich kann diese Frage ohne Nachteil für den Gesuchsteller offenbleiben, da ein freisprechendes Urteil zumindest als neue Tatsache geltend gemacht werden kann6'. In der Literatur wurde wiederholt65 darauf hingewiesen, daß für diesen besonderen Wiederaufnahmegrund kein Bedürfnis bestehe, da er ss Vgl. Eckert, Bericht, zstW 1972, 944 ff.

Vgl. oben II. Teil, 2.32. ZH 449 Ziff.2; BE 347 Ziff.2; FR 59 lit. a; SO 208 lit. c; BL 169 Ziff.2; SH 246 lit. c; AG 230 Ziff.3; VS 195 lit. a; TI 243 Ziff.2; GE 452 lit. a. 81 BStrP 229 Ziff. 1 b. 62 So für Bern, M. Waiblinger, Kommentar, Art. 347 Rdnr.3. 83 So für Zürich, H. Sträuli, Kommentar, § 449 Rdnr.3; für Aargau, B. BTÜhlmeier, Die Wiederaufnahme, S.227 m. w. Nachw.; für Solothurn, P. Boner, Die Wiederaufnahme, S. 128 m. w. Nachw. 84 M. Waiblinger, Kommentar, Art. 347 Rdnr.3. 65 W. Andres, Das Rechtsmittel der Revision, S.48; F. Staub, Die Grunde der Wiederaufnahme, S.78; F. Clerc, Le proces plmal. S.153; P. Boner, Die Wiederaufnahme, S. 131. 59

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1.

Die Wiederaufnahmegrunde

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vom allgemeinen Wiederaufnahmegrund "propter nova" mit umfaßt sei. Seine Beibehaltung erkläre sich aus einer kritiklosen Übernahme des französischen Systems, wobei nicht berücksichtigt worden sei, daß der allgemeine Wiederaufnahmegrund in Frankreich erst 1895 als letzter Wiederaufnahmegrund eingeführt worden sei". Trotzdem unterscheidet er sich wesentlich von dem allgemeinen Wiederaufnahmegrund "propter nova", da nach ihm die Wiederaufnahme des ersten Verfahrens zwingend vorgeschrieben wird, wenn ein zweites, widersprechendes Urteil vorliegt67. M. E. liegt darin ein Verstoß gegen das System des Wiederaufnahmerechtes, und dies aus zwei Gründen. Das Wiederaufnahmeverfahren im engeren Sinne, also das Verfahren, in welchem über die Zulässigkeit und die Begründetheit des Wiederaufnahmegesuchs entschieden wird, hat nur dann einen Sinn, wenn es dazu dient, das Vorbringen, welches das erste Urteil als fehlerhaft erscheinen läßt, abzuklären. Damit wird verhindert, daß vorschnell über die gleiche Sache (eadem res) ein zweites Mal geurteilt wird, wodurch die Rechtskraft richterlicher Urteile illusorisch würde. Nur dann, wenn es zur Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit erforderlich ist, soll die Rechtskraft beseitigt und ein zweites Verfahren ermöglicht werden. Dieser Mechanismus ist jedoch bei einem absoluten Wiederaufnahmegrund außer Kraft gesetzt, da bei seinem Vorliegen das Wiederaufnahmegesuch gutgeheißen werden muß, ohne Rücksicht darauf, ob es sich bei dem ersten Urteil um ein Fehlurteil gehandelt hat, oder ob das zweite, widersprechende Urteil ein Fehlurteil ist. Damit wird aber gleichzeitig auch gegen das Prinzip der freien Beweiswürdigung verstoßen. Der Richter im Wiederaufnahmeverfahren muß, auch wenn er der festen überzeugung ist, daß das erste Urteil "richtig" ist, das Wiederaufnahmegesuch gutheißen, während er im Fall des allgemeinen Wiederaufnahmegrundes "propter nova" das Gesuch abweist, wenn er der überzeugung ist, daß die vorgebrachten Nova keinen Einfluß auf das erste Urteil haben. Es ist zuzugeben, daß das Vorliegen eines widersprechenden Urteils ein starkes Indiz für die Fehlerhaftigkeit des ersten Urteils ist, doch wird kein Richter im Wiederaufnahmeverfahren ohne besonderen Grund seine Erheblichkeit verneinen. Aus diesem Grund bedarf es keiner zwingenden Vorschrift für diese Fälle; da dieser Wiederaufnahmegrund als solcher bereits im allgemeinen Wiederaufnahmegrund enthalten ist, könnte m. E. ganz auf ihn verzichtet werden. Seine Auslegung durch die Rechtsprechung ist zudem außerordentlich eng und beschränkt ihn auf den Fall, daß hinsichtlich der Täterschaft des dem ersten Urteil zugrunde liegenden Delikts ein wider66 F. Clerc, Le proces penal, S. 153. 67 P. Boner, Die Wiederaufnahme, S.126.

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sprechendes Urteil gefällt wird68 • Waiblinger6 9 beschränkt ihn sogar auf den klassischen Fall, die in zwei Strafurteilen erfolgte Verurteilung je eines Angeschuldigten wegen ein und derselben Handlung, die nur von einer Person begangen worden sein kann70 • 1.14 Strafbare Handlung Ebenso wie der Wiederaufnahmegrund des widersprechenden Strafurteils findet sich auch der besondere Wiederaufnahmegrund der strafbaren Handlung nur in einigen kantonalen Rechten71 • Darüber hinaus lassen sich auch in seiner Ausgestaltung Unterschiede feststellen. So beschränken Freiburg, Schaffhausen und Genf den Kreis der strafbaren Handlung auf Rechtspflegedelikte, wie falsches Zeugnis, Amtspflichtverletzung, Bestechung, Gebrauch von gefälschten Urkunden. Zürich verlangt, daß durch ein Verbrechen oder Vergehen auf das frühere Strafverfahren eingewirkt wurde, während Basel-Stadt nur bei Einwirkung durch ein Verbrechen die Wiederaufnahme, gestützt auf den besonderen Wiederaufnahmegrund der strafbaren Handlung, zuläßt. Die weitere Forderung, daß die strafbare Handlung durch ein Strafurteil festgestellt sein muß, was von Bern, Freiburg, Basel-Stadt und Landschaft, Schaffhausen und Sankt Gallen verlangt wird, wurde im Hinblick auf Art. 397 StGB teilweise außer Kraft gesetzt, da die strafbare Handlung gleichzeitig als neue Tatsache genannt werden kann, das kantonale Recht die Wiederaufnahme jedoch nicht weiter einschränken darf, als Art. 397 StGB es vorsieht. Der Kassationshof von Bern hat daraus gefolgert, daß der spezielle Wiederaufnahmegrund der strafbaren Handlung (Art. 347 Ziff.l StPO BE) nur dann noch als Wiederaufnahmegrund zugunsten des Verurteilten angerufen werden kann, wenn mit ihm eine strafbare Einwirkung auf das Urteil geltend gemacht wird, welche nicht als Novum angerufen werden kann, wie z. B. Bestechung des urteilenden Richters. Dies könne deshalb keine neue Tatsache sein, da sie dem bestochenen Richter zur Zeit der Urteilsfällung bekannt seF2. Diesem Urteil hat Clerc 73 widersprochen, wobei jedoch sein Widerspruch auf einem Mißverständnis beruht. Während W. Andres, Das Rechtsmittel der Revision, S.47. M. Waiblinger, Kommentar, Art. 347 Rdnr.3. 70 Ebenso H. Sträuli, Kommentar, § 449 Rdnr.3; etwas großzügiger wohl die solothurnische Praxis, vgl. die Hinweise bei P. Boner, Die Wiederaufnahme, S. 126 ff. 71 ZH 449 Ziff.l; BE 347 Ziff. 1; UR 125 lit. b; SZ 227 lit. b; OW 159 lit. b; GL 164 Ziff. 2; FR 59 lit. c; SO 208 lit b; BS 289; BL 169 Ziff.l; SH 246 lit. b; SG 198 Ziff.l; AG 230 Ziff.2; TG 233 Ziff.2; TI 243 Ziff.l; VS 195 lit. c; GE 452 lit. b. 72 ZBJV 91 (1955), 70 f. 73 F. Clerc, SJK 955 (Art. 397 StGB) Rdnr. 33. 68

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Die Wiederaufnahmegrunde

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der Kassationshof Bern in seinem Urteil sagt, daß die Tatsache, daß der Richter bestochen wurde, nicht neu sei, ist Clerc der Ansicht, daß, wenn ein Richter sich bestechen ließ und deshalb falsche oder unvollständige Feststellungen traf, die Tatsache, so wie sie in Wirklichkeit ist, als neue zu gelten hat. Die Ansicht von Clerc widerspricht also dem Urteil des Kassationshofes nicht, da dieser sich über die Tatsache der Richterbestechung ausgesprochen hat, Clerc jedoch über Tatsachen, die der bestochene Richter falsch oder unvollständig festgestellt hat. Die Frage ist jedoch, ob in diesem Fall überhaupt ein gültiges, rechtskräftiges Urteil zustandegekommen ist, welches das Strafklagerecht verbraucht, oder ob es sich nicht wn ein nichtiges Urteil handelt, welches einer erneuten Beurteilung nicht im Wege steht. Das Problem wurde oben (1. Teil, 3.221) bereits angesprochen und soll auch hier nur erwähnt werden, da es einer genauen Untersuchung der Lehre vom nichtigen Urteil bedürfe, welche den Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde. Im übrigen ist jedoch dem Kassationshof zuzustimmen, wenn er sagt, daß auch eine strafbare Handlung ein Novum sein kann. Es wäre jedoch nicht erforderlich gewesen, diese Fälle nur noch unter den allgemeinen Wiederaufnahmegrund des Art. 347 Ziff.3 StPO BE zu subsumieren, sondern es hätte genügt, auf die besondere Voraussetzung einer rechtskräftigen Verurteilung wegen dieser strafbaren Handlung zu verzichten. Das Zürcher Gesamtobergericht hat in einem unveröffentlichten Beschluß74 erkannt, daß der allgemeine Wiederaufnahmegrund wegfällt, wenn die behauptete neue Tatsache unter den besonderen Wiederaufnahmegrund subsumiert werden kann. Es fragt sich dann jedoch, ob für einen besonderen Wiederaufnahmegrund "wegen strafbarer Handlung" überhaupt noch ein Bedürfnis besteht. Dies ist, abgesehen von der m. E. nicht überzeugenden Argumentation des bernischen Kassationshofes, nur dann zu bejahen, wenn der besondere Wiederaufnahmegrund die Wiederaufnahme des Verfahrens unter leichteren Voraussetzungen ermöglicht als der allgemeine Wiederaufnahmegrund, indem er, wie der Aufnahmegrund des widersprechenden Urteils als absoluter Wiederaufnahmegrund, die Prüfung der Erheblichkeit überflüssig macht. Für seine Gleichstellung mit dem Wiederaufnahmegrund des widersprechenden Urteils spricht sich Brühlmeier75 aus, der in ihnen absolute Wiederaufnahmegründe in dem Sinne sieht, daß bei Nachweis der entsprechenden Tatsache die Wiederaufnahme zwingend und ohne Rücksicht auf den Umfang der zu erwartenden Änderung des früheren Urteils gewährt werden muß. M. E. findet diese Auslegung im Gesetz keine ausreichende Stütze, da der Wiederaufnahmegrund der 74 Vom 20. November 1968 (H. W. gegen staatsanwaltschaft). 75 B. Brühlmeier, Die Wiederaufnahme, S. 226.

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III. Teil: Kantonales Recht

strafbaren Handlung dahingehend relativiert ist, daß durch sie auf das frühere Verfahren eingewirkt worden sein muß. Wenn die Aussage eines Zeugen vom Gericht ausdrücklich nicht berücksichtigt wurde, so kann auch der Nachweis, daß dieser Zeuge eine vorsätzlich falsche Aussage gemacht hat, nicht zur Wiederaufnahme führen, da die strafbare Handlung keinen Einfluß auf das frühere Verfahren hatte. Es genügt also nicht nur der Nachweis der strafbaren Handlung, sondern es muß zumindest möglich sein, daß durch sie auf das frühere Verfahren eingewirkt wurde, was nur bedeuten kann, daß durch sie entweder die Urteilsgrundlage oder das Urteil selbst verfälscht wurde. Dann jedoch, und darin ist Brühlmeier zuzustimmen, sollte der Umfang der zu erwartenden Änderung keine Rolle mehr spielen. Der Nachweis einer strafbaren Handlung sowie ihr Einfluß auf das frühere Verfahren dürfte für den Gesuchsteller in der Regel sehr schwer zu erbringen sein. In einem Beschluß des Obergerichts Zürich wurde einem Zeugen bewußt falsche Aussage vorgeworfen. Die daraufhin gegen ihn eingeleitete Untersuchung wurde eingestellt, "da nicht mit der für eine Anklageerhebung nötigen Sicherheit gesagt werden könne, ob D. seinerzeit als Zeuge oder heute als Angeschuldigter gelogen habe". Das Obergericht hat das Wiederaufnahmegesuch mit der Begründung gutgeheißen, "da die Beweislage hinsichtlich der Frage, ob D. auf die frühere Strafuntersuchung durch falsches Zeugnis eingewirkt habe, in der einen wie in der anderen Richtung Zweifel offenlasse und diese Zweifel sich zugunsten des Gesuchstellers auswirken, d. h. zur Gutheißung des Wiederaufnahmegesuchs führen müssen"76. Danach genügt bereits, daß das Vorliegen einer strafbaren Handlung ernsthaft in Betracht zu ziehen ist. Gleiches gilt auch für den Zusammenhang der strafbaren Handlung zum Ergebnis des Strafverfahrens, wo ebenfalls die Möglichkeit der Beeinflussung des Beweisergebnisses und des Urteils durch die strafbare Handlung genügt77 . Da es also weder auf den Umfang der Änderung des früheren Urteils ankommt, noch der Nachweis der strafbaren Handlung und ihres Einflusses auf das frühere Verfahren im Sinne eines strikten Kausalitätsnachweises erbracht sein muß, sind die Anforderungen, welche an ein Wiederaufnahmegesuch gestellt werden, das sich auf die neue Tatsache einer strafbaren Handlung beruft, einfacher zu erfüllen als beim allgemeinen Wiederaufnahmegrund "propter nova", so daß sich die Beibehaltung des besonderen Wiederaufnahmegrundes rechtfertigt.

76 Unveröffentlichter Beschluß Gesamtobergericht Zürich vom 20. November 1968 (H. W. gegen staatsanwaltschaft). 77 Vgl. M. Waiblinger, Kommentar, Art. 347 Rdnr.2 und die dort zitierte Literatur.

1.

Die Wiederaufnahmegründe

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1.2 Die Gründe für die Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten

Die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten wird von den meisten Kantonen in unterschiedlicher Weise anerkannt. Ein Teil der Kantone sowie die beiden Bundesstrafverfahren78 lassen nur eine Wiederaufnahme zuungunsten eines Freigesprochenen zu, während ein anderer Teil79 sie auch zuungunsten eines zu milde Verurteilten vorsieht. Ein weiterer Unterschied besteht darin, ob die Wiederaufnahme zuungunsten nur bei Vorliegen bestimmter Tatsachen oder Beweismittel (besondere Wiederaufnahmegründe) zulässig ist80 oder auch auf Grund des allgemeinen Wiederaufnahmegrundes "propter nova "81.

