Die »wahre Republik« und das »Bündel von Kompromissen«: Die Staatsphilosophie Immanuel Kants im Vergleich mit der Theorie des amerikanischen Federalist [1 ed.] 9783428528042, 9783428128044

Gibt es eine Verbindung zwischen der Staatsphilosophie Kants (1724–1804), die auf Vernunftprinzipien basiert und die »wa

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Die »wahre Republik« und das »Bündel von Kompromissen«: Die Staatsphilosophie Immanuel Kants im Vergleich mit der Theorie des amerikanischen Federalist [1 ed.]
 9783428528042, 9783428128044

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Schriften zur Rechtstheorie Heft 248

Die „wahre Republik“ und das „Bündel von Kompromissen“: Die Staatsphilosophie Immanuel Kants im Vergleich mit der Theorie des amerikanischen Federalist

Von Cora Wawrzinek

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

CORA WAWRZINEK

Die „wahre Republik“ und das „Bündel von Kompromissen“: Die Staatsphilosophie Immanuel Kants im Vergleich mit der Theorie des amerikanischen Federalist

Schriften zur Rechtstheorie Heft 248

Die „wahre Republik“ und das „Bündel von Kompromissen“: Die Staatsphilosophie Immanuel Kants im Vergleich mit der Theorie des amerikanischen Federalist

Von Cora Wawrzinek

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Sommersemester 2007 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D5 Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-12804-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2007 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Aus Anlaß ihrer Veröffentlichung möchte ich allen danken, die zu ihrem Entstehen beigetragen haben. In ganz besonderem Maße gilt mein Dank Herrn Prof. Dr. Rainer Zaczyk, der mein Interesse an Kant und seiner Rechtsphilosophie geweckt und mir die Möglichkeit eröffnet hat, mich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung eingehend mit diesem Thema zu beschäftigen. Er hat die Arbeit nicht nur fachlich betreut und durch wertvolle Anregungen gefördert, sondern auch menschlich durch seine freundliche und wohlwollende Art und seine geduldige Unterstützung zu ihrem Gelingen beigetragen. Herzlich danken möchte ich auch dem Zweitgutachter der Arbeit, Herrn Prof. Dr. Günther Jakobs, für das von ihm verfaßte Gutachten und das anregende Prüfungsgespräch. Der Universitätsgesellschaft Bonn – Freunde, Förderer, Alumni e.V. danke ich für den von ihr verliehenen Preis und die damit verbundene Förderung der Veröffentlichung der Arbeit. Im übrigen gebührt der größte Dank meinen Eltern, Margret und Josef Wawrzinek, und meinem Mann, Dr. Michael Vothknecht. Ohne ihre Unterstützung und ihren Zuspruch wäre die vorliegende Arbeit nicht entstanden. Sie standen mir nicht nur mit aufmunternden Worten, sondern stets auch als Diskussionspartner in inhaltlichen Fragen zur Seite. Mein Mann hat durch seine Anregungen maßgeblich zur Themenfindung und zur Herstellung der Verknüpfung zwischen Kant und der amerikanischen Geisteswelt beigetragen. Meine Eltern haben die Dissertation zudem Korrektur gelesen und sich nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich mit ihr auseinandergesetzt. Ich möchte die Arbeit in Liebe und Dankbarkeit meinem Mann und meinen Eltern widmen. Detmold, im November 2008

Cora Wawrzinek

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Einführender Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Überblick über Kants Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zeitgeschichtlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einordnung der kantischen Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Historischer Überblick Nordamerika/USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entstehung der Kolonien: Besiedlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Entstehung der Einzelstaaten: Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Entstehung des Staatenbundes: Konföderationsartikel . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Entstehung des Bundesstaates: Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Kritische Periode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Situation des Kongresses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Demokratisierung der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Situation in den Einzelstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Reformbestrebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Verfassungskonvent in Philadelphia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Strittige Punkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Der Verfassungsentwurf und seine Annahme . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Weiterleitung des Entwurfes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfassungsdebatte: Federalists und Anti-Federalists . . . . . . . . . . . . . . (1) Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Basis und Argumente der beiden Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Debatte in New York und The Federalist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kurzüberblick über den Federalist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ratifizierung der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Ratifizierungskonvente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Bildung des neuen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Politische Entzweiung von Madison und Hamilton . . . . . . . . . . . . . . . (1) Hamiltons Finanzprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Entstehung des ersten Parteiensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Anmerkungen zum Federalist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Keine „Persönlichkeitsspaltung“ Publius’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24 24 24 25 27 27 30 35 36 37 37 40 41 43 44 45 48 51 51 53 54 56 59 63 64 64 66 68 71 71 73 75 76

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Inhaltsverzeichnis 2. Urheberschaft der Essays . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bedeutung der Aufsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungspropaganda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfassungskommentar und Leitfaden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Staatstheoretisches Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eigentumstheoretische Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die systematische Stellung von Kants Eigentumstheorie in der Metaphysik der Sitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Unterscheidung „Privatrecht – öffentliches Recht“ . . . . . . . . . . . . (2) Inhalt des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Kants Eigentumsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begründung des Eigentums als Rechtsinstitut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Möglichkeit, Eigentum haben zu können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Notwendigkeit, Eigentum haben zu können . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Freiheitswidrigkeit eines prinzipiellen Gebrauchsverbotes . . (b) „Gebrauchen“ als umfassendes Herrschaftsrecht . . . . . . . . . . (3) Reziprozität der Eigentumsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Zwischenmenschliche Dynamik: Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Provisorisches und peremtorisches Eigentum . . . . . . . . (bb) Das Erlaubnisgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Staatstranszendente Dynamik: Völker- und Weltbürgerrecht (c) Staatsimmanente Dynamik: Republikanisierung . . . . . . . . . . c) Begründung individueller Eigentumsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Erwerbung alles Äußeren nötig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Ursprüngliche Erwerbung möglich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Voraussetzungen der ursprünglichen Erwerbung . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Besitznehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Ablehnung der Arbeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Keine quantitativen Aneignungsschranken . . . . . . . . . . (b) Die Bezeichnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Die Zueignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Scheinbarer Widerspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Idee des a priori vereinigten Willens . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Verpflichtung zum Staat und zur weitergehenden Verrechtlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Ursprünglicher Gesamtbesitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verhältnis von Eigentum, Naturzustand und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anthropologische Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87 87 87 87 88 89 90 92 93 97 98 101 104 105 105 109 111 113 114 114 115 116 118 119 122 125 126 126 127 129 130 134 137

Inhaltsverzeichnis

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3. Herleitung direkt aus der Freiheit der Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zweck des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Primär: Freiheits- durch Rechtssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sekundär: Förderung des Gemeinwohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Im Gemeinspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) In Zum ewigen Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) In der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Keine weitergehende sozialstaatliche Komponente . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Im Federalist: Nützlichkeit des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Impulse menschlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Meinungen, Leidenschaften und Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Entstehung der Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Verhältnis der Impulse zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vernunft und Leidenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vernunft und Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Leidenschaften und Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis: Das Menschenbild des Federalist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zweck des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freiheits- und Rechtssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gemeinwohlförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verhältnis der Zwecke zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vergleich und Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

142 145 145 147 147 148 150 155 159 162 162 164 167 168 169 173 176 178 180 183 184 187 188

D. Funktion des Gesellschaftsvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bei Kant: Normatives Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Virtualisierung der Vertragskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. In der Aufklärung und im Gemeinspruch: Kriterium bezüglich der einfachen Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kriterien des Gesellschaftsvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Innere Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Negative Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Positive Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Äußere Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Negative Freiheit (als Mensch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Positive Freiheit (als Staatsbürger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Natürliche Gleichheit (als Untertan) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Bürgerliche Gleichheit (als Staatsbürger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Selbständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

191 191 196 198 202 203 205 205 206 209 210 211 212 213 215 216

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Inhaltsverzeichnis (1) Grund für den Ausschluß vom Stimmrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Unterscheidung zwischen apriorischem Prinzip und empirischer Ausfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Apriorisches Kriterium: Mündigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. In der Metaphysik, im Frieden und Streit: Kriterium bezüglich der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unterscheidung „Regierungsart – Staatsform“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zunächst Republikanisierung der Regierungsart . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Letztlich umfassende Republikanisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Unterschiede zwischen der Konzeption des Friedens und der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kein Instrument der Widerstandslegitimierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Umfang des Widerstandsverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Rückfall in den Naturzustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Unvereinbarkeit mit der Unteilbarkeit der Souveränität . . . . . . . . (3) Verstoß gegen die Publizitätsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Weitere Probleme im vorrepublikanischen Staat . . . . . . . . . . . . . . c) Rechte des Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Recht auf freie Meinungsäußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Recht auf passiven Widerstand aus Gewissensgründen . . . . . . . . d) Folgen einer erfolgreichen Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Bewertung von Kants Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vereinbarkeit mit Kants positiver Bewertung historischer Revolutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Keine systematische Inkonsistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Kein Versagen angesichts von Unrechtsregimes . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung und Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Im Federalist: Herrschaftslegitimation und -limitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Herrschaftslegitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Prinzipien des Gesellschaftsvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Leben und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Negative, persönliche Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Positive, öffentliche Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eigentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Persönliche Gleichheit (Gerechtigkeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Politische Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Vergleich zwischen Unabhängigkeitserklärung und Verfassung . . . . 3. Herrschaftslimitation: Instrument der Widerstandslegitimierung . . . . . . a) Prinzipielles Revolutionsrecht des Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219 221 223 226 228 230 232 236 241 242 249 249 251 253 254 257 257 259 262 263 264 266 269 273 275 276 282 282 283 287 292 295 295 298 300 302 303

Inhaltsverzeichnis

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b) Versuch der Verhinderung in praxi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Bedeutung der Meinungs- und Pressefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung und Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vergleich und Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Herrschaftslegitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Normative Funktion des Gesellschaftsvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Widerstandslegitimierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

305 307 309 310 310 314 317 319

E. Aufbau des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die drei Gewalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vorstrukturierung durch das Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verhältnis der Gewalten zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Funktionelle Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Personell-institutionelle Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Verhältnis „Legislative – Exekutive“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Stellung der Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Verortung der Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Im Federalist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Machtkonstituierende Funktion der drei Gewalten . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Funktionale Stärkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Geltungsbereich der Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Supreme law of the land-Klausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Enumerierte Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Necessary and proper-Klausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Strukturelle Stabilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Strukturelle Komponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Funktionale Komponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Zuständigkeit in Fällen des Bundesrechts . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Parteienbezogene Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Machtbegrenzende Funktion der drei Gewalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verhinderung tyrannischer Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Notwendiger Grad der Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

320 320 320 321 323 326 328 330 331 335 335 338 341 342 344 345 347 348 348 351 352 353 356 359 361 364 367 368 372 373 373 376

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Inhaltsverzeichnis (3) Mittel zur Durchsetzung der Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Strukturelle Maßnahmen zur Separierung . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Personelle Separierung der Gewalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Funktionale Verschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Exekutive: Gesetzgebungsveto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Judikative: Normenkontrollrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Legislative: Amtsenthebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . (d) Voluntative Komponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Motivation der Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Motivation der Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Motivation der Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Verhinderung faktiöser Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vergleich und Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Im Gemeinspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Im Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) In der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) (Staats-)Transzendente Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) (Staats-)Immanente Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Mittel der umfassenden Republikanisierung . . . . . . . . . . . . . . (b) Vereinigung des Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Im Federalist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Problem der Faktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Unvermeidbarkeit ihrer Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Eindämmung ihrer Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wirkung der Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Erweiterung der geistigen Sphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Erweiterung der geographischen Sphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Förderung der Wahl geeigneter Repräsentanten . . . . . . . . . . . (b) Diversifizierung der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Abgrenzung zur aktuellen und virtuellen Repräsentationskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vergleich und Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. „Föderalismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

379 380 381 383 385 387 387 388 389 394 396 397 399 401 403 404 408 410 411 411 412 416 416 418 419 422 424 424 426 430 432 432 435 436 439 443 447 448 449

Inhaltsverzeichnis a) Begründung der Notwendigkeit der globalen Verrechtlichung . . . . . . (1) In der Idee, dem Gemeinspruch und Frieden . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) In der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Öffentlich-rechtliche Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Privatrechtliche Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Form der Verrechtlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Endziel: Völkerstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) „Negatives Surrogat“: Völkerbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Versuch der vernunftrechtlichen Begründung . . . . . . . . . . . . . (aa) Freiheit der Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Freiheit der Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Eigentlicher Grund: Pragmatische Probleme . . . . . . . . . . . . . (aa) Unregierbarkeit eines globalen Staates . . . . . . . . . . . . . . (bb) Mangelnde Bereitschaft der Staaten zum Souveränitätsverzicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Evolutionärer Prozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Kein zwangsweiser Zusammenschluß . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Friedensfördernde Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Funktion des Völkerstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Im Federalist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Form des Zusammenschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kompetenzverteilung zwischen Bund und Einzelstaaten . . . . . . . . . . (1) Gesetzgebungskompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Ausschließliche Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Gleichzeitige und konkurrierende Zuständigkeit . . . . . . . . . . (2) Verwaltungs- und Rechtsprechungskompetenzen . . . . . . . . . . . . . . (3) Kompetenzpräsumtion und Kompetenzkompetenz . . . . . . . . . . . . c) Einordnung des neuen Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Hamiltons Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Madisons Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Freiheitssichernde Funktion der Einzelstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Kontrolle des Bundes durch die Einzelstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kontrolle der Einzelstaaten durch den Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vergleich und Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 449 450 454 454 455 458 459 462 464 464 466 468 468 469 471 472 476 478 483 484 488 488 490 491 494 496 502 504 509 513 513 517 518 519

F. Schlußbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550

Abkürzungsverzeichnis AA a. A. a. a. O. Abs. Abschn. AdPP AHR Alt. AöR APSR ARSP Art. Ausg. AZP Bd. BGB bzw. ders. d. h. d. i. dies. DVBl. ebd. f. ff. Fn. GG GMS HLQ Hrsg. hrsg. Hs. insb. JAH JGVV

Allgemeine Anmerkung anderer Ansicht am angegebenen Ort Absatz Abschnitt Annales de Philosophie Politique (Zeitschrift) The American Historical Review (Zeitschrift) Alternative Archiv des öffentlichen Rechts (Zeitschrift) The American Political Science Review (Zeitschrift) Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (Zeitschrift) Artikel Ausgabe Allgemeine Zeitschrift für Philosophie (Zeitschrift) Band Bürgerliches Gesetzbuch beziehungsweise derselbe das heißt das ist dieselbe(n) Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) ebenda folgende (Seite) fortfolgende (Seiten) Fußnote Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Grundlegung zur Metaphysik der Sitten The Huntington Library Quarterly (Zeitschrift) Herausgeber(in) herausgegeben Halbsatz insbesondere The Journal of American History (Zeitschrift) Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich (Zeitschrift)

Abkürzungsverzeichnis JHI JöR JRE JuS Kap. KpV KrV KS KU MdS m.w. N. NF Nr. o. a. o. J. PAH PPA PuZ RGBl. Rn. RoP s. S. s. o. Sp. SR Staat s. u. u. a. v. a. vgl. WMQ ZeE ZIB ZöR ZpF

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Journal of the History of Ideas (Zeitschrift) Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart (Zeitschrift) Jahrbuch für Recht und Ethik (Zeitschrift) Juristische Schulung (Zeitschrift) Kapitel Kritik der praktischen Vernunft Kritik der reinen Vernunft Kant-Studien (Zeitschrift) Kritik der Urteilskraft Metaphysik der Sitten mit weiteren Nachweisen neue Folge Nummer oben angegeben(e/n) ohne Jahresangabe Perspectives in American History (Zeitschrift) Philosophy and Public Affairs (Zeitschrift) Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament (Zeitschrift) Reichsgesetzblatt Randnummer The Review of Politics (Zeitschrift) siehe Seite(n), Satz siehe oben Spalte Social Research (Zeitschrift) Der Staat (Zeitschrift) siehe unten und andere(n) vor allem vergleiche The William and Mary Quarterly (Zeitschrift) Zeitschrift für evangelische Ethik (Zeitschrift) Zeitschrift für Internationale Beziehungen (Zeitschrift) Zeitschrift für öffentliches Recht (Zeitschrift) Zeitschrift für philosophische Forschung (Zeitschrift)

A. Einleitung Ziel der vorliegenden Untersuchung ist ein Vergleich der Staatsphilosophie Immanuel Kants, die er vor allem in seiner Metaphysik der Sitten von 1797 darlegt, mit der Staatstheorie des amerikanischen Werkes The Federalist. Dieses erschien in der Kontroverse um die Ratifizierung der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika in den Jahren 1787/88 in Form einer Aufsatzserie als Streitschrift für die Verfassung und wird noch heute als ihr wichtigster, klassischer Kommentar angesehen.1 Auf den ersten Blick scheinen sich die beiden Werke mit unterschiedlichen Themen zu beschäftigen: die Federalist-Essays, die von Alexander Hamilton, James Madison und John Jay unter dem gemeinsamen Pseudonym Publius verfaßt wurden, verteidigen einen Verfassungsentwurf, der nach langwierigen Auseinandersetzungen im Wege des Ausgleichs unterschiedlicher Interessen ausgehandelt wurde und ein „Bündel von Kompromissen“ darstellte, wie Max Farrand es formuliert hat.2 Der Entwurf entsprach nicht in allen Punkten den persönlichen Vorstellungen seiner Apologeten; den Autoren des Federalist war bewußt, daß die Verfassung eine pragmatische Lösung war und keinem idealen theoretischen Staatsentwurf glich. So fragt Madison in Nr. 37: „Wäre es denn verwunderlich, wenn der Konvent unter dem Druck all dieser Schwierigkeiten zu einigen Abweichungen von einer künstlichen Struktur und gleichmäßigen Symmetrie gezwungen gewesen wäre, mit der ein genialer Theoretiker bei der abstrakten Betrachtung dieses Themas eine Verfassung versehen hätte, die er in seiner Studierstube oder Phantasie entworfen hätte?“ (Nr. 37, S. 214)3

Einen solchen theoretischen Entwurf aus der Studierstube legt im Gegensatz dazu Kant mit seiner Staatsphilosophie vor, im Rahmen derer er sich mit dem idealen Staat beschäftigt, „wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll“ (Me-

1 s. Diamond, M., Framers (1974), S. 25; Dietze, G., Friedensfunktion (JöR 7, 1958), S. 2; ders., Kommentar (1988), S. 9 f.; Gebhardt, J., Federalist (1987), S. 58; ders., Selbstregulierung (1990), S. 310; Haller, B., Meinung (1986), S. 85. 2 Zitiert nach Diamond, M./Fisk, W. M./Garfinkel, H., Republic (1966), S. 34. 3 Der Federalist wird nach der deutschen Ausgabe von Angela und Willi Paul Adams aus dem Jahre 1994 zitiert; um das Auffinden der entsprechenden Stelle in anderen Ausgaben zu erleichtern, wird nicht nur die Seitenzahl, sondern auch die Nummer des jeweiligen Essays angegeben. Sofern eine abweichende Übersetzung für angemessener gehalten wird, stützt sie sich auf die amerikanische Ausgabe von Clinton Rossiter aus dem Jahre 1999.

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A. Einleitung

taphysik der Sitten § 45, S. 431).4 Den realen Staat, der diese aus der Vernunft abgeleiteten Prinzipien in größtmöglicher Weise umsetzt, bezeichnet Kant als „wahre Republik“ (§ 52, S. 464). Trotz dieser Unterschiede steht im Kern jedoch die gleiche Frage hinter den Ausführungen Kants und des Federalist: Die Autoren des letzteren geben im Zuge ihrer Begründung, warum der umstrittene Verfassungsentwurf angenommen werden sollte und welche Vorteile der dadurch entstehende Staat gegenüber dem bereits existierenden Zusammenschluß der Einzelstaaten bieten würde, zu erkennen, welchen Zwecken ein Staat ihrer Ansicht nach dient und wie er zur Verwirklichung dieser Zwecke aufgebaut sein muß.5 Damit widmen sich die Verfasser der Essays im Rahmen ihres Plädoyers für die konkrete historische Verfassung auch der grundlegenden Frage nach dem „richtigen“ Staat, mit der sich Kant in seiner Staatsphilosophie beschäftigt. Zentraler Anknüpfungspunkt bei der Beantwortung dieser Frage ist sowohl bei Kant als auch im Federalist die Freiheit des einzelnen. In einer Zeit, als Europa noch weitgehend vom Absolutismus geprägt war, der nach der von König Ludwig XIV. formulierten Devise „L’état c’est moi!“ den Herrscher in den Mittelpunkt des Staates stellte,6 propagieren sowohl Kant als auch der Federalist ein politisches System, das die Freiheit des einzelnen Bürgers zur Grundlage des Staates macht. Neben diesen grundlegenden Übereinstimmungen bestehen jedoch auch Unterschiede zwischen beiden Ansätzen, die sich maßgeblich aus den ungleichen Rahmenbedingungen ergeben, unter denen die Werke Kants und der Federalist entstanden: Der Federalist ist das Werk nicht eines Autors, sondern dreier Verfasser, deren Ansichten und politische Präferenzen nicht in allen Punkten über4 Kants Werke werden nach der zwölfbändigen, von Wilhelm Weischedel herausgegebenen Werkausgabe zitiert. Textstellen aus der Rechtslehre der Metaphysik werden im folgenden ohne Angabe des Werkes zitiert; soweit das Zitat der Tugendlehre oder anderen Schriften Kants entstammt, werden diese angegeben. Reflexionen werden nach der Akademie-Ausgabe der Schriften Kants zitiert; allerdings läßt die vorliegende Untersuchung die Reflexionen weitgehend außer Betracht und stützt sich auf die veröffentlichten Werke, da die in den Reflexionen geäußerten Positionen Kants teilweise nur Durchgangsstadien darstellen; s. dazu auch Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 432. Ritter, Chr., Rechtsgedanke (1971), geht demgegenüber davon aus, daß sich der „Rechtsgedanke Kants . . . in stetiger Kontinuität“ entfaltet und Kant keine „,kritische‘ Rechtsphilosophie begründete“ (s. insb. S. 339). Diese Ansicht vermag aber nicht zu überzeugen, wie sich im folgenden zeigen wird; so auch Busch, W., Entstehung (1979), s. insb. S. 1–3. 5 Dazu, daß es sich beim Federalist trotz der durch seine Entstehungsgeschichte bedingten Einschränkungen um ein Werk der politischen und der Staatstheorie handelt, s. unten B. III. 3. c). 6 Allerdings führten die Ideen der Aufklärung in einigen Ländern zur Entstehung des aufgeklärten Absolutismus; so sah sich etwa der preußische König Friedrich II. als „erster Diener“ seines Staates. s. hierzu auch B. I. 1.

A. Einleitung

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einstimmten. Die Autoren, junge Männer im Alter zwischen 32 und 42 Jahren, waren keine Philosophen, sondern Juristen und Politiker7; sie standen bei der Abfassung der Beiträge, die von Oktober 1787 bis 1788 drei- bis viermal wöchentlich in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht wurden, nicht nur aufgrund der hohen Erscheinungsfrequenz unter großem Zeitdruck, sondern auch deshalb, weil sie die Essays neben ihren eigentlichen, umfangreichen beruflichen Aufgaben verfaßten.8 Kant dagegen, der große Philosoph, legte seine Staatsphilosophie nach jahrzehntelanger Auseinandersetzung mit dem Thema gegen Ende seines Lebens als Teil seines philosophischen Gesamtsystems vor;9 als die Metaphysik der Sitten veröffentlicht wurde, war Kant 73 Jahre alt und hatte seine Lehrtätigkeit als Hochschullehrer bereits aufgegeben.10 Diese ungleichen Entstehungsbedingungen spiegeln sich in den unterschiedlichen Blickwinkeln wider, aus denen Kant und die Autoren des Federalist die Kernfrage ihrer Untersuchungen beantworten. Kants methodischer Ansatz kommt bereits im Titel der Metaphysik der Sitten zum Ausdruck, im Wort „Metaphysik“. Hierunter versteht Kant „ein aus der Vernunft hervorgehendes System“ (S. 309) bzw. „ein System der Erkenntnis a priori aus bloßen Begriffen“ (S. 321). Er will die Prinzipien des Rechts und des Staates aus der Vernunft ableiten, ohne auf die Erfahrung, die Empirie, zurückzugreifen, wie er in seiner Einleitung in die Rechtslehre betont: „§ B. Was ist Recht? Diese Frage möchte wohl den Rechtsgelehrten, wenn er nicht in Tautologie verfallen, oder, statt einer allgemeinen Auflösung, auf das, was in irgend einem Lande die Gesetze zu irgend einer Zeit wollen, verweisen will, eben so in Verlegenheit setzen, als die berufene Aufforderung: Was ist Wahrheit? den Logiker. Was Rechtens sei (quid sit iuris), d. i. was die Gesetze an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt haben, kann er noch wohl angeben; aber, ob das, was sie wollten, auch recht sei, und das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne, bleibt ihm wohl verborgen, wenn er nicht eine Zeitlang jene empirischen Prinzipien verläßt, die Quellen jener Urteile in der bloßen Vernunft sucht (wiewohl ihm dazu jene Gesetze vortrefflich zum Leitfaden dienen können), um zu einer möglichen positiven Gesetzgebung die Grundlage zu errichten. Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur schade! daß er kein Gehirn hat.“ (S. 336)11

7 Anders als Hamilton und Jay war Madison kein Jurist; zur beruflichen Laufbahn der drei Autoren s. unten B. II. 4. d) (1). 8 s. hierzu auch Dietze, G., Friedensfunktion (JöR 7, 1958), S. 3. 9 s. Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 431. 10 s. hierzu Höffe, O., Kant (1996), S. 41. 11 s. auch seine Ausführungen im Gemeinspruch: „Wenn man zu allererst gefragt hätte, was Rechtens ist (wo die Prinzipien a priori feststehen, und kein Empiriker darin pfuschen kann) . . .“ (Gemeinspruch S. 159)

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A. Einleitung

Die Väter der amerikanischen Verfassung dagegen hatten sich immer wieder auf empirische Quellen gestützt und sich auf historische Erfahrungen berufen.12 Dickinson, einer der Delegierten des amerikanischen Verfassungskonventes, hatte während der Verhandlungen betont: „Experience must be our only guide. Reason may mislead us.“ 13 Auch die Autoren des Federalist verweisen an zahlreichen Stellen in den Essays auf empirische Vorbilder und führen die Geschichte anderer Staaten als (positive oder negative) Beispiele an; sie gehen davon aus, „daß Erfahrung die Mutter der Weisheit“ 14 und „ein Orakel der Wahrheit“ ist (Nr. 20, S. 117).15 Kant betont demgegenüber: „Denn in Betracht der Natur gibt uns Erfahrung die Regel an die Hand und ist der Quell der Wahrheit; in Ansehung der sittlichen Gesetze aber ist Erfahrung (leider!) die Mutter des Scheins, und es ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen, oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird.“ (Kritik der reinen Vernunft, S. 325; B 375)

Allerdings konnten sich die Verfassungsväter und die Autoren des Federalist nicht in allen Punkten auf die Erfahrung stützen; in den entscheidenden Fragen gab es keine Präzedenzfälle, weil diese Probleme sich zum ersten Mal unter der Prämisse stellten, daß der Staat auf der Herrschaft des Volkes basieren müsse.16 Diese Schwierigkeit spricht Madison in Nr. 37 an: „Die Neuheit der Aufgabe springt uns sofort ins Auge. Wir haben im Lauf dieser Artikel dargelegt, daß die bestehende Konföderation auf fehlerhaften Grundsätzen beruht . . . Wir haben nachgewiesen, daß andere Konföderationen, die man als Präzedenzfälle heranziehen könnte, durch dieselben irrigen Grundsätze zerstört wurden. Deshalb können sie nur als Leuchtfeuer dienen, die vor dem Kurs warnen, den man meiden, ohne jedoch den Weg zu weisen, den man einschlagen sollte. Unter diesen Umständen konnte der Konvent nicht mehr tun, als die Fehler aus den Erfahrungen anderer Länder ebenso wie aus unserer eigenen Geschichte zu vermeiden . . .“ (Nr. 37, S. 209)17 12

s. hierzu etwa Adair, D., Experience (1974); Taylor, Q. P., Essential (1998), S. 30–

33. 13

s. Farrand, M., Records, Bd. 2 (1966), S. 278 (13. August 1787). Von Adams als „Mutter der Klugheit“ übersetzt (Nr. 72, S. 441); im Original heißt es aber: „That experience is the parent of wisdom . . .“ (Nr. 72, S. 406), d. h. Weisheit. 15 s. auch Nr. 52, S. 320: „Befragen wir die Erfahrung, den Ratgeber, dem man folgen sollte, wann immer er zur Verfügung steht.“ 16 Hierzu gehörte insbesondere die Aufgabe, einen großflächigen republikanischen Staat zu begründen; s. Taylor, Q. P., Essential (1998), S. 32 f.; Zehnpfennig, B., Einleitung (1993), S. 10. 17 s. auch Madisons Ausführungen in Nr. 14: „Doch warum sollte man das Experiment einer ausgedehnten Republik allein deshalb zurückweisen, weil es etwas Neues beinhaltet? Gereicht es denn der Bevölkerung Amerikas nicht zum Ruhm, daß sie zwar die Meinungen früherer Zeiten und anderer Länder gebührend beachtet hat, doch ohne eine blinde Verehrung für Altes, für Tradition oder ehrwürdige Namen die Einsichten ihres eigenen Verstandes, das Wissen um ihre eigene Lage und die Lektionen ihrer 14

A. Einleitung

21

Auch Hamilton weist in anderem Zusammenhang darauf hin, daß es neben der Empirie noch fundiertere Leitlinien des Handelns gibt: „Doch stellen wir das schwache Licht historischer Forschung beiseite, und wenden wir uns den Geboten der Vernunft und des Verstandes zu, so finden wir viel gewichtigere Gründe . . .“ (Nr. 70, S. 426 f.)

Angesichts dieses teils gegenläufigen, teils gleichen methodischen Ansatzes wird es aufschlußreich sein festzustellen, inwieweit die vom Federalist propagierten Prinzipien sich mit denen Kants decken und ob die Verfasser der Essays bei der Befolgung der ,Gebote der Vernunft und des Verstandes‘ zu anderen Ergebnissen kommen als Kant in seiner Berufung auf die Vernunft. Kant selbst äußert in anderem Zusammenhang Interesse daran, „wiefern der Zufall Einstimmigkeit der Gedanken zuwege bringen könne“.18 Der Vergleich beider Konzepte ist dabei nicht nur von theoretisch-historischem Interesse, sondern in doppelter Hinsicht auch für die heutige Zeit relevant. Zum einen erhebt Kant den Anspruch, vernunftrechtlich begründete Prinzipien aufzustellen, die für jeden realen Staat Vorbildcharakter haben19 und damit allgemein und überzeitlich gültig sind. Zum anderen hat die vom Federalist verteidigte Verfassung noch heute Bestand; die USA sind der Staat mit dem ältesten noch heute geltenden (geschriebenen) Grundgesetz.20 Sie bilden seit über 200 Jahren einen stabilen demokratischen Staat, der bis auf den Bürgerkrieg (1861–1865) keine innenpolitischen Konflikte zu bewältigen hatte, die den Bestand des Staates insgesamt gefährdeten. Eine andere Entwicklung nahm der zweite große Freiheitskampf des 18. Jahrhunderts, die Französische Revolution von 1789. Sie schrieb sich die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf ihre Fahnen, konnte diese Ideen aber nicht dauerhaft durchsetzen und auf ein stabiles politisches Fundament stellen. Statt der angestrebten Ziele breitete sich der terreur aus, die Schreckensherrschaft der Jakobiner, und das Unterfangen endete letztlich wiederum in einer Monarchie unter der Herrschaft Napoleons, der sich im Jahre 1804, dem Todesjahr Kants, zum Kaiser proklamieren ließ eigenen Erfahrung verdrängen zu lassen? . . . Zum Glück für Amerika und zum Glück für die ganze menschliche Rasse, so meinen wir, haben die Amerikaner einen neuen und edleren Weg verfolgt. Sie haben eine Revolution vollendet, die in den Annalen der menschlichen Gesellschaft keine Parallele kennt. Sie haben das Gerüst für ein Regierungssystem errichtet, für das es kein Vorbild auf dem Antlitz der Erde gibt.“ (Nr. 14, S. 79) 18 s. seinen Essay Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (im folgenden: Aufklärung), S. 61, Fn. Kant bezieht sich hier auf den von Mendelssohn veröffentlichten Aufsatz zum gleichen Thema. 19 In der Metaphysik betont Kant, daß „der Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll“, „jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen . . . zur Richtschnur (norma) dient.“ (§ 45, S. 431). Im Streit der Fakultäten von 1798 bezeichnet Kant den idealen Staat als „ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt“ (Streit S. 364). 20 Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 20.

22

A. Einleitung

und selbst krönte. Da die Vereinigten Staaten von Amerika die älteste noch bestehende großflächige Republik sind, wird es interessant sein festzustellen, ob sie ein erster Schritt hin zur Verwirklichung von Kants idealem Staat sind oder ob ein stabiler demokratischer Staat auch auf anderem als dem von Kant vorgezeichneten Weg geschaffen werden kann. Beim Vergleich beider Entwürfe stellt sich allerdings angesichts der Tatsache, daß Kant und Publius Zeitgenossen waren und der „transatlantischen Achsenzeit“ (Meyer) angehörten21, die Frage, ob sich ihre Konzepte beeinflußt haben könnten. Da Kants rechtsphilosophische Werke zwischen 1793 und 1798 erschienen,22 ist ausgeschlossen, daß die amerikanische Geisteswelt vor oder zu Zeiten der Annahme der Verfassung von diesen Schriften beeinflußt war. Zwar erschien die Kritik der reinen Vernunft erstmalig im Jahr 1781, noch zu Zeiten des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges; dieses Werk Kants befaßt sich jedoch mit der Erkenntnistheorie und nicht der Rechts- oder Staatsphilosophie. Zudem regte sich in den Vereinigten Staaten erst etwa 50 Jahre nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft Interesse an Kant und seinen Werken.23 Umgekehrt ist durch Kants Biographen Jachmann überliefert, daß der Philosoph regen Anteil an den amerikanischen Vorgängen nahm und ihnen beifällig gegenüberstand,24 und in einer Reflexion aus dem Nachlaß äußert sich Kant ebenfalls positiv über die amerikanische Sache: „In der Geschichte Englands ietziger Zeit bringt ihre Unterwerfung von america das cosmopolitische Andenken derselben weit zurük. Sie wollen: iene sollen Unterthanen von Unterthanen werden und auf sich die Last der andern abwaltzen lassen.“ (Akademie-Ausgabe Bd. XV, S. 630, Nr. 1444). In der Metaphysik erwähnt Kant die „amerikanischen Staaten“ im Zusammenhang mit dem Thema Föderalismus (§ 61, S. 474); ansonsten finden sich in seinen Werken und Briefen jedoch keine Aussagen über die Entstehung der USA,25 so daß es reine Spekulation wäre festzustellen, inwieweit seine Schriften durch die Kenntnis der dortigen politischen Ereignisse beeinflußt wurden. Allerdings kann davon ausgegangen werden, daß der Federalist ihm – wie generell seinen Landsleuten – nicht geläufig war.26 21

s. Meyer, B., Friedensursachen (1997), S. 47. Eine kurze Übersicht über seine Werke findet sich unten, B. I. 2. 23 Blau, J. L., America (1954), S. 875; Creighton, J. E., Philosophy (KS 2, 1898), S. 239. Zur Kant-Rezeption in den USA s. auch Long, D. A., Kant (1978). 24 s. Jachmann, R.B., Kant (1804), S. 135; s. auch Busch, W., Entstehung (1979), S. 125 f. 25 Fraenkel, E., Spiegel (1959), S. 17; Weyand, K., Geschichtsphilosophie (1963), S. 188, Fn. 14. Allein diese Tatsache vermag aber Weyands Schlußfolgerung, daß Kant dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg „ziemlich reserviert“ gegenüberstand, nicht zu stützen, zumal Jachmann als Zeitgenosse Kants ein gänzlich anderes Bild zeichnet (s. dazu oben). 26 Dazu, daß der Federalist zur Zeit seines Entstehens in den deutschen Staaten keine Verbreitung fand, s. Fraenkel, E., Spiegel (1959), S. 24. 22

A. Einleitung

23

Auch betont Kant, daß seine Staatsphilosophie auf apriorischen Prinzipien beruht, d. h. allein der Vernunft entspringt und nicht auf Beispiele und Vorbilder zurückgreift, die der Erfahrung entnommen sind. Will man seine Beschreibung des idealen Staates seiner Intention gemäß verstehen, muß man diese Worte ernst nehmen; es würde dem Werk Kants nicht gerecht werden, etwaige Übereinstimmungen seines Konzeptes mit dem des Federalist darauf zurückzuführen, daß er lediglich die der amerikanischen Verfassung zugrundeliegenden Prinzipien übernommen habe.27 Zum besseren Verständnis des Federalist wird in der folgenden Einführung ein Überblick über die amerikanische Geschichte gegeben, da die Essays ohne das Wissen um die Umstände der Entstehung der Verfassung nicht richtig eingeordnet werden können28 (B.). Diesem Abriß zur Geschichte der USA wird eine kurze Übersicht zu Kants Lebensdaten und seiner Rechtsphilosophie vorangestellt. Anschließend wird im dritten Teil der Arbeit untersucht, wie Kant und die Autoren des Federalist jeweils die Notwendigkeit des Staates begründen und wie sie den Zweck des Staates bestimmen (C.). Im folgenden Teil werden die Auswirkungen dieser Prämissen auf ihr jeweiliges Konzept des Gesellschaftsvertrages und auf die damit zusammenhängende Einstellung zum Widerstandsund Revolutionsrecht dargestellt (D.). Im Anschluß an diese grundlegenden theoretischen Fragen wird im fünften Teil analysiert, wie der Staat nach Auffassung der Autoren im einzelnen aufgebaut sein und welche Prinzipien er verwirklichen soll (E.). Die Ergebnisse werden schließlich im letzten Teil nochmals zusammengefaßt (F.). Zum Schluß noch eine Bemerkung zur Zitierweise: die Textstellen, auf die sich die Untersuchung stützt, werden jeweils im Ganzen zitiert, um die Nachvollziehbarkeit zu erleichtern und es dem Leser zudem zu ermöglichen, das hier herausgelesene Verständnis anhand der Originaltexte zu überprüfen. Diese Vorgehensweise ist notwendig, da Paraphrasierungen bereits Interpretationen sein und die Bedeutung des Originals verändern können. Diese Gefahr besteht insbesondere bezüglich Kants Ausführungen in der Metaphysik, die zum Großteil sehr verschlungen und sperrig formuliert sind und sorgfältiger Lektüre bedürfen.

27 28

s. hierzu auch Hendel, Ch. W., Freedom (1957), S. 111. s. Taylor, Q. P., Essential (1998), S. 1.

B. Einführender Überblick I. Überblick über Kants Philosophie Bezüglich der Philosophie Kants erübrigen sich längere Ausführungen zur deutschen Geschichte, da seine Darlegungen nicht in dem Maße von den Umständen ihrer Entstehung geprägt waren wie die des Federalist. Zudem dürfte die deutsche Geschichte dem Leser bekannter und leichter zugänglich sein als die amerikanische. Für eine grobe geschichtliche Einordnung sollen daher lediglich kurz Kants Lebensdaten im historischen Zusammenhang genannt werden. Von einer Schilderung seines Lebens wird Abstand genommen, da sein Lebenslauf zum Verständnis seiner Werke nicht unbedingt erforderlich ist und insoweit auf die einschlägigen Biographien verwiesen werden kann.1 Allerdings bedarf es einer kurzen Einordnung seiner Rechtsphilosophie in den Kontext seines gesamten philosophischen Werkes, die dem Philosophen zwar überflüssig, da wohlbekannt, erscheinen mag, dem „nicht-philosophischen“ Leser aber das Verständnis erleichtern soll. In diesem Zusammenhang werden nur die Hauptschriften Kants und die für die vorliegende Arbeit relevanten kleineren Schriften genannt. 1. Zeitgeschichtlicher Hintergrund Immanuel Kant wurde am 22. April 1724 im preußischen Königsberg geboren, zur Regierungszeit Friedrich Wilhelms I., des sogenannten Soldatenkönigs (Regierungszeit: 1713–1740). In den knapp 80 Jahren bis zu Kants Tod am 12. Februar 1804 wurde Preußen von vier Königen regiert. Der Nachfolger Friedrich Wilhelms I., sein Sohn Friedrich II. („Friedrich der Große“), der von 1740 bis 1786 herrschte, war ein Vertreter des aufgeklärten Absolutismus; er sah sich als „ersten Diener seines Staates“ und stellte nicht seine Person, sondern den Staat in den Mittelpunkt. Unter der Herrschaft Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs II. entwickelte sich Preußen zum Wohlfahrts- und Obrigkeitsstaat: sie schufen ein starkes Heer, eine moderne Verwaltung und machten Preu1 Zeitgenössische Schilderungen von Borowski, Jachmann und Wasianski finden sich in Groß, F., Kant (1993). Neuere, aus dem „Kant-Jahr“ 2004 datierende Darstellungen bieten die Biographien von Dietzsch, S., Kant (2004); Geier, M., Welt (2004), und Kühn, M., Kant (2004). s. auch Gulyga, A., Kant (1981); eine kürzere Einführung findet sich in Höffe, O., Kant (1996), S. 19–43, der auch einen Kurzüberblick in Form einer Zeittafel bietet (S. 303 f.) – ebenso wie Stammen, T., Schriftsteller (1999), S. 201–203.

I. Überblick über Kants Philosophie

25

ßen durch Reformen im Rechtswesen zum Rechtsstaat. So wurde die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gesichert, die Folter abgeschafft und ein umfassendes bürgerliches Gesetzbuch ausgearbeitet, das als Preußisches Allgemeines Landrecht allerdings erst unter dem Nachfolger Friedrichs II. im Jahre 1794 in Kraft trat. Auch wurde den Untertanen Religionsfreiheit gewährt und die Wirtschaft gefördert.2 Die Nachfolge Friedrichs II. trat nach seinem Tod sein Neffe Friedrich Wilhelm II. an, der von 1786 bis 1797 regierte und den eingeschlagenen Reformkurs nur bedingt weiterführte. Insbesondere beschnitt er die unter Friedrich II. ausgeprägte religiöse Toleranz durch ein Religionsedikt von 1788, aufgrund dessen auch Kant durch die Veröffentlichung seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) in Konflikt mit der preußischen Zensur geriet. In den letzten Lebensjahren Kants herrschte der Sohn Friedrich Wilhelms II., Friedrich Wilhelm III. (Regierungszeit: 1797 bis 1840).3 Die einschneidendsten politischen Ereignisse zu Kants Lebzeiten waren neben dem Siebenjährigen Krieg (1756 bis 1763) die Französische Revolution von 1789 und die amerikanische Unabhängigkeit von England, die am 4. Juli 1776 ausgerufen wurde. 2. Einordnung der kantischen Rechtsphilosophie Kants philosophisches Werk läßt sich mit der herkömmlichen Einteilung in zwei Bereiche unterteilen: in die theoretische und die praktische Philosophie. Die theoretische Philosophie beschäftigt sich mit dem menschlichen Erkenntnisvermögen, mit der Frage: „Was kann ich wissen?“ (s. KrV B 834). Diese Frage beantwortet Kant in der 1781 erschienen Kritik der reinen Vernunft (KrV), in der er seine Erkenntnistheorie vorstellt.4 Die praktische Philosophie widmet sich dagegen dem menschlichen Handeln, der Frage: „Was soll ich tun?“ (s. KrV B 834). Diese Frage betrifft die Sittlichkeit oder Moral, die Kant zunächst in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS) von 1785 und in der Kritik der praktischen Vernunft (KpV) von 1788 behandelt.5 Kant unterscheidet die beiden Bereiche in der KpV wie folgt: „Die Analytik der reinen theoretischen Vernunft hatte es mit dem Erkenntnisse der Gegenstände, die dem Verstande gegeben werden mögen, zu tun . . . Dagegen, weil praktische Vernunft es nicht mit Gegenständen, sie zu erkennen, sondern mit ihrem eigenen Vermögen, jene (der Erkenntnis derselben gemäß) wirklich zu machen, d. i. es mit einem Willen zu tun hat . . .“ (KpV S. 213) 2

Höffe, O., Kant (1996), S. 37 f. Batscha, Z., Einleitung (1976), S. 8 f.; Höffe, O., Kant (1996), S. 37 f. 4 Zur Kritik der reinen Vernunft s. Höffe, O., Kritik (2004). 5 Buhr, M./Irrlitz, G., Kant (1976), S. 104; Höffe, O., Kant (1996), S. 170 und 240 f. 3

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B. Einführender Überblick

Als Bindeglied zwischen dem praktischen und dem theoretischen Teil der Philosophie, als „Mittelglied“ zwischen dem Erkenntnisvermögen und dem Willen, der unser Handeln bestimmt, sieht Kant die Urteilskraft, der er sich in der Kritik der Urteilskraft (KU) von 1790 widmet (s. KU B VI, XXII). Sie macht keinen eigenen Teil neben der theoretischen und praktischen Philosophie aus, „sondern [kann] im Notfalle jedem von beiden gelegentlich angeschlossen werden“ (KU B VI). Während die Kritik der reinen Vernunft das Denken und Erkennen untersucht und die Kritik der praktischen Vernunft das Wollen und Handeln, behandelt die Kritik der Urteilskraft das Gefühl und die Phantasie;6 sie enthält insbesondere Kants Ausführungen zur Ästhetik. Allein mit der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der Kritik der praktischen Vernunft sind Kants Ausführungen zur Moralphilosophie aber noch nicht abgeschlossen. Denn diese bilden „nur“ das Fundament für die Frage nach richtigem Handeln, indem sie nachweisen, daß und wie moralisches Handeln möglich und geboten ist, und das allgemeine Gesetz moralischen Handelns (den kategorischen Imperativ) aufstellen. Eine nähere inhaltliche Bestimmung findet die Frage nach dem richtigen, d. h. moralischen Handeln dann in der Metaphysik der Sitten (MdS) von 1797, die aus zwei Teilen besteht: den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre und den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre. Während die Rechtslehre sich den äußeren Handlungen des Menschen, dem zwischenmenschlichen Aspekt, widmet, beschäftigt sich die Tugendlehre mit der Gesinnung der Menschen, die hinter den Handlungen steht, mit den inneren Beweggründen des Handelns, d. h. dem innerpersonalen Aspekt.7 Vor der systematischen Darstellung seiner Rechtsphilosophie in der Metaphysik der Sitten hatte Kant schon mehrere kleinere Schriften zu diesem Thema veröffentlicht, so die Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (Idee) von 1784; Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (Gemeinspruch) von 1793, in dessen zweiten Teil er sich dem Staatsrecht und im dritten dem Völkerrecht widmet; und schließlich sein Traktat Zum ewigen Frieden (Frieden) von 1795. Neben der Moralphilosophie beinhaltet Kants praktische Philosophie auch noch seine Geschichts- und Religionsphilosophie, die die Antwort auf die Frage „Was darf ich hoffen?“ (s. KrV B 834) bieten. Während die Geschichtsphilosophie diese Frage für den Bereich des zwischenmenschlichen Handelns, d. h. den rechtlichen Bereich, beantwortet, widmet sich die Religionsphilosophie dem innerpersonalen Bereich, d. h. der Tugend.8 Die wichtigsten geschichtsphilosophischen Schriften sind die Idee (s. o.), Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (Anfang) von 1786 und der Streit der Fakultäten (Streit) von 1798, 6 7 8

Störig, H. J., Weltgeschichte (o. J.), S. 427. Höffe, O., Kant (1996), S. 172 f.; Störig, H. J., Weltgeschichte (o. J.), S. 433 f. Höffe, O., Kant (1996), S. 240.

II. Historischer Überblick Nordamerika/USA

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insbesondere der zweite Abschnitt, der Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen.

II. Historischer Überblick Nordamerika/USA Da die amerikanische Geschichte dem deutschen Leser weniger gut vertraut sein dürfte als die Geschichte des eigenen Landes, soll im folgenden eine kurze historische Einführung zu den USA gegeben werden. Diese beschränkt sich nicht nur auf die unmittelbare Vorgeschichte der Verfassung und des Federalist, da sich die zur Lösung anstehenden Probleme schon vorher entwickelten. Der Vollständigkeit halber soll der Abriß mit der englischen Besiedlung des amerikanischen Kontinentes beginnen. 1. Entstehung der Kolonien: Besiedlung Die ersten englischen Auswanderer kamen im 17. Jahrhundert aus wirtschaftlichen, religiösen und politischen Gründen nach Amerika. Sie hofften, auf dem neuen Kontinent den Repressionen und Krisen zu entkommen, denen sie in ihrem Heimatland unter den Stuartkönigen Jacob I. und Charles I. ausgesetzt waren, und dort gemäß ihren Überzeugungen leben zu können.9 Die Krone sah die Auswanderung zunächst weniger unter Expansionsgesichtspunkten als vielmehr als willkommene Möglichkeit, sich auf diese Weise unliebsamer Gegner zu entledigen und damit politische und soziale Konflikte zu entschärfen.10 Die erste englische Siedlung auf dem neuen Kontinent war Jamestown in Virginia, das 1607 von der Londoner Virginia Company gegründet wurde. Das Unternehmen hatte einen wirtschaftlichen Hintergrund: Die Gesellschafter erhofften sich von ihrer Investition und der Nutzung des neugewonnenen Landes finanzielle Gewinne.11 Die zweite Ansiedlung erfolgte durch eine Gruppe von radikalen Puritanern, den sogenannten Pilgrims (Pilgern), die England aus religiösen Gründen verließen. Zur Finanzierung ihres Vorhabens nahmen sie allerdings auch andere Ausreisewillige mit. Im Jahre 1620 landeten sie mit der Mayflower am Cape Cod und gründeten die Plymouth Plantation. Noch vor der Ankunft schlossen alle männlichen Erwachsenen in Anlehnung an den biblischen Bund einen Vertrag, den Mayflower Compact, in dem sie ihr zukünftiges Zusammenleben nach religiösen Grundsätzen regelten.12 Die weitere Besiedelung Neuenglands ging aber nicht von der Plymouth Plantation aus, sondern von der Massachusetts Bay Company, einem Zusammenschluß von Puritanern, die der 9

s. Waibel, D., Volk (JuS 41, 2001), S. 1049. Heideking, J., Geschichte (1996), S. 20 f. 11 Vgl. Heideking, J., Geschichte (1996), S. 6; Sautter, U., Geschichte (1994), S. 26. 12 Heideking, J., Geschichte (1996), S. 9 f.; Sautter, U., Geschichte (1994), S. 29 f. 10

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B. Einführender Überblick

politischen Krise unter Charles I. zu entkommen suchten. Die ersten von ihnen verließen England 1630 und siedelten sich in Boston an. In der Folgezeit dehnte sich ihr Einflußbereich rasch aus, da bis 1640 über 10.000 weitere Auswanderer folgten.13 Durch die Ankunft immer neuer Siedlungswilliger vergrößerte sich die englische Sphäre auf dem neuen Kontinent immer mehr, und es kam zur Bildung neuer Kolonien.14 Die Befugnis zur Inbesitznahme des neuen Landes erteilte die Krone in Form königlicher charters (Patente oder Schutzbriefe), die die Handelsgesellschaften vom König erwarben. Die dermaßen begründeten Kolonien hießen entsprechend charter colonies.15 Auf diese Weise entstand neben Virginia und Massachusetts auch Carolina, das später in North und South Carolina geteilt wurde.16 Andere Kolonien spalteten sich von bereits bestehenden ab und erwirkten dann eine eigene Charter von der Krone, wie etwa Rhode Island, Connecticut und New Hampshire, die ursprünglich alle Teile Massachusetts’ gewesen waren.17 Bei einer zweiten Art von Kolonien wurde das Land vom König als Lehen vergeben, diese wurden folglich als proprietory colonies (Eigentümerkolonien) bezeichnet.18 Zu ihnen gehörten z. B. New York, Pennsylvania und Maryland.19 Die königliche Charter war in den entsprechenden Kolonien die Grundlage des Zusammenlebens, die Autorität der Krone wurde damit auch von ihnen anerkannt. Insgesamt hatten die Kolonien jedoch weitreichende Selbstverwaltungsbefugnisse, und neben dem Gouverneur als Vertreter der Krone gab es Volksvertretungen, die von den Wahlberechtigten gewählt wurden.20 Allerdings hatte das Mutterland aufgrund der wirtschaftlichen Möglichkeiten, die die Kolonien boten, ein steigendes Interesse daran, seinen Einfluß zu bewahren bzw. auszubauen. Aus diesem Grunde wurden bis zum Jahre 1720 alle Kolonien bis auf Pennsylvania, Maryland, Rhode Island und Connecticut in sogenannte royal colonies (Kronkolonien) umgewandelt und damit dem stärkeren Einfluß der Krone unterworfen. So ernannte der König nunmehr selbst die Gouverneure, und die koloniale Gesetzgebung unterlag der Kontrolle durch den Londoner Privy Council und das Board of Trade. Lediglich die genannten vier Kolonien behielten bis zur Revolution ihren ursprünglichen Status bei.21

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s. Sautter, U., Geschichte (1994), S. 30 f. Waibel, D., Volk (JuS 41, 2001), S. 1049. 15 Vgl. Waibel, D., Volk (JuS 41, 2001), S. 1049. 16 s. Heideking, J., Geschichte (1996), S. 6, 9 f., 7. 17 Heideking, J., Geschichte (1996), S. 11 f. 18 s. Waibel, D., Volk (JuS 41, 2001), S. 1049. 19 Heideking, J., Geschichte (1996), S. 14 f., 6. 20 Waibel, D., Volk (JuS 41, 2001), S. 1049. 21 s. Heideking, J., Geschichte (1996), S. 21 f.; Waibel, D., Volk (JuS 41, 2001), S. 1049. 14

II. Historischer Überblick Nordamerika/USA

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England war allerdings nicht die einzige Kolonialmacht in Amerika; auch Spanien und Frankreich beanspruchten Teile des Kontinents für sich. Spanien hatte vor allem in Florida und im heutigen New Mexiko und Arizona Siedlungen, und Frankreich gründete 1608 Quebec und gewann im Laufe des 17. Jahrhunderts ein Gebiet, das sich von Kanada bis zur Mündung des Mississippi erstreckte.22 Es kam immer wieder zu territorialen Streitigkeiten zwischen Frankreich und England, die mitursächlich für den Ausbruch des Siebenjährigen Krieges in Europa im Jahre 1756 waren. Auf dem amerikanischen Kontinent hatte dieser britisch-französische Krieg bereits 1754/55 begonnen.23 Angesichts der beginnenden Kämpfe hatte die Kolonialverwaltung in London den Vorschlag gemacht, daß sich die Kolonien zur gemeinsamen Verteidigung zusammenschließen sollten.24 Daher trafen sich im Juni/Juli 1754 Delegierte aus New Hampshire, Massachusetts, Connecticut, Rhode Island, New York, Pennsylvania und Maryland in Albany, NY, um eine entsprechende Übereinkunft zu entwerfen. Sie verständigten sich schließlich auf den von Benjamin Franklin eingebrachten Einigungsplan, der eine Union aller britischen Festlandskolonien mit Ausnahme von Nova Scotia und Georgia geschaffen hätte.25 Mit der Annahme des Planes hätten die Kolonien sich eine gemeinsame Generalregierung gegeben, die für die militärische Verteidigung, Verhandlungen mit den amerikanischen Ureinwohnern und die Verwaltung neuer Provinzen vor ihrer Anerkennung als eigene Kolonien zuständig gewesen wäre. Zur Durchführung ihrer Befugnisse sollte die Generalregierung Steuern erheben und Gesetze erlassen können, die einem Vetorecht des Königs unterlagen. Die Durchführung des Plans scheiterte aber, weil sowohl die einzelnen Kolonien als auch die englische Kolonialverwaltung eine Schwächung ihrer Macht und ihres Einflusses fürchteten.26 Spanien trat dem Siebenjährigen Krieg im Jahre 1761 auf französischer Seite bei. Dennoch ging Großbritannien als Sieger aus der Auseinandersetzung hervor und bekam im Frieden von Paris (1763)27 von den Franzosen Kanada und das gesamte Gebiet östlich des Mississippi (mit Ausnahme von New Orleans, das an Spanien fiel). Spanien trat Florida an England ab und erhielt dafür das im Krieg von den Engländern eroberte Kuba zurück. Zudem erhielt es von Frank22

Sautter, U., Geschichte (1994), S. 69. Heideking, J., Geschichte (1996), S. 26; s. dazu Sautter, U., Geschichte (1994), S. 69–71. 24 Vgl. Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 15 f. 25 Eine Beschreibung des Planes liefert Ermacora, F., Einführung (1958), S. 11; abgedruckt ist er in Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 17–19. 26 Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 16; Ermacora, F., Einführung (1958), S. 11. 27 Der Friedensvertrag ist teilweise abgedruckt in Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 20–22. 23

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B. Einführender Überblick

reich das gesamte, riesige Gebiet westlich des Mississippi, das ihm für den Kriegseintritt versprochen worden war. Damit verlor Frankreich jeglichen Einfluß in Nordamerika, und die englische Macht wurde entsprechend gestärkt.28 2. Entstehung der Einzelstaaten: Revolution Gleichzeitig trug dieser Sieg jedoch den Keim des Untergangs der britischen Vorherrschaft im Gebiet der späteren Vereinigten Staaten von Amerika in sich. Auch wenn er nicht die einzige Ursache war, stärkte er doch das Selbstbewußtsein der Siedler und brachte schon länger schwelende Differenzen zwischen den Menschen im Mutterland und in den Kolonien zum Vorschein.29 Gefördert wurde diese Entwicklung durch die ungeschickte Regierungspolitik unter George III., der 1760 den Thron bestiegen hatte.30 Anstoß erregte zunächst das Verbot, westlich der Appalachen zu siedeln, mit dem der König Konflikte mit den Indianern vermeiden wollte und von dem er sich erhoffte, einem Verlust seines Einflusses bei sich nach Westen ausdehnenden Siedlungsgebieten entgegenzuwirken.31 Auch der Versuch, den Eigenhandel der Kolonien zu unterbinden, erweckte Unmut. Entscheidender Streitpunkt aber war die Frage der Besteuerung.32 Der Siebenjährige Krieg hatte England hohe Kriegsschulden hinterlassen, und um die Untertanen im Mutterland nicht übermäßig zu belasten und hierdurch noch weitere Konflikte zu schüren, suchte die Regierung in ihren amerikanischen Kolonien zusätzliche Einnahmequellen. 33 Erste Verärgerung erregten die 1764 erlassenen Sugar Act (Zuckergesetz) und Currency Act (Währungsgesetz).34 Ernsthaften Widerstand beschwor im folgenden Jahr der Stamp Act (Steuermarkenoder Stempelsteuergesetz) vom 22. März 1765 herauf, der alle Urkunden, Bücher, Zeitungen und sogar Karten- und Würfelspiele mit einer Steuer belegte.35 Die Kolonisten waren der Ansicht, daß diese Entscheidung vom Parlament ohne ihre Zustimmung getroffen worden und deshalb nicht rechtmäßig sei. Damit wandten sie sich gegen den vom Parlament in London erhobenen Anspruch, im Wege der virtuellen Repräsentation36 sämtliche Untertanen und damit auch die 28