1.21 Die Wiederaufnahme zuungunsten "propter nova" Während die meisten Kantone, welche gestützt auf diesen Wiederaufnahmegrund die Wiederaufnahme zuungunsten zulassen, dies unter genau den gleichen Voraussetzungen tun, wie bei der Wiederaufnahme zugunsten, ist in Zürich, Bern und Aargau erforderlich, daß die Nova für sich allein, also nicht in Verbindung mit bereits bekannten Tatsachen, geeignet sein müssen, eine Verurteilung herbeizuführen8!. Diese Auffassung wurde auch durch das Obergericht Zürich83 bestätigt, indem es eine Zeugenaussage, auf die sich das Wiederaufnahmegesuch der Staatsanwaltschaft berief, daraufhin untersuchte, "ob diese Aussagen für sich allein zu einer Verurteilung des Angeschuldigten W. hinreichen". Bern, Basel-Landschaft und Aargau, welche die Wiederaufnahme zuungunsten eines Verurteilten wegen besonderer Wiederaufnahmegrunde zulassen, beschränken sie, gestützt auf den allgemeinen Wiederaufnahmegrund "propter nova", auf den Fall, daß durch die Wiederaufnahme die Verurteilung eines Freigesprochenen angestrebt wird. Vaud, das sowohl zugunsten wie zuungunsten nur den allgemeinen Wiederaufnahmegrund der Nova kennt, läßt die Wiederaufnahme zuungunsten GL 164; TI 250. ZR 443; BE 347 Ziff.l und 2; LU 255 Ziff.2; UR 69; AR 122; SG 198; GR 147; AG 230 Ziff. 2 und 3; TG 233 Ziff.2 und 3; VD 455; VS 195; NE 262; MStrGO 199 H; BStrP 229 Ziff.2. 80 TI 250; NE 262; MStrGO 199 H. 81 ZR 443; BE 347 Ziff.4; LU 255 Ziff.2; SZ 227; GL 164; FR 59; SO 208 lit. a; BS 288; BL 169; AI 69; AR 122; SG 198; GR 147; AG 230 Ziff. 4; TG 233 Ziff. 1; VD 455; VS 195; BStrP 229 Ziff. 2. 82 So ausdrücklich ZR 443 Ziff.2; für Bern (347 Ziff.4) und Aargau (230 Ziff. 4) folgt dies aus dem Vergleich mit dem Wiederaufnahmegrund "propter nova" zugunsten des Verurteilten; a. A. M. Waiblinger, Kommentar, Art. 347 Rdnr.5. 83 Unveröffentlichter Beschluß H. Strk. vom 15. Februar 1966 (Staatsanwaltschaft gegen E. W.). 78

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III. Teil: Kantonales Recht

ganz generell nur zu, wenn durch das neue Urteil eine Freiheitsstrafe von mehr als sechs Jahren zu erwarten ist und schließt sie ganz aus für politische Delikte (VD 455 Abs. II), während in Graubünden eine Wiederaufnahme zuungunsten nur bei Verbrechen und Vergehen zulässig ist (GR 147). Von einigen Kantonen84 und vom Bund85 wird unter dem allgemeinen Wiederaufnahmegrund "propter nova" das Geständnis des Beschuldigten besonders hervorgehoben.

1.22 Besondere Gründe für die Wiederaufnahme zuungunsten des Beschuldigten Soweit die Kantone wegen besonderer Wiederaufnahmegriinde die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten zulassen, kann auf die Ausführungen über die besonderen Gründe für die Wiederaufnahme zugunsten verwiesen werden88 • Neuchätel und die Militärstrafgerichtsordnung, welche zuungunsten des Beschuldigten den allgemeinen Wiederaufnahmegrund nicht kennen, lassen bei Vorliegen eines Geständnisses die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Beschuldigten ZU87 • Waiblinger 88 vertritt dazu die Ansicht, die besondere Hervorhebung des Geständnisses habe die Bedeutung, daß bei Vorliegen eines solchen dessen Eignung zur Herbeiführung eines verurteilenden Erkenntnisses gesetzlich vermutet werde, also nicht im Wiederaufnahmeverfahren zu überprüfen sei. Diese Meinung ist insofern irreführend, als das Gericht im Wiederaufnahmeverfahren bereits das Geständnis auf seine Glaubwürdigkeit und Schlüssigkeit hin überprüfen muß, d. h. auf seinen Beweiswert hin frei prüfen kann89 • Aus diesem Grund ist seine besondere Hervorhebung nur als Beispiel zu werten, für das jedoch das gleiche gilt wie für andere Nova. Eine wesentliche Einschränkung durch Berücksichtigung der Verjährung bei der Wiederaufnahme zuungunsten soll unten bei der Darstellung des Verfahrens behandelt werden (III. Teil, 2.322). 2. Das Wiederaufnahmeverfahren 2.1 Die zuständige Behörde

Für eine Regelung des zuständigen Gerichts, bei welchem ein Wiederaufnahmegesuch anzubringen ist, bieten sich grundsätzlich zwei Lösun84 ZH 443 Ziff.2; BE 347 Ziff.4; SO 208 lit. d; BL 169 Ziff.4; AG 230 Ziff.4. 85 BStrP 229 Ziff. 2. 86 Vgl. dazu III.Teil, 1.13 f. 87 NE 262 1I; MStrGO 169 1I. 88 M. Waiblinger, Kommentar, Art. 347 Rdnr.5. 89 W. Andres, Das Rechtsmittel der Revision, S. 55.

2. Das Wiederaufnahmeverfahren

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gen an: Entweder wird die Entscheidung über das Wiederaufnahmebegehren dem Gericht zugewiesen, welches die angefochtene Entscheidung gefällt hat9(), oder es ist zwingend ein Gericht höherer Ordnung zuständig (Devolutiveffekt)91. In den Kantonen, in denen der iudex a quo für die Beurteilung des Wiederaufnahmegesuchs zuständig ist, ist es, soweit ersichtlich, diejenige Instanz, die letztinstanzlich das Urteil gefällt hat (vgl. ZG 77, SG 200). Eine Ausschließung von Richtern oder Staatsanwälten, entsprechend der Vorschrift des § 23 Abs. 2 dStPO, ist dabei nicht vorgesehen. Ist ein Gericht höherer Ordnung für die Behandlung des Wiederaufnahmegesuch.s zuständig, so ist es entweder generell die höchste kantonale Instanz92 , oder die Zuständigkeit für das Wiederaufnahmeverfahren richtet sich danach, von welcher Instanz das angefochtene Urteil gefällt wurde. So ist in Zürich die I. Strafkammer des Obergerichts zuständig für Wiederaufnahmegesuche gegenüber Urteilen der Bezirksgerichte betreffend bundesrechtliche Verbrechen und Vergehen, die nicht im Strafgesetzbuch unter Strafe gestellt sind, betreffend Vergehen gegen die Ehre, betreffend Vergehen nach kantonalem Recht sowie gegenüber Urteilen der Einzelrichter und gegenüber Strafbefehlen93 • Die 11. Strafkammer behandelt die Gesuche um die Wiederaufnahme des Verfahrens, soweit sie nicht der I. Strafkammer oder der Revisionskammer zugewiesen sind. Die Revisionskammer wurde durch eine Änderung der Organisationsordnung94 eingerichtet und ist für die Wiederaufnahmegesuche gegen Urteile des Geschworenen-Gerichts und der Strafkammern des Obergerichts zuständig. Vor dieser Änderung war für diese Fälle das Obergericht als Gesamtbehörde zuständig, während jetzt eine besondere, aus fünf Mitgliedern bestehende Kammer gebildet wurde. In Solothurn ist das Kassationsgericht zuständig für Wiederaufnahmebegehren gegen Urteile des Schwurgerichts, der Schwurgerichtskammer und des Obergerichts, während das Obergericht für Wiederaufnahmebegehren gegen andere Urteile (Amtsgericht, Strafbefehl) zuständig ist (SO 211). 90 So: NW 77; ZG 77; BS 291; BL 172; AI 69 II; AR 123 I; SG 200; GR 149; TG 235. 91 So: ZH 439; BE 350; LU 257; UR 128; SZ 229; OW 163; GL 166; FR 60 Ziff. 2; SO 211; SH 248; AG 232; TI 245; VD 457; NE 263; GE 453; BStrP 232; MStrGO 200. M So: BE; LU; UR; SZ; OW; GL; FR; SH; TI; VS; VD; NE; GE. 93 Konstituierung des Obergerichts des Kantons Zürich für die zweite Hälfte des Jahres 1971. 94 Änderung der Verordnung über die Organisation des Obergerichts vom 1. November 1962 (vom 7. Dezember 1970).



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IH. Teil: Kantonales Recht

Im Kanton Aargau ist mit Ausnahme der Wiederaufnahmegesuche gegen Strafbefehle, für die das Bezirksgericht zuständig ist, immer das Obergericht kompetent. Ein gesetzlicher Ausstandsgrund für Richter, welche bereits am ersten Verfahren teilgenommen haben, findet sich in Zürich (112 Ziff.3 GVG) , Bern (32 Ziff.6), Luzern (29 Ziff.5), Freiburg (53 lit. cl, Neuchätel (35 Ziff.2) sowie im Bundesstrafverfahren (99 BStrP i. V. m. 22 I lit. b Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspfiege vom 16. Dezember 1943). Das Obergericht des Kantons Aargau befaßte sich in einem Urteil95 mit der Anwendbarkeit von § 41 Ziff. 3 StpO, wonach ein gesetzlicher Ausstandsgrund für die Beamten der Strafrechtspfiege vorliegt, wenn sie "in der gleichen Sache in einer anderen amtlichen Stellung tätig waren". Obwohl man auf Grund der Entstehungsgeschichte der StPO von 1958 die Anwendbarkeit dieser Vorschrift auf Wiederaufnahmerichter, die bereits als Sachrichter fungiert haben, bejahen könnte, sprechen andere Gründe, die dann auch den Ausschlag gaben, dagegen. Nach Ansicht des Gerichts wurde dem Gedanken der Befangenheit des Sachrichters im Wiederaufnahmeverfahren in der StPO nicht konsequent Rechnung getragen, indem z. B. die Strafabteilung des Obergerichts zuerst in zweiter Instanz urteile und nachher über die Wiederaufnahme gegen dieses Urteil zu entscheiden habe". Daß dabei vom Gesetz stillschweigend die Konstituierung einer außerordentlichen Strafabteilung vorausgesetzt werde, könne nicht angenommen werden. Auch die Tatsache, daß im wiederaufgenommenen Verfahren der neue Entscheid vom erstinstanzlich zuständigen Gericht zu fällen sei, ohne daß das Gesetz eine Ausstandspfiicht für die einzelnen, am ersten Urteil beteiligten Richter vorschriebe, spreche gegen die Anwendbarkeit von § 41 Ziff. 3 StpO. Die Ausstandspfiichten wurden im Hinblick auf die verschiedenen Verfahrensstadien postuliert, nicht aber für das Wiederaufnahmeverfahren, wo der Richter vor einem mindestens teilweise neuen Tatbestand stehe. Die Frage, welchem der bei den Systeme (iudex a quo oder höhere Instanz unter Ausschluß früher schon beteiligter Richter) der Vorzug gebührt, ist in der Literatur umstritten. Als Vorteil der ersten Lösung wird angesehen, daß der Richter des ersten Verfahrens am besten in der Lage sei zu erkennen, ob ein Novum, bei dessen Kenntnis er anders geurteilt hätte, vorliegt. Auch habe das Argument der Gegner dieses 95 Unveröffentlichtes Urteil vom 6. April 1965 (K. S. gegen staatsanwaltschaft). 86 Im vorliegenden Falle wurde die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen ein Urteil des Geschworenengerichts verlangt, an dem seinerzeit zwei Richter mitgewirkt hatten, die inzwischen Richter am Obergericht wurden.

2. Das Wiederaufnahmeverfahren

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Systems, daß ein Richter in Ausstand treten müsse, der in der gleichen Sache bereits als Richter tätig gewesen sei, im Wiederaufnahmeverfahren keine Berechtigung, da durch das Gesuch nicht behauptet würde, daß ein Irrtum des früheren Richters vorliege, sondern etwas Neues97 • Wenn sich Pfenninger dann trotzdem dafür ausspricht, es solle das höchste Gericht des Bundes oder des Kantons über das Wiederaufnahmegesuch entscheiden, so nur deshalb, um eine einheitliche Rechtsprechung auf diesem Gebiet zu gewährleisten. Dieser Auffassung ist Andres98 unter Berufung auf v. Hentig99 entgegengetreten. Er weist einmal auf die Gefahr hin, daß das Prinzip der Unmittelbarkeit dadurch aufs höchste gefährdet werde, führt daneben aber auch psychologische Bedenken gegen dieses System ins Feld, da: "demander a un juge de se dejuger e'est presque un eontresens." Während das erste Argument nicht sehr überzeugt, da das Prinzip der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit von vielen Kantonen im Wiederaufnahmeverfahren stark eingeschränkt ist, kann zusätzlich auf den Wiederaufnahmegrund der strafbaren Handlung verwiesen werden. Hier wirkt es zweifellos stoßend, wenn derselbe Richter, dem im Wiederaufnahmegesuch eine Amtspftichtsverletzung vorgeworfen wird, über das Wiederaufnahmegesuch zu entscheiden hat. Aber auch in dem Vorbringen von Nova ist ein Vorwurf an das Gericht enthalten, da ja das Gericht von Amts wegen die Wahrheit erforschen muß, und dieser Ermittlungsgrundsatz vom Gericht möglicherweise verletzt wurde, wenn Lücken des Belastungsbeweises nicht durch selbständige Tätigkeit des Gerichts ausgefüllt worden sind. In diesem Zusammenhang kann ein Blick ins deutsche Recht von Interesse sein. Nach § 367 dStPO entscheidet über einen Wiederaufnahmeantrag das Gericht, dessen Urteil mit dem Antrag angefochten wird. Nach § 23 Abs. II dStPO ist dabei ein Richter, welcher an der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt hatte, kraft Gesetzes ausgeschlossen. Diese Regelung hat weder den Vorteil der besseren Kenntnis des früheren Richters, da dieser gerade ausgeschlossen wird, noch gewährleistet sie eine einheitliche Rechtsprechung. Nach einem Entwurf eines ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts100 soll sie noch dahingehend ergänzt werden, daß, wenn der Beschwerde gegen einen Beschluß stattgegeben wird, durch den das Gericht den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens als unzulässig oder unbegründet verworfen hat, das Beschwerdegericht zugleich bestimmt, daß das weitere 97

H. F. Pfenninger, Probleme, S.347.

W. Andres, Das Rechtsmittel der Revision, S.68. H. v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S. 209 ff. 100 Bundesrat-Drucksache 208/72 vom 13. April 1972.

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!II. Teil: Kantonales Recht

Verfahren vor einer anderen Abteilung oder Kammer des Gerichts, dessen Beschluß aufgehoben wird, oder vor einem zu demselben Land gehörenden benachbarten Gericht gleicher Ordnung stattzufinden hat. Diese komplizierte Regelung mag zeigen, wie sehr sich der Gesetzgeber darum bemüht, jeden Anschein von Befangenheit oder Voreingenommenheit zu vermeiden. Daß er nicht gleich einem Vorschlag von J escheck folgend 101 , die Oberlandesgerichte für zuständig erklärt hat, lag einmal daran, daß gegenwärtig eine Reform des Rechtsmittelverfahrens diskutiert wird, deren Auswirkungen auf die Mehrbelastung der Oberlandesgerichte noch nicht absehbar ist, zum anderen aber auch am Widerstand der Richter, die darin ein ungerechtfertigtes Mißtrauen erblicken102 • Der in Deutschland berechtigte Einwand gegen eine Zuständigkeit des Oberlandesgerichts, daß dann die Möglichkeit der Beschwerde wegfallen, zumindest jedoch stark eingeengt würde, trifft für die Schweiz nicht zu, da jede Entscheidung über ein Wiederaufnahmegesuch zugunsten des Verurteilten mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde vom Bundesgericht überprüft werden kann. Da damit ein Rechtsmittelschutz gewährleistet ist sowie aus den anderen oben genannten Gründen, möchte ich mich der Forderung von Andres anschließen und eine generelle Zuständigkeit des kantonalen Obergerichts, bzw. Kassationshofes für das Richtige halten, wobei evtl. für die Wiederaufnahme gegen Strafbefehle wie im Kanton Aargau eine Ausnahme gemacht werden kann. 2.2 Die Antragsbereclltigten

Der Kreis der Antragsberechtigten wird durch die einzelnen kantonalen Rechte103 unterschiedlich weit gefaßtt 04 • Für ein Wiederaufnahmegesuch zugunsten ist in allen Kantonen der Gesuchsteller und, mit Ausnahme von Appenzell-I.-Rh. und Militärstrafverfahren105, der Staatsanwalt antragsberechtigt. Die Aktivlegitimation des Staatsanwaltes, auch die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten zu beantragen, ergibt sich in Zürich aus der allgemeinen Bestimmung (§ 396 StPO), wonach die Staatsanwaltschaft befugt ist, Rechtsmittel auch zugunsten des Angeklagten oder Verurteilten zu ergreifen. Nach der Auffassung Vgl. den Hinweis bei Eckert, Bericht, zstw 1972, 947. Vgl. den Bericht von Eckert, in ZStW 1972, 945 ff., dem jedoch ein noch weitergehender Vorschlag des vorläufigen Referentenentwurfs zugrunde lag. 103 ZH 445; 451; BE 349; LU 255; UR 127; SZ 203; OW 160; NW 76; GL 165; ZG 76; FR 60; SO 210; BS 292; BL 171; SH 247; AI 69; AR 122; SG 199; GR 148; AG 206; 231; TG 234; TI 244; VD 456; VS 196; NE 262; GE 453. 104 Vgl. auch BStrP 231, MStrGO 199. 105 Für das Militärstrafverfahren a. A. F. elerc, De quelques problemes, ZStrR 61 (1946), 233 Fn. 1. 101