Heideking, J., Geschichte (1996), S. 27; Sautter, U., Geschichte (1994), S. 71 f. Heideking, J., Geschichte (1996), S. 27 f. 30 s. Sautter, U., Geschichte (1994), S. 72. 31 Heideking, J., Geschichte (1996), S. 29; Sautter, U., Geschichte (1994), S. 74. 32 Vgl. Sautter, U., Geschichte (1994), S. 75; Waibel, D., Volk (JuS 41, 2001), S. 1049. 33 Sautter, U., Geschichte (1994), S. 75. 34 s. dazu Heideking, J., Geschichte (1996), S. 30; Sautter, U., Geschichte (1994), S. 76. 35 Heideking, J., Geschichte (1996), S. 31; Sautter, U., Geschichte (1994), S. 76. 36 s. hierzu auch unten D. II. 2. b) (3). 29

II. Historischer Überblick Nordamerika/USA

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Kolonisten zu vertreten, obwohl diese keine eigenen Repräsentanten entsandten. Der berühmt gewordene Ruf des No taxation without representation (Keine Besteuerung ohne Repräsentation) macht deutlich, daß die englischen Siedler in Amerika sich nicht im englischen Parlament vertreten sahen.37 Der Stamp Act führte zu politischen Protesten sowie Massendemonstrationen und Ausschreitungen in der Bevölkerung. So prangerten die Abgeordnetenhäuser der meisten Kolonien das Gesetz als verfassungswidrig an, und im Oktober 1765 kamen 28 Delegierte aus neun Kolonien zu einem Stempelsteuerkongreß (Stamp Act Congress) zusammen. Sie baten in Petitionen an den König und das Parlament in London um die Aufhebung des umstrittenen Gesetzes, die allerdings nichts fruchteten. Dagegen zeigten die Proteste der Bevölkerung und vor allem der Boykott britischer Waren große Wirkung, und der Stamp Act wurde 1766 aufgehoben.38 Allerdings erließ das Parlament gleichzeitig eine als Declaratory Act bezeichnete Erklärung, in der es seine prinzipielle und umfassende Gesetzgebungsbefugnis auch für die Kolonien betonte. Zudem wurden bereits im folgenden Jahr statt der Binnensteuern die sogenannten Townshend Duties festgesetzt, Einfuhrzölle auf eine Reihe von Waren, die englische Händler nach Amerika importierten. Die Kolonisten widersetzten sich durch Proteste und den Boykott englischer Waren, und im April 1770 wurden die Zölle gestrichen – mit Ausnahme der Abgabe auf Tee, die am ertragreichsten war.39 Gegen Ende des Jahres 1772 wurde in Boston ein Korrespondenzkomitee unter der Leitung von Samuel Adams gegründet, das den Kontakt mit den weiter entfernten Gemeinden der Kolonie halten sollte. Virginia griff diese Idee auf, und bald entstanden in allen Kolonien Korrespondenzkomitees, die den Kontakt der Kolonien untereinander pflegten.40 Im Mai 1773 erließ das britische Parlament den Tea Act, der der East India Tea Company aus finanziellen Nöten helfen sollte, indem er ihr den Import nach Amerika erleichterte. Die Kolonien verweigerten jedoch die Löschung der Schiffsladungen, und im Dezember 1773 warfen als Indianer verkleidete Amerikaner aus Protest die Ladung dreier im Bostoner Hafen ankernder Schiffe ins Wasser – eine beträchtliche Menge Tee von erheblichem Wert.41 Als Reaktion auf diese Boston Tea Party verhängte das Parlament zwischen März und Juni 1774 eine ganze Reihe von Sanktionen, die Massachusetts am

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Heideking, J., Geschichte (1996), S. 30; Waibel, D., Volk (JuS 41, 2001), S. 1050. s. Heideking, J., Geschichte (1996), S. 31–33; Sautter, U., Geschichte (1994), S. 77–79. 39 s. hierzu Heideking, J., Geschichte (1996), S. 33 f.; Sautter, U., Geschichte (1994), S. 79. 40 Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 70 f.; Heideking, J., Geschichte (1996), S. 34. 41 Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 76. 38

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B. Einführender Überblick

härtesten trafen und seine Selbstverwaltungsbefugnisse praktisch aufhoben. Diese Gesetze wurden von den Kolonisten als Coercive Acts (Zwangs- oder nötigende Gesetze) gebrandmarkt und erregten auch in den anderen Kolonien, die sich mit Massachusetts solidarisch erklärten, Empörung.42 Auch der gleichfalls im Juni erlassene Quebec Act43 wurde von vielen Kolonisten als Affront empfunden, da er das Gebiet der französischsprachigen Provinz Quebec, die die Engländer 1759 von den Franzosen erobert hatten, bis zum Ohio und Mississippi ausdehnte und damit die Ansprüche einiger englischer Kolonien in diesem Gebiet zunichte machte. Zudem gewährte er den Katholiken der Kolonie religiöse Privilegien. Andererseits verweigerte das Gesetz den Bewohnern von Quebec ein vom Volk gewähltes Parlament und setzte stattdessen einen vom König berufenen Rat ein. Damit schien das Gesetz den erhöhten Machtanspruch Londons zu unterstreichen und ließ weitere Maßnahmen dieser Art befürchten.44 Die Korrespondenzkomitees trugen dazu bei, daß sich die Kolonien nun zu einem gemeinsamen Vorgehen entschlossen. Sie beriefen für Anfang September 1774 einen Kongreß nach Philadelphia ein, der bald als Erster Kontinentalkongreß bekannt wurde und an dem 56 Delegierte aus zwölf der dreizehn Kolonien – Georgia beteiligte sich nicht – teilnahmen. Der Kongreß verabschiedete eine Erklärung der kolonialen Rechte und Klagen (Declaration of Colonial Rights and Grievances)45 und beschloß ein Handelsembargo gegen England; die Unabhängigkeit der Kolonien vom Mutterland postulierte er dagegen noch nicht. Vielmehr erklärte er, daß die Kolonien sich nunmehr allein dem König untertan sähen und die Herrschaft des Parlamentes nicht mehr anerkennen würden. Abschließend vertagte er sich auf Mai 1775.46 Noch 1774 verstärkte England seine Truppenpräsenz in den Kolonien, und im Februar 1775 erklärte das Londoner Parlament, die Kolonien befänden sich im Zustand der Rebellion. Zu ersten militärischen Auseinandersetzungen kam es am 19. April 1775 bei Lexington und Concord. Angesichts dessen beschloß der 42 Im einzelnen handelte es sich dabei um 1. den Boston Port Act, der den Bostoner Hafen schloß, bis der bei der Tea Party angerichtete Schaden von den Bewohnern Bostons bezahlt war; 2. den Massachusetts Government Act, der die königliche Charter der Kolonie faktisch aufhob; 3. den Administration of Justice Act, der britische Beamte, die eines Kapitalverbrechens angeklagt waren, der amerikanischen Gerichtsbarkeit entzog, wenn sie die Tat bei der Steuereintreibung oder Niederschlagung eines Aufstandes begangen hatten; und 4. den Quartering Act, der in allen Kolonien die Einquartierung von Soldaten in Wohnhäusern erlaubte. s. hierzu Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 81; Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1025; Heideking, J., Geschichte (1996), S. 34 f.; Sautter, U., Geschichte (1994), S. 79 f. 43 Abgedruckt in Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 86–88. 44 s. Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 85 f.; Sautter, U., Geschichte (1994), S. 80. 45 Abgedruckt in Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 122 f. 46 Heideking, J., Geschichte (1996), S. 35 f.; Sautter, U., Geschichte (1994), S. 80 f.; Waibel, D., Volk (JuS 41, 2001), S. 1050.

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Zweite Kontinentalkongreß, der am 10. Mai 1775 in Philadelphia unter Teilnahme aller dreizehn Kolonien zusammentrat, eine gemeinsame Armee aufzustellen, und übertrug George Washington die Leitung. Ein letztes Gesuch um königlichen Schutz vor dem Parlament, die sogenannte Olive Branch Petition (Olivenzweigpetition) von Juli 177547, blieb ohne Erfolg, da auch George III. im August feststellte, die Kolonien befänden sich in offener Rebellion.48 Zur Verstärkung seiner Truppen heuerte er ausländische Söldner an, und die Empörung über diese Heranziehung Fremder zur gewaltsamen Lösung interner Probleme wurde verstärkt durch die im Januar 1776 erscheinende Schrift Common Sense von Thomas Paine49, in der dieser dem König vorwarf, ein Tyrann zu sein, und die Unabhängigkeit von England sowie die Abschaffung der Monarchie forderte. Die Streitschrift fand reißenden Absatz.50 Angesichts des offensichtlich nicht mehr zu heilenden Bruches mit dem Mutterland begannen die ersten Kolonien, republikanische Verfassungen zu entwerfen, und im Mai 1776 empfahl der Kongreß dies offiziell.51 Sechs Kolonien hatten sich bis Ende 1776 ein neues Grundgesetz gegeben; die übrigen folgten zwischen 1777 und 1784. Lediglich Connecticut und Rhode Island behielten ihre kolonialen charters bei, eliminierten aber bereits 1776 die Bestimmungen, die den Einfluß der Krone regelten.52 Einige Kolonien verabschiedeten neben ihren Verfassungen Grundrechtserklärungen; allen voran Virginia mit seiner von George Mason entworfenen Declaration of Rights, die im Juni 1776 angenommen wurde. Die Declaration beruht auf dem Gedanken, daß alle staatliche Gewalt vom Volk ausgeht, und spricht den Menschen bestimmte „unveräußerliche Rechte“ zu, die dem Zugriff des Staates entzogen sind.53 Die in der Revolutionszeit entstandenen Verfassungen waren vor allem eine Reaktion auf die Erfahrungen, die während der englischen Herrschaft gemacht worden waren. So schwächten sie die Stellung des Gouverneurs, der als Beauftragter des Königs gehandelt hatte, und stärkten das Parlament, in dem das Volk 47

Abgedruckt in Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 149 f. Die Proklamation findet sich bei Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 154 f. 49 Abgedruckt (auszugsweise) in Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 163– 174. 50 Heideking, J., Geschichte (1996), S. 39 f.; Henretta, J. A. u. a., History (1987), S. 179–181; Sautter, U., Geschichte (1994), S. 81–83. 51 Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 177. 52 Bei den sechs Kolonien handelte es sich um Virginia, New Jersey, Delaware, Pennsylvania, Maryland und North Carolina. Ihnen folgten 1777 Georgia und New York sowie im Jahre 1778 South Carolina, 1780 Massachusetts und 1784 New Hampshire als letzter Staat. Connecticut gab sich erst 1818 eine Verfassung, Rhode Island 1842. s. Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 1, S. 1117–1122. 53 s. dazu Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 1, S. 1117; Heideking, J., Geschichte (1996), S. 45 ff. 48

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den größten Einfluß gehabt hatte und das den Staaten daher als Hüter seiner Freiheit erschien. Bis auf Pennsylvania und Georgia sahen alle Staaten eine aus zwei Kammern bestehende Legislative vor, von denen nunmehr beide vom Volk abhängig gemacht wurden: die obere Kammer wurde nicht mehr wie bisher vom Gouverneur bestimmt, sondern wie die untere direkt oder indirekt vom Volk gewählt, letzteres entweder durch ein Wahlmännergremium oder durch das Unterhaus.54 Parallel dazu senkten die meisten Einzelstaaten die für damalige Zeiten ohnehin schon geringen Besitzanforderungen, die an die aktive und passive Wahlberechtigung gestellt wurden, und eröffneten damit einer noch breiteren Masse von Bürgern die Teilnahme am politischen Prozeß.55 Eine Neuordnung der Wahlbezirke führte dazu, daß die westlichen Regionen der Staaten, die vorwiegend agrarisch orientiert und von kleineren Farmern bewohnt waren, stärker in den Parlamenten vertreten waren. Dies beides bewirkte, daß mehr „einfache Bürger“, vor allem Farmer und Handwerker, in die Volksvertretungen gewählt wurden.56 Die meisten der Verfassungen enthielten zudem eine Grundrechteerklärung oder ihr gleichkommende Bestimmungen. Die ersten Verfassungen wurden entweder vom Parlament oder von speziell dafür gewählten Konventen verabschiedet; das Volk wurde an der Entscheidung nicht direkt beteiligt. Erst Massachusetts legte seinen Verfassungsentwurf im Jahre 1780 den Städten zur Ratifizierung vor, und New Hampshire schloß sich vier Jahre später diesem Vorgehen an.57 Parallel zu diesen Behauptungen der Eigenstaatlichkeit der Einzelstaaten beauftragte Virginia seine Delegation im Kontinentalkongreß, für die Unabhängigkeit einzutreten, und Richard Henry Lee beantragte Anfang Juni 1776, der Kongreß möge die Unabhängigkeit erklären. Das entsprechende Schriftstück entwarf sein Landsmann Thomas Jefferson, und am 4. Juli 1776 wurde es einstimmig angenommen. Die Erklärung (Declaration of Independence)58 legte nach der Präambel die politische Philosophie der Revolution dar, die Jefferson unter naturrechtlichen Gesichtspunkten als gerechtfertigt ansah. Anschließend folgte eine lange, nicht immer korrekte Liste der Verfehlungen Georges III., an die

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Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 191; Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 177. s. Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 114. 56 Henretta, J. A. u. a., History (1987), S. 199; Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 177. 57 Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 1, S. 1121; Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 114. 58 Auf englisch beispielsweise abgedruckt in Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 1, S. 949–953; eine zeitgenössische deutsche Übersetzung findet sich bei Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 213–218. Für eine aktuellere deutsche Fassung s. etwa Sautter, U., Geschichte (1994), S. 555–557. 55

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sich schließlich die Deklaration der Unabhängigkeit und der Souveränität der Vereinigten Staaten von Amerika anschloß.59 3. Entstehung des Staatenbundes: Konföderationsartikel England nahm diesen Affront – wie auch die vorangegangenen Behauptungsversuche der Kolonisten – nicht kampflos hin, vielmehr versuchte es, die Kolonien mit militärischen Mitteln zum Aufgeben zu zwingen und führte den 1775 ausgebrochenen Krieg weiter, der erst 1783 im Frieden von Paris beendet werden sollte.60 Angesichts der militärischen Bedrohung stand den neuen Staaten deutlich vor Augen, daß ein Gelingen der amerikanischen Sache nur bei gemeinsamem Vorgehen Aussicht auf Erfolg haben würde. Besonders prägnant brachte dies Benjamin Franklin zum Ausdruck, als er sagte: „We must all hang together or we shall all hang separately“ (Wir müssen alle zusammenhalten, oder wir werden alle einzeln hängen).61 Der bisher die gemeinsamen Geschicke leitende Kontinentalkongreß stellte nur einen losen Zusammenschluß, eine bloße Versammlung der Einzelstaaten dar und agierte lediglich aufgrund seiner Geschäftsordnung. Daher bestand das Bedürfnis, das Verhältnis der Staaten untereinander zu regeln und auf eine feste Basis zu stellen.62 Andererseits wurde der noch andauernde Kampf um die Unabhängigkeit gefochten, um jedem einzelnen Staat seine Souveränität und Autonomie zu sichern, so daß keiner der Staaten gewillt war, diese zugunsten eines übergeordneten Verbandes aufzugeben oder beschneiden zu lassen.63 Unter anderem wegen dieses Mißtrauens gegenüber einer Machtkonzentration bei einer zentralen Stelle einigte sich der Kongreß erst im November 1777 auf die Articles of Confederation (Konföderationsartikel), die anschließend den Einzelstaaten zur Ratifizierung zugeleitet wurden und im März 1781 mit der Ratifizierung durch Maryland in Kraft traten.64 Der Grund für diese späte Zustimmung Marylands war ein Streit zwischen den Staaten, deren Gebiet aufgrund ihrer kolonialen charters weit in den Westen ausgedehnt war, teilweise sogar bis zum Pazifik, und den „landlosen“ Staaten, zu denen Maryland, New Jersey, Delaware, Pennsylvania und Rhode Island 59 Heideking, J., Geschichte (1996), S. 40–43; Sautter, U., Geschichte (1994), S. 83 f. 60 Zum Krieg und den militärischen Siegen und Niederlagen s. Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 103–111; Henretta, J. A. u. a., History (1987), S. 182–189; Heideking, J., Geschichte (1996), S. 51–56; Sautter, U., Geschichte (1994), S. 84–88. 61 Nevins, A./Commager, H. S., History (1956), S. 107; s. auch Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 140. 62 Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 115; Sautter, U., Geschichte (1994), S. 95. 63 Sautter, U., Geschichte (1994), S. 94. 64 Sautter, U., Geschichte (1994), S. 95.

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gehörten. Die letzteren forderten, daß die ersteren die (von Kolonisten) unbesiedelten Gebiete westlich der Appalachen an den Kongreß abtreten und seiner Verwaltung unterstellen sollten. Zudem sollte der Kongreß die westlichen Grenzen dieser Staaten festlegen, um so ein Ungleichgewicht zwischen den Staaten zu vermeiden. Nachdem New York und Virginia, der landreichste Staat, dieser Forderung schließlich nachkamen, lenkte auch Maryland ein, und die anderen landreichen Staaten schlossen sich in der Folgezeit Virginias Beispiel an.65 Die Articles of Confederation gestanden der Zentralregierung kaum Rechte zu und schrieben lediglich die bestehenden Verhältnisse fest.66 So postulierte Art. II, daß jeder Staat seine Souveränität, Freiheit und Unabhängigkeit behalte, und gestand dem Kongreß, der Hauptorgan der Zentralregierung blieb, nur die Rechte und Kompetenzen zu, die ihm ausdrücklich durch die Artikel übertragen wurden.67 Diese Befugnisse wurden in Art. IX aufgezählt und umfaßten unter anderem das Recht, über Krieg und Frieden zu entscheiden, den außenpolitischen Kontakt zu anderen Ländern zu halten und mit ihnen Verträge zu schließen sowie in Streitigkeiten zwischen zwei Einzelstaaten abschließend zu entscheiden. Allerdings blieb die Aufstellung des Militärs weiterhin Sache der Einzelstaaten (Art. VII), ebenso wie das Recht zur Steuererhebung (Art. VIII). Der Kongreß konnte lediglich Truppen und Gelder anfordern; bei Nichtbefolgung durch die Staaten standen ihm keine Sanktionsmittel gegen sie zur Verfügung. Durch die Konföderationsartikel wurde ein „fester Bund der Freundschaft“ („firm league of friendship“, Art. III) geschaffen, d. h. ein Zusammenschluß einzelner, souveräner Staaten und damit ein Staatenbund. Jeder Staat wurde im Kongreß von zwei bis sieben Delegierten vertreten, hatte aber nur eine Stimme. Die jährliche Bestellung der Delegierten oblag den Legislativen der Einzelstaaten, die ihre Vertreter auch besoldeten (Art. V). Die Entscheidungen im Kongreß mußten einstimmig getroffen werden,68 und eine Änderung der Konföderationsartikel erforderte die Zustimmung des Kongresses sowie aller Einzelstaatslegislativen (Art. IX). 4. Entstehung des Bundesstaates: Verfassung Die Amerikaner gingen aus der kämpferischen Auseinandersetzung um die Unabhängigkeit als Sieger hervor. Sie waren dabei von Frankreich unterstützt worden, das sie ab Mai 1776 zunächst heimlich mit Waffen und Geld versorgt hatte und sich im Februar 1778 auch öffentlich zu den USA bekannte: es schloß 65

s. Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 116. Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 178. 67 Die Articles of Confederation sind abgedruckt in Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 272–274. 68 Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 117. 66

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einen Bündnis- und Handelsvertrag mit den Vereinigten Staaten und erkannte ihre Unabhängigkeit an. Im Juni des gleichen Jahres brach der Krieg auch zwischen Frankreich und England aus, dem im folgenden Sommer Spanien und die Niederlande auf Seiten Frankreichs beitraten.69 Der Krieg mit dem ehemaligen Mutterland wurde im September 1783 durch den Frieden von Paris beendet, der auf amerikanischer Seite von Benjamin Franklin, John Jay, John Adams und Henry Laurens ausgehandelt worden war. Im Friedensvertrag70 erkannte England die Unabhängigkeit der amerikanischen Staaten an und übertrug ihnen das Gebiet zwischen Appalachen und Mississippi, das damit für die Besiedlung geöffnet wurde und die weitere Westausdehnung der Vereinigten Staaten ermöglichte.71 a) Die Kritische Periode Mit dem Friedensschluß schien die Revolution erfolgreich beendet zu sein; ihr Ziel, die Unabhängigkeit von England, war erreicht. Allerdings traten mit Kriegsende gravierende wirtschaftliche, finanzielle und außenpolitische Probleme auf, die durch die nun deutlich zutage tretende Schwäche des Konföderationskongresses noch verstärkt wurden.72 Auch die Situation in den Einzelstaaten gab Anlaß zur Sorge. (1) Situation des Kongresses Das erste große Problem der Union waren die erheblichen Kriegsschulden, die 1784 $ 39 Millionen betrugen. Sie hatten eine solche Höhe erreicht, weil der Kongreß und die Staaten versucht hatten, den Krieg durch die Ausgabe von Papiergeld und durch Schuldverschreibungen zu finanzieren, um unpopuläre Steuererhöhungen weitgehend zu vermeiden.73 Dies ging zunächst gut, führte ab Ende 1776 aber zur Inflation, so daß der Kongreß die Ausgabe eigenen Papiergeldes schließlich im April 1780 aufgab.74 Die aufgelaufenen Kriegsschulden konnte der Kongreß aus eigenem Vermögen nicht tilgen, da er selbst keine Steuern erheben, sondern lediglich Zahlungen von den Einzelstaaten verlangen konnte, die das Recht zur Steuereinziehung hatten. Nach Kriegsende nahm die 69 Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1029, 1033 f.; Heideking, J., Geschichte (1996), S. 52. 70 Abgedruckt in Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 233 f. 71 s. Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 233; Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 182 f., sowie Heideking, J., Geschichte (1996), S. 56. 72 Heideking, J., Geschichte (1996), S. 61. 73 s. Heideking, J., Geschichte (1996), S. 62. 74 Morgan, E. S., Birth (1957), S. 126; Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 178, 180. Die Continentals, das Geld des Kongresses, besaßen 1781 nur noch 2% ihres ursprünglichen Wertes, s. Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 193.

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Bereitschaft und auch Fähigkeit der Staaten zur Steuererhebung angesichts der allgemeinen finanziellen Misere jedoch stetig ab, und einige Staaten verweigerten sich schließlich ganz.75 Der Kongreß mußte diesem Verstoß gegen die Konföderationsartikel ohnmächtig zusehen, ohne Sanktionen gegen die betreffenden Staaten verhängen zu können. Als Folge wurde es dem Kongreß ab 1785 schließlich unmöglich, auch nur die Zinsen der ausgegebenen Schuldverschreibungen zu zahlen, und zwar sowohl im In- als auch im Ausland. Damit verloren die Vereinigten Staaten ihre Kreditwürdigkeit, der Staatsbankrott war in greifbare Nähe gerückt.76 Zudem geriet die Union nach dem Abschluß des Friedensvertrages in eine Wirtschaftskrise, die unter anderem dadurch ausgelöst wurde, daß England, Frankreich und Spanien ihre Märkte für den amerikanischen Handel schlossen, während englische Waren auf den amerikanischen Markt geschwemmt wurden. Die Nachfrage nach Konsumgütern war nach dem langen Krieg groß, und da der Kongreß keine Befugnis hatte, eine gemeinsame Handelspolitik festzulegen, mußte er dem Vorgehen der Briten ohnmächtig zusehen, ohne Gegenmaßnahmen ergreifen zu können. Die Versuche einiger Einzelstaaten, sich mit unterschiedlichen Gesetzen zu schützen, waren kontraproduktiv, da sie nicht England trafen, sondern die übrigen Staaten der Union.77 Die Importwelle führte zur Entstehung eines ausgedehnten Kreditsystems, da die Vereinigten Staaten weit mehr importierten als exportierten und damit Hartgeld ins Ausland abfloß. Wegen dieser Verringerung der umlaufenden Geldmenge begannen sowohl die Händler als auch ihre Kunden, auf Kredit zu kaufen oder Tauschwirtschaft zu betreiben.78 Die zunehmende Geldverknappung führte 1783/84 zur Deflation und wirtschaftlichen Rezession. Zwar wurden die Preise, die die „PapiergeldInflation“ während des Krieges hochgetrieben hatte, wieder gesenkt, den Schuldnern aber wurde durch die verminderte Geldmenge, die problematischere Kreditaufnahme und durch steigende Arbeitslosigkeit die Begleichung ihrer Verbindlichkeiten erschwert.79 Auch in außenpolitischer Hinsicht – und damit in einem Bereich, den die Konföderationsartikel uneingeschränkt dem Kongreß übertrugen – erwies dieser sich als weitgehend machtlos.80 So erzielte er keine Einigung der Staaten auf ein einheitliches Vorgehen, als Spanien den Mississippi für die amerikanische 75 Vgl. Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 193 f.; Henretta, J. A. u. a., History (1987), S. 201. 76 Heideking, J., Geschichte (1996), S. 62. 77 Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 327; Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 121. 78 s. Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 53 f.; Nevins, A./Commager, H. S., History (1956), S. 109. 79 Heideking, J., Geschichte (1996), S. 61; ders., Richterstuhl (1988), S. 55 f. 80 s. hierzu Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 327 f.

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Schiffahrt sperrte, und auch gegen England konnte er sich nicht durchsetzen, als es sich weigerte, seiner Verpflichtung aus dem Friedensvertrag von Paris nachzukommen und alle militärischen Posten in den ehemaligen Kolonien zu räumen. Die Briten hielten weiterhin Grenzposten an den Großen Seen besetzt und beriefen sich darauf, daß auch die Amerikaner den Vertrag verletzten. Denn einige der Einzelstaaten hatten trotz einer entgegenstehenden Vertragsklausel Gesetze erlassen, die die Eintreibung von Schulden durch britische Gläubiger und die Rückgabe konfiszierten Besitzes an Loyalisten untersagten. Dieses Verhalten zeigte deutlich, daß der Kongreß auch gegenüber den Einzelstaaten an Autorität verloren hatte: Es gelang ihm nicht, die Staaten zu bewegen, die Bedingungen des Friedensvertrages einzuhalten und die anti-britischen Gesetze wieder aufzuheben.81 Ab 1783 trat der Kongreß nicht mehr in Philadelphia zusammen, sondern in verschiedenen Städten, da sich die Staaten nicht auf einen festen Tagungsort verständigen konnten.82 Sie entsandten immer weniger qualifizierte Delegierte in den Kongreß, und einige hielten es schließlich gar nicht mehr für nötig, Mitglieder zu ernennen, so daß ab 1786 oft kein Quorum zustandekam und die anwesenden Abgeordneten sich ergebnislos vertagen mußten.83 Angesichts dieser problematischen Situation sind die Jahre von 1783–1788 früher mit dem Ausdruck des Historikers John Fiske als Kritische Periode der amerikanischen Geschichte (Critical Period) bezeichnet worden.84 Allerdings ist in neuerer Zeit betont worden, daß die Nachkriegsjahre nicht nur von Mißerfolgen und Schwierigkeiten geprägt waren, sondern es durchaus auch positive Ergebnisse gab.85 So war die Arbeit des Konföderationskongresses nicht völlig fruchtlos: neben dem militärischen Sieg über England und der Besiegelung der Unabhängigkeit war eine seiner größten Errungenschaften die Verabschiedung der auf Thomas Jefferson zurückgehenden Northwest-Ordinance im Jahre 1787, die die Bildung neuer Staaten in den westlichen Territorien regelte. Sie sah vor, daß neue Staaten gleichberechtigt in die Union aufgenommen werden konnten, sobald das entsprechende Gebiet 60.000 Einwohner umfaßte und eine republikanische Verfassung verabschiedet hatte. Damit war erreicht, daß die Vereinigten Staaten sich nicht im Wege der Kolonisation ausdehnen würden, sondern die zukünftigen Siedler nach einer gewissen Wachstumsphase ihr Selbstbestim-

81 Zu diesen Problemen s. Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 327 f.; Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 119 f.; Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 180 f. 82 Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 28. 83 Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 304 f.; Morgan, E. S., Birth (1957), S. 125. 84 Fiske, J., Period (1888), s. bereits den Titel sowie S. 55–57, Kap. III, insb. S. 97– 101, Kap. V, insb. S. 218–221. 85 Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 322.

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mungsrecht würden ausüben können und damit nicht Bürger zweiter Klasse bleiben würden.86 (2) Demokratisierung der Gesellschaft Auch in der amerikanischen Gesellschaft insgesamt hatte die Revolution für die breite Masse der Bevölkerung positive Auswirkungen. Die Auseinandersetzungen mit dem Mutterland hatten nicht nur die Beziehung zu England verändert, sondern auch in den ehemaligen Kolonien zu sozialen und politischen Umwälzungen geführt. So hatte die Ausweitung des aktiven und passiven Wahlrechts und die Neuordnung der Wahlbezirke in den Staaten dazu geführt, daß mehr „einfache Bürger“ in den Parlamenten vertreten waren. In den meisten Unterhäusern der nördlichen Staaten stellten sie die Mehrheit, und in denen des Südens eine beachtliche Minderheit.87 Diese Demokratisierungstendenzen wurden gefördert durch den Krieg, in dem die Mitglieder der unteren Schichten Seite an Seite mit den Angehörigen der gentry, der Oberschicht, kämpften. Angesichts des Credos der Unabhängigkeitserklärung, daß alle Männer gleich geschaffen seien, sahen sich die Offiziere, die meist der Oberschicht entstammten, angehalten, die einfachen Soldaten mit Respekt zu behandeln. Zudem gelang im Krieg vielen einfachen Männern, die sich weder auf Reichtum noch ihre Herkunft berufen konnten, aufgrund ihrer Fähigkeiten und Leistungen der Aufstieg durch die Ränge der Armee. Das Bewußtsein, daß Kompetenz mehr zähle als Geld oder Abstammung, nahmen die Soldaten und Offiziere mit, als sie nach Kriegsende ins zivile Leben zurückkehrten.88 Diese Erfahrungen führten zu einer Auflösung der deferential society („ehrerbietige Gesellschaft“), in der sich das „gemeine Volk“ den politischen Entscheidungen der Oberschicht gefügt hatte.89 Nun konnte sich diese Schicht nicht mehr allein auf ihren sozialen Status stützen, sondern mußte die Anerkennung ihrer Untergebenen durch den Beweis ihrer Fähigkeiten gewinnen.90 Einen gewissen (wenn auch geringen) Austausch in der Führungsschicht der Einzelstaaten gab es auch durch die Vertreibung oder Flucht königstreuer Loyalisten, von denen viele zur Oberschicht gehört hatten, und eines Teils der von

86 Heideking, J., Geschichte (1996), S. 61; Morgan, E. S., Birth (1957), S. 111 f. Dabei bleibt allerdings außer Betracht, daß dieses Vorgehen sich aus Sicht der amerikanischen Ureinwohner nicht von einer Kolonisation unterschied, da für die Ausdehnung ihr Land in Beschlag genommen wurde. 87 Vgl. Henretta, J. A. u. a., History (1987), S. 199; Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 177. 88 Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 183 f. 89 s. Henretta, J. A. u. a., History (1987), S. 199. 90 Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 189.

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der Krone eingesetzten Amtsträger.91 Die Behandlung des von den Loyalisten zurückgelassenen (Land-)Besitzes trug zu einer Angleichung der Besitzverhältnisse in der Gesellschaft bei; allerdings nur in bescheidenem Maße, da die Besitztümer in den meisten Staaten im ganzen versteigert wurden und damit Käufer fanden, die ebenso wohlhabend waren wie die Vorbesitzer.92 Teilweise wurden die Ländereien aber auch aufgeteilt und an kleinere Farmer verkauft.93 Eine gleichmäßigere Verteilung des Eigentums wurde vor allem erreicht durch die Aufhebung der Primogenitur, des Alleinerbrechts des Erstgeborenen, das die anderen Kinder vom Erbe ausschloß, und durch die Auflösung von Fideikommissen, unveräußerlicher Vermögensmassen, die nach festgelegten Bestimmungen und meist innerhalb der Familie weitervererbt werden mußten. Diese Rechtsinstitute hatten das Auseinanderbrechen großer Familienbesitztümer verhindert und ihren Verbleib in einer Hand gesichert.94 Diese Egalisierungstendenzen eröffneten den einfachen Bevölkerungsschichten bis dahin ungeahnte Perspektiven. Sie wurden jedoch nicht von allen Teilen der Bevölkerung als positiv empfunden; vielmehr sahen viele Angehörige der gehobenen Schicht die Entwicklung mit Besorgnis.95 Sie fürchteten, daß die Aufhebung der „natürlichen“ Klassenunterschiede zu sozialer Unruhe führen könne, und sahen sich durch die Fixierung eines Großteils der Bürger auf das eigene Fortkommen und die eigenen Interessen darin bestätigt, daß es dem Volk an virtue mangele, an republikanischer Tugend, die als unerläßlich zum Erhalt eines republikanischen Staates angesehen wurde.96 (3) Situation in den Einzelstaaten Diese Bedenken waren nicht ganz unbegründet. Denn die Veränderung in der Zusammensetzung der Parlamente führte – gepaart mit der Struktur der neuen Staatsverfassungen – zu Problemen in den einzelnen Staaten: Die während der Revolution entstandenen Verfassungen ließen dem Parlament, und zwar insbesondere der unteren Kammer, weitgehend freie Hand, während sie die Exekutive starken Einschränkungen unterwarfen. Das Unterhaus wurde weder durch den Gouverneur kontrolliert, noch bewirkte die Zweiteilung der Legislative eine 91

s. Heideking, J., Geschichte (1996), S. 58. Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 188; Henretta, J. A. u. a., History (1987), S. 195. 93 Vgl. Henretta, J. A. u. a., History (1987), S. 195 f.; Nevins, A./Commager, H. S., History (1956), S. 103. 94 Nevins, A./Commager, H. S., History (1956), S. 103. 95 s. Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 322; Beloff, M., Introduction (1948), S. XIX. 96 Vgl. Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 322; Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 31. 92

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effektive Kontrolle der unteren Kammer durch die obere. Denn diese letztere wurde nun ebenfalls direkt oder indirekt vom Volk gewählt und nicht mehr vom Gouverneur bestimmt. Damit repräsentierte sie nicht mehr die reicheren und gehobenen Teile der Gesellschaft wie noch zu kolonialen Zeiten, sondern vertrat die gleichen Interessen wie das Unterhaus. Dies zeigte sich auch daran, daß viele der Mitglieder des Oberhauses vor der Revolution Mitglieder der unteren Kammer gewesen waren.97 Edmund S. Morgan hat dieses Phänomen wie folgt beschrieben: „The legislatures had run away with the governments, and the lower houses had run away with the legislatures.“ 98 Dadurch konnte sich der Wille der Mehrheit der Bevölkerung im Parlament ungehindert durchsetzen.99 Als die schlechte wirtschaftliche Lage zum Konflikt zwischen Schuldnern (unter denen viele der kleineren Farmer waren) und Gläubigern führte, verabschiedeten die Parlamente der meisten Staaten Gesetze zum Schutz der Schuldner, ohne dabei auf die legitimen Interessen der Gläubiger, die in der Minderheit waren, Rücksicht zu nehmen.100 Auch sahen viele Staaten vor, daß die öffentlichen Schulden mit Schuldpapieren statt mit Hartgeld beglichen werden konnten, deren gesunkener Wert so zu Lasten der Gläubiger der öffentlichen Hand ging.101 Dies stellte eine eklatante Verletzung der Prinzipien der Revolution dar, die nicht zuletzt deshalb ausgebrochen war, weil sich die Kolonisten von der englischen Regierung in ihren Eigentumsrechten verletzt gesehen hatten.102 Hinzu kam, daß das Parlament in fast allen Staaten jährlich neu gewählt wurde.103 Diese kurzen Legislaturperioden führten zu einer hohen Rotation und bewirkten zusammen mit der geänderten demographischen Zusammensetzung, daß viele unerfahrene Abgeordnete in den Parlamenten saßen. Sie hatten Schwierigkeiten, wichtige Themen von unwichtigen zu unterscheiden und waren vielfach damit beschäftigt, Entscheidungen ihrer Vorgänger wieder rückgängig zu machen. Die Folge war eine unübersichtliche und unsichere Rechtslage, die durch zahlreiche und oft geänderte Gesetze geprägt war.104

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Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 114. s. Morgan, E. S., Birth (1957), S. 137. („Die Legislativen waren mit der Regierung durchgebrannt, und die unteren Kammern waren mit den Legislativen durchgebrannt.“) 99 Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 30. 100 s. Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 80. 101 Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 66. 102 s. Morgan, E. S., Birth (1957), S. 127. 103 Lediglich South Carolina sah eine längere Legislaturperiode von zwei Jahren vor, s. Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 191. s. auch Madisons Ausführungen: „In Connecticut und Rhode Island ist der Wahlrhythmus ein halbes Jahr, in den übrigen Staaten ausgenommen South Carolina ein Jahr. In South Carolina finden Wahlen alle zwei Jahre statt . . .“ (Nr. 53, S. 324) 98

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Aufgrund dieser Probleme ersetzten einige Staaten ihre noch aus Revolutionszeiten stammenden Verfassungen durch neue, und die Staaten, die erst nach Abklingen der ersten revolutionären Begeisterung ein Grundgesetz verabschiedeten, zogen ebenfalls ihre Konsequenzen. Um die Mißstände zu beheben oder zu vermeiden, wurde die Stellung der oberen Kammer des Parlamentes, des Gouverneurs und der Judikative zu Lasten der unteren Kammer der Legislative gestärkt.105 (4) Reformbestrebungen Die Überarbeitung der Einzelstaatsverfassungen änderte aber nichts an den staatenübergreifenden Problemen, denen auch der Kongreß nicht gewachsen war. Daher wandte sich die Aufmerksamkeit Mitte der achtziger Jahre der Struktur der Zentralregierung zu, und Rufe nach einer Reform der Konföderationsartikel wurden laut.106 Alle bisherigen Versuche, die Macht des Kongresses zu stärken, waren am Einstimmigkeitserfordernis der Articles of Confederation gescheitert.107 Zunächst war die überwiegende öffentliche Meinung auch weiterhin gegen Reformen, aus Angst davor, daß sich eine gestärkte Zentralregierung zu einer Monarchie oder Tyrannei entwickeln und damit die Errungenschaften der Revolution zunichte machen würde.108 Allerdings stieg angesichts der schlechten wirtschaftlichen Situation die Bereitschaft, dem Kongreß wenigstens auf dem wirtschaftlichen Sektor mehr Befugnisse zu verleihen, so daß im September 1786 eine Konferenz in Annapolis stattfand, auf der die Handelspolitik des Kongresses besprochen werden sollte. Obwohl neun Staaten die Einladung angenommen hatten und einige Delegationen noch auf dem Weg waren, entschlossen sich die Delegierten der ersten fünf anwesenden Staaten, sich zu vertagen und einen neuen Anlauf zu versuchen.109 Sie riefen alle Staatenparlamente auf, an einem weiteren Konvent im Mai 1787 in Philadelphia teilzunehmen, auf dem die Konföderationsartikel überarbeitet werden sollten.110 Die Bereitschaft, diesem Aufruf nachzukommen, wurde gefördert durch einen bewaffneten Aufstand im dazwischenliegenden Winter. Im westlichen Massa-

104 Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 328 f.; Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 33 f.; Kelly, A. H./Harbison, W. A./Belz, H., Constitution (1983), S. 88; Morgan, R. J., Sources (1981), S. 617. 105 Vgl. Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 322. 106 Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 324. 107 s. hierzu Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 193 f.; Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 25 f. 108 Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 122. 109 s. Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 122; Morgan, E. S., Birth (1957), S. 129 f. 110 Heideking, J., Geschichte (1996), S. 65.

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chusetts revoltierten verschuldete Farmer unter der Leitung von Daniel Shays, einem ehemaligen Army-Offizier, gegen die drückende Steuerlast. Sie schlossen die Gerichte, befreiten ihre Anhänger aus dem Gefängnis und versuchten, ein Waffenlager des Bundes in ihren Besitz zu bringen.111 Obwohl die Rebellion durch die Miliz von Massachusetts niedergeschlagen werden konnte, wurde sie doch in allen Staaten als Warnung vor den aufziehenden Gefahren verstanden und führte zu einem Wandel in der öffentlichen Meinung.112 Daher empfahl der Kongreß im Januar 1787 die Teilnahme der Staaten an dem geplanten Konvent in Philadelphia, allerdings erst nachträglich, nachdem die meisten Staaten ihre Teilnahme bereits zugesagt hatten,113 und autorisierte den Konvent, die Konföderationsartikel zu überarbeiten. Alle Staaten bis auf Rhode Island kamen der Empfehlung nach und nahmen an dem Konvent teil.114 b) Der Verfassungskonvent in Philadelphia Die zwölf beteiligten Staaten wurden auf dem vom 25. Mai bis zum 17. September 1787 tagenden Konvent durch insgesamt 55 Delegierte vertreten.115 Die meisten der Teilnehmer waren gebildete Männer der Oberschicht, die bereits politische Erfahrung gesammelt hatten, beispielsweise in den Einzelstaatslegislativen, den Verfassungskonventen der Staaten, als Gouverneure oder im Kongreß, dem 39 der Delegierten irgendwann einmal angehört hatten.116 So entsandte beispielsweise Virginia unter anderem den Kriegshelden George Washington sowie den Autor der Virginia Declaration of Rights, George Mason, und James Madison. Dieser war wie Alexander Hamilton, der der New Yorker Delegation angehörte, Kongreßmitglied gewesen. Benjamin Franklin, der bereits in den fünfziger Jahren den Einigungsplan von Albany vorgelegt und später den Friedensvertrag mit England mit ausgehandelt hatte, war für Pennsylvania anwesend. Allerdings fehlten auch einige wichtige Politiker: so konnten etwa John Adams und Thomas Jefferson nicht teilnehmen, weil sie sich als Botschafter in 111 s. hierzu Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 196; Henretta, J. A. u. a., History (1987), S. 200. 112 Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 197; Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 124; Heideking, J., Geschichte (1996), S. 65. 113 s. Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 330; Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 186. 114 Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 124; Heideking, J., Geschichte (1996), S. 65; Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 186. 115 Eine detaillierte Beschreibung des Konventes, seiner Arbeit und der Delegierten findet sich in Farrand, M., Framing (1962). Derselbe Autor hat auch die Protokolle des Konventes zusammengestellt, s. ders., Records (1966). Ein kürzerer Überblick findet sich auch in Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1047–1062, und in von OppenRundstedt, C., Interpretation (1970), S. 18–28. 116 Vgl. Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 330; Diamond, M./Fisk, W. M./Garfinkel, H., Republic (1966), S. 35.

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Europa aufhielten, und Samuel Adams fehlte wegen Krankheit. Richard Henry Lee und Patrick Henry, der zu Revolutionszeiten die berühmten Worte „Give me liberty or give me death“ („Gebt mir die Freiheit oder gebt mir den Tod“) geäußert hatte, hatten ihre Teilnahme verweigert, obwohl sie vom virginischen Parlament gewählt worden waren.117 Die Delegierten stammten aus verschiedenen Berufszweigen; neben Kaufleuten und Pflanzern waren aber vor allem Juristen vertreten, die annähernd die Hälfte der Delegierten ausmachten. Das Durchschnittsalter betrug 42 Jahre. Fast alle Delegierten traten für eine Stärkung der Zentralregierung ein, bedingt durch ihre bisherige politische Arbeit und die mit dem schwachen Kongreß gemachten Erfahrungen.118 Zum Präsidenten des Konventes wurde George Washington gewählt.119 Die Delegierten beschlossen, die Sitzungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit abzuhalten, um so eine größere Offenheit bei den Beratungen zu erreichen, ohne Rücksicht auf Kritik von außen nehmen zu müssen.120 Das offizielle Protokoll wurde erst 1819 veröffentlicht, und Madisons umfangreiche Mitschrift, die detaillierteste private Aufzeichnung der Vorgänge, erst im Jahre 1840, vier Jahre nach seinem Tod.121 Jeder Staat sollte in den Beratungen eine Stimme haben; die Entscheidungen wurden nach dem Mehrheitsprinzip gefällt.122 (1) Strittige Punkte Bereits am 29. Mai machte die Delegation aus Virginia einen Vorstoß, indem sie dem Konvent durch ihr Mitglied Edmund Randolph den sogenannten Virginia Plan123 vorlegte. Dieser war größtenteils das Werk James Madisons und überschritt eindeutig den Auftrag des Konventes, die Konföderationsartikel lediglich zu überarbeiten.124 Denn der Virginia Plan sah eine vollkommene Um-

117 s. Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 330; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 19. 118 Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 197; Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 186. 119 Vgl. Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 330; Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 186. 120 Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 197. 121 s. Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1062; Beloff, M., Introduction (1948), S. XXVI. 122 Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1047; Henretta, J. A. u. a., History (1987), S. 202. 123 Abgedruckt in Farrand, M., Framing (1962), S. 225–228 oder ders., Records (1966), Bd. III, Appendix C, S. 593 ff. Eine deutsche Übersetzung findet sich (auszugsweise) in Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 322 f. 124 Der Konvent war vom Kongreß zusammengerufen worden „for the sole and express purpose of revising the Articles of Confederation“, d. h. für den einzigen und

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strukturierung der Regierung auf nationaler Ebene vor.125 So entwarf er eine Zweikammerlegislative, deren Unterhaus direkt vom Volk und deren Oberhaus vom Unterhaus gewählt werden sollte (Art. 3–5) und in der die Staaten proportional zur Bevölkerung oder zum Besitz vertreten sein sollten (Art. 2). Die Legislative sollte das umfassende Recht haben, in allen Fällen Gesetze zu erlassen, „in denen die Einzelstaaten inkompetent sind oder die Harmonie der Vereinigten Staaten gestört werden kann“, und ein Vetorecht gegenüber allen Einzelstaatsgesetzen haben, die ihrer Meinung nach gegen die Unionsartikel verstießen (Art. 6). Zusätzlich sollten eine nationale Exekutive und Judikative eingesetzt werden (Art. 7 und 9).126 Diese Vorschläge gingen vielen der Delegierten zu weit, da sie befürchteten, eine derart starke Bundesregierung würde ihre Machtbefugnisse zu Lasten der Staaten immer mehr ausdehnen, diese schließlich ganz ausschalten und in einer Tyrannei enden. Auch fühlten sich die kleinen Staaten durch die Pläne, die Repräsentation in der Legislative an die Bevölkerungszahlen zu koppeln, benachteiligt. Nach einigen Tagen der Beratung legten sie daher am 15. Juni als Gegenentwurf den sogenannten New Jersey Plan127 durch William Paterson aus New Jersey vor.128 Er sah zwar auch eine Stärkung der nationalen Regierung vor, behielt aber im wesentlichen die Grundstruktur der bereits bestehenden Zentralregierung bei. So sollten auf Bundesebene eine Judikative und eine aus mehreren Personen bestehende Exekutive geschaffen werden (Art. 4 und 5), aber der existierende Kongreß sollte unverändert bleiben und lediglich mit einigen weiteren Befugnissen ausgestattet werden. Insbesondere sollten ihm jene übertragen werden, deren Fehlen seine Schwäche bewirkt hatten, namentlich die Befugnis, Gesetze zur Steuererhebung und zur Regulierung des Außen- und Binnenhandels zu erlassen (Art. 2). An der Zusammensetzung und Abstimmungspraxis des Kongresses sollte sich dagegen nichts ändern.129 Die kleinen Staaten konnten sich mit ihrem Vorschlag jedoch nicht durchsetzen, vielmehr einigte sich der Konvent darauf, über eine bloße Reform der Konföderationsartikel hinauszugehen und den Zusammenschluß der Staaten grund-

ausdrücklichen Zweck, die Konföderationsartikel zu überarbeiten, s. Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1046. 125 Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 331; Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 125. 126 s. hierzu Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 187. 127 Abgedruckt in Farrand, M., Framing (1962), S. 229–232 oder ders., Records (1966), Bd. III, Appendix E, S. 611 ff. Eine deutsche Übersetzung findet sich in Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 323–326. 128 Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 332 f.; Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 198. 129 Vgl. Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 125; Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 198.

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sätzlich auf eine neue Basis zu stellen. Dabei diente ihm der Virginia Plan Madisons als Arbeitspapier.130 Allerdings lehnten die kleinen Staaten weiterhin vehement den dort gemachten Vorschlag ab, die Anzahl der Sitze jedes Staates in den beiden Kammern der Legislative von seiner Bevölkerungszahl abhängig zu machen. Denn dies hätte den vier größten Staaten die Mehrheit in beiden Kammern gesichert, während nach dem New Jersey Plan die sieben kleinsten Staaten die Mehrheit im Kongreß gehabt hätten, obwohl sie lediglich 25% der amerikanischen Bevölkerung umfaßten.131 Dieser Streit um die Frage der Repräsentation hätte fast zu einem Scheitern der Verhandlungen geführt. Schließlich einigte man sich auf einen von Connecticut vorgeschlagenen Kompromiß (sogenannter Connecticut oder Great Compromise): in der unteren Kammer, dem Repräsentantenhaus, sollte sich die Stimmenzahl der Staaten nach ihrer Bevölkerung bemessen, in der oberen Kammer, dem Senat, sollte dagegen jeder Staat zwei Stimmen haben, unabhängig von seiner Größe.132 Neben diesen Konflikt zwischen großen und kleinen Staaten traten Differenzen zwischen den Nord- und Südstaaten. Sie ergaben sich aus der Tatsache, daß die Bevölkerung der Südstaaten zu einem nicht unerheblichen Anteil aus Sklaven bestand, so daß sich die Frage stellte, ob sie bei der Bemessung der Sitzverteilung mitgezählt werden sollten, obwohl sie keinerlei politische Rechte hatten. Dies wurde von einigen Delegierten als Absurdität und Perversion empfunden; schließlich einigte man sich jedoch darauf, jeweils fünf Sklaven wie drei weiße Männer zu zählen.133 Um jedoch nicht den Anschein zu erwecken, die Verfassung sanktioniere moralisch die Sklavenhaltung, wurde der Ausdruck „Sklaven“ vermieden, vielmehr schreibt Art. 1 Abschn. 2 Abs. 3 der Verfassung vor, daß „zur Gesamtzahl der freien Personen . . . drei Fünftel der Gesamtzahl aller übrigen Personen hinzugezählt werden.“ Die Sklaverei ganz durch die Verfassung verbieten zu lassen, war nicht möglich, da die Delegierten der Südstaaten dies nicht mitgetragen hätten und die entsprechenden Staaten ein solches Dokument auch nicht ratifiziert hätten.134 Vielmehr wurde in Art. 1 Abschn. 9 Abs. 1 wiederum verklausuliert festgelegt, daß die Einfuhr von Sklaven („solcher Personen, deren Zulassung einer der derzeit bestehenden Staaten für zweckmäßig hält“) vom Kongreß nicht vor dem Jahr 1808 verboten werden konnte.

130 Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 333; Henretta, J. A. u. a., History (1987), S. 202. 131 s. Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 198. 132 Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 198 f.; Morgan, E. S., Birth (1957), S. 141; Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 188. 133 s. hierzu Heideking, J., Geschichte (1996), S. 71; Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 188. 134 Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 328 f.

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(2) Der Verfassungsentwurf und seine Annahme Nachdem damit die beiden Kernstreitpunkte überwunden waren, einigten sich die Delegierten auch in den übrigen Fragen. Die so entstandene Verfassung135 sah folgende Regierungsstruktur vor: die nationale Regierung sollte sich aus Legislative (dem aus Repräsentantenhaus und Senat bestehenden Kongreß, s. Art. 1 der Verfassung), aus Exekutive (dem Präsidenten, s. Art. 2) und Judikative (den Bundesgerichten, s. Art. 3) zusammensetzen. In Art. 1 Abschn. 8 waren die Befugnisse des Kongresses aufgezählt, die die erwünschte Stärkung der Zentralregierung gegenüber den Einzelstaaten bewirken sollten, unter anderem das Recht, Steuern zu erheben (Abs. 1), den Handel zwischen den Einzelstaaten und mit dem Ausland zu regulieren (Abs. 3), Münzen zu prägen (Abs. 5), Krieg zu erklären (Abs. 11) sowie eine Armee und Marine aufzustellen und zu unterhalten (Abs. 12 und 13). Zudem stand der Zentralregierung das Recht zu, die diplomatischen Beziehungen zum Ausland zu unterhalten und durch den Präsidenten Verträge mit ihm zu schließen (Art. 2 Abschn. 2 Abs. 2). Zusätzlich zu den in Art. 1 Abschn. 8 enumerierten Befugnissen sollte der Kongreß das Recht haben, alle Gesetze zu erlassen, die zur Wahrnehmung seiner Befugnisse und der aller anderen Organe der Vereinigten Staaten notwendig und angemessen waren, sogenannte necessary and proper-clause (Art. 1 Abschn. 8 Abs. 18). In Art. 1 Abschn. 9 wurden dem Bund, in Abschn. 10 den Einzelstaaten bestimmte Handlungen untersagt, die in den Aufgabenbereich der jeweils anderen staatlichen Ebene fielen. Die Verfassung, die von der Zentralregierung erlassenen Gesetze und die von ihr geschlossenen Verträge waren das „supreme law of the land“, das höchste Recht des Landes, das auch die Gerichte der Einzelstaaten ungeachtet entgegenstehender Bestimmungen ihres Staates band (Art. 6 Abs. 2). Gemäß Art. 4 Abschn. 4 garantierten die Vereinigten Staaten jedem Staat der Union eine republikanische Regierungsform.136 Um zu verhindern, daß die neue, gestärkte Zentralregierung ihre Macht mißbrauchen und zu einer Tyrannei ausarten könnte, sah die Verfassung einerseits die Verteilung der Befugnisse auf die drei genannten Gewalten und andererseits eine Verzahnung ihrer Kompetenzen vor.137 Anders als noch zu Revolutionszeiten, als die demokratisch besetzten Parlamente als Hüter der Freiheit gegolten 135 Auf deutsch abgedruckt in Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 427–442; der englische Originaltext (mit deutscher Übersetzung) findet sich beispielsweise in Adams, A. und W. P., Federalist (1994), S. 540–567. Einen Kommentar zur Verfassung und ihrer heutigen Bedeutung bietet Corwin, E. S., Constitution (1948). 136 Zum Verhältnis der Zentralregierung zu den Einzelstaaten s. Heideking, J., Geschichte (1996), S. 66 f. 137 Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 199; Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 189.

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hatten, war in den Jahren nach der Revolution deutlich geworden, daß gerade in den Parlamenten der Einzelstaaten die Mehrheiten die Rechte und Interessen der Minderheiten rücksichtslos mißachteten und nicht davor zurückschreckten, unterdrückerische Gesetze zu erlassen, die allein ihren Interessen dienten.138 Daher ging nun das Bestreben der Verfassungsväter dahin, eine Übermacht des Parlaments zu verhindern. Zu diesem Zweck wurde die Legislative in zwei Kammern unterteilt und eine starke Exekutive eingesetzt, an deren Spitze eine Person stand (zunächst war über ein mehrköpfiges Gremium nachgedacht worden); diese war gleichzeitig Regierungschef, Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber der Streitkräfte.139 Gewählt wurde der Präsident auf jeweils vier Jahre von einem Wahlmännergremium, dessen Mitglieder von den Einzelstaaten bestimmt wurden (Art. 2 Abschn. 1 Abs. 2). Gegenüber Gesetzesvorlagen der Legislative stand ihm ein Veto zu, das allerdings seinerseits wiederum durch eine Zweidrittelmehrheit des Kongresses überstimmt werden konnte (Art. 1 Abschn 7 Abs. 2). Die Delegierten in Philadelphia fürchteten jedoch nicht nur eine übermächtige Legislative, sondern wollten auch verhindern, daß der Präsident zu einer Art gewählten Königs werden könnte. Aus diesem Grunde war der Präsident bei der Ausübung einiger Befugnisse wiederum vom Parlament abhängig:140 so konnte er nur mit Zustimmung des Senats außenpolitische Verträge abschließen und seine Minister und die Richter des Obersten Bundesgerichtes ernennen (Art. 2 Abschn. 2 Abs. 2). Auch konnte er wegen schwerwiegender Verbrechen und Vergehen seines Amtes enthoben werden, s. Art. 2 Abschn. 4. Im Amtsenthebungsverfahren wirkten Repräsentantenhaus, Senat und der Oberste Bundesgerichtshof zusammen: allein das Repräsentantenhaus hatte das Recht, die Anklage zu erheben (Art. 1 Abschn. 2 Abs. 5 S. 2), der Senat konnte den Präsidenten mit Zweidrittelmehrheit verurteilen, und der Vorsitzende des Obersten Bundesgerichtes leitete das Verfahren (Art. 1 Abschn. 3 Abs. 6). Abgesehen von den Obersten Bundesrichtern wurde keine der Gewalten von einer der anderen gewählt oder ernannt, um so ihre gegenseitige Unabhängigkeit zu sichern. Die Unabhängigkeit der Judikative sollte durch die Ernennung der Richter auf Lebenszeit („during good behaviour“) gewahrt werden, s. Art. 3 Abschn. 1 S. 2. Das aktive Wahlrecht wurde an die Wahlberechtigung im jeweiligen Einzelstaat gekoppelt, da sich die Delegierten nicht auf einheitliche Anforderungen festlegen konnten. Gemäß Art. 1 Abschn. 2 Abs. 1 S. 2 stand das Recht zur Wahl des Repräsentantenhauses den Personen zu, die berechtigt waren, in ihrem Heimatstaat die zahlenmäßig stärkste Kammer der Einzelstaatslegislative zu wählen. Dabei waren von Staat zu Staat unterschiedliche Eigentumsqualifikatio138 139 140

Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 329, 338 f. s. Heideking, J., Geschichte (1996), S. 67 f. Heideking, J., Geschichte (1996), S. 68 f.