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2. Das Wiederaufnahmeverfahren

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von Clerc 106 kann auch ein Minderjähriger und auch ein Entmündigter ohne Mithilfe seines gesetzlichen Vertreters einen Wiederaufnahmeantrag107 stellen. Luzern, Schwyz, Aargau, Vaud, Neuchätel sowie der Bund erlauben auch dem gesetzlichen Vertreter, ein Wiederaufnahmegesuch einzureichen. Darüber hinaus wird der Kreis der Antragsberechtigten durch die unterschiedlichsten Formulierungen abgegrenzt, welche von den "nächsten Angehörigen" (BS 292) über "Verwandte in gerader Linie und Geschwister" (LU 255, GL 165, AG 231, NE 262), "Ehegatte, Bluts-, Adoptiv- und Stiefsverwandte, Verschwägerte in auf- und absteigender Linie, Brüder und Schwestern, Schwäger und Schwägerinnen" (ZR 451 Ii. V. m. 129) bis zu Erben (BE 349, FR 60, BL 171, GR 148, TI 244, GE 453) und den Freunden (GE 453) reichen. Der Zweck, welcher mit dieser mehr oder weniger großzügigen Antragsberechtigung verfolgt wird, ist die Ermöglichung einer "revisio post mortem", und so ist es nur konsequent, daß die meisten Kantone den "Angehörigen" nur für den Fall, daß der Verurteilte gestorben ist, ein Antragsrecht zugestehen107a• Diese Regelung entspricht der Natur des Rechtsmittels der Wiederaufnahme, welches unabhängig vom Zeitablauf dazu dienen soll, ein Fehlurteil zu berichtigen. Aus diesem Grunde sollte jedoch auch generell die Staatsanwaltschaft als Vertreterin des Staates zur AntragsteIlung legitimiert sein, und zwar nicht nur für die Wiederaufnahme zuungunsten des Beschuldigten, wie dies selbstverständlich in allen Kantonen der Fall ist, welche die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten vorsehen, sondern auch zugunsten, da der Staat immer ein Interesse an einer materiell richtigen Entscheidung hat. Inwieweit am Verfahren beteiligte Dritte legitimiert sind, ein Wiederaufnahmegesuch zu stellen, ist im Schweizer Prozeßrecht nicht einheitlich geregelt. Zu unterscheiden ist dabei zwischen dem Verletzten, der als Privatkläger oder Nebenkläger im Prozeß auftritt sowie dem Geschädigten, der im Adhäsionsprozeß seine zivilrechtlichen Forderungen geltend macht. Die Aktivlegitimation wird in Bern (349), BaselLandschaft (171), Aargau (206), Wallis (196lit.c) und im Bundesstrafverfahren dem Geschädigten nur im Zivilpunkt zugestanden, während Zürich (445), Solothurn (210 lit. cl, Basel-Stadt (292) und AppenzellJ.-Rh. (69) im Privatklageverfahren dem Verletzten das Recht zubilligen, die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Beschuldigten zu verlangen. Luzern, welches dem Privatkläger dieses Recht sowohl im Straf- wie auch im Zivilpunkt zugesteht (255 Ziff.3 und 4) beschränkt es ebenso wie Solothurn auf freisprechende Urteile. F. Clerc, De quelques problemes, ZStrR 61 (1946), 233. So auch die Rechtsprechung, vgl. BGE 88 IV 114. l07a Vgl. OW 160 Abs. H.

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!II. Teil: Kantonales Recht 2.3 Die Form des Wiederaufnahmegesudles und die Wahrung bestimmter Fristen

2.31 Die Form Die meisten Kantone l08 und der Bund109 schreiben ausdrücklich vor, daß ein Wiederaufnahmegesuch schriftlich einzureichen ist. Aber auch wo diese ausdrückliche Erwähnung fehlt, darf angenommen werden, daß ein schriftliches Wiederaufnahmegesuch vorliegen muß, damit das Gericht darauf eintritt. Dabei schadet jedoch weder die Einreichung des Gesuches an falscher Stelle noch dessen falsche Bezeichnung. Das Gesuch muß ferner die Gründe, auf welche es sich stützt, enthalten sowie die Tatsachen und Beweismittel bezeichnen110 •

2.32 Die Fristen Bezüglich der Wahrung bestimmter Fristen unterscheiden die meisten kantonalen Strafprozeßordnungen zwischen einem Wiederaufnahmegesuch zugunsten des Verurteilten und dem Wiederaufnahmegesuch zuungunsten des Beschuldigten. 2.321 Wiederaufnahme gesuch zugunsten des Verurteilten Mit Ausnahme des Kantons Zug (§ 77) ist die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten in keinem Recht an eine Frist gebunden. Aber auch die Vorschrift des Kantons Zug, daß das Gesuch um Wiederaufnahme des Verfahrens binnen 30 Tagen seit Bekanntwerden des Grundes, spätestens jedoch 10 Jahre nach Rechtskraft des abzuändernden Urteils einzureichen ist, dürfte heute nicht mehr angewandt werden, da Art. 397 StGB, welcher als bundesrechtlicher Wiederaufnahmegrund auch im Kanton Zug gilt, diese Einschränkung nicht vorsieht, so daß ein Wiederaufnahmegesuch, welches die Frist des § 77 StPO ZG nicht gewahrt hat, auf Grund des Art. 397 StGB zulässig wäre111 • Dagegen hindert Art. 397 StGB die Kantone nicht, eine Frist für die Einreichung des Wiederaufnahmegesuches seit Kenntnis des Wiederaufnahmegrundes einzuführen. GIerc vertritt die Auffassung, daß dies "une mesure fort sage, tant pour le condamne que pour la societe" wäre l12 • Wenn auch GIerc zuzustimmen ist, daß beim Fehlen einer derartigen Bestimmung Miß108 BE 350; LU 257; UR 128; GL 160; ZG 77; SO 211; BL 172; SH 248; AR 123; SG 200; GR 149; VD 457; VS 197; NE 263; GE 453. 109 BStrP 232. 110 Vgl. hierzu im einzelnen unten II!. Teil, 5.1. 111 Ebenso F. eIerc, De quelques problemes, ZStrR 61 (1946), 236. m F. Clerc, De quelques problemes, ZStrR 61 (1946), 237.

2. Das Wiederaufnahmeverfahren brauch getrieben werden kann, indem der Gesuchsteller mit seinem Wiederaufnahmeantrag so lange wartet, bis ein ihm unbequemer Zeuge gestorben ist, so bestehen doch auch starke Bedenken gegen eine solche Regelung, welche dazu führen sollten, auf sie zu verzichten. Einmal kann die Tatsache, daß der Gesuchsteller trotz Kenntnis jahrelang gewartet hat, bevor er ein Wiederaufnahmegesuch stellt, vom Gericht auch ohne Vorhandensein dieser Bestimmung bei der Beweisprüfung oder bei der Prüfung der Erheblichkeit berücksichtigt werden113. Zum anderen aber dürfte der Nachweis, daß der Gesuchsteller die Tatsachen oder Beweismittel nicht nur schon lange gekannt hat, sondern, was zu einer Verwirklichung des Wiederaufnahmegesuchs erforderlich ist, sich auch über ihre Bedeutung im klaren war, im Einzelfall sehr schwierig zu erbringen sein. 2.322 Wiederaufnahmegesuch zuungunsten des Beschuldigten

Ein Wiederaufnahmegesuch zuungunsten des Beschuldigten ist in einigen Kantonenll4 nur solange zulässig, als die Straftat nicht verjährt ist, bzw. als die Strafvollstreckung nicht verjährt ist115 • Die in einigen Gesetzen besonders erwähnte Voraussetzung, daß der Beschuldigte noch leben muß118, soll hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden, da für den Fall seines Todes kein passiv legitimiertes Prozeßsubjekt mehr vorhanden ist und es daher an einer Prozeßvoraussetzung fehlt 117 , so daß auch in den Kantonen, welche das nicht besonders erwähnen, die Wiederaufnahme zuungunsten unzulässig wäre. Dagegen gibt die Bestimmung, daß die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Beschuldigten nur solange zulässig ist, als die Straftat nicht verjährt ist, Veranlassung, an dieser Stelle schon auf das Verhältnis von Verjährung und Wiederaufnahmerecht einzugehen118. Die Verjährung wird bundeseinheitlich durch das Strafgesetzbuch geregelt (Art. 70 ff.), wobei zwischen Verfolgungs- und Vollstrekkungsverjährung unterschieden wird. Durch die Verfolgungsverjährung erlischt das Recht, eine Straftat zu verfolgen und zu beurteilen, wogegen die Vollstreckungsverjährung das Recht, ein rechtskräftiges Urteil zu vollstrecken, beseitigt. Während nun der Gesetzgeber über Beginn, Ruhen und Unterbrechung der Verfolgungsverjährung Vor113 Vgl. den Fall in Semaine judiciaire 1945, 322. 114 ZH 444; BE 348; UR 126; SZ 228; BS 290; BL 170 (mit einer Ausnahme); AI 69; GR 147; TI 250; NE 262; BStrP 229 Ziff.2 (für die Wiederaufnahme "propter nova"). 115 VS 199. 118 So in Bern, Uri, Glarus, Basel-Landschaft, Appenzell-I.-Rh., st. Gallen, Graubünden. 117 B. Brilhlmeier, Die Wiederaufnahme, S. 228. 118 Vgl. hierzu auch unten III.Teil, 7.5.

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schriften erlassen hat, war lange Zeit umstritten, ob ein rechtskräftiges Urteil den Lauf der Verfolgungsverjährung beendet. Dieses Problem wurde noch dadurch zusätzlich kompliziert, daß einerseits rechtskräftiges Urteil und vollstreckbares Urteil nicht unbedingt identisch sein müssen, andererseits jedoch durch die Möglichkeit des Verurteilten, ein rechtskräftiges Kontumazialurteil durch einfachen Einspruch zu beseitigen, die Gerichte immer wieder vor die Frage gestellt wurden, ob in diesen Fällen nicht die inzwischen eingetretene Verfolgungsverjährung ein weiteres Verfahren hindere l19 • Nachdem das Bundesgericht erkannt hat, daß die Verfolgungsverjährung mit Ausfällung eines vollstreckbaren kantonalen Urteils aufhört120 , kann sie, unabhängig davon, welche Wirkung einem gutgeheißenen Wiederaufnahmegesuch zukommt (dazu siehe unten), keinen Einfluß mehr auf die Strafverfolgung haben. Die Verjährungsfrist beginnt auch dann nicht mehr zu laufen, wenn das erste Urteil aufgehoben wird, vorausgesetzt, daß dieses erste Urteil nicht nur relativ formell-rechtskräftig war, sondern volle formelle Rechtskraft erlangt hattel2l • Unter diesen Voraussetzungen erscheint es jedoch zweifelhaft, ob die Kantone überhaupt die Gesetzgebungskompetenz für Fragen der Verjährung haben, und ob nicht alle Bestimmungen, welche die Wiederaufnahme zuungunsten ausschließen, wenn die Strafverfolgungsverjährung eingetreten ist, bundesrechtswidrig sind, da wie oben ausgeführt, die Strafverfolgungsverjährung mit Rechtskraft des ersten Urteils aufgehört hat. Bei näherer Betrachtung muß diese Frage jedoch verneint werden. Die Kantone beabsichtigen mit dieser Bestimmung keine abweichende Regelung des Verjährungsrechtes, wozu ihnen zweifellos die Kompetenz fehlt, sondern sie wollen damit eine zeitliche Grenze für die Zulässigkeit der Wiederaufnahme zuungunsten setzen. Diese Bestimmung ist also, wie WaibIinger ausführt122 , so zu verstehen, "daß die Wiederaufnahme in all den Fällen ausgeschlossen ist, in denen die Strafverfolgungsverjährung ohne das frühere Urteil eingetreten w ä r e ". Genauso, wie die Kantone von Bundesrechts wegen berechtigt sind, die Wiederaufnahme zuungunsten ganz auszuschließen, können sie sie jedoch auch nur innerhalb einer bestimmten Frist zulassen. 119 Vgl. in diesem Zusammenhang F. Clerc, Jugement par defaut et prescription, ZStrR 69 (1954), 194 ff.; M. WaibUnger, Die besonderen richterlichen Aufgaben, ZStrR 75 (1959), 389 ff.; H. F. Pfenninger, Die Verjährung im Kontumazialverfahren, ZStrR 70 (1955), 53 ff. 120 BGE 97 IV 157 und die dort zitierte Rechtsprechung. 121 Nur so ist das Urteil des Bundesgerichts in BGE 72 IV 105 ff. (107) zu verstehen, wo ausgeführt wird, daß die Verjährungsfrist wieder zu laufen beginnt, wenn das Bundesgericht auf Nichtigkeitsbeschwerde hin ein kantonales Urteil aufhebt. 122 M. Waiblinger, Die besonderen richterlichen Aufgaben, ZStrR 75 (1959),

400.

4. Die Mitwirkung des Verteidigers im Wiederaufnahmeverfahren

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3. Die Wirkungen des Wiederaufnahmeantrages Mit Ausnahme weniger Kantone123 ist nach allen schweizerischen Prozeßrechten eine fakultative Hemmung der Urteilsvollstreckung vorgesehen. Dafür zuständig ist in einem Teil der Kantone124 sowie im Bundes- und Militärstrafverfahren das für das Wiederaufnahmeverfahren zuständige Gericht, während sonst125 der Präsident des zuständigen Gerichts die Suspendierung des Strafvollzuges anordnen kann. Einige Kantone (z. B. Basel-Stadt und Landschaft, Graubünden) schreiben zwingend vor, daß mit dem Beschluß über die Zulässigkeit der Wiederaufnahme gleichzeitig über das weitere Schicksal der Strafvollstreckung entschieden werden muß. In der Regel kann jedoch diese Verfügung während der ganzen Dauer des Wiederaufnahmeverfahrens getroffen werden. Diese Regelung entspricht genau den Erfordernissen des Wiederaufnahmerechtes, da ein obligatorischer Suspensiveffekt in Widerspruch stünde mit der Rechtskraft des angegriffenen Urteils, welche zumindest bis zur Gutheißung des Wiederaufnahmegesuches bestehen bleibt, auf der anderen Seite jedoch auch dem Verurteilten die Möglichkeit gegeben würde, durch Wiederaufnahmegesuche den Strafantritt beliebig zu verzögern bzw. zu unterbrechen. 4. Die Mitwirkung des Verteidigers im Wiederaufnahmeverfahren Bestimmungen, welche die Mitwirkung des Verteidigers im Wiederaufnahmeverfahren betreffen, finden sich nur in den Prozeßordnungen der Kantone Vaud (458 ff.) und Genf (455). Alle übrigen Kantone, der Bund und das Militärstrafverfahren verzichten auf eine ausdrückliche Regelung, so daß hier die allgemeinen, die Beiordnung eines Verteidigers regelnden Bestimmungen126 Anwendung finden. Während nach all diesen Regelungen ein Verteidiger erst im Wiederaufnahmeverfahren beigeordnet werden kann, sieht Art. 458 StPO VD vor, daß bereits zur Vorbereitung und Einreichung eines Wiederaufnahme gesuches ein Verteidiger beigeordnet werden kann, wenn dies für eine sachgerechte Verteidigung erforderlich ist. Dabei spielt die Bedürftigkeit des Gesuchstellers keine Rolle. Wird der Gesuchsteller bereits durch einen Anwalt verteidigt, so kann der Präsident des Wiederaufnahmegerichtes auf Antrag und bei Bedürftigkeit den Anwalt als Pflichtverteidiger Nidwalden, Appenzell, Genf. ZR 453; BE 351; LU 257 II; ZG 79; FR 60 Ziff.2; BS 295; BL 173; SR 249; GR 150; TI 245; VS 200; NE 264; BStrP 232 II; MStrGO 201 II. 126 UR 128 III; SZ 229 II; OW 162; GL 168; SO 209; SG 200; AG 232 III; TG 235; VD 462. 126 Vgl. z. B. ZR 11; BE 41; SO 9; BS 112; BStrP 36. 123