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nen erforderlich, die jedoch insgesamt für die damalige Zeit recht gering waren.141 Das passive Wahlrecht unterlag keinerlei Beschränkungen durch Eigentumsanforderungen, und zwar weder für das Repräsentantenhaus (s. Art. 1 Abschn. 2 Abs. 2), den Senat (Art. 1 Abschn. 3 Abs. 3), das Amt des Präsidenten (Art. 2 Abschn. 1 Abs. 4) noch für das Richteramt (Art. 3 Abschn. 1). Die Verfassung sah in Art. 5 die Möglichkeit vor, nachträglich Verfassungsänderungen (amendments) vorzunehmen, um so zu gewährleisten, daß Entscheidungen, die sich später als unklug erweisen würden, noch korrigiert werden konnten.142 Gegen Ende des Konventes schlugen zwei Delegierte – Elbridge Gerry aus Massachusetts und George Mason aus Virginia – vor, der Verfassung noch einen Grundrechtekatalog anzufügen, scheiterten jedoch, da die Mehrheit der Delegierten dies für überflüssig hielt. Dies begründete sie damit, daß die Zentralregierung ohnehin nur die ihr ausdrücklich übertragenen Rechte habe und die Bürger daher durch die in den Verfassungen der einzelnen Staaten verankerten Grundrechte ausreichend geschützt seien.143 Obwohl eine Änderung der Articles of Confederation gemäß ihres Art. IX nur bei Zustimmung aller dreizehn Einzelstaatsparlamente möglich war, einigte sich der Verfassungskonvent in Art. 7 der neuen Verfassung darauf, für ihr Inkrafttreten die Zustimmung von neun Staaten genügen zu lassen. Da sie allerdings nach Erreichen des notwendigen Quorums nur in denjenigen der dreizehn Staaten in Kraft treten sollte, die ihr auch tatsächlich zugestimmt hatten, barg diese Bestimmung die Gefahr der Aufspaltung in zwei Staatenvereinigungen in sich.144 Als weitere Abweichung von den Konföderationsartikeln sollten nicht die Legislativen der einzelnen Staaten über die Ratifizierung entscheiden, sondern vielmehr eigens und direkt vom Volk gewählte Ratifizierungskonvente. Der Grund für diese Entscheidung war zunächst die Furcht, die Einzelstaatslegislativen könnten die neue Verfassung ablehnen, weil sie ihre Machtbefugnisse beschnitt.145 Außerdem sahen die Verfassungsväter überwiegend nicht die Einzelstaaten, sondern vielmehr das Volk der Vereinigten Staaten als Träger des neuen Staates. Dies wurde bereits in der Präambel der Verfassung deutlich, nach der der Verfassungsgeber „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten“ war.146 Im Gegensatz dazu nannte die Präambel der Articles of Confederation noch alle Einzelstaaten. 141 142 143 144 145 146

s. Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 286 sowie die Tabelle auf S. 284 f. Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 126. Vgl. Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1060. Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 200. s. Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1056. Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 200.

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Am 17. September unterzeichneten 39 der noch anwesenden 42 Delegierten die Verfassung, die übrigen drei (Edmund Randolph und George Mason aus Virginia und Elbridge Gerry aus Massachusetts) verweigerten ihre Unterschrift unter anderem wegen des Fehlens einer Grundrechteerklärung.147 (3) Weiterleitung des Entwurfes Der Konföderationskongreß hatte in seinem Beschluß, mit dem er den Konvent von Philadelphia autorisierte, festgelegt, daß ihm der Konvent seine Änderungsvorschläge zur Billigung vorlegen müsse.148 Dieser Weisung kam der Konvent zwei Tage nach der Unterzeichnung der Verfassung nach. Der Kongreß beriet nur wenige Tage, jedoch kontrovers über den Entwurf. Ein Kritikpunkt war, daß der Konvent von Philadelphia mit dem Entwurf eines völlig neuen Regierungssystems seinen Auftrag überschritten und die Konföderationsartikel verletzt habe. Allerdings hielt die große Mehrheit der Staaten dies für gerechtfertigt.149 Das Kongreßmitglied Richard Henry Lee, das seine Teilnahme am Verfassungskonvent verweigert hatte, schlug nun Änderungen an dem Entwurf vor, insbesondere die Anfügung einer Bill of Rights. Um dies zu verhindern, schlossen die Verfassungsbefürworter einen Kompromiß mit den Kritikern: der Kongreß würde den Entwurf nicht mit der von den ersteren gewünschten positiven Beurteilung an die Einzelstaaten weiterleiten, dafür aber auch die Kritik und Änderungsvorschläge aus den Kongreßprotokollen streichen, um den Anschein der Einigkeit im Kongreß zu erwecken.150 Am 28. September beschloß der Kongreß einstimmig, den Entwurf auf diese Weise an die Einzelstaatsparlamente weiterzuleiten, die ihn dann den noch zu wählenden Ratifizierungskonventen vorlegen würden.151 c) Verfassungsdebatte: Federalists und Anti-Federalists Der Verfassungsentwurf wurde schon kurz nach seiner Unterzeichnung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht: bereits einen Tag später, am 18. September 1787, wurde er als Flugblatt und in einer philadelphischen Zeitung abgedruckt. Innerhalb des folgenden Monats veröffentlichten insgesamt 75 Zeitungen in den

147 Die Gründe für ihre Weigerung finden sich in Storing, H. J., Anti-Federalist (1981), Bd. 2, Teil 1, und zusammengefaßt in Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1061 f. 148 s. Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1046. 149 Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 128 f. 150 s. Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 129 f. 151 Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1062; Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 130.

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verschiedenen Staaten den Text.152 Angesichts der grundlegenden Bedeutung der anstehenden Entscheidung für die gesamte Union entbrannte eine intensive Debatte in der Öffentlichkeit, in der sich die Befürworter und Gegner des Entwurfes zu Wort meldeten und seine Vorzüge und Nachteile diskutierten.153 Neben den sachlichen Diskussionen gab es auch zahlreiche ironisch-satirische Auseinandersetzungen und polemische Angriffe auf die jeweiligen Gegner, die teilweise als Gedichte oder kleinere Epen vorgetragen wurden.154 Am intensivsten wurde die Diskussion in den Städten geführt, während sie in den ländlichen Regionen aufgrund der schlechteren Infrastruktur ruhiger verlief.155 Die schriftliche Kontroverse wurde in Flugschriften und – seltener – Büchern ausgetragen, vor allem aber in den Zeitungen, die sich bald explizit als Verfassungsbefürworter oder -gegner bekannten; einige blieben auch neutral. Ein Großteil der damals erscheinenden Zeitungen sprach sich für die Annahme der neuen Verfassung aus; von über hundert lehnte nur etwa ein Dutzend die Ratifizierung ab.156 Viele der Autoren veröffentlichten ihre Ansichten – den Gepflogenheiten der Zeit gemäß – unter einem Pseudonym. Dies sollte eine Beeinflussung der Leser durch die Person und Verdienste des Autors verhindern und die volle Aufmerksamkeit auf die Argumente lenken.157 Bereits durch die Wahl ihres schriftstellerischen Namens zeigten die Autoren eine bestimmte Grundhaltung, oft war er der Antike entliehen und bediente sich der Assoziationen, die der Name der entsprechenden historischen Person weckte.158 So schrieben etwa Cato, Caesar, Brutus und Publius, aber auch An American Citizen, Centinel, ein Federal Farmer und A Landholder. Die Autoren hofften, mit ihren Argumenten die Wähler der Ratifizierungskonvente zu beeinflussen und die Wahl einer möglichst großen Anzahl ihrer Gesinnungsgenossen – je nach Einstellung des Autors Verfassungsgegner oder -befürworter – sicherzustellen. Diesen würde es dann überlassen sein, in den Konventen Überzeugungsarbeit zu leisten.159 Die öffentliche Debatte verlief weitaus heftiger als die Auseinandersetzungen im Konvent von Philadelphia, da dort alle Delegierten aus Furcht vor einem Zerfall der Union um eine konstruktive Zusammenarbeit bemüht und sich einig 152

Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 215. Originaltexte hierzu finden sich in Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 1 und 2. 154 Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 218 f.; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 38. 155 s. Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 184, 186. 156 Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1062; ders. u. a., Republic (1977), S. 340; Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 201; Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 201, 216. 157 s. hierzu Adams, A. und W. P., Einleitung (1994), S. XLIV; Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 202. 158 Vgl. Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 203. 159 Beloff, M., Introduction (1948), S. XXVI. 153

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gewesen waren, daß eine Reform der Konföderationsartikel notwendig war. Ein Großteil der Konventsmitglieder hatte auch darin übereingestimmt, daß eine grundlegende Überarbeitung nötig war.160 Im Volk dagegen bestand kein solcher Grundkonsens, insbesondere nicht die Sorge um eine Auflösung der Union. Zwar wollten viele Amerikaner den Kongreß in einigen Bereichen gestärkt wissen; die Errichtung einer solch starken Zentralregierung ging ihnen aber zu weit.161 Andere lehnten sogar jegliche Veränderung des bestehenden Zustandes ab, da sie eine schwache Zentralregierung für wünschenswert hielten und keinerlei Anlaß für Reformen sahen.162 (1) Terminologie Den Anhängern der neuen Verfassung gelang es in dieser Diskussion, für sich das Attribut Federalists (Föderalisten) in Beschlag zu nehmen und die Verfassungsgegner als Anti-Federalists abzustempeln. Allerdings war diese Nomenklatur nicht zutreffend, wie auch viele Verfassungsgegner beklagten, ohne jedoch etwas gegen das einmal angehängte Etikett ausrichten zu können. Denn nach dem damaligen Verständnis war der Begriff federal gleichbedeutend mit confederal; beides bezeichnete ein bloßes Bündnis von Staaten, einen Staatenbund, wie er beispielsweise unter den Articles of Confederation existierte. Der Gegensatz zu diesem Staatsmodell war ein national, consolidated oder unitarian system, d. h. ein Einheitsstaat, wie er in den einzelnen Staaten vorzufinden war.163 Da sich die Verfassungsgegner für die Rechte der Einzelstaaten und eine vergleichsweise schwache Zentralregierung einsetzten, hätte eigentlich ihnen die Bezeichnung Federalists zugestanden, während die Verfassungsbefürworter für eine Stärkung der zentralen, „nationalen“ Regierung kämpften und daher eher als Nationalisten oder Zentralisten anzusehen gewesen wären. Diese Begriffe waren jedoch negativ besetzt und weckten Angst vor einer Ausschaltung der Staaten und einer Tyrannei der Zentralregierung. Mit ihrer Benennung gelang es den Verfassungsbefürwortern, diese negativen Konnotationen zu vermeiden und sich begrifflich in die Tradition der amerikanischen Unabhängigkeitskämpfe zu stellen, die gegen die zentrale Macht in London, die englische Krone, gefochten worden waren.164 Die vorgeschlagene 160 s. Beloff, M., Introduction (1948), S. XXVI; Morgan, E. S., Birth (1957), S. 135; Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 190. 161 Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 201; Morgan, E. S., Birth (1957), S. 145. 162 Main, J. T., Antifederalist (1973), S. 152. 163 s. hierzu auch unten D. III. 2. c). 164 Zu diesem Namensstreit s. Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 201; Dry, M., Tradition (1992), S. 204–207; Grant de Pauw, L., Pillar (1966), S. 170–172; Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 275–277; Kelly, A. H./Harbison, W. A./Belz, H., Constitution (1983), S. 107.

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Verfassung paßte nach dem damaligen Verständnis in keine der beiden genannten Kategorien, sondern wurde als Mischung föderaler und nationaler Elemente betrachtet. Mit der Aneignung des Begriffes federal für ihre Position führten die Verfassungsbefürworter einen Bedeutungswandel herbei und bewirkten, daß dieses Attribut von nun an das von ihnen geschaffene System, die Mischung aus nationalen und föderalen Elementen, bezeichnete. Neben die möglichen Staatsmodelle Einheitsstaat und Staatenbund ist der Bundesstaat als föderalistisches System im modernen Sinne getreten.165 (2) Basis und Argumente der beiden Gruppen Die neue Verfassung fand vor allem bei der Bevölkerungsgruppe Unterstützung, die mit dem Ausdruck von Jackson Turner Main als commercial-cosmopolitans beschrieben werden kann. Diese Gruppe umfaßte insbesondere Geschäftsleute und Angehörige der höheren Berufsstände, die vorwiegend in den Städten und bevölkerungsreichen Küstenregionen lebten und wohlhabend, gebildet und kulturell interessiert waren.166 Schon vor der Revolution hatte diese „natürliche Elite“ die Regierung der Kolonien gestellt und während der Revolution das konservative Lager des Widerstandes gegen Großbritannien gebildet, da sie zwar ihre Position gegen die verstärkten Einmischungen aus England verteidigen wollte, jedoch keinen politischen Führungswechsel und keine politischen und sozialen Umwälzungen anstrebte.167 Die Angehörigen dieser Schicht blickten aufgrund ihrer beruflichen und persönlichen Kontakte und Reisen über die Grenzen des eigenen Staates hinaus. Zwar handelte es sich bei ihnen nur um eine kleine Gruppe, die aber eine Vielzahl wichtiger Posten besetzte und wegen ihres Ansehens und Einflusses vielen sozial niedriger stehenden Bürgern als Vorbild diente.168 Auf Ablehnung stieß der Verfassungsentwurf dagegen vor allem bei der von Main als agrarian-localist beschriebenen Gruppierung, den Vertretern agrarischlokaler Interessen. Dies waren vornehmlich kleine, Subsistenzwirtschaft betreibende Farmer, die meist in ländlichen Regionen lebten und mangels annehmbarer Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten nur den Bezug zu ihrer näheren Umgebung hatten.169 Diese Gruppe umfaßte etwa die Hälfte des amerikanischen Volkes.170 Eine politische Stimme verschafften dieser Grundhaltung 165 s. Diamond, M., Framers (1974), S. 27; Dry, M., Tradition (1992), S. 206; Kelly, A. H./Harbison, W. A./Belz, H., Constitution (1983), S. 112 f.; s. auch Nr. 39, S. 228 ff, insb. S. 232. 166 Main, J. T., Antifederalist (1973), S. 139. 167 Beloff, M., Introduction (1948), S. XII; Main, J. T., Antifederalist (1973), S. 143. 168 s. Main, J. T., Antifederalist (1973), S. 139 f. 169 Heideking, J., Geschichte (1996), S. 73; Main, J. T., Antifederalist (1973), S. 139. 170 Vgl. Main, J. T., Antifederalist (1973), S. 165.

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in der Verfassungsdebatte vor allem die Politiker, die während der Revolution den radikaleren Flügel vertreten und schon früh die Unabhängigkeit von England propagiert hatten, wie etwa Samuel Adams, Patrick Henry und Richard Henry Lee, aber auch viele Einzelstaatspolitiker, wie etwa der New Yorker Gouverneur George Clinton, die um den Einfluß ihres Staates bangten.171 Die Anti-Federalists lehnten den Verfassungsentwurf aus Furcht vor einer Machtkonzentration bei der Zentralregierung ab.172 Sie fürchteten, daß die Zentralregierung die Einzelstaaten, die ihnen als Hüter der Freiheit des einzelnen erschienen, immer mehr schwächen, schließlich ganz auflösen und dann mit unterdrückerischer Despotie herrschen würde.173 Zur Begründung führten sie zunächst die von Montesquieu propagierte, überkommene Auffassung an, daß eine republikanische Regierungsform nur in kleinen, homogenen Staaten haltbar sei. In großen Staaten dagegen müsse sie unter anderem wegen der räumlichen Entfernung der Regierung vom Volk und der damit verbundenen Entfremdung unabwendbar in Tyrannei umschlagen.174 Zudem waren die Verfassungsgegner der Ansicht, daß es unmöglich sei, zwei Regierungen nebeneinander im gleichen Bereich über das gleiche Volk regieren zu lassen, da entweder nur die eine oder die andere der Souverän sein könne und eine – hier die Zentralregierung – sich daher durchsetzen würde.175 Zu dieser quasi naturgesetzlichen Prädisposition des vorgeschlagenen Systems kam die in den Augen der Verfassungsgegner unerhörte Machtfülle der vorgesehenen Zentralregierung, die sich vor allem im Umfang ihrer Befugnisse und der starken Stellung des Präsidenten ausdrückte.176 Zudem befürchteten sie, daß die Zentralregierung von einer kleinen Elite getragen werden und sich immer mehr dem Volk entfremden würde – zumal der Kongreß ihrer Ansicht nach viel zu klein war, um die Bevölkerung der Vereinigten Staaten angemessen zu repräsentieren.177 Zusätzlich monierten die Anti-Federalists, daß sich das Volk nicht einmal auf den Schutz einer Grundrechteerklärung berufen könne und daß die Annahme der neuen Verfassung we-

171 Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 190; Henretta, J. A. u. a., History (1987), S. 204. 172 s. Blum, J. M. u. a., Experience (1977), S. 127; Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 190. 173 Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 274; Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 190. 174 s. Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 335; Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 267 f.; Kelly, A. H./Harbison, W. A./Belz, H., Constitution (1983), S. 108. 175 Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 335 f.; Kelly, A. H./Harbison, W. A./Belz, H., Constitution (1983), S. 109. 176 Main, J. T., Antifederalist (1973), S. 154 f.; Kelly, A. H./Harbison, W. A./Belz, H., Constitution (1983), S. 109. 177 Dry, M., Tradition (1992), S. 212–214; Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 271–273; Main, J. T., Antifederalist (1973), S. 155 f.

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gen der vorgesehenen Ratifizierungsprozedur einen Bruch der Konföderationsartikel darstellen würde.178 Die Federalists dagegen waren der Ansicht, die neue Verfassung würde die Lehre aus den Schwächen der Konföderationsartikel ziehen und eine handlungsfähige und starke Union schaffen, ohne die Macht und Existenz der Einzelstaaten zu bedrohen.179 d) Die Debatte in New York und The Federalist Der Staat New York war wegen seiner Bedeutung besonders stark umkämpft, da er zu den größeren Staaten gehörte und wegen seiner geographischen Lage eine Schlüsselposition innehatte.180 Der Gouverneur des Staates, George Clinton, war ein Gegner der neuen Verfassung und entschlossen, ihre Ratifizierung in seinem Staat zu verhindern.181 Er weigerte sich nach der Übersendung des Verfassungsentwurfes durch den Kongreß, dem Wunsch der Verfassungsbefürworter nachzukommen und anläßlich der anstehenden Entscheidung über einen Ratifizierungskonvent eine Sondersitzung des Parlamentes einzuberufen, so daß dieses erst in seiner regulären Sitzung im Januar 1788 über die Frage entschied.182 In den vier Monaten, die zwischen der Veröffentlichung des Verfassungsentwurfes und dem Zusammentritt des Parlamentes lagen, kam es zu einer heftigen öffentlichen Diskussion, in der sich die Verfassungsgegner als Clintonians hinter den Gouverneur stellten, während sich die Befürworter der Verfassung als Hamiltonians um ihren prominentesten Vertreter sammelten.183 Bereits wenige Tage nach der Veröffentlichung der Verfassung erschien am 27. September 1787 in einer New Yorker Zeitung der erste einer Reihe von Briefen an die Bürger des Staates New York, in denen der Autor, Cato, sie vor dem Verfassungsentwurf warnte. In seinen Essays legte er dar, daß die Prinzipien des 178 Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 335; Dry, M., Tradition (1992), S. 215–217 und 205; Main, J. T., Antifederalist (1973), S. 157; Norton, M. B. u. a., Nation (2001), S. 190. 179 Zu den entsprechenden (Gegen-)Vorstellungen der Federalists s. Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 336–340; Epstein, D. F., Understand (1992), S. 219–230; Heideking, J., Richterstuhl (1988), Kapitel X (S. 302–354); Kelly, A. H./Harbison, W. A./ Belz, H., Constitution (1983), S. 110–114. Da sich die Wiedergabe der föderalistischen Position größtenteils auf die Federalist-Aufsätze von Hamilton, Madison und Jay stützt, werde ich hierauf detailliert im zweiten Teil, bei der Analyse von The Federalist, eingehen. 180 Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 340; Blum, J. M. u. a., Experience (1977), S. 127; Morgan, E. S., Birth (1957), S. 152. 181 s. Wright, B. F., Introduction (1961), S. 3. 182 Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 151; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 33. 183 Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 151.

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neuen nationalen Regierungssystems eine Gefahr für die Freiheit und das Glück (happiness) des Volkes darstellen würden.184 Früher wurde angenommen, daß es sich bei Cato um Clinton selbst handle; jedenfalls war der Autor einer seiner Gesinnungsgenossen.185 Als Reaktion auf die Cato-Briefe meldete sich ein Verfassungsbefürworter unter dem Pseudonym Caesar. Diese ungeschickte Wahl eines Tyrannen als Namensgeber spiegelte sich auch im Inhalt der Zeitungsartikel wider: Caesar hielt die Masse des Volkes – die gutmeinenden, aber weniger intelligenten Teile der Gesellschaft, wie er sie beschrieb – für unqualifiziert, selbst zu entscheiden, welche Regierungsform am besten für ihre Situation geeignet sei; dies könnten nur Männer guter Ausbildung und tiefer Denkart („of deep reflection“).186 Die früher allgemein vertretene Annahme, daß hinter diesen Ausführungen Hamilton stecke, ist heute wohl widerlegt.187 Jedenfalls scheint dem Autor bald klar geworden zu sein, daß Beleidigungen des Volkes nicht der richtige Weg waren, es für die eigene Position und damit für die Verfassung zu gewinnen, da er sein Vorhaben nach zwei Essays aufgab.188 Neben den Cato- und Caesar-Briefen gab es noch eine Flut weiterer Veröffentlichungen, die sich überwiegend gegen die Verfassung und ihre Ratifizierung aussprachen. Zwar fanden sich auch Verteidiger des Entwurfes, die sich aber oft mit persönlichen Attacken auf die Gegner begnügten, ohne sich inhaltlich mit der Verfassung auseinanderzusetzen und ihre Vorzüge darzulegen.189 Um diesen Mißstand zu beheben und die öffentliche Meinung zugunsten des neuen Regierungssystems zu beeinflussen, entschloß sich Hamilton, dem Volk die Vorteile der Verfassung umfassend vor Augen zu führen und die Argumente ihrer Gegner zu entkräften.190 Da er sich dem Thema ausführlich widmen wollte, suchte er Mitstreiter für sein Vorhaben, die er in dem ebenfalls aus New York stammenden John Jay und – nach einiger Suche – in James Madison fand. 184 s. Cato II in Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 1, S. 37–41. S. insbesondere S. 41: „My object is to take up this new form of national government . . . and to shew, that its principles . . . will be dangerous to your liberty and happiness.“ s. hierzu auch Wright, B. F., Introduction (1961), S. 4 f. 185 s. Adams, A. und W. P., Einleitung (1994), S. LXXXI. Zu dieser Frage s. Grant de Pauw, L., Pillar (1966), S. 283–292 (Appendix A), die es für wahrscheinlicher hält, daß Abraham Yates die Cato-Briefe geschrieben hat (S. 290–292); von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 128, Fn. 132. 186 s. Wright, B. F., Introduction (1961), S. 5. Der erste Caesar-Brief ist abgedruckt in Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 1, S. 34–36. 187 s. hierzu Grant de Pauw, L., Pillar (1966), S. 285; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 128, Fn. 136; Wright, B. F., Introduction (1961), S. 6. 188 s. von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 38; Wright, B. F., Introduction (1961), S. 6. 189 Cooke, J. E., Introduction (1961), S. XI. 190 s. Cooke, J. E., Introduction (1961), S. XI.

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Madison, der aus Virginia kam, hielt sich als Mitglied des Konföderationskongresses in New York auf und stand damit für die Zusammenarbeit zur Verfügung. Allerdings kehrte er noch während des Erscheinens der Essays im März 1788 in seinen Heimatstaat zurück und schrieb daher nach dem 63. Brief keinen Beitrag mehr.191 Die drei Autoren schrieben insgesamt 85 Essays, die an das Volk des Staates New York gerichtet waren und von Oktober 1787 bis Mai 1788 drei- bis viermal wöchentlich in verschiedenen Zeitungen erschienen.192 Aufgrund der hohen Erscheinungsfrequenz wurden die Briefe in solcher Eile geschrieben, daß detaillierte Absprachen nicht möglich waren; lediglich über einige der Aufsätze tauschten sich die Autoren aus.193 Angesichts des großen öffentlichen Interesses wurden die ersten 36 Aufsätze bereits im März 1788 unter dem Titel The Federalist in Buchform veröffentlicht; der zweite Band mit den übrigen Aufsätzen – darunter auch die letzten, noch nicht veröffentlichten – kam im Mai desselben Jahres heraus.194 Von den 1.000 gedruckten Exemplaren wurden fast alle innerhalb eines Jahres verkauft.195 Die Autoren wählten als gemeinsames Pseudonym den Namen Publius in Anlehnung an Publius Valerius Publicola, dessen Leben von Livius und Plutarch beschrieben und in den Parallelbiographien des letzteren mit dem griechischen Gesetzgeber Solon verglichen wird. Publius Valerius, dessen Geschichte dem gebildeten Publikum damals noch bekannt war, hatte um 510 v. Chr. am Sturz des etruskischen Königs in Rom durch die römischen Adligen mitgewirkt, der die Herrschaft der Tarquinier beendete und die römische Republik begründete. Anschließend übernahm er das Amt des Konsuls und setzte sich durch eine Reform der Gesetze für die Freiheit des Volkes ein.196 Zur Zeit des Erscheinens der Essays wußten nur wenige Eingeweihte um ihre Autorschaft, die noch Jahre danach geheimgehalten wurde. Erst anläßlich der Veröffentlichung einer französischen Ausgabe des Federalist im Jahre 1792 wurde bekanntgegeben, daß es sich dabei um das Werk Hamiltons, Madisons und Jays handelte.197 Von den 85 Essays stammen wahrscheinlich 51 aus der 191 Beloff, M., Introduction (1948), S. XXVII f.; Kesler, C. R., Introduction (1999), S. XII; Rossiter, C., Introduction (1964), S. XI; Wright, B. F., Introduction (1961), S. 6–8. 192 Eine genaue Auflistung der veröffentlichenden Zeitungen findet sich in Cooke, J. E., Introduction (1961), S. XIII f. 193 Grant de Pauw, L., Pillar (1966), S. 109; Kesler, C. R., Introduction (1999), S. XII. 194 s. von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 40. 195 Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 195. 196 Vgl. Adams, A. und W. P., Einleitung (1994), S. XLIV; Kesler, C. R., Introduction (1999), S. X. 197 Rossiter, C., Introduction (1964), S. X; Wright, B. F., Introduction (1961), S. 8.

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Feder Hamiltons, während Madison 29 und Jay wegen Krankheit nur fünf Artikel verfaßte.198 Die Autoren beschäftigten sich mit den Themen, die ihrer bisherigen politischen Laufbahn und ihren Interessen entsprachen: während Hamilton sich vor allem mit pragmatischen Fragen, insbesondere finanzpolitischer Art, befaßte, behandelte Jay die außenpolitischen Aspekte und Madison die politiktheoretischen Themen.199 Bei der Abfassung der Essays kam Madison seine umfassende Vorbereitung auf den Verfassungskonvent zugute, im Rahmen derer er insbesondere auch die verschiedenen historischen Staatenvereinigungen und die Gründe ihres Untergangs studiert hatte.200 (1) Die Autoren Die Entwicklung der Autoren zu Verfechtern einer stärkeren Zentralgewalt und Befürwortern der neuen Verfassung hängt eng mit den Erfahrungen zusammen, die sie im Laufe ihrer politischen Karriere machten. Zum besseren Verständnis ihrer Positionen sollen ihre Lebensläufe kurz skizziert werden. Alexander Hamilton201 wurde am 11. Januar 1755 auf der Antilleninsel Nevis geboren.202 Seine Mutter war die Tochter eines hugenottischen Arztes, der Vater ein adliger schottischer Kaufmann, der die Familie verließ, so daß Hamilton ab dem 11. Lebensjahr in einem Kontor arbeiten mußte. Als er 13 war, starb die Mutter. 1772 kam er mit 17 Jahren in die amerikanischen Kolonien, um dort ab 1773 mit der finanziellen Unterstützung seines ehemaligen Chefs am King’s College (jetzt Columbia University) in New York zu studieren. Er begeisterte sich früh für den revolutionären Kurs und zog 1776 in den Krieg, wo er bald auf sich aufmerksam machte und von George Washington zum Sekretär berufen wurde. In dieser Position sammelte er erste leidvolle Erfahrungen mit der Unzulänglichkeit des Kongresses und seiner Handlungsunfähigkeit bezüglich der Armee. 1780 heiratete Hamilton Elizabeth Schuyler aus einer der reichsten und einflußreichsten Familien New Yorks, die Tochter des Generals Philip Schuyler. 198 s. Zehnpfennig, B., Einleitung (1993), S. 5. Zur umstrittenen Urheberschaft s. auch unten III. 2. 199 Zehnpfennig, B., Einleitung (1993), S. 5; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 40. 200 s. Adair, D., Madison (1946), S. 134; zu den Quellen, die er dabei benutzte, s. Bourne, E.G., Studies (1901). 201 Eine kurze Biographie Hamiltons findet sich bei Adams, A. und W. P., Einleitung (1994), S. XXXVIII–XL; Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 1, S. 1008 f.; Beloff, M., Introduction (1948), S. XX–XXII (s. auch S. XXVIII Fn. 1); Earle, E. M., Authors (1937), S. XXXIII; Ermacora, F., Einführung (1958), S. 19–21; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 39. Für längere Ausführungen s. McDonald, F., Hamilton (1979). 202 Allerdings gab er selbst später an, 1757 geboren worden zu sein, s. Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 1, S. 1008 und den Hinweis zu dieser Kontroverse in Beloff, M., Introduction (1948), S. XXI, Fn. 1.

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Er absolvierte bei verschiedenen Anwälten in Albany eine Ausbildung zum Rechtsanwalt und erhielt 1782 seine Zulassung als Anwalt im Staat New York. Von 1782 bis 1783 war er Mitglied des Konföderationskongresses; in dieser Position wurden ihm die Schwächen des Systems noch einmal deutlich vor Augen geführt. Nach seinem Ausscheiden eröffnete er eine Kanzlei in New York. 1786 nahm er als entsandtes Mitglied des Repräsentantenhauses von New York an der Konferenz in Annapolis teil; dort bewirkte er zusammen mit dem ebenfalls anwesenden Madison die Einladung nach Philadelphia im darauffolgenden Jahr. An dieser verfassungsgebenden Versammlung nahm er ebenfalls als Delegierter teil; allerdings war er nur sporadisch anwesend und hatte keinen nennenswerten Einfluß auf die Gestaltung der Verfassung. Erschwert war seine Situation allerdings auch durch die Tatsache, daß die beiden anderen Mitglieder der New Yorker Delegation im Gegensatz zu ihm Anti-Federalisten und damit gegen eine Stärkung der Zentralgewalt waren und den Konvent vorzeitig verließen. Obwohl die schließlich entworfene Verfassung nicht seinen Vorstellungen entsprach, da sie ihm nicht zentralistisch genug war, sprach er sich am Ende des Konventes für ihre Annahme aus und unterzeichnete sie. Anschließend verteidigte er sie in der publizistischen Debatte in den Federalist Papers und schließlich im New Yorker Ratifizierungskonvent, in den er gewählt worden war. Nach den ersten nationalen Wahlen unter der neuen Verfassung wurde Hamilton 1789 von Washington zum Finanzminister berufen und prägte in dieser Funktion, die er bis 1795 innehatte, entscheidend die amerikanische Finanzpolitik. Er setzte sich vor allem für eine starke Zentralregierung und die Konsolidierung der Staatsschulden ein und schuf die Nationalbank.203 Über diesem Finanzprogramm entzweite er sich politisch mit Madison, der zusammen mit Jefferson in Opposition zu seinen Vorschlägen ging. Aus dieser Entzweiung entwickelten sich die beiden damaligen politischen Parteien, die Federalists, wie sich Hamilton und seine Anhänger nannten, und die Republicans, die Anhänger des Madisonschen und Jeffersonschen Kurses. Nach seinem Ausscheiden aus dem Kabinett arbeitete Hamilton weiter als Anwalt in New York und blieb politisch in der entstehenden Partei der Federalists aktiv. 1804 wurde er von seinem politischen Rivalen Aaron Burr, dem Vizepräsidenten der Vereinigten Staaten und Mitglied der eigenen Partei Hamiltons, zum Duell herausgefordert, weil er dessen Wahl zum Gouverneur von New York verhindert hatte. Er wurde verwundet und erlag einen Tag später seinen Verletzungen. James Madison204 (1751–1836) wurde am 16. März 1751 als Sohn wohlhabender Plantagenbesitzer in Virginia geboren. Mit 18 Jahren besuchte er das 203 Einen Überblick über Hamiltons Finanzprogramm bieten Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 214–221. 204 Zur Biographie Madisons s. Adair, D., Madison (1946); Adams, A. und W. P., Einleitung (1994), S. XL–XLII; Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 1, S. 1022–1025; Be-

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College of New Jersey (das heutige Princeton) und studierte dort von 1769 bis 1773 vor allem Geschichte und Ethik. Bereits zu Beginn der Revolution wurde er in seinem Heimatstaat auf Kreis- (county) Ebene politisch aktiv; und 1776 war er Mitglied des virginischen Konventes, der noch vor der Unabhängigkeitserklärung die republikanische Verfassung des Staates und die vorbildhafte Declaration of Rights entwarf. Anschließend war er von 1777 bis 1779 Mitglied des Virginia Council of State, dem Kabinett des Gouverneurs, und von 1780 bis 1783 entsandte ihn das virginische Parlament in den Kontinentalkongreß, in dem auch Hamilton saß. Von 1783 bis 1786 war Madison Mitglied des Virginia House of Delegates, der Legislative von Virginia. 1786 wurde er Delegierter bei der Konferenz von Annapolis und nahm auch im darauffolgenden Jahr an der verfassungsgebenden Versammlung in Philadelphia teil. Hier spielte Madison eine herausragende Rolle und prägte das Gesicht der entworfenen Verfassung entscheidend mit. So stammte etwa der Virginia Plan, der dem Konvent als Arbeitspapier diente, aus seiner Feder. Er protokollierte den Gang der Verhandlungen detailliert und hinterließ der Nachwelt damit den umfassendsten Bericht über die Vorgänge. Die Aufzeichnungen wurden allerdings auf seinen Wunsch hin erst posthum, im Jahre 1840, veröffentlicht. Im Winter 1787/88 vertrat Madison seinen Staat Virginia erneut im Konföderationskongreß. Zu diesem Zweck hielt er sich in New York auf und stand damit Hamilton für die Zusammenarbeit an den Federalist Papers zur Verfügung. Anschließend verhalf er der Verfassung als Mitglied des virginischen Ratifizierungskonventes auch in seinem Heimatstaat zum Durchbruch. In der neuen Zentralregierung war er zunächst bis 1797 Mitglied des Repräsentantenhauses und entwarf die ersten zehn Verfassungszusätze, die ihr als Bill of Rights (Grundrechteerklärung) angehängt wurden. In diesen Jahren zeigte sich eine immer größere Diskrepanz zwischen seinen politischen Ansichten und denen Hamiltons, und zusammen mit Jefferson setzte sich Madison im Rahmen der sich neu bildenden politischen Parteien bei den Republikanern gegen den Zentralismus Hamiltons und seiner Partei, den Federalists, ein. Nach der Niederlage der Federalists in den Wahlen von 1800 war Madison von 1801 bis 1809 unter Präsident Jefferson Außenminister; anschließend übernahm er selbst bis 1817 das Präsidentenamt. In den Jahren von 1812 bis 1814 führte er einen unpopulären und erfolglosen Krieg gegen England, der durch den Frieden von Gent beendet wurde, in dem sich die Parteien lediglich auf die Wiederherstellung des Vorkriegszustandes einigen konnten. Nach dem Ende seiloff, M., Introduction (1948), S. XVII (s. auch S. XXVIII Fn. 1); Earle, E. M., Authors (1937), S. XXXIII f.; Ermacora, F., Einführung (1958), S. 21–23; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 39 f. Eine ausführliche Beschreibung seines Lebens findet sich in der sechsbändigen Studie von Brant, I., Madison (1941–1961) sowie bei Riemer, N., Madison (1986).

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ner zweiten Amtszeit verließ er Washington und kehrte auf seine Farm nach Virginia zurück, wo er sich der Überarbeitung seiner während des Verfassungskonventes gemachten Aufzeichnungen widmete und eine umfangreiche Korrespondenz führte. Madison arbeitete bei der Gründung der Universität von Virginia durch Jefferson eng mit diesem zusammen und wurde nach dem Tod Jeffersons 1826 ihr Rektor. In den Jahren 1829/30 war er Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung von Virginia. Madison starb im Jahre 1836. John Jay205 wurde am 12. Dezember 1745 in New York City in eine wohlhabende Kaufmannsfamilie geboren. Wie später Hamilton studierte er am King’s College in New York; 1764 machte er seinen Abschluß und anschließend eine Ausbildung zum Rechtsanwalt. 1768 wurde er als Anwalt zugelassen und eröffnete mit einem Freund eine erfolgreiche Kanzlei. 1774 heiratete er Sarah Van Brugh, die Tochter des Rechtsanwalts und Politikers William Livingston, der sich bereits früh für die kolonialen Rechte eingesetzt hatte und später am verfassungsgebenden Konvent in Philadelphia teilnehmen und die Verfassung mit unterzeichnen sollte. Jay nahm 1774 als Delegierter am Ersten und ein Jahr später am Zweiten Kontinentalkongreß teil. Zu dieser Zeit hoffte er noch auf eine Versöhnung mit England; nachdem aber die Unabhängigkeit beschlossen worden war, stellte er sich ganz in den Dienst der Revolution. Er war als Mitglied des New Yorker Kongresses Mitautor der Verfassung seines Staates und wurde 1777 zum Vorsitzenden des obersten New Yorker Gerichtes gewählt, ein Amt, das er bis 1779 innehatte. Von 1778 bis 1779 war er zudem Vorsitzender des Kontinentalkongresses, von dem er 1779 als Gesandter mit allen Vollmachten nach Spanien geschickt wurde. Dort blieb er bis 1782, um dann in Paris zusammen mit Benjamin Franklin und John Adams den Frieden mit England auszuhandeln, der im Jahre 1783 die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten besiegelte. 1784 kehrte er in die USA zurück und übernahm von 1785 bis 1789 das Amt des Außenministers im Kontinentalkongreß. Am Verfassungskonvent in Philadelphia nahm er nicht teil, verhalf der Verfassung aber durch seinen Beitrag zum Federalist, für den er fünf Essays schrieb, und seine Überzeugungsarbeit im New Yorker Ratifizierungskonvent zum Erfolg. Den Posten des Außenministers behielt er übergangsweise auch unter der neuen Verfassung, bis Thomas Jefferson 1790 aus Frankreich zurückkehrte und das Amt offiziell übernahm. 1789 wurde er von Washington zum ersten Vorsitzenden des Obersten Bundesgerichtshofes (Supreme Court) ernannt und blieb bis 1795 im Amt. 1794 wurde 205 Zur Biographie Jays s. Adams, A. und W. P., Einleitung (1994), S. XXXVII f.; Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 1, S. 1014–1016; Beloff, M., Introduction (1948), S. XXVII, Fn. 3 (s. auch S. XXVIII Fn. 1); Earle, E. M., Authors (1937), S. XXXIV f.; Ermacora, F., Einführung (1958), S. 23 f.; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 40.

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er als Unterhändler mit allen Vollmachten nach England gesandt und schloß den sogenannten Jay-Vertrag (Jay Treaty), der noch kritische Punkte mit England regelte und einen neuen Krieg abwenden sollte, sich allerdings großer Kritik ausgesetzt sah. Nach seiner Rückkehr 1795 wurde er zum Gouverneur von New York gewählt und hatte dieses Amt bis 1801 inne. Anschließend zog er sich auf seine Farm zurück, wo er 1829 starb. (2) Kurzüberblick über den Federalist206 Die 85 Essays, die The Federalist ausmachen, lassen sich in zwei Teile gliedern. Der erste Teil, bestehend aus Nr. 1 bis 36, weist nach, daß nur eine starke Union den Interessen der amerikanischen Staaten und ihrer Bürger gerecht wird und der bestehende Zusammenschluß unter den Konföderationsartikeln hierfür zu schwach ist. Der zweite Teil (Nr. 37 bis 85) belegt, daß die vorgeschlagene Verfassung diesen Mangel behebt und trotz der Stärkung der Zentralregierung die republikanische Regierungsform bewahrt.207 Im einzelnen ergibt sich folgender Argumentationsgang: Im ersten Teil stellt Publius in der Einleitung (Nr. 1) zunächst die Bedeutung der anstehenden Entscheidung heraus, um in Nr. 2 darauf hinzuweisen, daß Amerikas Wohl von der Einheit abhängt. Anschließend erklärt er, daß nur eine starke Union Sicherheit gegen Feindseligkeiten von außen (Nr. 3–5) und gegen Unruhen im Inneren bietet (Nr. 6–10) und zudem wirtschaftliche Vorteile bringt (Nr. 11–13). In Nr. 14 widerlegt Publius die These, das Land sei für einen einzigen Staat zu groß, und in Nr. 15–22 führt er die Schwächen der jetzigen Konföderation auf. Anschließend erklärt er, warum die Union die Kompetenz haben muß, über die nationale Armee zu bestimmen (Nr. 23–29), und warum sie ein uneingeschränktes Besteuerungsrecht in ihren Angelegenheiten haben muß (Nr. 30–36). Im zweiten Teil weist Publius zunächst auf die Schwierigkeiten hin, die der Verfassungskonvent zu überwinden hatte, und betont, daß der Entwurf einen streng republikanischen Staat vorsieht, der föderale und nationale Elemente aufweist (Nr. 37–40). Er trägt vor, daß alle an die Union delegierten Kompetenzen zur Erfüllung ihrer Aufgaben nötig und angemessen sind (Nr. 41–44) und daß diese Bundeskompetenzen den verbleibenden Einzelstaatskompetenzen nicht gefährlich werden können (Nr. 45 und 46). Anschließend widmet er sich der Gewaltenteilung und weist nach, daß die Verfassung das Gewaltenteilungsprinzip nicht verletzt (Nr. 47–51), um dann auf die einzelnen Gewalten einzugehen, 206 Eine kurze Zusammenfassung jedes Artikels in wenigen Sätzen bietet die Inhaltsangabe in Adams, A. und W. P., Federalist (1994), S. V–XXV. 207 s. Kesler, C. R., Introduction (1999), S. XVI; Wills, G., Introduction (1982), S. XXV–XXVII.

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und zwar auf das Repräsentantenhaus (Nr. 52–61), den Senat (Nr. 62–66), den Präsidenten (Nr. 67–77) und die rechtsprechende Gewalt (Nr. 78–83). Im vorletzten Artikel behandelt er verschiedene weitere Einwände gegen die Verfassung, unter anderem das Fehlen einer Grundrechteerklärung. In Nr. 85 weist er schließlich darauf hin, daß der Verfassungsentwurf der New Yorker Verfassung sehr ähnlich sei, und bringt Argumente vor, warum der Entwurf trotz seiner zugegebenen Unvollkommenheit angenommen werden sollte. e) Ratifizierung der Verfassung Nachdem der Konföderationskongreß den Verfassungsentwurf an die Parlamente der Einzelstaaten weitergeleitet hatte, beschlossen diese nach und nach, Ratifizierungskonvente ins Leben zu rufen und Wahlen dazu anzusetzen.208 Die meisten Staaten entschieden sich noch im Jahre 1787 (in Pennsylvania, wo die Verfassungsgegner die entsprechende Sitzung boykottierten, kam das nötige Quorum nur dadurch zustande, daß zwei Anti-Federalists mit Gewalt ins Parlamentsgebäude gebracht wurden).209 Lediglich New York, South Carolina und Rhode Island befaßten sich erst zwischen Januar und März 1788 mit der Frage, und während sich die beiden ersten Staaten ebenfalls für einen Konvent aussprachen, optierte Rhode Island für ein Referendum.210 Die Anforderungen an die Wahlberechtigung zu den Konventen waren von Staat zu Staat unterschiedlich, allgemein aber sehr niedrig; sie enthielten nur geringe und in New York211 gar keine Eigentumsqualifikationen, so daß eine breite Basis der männlichen weißen Bürger über die Zusammensetzung der Konvente entscheiden konnte. Allerdings nahm nur ein Viertel der Wähler dieses Recht auch wahr.212 (1) Die Ratifizierungskonvente213 Die Konvente traten zwischen November 1787 (Pennsylvania) und Juli 1788 (North Carolina) zusammen und brauchten zwischen fünf Tagen (Delaware) und mehr als einem Monat (New York), um eine Entscheidung über die Annahme oder Ablehnung der Verfassung zu treffen.214 In einigen Konventen wurde der Verfassungsentwurf zunächst Klausel für Klausel durchdiskutiert; abgestimmt 208

s. hierzu Beard, Ch. A., Interpretation (1965), S. 225–237. Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1063; Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 127 f. 210 s. Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1062–1069; zu Rhode Island s. S. 1066. 211 s. hierzu Grant de Pauw, L., Pillar (1966), S. 141–147. 212 Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 201. 213 Detaillierte Ausführungen zu jedem einzelnen Staat finden sich bei Heideking, Richterstuhl (1988), Kapitel XVII (S. 621–707). 214 Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 575. 209

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wurde aber in allen Staaten schließlich über die Verfassung im ganzen. Die Beratungen waren – im Gegensatz zu jenen in Philadelphia – öffentlich. Allerdings waren die Argumente für und wider die Verfassung schon ausführlich in der Presse erörtert worden, so daß die Konvente inhaltlich keine neuen Erkenntnisse brachten. Vielmehr versuchten sowohl Federalists als auch Anti-Federalists, nicht nur mit den bekannten Argumenten Überzeugungsarbeit zu leisten, sondern vor allem durch geschicktes Taktieren unentschlossene Konventsmitglieder oder Anhänger der anderen Gruppierung auf ihre Seite zu ziehen.215 So verzögerten die Federalists in einigen Konventen die Abstimmung beispielsweise durch die Forderung nach einer Klausel-für-Klausel-Debatte in der Hoffnung, daß andere Staaten in der Zwischenzeit ratifizieren und damit ihre Position stärken würden.216 In anderen Staaten drangen sie dagegen auf eine möglichst schnelle Abstimmung, um zu verhindern, daß sich eine effektive Opposition organisieren konnte.217 Sie scheuten sich auch nicht, wenig lobenswerte Mittel einzusetzen, um der Verfassung zum Erfolg zu verhelfen, wie etwa Beleidigungen, Verleumdungen und Täuschung ihrer Gegner.218 Die Befürworter der Verfassung befanden sich ihren Gegnern gegenüber aus mehreren Gründen im Vorteil: Zunächst hatten sie als klares Ziel vor Augen, die Ratifizierung der Verfassung durchzusetzen. Die Anti-Federalists dagegen hatten keine so klare Vorgabe, sondern mußten sich zwischen mehreren Optionen entscheiden. Sie konnten die Verfassung rigoros ablehnen oder Änderungen fordern, nur unter bestimmten Bedingungen ratifizieren oder sich für einen zweiten Verfassungskonvent einsetzen.219 Zudem versammelten die Federalists eine größere Anzahl gebildeter, begüterter und talentierter Männer unter sich.220 Auch waren viele von ihnen bereits auf Bundesebene politisch aktiv gewesen und hatten entsprechend weitreichende Kontakte, die die Grenzen ihres Staates überschritten. Daher konnten sie ihre Kampagne zugunsten der Verfassung besser und umfassender organisieren als die Anti-Federalists, von denen viele politische Erfahrung lediglich auf lokaler Ebene gesammelt hatten.221 Die Verfassungsgegner ließen sich grob in zwei Lager einteilen: jene, die den Verfassungsentwurf kategorisch ablehnten und eine komplette Überarbeitung forderten, und jene, die die Grundstruktur akzeptierten und nur Änderungen in gewissen Einzelpunkten forderten.222 Besonders große Kritik erfuhr dabei das 215

Vgl. Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 588 und 621 f. So etwa in Massachusetts, s. Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 375 f. 217 Beispielsweise in Pennsylvania, s. Kerber, L., Federalist (1973), S. 8. 218 Morgan, E. S., Birth (1957), S. 150. 219 Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 159 und 653 f. 220 s. Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 594 f. 221 Bailyn, B. u. a., Republic (1977), Kapitel 10, S. 340; Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 201. 222 Vgl. Main, J. T., Antifederalist (1973), S. 157. 216

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Fehlen einer Grundrechteerklärung, die in Philadelphia nicht für nötig gehalten worden war. Allerdings war strittig, ob die Konvente überhaupt befugt waren, Änderungen (amendments) vorzuschlagen, oder ob es lediglich die Alternative gab, den vorgelegten Entwurf in der bestehenden Form anzunehmen oder abzulehnen. Unklar war auch, ob die Ratifizierung an die Bedingung geknüpft werden konnte, daß die gewünschten Änderungen nach der Annahme der Verfassung auch tatsächlich durchgeführt werden würden, mit der Maßgabe, daß der so ratifizierende Staat ansonsten wieder aus der Union austreten würde.223 (2) Die Entscheidung Diese Fragen stellten sich bei den ersten fünf ratifizierenden Staaten allerdings nicht. Drei dieser Staaten (Delaware, New Jersey und Georgia) sprachen sich noch im Dezember 1787 einstimmig für die neue Verfassung aus. Auch Pennsylvania und Connecticut erteilten ihre Zustimmung mit großer Mehrheit im Dezember 1787 bzw. Januar 1788, mit 46 zu 23 bzw. 128 zu 40 Stimmen.224 In Massachusetts dagegen obsiegten die Verfassungsbefürworter im Februar 1788 nur knapp mit 187 zu 168 Stimmen, nachdem sie einen Kompromiß mit den Anti-Federalists geschlossen hatten: diese stimmten der Verfassung zu, dafür wurden aber im Ratifizierungsbeschluß gleichzeitig Änderungen in Form sogenannter recommended amendments empfohlen, und die Federalists versprachen, diese Änderungen nach Annahme der Verfassung noch vorzunehmen.225 Dieses Vorgehen wurde wegweisend: noch sechs weitere Staaten sollten in der Folgezeit dem Beispiel Massachusetts nacheifern.226 Das im März in Rhode Island abgehaltene Referendum ergab den ersten Rückschlag für die neue Union: die Bevölkerung lehnte den Entwurf mit 2.711 zu 239 Stimmen ab. Die Konvente der nächsten beiden Staaten, Maryland und South Carolina, ratifizierten dagegen mit großen Mehrheiten (63 zu 11 bzw. 149 zu 73 Stimmen) im April und Mai 1788, South Carolina allerdings auch mit der Empfehlung, noch Änderungen an der Verfassung vorzunehmen. Diese Empfehlung sprach auch New Hampshire in seinem Ratifizierungsbeschluß aus, das den Entwurf im Juni 1788 als 9. Staat mit 57 zu 47 Stimmen annahm.227 Damit trat die neue Verfassung dem Buchstaben nach, wie in Art. 7 vorgesehen, in Kraft. 223

Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 578. Adams, A. und W. P., Einleitung (1994), S. XXXIV; Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1064 f. 225 Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1066; Rutland, R. A., Involved (1990), S. 153 f. 226 Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1066–1069 und 1072. 227 Adams, A. und W. P., Einleitung (1994), S. XXXIV f.; Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1066 f. 224

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Allerdings hatten zwei der großen Staaten, New York und Virginia, noch nicht ratifiziert, und allen Beteiligten war klar, daß die Union ohne sie nicht lebensfähig sein würde.228 Das New Yorker Parlament hatte unter dem Einfluß der vorherrschenden Anti-Federalists erst Ende Januar 1788 beschlossen, einen Ratifizierungskonvent wählen zu lassen,229 der schließlich am 17. Juni 1788 zusammentrat.230 Die Bemühungen der Hamiltonians-Federalists im Wahlkampf, die neben der Zeitungspropaganda auch in Reden, Versammlungen und durch Petitionen für ihre Position geworben hatten, hatten sich nicht ausgezahlt: zwei Drittel des Konventes waren anti-föderalistisch eingestellt.231 Nachdem jedoch Virginia die neue Verfassung am 26. Juni mit 89 zu 79 Stimmen unter der Anfügung von recommended amendments angenommen hatte, zeigten sich beide Parteien im New Yorker Konvent kompromißbereit. Der Streit spitzte sich schließlich auf die Frage zu, ob man die Verfassung bedingt ratifizieren könne, mit dem Vorbehalt, wieder aus der Union auszutreten. Die Konventsmitglieder, die neben explanatory und recommended amendments (erklärenden und empfohlenen Änderungen) auch conditional amendments (Änderungen mit Vorbehalt) in den Ratifizierungsbeschluß aufnehmen wollten, konnten sich aber nicht durchsetzen. Denn die Mehrheit der Mitglieder fürchtete, daß der Kongreß eine solche Annahme der Verfassung nicht anerkennen würde, und diese Auffassung bekräftigte Madison in einem Brief an Hamilton, den dieser im Konvent verlas. Schließlich einigte man sich darauf, die Verfassung nicht „upon condition“ (unter der Bedingung) zu ratifizieren, sondern „in full confidence“, d. h. in vollem Vertrauen darauf, daß die vorgeschlagenen Änderungen erfolgen würden. Nach dieser Abmachung wurde die Verfassung am 26. Juli 1788 knapp mit 30 zu 27 Stimmen angenommen, unter der Anfügung von recommended und explanatory amendments.232 Die Veröffentlichung der Federalist-Artikel hatte auf die Entscheidung des New Yorker Konventes wohl keinen direkten Einfluß.233 Ausschlaggebend für das Umschwenken der Verfassungsgegner war vor allem die Tatsache, daß die erforderlichen neun Staaten und das einflußreiche Virginia bereits ratifiziert hatten und New York damit größere Vorteile für sich 228

Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 201; Heideking, J., Geschichte (1996), S. 74. s. Main, J. T., Antifederalist (1973), S. 163. 230 Eine detaillierte Beschreibung der Vorgänge im Konvent bietet Grant de Pauw, L., Pillar (1966), Kapitel XIII bis XVII (S. 183–240). 231 Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 504. 232 Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1068; Grant de Pauw, L., Pillar (1966), S. 241–245 und 257–264; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 35 f. Der Ratifizierungsbeschluß ist abgedruckt bei Grant de Pauw, L., Pillar (1966), S. 293– 302 (Appendix B). 233 Beloff, M., Introduction (1948), S. X; Dietze, G., Classic (1962), S. 4, Fn. 3 m.w. N.; Rossiter, C., Introduction (1964), S. XI. 229

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innerhalb der neuen Union als isoliert außerhalb derselben sah. Ebenfalls beschwichtigend wirkte das Versprechen der Federalists, auch beim Verzicht auf eine bedingte Ratifizierung die empfohlenen Änderungen aufzugreifen und die Verfassung nach ihrer Annahme in der gewünschten Weise zu ändern, ihr insbesondere noch eine Bill of Rights anzufügen.234 Obwohl die neue Verfassung durch die Ratifizierung des neunten Staates rechtliche und durch die Annahme in Virginia und New York auch politische Geltung erlangt hatte, lehnte North Carolina den Entwurf im August 1788 mit 183 zu 83 Stimmen ab.235 Damit blieb es zusammen mit Rhode Island zunächst außerhalb der Union. Beide Staaten setzten jedoch in der Folgezeit einen neuen Ratifizierungskonvent an und nahmen die Verfassung im zweiten Anlauf im November 1789 (North Carolina) bzw. Mai 1790 (Rhode Island) an, jeweils mit der Empfehlung, noch amendments anzufügen.236 f) Bildung des neuen Staates Bereits nach der Ratifizierung der Verfassung durch den neunten Staat hatte der Konföderationskongreß Anfang Juli 1788 ein Komitee beauftragt, die Anordnung von Wahlen für die neue Regierung vorzubereiten.237 Im September 1788 setzte der Kongreß die Wahl des Präsidenten für Februar 1789 an und beschloß, daß die neue Regierung ihre Arbeit am 4. März 1789 in der Hauptstadt New York aufnehmen solle. Mit diesem Beschluß besiegelte der Konföderationskongreß seine eigene Auflösung; seine letzte Sitzung hielt er am 2. März 1789 ab.238 Die Einzelstaaten gingen daran, die Wahlmänner für die Präsidentenwahl und die Kongreßmitglieder zu wählen, wobei die Abgeordneten des Repräsentantenhauses von den wahlberechtigten Bürgern und die Senatoren von den Parlamenten bestimmt wurden. Ein Großteil der Mitglieder beider Häuser des Kongresses waren Federalists.239 Zum Präsidenten wurde einstimmig George Washington gewählt, Vizepräsident wurde John Adams. Am 30. April 1789 wurde Washington in sein neues Amt eingeführt.240 Den politischen Akteuren war klar, daß ihre Entscheidungen Vorbildfunktion haben würden und den späteren Charakter der amerikanischen Politik und ihrer Prozesse entscheidend prägen würden. Als eine seiner ersten Aufgaben befaßte sich der neue Kongreß mit der Organisation der Exekutive, da die Verfassung 234 235 236 237 238 239 240

s. Adams, A. und W. P., Einleitung (1994), S. XXXV f. Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1068 f. Vgl. Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1072 und 1074. Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1068. s. Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1069 f. Kelly, A. H./Harbison, W. A./Belz, H., Constitution (1983), S. 123. Heideking, J., Geschichte (1996), S. 75.