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bestellen (VD 459). Wird vom Staatanwalt zugunsten des Beschuldigten Wiederaufnahme des Verfahrens verlangt, so kann diesem, wenn es für seine Verteidigung erforderlich ist, ebenfalls ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden. In Genf, wo das Wiederaufnahmegesuch bei der Cour de cassation einzureichen ist, muß der Antragsteller im Verfahren kraft Gesetzes anwaltschaftlich vertreten sein. Er kann zwar, wie in den anderen Kantonen auch, das Gesuch um Wiederaufnahme des Verfahrens ohne Mitwirkung eines Anwaltes stellen, bekommt jedoch in diesem Fall für das weitere Verfahren einen Verteidiger von Amts wegen beigeordnet. Dabei ist jedoch, anders als im Kanton Vaud, nicht vorgesehen, daß der Verteidiger innerhalb einer bestimmten Frist ein neues Wiederaufnahmegesuch einreichen kann, so daß also auch hier der Anwalt nicht zur Unterstützung bei der Einreichung des Gesuches beigeordnet wird, sondern nur für das Verfahren127. Dazu allerdings zwingend und ohne Rücksicht auf die Bedürftigkeit oder das Erfordernis einer sachgerechten Verteidigung. Während in Deutschland das Fehlen einer besonderen Bestimmung, welche bereits eine amtliche Verteidigerbestellung für die Formulierung und die Einreichung des Wiederaufnahmegesuches vorsieht, kritisiert wurde1!8, und diese Kritik dann auch ihren Niederschlag im Entwurf eines 1. StVRG129 gefunden hat, lassen sich in der Schweiz keinerlei kritische Stimmen gegenüber den geltenden Bestimmungen finden. Dies kann einerseits daran liegen, daß die Verteidigerbestellung auf Grund der allgemeinen Bestimmungen im Wiederaufnahmeverfahren außerordentlich großzügig gehandhabt wird. wie dies von Hauser130 aus dem Kanton Zürich berichtet wird. Allein auch nach der Rechtsprechung des Kassationsgerichts Zürichl31 ist Voraussetzung für die Bestellung eines amtlichen Verteidigers im Wiederaufnahmeverfahren, "dass wenigstens gewisse Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass Wiederaufnahmegründe gegeben sein könnten". Nun kann man aber die Meinung vertreten, daß es gerade, um dem Gericht die "gewissen Anhaltspunkte für das Vorliegen von Wiederaufnahmegründen" zu geben, der Mitwirkung eines Verteidigers bedürfe. Jedoch ist auch diese Forderung nie erhoben worden, so daß der Grund für die "Zufrieden127 Y. Maunoir (La revision penale, S. 99) vertritt trotz Fehlens einer entsprechenden Bestimmung die Auffassung, daß das Gericht dem Verteidiger erlauben muß, ein neues Wiederaufnahmegesuch einzureichen. 1!8 Vgl. Denkschrift, Leitsatz 52; J. Meyer, Aktuelle Probleme der Wiederaufnahme, Zstw 1972, 144, 149; Eckert, Bericht, ZstW 1972, 939 f. 129 Entwurf eines ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts (Art. 1 Nr. 84) Bundesdrucksache 208/72. 130 R. Hauser, in: Ecken, Bericht, zstw 1972, 940. 131 ZR 1965 Nr. 55.

5. Zulässigkeits- und Begriindetheitsprüfung

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heit" mit dem geltenden Recht ein anderer sein muß. Die Gründe lassen sich nur vermuten und bedürften zu ihrer Sicherung einer empirischen Untersuchung. M. E. könnte jedoch in der Durchführung des Wiederaufnahmeverfahrens eine Erklärung zu finden sein. Die Unterscheidung in eine Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung, welche das deutsche Wiederaufnahmeverfahren beherrscht, ist zwar den Schweizer Prozeßrechten nicht unbekannt, wird jedoch soweit ersichtlich längst nicht mit der gleichen Strenge und "Gründlichkeit" durchgeführt1 32 • Dadurch kommen aber, anders als in Deutschland, viel mehr Wiederaufnahmeanträge in das richterliche Ermittlungsverfahren und scheitern nicht bereits an der fehlenden Zulässigkeit1 33 • In dem bereits mehrfach zitierten Entscheid des Bundesgerichts (BGE 92 IV 177 ff.) äußert sich das Gericht auch implizit zu den Anforderungen, welche an die Zulässigkeit eines Wiederaufnahmegesuches, das sich auf Art. 397 StGB stützt, vom kantonalen Gericht gestellt werden dürfen. Danach genügt es für die Zulässigkeit (im Entscheid "Begründung" genannt), daß die Nova angerufen werden, womit gleichzeitig zum Ausdruck gebracht werde, daß der Gesuchsteller die neuen Tatsachen zu begründen und die Beweismittel, auf die er sich berufen will, näher zu bezeichnen hat. Inwieweit neben dieser verschiedenen Ausgestaltung des Wiederaufnahmeverfahrens noch die Einstellung des Richters zu diesem Rechtsmittel eine Rolle spielt, kann nur vermutet werden. Meyer 134 hat in seinem Referat darauf hingewiesen, daß einige Unzulänglichkeiten der deutschen Wiederaufnahmepraxis bereits durch eine Änderung des Bewußtseins der Richter beseitigt werden könnten. Die Tatsache, daß gerade ein in Deutschland so umstrittener Punkt, wie die Mitwirkung des Verteidigers, in der Schweiz, obwohl fast genau übereinstimmend geregelt, nie Anlaß zur Diskussion gegeben hat, scheint die Richtigkeit der Auffassung von Meyer zu bestätigen. 5. Zulässigkeits- und Begrundetheitsprufung Obwohl sich in keinem schweizerischen Strafprozeßgesetz eine ausdrückliche Regelung finden läßt, welche, wie im deutschen Recht, das Wiederaufnahmeverfahren in eine Zulässigkeits- und BegründetheitsVgl. im einzelnen dazu unten UI. Teil, 5. Vgl. hierzu den interessanten Hinweis bei P. Boner, Die Wiederaufnahme, S. 154 f.; danach wurde im Kanton Solothurn von den ab 1942-1967 eingelangten 124 Wiederaufnahmegesuchen lediglich 15 als unzulässig abgewiesen (nicht eingetreten), während 68 als unbegründet abgewiesen wurden (S.30). Bei 14 Nichteintretensbeschlüssen hatte kein Anwalt das Gesuch gestellt. 1M J. Meyer, Aktuelle Probleme der Wiederaufnahme, ZStW 1972. 936. 132

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UI. Teil: Kantonales Recht

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prüfung unterteilt, lassen sich in vielen Kantonen Bestimmungen finden, welche darauf schließen lassen, daß zumindest in diesen Kantonen ebenfalls eine gesonderte Zulässigkeitsprüfung stattfindet. 5.1 Die Zulässigkeitsprufung

Über die gesetzlich vorgeschriebene Form des Wiederaufnahmegesuches wurde bereits oben (lU. Teil, 2.31) ausgeführt, daß in aller Regel Schriftform vorausgesetzt wird. Darüber hinaus verlangen jedoch auch alle Kantone, daß der Wiederaufnahmegrund angegeben wird, sowie daß die Tatsachen oder Beweismittel bezeichnet werden, auf die sich das Wiederaufnahmegesuch stütztl35 • Weiter ist erforderlich, daß sich das Wiederaufnahmegesuch zumindest gegen ein vollstreckbares bzw. relativ formell-rechtskräftiges Urteil richtet, andernfalls nur ein ordentliches Rechtsmittel zulässig ist, und daß der Gesuchsteller legitimiert ist. Einige Kantone136 sehen in ihren Vorschrüten über das Wiederaufnahmeverfahren nun vor, daß das Gericht bzw. der Präsident des zuständigen Gerichtes "offensichtlich unzulässige oder unbegründete" Wiederaufnahmegesuche ohne weiteres Verfahren abweisen können, was durch einen Nichteintretungsbeschluß zu erfolgen hat. Bei der Prüfung der Frage, ob ein Wiederaufnahmegesuch offensichtlich unzulässig oder unbegründet ist, wird das Wiederaufnahmegesuch jedoch nur in bezug auf die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Form hin überprüft, während weder eine Prüfung der Neuheit (es sei denn, die Tatsachen oder Beweismittel seien bereits ausdrücklich im Urteil gewürdigt oder die Wiederaufnahme auf Grund dieser Tatsachen oder Beweismittel schon früher abgelehnt worden) noch der Erheblichkeit stattfindet. Ebensowenig darf in der Zulässigkeitsprüfung berücksichtigt werden, ob der Nachweis des neuen Vorbringens bereits zur Zeit der Einreichung des Gesuches erbracht ist, oder ob die Beweise dafür erst noch von Amts wegen zu erheben sind137 • Gegen diese Regelung könnte unter dem Gesichtspunkt einer zu großzügigen Zulassung der Wiederaufnahme und damit einer Verletzung des Prinzips praktischer Konkordanz zwischen Rechtskraft und Gerechtigkeit Bedenken erhoben werden. Vergleicht man sie mit der deutschen Strafprozeßordnung und insbesondere mit der Praxis, so zeigt sich, daß in Deutschland bereits die Zulassung des Wiederaufnahmeverfahrens wesentlich restriktiver gehandhabt wird, was mit der wichtigen Funktion der Rechtskraft erklärt werden könnte. TrotzDie entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen sind in Fn. 108 zitiert. LU 259 IV; UR 129; SZ 230; OW 163 U; BS 294; BL 174; AR 123; SG 201; GR 150; VD 461; VS 201; NE 265 sowie BStrP 233. 137 BGE 92 IV 177 (182). 135

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5. Zulässigkeits- und Begründetheitsprufung

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dem hat die schweizerische Regelung große Vorzüge, ohne daß sie dadurch die Konkordanz zwischen Rechtskraft und Gerechtigkeit verletzt. Durch die rein formelle Prüfung der Zulässigkeit wird einmal gewährleistet, daß absolut unbegründete Wiederaufnahmegesuche von vornherein ausgeschieden werden. Andererseits wird damit erreicht, daß der Schwerpunkt des Wiederaufnahmeverfahrens in das Probationsverfahren gelegt wird, was zur Folge hat, daß die Beweisermittlung unter der Aufsicht des Gerichts stattfindet, und daß das Vorbringen des Gesuchstellers nicht nur auf Grund einer hypothetischen Annahme bewertet wird, ob es geeignet ist, eine andere Beurteilung herbeizuführen. Den Vorteil dieser Verfahrensregelung kann man am besten erkennen, wenn man sich die Kritik am deutschen Wiederaufnahmeverfahren vergegenwärtigt sowie die Vorschläge ansieht, welche zu seiner Änderung gemacht wurdenl38 • Während man in Deutschland beabsichtigt, durch frühzeitige Beiordnung eines Verteidigers sowie durch ein staatsanwaltschaftliches Vorermittlungsverfahren, welches analog zum Klageerzwingungsverfahren sogar auf Antrag des Gesuchstellers durch das Gericht angeordnet werden kann, die Aussichten eines Wiederaufnahmegesuches bei der Zulässigkeitsprüfung zu verbessern, ist man in der Schweiz den sehr viel einfacheren Weg gegangen und hat die Anforderungen, welche an die Zulässigkeit des Wiederaufnahmegesuches gestellt werden, sehr stark beschränkt. Aber auch die Rechtskraft wird dadurch nicht in unzulässiger Weise tangiert, sie wird sogar überhaupt nicht tangiert. Das Wiederaufnahmeverfahren dient in erster Linie dazu zu prüfen, ob es gerechtfertigt ist, eine bereits beurteilte Sache noch einmal zu beurteilen. Daraus folgt aber, daß erst am Ende des Wiederaufnahmeverfahrens darüber entschieden wird, ob das frühere Urteil rechtskräftig bleibt oder ob eine Neubeurteilung gestattet werden soll. Während des Wiederaufnahmeverfahrens ist die Rechtskraft des früheren Urteils unbestritten, lediglich die normalerweise mit ihr verknüpfte Vollstreckbarkeit kann, muß jedoch nicht, suspendiert werden. Die Rechtskraft wird also nicht durch die Zulassung des Wiederaufnahmegesuchs angegriffen, sondern erst dadurch, daß das Gesuch für begründet erklärt wird und ein neues Verfahren (wiederaufgenommenes Verfahren) angeordnet wird. Aus diesen Gründen bestehen also auch unter dem Aspekt der Rechtssicherheit keine Bedenken gegen diese Regelung, und es ist im Gegenteil zu fragen, ob die Kantone, welche eine formelle Zulässigkeitsprüfung im Gesetz nicht vorsehen, diese nicht doch einführen sollten139 • 138 Vgl. J. Meyer, Aktuelle Probleme der Wiederaufnahme, ZStw 1972, 912; Eckert, Bericht, zstw 1972, 940 ff. sowie den Entwurf eines 1. StVRG Bundesratsdrucksache 208172 S. 11 und S. 91 (Begründung). 139 Sowohl M. Waiblinger (Kommentar, Art. 352 Rdnr. 1 für Bern) als auch

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HI. Teil: Kantonales Recht

Ob auf ein Gesuch, welches die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt, nicht eingetreten werden darf, oder ob auch eine Rückweisung zur Ergänzung statthaft ist, kann nicht generell beurteilt werden. Waiblinger140 vertritt für den Fall, daß die Angabe der Beweismittel fehlt, die Ansicht, daß eine Rückverweisung statthaft ist. M. E. sollte eine Rückverweisung immer im Ermessen des Gerichtes bzw. seines Präsidenten liegen und nur in den Fällen erfolgen, wo durch diese Maßnahme noch substantielle Verbesserungen und Ergänzungen des Wiederaufnahmegesuches zu erwarten sind. 5.2 Begründetheitsprüfung

Die Begründetheitsprüfung ist der wichtigste Teil des Wiederaufnahmeverfahrens. Sie dient der Prüfung der vom Gesuchsteller vorgebrachten Nova sowie der Beweiserhebung. Erst in der Begründetheitsprüfung wird über das Schicksal des zulässigen Wiederaufnahmegesuches und damit auch über den Bestand des ersten Urteils entschieden. Die Ausgestaltung, welche dieser Teil des Wiederaufnahmeverfahrens in den Gesetzen gefunden hat, unterstreicht und entspricht seiner Bedeutung. Mit Ausnahme der Kantone Schaffhausen, Appenzell-I.-Rh und St. Gallen wird ein für zulässig befundenes Wiederaufnahmegesuch der Gegenpartei mitgeteiltl4l , womit in der Regel die Aufforderung zur Stellungnahme verbunden ist. Diese Mitteilung kann jedoch, wie aus einem unveröffentlichten Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau ersichtlich ist142 , mit Rücksicht auf die klare Situation unterbleiben. In dem zitierten Urteil war das Wiederaufnahmegesuch von der Staatsanwaltschaft zugunsten eines verurteilten und bereits ausgewiesenen Ausländers eingereicht worden. Da eine Zustellung an den Verurteilten zur Vernehmlassung nach Auffassung des Gerichts eine für ihn schädliche Verzögerung bedeutet hätte, wurde darauf verzichtet. Gleichzeitig wurde ihm jedoch zur Wahrung seiner Rechte für das wiederaufgenommene Verfahren ein amtlicher Verteidiger bestellt. Y. Maunoir (La revision penale, S.99 für Genf) vertreten die Auffassung, daß auch ohne besondere Erwähnung immer eine solche Zulässigkeitsprüfung stattzufinden hat. 140 M. Waiblinger, Kommentar, Art.352 Rdnr. 1. 141 ZH 446; 452; BE 352; LU 259 I; UR 129 I; SZ 231 I; GL 167; ZG 79 I FR 60 Ziff. 2; SO 212 I; BS 294 H; BL 172 H; AR 123 H; GR 150; AG 233 I TG 236; TI 245 i. V. m. 232; VD 462; VS 201; NE 265; GE 454; BStrP 232 MStrGO 200. 142 Urteil vom 8. Januar 1962 (Staatsanwaltschaft gegen R. V.).

5. Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung

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Nach der Mitteilung des Gesuchs an die Gegenpartei gibt es mehrere Varianten für den Fortgang des Wiederaufnahmeverfahrens143 : a) Ist durch das Gesuch oder durch die Stellungnahme der Parteien der Sachverhalt so weit abgeklärt, daß eine Beweiserhebung nicht mehr notwendig ist, so kann das Gericht unmittelbar über den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens entscheiden. Dieser Entscheidung muß in einigen Kantonen zwingend eine mündliche Verhandlung vorausgehen144, während im Aargau und im Bundesstrafverfahren dies nur erfolgt, wenn der Antragsteller es verlangt145. b) Eine Beweiserhebung findet immer dann statt, wenn das Gericht sie für notwendig erachtet, wobei der Antrag dazu sowohl vom GesuchsteUer wie auch von der Staatsanwaltschaft gestellt werden kann, das Gericht jedoch auch auf eigene Initiative hin tätig werden kann. Zuständig dafür kann einmal das Gericht selbst sein, wobei die Möglichkeit besteht, einen Richter damit zu beauftragen, oder die Beweiserhebung wird durch den Untersuchungsrichter bzw. die Staatsanwaltschaft auf Anordnung des Gerichts durchgeführt146 . Außer dem Bund (Art. 235) sehen noch die Kantone Basel-Stadt, Wallis und Genf ausdrücklich vor, daß den Parteien Gelegenheit gegeben werden muß, der Beweisaufnahme beizuwohnen. Für die anderen Kantone gelten, mangels besonderer Bestimmungen, die allgemeinen Vorschriften über die Beweisaufnahme. Andres147 weist zu Recht auf die außerordentliche Bedeutung hin, die den Vorschriften über die Anwesenheitsrechte der Parteien zukommt. Seinen Ausführungen nach wird dadurch "ein wenig der Nachteil ausgeglichen, welcher darin liegt, daß im Wiederaufnahmeverfahren eine Umkehrung der Beweislast stattfindet". Obliegt normalerweise der Anklage die Führung des Schuldbeweises, so muß im Wiederaufnahmeverfahren der Gesuchsteller den Beweis erbringen, daß die von ihm vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel neu sind und geeignet, ein anderes Urteil herbeizuführen. 143 Vgl. zum folgenden F. eIere, De quelques problemes, ZStrR 61 (1946), 240 f. 144 So in OW 163 I; AR 123 II; SG 201; TI 245 II i. V. m. 232; VS 203; NE 267; GE 456. 145 AG 233 II; BStrP 235. 146 Während BE 352; ZG 79 II; AG 233 I; TG 236; TI 245 III und MStrGO 200 nur die Beweiserhebung durch das Gericht vorsehen und UR 129 II; SZ 230 I; FR 60 Ziff.3; AI 70; AR 124 I; SG 201; GR 150; NE 266; GE 454 dies generell dem Untersuchungsrichter oder der Staatsanwaltschaft zuweisen, besteht in ZH 441; 452; LU 259 II; SO 212 II; BS 294 II; BL 172 II; SH 250; VD 462; VS 202 II; BStrP 234 die Möglichkeit, die Beweiserhebung entweder durch das Gericht oder durch die Staatsanwaltschaft bzw. Untersuchungsrichter vornehmen zu lassen. 147 W. Andres, Das Rechtsmittel der Revision, S.74. 1 Edtert

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IH. Teil: Kantonales Recht

Ob der Umfang der angeordneten Beweisaufnahme durch die angebotenen Beweise begrenzt wird, läßt sich ohne Kenntnis der Praxis nicht beurteilen. Nach der Bundesstrafprozeßordnung soll dies nicht der Fall sein148 • Auch die Genfer Regelung, wonach der Untersuchungsrichter (welcher übrigens nicht derselbe sein darf, wie im ersten Verfahren, 454 II StPO GE) die Beweisaufnahme durchführt, deutet darauf hin, daß das Gericht nicht an die Anträge gebunden ist. Diese Regelung ist durchaus vernünftig, da auch für die Beweisaufnahme das Offizialprinzip zu gelten hat. Darüber hinaus erscheint es wenig sinnvoll, bei der Beweisaufnahme zutage getretene, bisher nicht bekannte Beweismittel unberücksichtigt zu lassen, da der Gesuchsteller sonst dazu veranlaßt würde, bei Abweisung seines Wiederaufnahmegesuches sofort ein neues einzureichen. Dazu kommt, daß eine umfassende Beweisaufnahme durch das Gericht oder die Staatsanwaltschaft bzw. Untersuchungsrichter auf Grund des ihnen zur Verfügung stehenden Apparates und ihrer Machtbefugnisse ohnehin sehr zügig und effektiv erfolgen kann. Aus diesen Gründen kann dem St. Galler Entscheid149 , wonach im Wiederaufnahmeverfahren nur die Tatsachen und Beweismittel Gegenstand der richterlichen überprüfung bilden, die im schriftlichen Gesuch um Wiederaufnahme enthalten sind, nicht zugestimmt werden. Der Zweck der Beweisaufnahme ist nicht die endgültige Klärung der Schuldfrage des Freigesprochenen bzw. des Verurteilten. Ihr Ziel ist einzig der Nachweis der behaupteten Tatsachen oder Beweismittel sowie ihrer Neuheit. Damit ein Wiederaufnahmegesuch gutgeheißen werden kann, ist jedoch, abgesehen von den absoluten Wiederaufnahmegründen, erforderlich, daß die Nova geeignet sind, ein bedeutend milderes Urteil herbeizuführen. Während nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts (92 IV 177 ff.) für die Gutheißung eines Wiederaufnahmegesuches erforderlich ist, daß der Nachweis der Nova erbracht ist, ist zweifelhaft, ob Gleiches auch für die Frage nach ihrer Erheblichkeit gilt. Die Praxis des Kantons Zürich (oben IH. Teil, 1.121) sowie mehrere unveröffentlichte Urteile des Obergerichts des Kantons Aargau zeigen, daß es für die Begründetheit des Wiederaufnahmegesuches genügt, daß ein milderes Urteil möglich ist. Die Erheblichkeit der Nova wird also nur abstrakt geprüft. Dies entspricht der Trennung in Wiederaufnahmeverfahren und wiederaufgenommenes Verfahren; erst im letzteren wird definitiv geurteilt, und erst hier zeigt es sich, ob die Nova ein milderes Urteil bewirken. Würde diese Frage bereits im Wiederaufnahmeverfahren beantwortet, so wäre eine erneute Hauptverhandlung vollständig überflüssig. 148 149

W. Andres, Das Rechtsmittel der Revision, S.74. st. Gallische Gerichts- und Verwaltungspraxis 1955, S.105.

6. Entscheid über den Wiederaufnahmeantrag

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6. Entscheid über den Wiederaufnahmeantrag Ist im Wiederaufnahmeverfahren der Nachweis der Nova erbracht worden und sind diese geeignet, ein anderes Urteil herbeizuführen, so heißt das Gericht das Wiederaufnahmegesuch gut. Anderenfalls wird es abgewiesen, wobei einige Kantone 150 explizit bestimmen, daß es auf Grund der gleichen Tatsachen oder Beweismittel nicht noch einmal eingereicht werden darf. Auch wenn eine dementsprechende Vorschrift fehlt, ist das Gesuch als unzulässig abzuweisen, da dies bereits bei der Zulässigkeitsprüfung zu berücksichtigen ist151 • Gegen den Bescheid, mit welchem ein Wiederaufnahmegesuch, welches zugunsten des Verurteilten eingereicht wurde, erledigt wird, ist die eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde an das Bundesgericht zulässig (dazu s. oben 11. Teil, 2.31). Darüber hinaus sehen einige Kantone ebenfalls Rechtsmittel vor. In Basel-Stadt, Basel-Landschaft, AppenzellA.-Rh. und Graubünden ist gegen das Wiederaufnahmeurteil Berufung zulässig, wenn es von einem Gericht erster Instanz beurteilt wurde, wobei Basel-Stadt und Landschaft dies nur bei Ablehnung des Wiederaufnahmegesuches zulassen152 • In Appenzell-I.-Rh. (70111) und Thurgau (237 11) stehen den Parteien unabhängig von der Instanz die allgemeinen Rechtsmittel ZU 153• Allen diesen Kantonen gemeinsam ist, daß der iudex a quo über das Wiederaufnahmegesuch zu entscheiden hat. Durch die Zulässigkeit von kantonalen Rechtsmitteln wird den Bedenken Rechnung getragen, welche gegen diese Zuständigkeitsregelung bestehen. Zürich gestattet die Nichtigkeitsbeschwerde wegen Verletzung kantonalen Rechts, schließt sie jedoch für die Fälle aus, in denen eine kantonal-rechtliche Bestimmung mit Bundesrecht inhaltlich übereinstimmt. Dies wurde regelmäßig bei § 449 Ziff. 3 StPO mit Bezug auf Art.397 StGB angenommen154 • Wird dem Gesuch entsprochen, so stellt sich die Frage, welche Bedeutung dies für das angefochtene Urteil hat l55 • Die Gesetze geben darauf eine unterschiedliche Antwort. Nach den Prozeßordnungen einer BE 360; SO 214. SJZ 62 (1966) 28 f.; die Unzulässigkeit wiederholter Wiederaufnahmegesuche auf Grund gleicher Tatsachen oder Beweismittel folgt daraus, daß dem die Wiederaufnahme ablehnenden Entscheid materielle Rechtskraft zukommt, die bereits bei der Zulässigkeitsprüfung berücksichtigt werden muß. 152 BS 298; BL 176; AR 124 III; GR 150 IV; vgl. jedoch die Einschränkung in Basel-Stadt durch § 298 II StPO; möglicherweise ist jedoch in diesen Fällen eine Beschwerde zulässig (Urteil des App. Gerichts vom 5. Mai 1958 in BJM 1958, 196). 153 In Thurgau jedoch ebenfalls nur bei Ablehnung des Wiederaufnahmegesuches. 154 ZR 1953 Nr. 123. 1115 Vgl. hierzu F. eIere, De quelques problemes, ZStrR 61 (1946), 241 f. 150 151



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III. Teil: Kantonales Recht

Gruppe156 wird das frühere Urteil ganz aufgehoben. Zug (79 Irr) sieht vor, daß bei Gutheißung des Gesuches der Richter zugleich darüber entscheidet, "welcher Teil des Verfahrens neu aufgenommen und durchgeführt werden soll". Die dritte in den Prozeßordnungen157 vorgesehene Möglichkeit ist, daß das frühere Urteil solange rechtskräftig bleibt, bis es durch ein neues Urteil ersetzt wird. Um diese drei Lösungen gegeneinander abzuwägen und beurteilen zu können, muß noch einmal auf die oben gemachten Ausführungen (1. Teil, 3) hingewiesen werden. Danach ist es gerade die Rechtskraft eines Urteils, welche einer erneuten Beurteilung im Wege steht, und es ist das Ziel des Wiederaufnahmeverfahrens zu prüfen, ob es sich rechtfertigt, dieses Verfahrenshindernis zu beseitigen. Dann aber ist es mindestens aus dogmatischen Gründen unlogisch, wenn das Gesetz ausdrücklich statuiert, daß das Urteil trotz Gutheißung des Wiederaufnahmegesuches rechtskräftig bleibt. Darauf hat insbesondere auch Stooss hingewiesen158 , und v. Hentig, welcher dem deutschen Wiederaufnahmerecht eine umfangreiche Monographie gewidmet hat, bedauert, "dass unser Verfahren, im Gegensatz zu den Prozessordnungen der anderen grossen Kulturvölker, terminologisch die Tatsache in Unklarheit hüllt, dass die rechtliche Existenz des früheren Urteils jetzt (nach Gutheissung des Wiederaufnahmegesuches) ein Ende gefunden hat"159. Demgegenüber teilt CLeTc 160 diese Bedenken von Stooss nicht, indem er darauf hinweist, daß trotz des Wiederaufnahmeverfahrens das frühere Urteil die Vermutung der Richtigkeit für sich habe und im wiederaufgenommenen Verfahren nur auf seine Begründetheit hin noch einmal überprüft würde. Diese Ansicht verkennt m. E. die Aufgabe des Wiederaufnahmeverfahrens. Ein Wiederaufnahmegesuch kann nur gutgeheißen werden, wenn festgestellt ist, daß das frühere Urteil auf ungenügender oder falscher Grundlage beruht. Ist dies festgestellt, so ist damit zwar noch nicht gesagt, daß das Urteil unbedingt geändert wird; eine Änderung muß jedoch möglich und wahrscheinlich sein (Erheblichkeit). Dann hat jedoch das frühere Urteil nicht mehr die Vermutung der Richtigkeit auf seiner Seite, sondern eher die der Fehlerhaftigkeit. Wenn aus diesen Gründen also dafür zu halten ist, daß mit dem Entscheid über die Gutheißung des Wiederaufnahmegesuches die Rechtskraft und die ihr zukommenden Wirkungen besei156 ZH 454; BE 355; LU 260; UR 130; SZ 233; OW 164; FR 60 Ziff.3; SO 213 III; VS 204 I; NE 268; GE 457 I; BStrP 236. 167 GL 167 IV; SH 251 IV; SG 202 II; GR 151 III; TI 247; VD 467; MStrGO 203. 168 A. Stooss, Kommentar zur MStrGO zitiert nach F. Clerc, De quelques problemes, ZStrR 61 (1946), 242. 159 H. v. Hentig, Wiederaufnahmerecht, S.236. 160 F. Clerc, De quelques problemes, ZStrR 61 (1946), 242.

7. Das wiederaufgenommene Verfahren

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tigt sind, so bedeutet dies nicht, daß das frühere Urteil als nicht existent, so als wäre es nie ergangen, zu betrachten ist. Auf die Gefahren, welche sich aus einer solchen Regelung ergeben können, hat CIerc 181 zutreffend hingewiesen. Danach kann z. B. ein Verurteilter, welcher für zwei Diebstähle verurteilt wurde und im Wiederaufnahmeverfahren nachweisen konnte, daß er den einen nicht begangen hat, erreichen, daß im wiederaufgenommenen Verfahren ihm auch der zweite Diebstahl noch einmal nachgewiesen werden muß, was möglicherweise wegen inzwischen eingetretenen Beweisverlustes oder Verschlechterung nicht mehr zweifelsfrei möglich ist, so daß er, in dubio pro reo, auch für diesen freigesprochen werden müßte. Sowohl Clere als auch BrühImeierl fJ! sprechen sich deshalb für eine Regelung aus18S , wonach der über das Gesuch entscheidende Richter gleichzeitig darüber befindet, in welchem Umfang das frühere Urteil aufzuheben ist. Di.es muß m. E. immer in bezug auf den Strafaussprnch erfolgen, in bezug auf die Schuldigerklärung jedoch nur für die Taten, wegen welcher das Wiederaufnahmegesuch eingel"eicht und bewilligt wurde. Damit würde auch gleichzeitig der Forderung nach ,.Harmonisierung der Mittel" entsprochen, da die Rechtskraft des Urteils nicht weiter eingeschränkt würde, als es die Gerechtigkeit erfordert1 84 • 7. Das wiederaufgenommene Verfahren Wird das Wiederaufnahmegesuch gutgeheißen. so muß in der Sache neu entschieden werden. Diesen Teil des Verfahrens mit "das wiederaufgenommene Verfahren" zu bezeichnen, ist insofern mißverständlich, als dadurch der Eindruck erweckt wird, es wül"de sich immer um ein neues Strafverfahren mit Untersuchung und Hauntverhandlung handeln. Dies ist jedoch, wie noch zu zeigen sein wird. keineswegs der Fall. Die Kantone haben von der Freiheit, das Verfahren in eigener Komnetenz regeln zu können, reichen Gebrauch gemacht, so daß sich für diese Prozedur die verschiedensten Regelungen finden lassen. Im folgenden sollen zunächst die Zuständigkeit und die Verfahrensprinzipien im wiederaufgenommenen Verfahren dargestellt werden und im 181 162 163

F. Clerc, De quelques

probl~mes,

ZStrR 61 (1946), 241.

B. Brühlmeier, Die Wiederaufnahme, S. 230. Vgl. Art. 440 CPP VD v. 3. September 1940 (außer Kraft).

164 Daß die Gutheißung eines Wiederaufnahmegesuches, auch wenn damit die Beseitigung der Rechtskraft des früheren Urteils verbunden ist, keinen Einfluß auf die Strafverfolgungsverjährung hat, da diese mit der Rechtskraft des früheren Urteils endgültig zu laufen aufgehört hat, wurde bereits oben (UI. Teil, 2.322) ausgeführt.

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lII. Teil: Kantonales Recht

Anschluß daran noch einige Probleme, welche sich aus der besonderen Funktion des wiederaufgenommenen Verfahrens ergeben, untersucht werden. 7.1 Entscheidung ohne Wiederholung der Hauptverhandlung

Unter bestimmten Voraussetzungen kann in einigen Kantonen sowie im Bund das Gericht, welches über das Wiederaufnahmegesuch entschieden hat, ohne Wiederholung der Hauptverhandlung selbst entscheiden. Diese Möglichkeit ist gegeben, wenn der Gesuchsteller verstorben ist165 , in klaren Fällen eines Freispruches166 oder ganz allgemein, wenn die Wiederaufnahme zugunsten des Gesuchstellers erfolgt und die Parteien keinen Widerspruch erheben167 • In Appenzell-A.-Rh. (124) kann das Wiederaufnahmegericht, welches immer der iudex a quo ist, das angefochtene Urteil sofort abändern oder aber zur näheren Untersuchung an die Untersuchungsbehörde zurückverweisen. In Zürich (45411) wird in Sachen des Geschworenengerichts, in welchen der Staatsanwalt auf weitere strafrechtliche Verfolgung verzichtet, das Urteil durch das Obergericht gefällt. Es spricht den Angeklagten frei, soweit der Verzicht der Staatsanwaltschaft reicht. In allen anderen Fällen muß an das Gericht, welches erstinstanzlich erkannt hatte, zurückverwiesen werden mit dem Auftrag, die Verhandlung "soweit erforderlich" zu wiederholen. 7.2 Entscheidung auf Grund erneuerter Hauptverhandlung

Liegt keiner der obengenannten Fälle vor, kann also das Wiederaufnahmegericht nicht sofort selbst in der Sache entscheiden bzw. ist diese Möglichkeit im Gesetz nicht vorgesehen, so stehen wieder verschiedene Möglichkeiten zur Wahl. Entweder wird die Sache an die Untersuchungsbehörde zurückverwiesen, und das Verfahren richtet sich dann nach den allgemeinen Vorschriften über Untersuchung und Verhandlung168, wobei diese Möglichkeit auch bloß für den Fall ihrer Erforderlichkeit vorgesehen sein kann169, oder die Akten werden dem zuständigen Gericht überwiesen (falls nicht bereits das Wiederaufnahmeverfahren vor dem iudex a quo stattgefunden hat), welches auf Grund einer erneuerten Hauptverhandlung das Urteil fällt1 70 • So BE 355 V; SO 231 V; GR 151 lI; BStrP 236 II. So GL 167 lI; SH 251 lI; GE 457 II. 167 So SZ 233 I; BS 279 IV. 168 UR 130 lI; OW 164; NW 77; GL 167 lI; BS 297 IV; AR 124. 169 SZ 233 lI; SH 251 lII; SG 202. 170 ZH 454 I; BE 355 I; LU 260 lI; SZ 233 lI; ZG 79 lII; FR 60 Ziff.3, 61 Ziff. 1; SO 213 III und IV; BL 175; AI 70 lI; GR 151; AG 234; TG 237; TI 246; VD 469; VS 204; NE 268; GE 457 lI; BStrP 236 I; MStrGO 201. 165 166

7. Das wiederaufgenommene Verfahren

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1.3 Zuständigkeit für die erneuerte Hauptverhandlung

Die Regelungen, welche die Zuständigkeit des Gerichts für die erneuerte Hauptverhandlung betreffen, lassen sich grundsätzlich in zwei Gruppen einteilen: Entweder wird das zuständige Gericht durch das Gericht, welches über das Wiederaufnahmegesuch entschieden hat, bestimmt l7l , wobei aus dem Gesetz nicht hervorgeht, um welche Instanz es sich dabei handelt, oder es ist das Gericht, welches in erster Instanz über die Sache geurteilt hatte, für die erneuerte Hauptverhandlung zuständig172 • Daneben gibt es jedoch noch einige Sonderregelungen. In Obwalden ist stets das Gericht, welches das angefochtene Urteil als letzte Instanz gefällt hat, für das wiederaufgenommene Verfahren zuständig (164 StPO OW). In Solothurn, wo bereits die Zuständigkeit für das Wiederaufnahmeverfahren je nach Art des angefochtenen Urteils verschieden geregelt ist (211 StPO SO), beurteilt das Obergericht die Strafsache selbst, während das Kassationsgericht zur Neubeurteilung an das vorinstanzliche Gericht zurückverweisen muß (213 II und III). In Bern wird grundsätzlich an die erste Instanz eines benachbarten Bezirks verwiesen. Nur aus besonderen Gründen, und wenn daraus keine Nachteile zu erwarten sind, kann die Sache an den gleichen Richter oder das gleiche Gericht, die in erster Instanz geurteilt haben, zurückverwiesen werden (355 I und II). In Luzern kann das Obergericht die Sache selbst beurteilen, wenn es auch das frühere Urteil gefällt hat. Dies ist nach § 11 StPO LU bei bestimmten strafbaren Handlungen sowie als Rechtsmittelinstanz gegenüber den Urteilen des Amts- und des Kriminalgerichtes möglich. Aus besonderen Gründen kann jedoch auch in diesen Fällen eine Rückverweisung an das erstinstanzliche Gericht erfolgen, wobei die Zuweisung an ein anderes Amtsgericht oder Jugendgericht zulässig ist (260 II und III). Demgegenüber sind in Genf, wo ebenfalls an das erstinstanzliche Gericht zurückverwiesen wird, kraft Gesetzes die Richter und Geschworenen des ersten Verfahrens ausgeschlossen (457 II)lTS. Die unterschiedlichen Regelungen für die Frage des zuständigen Gerichts im wiederaufgenommenen Verfahren sowie die zahlreichen Sonderregelungen, deren Anwendung je nach Art des Falles dem Richter überlassen bleibt, zeigen einmal mehr das fast allen Schweizer Strafprozeßordnungen Eigentümliche, den Richter nicht durch generelle, für alle Fälle anzuwendende Vorschriften zu hindern, eine für den Einzelfall effektivere und praktikablere Lösung zu wählen. Gerade FR 60 Ziff. 3; NE 268 I. ZH 451 I; BE 355 I, II; LU 260 II; SZ 233 II; ZG 79 III; SO 213 IV; GR 151; AG 234; TI 246; VD 456 I; VS 204 Ziff.1; GE 457 II; BStrP 236; MStrGO 20l. 173 Y. MaunoiT, La revision penale, S. 106 f. 171

172

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III. Teil: Kantonales Recht

dieses Charakteristische ist es aber auch, was dem ausländischen Beobachter eine Beurteilung und Wertung außerordentlich erschwert, da eventuelle Mißbräuche, welche durch so unbestimmte und weit gefaßte Regelungen ermöglicht werden, sich nur auf Grund eines genauen Studiums der Praxis nachweisen ließen. Ohne dieses Studium erscheint es wenig effektiv, Bedenken gegen die Regelung in Freiburg oder Neuchätel zu äußern oder die Regelung in Basel-Stadt und Landschaft, wo der iudex a quo sowohl über das Wiederaufnahmegesuch entscheidet als auch anschließend das wiederaufgenommene Verfahren durchführt, als im Widerspruch stehend mit den allgemeinen Grundgedanken des Rechtsmittelrechts zu bezeichnen. Wenn hier dennoch der Genfer Regelung der Vorzug gegeben werden soll, so aus folgenden Gründen: Die Möglichkeit, daß das Wiederaufnahmegericht in offensichtlichen Fällen selbst urteilt, verhindert einen unnötigen Leerlauf bei den Gerichten. In allen anderen Fällen jedoch ist die Zurückverweisung an ein Gericht erster Instanz schon deshalb zu empfehlen, damit dem Gesuchsteller nicht die Rechtsmittelinstanzen abgeschnitten werden. Dabei scheint mir aus den gleichen Gründen, welche gegen die Zuständigkeit des iudex a quo im Wiederaufnahmeverfahren sprechen, ein Ausschluß der früheren Richter, eventuell nach dem Vorbild der Berner Strafprozeßordnung, wünschenswert zu sein. 7.4 Verfahrensprinzipien

In der erneuerten Hauptverhandlung gelten die gleichen Verfahrensprinzipien, wie sie im ersten Verfahren gegolten haben. Keine Prozeßordnung enthält abweichende Regelungen speziell für das wiederaufgenommene Verfahren. Gleichwohl handelt es sich dabei nicht um ein Verfahren, sondern es sind einige, sich aus der besonderen Situation, daß bereits ein Verfahren in gleicher Sache stattgefunden hat, ergebende Punkte zu berücksichtigen174 • 7.5 Das Problem der Verjährung Im wiederaufgenommenen Verfahren

7.51 Die Verjolgungsverjährung Als eines der wichtigsten Probleme im wiederaufgenommenen Verfahren wurde von vielen Autoren175 die Frage angesehen, ob der Richter in wiederaufgenommenen Verfahren die Einrede der Verjährung zu berücksichtigen habe. Diese Frage ist heute in Literatur176 und Recht174 Vgl. zum folgenden M. Waiblinger, Die besonderen richterlichen Aufgaben, ZStrR 75 (1959), 389 ff. 175 Vgl. außer Waiblinger (Fn 1) Y. Maunoir, La revision penale, S. 108 f.; F. eIere, Jugement par defaut et prescription, ZStrR 69 (1954), 194 ff. (198). 176 Vgl. die im !II. Teil Fn.119 genannten Autoren.

7. Das wiederaufgenommene Verfahren

105

sprechung177 zumindest soweit geklärt, daß ein verurteilendes Erkenntnis im ersten Verfahren der Strafverfolgungsverjährung endgültig ein Ende gesetzt hat, so daß sie im wiederaufgenommenen Verfahren keine Rolle mehr spielt. Gleiches soll jedoch nach Ansicht des Bundesgerichts nicht gelten, wenn das erste Verfahren mit einem Freispruch geendet hat, da dieser die Beendigung der Verfolgungsverjährung nicht zur Folge habe, weshalb er nicht hindere, daß sie weiterlaufen würde. Dieser Auffassung wurde von Clerc, Loosli und Pfenninger zugestimmt, während ihr von Waiblinger entschieden widersprochen wurde 178 • Die Frage könnte offengelassen werden, wenn alle Kantone dem Beispiel der in Fn.114 zitierten folgen würden, und die Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen für den Fall, daß die Strafverfolgungsverjährung ohne den Freispruch eingetreten wäre, ausschließen würden. Da aber in den meisten Kantonen eine entsprechende Bestimmung fehlt, ist es gerechtfertigt, die Frage hier aufzugreifen. Wie wenig überzeugend die Auffassung des Bundesgerichtes ist, darauf hat Waiblinger 179 unter Bezugnahme auf das Verfahrenshindernis des "ne bis in idem", welches auch für freisprechende Urteile Geltung habe, hingewiesen. Auch Schultz scheint in die Beständigkeit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kein Vertrauen zu haben, da sonst die von ihm vorgeschlagene Neuformulierung des Art. 348 I StPO BEl80 unverständlich ist. Das Bundesgericht kommt zu seinem Ergebnis auf Grund der überlegung, daß Verfolgungsverjährung und Vollstreckungsverjährung nie parallel laufen können. So richtig diese Überlegung ist, darf aus ihr nicht der weitere Schluß gezogen werden, daß dann, wenn eine Vollstreckungsverjährung infolge Freispruchs nicht zu laufen beginnen kann, die Verfolgungsverjährung einfach weiterläuft. Die Vollstreckbarkeit und damit auch ihre Verjährung ist die positive Funktion der materiellen Rechtskraft, während die Sperrwirkung die andere Seite der materiellen Rechtskraft ist. Gerade diese Funktion, welche unabhängig, ob Verurteilung oder Freispruch, jedem rechtskräftigen Urteil zukommt, ist es aber, welche ein Weiterlaufen der Strafverfolgungsverjährung überflüssig, ja sogar dogmatisch unhaltbar sein läßt, da einer weiteren Strafverfolgung das Verfahrenshindernis der abgeurteilten Sache entgegensteht. Auch wenn das frühere Urteil im Wiederaufnahmeverfahren aufgehoben wird, bedeutet dies nicht, daß BGE 97 IV 157, 85 IV 169 (172). M. Waiblinger, Die besonderen richterlichen Aufgaben, ZStrR 75 (1959), 398 f., mit Angabe der Fundstellen für die Gegenmeinung. 179 M. Waiblinger, Die besonderen richterlichen Aufgaben, ZStrR 75 (1959), 177 178

398f.

180 "Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten eines Angeschuldigten kann nur verlangt werden, wenn er noch lebt und wenn ohne das freisprechende Urteil die Verfolgungsverjährung nicht eingetreten wäre."

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III. Teil: Kantonales Recht

damit auch die Verfolgungsverjährung wieder zu laufen beginnt; der Zweck des wiederaufgenommenen Verfahrens ist die Korrektur des fehlerhaften ersten Urteils, bzw. "die Prüfung und Entscheidung der Frage, ob der Angeschuldigte im früheren Verfahren zu Recht oder zu Unrecht verurteilt oder freigesprochen wurde" 181. Dies ist nur möglich durch die Beseitigung der der materiellen Rechtskraft zukommenden Sperrwirkung, während die Fiktion, daß mit Aufhebung des Urteils auch die damalige Beendigung der Verfolgungsverjährung aufgehoben werde, dem Rechtsmittel der Wiederaufnahme gerade zuwiderläuft, da sie eine Neubeurteilung oft verunmöglichen würde. Aus diesem Grund bedeutet das Fehlen einer entsprechenden Vorschrift, welche die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Angeschuldigten nur solange erlaubt, als ohne das frühere Urteil die Verfolgungsverjährung nicht eingetreten wäre, einen echten Mangel, da dadurch ein zu Unrecht Verurteilter sich nie mehr auf das im Laufe der Zeit verschwindende öffentliche Interesse an seiner gerechten Bestrafung berufen kann, während dies demjenigen, der für seine Taten nicht vor Gericht gestellt wurde, zugute kommtl 82 •

7.52 Die Vollstreckungsverjährung Im Gegensatz zur Verfolgungsverjährung ist die Vollstreckungsverjährung im wiederaufgenommenen Verfahren stets, zumindest indirekt, zu berücksichtigen, wenn es zu einer erneuten Verurteilung kommt. Da das Urteil des wiederaufgenommenen Verfahrens das erste Urteil rückwirkend ersetztl83 , kann die Strafe nicht mehr vollstreckt werden, wenn sie, im früheren Urteil ausgefällt, nun verjährt wäre l84 • 7.6 Einzelfragen

Daß weder die Bestimmung über die lex mitior (Art. 2 StGB) noch die Vorschriften über die Vereinigung subjektiv und objektiv konnexer Strafsachen im wiederaufgenommenen Verfahren Anwendung finden 181

40l.

M. Waiblinger, Die besonderen richterlichen Aufgaben, ZStrR 75 (1959),

182 In diesem Zusammenhang muß noch kurz auf Art. 234 stpo AG hingewiesen werden. Nach dieser Bestimmung ist wegen der seit dem ersten Urteil eingetretenen Verjährung oder wegen des Hinschiedes des Verurteilten das Verfahren nur einzustellen, wenn der Verurteilte nicht freigesprochen werden kann. Eine eigene Stellungnahme zu dieser Vorschrift erübrigt sich auf Grund des oben Ausgeführten sowie der gründlichen Kritik, welche M. Waiblinger (Die besonderen richterlichen Aufgaben, ZStrR 75 [1959] 397 f. Fn.43) an dieser "doch etwas kühnen prozessualen Konstruktion" geübt hat. 183 BGE 86 IV 77 (79). 184 F. Clerc, De quelques problemes, ZStrR 61 (1946), 245; M. Waiblinger, Die besonderen richterlichen Aufgaben, ZStrR 75 (1959), 403.