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nur die „einzelnen Abteilungen der Exekutive“ (Art. 2 Abschn. 2 Abs. 1 Hs. 2) erwähnte, nicht aber die Art oder Zahl dieser Abteilungen. Auf Initiative Madisons schuf der Kongreß die Ministerien für Auswärtige Angelegenheiten (das Department of Foreign Affairs, das kurz darauf in Department of State umbenannt wurde)241, für Finanzen (Department of Treasury) und für Krieg (Department of War). Zum Außenminister berief Präsident Washington Thomas Jefferson, Finanzminister wurde Alexander Hamilton, Kriegsminister Henry Knox. Ein weiterer von der Verfassung nicht geregelter Punkt war die Verantwortlichkeit der Minister (Secretaries). Anläßlich der Verabschiedung des Gesetzes über das Department of Foreign Affairs kam es zu einer intensiven Debatte darüber, ob der Präsident die Minister allein entlassen könne, wie es im Gesetzesentwurf für den entsprechenden Minister ausdrücklich vorgesehen war. Ein Teil der Abgeordneten war der Ansicht, daß für die Entlassung die Zustimmung des Senates nötig sei, da er laut Verfassung auch der Ernennung zustimmen mußte. Schließlich verabschiedete der Kongreß das Gesetz jedoch mit knapper Mehrheit und gestand damit dem Präsidenten die alleinige Entscheidungsbefugnis in dieser Frage zu.242 Der Kongreß widmete sich auch dem Aufbau der Judikative und verabschiedete den Judiciary Act, der am 24. September 1789 in Kraft trat und die in drei Instanzen gegliederte Bundesgerichtsbarkeit errichtete. Das Gesetz schuf neben dem in der Verfassung vorgesehenen Obersten Bundesgericht (Supreme Court) dreizehn Distriktsgerichte (Federal District Courts) und drei Bezirksgerichte (Circuit Courts) und regelte die Größe und Organisation des Supreme Court. Der Kongreß begründete darin auch das Amt des Generalstaatsanwaltes der Vereinigten Staaten (Attorney General of the United States) als Anklagevertreter vor dem Supreme Court und rechtlicher Berater der Exekutive. Ein eigenes Justizministerium wurde dagegen erst 1870 eingerichtet.243 Eine weitere wichtige Frage, die sich dem Kongreß stellte, war die Behandlung der von mehreren Staaten in ihrem Ratifizierungsbeschluß geäußerten Änderungsvorschläge, der recommended amendments. Madison, der mittlerweile von der Notwendigkeit einer Bill of Rights überzeugt war,244 nahm sich des Problems an und brachte nach Durchsicht der von den Staaten vorgeschlagenen Änderungen im Juni/Juli 1789 einen amendment-Entwurf im Repräsentantenhaus ein. Die Kammer entschied, die Änderungen nicht – wie von Madison vor241

s. Kelly, A. H./Harbison, W. A./Belz, H., Constitution (1983), S. 124 f. Kelly, A. H./Harbison, W. A./Belz, H., Constitution (1983), S. 123 f. 243 Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1072; Kelly, A. H./Harbison, W. A./Belz, H., Constitution (1983), S. 124. 244 Der Grund für seinen Gesinnungswandel war die Erkenntnis, daß die öffentliche Meinung eine Grundrechteerklärung für nötig hielt, s. Rutland, R. A., Involved (1990), S. 160 f. 242

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geschlagen – in den Text einzuarbeiten, sondern diesen unverändert zu lassen und die amendments als gesonderte Klauseln an die Verfassung anzuhängen. Der Entwurf Madisons wurde im Repräsentantenhaus und Senat überarbeitet und umfaßte schließlich zwölf Artikel, die von beiden Kammern im September 1789 verabschiedet und anschließend zur Ratifizierung an die Einzelstaaten weitergeleitet wurden. Die beiden ersten Bestimmungen fanden nicht die Zustimmung der gemäß Art. 5 nötigen Dreiviertelmehrheit von Staaten, aber die restlichen zehn amendments traten mit der Ratifizierung durch Virginia im Dezember 1791 in Kraft und stellen die Grundrechteerklärung (Bill of Rights245) der amerikanischen Bundesverfassung dar.246 Sie garantiert unter anderem die Religionsfreiheit, Rede- und Pressefreiheit, Versammlungs- und Petitionsfreiheit (amendment 1), das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen (Zusatzartikel 2), und bietet Schutz vor der Einquartierung von Soldaten und vor willkürlicher Durchsuchung, Verhaftung und Beschlagnahme (amendments 3 und 4). Auch wird die Strafverfolgung bestimmten Restriktionen unterworfen (amendment 5), unter anderem durch ausdrückliche Verankerung des ne bis in idem – Grundsatzes, und die Verhängung von Strafen wird durch das Verbot übermäßiger Kautionen und Geldstrafen und grausamer oder ungewöhnlicher Strafen beschränkt (Zusatzartikel 8). Weiterhin wird das Recht auf Prozesse vor einem Geschworenengericht in Straf- und bestimmten Zivilverfahren festgeschrieben (Zusatzartikel 6 und 7). Das neunte amendment betont, daß die Aufzählung bestimmter Rechte in der Verfassung nicht dahingehend ausgelegt werden darf, daß deshalb andere (nicht genannte) Rechte des Volkes versagt oder eingeschränkt werden dürfen. Diese Ge- und Verbote sollten ursprünglich sowohl für die Bundesregierung als auch für die Einzelstaaten gelten, im Senat wurden sie jedoch so abgeändert, daß sie nur noch für den Bund galten (s. Zusatzartikel 1: „Congress shall make no law . . .“).247 Im zehnten Zusatzartikel wird festgelegt, daß die Kompetenzen, die von der Verfassung weder den Vereinigten Staaten übertragen noch den Einzelstaaten entzogen werden, den Einzelstaaten oder dem Volk vorbehalten bleiben.

245 Auf deutsch abgedruckt in Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 442–452; der englische Originaltext (mit deutscher Übersetzung) findet sich beispielsweise in Adams, A. und W. P., Federalist (1994), S. 568–587. 246 Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1070–1072 und 1075; Kelly, A. H./Harbison, W. A./Belz, H., Constitution (1983), S. 121 f.; Rutland, R. A., Involved (1990), S. 161 f. 247 Kelly, A. H./Harbison, W. A./Belz, H., Constitution (1983), S. 122; Rutland, R. A., Involved (1990), S. 162.

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g) Politische Entzweiung von Madison und Hamilton Hamiltons vordringlichste Aufgabe als Finanzminister bestand darin, die noch aus dem Krieg stammenden und weiter angewachsenen Staatsschulden zu konsolidieren. Der Kongreß hatte im Juli 1789 in zwei Gesetzen Import- und Tonnagezölle festgelegt und der Union damit ein Einkommen verschafft; nun galt es, mit diesem Geld die Schuldenlast zu mindern.248 Allerdings beschränkte Hamilton sich nicht nur auf die Lösung dieses aktuellen Problems, sondern entwarf ein umfassendes Finanzprogramm, das die amerikanische Wirtschaft durch eine aktive Investitionspolitik und die Förderung der Industrialisierung stärken sollte. Über Einzelheiten und Durchsetzung dieses Programms sollten er und Madison sich politisch entzweien. Das Programm Hamiltons, das er in mehreren Berichten (Reports) dem Kongreß vorlegte, umfaßte folgende Bereiche: die Behandlung der Schulden der Union, die Behandlung der Schulden der Einzelstaaten, die Errichtung einer Nationalbank und die Förderung des amerikanischen Manufakturwesens.249 (1) Hamiltons Finanzprogramm In seinem ersten Bericht, jenem über den öffentlichen Kredit (Report on the Public Credit) vom Januar 1790, schlug Hamilton vor, die Staatsschuld in Höhe von insgesamt $ 54 Millionen zu fundieren, d. h. den Betrag zur Begleichung dieser Schuld durch die Ausgabe neuer Wertpapiere in gleicher Höhe aufzubringen.250 Während Hamilton den europäischen Gläubigern die Schulden in Höhe von insgesamt etwa $ 12 Millionen zurückzahlen wollte, sollten die amerikanischen Gläubiger langfristig an den Staat gebunden werden.251 Ein Großteil der Amerikanern geschuldeten Summe in Höhe von etwa $ 42 Millionen bestand aus Schuldverschreibungen, die während der Revolutionsjahre ausgegeben worden waren und kontinuierlich an Wert verloren hatten.252 Die Fundierung der Schulden diente insofern dem Ziel, die Attraktivität der staatlichen Schuldverschreibungen zu erhöhen. Mit diesem Griff versuchte Hamilton eine sichere und zugleich rentable Anlageform zu schaffen, mit der er amerikanisches Kapital langfristig an den jungen Staat binden konnte.253 Er forderte, die Zinszahlung

248

Heideking, J., Geschichte (1996), S. 77; Sautter, U., Geschichte (1994), S. 107 f. s. Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 345. 250 s. hierzu Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 345; Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 216. 251 Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 216. 252 Vgl. Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 134; Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 216. 253 Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 346; Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 216. 249

72

B. Einführender Überblick

in Hartgeld und die Annahme der Schuldverschreibungen zum Nennwert zu garantieren, und zwar zugunsten aller aktuellen Inhaber der Zertifikate. Dieser Teil des Plans traf unter anderem auch bei Madison auf Widerstand, da viele der ursprünglichen Gläubiger die Schuldverschreibungen in den zurückliegenden Jahren zu einem viel geringeren Wert weiterverkauft hatten. Oft waren sie hierzu durch die schlechte wirtschaftliche Lage gezwungen gewesen. Über drei Fünftel der Papiere befand sich daher in den Händen von Spekulanten, die durch Hamiltons Vorschlag begünstigt wurden, während die „einfachen Bürger“, die dem Staat in Kriegszeiten ihr Geld geliehen hatten, leer ausgingen. Madison schlug daher im Repräsentantenhaus vor, nur die Schuldverschreibungen zum Nennwert anzuerkennen, die sich noch in den Händen der ursprünglichen Gläubiger befanden, die anderen dagegen nur zum – darunterliegenden – höchsten Marktwert, den sie je erbracht hatten. Hiermit konnte er sich jedoch nicht durchsetzen, da befürchtet wurde, dies könne die angestrebte Wiederherstellung der amerikanischen Kreditwürdigkeit gefährden. Zudem hatten Investoren, unter ihnen auch viele Abgeordnete, Hamiltons Pläne vorausgeahnt und versucht, möglichst viele Schuldverschreibungen aufzukaufen. Dieses Eigeninteresse trug dazu bei, daß Hamiltons Plan mit großer Mehrheit vom Kongreß angenommen wurde.254 Als weiteren Punkt in seinem Bericht forderte Hamilton, die Union solle nicht nur ihre eigenen Schulden bereinigen, sondern auch die Schulden der Einzelstaaten in Höhe von etwa $ 25 Millionen übernehmen und in gleicher Weise behandeln. Dieser Vorschlag stieß auf heftigen Widerstand in den Staaten, die ihre Schulden bereits weitgehend beglichen hatten, so vor allem Virginia, Maryland, North Carolina und Georgia. Denn er hätte eine frappierende Ungleichbehandlung der einzelnen Staaten und ihrer Bürger bedeutet, da die südlichen Staaten (mit Ausnahme von South Carolina) ihre Bürger hoch besteuert hatten, um ihre Schulden zu tilgen, während die Bürger der anderen Staaten dieser Belastung nun entkommen sollten. Prinzipiell wegen dieser Ungleichheit und als Abgeordneter und Interessenvertreter Virginias wandte sich Madison auch gegen diesen Plan Hamiltons. Schließlich fand sich jedoch ein Kompromiß: Hamilton machte gewisse Zugeständnisse an die genannten Staaten und verhalf dem Wunsch Virginias zum Erfolg, die Hauptstadt der Vereinigten Staaten aus dem Norden an den Potomac zu verlegen, der die Grenze zwischen Virginia und Maryland bildete. Im Gegenzug stimmte Virginia für Hamiltons Vorschlag, der damit angenommen wurde.255

254 s. Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 134 f.; Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 216 f. 255 Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 135 f.; Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 217.

II. Historischer Überblick Nordamerika/USA

73

Im Dezember 1790 legte Hamilton dem Kongreß einen zweiten Bericht vor, den Bericht über eine Nationalbank (Report on a National Bank). Hierin schlug er die Schaffung einer Nationalbank, der Bank of the United States, vor, einer Aktiengesellschaft, deren Anteile zu einem Fünftel in der Hand des Finanzministeriums liegen sollten, die restlichen vier Fünftel dagegen in privaten Händen. Diesem Ansinnen standen jedoch Jefferson und auch Madison ablehnend gegenüber, da sie es für verfassungswidrig hielten. Ihrer Ansicht nach ermächtigte die Verfassung den Kongreß nicht zur Errichtung einer solchen Bank, da sie ihm dieses Recht nicht ausdrücklich zugestand.256 Hamilton dagegen vertrat die Ansicht, daß die Verfassung weit auszulegen sei. Da dem Kongreß alle Befugnisse zustünden, die „necessary and proper“, d. h. notwendig und angemessen seien (Art. 1 Abschn. 8), seien nur die Betätigungen des Kongresses verfassungswidrig, die ihm ausdrücklich verboten seien. Obwohl Madison selbst diese Ansicht noch in den Federalist-Essays vertreten hatte,257 bestand er nun auf einer engen Auslegung, da er Hamiltons gesamtes Finanzprogramm mit Sorge sah und bei einer extensiven Verfassungsauslegung eine Ausdehnung der Macht der Bundesregierung zu Lasten der Staaten und der Freiheit der Bürger fürchtete. Der Kongreß beschloß die Errichtung der Bank jedoch mit knapper Mehrheit, und nach anfänglichem Zögern unterzeichnete auch Präsident Washington das Gesetz im Februar 1791.258 Mit seinem dritten großen Vorhaben, der Förderung der Industrialisierung in den Vereinigten Staaten, scheiterte Hamilton dagegen. In seinem Bericht über die Manufakturen (Report on Manufactures) von Dezember 1791 forderte er Schutzzölle auf ausländische Importe, um das einheimische Manufakturwesen zu schützen und zu fördern. Auch dieser Vorschlag Hamiltons wurde von Madison und Jefferson abgelehnt, und auch der Kongreß entschied sich dagegen, da Importzölle die Haupteinnahmequelle der USA darstellten und man wegen der Wettbewerbsverzerrung steigende Preise fürchtete.259 (2) Entstehung des ersten Parteiensystems Diese Auseinandersetzungen über Hamiltons Finanzprogramm wirkten als Katalysator für die Entwicklung des ersten amerikanischen Parteiensystems. Zwar hatte es bereits vor der Unabhängigkeit in einigen Kolonien politische Gruppierungen gegeben; allerdings waren sie meist unbeständig und stellten 256

Die Argumente Jeffersons finden sich in Jefferson, Th., Writings (1994), S. 416–

421. 257

Nr. 44, S. 273–275. Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 136 f.; Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 217 f.; Kelly, A. H./Harbison, W. A./Belz, H., Constitution (1983), S. 130 f. 259 s. Blum, J. M. u. a., Experience (1993), S. 137; Boyer, P. S. u. a., Vision (1993), S. 218 f. 258

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B. Einführender Überblick

keine bleibenden Zusammenschlüsse dar, sondern formierten sich je nach den anstehenden Problemen neu. Bei ihnen handelte es sich also nach heutigem Verständnis nicht um Parteien (parties), sondern vielmehr um Faktionen (factions).260 Während Parteien sich aufgrund gemeinsamer Ziele oder Interessen bilden und politische Macht nicht nur als Selbstzweck, sondern als Mittel zur Durchsetzung ihrer Prinzipien anstreben, basieren Faktionen auf persönlichen Verbindungen, ohne ein zugrundeliegendes Prinzip zu haben, und streben nach der Macht um ihrer selbst und der Posten willen, die sie ihnen verschaffen würde.261 Diese Differenzierung bildete sich in der damaligen Zeit aber gerade erst heraus, überwiegend wurden die beiden Begriffe noch synonym verwendet.262 Politische Gruppierungen wurden damals insgesamt, dem überkommenen Verständnis entsprechend, negativ angesehen, als „Krankheit“, die den politischen Prozeß und das Gemeinwohl gefährdete. Ihnen wurde vorgeworfen, nur auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein, und das Betreiben einer dauerhaften Opposition wurde als potentiell aufrührerisch und staatsgefährdend verstanden.263 Exemplarisch ist insofern der Ausspruch Jeffersons, der sagte „If I could not go to heaven but with a party, I would not go at all“.264 Und auch Washington warnte in seiner Farewell Address (Abschiedsbotschaft) von September 1796 vor den „baneful effects of the Spirit of Party“,265 den verhängnisvollen Auswirkungen des Parteiengeistes. Angesichts des von Hamilton propagierten Finanzprogramms, der ihm zugrundeliegenden Überzeugungen und der Auswirkungen auf die Entwicklung des Staates begannen seine Gegner, unter ihnen auch Madison und Jefferson, jedoch, sich dauerhaft zu formieren. Sie bezeichneten sich als Republicans, während Hamiltons Anhänger weiterhin unter dem Namen Federalists agierten. Die Republicans betonten die agrarischen Interessen und die Rechte der Einzelstaaten, während die Federalists im Gefolge Hamiltons auf Industrialisierung und eine starke Zentralregierung setzten.266

260

Main, J. T., Antifederalist (1973), S. 135 f. Vgl. Main, J. T., Antifederalist (1973), S. 35. 262 Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 94; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 55. 263 s. Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 95; Kelly, A. H./Harbison, W. A./Belz, H., Constitution (1983), S. 133. S. beispielsweise den Ausspruch von John Quincy Adams: „In our government, opposition to the acts of the majority of the people is rebellion.“ (zitiert nach Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 188). 264 Zitiert nach Kerber, L.K., Federalist (1973), S. 6. („Wenn ich nur mit einer Partei in den Himmel kommen könnte, würde ich gar nicht gehen.“) 265 Zitiert nach Kerber, L.K., Federalist (1973), S. 13; s. auch Heideking, J., Revolution (1998), S. 36. 266 Kelly, A. H./Harbison, W. A./Belz, H., Constitution (1983), S. 133. 261

III. Anmerkungen zum Federalist

75

Diese Entstehung zweier dauerhafter Lager wurde zusätzlich durch außenpolitische Probleme gefördert, insbesondere die Frage, wie die Französische Revolution einzuschätzen sei und man sich der jungen französischen Republik gegenüber verhalten solle.267 Zunächst war die Revolution in Amerika fast durchweg auf Zustimmung gestoßen; die Hinrichtung Ludwigs XVI. Anfang 1793 führte jedoch zu einem spürbaren Meinungsumschwung. Allerdings blieben die Republicans ihren Sympathien für die Revolutionäre treu, und auch der Terror änderte nichts an ihrer Einstellung.268 Die Federalists dagegen suchten die Annäherung an England, da ihnen an guten Handelsbeziehungen zum ehemaligen Mutterland lag und sich schon bei den Friedensverhandlungen in Paris angedeutet hatte, daß Frankreich an einer Schwächung der USA interessiert war, um sie zu seinem Spielball zu machen.269 Im Zuge der Konsolidierung der politischen Lager wandelte sich allmählich die Ansicht über politische Parteien. Schon während der Debatte 1787/88 waren politische Gruppierungen weitgehend toleriert worden, wenn auch meist nur als notwendiges Übel.270 In der Folgezeit setzte sich mehr und mehr die Auffassung durch, daß Parteien nicht nur geduldet werden mußten, sondern für das Funktionieren des neuen Staates sogar notwendig waren.271 So entschärften Madison und Jefferson dadurch, daß sie sich an die Spitze einer Bewegung setzten, die die im Volk gärende Unzufriedenheit aufgriff und thematisierte, ihr aufrührerisches und gefährliches Potential. Sie kanalisierten diese Opposition unter dem Banner der Verfassung und repräsentierten sie als eine den eigentlichen Geist der Verfassung bewahrende Bewegung.272

III. Anmerkungen zum Federalist Vor der eingehenden Untersuchung des Federalist bedarf es der Erörterung zweier strittiger Punkte, die sich aus der Beteiligung mehrerer Autoren an dem Projekt ergeben, und es soll kurz auf die bleibende Bedeutung des Werkes eingegangen werden.

267 s. hierzu Heideking, J., Revolution (1998), S. 35 f.; Kelly, A. H./Harbison, W. A./Belz, H., Constitution (1983), S. 133; Kerber, L. K., Federalist (1973), S. 12. 268 Heideking, J., Revolution (1998), S. 35. 269 s. Kerber, L. K., Federalist (1973), S. 12. 270 Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 95. 271 Zu ihren Funktionen s. Kelly, A. H./Harbison, W. A./Belz, H., Constitution (1983), S. 133; Kerber, L. K., Federalist (1973), S. 5. 272 Adair, D., Madison (1946), S. 138.

76

B. Einführender Überblick

1. Keine „Persönlichkeitsspaltung“ Publius’ Angesichts der späteren politischen Entzweiung von Hamilton und Madison und der sich dort offenbarenden Unvereinbarkeit ihrer politischen Überzeugungen stellt sich die Frage, ob diese Differenzen nicht schon im Keim im Federalist angelegt und bereits diesen früher entstandenen Aufsätzen zu entnehmen sind. Die Beiträge Jays sind in diesem Zusammenhang zu vernachlässigen, da sie nur einen geringen Umfang haben und sich inhaltlich nicht mit den Themen Hamiltons und Madisons überschneiden: während letztere sich in erster Linie mit den innerstaatlichen Problemen der Konföderation und ihrer Lösung durch die neue Verfassung beschäftigten, schrieb Jay über die außenpolitischen, internationalen Aspekte. Teilweise wird angenommen, daß die unterschiedlichen Überzeugungen Hamiltons und Madisons schon im Federalist erkennbar sind, daß sich dieser also nicht als Werk des einen Autors Publius darstellt, sondern vielmehr unverkennbar die Handschrift zweier Personen trägt. Nach dieser Ansicht spricht Publius mit gespaltener Zunge bzw. ist – mit dem Ausdruck von Douglass Adair – eine split personality, eine gespaltene Persönlichkeit.273 Diese umfaßt einerseits den hamiltonschen, nationalistischen Publius als Vertreter einer starken Zentralregierung, andererseits den madisonschen, föderalistischen Publius, der die Notwendigkeit der Machtverteilung zwischen der Zentralregierung und den Einzelstaaten betont.274 Andere Autoren, die sich mit den Publius-Essays auseinandergesetzt haben, halten diese Ansicht jedoch nicht für überzeugend und sehen keine nennenswerten Unterschiede zwischen den Äußerungen Hamiltons und Madisons als Pu-

273 s. Adair, D., Authorship (WMQ 1, 1944), S. 242. Von der „Persönlichkeitsspaltung“ Publius’ überzeugt sind auch Dietze, G., Classic (1962), S. 19–21, ders., Theory (1952), S. 11 (s. auch die Gliederung der Untersuchungen jeweils getrennt nach den drei Autoren) und Mason, A.T., Split (AHR 57, 1952), S. 634–641. Im Gegensatz zu Carey, G. W., Split (RoP 46, 1984), S. 20, Fn. 5, halte ich Beloff, M., Introduction (1948) nicht für einen Vertreter dieser Ansicht. Zwar schreibt er auf S. VII: „The fact that the Federalist is not the work of a single mind is one of the reasons for which it must stand somewhat apart in any collection of the great texts of political science“, aber auf S. XLVI weist er ausdrücklich darauf hin, daß „[i]n spite of the differences in outlook and background which were within a few years to separate in their political activity, Madison on the one hand, from Jay and Hamilton on the other, it is fair to say that for the student of political theory, what these writers have in common is more striking than their differences. It is legitimate to take the Federalist as it stands as a coherent, independent and largely self-sufficient treatment of the problem of political organization as it presented itself in a particular setting.“ Auch Wright, B. F., Introduction (1961), scheint mir eher von der Einheit des Federalist auszugehen; s. etwa S. 12, und ders., Nature (Ethics 59, 1949), S. 26 f. 274 Adair, D., Authorship (WMQ 1, 1944), S. 242; Mason, A.T., Split (AHR 57, 1952), S. 638 f.

III. Anmerkungen zum Federalist

77

blius.275 Nach ihrer Auffassung ist der Federalist als Werk eines Autors zu lesen.276 Diese Ansicht wird auch in der vorliegenden Arbeit vertreten, denn dies war die Intention der Autoren,277 die nicht nur ihre Identität, sondern auch die Beteiligung mehrerer Verfasser hinter einem einzigen Pseudonym verbargen. Zudem stellten die Autoren in den Publius-Essays bewußt ihre persönlichen Präferenzen zurück, um dem in Philadelphia errungenen Verfassungsentwurf zum Durchbruch zu verhelfen. Dieser entsprach weder dem Idealbild Hamiltons noch Madisons,278 aber beide Politiker hatten sich bereits in Philadelphia zu ihm bekannt und ihn mit unterzeichnet. Nach Abschluß der Beratungen hatte Hamilton im Verfassungskonvent darauf hingewiesen, daß der Entwurf weit hinter seinen Vorstellungen von einer starken Zentralregierung zurückbleibe, daß er aber immer noch weitaus besser sei als die bestehenden Konföderationsartikel und er es deshalb für ratsam und geboten halte, den Entwurf mit zu unterzeichnen.279 Den Autoren des Federalist war klar, daß ihre Vorstellungen, die sich in den Beratungen nicht hatten durchsetzen können, mit der Verabschiedung der Verfassung durch den Konvent obsolet geworden waren und daß nach dem monatelangen Ringen um für alle Seiten akzeptable Kompromisse jetzt nur noch die Alternative bestand, dem Entwurf zur Ratifizierung zu verhelfen oder mit dem Vorhaben, die Zentralregierung zu stärken, zu scheitern. Sowohl Hamilton als auch Madison hielten den Verfassungsentwurf für die beste unter den gegebenen Umständen mögliche Entscheidung und befürworteten die Struktur des

275 Die Thesen Adairs und Masons hinsichtlich der split personality widerlegt ausführlich Carey, G. W., Split (RoP 46, 1984), s. insbesondere S. 7–18. Er kommt zu dem Ergebnis, daß eine Analyse des Federalist keine Anhaltspunkte für die split personality-These bietet, s. S. 5 und 18 f. 276 Dieser Ansicht sind etwa von Bose, H., Mischverfassung (1989), S. 20–22; Carey, G. W., Design (1989), S. XXIX; Diamond, M., Federalist (1964), S. 574; Epstein, D. F., Theory (1984), S. 2; Furtwangler, A., Authority (1984), S. 24 f., 32, 42, 84; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 43; wohl auch Rakove, J.N., Uses (1987), S. 248; Rossiter, C., Introduction (1964), S. XV; Taylor, Q. P., Essential (1998), S. 20. 277 s. Carey, G. W., Design (1989), S. XXIX. 278 So hatte sich Madison beispielsweise vehement gegen die Sitzverteilung nach Staaten im Senat ausgesprochen und für eine Kopplung der Repräsentation an die Bevölkerungszahl gekämpft, s. Bailyn, B. u. a., Republic (1977), S. 335. Hamiltons Vorstellungen wichen noch viel stärker vom Verfassungsentwurf ab. Er hatte sie dem Verfassungskonvent im Juni in einer Rede dargestellt, in der er die englische Verfassung als beste der Welt lobte und andeutete, daß er persönlich einer Monarchie den Vorzug geben würde. Da er ihre Einführung in Amerika jedoch nicht für möglich hielt, propagierte er eine starke Zentralregierung, die etwa eine Exekutive und einen Senat auf Lebenszeit vorsah. Zudem sollte die Zentralregierung die Gouverneure der Einzelstaaten ernennen; s. Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1051; Beloff, M., Introduction (1948), S. XXV f. 279 Wright, B. F., Introduction (1961), S. 1.

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B. Einführender Überblick

neuen Regierungssystems; sie waren also in den grundlegenden Punkten durchaus einer Meinung. Die Behandlung des Federalist als Werk eines Autors soll nicht in Abrede stellen, daß es sowohl Wiederholungen als auch gewisse Diskrepanzen zwischen einigen der Essays gibt. Diese haben ihre Ursache aber nicht in den unterschiedlichen Überzeugungen der beiden Hauptautoren, sondern sind den erörterten Problemen inhärent bzw. folgen aus der Mehrdeutigkeit der Verfassung selbst.280 So war etwa die nach heutigen Begriffen föderale, bundesstaatliche Staatsform damals ein Novum, für das es noch keinen Begriff gab und das mit den Worten Publius’ „streng genommen weder eine nationale noch eine föderale Verfassung, sondern eine Verbindung von beidem“ darstellte.281 Andere (scheinbare) Inkongruenzen ergeben sich daraus, daß die Autoren in verschiedenen Essays unterschiedliche Aspekte derselben Sache betonen, beispielsweise Hamilton die Notwendigkeit einer starken Zentralregierung und Madison die Grenzen, die der Zentralregierung gesetzt werden.282 Dies muß aber keinen Widerspruch darstellen, sondern kann auch lediglich eine ergänzende Sicht desselben Phänomens sein.283 Solche Diskrepanzen werden gegebenenfalls an der jeweiligen Stelle untersucht werden;284 sie rechtfertigen aber keine Behandlung des Federalist getrennt nach den drei Autoren. 2. Urheberschaft der Essays Die Zusammenarbeit mehrerer Autoren unter dem Pseudonym Publius führte daneben zu einer weiteren Kontroverse: dem Streit um die Autorschaft der einzelnen Essays. Zwar wurde anläßlich des Erscheinens der französischen Federalist-Ausgabe im Jahre 1792 bekanntgegeben, daß es sich um das gemeinsame Werk von Hamilton, Madison und Jay handelte; die einzelnen Aufsätze wurden aber nicht ihrem jeweiligen Autor zugeordnet. Als ein New Yorker Drucker, George F. Hopkins, im Jahr 1802 eine dritte amerikanische Ausgabe der Essays

280 Carey, G. W., Split (RoP 46, 1984), S. 19 f.; Rakove, J. N., Uses (1987), S. 248; Rossiter, C., Introduction (1964), S. XV. 281 Nr. 39, S. 232. 282 Taylor, Q. P., Essential (1998), S. 20. 283 Dieser Gesichtspunkt klingt auch bei Adair an, obwohl er an anderer Stelle von einer split personality ausgeht, s. Adair, D., Authorship (WMQ 1, 1944), S. 248: „Moreover, although he and Hamilton subscribed to differing political theories and viewed the Constitution from opposite angles, this divergence promised to be an advantage that would increase ,Publius’‘ persuasiveness. When the two men touched on the same topic their papers would supplement each other instead of presenting repetitious arguments.“ (Hervorhebung von mir) 284 So auch von Bose, H., Mischverfassung (1989), S. 22; Epstein, D. F., Theory (1984), S. 2; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 43.