7. Das wiederaufgenommene Verfahren

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können, hat Waiblinger 185 unter Bezugnahme auf das Bundesgericht1 86 überzeugend und ausführlich nachgewiesen. Beides folgt daraus, daß im wiederaufgenommenen Verfahren ex tune und nicht ex nune zu urteilen ist. Leider hat das Bundesgericht in einem späteren Entscheidl87 aus prozeßökonomischen Gründen diese Auffassung dahingehend abgeschwächt, "dass bei der Würdigung der Person des Gesuchstellers, bei der Strafzumessung wie beim Entscheid über die Gewährung des bedingten Strafvollzuges (im wiederaufgenommenen Verfahren), auch Umstände mit berücksichtigt werden dürfen, die erst nach dem früheren Urteil eingetreten sind". Das Schwurgericht des Kantons Zürichl88 ist dem Bundesgericht zu Recht nicht gefolgt, sondern hat die Auffassung vertreten, daß für die Beurteilung im wiederaufgenommenen Verfahren nur die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt des früheren Urteils maßgebend sind. Es ging in beiden Urteilen um die Frage, ob einem Verurteilten im wiederaufgenommenen Verfahren der bedingte Strafvollzug gewährt werden kann, obwohl er seit dem ersten Urteil erneut rechtskräftig verurteilt wurde. Den prozeßökonomischen überlegungen des Bundesgerichts - es sei unzweckmäßig, in solchen Fällen, wo die früher ausgesprochene Strafe bedingt aufgeschoben worden sei, in Wiederaufnahmeverfahren nur auf den zur Zeit des früheren Urteils bekannten Sachverhalt abzustellen und nachträglich im Widerrufsverfahren die Gewährung des bedingten Strafvollzuges wieder rückgängig zu machen, anstatt ihn schon bei Ausfällung des neuen Urteils zu verweigern - hält das Zürcher Schwurgericht entgegen, daß es sich wegen solcher im Einzelfall unbefriedigender Ergebnisse nicht rechtfertige, von den allgemeinen Grundsätzen, die für die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten zu gelten haben, abzuweichen189 • Dazu kommt noch, daß die Auffassung des Bundesgerichts unter Umständen zu weiteren Unzukömmlichkeiten führen könnte, wenn der erkennende Richter und derjenige, der über den Widerruf des bedingten Strafvollzuges zu entscheiden hat, nicht identisch sind und der erstere sich Kompetenzen anmaßt, die nur dem letzteren zustehen. 7.7 Das Verbot der reformatio in peius

Das vom Schwurgericht zur Untermauerung seiner Auffassung zusätzlich angeführte Argument, daß nur durch eine ex tune Beurteilung Ge185

M. Waiblinger, Die besonderen richterlichen Aufgaben, ZStrR 75 (1959),

403 ff. 186 187

BGE 69 IV 225. BGE 86 IV 77.

188 Unveröffentlichtes Urteil vom 5. Februar 1965 (staatsanwaltschaft gegen F. M.). 189 Gleicher Auffassung Eb. Schmidt, Lehrkommentar H, Rndr.31 zu § 331.

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II!. Teil: Kantonales Recht

währ dafür geboten sei, daß das Verbot der reformatio in peius im wiederaufgenommenen Verfahren nicht verletzt werde, gibt Anlaß, der Frage nachzugehen, inwieweit dieses Verbot im Wiederaufnahmerecht Geltung beansprucht bzw. beanspruchen kannl90 • In den Kantonenl91 , welche in den allgemeinen Bestimmungen über die Recht.,mittel das Verbot der reformatio in peius aufgenommen haben, besteht über seine Geltung im wiederaufgenommenen Verfahren kein Zweifel. Die anderen Kantone kennen eine entsprechende Vorschrift in ihrem Rechtsmittelrecht jedoch entweder gar nicht oder nur für bestimmte Rechtsmittel. Waiblinger 192 vertritt in seinem Kommentar zur Berner StPO die Auffassung, daß trotz Schweigens des Gesetzes das wiederaufgenommene Verfahren vom Grundsatz des Verbotes der reformatio in peius beherrscht sein dürfte und erklärt das Schweigen des Gesetzes damit, daß eine eingehende Regelung des wiederaufgenommenen Verfahrens fehle. Demgegenüber hat der Kassationshof des Kantons Bern193 die Geltung des Verbotes aus Art. 348 StPO BE entnommen, wobei es sich jedoch um eine Verwechslung der Begriffe "Wiederaufnahme zuungunsten" und "reformatio in peius" handeln dürfte, so daß auf Grund dieses Urteils nicht auf seine Geltung geschlossen werden kann. Würde die Meinung von Clerc 194 zutreffen, wonach Art. 397 StGB eine Verschlechterung im wiederaufgenommenen Verfahren ausschließt, da er die Wiederaufnahme nur zugunsten des Verurteilten vorschreibt, so müßte dies auch von den Kantonen berücksichtigt werden, so daß das Fehlen entsprechender Bestimmungen unbeachtlich wäre. Demgegenüber vertritt Andresl95 die Ansicht, daß aus dem Schweigen des Gesetzes auf die Zulässigkeit geschlossen werden dürfe. Bevor zu diesen divergierenden Ansichten Stellung genommen wird, soll zunächst die Funktion des Rechtsmittels der Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten in Erinnerung gerufen werden (vgl. oben 1. Teil, 3.21). Auf der einen Seite dient sie, wie andere Rechtsmittel auch, dazu, die Wahrheit zu finden; diese Aufgabe wird durch das Verbot der reformatio in peius nicht gehindert, da dieses Verbot nicht eine Berichtigung des Schuldspruches untersagt, sondern nur eine Änderung der Strafzumessung zuungunsten des Gesuch190 Vgl. zum Verbot der reformatio in peius im schweizerischen Strafprozeßrecht die unter diesem Titel erschienene Arbeit von N. Bernoulli, Winterthur 1953. 191 ZH 399; SZ 204; SO 165; AG 210. 192 M. Waiblinger, Kommentar, Art. 356 Rdnr.2. 193 ZBJV 72 (1936) 90. 194 F. Clerc, De quelques problemes, ZStrR 61 (1946), 246 und ihm folgend auch M. Waiblinger, Die besonderen richterlichen Aufgaben, ZStrR 75 (1959), 406 Fn.71. 195 W. Andres, Das Rechtsmittel der Wiederaufnahme, S. 85 f.

7. Das wiederaufgenommene Verfahren

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stellers l96 • Auf der anderen Seite hat sie jedoch auch die Aufgabe, die Persönlichkeitsrechte des einzelnen, welche vom Staat verletzt wurden, zu garantieren. Mit dieser Funktion ist jedoch eine reformatio in peius nicht zu vereinbaren, da dadurch die Garantiewirkung weitgehend relativiert würde197 • Es erscheint jedoch fraglich, ob sich das Verbot der reformatio in peius im wiederaufgenommenen Verfahren durchsetzen läßt. Abgesehen von den Fällen, in denen die Berücksichtigung von Umständen, welche erst nach dem früheren Urteil eingetreten sind, zu einer Strafschärfung führen würden und die ohnehin gegen den Grundsatz der ex-tunc-Beurteilung verstoßen, besteht in den meisten Kantonen198 die Möglichkeit, daß von der Staatsanwaltschaft wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Beschuldigten verlangt werden kann, Dadurch können alle in einem zugunsten des Verurteilten durchgeführten Wiederaufnahmeverfahren oder wieder aufgenommenen Verfahren zutage tretenden Tatsachen, die eine Strafschärfung bewirken, von der Staatsanwaltschaft einem Wiederaufnahmegesuch zuungunsten des Beschuldigten zugrundegelegt werden. Will man verhindern, daß das Verbot der reformatio in peius dadurch umgangen wird, so bedarf es einer ergänzenden Bestimmung, welche verbietet, die Nova für die Begründung eines Wiederaufnahmegesuches zuungunsten des Verurteilten heranzuziehen, die erst im Wiederaufnahmeverfahren zugunsten bekanntgeworden sind. Nach der in dieser Arbeit vertretenen Auffassung, wonach auf eine Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten oder Freigesprochenen verzichtet werden sollte, bedarf es jedoch weder einer solchen Bestimmung noch eines allgemeinen Verbots der reformatio in peius im Wiederaufnahmerecht, da sie bei einem Rechtsmittel, das nur zugunsten des Verurteilten gewährt wird, schon per se ausgeschlossen ist199• 7.8 Entschädigung und Wiedergutmachung

In seiner Abhandlung über Art.397 StGB bedauert Pfenninger200, daß nicht auch ausdrücklich und einheitlich für die ganze Schweiz bestimmt worden ist, es besitze der Staat die Pflicht zur vollen Entschädi196 Vgl. die zürcher. Rspr. ZR 1960 Nr.59 und N. Bernoulli, Das Verbot der reformatio in peius, S. 17 f. 197 Vgl. in diesem Zusammenhang Eb. Schmidt, Lehrkommentar 11, § 331 Rdnr.2: "Dem Angeklagten aber die Einlegung eines Rechtsmittels dadurch zu verleiden, daß man ihm ein Risiko aufbürdet und ihm die Möglichkeit eines ,Hereinfalles' schafft, erscheint in einem rechtsstaatlichen Strafverfahrensrecht unfair." 198 Vgl. III. Teil, 1.2. 199 Vgl. F. eIere, De quelques problemes, ZStrR 61 (1946), 246. 200 H. F. Pfenninger, Probleme, S. 329.

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III. Teil: Kantonales Recht

gung der im wiederaufgenommenen Verfahren Freigesprochenen oder milder Verurteilten, und auch Waiblinger201 meint, daß die volle Wiedergutmachung des dem Verurteilten erwachsenen Schadens vornehmste Pflicht des Staates sein solle. Aus diesem Grunde scheint es gerechtfertigt, am Ende des Kapitels über das wiederaufgenommene Verfahren noch eine kurze Darstellung der entsprechenden Bestimmungen zu geben202 und auf das Problem der Anrechnung verbüßter Strafen einzugehen. Wenn auch nicht bundes einheitlich geregelt, so wird doch die Pflicht des Staates für die Wiedergutmachung des durch das frühere Urteil entstandenen Schadens heute von fast allen Kantonen gesetzlich anerkannt 203 • Dabei lassen sich jedoch Differenzierungen feststellen, die den Wunsch Pfenningers nach einer einheitlichen Regelung verständlich machen. So sehen die meisten Kantone eine Entschädigung für zu Unrecht erlittene Haft nur im Falle eines Freispruches VO~4 und berücksichtigen nicht, zumindest nicht expressis verbis205 , den Fall, daß der Angeschuldigte im wiederaufgenommenen Verfahren erheblich milder bestraft wird206 • Da in beiden Fällen der Angeklagte ungerechtfertigt inhaftiert war, sollten sie auch gleich behandelt werden. Neben einer Entschädigung sollte auch noch die Leistung von Genugtuung zugesichert werden, und zwar für all die Fälle, wo eine im ersten Urteil ausgesprochene Strafe oder Maßnahme nicht mehr rückwirkend beseitigt werden kann. Dazu gehört auch die in einigen Kantonen207 aus201

408f.

M. Waiblinger, Die besonderen richterlichen Aufgaben, ZStrR 75 (1959),

202 VgI. hierzu vor allem E. Fischli, Die Entschädigung unschuldig Verfolgter, ZSR 79 (1960 II). 203 ZH 455; BE 356 f.; LU 280 II; UR 136 II; SZ 98; OW 166; GL 142; ZG 57 II; FR 61 Ziff. 3; SO 216 I; BS 85; BL 38; SH 252 I; AI 71 II; AR 125 II; SG 216; GR 153; AG 235; TG 237 i. V. m. 75; TI 247; VD 473 i. V. m. 67; VS 205 II; NE 271; GE 458 I sowie BStrP 237 I. (Weitere Bestimmungen finden sich in einzelnen Kantonsverfassungen.) 204 Neuestens hierzu BGE 98 I a) 14 ff. 205 Diese Einschränkung ist deshalb nötig, da das Geschworenengericht des Kantons Aargau trotz Fehlens einer z. B. 356 stpo BE entsprechenden Bestimmung einen Angeschuldigten, welcher im ersten Verfahren zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurde, im wiederaufgenommenen Verfahren jedoch nur noch zu zwei Monaten Gefängnis, eine hohe Entschädigung und Genugtuungssumme zuerkannt hat (vgl. Fernausgabe der NZZ Nr.320 vom 22. 11. 1971, S.25). Wenn in einem solchen Fall auch argumentiert werden könnte, daß bezüglich der ursprünglich angeklagten Tat ein Freispruch erfolgt sei, so trifft dies jedoch in den Fällen nicht zu, wo auf Grund erheblich verminderter Zurechnungsfähigkeit die Strafe gemildert wird. Vgl. hierzu auch P. Boner, Die Wiederaufnahme, S. 192. 206 E. Fischli, Die Entschädigung unschuldig Verfolgter, ZSR 79 (196011), 333 a. 207 ZH 455; BE 357; OW 166; FR 61 Ziff.2; SO 216 I; BS 81 111; AI 71; AR 125 III; GR 153; AG 235; TI 249; VD 474; VS 205 11; NE 269; GE 458 IV; BStrP 237 I.

7. Das wiederaufgenommene Verfahren

111

drücklich vorgesehene Möglichkeit, daß das freisprechende Urteil auf Kosten des Staates veröffentlicht wird. Daß die Leistung von Entschädigung, wie nach Art. 357 I StPO Bern davon abhängig gemacht werden soll, daß der im wiederaufgenommenen Verfahren Freigesprochene das erste Urteil nicht schuldhaft veranlaßt hatte, dürfte bei zurückhaltender Anwendung durchaus vertretbar sein. Grundsätzlich sollte jedoch der Staat eine Entschädigung gewähren, da es im Strafverfahren ihm obliegt, den Nachweis der Tatsachen zu erbringen, auf welche eine Verurteilung gestützt wird208 • Das gleiche dürfte auch für ein Rückgriffsrecht des Staates gegenüber Dritten gelten, welche durch rechtswidrige Handlungen das Urteil herbeigeführt haben (Art. 358 UI StPO Bern)209. über die Aktivlegitimation hat Fischli ausführlich berichtet21O , so daß an dieser Stelle nur noch die inzwischen geänderten Vorschriften genannt sowie einige grundsätzliche überlegungen zu dieser Frage angestellt werden sollen. Obwalden (166 U), Solothurn (216 U), Thurgau (237 UI i. V. m. 75, 76), Vaud (473 i. V. m. 67, 68) und Wallis (205 IU) haben in ihren neuen Strafprozeßordnungen den Forderungen Fischlis Rechnung getragen und außer dem unschuldig Verfolgten seinen Hinterbliebenen, Verwandten oder den Personen, die durch die Verurteilung ein besonderes Unrecht erlitten haben, bzw. denen der Verurteilte unterstützungspflichtig war, einen Entschädigungs- bzw. Genugtuungsanspruch zuerkannt. Diese, leider nicht in allen Kantonen bekannte Regelung gewährleistet, daß der Fiskus nicht aus dem, möglicherweise wegen der Verfolgung vorzeitigen Tod des Verurteilten Vorteile ziehen kann2'l1; sie ist aber auch, ganz abgesehen vom Gedanken der Billigkeit, deshalb erforderlich, weil im wiederaufgenommenen Verfahren ex tune geurteilt werden muß und das neue Urteil den Zustand herstellen soll, der bestehen würde, wenn es schon im ersten Verfahren gefällt worden wäre. Die Zuständigkeit für die Beurteilung der Entschädigung obliegt im allgemeinen dem Gericht des wiederaufgenommenen Verfahrens. Daneben besteht jedoch die Möglichkeit, soweit es sich um Schadensersatzforderungen an die Kantone handelt und der Streitwert mindestens 8000,- Fr. beträgt, gern. Art. 42 eidg. OG das Bundesgericht als einzige 208 E. Fischli, Die Entschädigung unschuldig Verfolgter, ZSR 79 (196011), 357 a Fn. 124. 209 Vgl. die entsprechende deutsche Regelung in §§ 5 11,111,6 I sowie § 15 11 des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen vom 8. März 1971 (BGBI I S.157) und die Zusammenstellung der schweizerischen Bestimmungen bei E. Fischli, Die Entschädigung unschuldig Verfolgter, ZSR 79 (196011), 347 a ff.; H. F. PfenningeT, Probleme, S.382. 210 ZSR 79 (1960 In, 378 a ff. 211 E. Fischli, Die Entschädigung unschuldig Verfolgter, ZSR 79 (196011), 383 a.

112

II!. Teil: Kantonales Recht

Instanz anzurufen212 • In diesem Zusammenhang ist eine Vorschrift213 der StPO Basel-Stadt noch besonders hervorzuheben, nach der in allen Fällen, in denen ein Entschädigungsanspruch entstanden sein könnte, der Berechtigte über seine Rechte ausdrücklich zu belehren ist. 7.9 Anreclmung verbüßter Strafen Während die Frage der Entschädigung und Genugtuung in allen Kantonen, wenn auch nicht in gleichem Maß, geregelt wurde, lassen sich kaum Vorschriften finden, welche bestimmen, daß bereits verbüßte Strafe auf die im wiederaufgenommenen Verfahren ausgesprochene anzurechnen ist. Nur drei Kantone2 14 kennen eine besondere Vorschrift, wobei in Bern und Genf die schon verbüßte Strafe zwingend anzurechnen ist, während in Freiburg bei erneuter Verurteilung das Gericht zugleich darüber entscheidet, "ob eine etwa schon verbüßte Strafe angerechnet werden soll". Schon Clerc2 15 hat darauf hingewiesen, daß die Freiburger Regelung dem Richter ein Ermessen zubilligt, welches möglicherweise mit dem Geist der Vorschriften des StGB betreffend Anrechnung von Untersuchungshaft (Art. 69 StGB) in Widerspruch steht. Dies ist zweifellos der Fall, da Art. 69 StGB dem Richter kein Ermessen einräumt; darüber hinaus scheint mir jedoch auch die Ansicht von Clerc unzutreffend zu sein, der die Anwendung dieser Bestimmung wenigstens bei der Wiederaufnahme zuungunsten für zulässig hält. Die unterschiedliche Betrachtungsweise leuchtet nicht ein, was an einem Beispiel verdeutlicht werden soll: Wurde der Täter im ersten Verfahren zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, von denen er bereits zwei verbüßt hat und wurde im wiederaufgenommenen Verfahren die Strafe auf drei Jahre ermäßigt, so besteht kein Unterschied zu dem Fall, daß der Täter im wiederaufgenommenen Verfahren zu sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wird. In bei den Fällen hat er bereits einen Teil der Strafe für die im wiederaufgenommenen Verfahren beurteilte Tat verbüßt216 , so daß eine Anrechnung bereits verbüßter 212

411.

M. WaiblingeT, Die besonderen richterlichen Aufgaben, ZStrR 75 (1959),

BS 82 IV. BE 356; FR 61 Ziff.4; GE 457 IV. 215 F. CleTC, De quelques problemes, ZStrR 61 (1946), 247. 216 An diesem kleinen Problem zeigt sich erneut die Bedeutung einer genauen Definition der Tatidentität für das Wiederaufnahmerecht. Nur die Tatidentität rechtfertigt und verlangt eine Anrechnung verbüßter Strafen im wiederaufgenommenen Verfahren. Würde im wiederaufgenommenen Verfahren von der ursprünglich angeklagten Tat freigesprochen und wegen einer mit ihr nicht identischen verurteilt werden, so könnte das durch ein Fehlurteil auferlegte Strafübel nicht nachträglich umfunktioniert werden zu einer Sühne für andere, erst später entdeckte Schuld. In diesen Fällen, die jedoch m. E. gerade nicht im Wiederaufnabmerecht vorkommen, da hier 213

214

8. Sonderfälle der Wiederaufnahme des Strafverfahrens

113

Strafe erfolgen muß. Zu dieser Frage besteht trotz weitgehenden Fehlens entsprechender Vorschriften in der Literatur2 11 Einigkeit, so daß auch angenommen werden darf, daß die Gerichte gleichermaßen entscheiden.

8. Sonderfälle der Wiederaufnahme des Strafverfahrens Obwohl bereits bei der Darstellung des Wiederaufnahmeverfahrens Wert darauf gelegt wurde, Sonderfälle der Wiederaufnahme des Verfahrens mit zu berücksichtigen (Wiederaufnahme nach Strafvollstreckung oder Tod des Verurteilten z. B.), soll diese Arbeit nicht beendet werden, ohne daß auf besondere kantonalrechtliche Bestimmungen zumindest hingewiesen wurde.

8.1 Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Verurteilten es: officio Nach Art. 353 StPO Bern und § 228 II StPO Schwyz erstreckt sich das Wiederaufnahmeverfahren von Gesetzes wegen auf alle Teilnehmer der strafbaren Handlung, die den Gegenstand des früheren Verfahrens bildete und wofür die Wiederaufnahme verlangt wird. Es handelt sich hierbei also um eine Wiederaufnahme des Verfahrens ex officio, d. h. ohne Wiederaufnahmegesuch der Betroffenen, deren Sinn es ist, eine Doppelspurigkeit des Wiederaufnahmeverfahrens zu vermeiden. So vernünftig der diesen Bestimmungen zugrunde liegende Gedanke ist, so zeigt sich dennoch bei näherer Betrachtung, daß sie eine große Zahl von Fragen aufwerfen, auf die sie keine Antwort geben. Der Kassationshof des Kantons Bern hat in einem Urteil vom 13. Juni 1933218 einige Ausführungen zur Auslegung des Art. 353 StPO Bern gemacht, auf welche in diesem Zusammenhang näher einzugehen ist2111 • Danach "kann diese Bestimmung nicht den Sinn haben, daß sich das Wiederaufnahmeverfahren auch auf die Teilnehmer erstreckt, die infolge des Ausdehnungs- und Vereinigungsgrundsatzes seinerzeit im gleichen Strafverfahren mit dem Gesuchsteller beurteilt wurden". Diese Auslegung ergibt sich jedoch bereits aus Art. 353 selbst, da in ihm von immer Tatidentität vorliegen muß, ließe sich ein Ausgleich nur über die gnadenweise Erlassung der Strafverbüßung finden (vgI. auch R. D. Herzberg, Ne bis in idem, JuS 1972, 120). 217 M. Waiblinger, Die besonderen richterlichen Aufgaben, ZStrR 75 (1959) 408; ders., Kommentar, Art. 356 Rdnr.3; P. Boner, Die Wiederaufnahme, S.179 (unter Berufung auf WaibZinger). 218 ZBJV 72 (1936), 90 ff. 118 VgI. auch M. WaibZinger, Kommentar, Art. 353. 8 Edtert

114

UI. Teil: Kantonales Recht

den Teilnehmern "der strafbaren Handlung, die den Gegenstand des früheren Verfahrens bildete und wofür die Wiederaufnahme verlangt wird" gesprochen wird, so daß sich eine Ausdehnung auf die Teilnehmer an real-konkurrierenden Taten, wegen welcher je-doch kein Wiederaufnahmegesuch gestellt wird, von selbst verbietet. Des weiteren lehnt das Gericht eine Erstreckung des Wiederaufnahmeverfahrens auf die Teilnehmer ab, gegen welche auch ein von der Staatsanwaltschaft selbständig in Gang gesetztes Wiederaufnahmeverfahren gem. Art. 348 I StPO Bern unzulässig wäre. Darüber hinaus soll diese Vorschrift auch dann keine Anwendung finden, wenn bei einer zugunsten eines Angeschuldigten verlangten Wiederaufnahme für die Teilnehmer eine Änderung des Urteils zu ihren Ungunsten wahrscheinlich ist. Damit widerspricht das Urteil zwar, wie Waiblinger feststellt, dem klaren Grundsatz des Art. 353, zeigt aber auf der anderen Seite einiges von der Problematik dieser Bestimmung. Auch die Ansicht des Gerichtes, das Wiederaufnahmeverfahren sei jedenfalls dann nicht auf Teilnehmer auszudehnen, wenn eine Abänderung des Urteils für sie nicht in Frage komme, läßt diese Vorschrift weitgehend leerlaufen, soll es doch gerade ihr Sinn sein, in einem Wiederaufnahmeverfahren zu prüfen, ob eine Abänderung in Frage kommt oder nicht. Es fragt sich jedoch, ob der von dieser Bestimmung anvisierte Zweck, eine Doppelspurigkeit des Wiederaufnahmeverfahrens zu vermeiden, nicht besser dadurch erreicht werden könnte, daß in allen Fällen, in denen ein Wiederaufnahmeverfahren wahrscheinlich macht, daß auch die Teilnehmer des Gesuchstellers zu Unrecht verurteilt wurden, das Gericht das Verfahren auch auf sie ausdehnen kann, bzw. wie § 400 StPO Zürich vorsieht, das Gericht das Urteil auch zugunsten der übrigen abändern kann, wenn von mehreren Verurteilten nur einzelne ein Rechtsmittel ergriffen haben. Damit würde man ebenfalls eine Verfahrensvereinfachung erreichen und hätte gleichzeitig die Gerichte von der Prüfung überflüssiger Wiederaufnahmeverfahren entlastet, zu welcher sie nach einer gesetzeskonformen Auslegung des Art. 353 StPO Bern, § 228 II StPO Schwyz eigentlich gezwungen wären. 8.2 Das außerordentliche Wiederaufnahmebegehren nach § 215 Stpo Solothum

Während es der Sinn des bisher dargestellten Rechtsmittels der Wiederaufnahme des Verfahrens ist, ein auf ungenügender oder falscher tatsächlicher Grundlage beruhendes Urteil noch einmal zu überprüfen, sieht Solothurn unter dem Namen "ausserordentliches Wiederaufnahmebegehren" eine interessante Ergänzung vor. Dabei handelt es sich um ein unbefristetes, nicht suspensiv, wohl aber devolutiv wir-

8. Sonderfälle der Wiederaufnahme des Strafverfahrens

115

kendes Rechtsmittel, welches nur vom Staatsanwalt zugunsten des Verurteilten geltend gemacht werden kann, wenn a) im Verfahren prozeßrechtliche Vorschriften, insbesondere solche über die Partei und Verteidigungsrechte, verletzt wurden, sofern dadurch das Urteil wesentlich beeinflußt wurde, und b) die Verletzung der prozeßrechtlichen Vorschriften ohne Verschulden des Verurteilten nicht auf dem Rechtsmittelweg gerügt wurde. Diese Bestimmung220 , zu welcher Literatur und Rechtsprechung bisher noch fehlen, ergänzt die Regelung des Wiederaufnahmeverfahrens. Mit ihr wird primär nicht die Beseitigung von Fehlurteilen angestrebt, dafür reicht das "ordentliche" Wiederaufnahmeverfahren durchaus - sie dient vielmehr der Beseitigung von Urteilen, welche unter Verletzung von verfahrensrechtlichen Vorschriften zustande kamen und sichert somit die Legalität und Justizförmigkeit des Verfahrens. Damit kommt dieser Bestimmung eine Bedeutung zu, welche weit über ihre tatsächliche Anwendung hinausgehen dürfte. Ist bereits das Rechtsmittel der Wiederaufnahme und seiner Ausgestaltung ein Kind der Aufklärung und der Abkehr vom gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahren 221 , so wird dies durch das außerordentliche Wiederaufnahmebegehren, wie es Solothurn vorsieht, noch unterstrichen. Dafür ist allerdings erforderlich, daß außer den Voraussetzungen der Verletzung prozeßrechtlicher Vorschriften und ihre ohne Verschulden des Verurteilten unterlassene Rüge, die weitere Voraussetzung, daß der Staatsanwalt "aus wichtigen Gründen" die Wiederaufnahme des Verfahrens verlangen kann, wenn durch die Verletzung das Urteil "wesentlich" beeinflußt wurde, in diesem Sinne interpretiert werden. Die Auslegung dieser beiden Begriffe entscheidet darüber, ob hier ein neben dem ordentlichen Wiederaufnahmerecht überflüssiger Wiederaufnahmegrund geschaffen wurde, oder ob es sich um eine Garantie strafprozessualer Rechtsstaatlichkeit handelt. Welche Verfahrensverstöße im einzelnen Grund dafür sein sollen, daß der Staatsanwalt die Wiederaufnahme des Verfahrene; verlangt, ist eine Frage, die sich nicht mit einer einfachen Formel oder Theorie beantworten läßt. Der deutsche BGH hat zu der, m. E. das hier vorliegende Problem betreffenden Frage der Revisibilität von Verfahrensmängeln im Strafprozeß eine "Rechtskreistheorie" ent-

220

Weniger spektakulär, jedoch den gleichen Zweck erfüllend, bestimmt

§ 431 stpo ZH, daß die Nichtigkeitsbeschwerde, mit welcher die Verletzung

von Verfahrensvorschriften sowie materieller Gesetzesvorschriften gerügt werden kann (§ 430 Ziff. 1-6 Stpo ZH), binnen fünf Tagen von der Eröffnung des Urteils oder Entscheides oder von der Entdeckung des Mangels an gerechnet, anzumelden ist; vgl. dazu ZR 46 (1947), Nr.97. 221 Vgl. oben 1. Teil, 2.2. 8'

116

III. Teil: Kantonales Recht

wickelt222 , welche jedoch in der Lehre223 sehr kritisch bewertet wird. Demgegenüber hat Rudolphi 224 den Vorschlag gemacht, "dass ein Verstoss gegen eine Verfahrensnorm immer dann revisibel sein soll, wenn dies zur Erreichung ihres Schutzzweckes erforderlich ist, d. h. wenn die verletzte Verfahrensnorm generell den Einfluß bestimmter Beweismittel oder sonstiger Umstände auf das zu fällende Urteil verhindern will" - und jetzt kommt die wichtige Einschränkung - "und diese missbilligte Beeinflussung im konkreten Fall auch tatsächlich als Folge ihrer Verletzung eintreten kann". Berücksichtigt man auf der einen Seite das Erfordernis der im konkreten Fall möglichen Beeinflussung, auf der anderen Seite, daß nur die Staatsanwaltschaft, von der eine sorgfältige Prüfung erwartet werden darf, berechtigt ist, in diesen Fällen die Wiederaufnahme zu verlangen, so wird damit auch die Bedeutung der Rechtskraft richterlicher Urteile gewahrt. Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens wegen ungenügender oder falscher tatsächlicher Urteilsgrundlage wird dann ergänzt durch die Wiederaufnahme des Verfahrens wegen Verletzung wichtiger strafprozessualer Vorschriften. Die Bedeutung, welche bei den zukommt, wird von Eb. Schmidt in so eindrucksvoller Form betont, daß er damit zum Schluß dieser Arbeit zitiert werden soll: "Es geht in der Strafrechtspflege nicht nur um die materiellrechtliche Richtigkeit der Urteile, sondern ebensosehr auch um ihre Gewinnung auf keinem anderen als dem justizförmigen Wege. Das Verlassen dieses Weges involviert stets enorme Gefahren für die Unschuld und damit für die Gerechtigkeit225 ."

BGHStGrS 11, 213. Vgl. H.-J. Rudolphi, Die Revisibilität von Verfahrensmängeln im Strafprozeßrecht, MDR 1970, 93 ff. mit weiteren Nachweisen. 224 Ebd., S. 100. 225 Eb. Schmidt, Die Verletzung der Belehrungspfticht gem. § 55 II StpQ als Revisionsgrund, JZ 1958, 596 ff. (601). 222 223

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22. 5.1887, 2.10.1892, 18. 2.1875, 21. 11. 1858, 10. 10. 1965, 19. 5.1968, 16. 11. 1890, 24. 3.1876,

SZ SO TG TI UR VD VS ZG ZH

23. 10. 1898, 23.10.1887, 28. 2.1869, 4. 7.1830, 6. 5.1888, 1. 3.1885, 8. 3.1907, 18. 3.1894, 18. 4.1869.

GL GR LU NE NW OW SG SH

2. 8. 3. 19. 30. 14. 9. 3.

5.1965, 6.1958, 6.1957, 4.1945, 1.1943, 9.1972, 8.1954, 3.1909,

SZ SO TG TI UR VD VS ZG ZH

16. 12. 1956, 7. 6.1970, 30. 6.1970, 10. 6.1941, 8. 6.1959, 12. 9.1967, 22. 2.1962, 3.10.1940, 4. 5.1919.

LU NE NW SG SO TI

28. 1. 1913, 19. 5.1945, 28. 4.1968, 24. 8.1954, 5. 3.1961, 24. 11. 1910,

UR VD VS ZG ZH

26. 1. 1958, 16.12.1947, 13. 5.1960, 3.10.1940, 29. 1.1911.

Strafprozeßordnungen: AG AI AR BL BS BE FR GE

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(Zahlreiche weitere Literaturangaben finden sich in einzelnen Fußnoten.)