III. Anmerkungen zum Federalist

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herausgeben wollte (die zweite war bereits 1799 erschienen), bestand Hamilton darauf, daß der Name des jeweiligen Autors nicht bei den einzelnen Essays vermerkt werden sollte. Der Grund für diese Weigerung lag darin, daß sowohl Hamilton als auch Madison mittlerweile andere politische Ansichten vertraten als zur Zeit der Ratifizierungsdebatte und daher kein Interesse daran hatten, mit ihren früheren Auslegungen der Verfassung konfrontiert zu werden.285 So hatte Hamilton beispielsweise in den Essays 26 und 28 die Bedeutung der Einzelstaaten für die Sicherung der Freiheit des Volkes betont, später dagegen versucht, die Zentralregierung zu Lasten der Einzelstaaten so weit wie möglich zu stärken. Auch Madison hatte sich in Nr. 44 für eine weite Verfassungsauslegung ausgesprochen, während er später als Reaktion auf Hamiltons Finanzprogramm eine enge Auslegung propagierte.286 Erst angesichts seines Duells mit Aaron Burr und der Möglichkeit eines tödlichen Ausgangs ging Hamilton im Jahre 1804 daran, seine Angelegenheiten zu ordnen, und hinterließ im Rahmen dessen bei einem Freund, Egbert Benson, eine Liste, auf der er die einzelnen Publius-Essays einem der drei Koautoren zuordnete.287 Madison äußerte sich erst Jahre später zu dieser Frage. Anläßlich der Neuauflage der Federalist Papers durch Jacob Gideon im Jahr 1818 stellte er Gideon seine Ausgabe des Federalist zur Verfügung, in der er den Namen des Autors zu Beginn des jeweiligen Aufsatzes vermerkt hatte.288 Diese Annotationen Madisons und andere (angeblich) auf ihn zurückgehende Angaben289 widersprachen in einigen Punkten der „Benson-Liste“ und anderen indirekt auf Hamilton beruhenden Angaben.290 Die Stellungnahmen Hamiltons und Madisons wichen bezüglich 15 der Essays voneinander ab: beide beanspruchten Nr. 49 bis 58 und Nr. 62 und 63 für sich, und Madison gab an, Nr. 18, 19 und 20 seien von ihm geschrieben worden, während Hamilton vortrug, sie seien Gemeinschaftsproduktionen der beiden Hauptautoren gewesen.291 Madison führte die abweichenden Angaben Hamiltons in den Anmerkungen zur Gideon-Ausgabe auf die „Fehlbarkeit des Erinnerungsvermögens“ zurück und auf die Eile, in der dieser seine Auflistung

285

Adair, D., Authorship (WMQ 1, 1944), S. 99 f. s. Adair, D., Authorship (WMQ 1, 1944), S. 100–102. 287 Wright, B. F., Introduction (1961), S. 9. Die Auflistung lautete wie folgt: „Nos. 2, 3, 4, 5, 54, by J. Nos. 10, 14, 37 to 48 inclusive, M. Nos. 18, 19, 20, M. & H. jointly. All others by H.“, s. Lodge, H. C., Introduction (1888), S. XXVI. 288 Adair, D., Authorship (WMQ 1, 1944), S. 104. 289 Zu den Madison lists s. Cooke, J. E., Introduction (1961), S. XXI; Lodge, H. C., Introduction (1888), S. XXVIII. 290 Zu den Hamilton lists s. Cooke, J. E., Introduction (1961), S. XXI–XXV; Lodge, H. C., Introduction (1888), S. XXVI–XXVIII. 291 Adair, D., Authorship (WMQ 1, 1944), S. 104 f.; Cooke, J. E., Introduction (1961), S. XX; Wright, B. F., Introduction (1961), S. 9. 286

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B. Einführender Überblick

vor dem Duell verfaßt hatte; er warf seinem einstigen Mitstreiter und späteren Widersacher also keine unlauteren Motive oder Unehrlichkeit vor.292 In der Folgezeit wurde demjenigen der beiden Autoren Glauben geschenkt, dessen Stern höher am politischen Himmel stand und dessen politische Linie und Verfassungsauslegung der jeweiligen politischen Situation entgegenkam.293 In den ersten zehn Federalist-Ausgaben nach der Gideon-Edition, die zwischen 1818 und 1857 erschienen, wurde Madisons Zuordnung gefolgt; nach dem Bürgerkrieg dagegen wurden Hamiltons Angaben als maßgeblich angesehen, und zwar bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.294 Heute gilt die Kontroverse aufgrund der Nachforschungen von Douglass Adair als beigelegt. Adair geht davon aus, daß Madisons Angaben zutreffend sind295 und stützt sich dabei zunächst auf die Entstehungsumstände der jeweiligen Listen: Hamilton schrieb seine „Benson-Liste“ in Eile und in Aufregung vor dem Duell, während Madison Zeit zu reiflicher Überlegung hatte und angesichts der konfligierenden Behauptungen von Hamilton seine Angaben wohl besonders vorsichtig überprüfte.296 Auch einige Umstände der Entstehung der Essays selbst sprechen für die Zuordnung Madisons.297 Entscheidend sind für Adair jedoch die internen Beweise: er vergleicht die Staatsvorstellungen der beiden Hauptautoren miteinander und mit den umstrittenen Essays, insbesondere Nr. 51, und kommt zu dem Ergebnis, daß diese die Vorstellungen Madisons wiedergeben. Sie Hamilton zuzuschreiben, würde bedeuten, ihn als Imitator Madisons und als Heuchler abzustempeln.298 Diese Überlegungen Adairs werden gestützt durch die Forschungsergebnisse Edward Gaylord Bournes, auf die Adair verweist: Bourne hatte die umstrittenen Aufsätze mit den vorangegangenen Schriften Madisons verglichen und zahlreiche Übereinstimmungen gefunden; aufgrund dieser Ergebnisse hielt er ebenfalls Madison für den Autor.299

292

Vgl. Adair, D., Authorship (WMQ 1, 1944), S. 104. Adair, D., Authorship (WMQ 1, 1944), S. 106–112, insb. S. 106. 294 Wright, B. F., Introduction (1961), S. 9 f. Zu den Anhängern Hamiltons gehört beispielsweise Lodge, H. C., Introduction (1888), der davon ausgeht, daß Hamiltons Erinnerungsvermögen besser gewesen sei als das Madisons. Er schreibt alle umstrittenen Nummern bis auf Nr. 49–58 Hamilton zu; bei diesen letzten zehn hält er eine Zuordnung nicht für möglich, obwohl „die Waage stark zugunsten Hamilton ausschlägt“ (s. S. XXXII–XXXV). 295 s. Adair, D., Authorship (WMQ 1, 1944), S. 122, 254, 261. 296 Adair, D., Authorship (WMQ 1, 1944), S. 105 f. 297 So etwa Madisons Verbleiben in New York bis zum 4. März 1788, mit dem er seine Wahl in den Ratifizierungskonvent von Virginia gefährdete, die ebenfalls für Anfang März angesetzt war, s. Adair, D., Authorship (WMQ 1, 1944), S. 253 f. 298 s. Adair, D., Authorship (WMQ 1, 1944), S. 254–260. 299 Adair, D., Authorship (WMQ 1, 1944), S. 116 f.; Bourne, E. G., Authorship (1901), insb. S. 144. 293

III. Anmerkungen zum Federalist

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Dieser Einschätzung wird heute überwiegend gefolgt;300 es wird angenommen, daß Hamilton 51, Madison 29 und Jay fünf Essays verfaßte. Von Jay stammen die Essays Nr. 2, 3, 4, 5 und 64, während Madison Nr. 10, 14, 18–20, Nr. 37–58 und Nr. 62 und 63 schrieb. Die übrigen Aufsätze stammen von Hamilton. Die Ergebnisse Adairs werden unterstützt durch eine Computeranalyse, in der die umstrittenen Essays statistisch untersucht wurden.301 Allerdings sollte nicht übersehen werden, daß die Frage nach der Autorschaft der einzelnen Essays für das Verständnis und die Analyse des Federalist keine allzu große Rolle spielt.302 Dies gilt insbesondere für die Untersuchungen, die – wie die vorliegende Arbeit – davon ausgehen, daß die Essays als Werk eines Autors zu lesen sind und keine gravierenden Unterschiede zwischen dem hamiltonschen und dem madisonschen Publius bestehen. 3. Bedeutung der Aufsätze Zum richtigen Verständnis des Federalist ist es von Vorteil, sich zunächst noch einmal vor Augen zu führen, welches Ziel die Aufsätze verfolgten und welche bleibende Bedeutung ihnen zukommt. a) Verfassungspropaganda Der Anlaß für die Entstehung des Federalist war die anstehende Entscheidung über die in Philadelphia geschaffene Verfassung. Sein Ziel war es, dieser 300 So etwa Beard, Ch. A., Enduring (1959), S. VII; Dietze, G., Classic (1962), S. 18; Gabriel, R. H., Introduction (1954), S. XV; Rossiter, C., Introduction (1964), S. XI; Taylor, Q. P., Essential (1998), S. 20; Wright, B. F., Introduction (1961), S. 10; Zehnpfennig, B., Einleitung (1993), S. 5 und S. 518 f., Fn. 20 und 22. Anderer Ansicht ist Furtwangler, A., Authority (1984), der davon ausgeht, daß die Frage nicht zu klären ist (s. S. 30–32). Bezüglich der teilweise noch als fraglich angesehenen Nr. 62 und 63 weist Brant nach, daß auch diese Essays von Madison stammen, s. Brant, I., Settling (AHR 67, 1961), S. 72–75. Allerdings hatte auch Adair diese Essays schon unzweifelhaft Madison zugeordnet, s. Adair, D., Authorship (WMQ 1, 1944), S. 254, 261. 301 s. Mosteller, F./Wallace, D. L., Inference (1984), insbesondere S. 263 f. Dieser Untersuchung ist vorgeworfen worden, sie stütze sich auf triviale Wörter und trivialisiere so auch den Unterschied zwischen Hamilton und Madison, so etwa Furtwangler, A., Authority (1984), S. 31 f.; Kesler, Ch. R., Introduction (1999), S. XIII. Diese Folgerung scheint mir ihrerseits eine leicht polemische Trivialisierung der entsprechenden Untersuchung zu sein, denn Hauptaugenmerk der Autoren war nicht die Frage der Autorschaft, sondern vielmehr die Darstellung zweier unterschiedlicher statistischer Methoden der Klassifizierung, s. Mosteller, F./Wallace, D. L., a. a. O., S. 2. Zudem führt die Untersuchung trotz oder vielmehr wegen der Verwendung „trivialer“ Wörter zu definitiven Ergebnissen und trägt damit zu einer Klärung der Frage nach der Autorschaft aus einem anderen Blickwinkel als dem rein historischen bei. 302 So auch Ashley, W. J., Introduction (1948), S. XIV; Earle, E. M., Note (1937), S. XXII.

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B. Einführender Überblick

Verfassung zum Durchbruch zu verhelfen. Die Aufsätze warben für den Entwurf, sie wollten dazu beitragen, seine Annahme im Staat New York durchzusetzen. Bei den Essays handelt es sich also um ein politisches Plädoyer, um Propaganda, die die Vorzüge der neuen Verfassung herausstellt und versucht, die Argumente der Gegner zu entkräften. Trotz ihres werbenden Stils und der Verwendung entsprechender rhetorischer Mittel wie etwa Schmeicheleien 303 ist der Ton der Aufsätze ruhig. Publius selbst mahnt im ersten Essay zur Mäßigung,304 er bleibt sachlich und beschränkt sich auf die Diskussion der Verfassung, ohne beispielsweise die politischen Gegner persönlich anzugreifen oder einen Sündenbock für die bestehenden Probleme zu suchen.305 Er betont sogar, daß auch die Anhänger der Opposition „durch ehrliche Absichten motiviert sind“ und ihre „Opposition mindestens aus makellosen, wenn nicht ehrenwerten Beweggründen her[rührt] – ehrlichen Fehleinschätzungen“, da „es so viele und so gewichtige Gründe [gibt], die zu einer falschen Beurteilung führen können, daß man bei vielen Gelegenheiten kluge und aufrechte Männer auf der richtigen wie auf der falschen Seite solcher . . . Fragen findet“ (Nr. 1, S. 2). Der Federalist kann seinen publizistischen Hintergrund und die Eile, in der viele der Essays geschrieben wurden, nicht verbergen: er enthält zahlreiche Wiederholungen bestimmter Themen und Argumente, und zwischen einigen Aufsätzen bestehen Inkongruenzen.306 Mißt man die Essays an ihrem unmittelbaren Ziel, die Ratifizierung der Verfassung in New York zu fördern, so muß man sagen, daß sie wohl keinen direkten Einfluß hatten.307 Die Wahlen zum Ratifizierungskonvent beeinflußten sie offensichtlich nicht, da die Wähler sich zu zwei Dritteln für Konventsmitglieder entschieden, die anti-federalistisch eingestellt waren. Allerdings halfen sie den federalistischen Delegierten der noch tagenden Ratifizierungskonvente New York und Virginia, indem sie ihnen Argumentationsmuster an die Hand gaben.308

303 Adams, A. und W. P., Einleitung (1994), S. XLV; Zehnpfennig, B., Einleitung (1993), S. 9. 304 Nr. 1, S. 2. 305 Kesler, Ch. R., Introduction (1999), S. XI; Wright, B. F., Introduction (1961), S. 6 und 80; ders., Nature (Ethics 59, 1949), S. 29 f. 306 Gebhardt, J., Federalist (1987), S. 61; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 42. 307 Während früher eher die Ansicht vertreten wurde, der Federalist sei der Ratifizierung dienlich gewesen, wird heute überwiegend angenommen, daß er keine direkten Auswirkungen hatte. s. hierzu Dietze, G., Classic (1962), S. 4, insb. Fn. 3; und ders., Theory (1952), S. 62, Fn. 1. 308 s. Adair, D., Authorship (WMQ 1, 1944), S. 235 f., insb. S. 236 Fn. 3; Rossiter, C., Introduction (1964), S. XI.

III. Anmerkungen zum Federalist

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b) Verfassungskommentar und Leitfaden Die Bedeutung der Federalist Papers erschöpfte sich aber nicht in ihrer propagandistischen Funktion, vielmehr entwickelten sie sich mit der Annahme und dem Inkrafttreten der Verfassung zu ihrem ersten und wichtigsten Kommentar.309 Die Gründe hierfür klingen in Thomas Jeffersons Beschreibung des Werkes aus dem Jahre 1825 an, in der er ausführt, daß The Federalist nach der Unabhängigkeitserklärung die beste Anleitung bezüglich der Regierungsprinzipien der Vereinigten Staaten sei. Das Buch sei eine Autorität, die ständig von allen zu Rate gezogen werde, und nur selten werde bestritten, das es Zeugnis ablege von den Ansichten der Verfassungsväter und derer, die die Verfassung angenommen hatten, im Hinblick auf Fragen über die wahre Bedeutung dieses Dokumentes.310 Die Entwicklung der Publius-Briefe zum autoritativen Verfassungskommentar erklärt sich daraus, daß die Aufsätze zunächst in einzigartiger Weise eine systematische und umfassende Abhandlung über das Gründungsdokument darstellen; keine der zahlreichen anderen Streitschriften behandelte die Verfassung in diesem Umfang und Detail. Zudem waren die beiden Hauptautoren der Essays als Mitglieder des Verfassungskonventes quasi Augenzeugen ihrer Entstehung gewesen; damit kam ihren Ausführungen zur Bedeutung der Verfassung ein erhöhtes Maß an „Legitimität, Autorität und Authentizität“ zu, um die Worte Clinton Rossiters zu gebrauchen.311 Dieses Prestige wurde noch dadurch verstärkt, daß einer der Autoren in herausragender Weise an der Entstehung der Verfassung beteiligt gewesen war und sogar als Father of the Constitution (Vater der Verfassung) angesehen wurde: die grundlegende Struktur basiert auf dem Virginia Plan, bei dessen Abfassung Madison federführend gewesen war.312 Zwar hatte der Federalist unbestreitbar seine Schwächen, aber auch wenn die Essays teilweise in großer Eile geschrieben worden waren, sprachen aus ihnen jahrelanges Studium und erhebliche politische Erfahrungen der drei Autoren.313

309 Lodge, H. C., Introduction (1888), S. XLIII; Rossiter, C., Introduction (1964), S. VII; Wills, G., Introduction (1982), S. XI. Zu frühen Bezugnahmen auf The Federalist v. a. im Kongreß und vor Gericht bzw. in gerichtlichen Entscheidungen s. Rakove, J.N., Uses (1987), S. 235–247. 310 „. . . that on the distinctive principles of the government . . . of the United States, the best guides are to be found in, 1. The Declaration of Independence . . . 2. The book known by the title of ,The Federalist,‘ being an authority to which appeal is habitually made by all, and rarely declined or denied by any as evidence of the general opinion of those who framed, and of those who accepted the Constitution of the United States, on questions as to its genuine meaning.“ s. Jefferson, Th., Writings (1994), S. 479. 311 Rossiter, C., Introduction (1964), S. VII. 312 Beloff, M., Introduction (1948), S. VII. 313 Vgl. Rossiter, C., Introduction (1964), S. XV.

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B. Einführender Überblick

Aufgrund des hohen Ansehens des Federalist beeinflußten die von Publius geäußerten Vorstellungen nun ihrerseits die Umsetzung der Verfassung und die Gestaltung der neuen staatlichen Ordnung.314 Indem sie das von der Verfassung errichtete Gerüst auskleideten und ihre „wahre“ Bedeutung darlegten, gaben sie den politischen Akteuren eine Anleitung zum Aufbau des neuen Staates an die Hand. Die Interpretation des Gründungsdokumentes gerade in den ersten Jahren der Republik folgte vielfach dem vom Federalist vorgezeichneten Weg, so etwa in der Frage des judicial review, nach einem Normenkontrollrecht des Obersten Gerichtes, die Chief Justice John Marshall 1803 im Fall Marbury v. Madison positiv beantwortete.315 Der Federalist erschöpfte sich also nicht in der rein deskriptiven Beschreibung der Verfassungswirklichkeit; er hatte vielmehr auch präskriptive, normative Wirkung und trug zur Gestaltung des Verfassungslebens bei. Allerdings irrte sich Publius auch in einigen Fragen, etwa als er davon ausging, der Senat müsse der Entlassung von Ministern zustimmen. Zudem sah der Federalist einige Entwicklungen nicht vorher, wie etwa die Rolle, die die politischen Parteien in der jungen Republik spielen würden.316 Dennoch hat er die staatliche Ordnung so grundlegend mitgeprägt, daß er nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Er wird auch heute noch als maßgeblicher Verfassungskommentar angesehen und zur Erforschung des Willens der Verfassungsväter herangezogen.317 Sein dauerhafter Einfluß und seine Bedeutung werden unter anderem daran sichtbar, daß sich neben vielen anderen Juristen und Historikern auch der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten immer wieder auf die Essays berufen und sie wiederholt in Entscheidungen zitiert hat.318 c) Staatstheoretisches Werk Bei den Publius-Briefen handelt es sich nicht um eine systematische politische Theorie oder staatsphilosophische Abhandlung: viele der für diese Gebiete grundlegenden Probleme und Fragen wurden von den drei Autoren nicht behandelt oder einfach vorausgesetzt. Der Grund hierfür lag darin, daß diese Probleme sich 1787/88 nicht stellten, sondern die Parameter des neuen Regierungs314

s. Kesler, Ch. R., Introduction (1999), S. VIII. Gebhardt, J., Federalist (1987), S. 59. 316 s. Pierson, Ch. W., Introduction (1923), S. XLVIII; Rossiter, C., Introduction (1964), S. XIII. 317 Ermacora, F., Einführung (1958), S. 30 f.; Gabriel, R. H., Introduction (1954), S. XV; Rossiter, C., Introduction (1964), S. VII; XIII. 318 Vgl. Pierson, Ch. W., Introduction (1923), S. LII f. Auf den folgenden Seiten (LIV–LIX) findet sich eine Auflistung aller damaligen Supreme Court-Fälle, in denen der Federalist zitiert wurde. 315

III. Anmerkungen zum Federalist

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systems bereits vorgegeben und unbestritten waren. So herrschte etwa Einigkeit darüber, daß nur ein republikanisches Regierungssystem in Frage kam, eine Monarchie dagegen ausschied, und auch die Frage, ob überhaupt ein Staat notwendig sei, stellte sich nicht.319 Hamilton, Madison und Jay ließen nicht nur manche Fragen unbeachtet, sondern griffen auch auf die Argumente und Ideen anderer Autoren wie etwa Locke, Hume, Harrington, Montesquieu und Reid zurück.320 Ihre Situation ist insofern vergleichbar mit der Jeffersons, als er die Unabhängigkeitserklärung verfaßte. Auf den Vorwurf, daß diese keine neuen Ideen enthalte, antwortete Jefferson, daß es absurd gewesen wäre, die Unabhängigkeit mit Ideen zu begründen, die völlig neu und unbekannt seien, oder selbst mit Ideen, die nicht allgemein akzeptiert seien.321 Ebenso absurd wäre es für die Autoren des Federalist gewesen, die Bevölkerung von der Güte der Verfassung überzeugen zu wollen, ohne auf allgemein anerkannte politische Konzepte zurückzugreifen. Allerdings ist Publius trotz der Übernahme fremder Ideen kein Epigone. Vielmehr haben seine Schöpfer die von anderen übernommenen Ideen für ihre spezifische Situation adaptiert, mit ihren eigenen Erfahrungen verbunden und so ein eigenes Konzept geschaffen. Sie haben die Gedanken anderer also nicht bloß plagiiert, sondern in bezug auf ihre konkrete historische Situation weiterentwickelt und so eigene, innovative Ideen hervorgebracht. Hierzu gehört z. B. Madisons Widerlegung der überkommenen Ansicht, daß ein republikanisches Regierungssystem nur in kleinen Staaten funktionieren könne und in großen Staaten zwangsläufig in eine Despotie umschlagen müsse. Madison hatte nämlich erkannt, daß gerade in großen Staaten die Vielfalt der Interessen die Bildung einer tyrannischen Mehrheit verhindert und dadurch eine Sicherheit für die Rechte der (zahlreichen verschiedenen) Minderheiten bietet, wie er in Nr. 10 und 51 darlegt. Eine weitere originäre Leistung Publius’ war auch seine Exposition des Bundesstaates und des Föderalismus im heutigen Sinne, der damals etwas völlig Neues darstellte und noch keinen Namen hatte, sondern als Mischung (kon)föderaler und nationaler Elemente verstanden wurde.322 Daher leisten die Essays trotz ihrer Mängel einen Beitrag zur Weiterentwicklung des staatstheoretischen Verständnisses der Moderne. Sie enthalten bleibende und allgemeingültige Erkenntnisse, die den zeitlichen und örtlichen Rahmen ihrer Entstehung transzendieren und auch heute noch relevant sind. Diese 319 s. Adams, A. und W. P., Einleitung (1994), S. XLIV–XLVII; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 42; Wright, B. F., Introduction (1961), S. 11–14 und 80 f. 320 Zur geistigen Herkunft des Federalist und dem Einfluß verschiedener Philosophen s. Beloff, M., Introduction (1948), S. LVII–LXI. 321 s. Wright, B. F., Introduction (1961), S. 82. 322 s. Rossiter, C., Introduction (1964), S. XIV und XII.

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B. Einführender Überblick

Erkenntnisse heben die Aufsätze über ihren ursprünglichen Entstehungshintergrund hinaus und verleihen ihnen – trotz ihres punktuellen Charakters und der Beschränkung auf bestimmte Probleme – bleibende Bedeutung als Werk der politischen Theorie und Staatstheorie.323

323 Beloff, M., Introduction (1948), S. VIII; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 11; Rossiter, C., Introduction (1964), S. VII; Wright, B. F., Introduction (1961), S. 12.

C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft Vor einer detaillierten Untersuchung der Staatsentwürfe Kants und des Federalist stellt sich zunächst die Frage, warum die Autoren die Existenz des Staates überhaupt für notwendig halten, wie sie also die grundlegende Frage nach der Notwendigkeit und Legitimation staatlicher Herrschaft beantworten. Dieses Problem nimmt in den Ausführungen Hamiltons, Madisons und Jays angesichts der konkreten politischen Umstände nur einen geringen Stellenwert ein; die Notwendigkeit staatlicher Autorität war während der Verfassungsdebatte unbestritten und wurde von allen politischen Gruppierungen vorausgesetzt. Streit herrschte nur über die Ausgestaltung dieser Herrschaft, d. h. über das Wie, nicht aber über das Ob des Staates. In den Erörterungen Kants spielt die Frage der Herrschaftslegitimation dagegen eine zentrale Rolle.

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates Kant greift im Rahmen seiner Ausführungen zur Notwendigkeit staatlicher Herrschaft auf drei verschiedene Begründungen zurück: er leitet diese Notwendigkeit aus eigentumstheoretischen, aus anthropologischen Erwägungen und aus der Freiheit der Menschen ab. 1. Eigentumstheoretische Begründung An erster Stelle steht dabei in der Metaphysik der Sitten die eigentumstheoretische Begründung, die die Notwendigkeit des Staates aus der Frage ableitet, ob und wie es möglich ist, Eigentum zu haben und zu erwerben. a) Die systematische Stellung von Kants Eigentumstheorie in der Metaphysik der Sitten Zum besseren Verständnis der entsprechenden Ausführungen soll zunächst ein kurzer Überblick über die Stellung von Kants Eigentumstheorie in der Metaphysik und über ihren Aufbau gegeben werden.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

(1) Unterscheidung „Privatrecht – öffentliches Recht“ Kant widmet sich der Frage, ob und wie es möglich ist, Eigentum zu haben und zu erwerben, im ersten der beiden Teile der Rechtslehre, nämlich im Privatrecht. Dieses Privatrecht befaßt sich mit „der Art, etwas Äußeres als das Seine zu haben“ und „etwas Äußeres zu erwerben“ sowie mit „der subjektiv-bedingten Erwerbung vor einer Gerichtsbarkeit“ (Metaphysik S. 314).1 Der zweite Teil der Rechtslehre, das öffentliche Recht, umfaßt dagegen das Staatsrecht, das Völkerrecht und das Weltbürgerrecht (s. S. 314).2 Kants Terminologie weicht dabei von der heutigen Begrifflichkeit ab:3 unter dem Privatrecht versteht er im Gegensatz zum heutigen Sprachgebrauch nicht die Gesamtheit der Rechtsbeziehungen verschiedener gleichgeordneter Rechtssubjekte, sondern das „natürliche . . . Recht“ (S. 350). Der Zustand des Privatrechts ist ein nicht-rechtlicher Zustand, „d. i. derjenige, in welchem keine austeilende Gerechtigkeit ist, . . . der natürliche Zustand (status naturalis)“ (§ 41, S. 423). Wenn Kant vom Privatrecht spricht, meint er die Rechtsbeziehungen der Menschen im Naturzustand und damit im vor- bzw. außerstaatlichen Zustand. Auch das öffentliche Recht definiert Kant abweichend von der heutigen Begrifflichkeit: statt damit die rechtlichen Beziehungen des einzelnen zum Staat und das dadurch begründete Über-Unterordnungsverhältnis zu charakterisieren, versteht Kant unter dem öffentlichen Recht das „bürgerliche Recht“ (S. 350), d. h. den rechtlichen oder bürgerlichen Zustand, den „status civilis“, der dem Naturzustand entgegengesetzt ist (s. § 41, S. 422 f.). Dieser Zustand ist „dasjenige Verhältnis der Menschen unter einander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann“ (S. 422 f.) oder der Zustand „einer unter einer distributiven Gerechtigkeit stehenden Gesellschaft“ (§ 41, S. 423). Dieser rechtssichernde Zustand, in dem die austeilende Gerechtigkeit verwirklicht und gesichert ist, besteht im Staat: „Dieser Zustand der einzelnen im Volke, in Verhältnis untereinander, heißt der bürgerliche (status civilis), und das Ganze derselben, in Beziehung auf seine eigenen Glieder, der Staat (civitas) . . .“ (§ 43, S. 429)

1 Diese Dreiteilung spiegelt nach Ludwig die gewaltenteilige Grundstruktur der kantischen respublica noumenon wider, indem die Besitzlehre auf die legislative Funktion, die Erwerbungslehre auf die Exekutivfunktion und der letzte Teil auf die Rechtsprechungsfunktion des Staates verweist, s. Ludwig, B., Kommentar (1999), S. 176. s. auch Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 436 ff. 2 Wie eingangs bereits erläutert, werden Textstellen aus der Rechtslehre der Metaphysik im folgenden ohne Angabe des Werkes zitiert; soweit das Zitat der Tugendlehre oder anderen Schriften Kants entstammt, werden diese angegeben. 3 s. hierzu Fulda, H. F., Systematik (1998), S. 143; Römpp, G., Exeundum (ARSP 74, 1988), S. 472.

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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(2) Inhalt des Privatrechts Der erste Teil der Rechtslehre, das Privatrecht, handelt „vom äußeren Mein und Dein überhaupt“ (S. 353). Was Kant hierunter versteht, ergibt sich aus der Einteilung der Rechtslehre, in der er unter B. die „Allgemeine Einteilung der Rechte“ vornimmt (S. 345). Hier unterscheidet Kant das angeborne Recht, das er auch das innere Mein und Dein nennt, vom erworbenen Recht, das er auch als äußeres Mein und Dein bezeichnet. Das angeborene Recht oder innere Mein und Dein ist „dasjenige Recht . . ., welches, unabhängig von allem rechtlichen Akte jedermann von Natur zukommt“, während das erworbene Recht bzw. das äußere Mein und Dein das Recht ist, „wozu ein solcher Akt erfordert wird“, welches also durch einen rechtlichen Akt erworben werden muß (s. S. 345). Während das äußere Mein und Dein verschiedene Rechte umfassen kann, gilt bezüglich des inneren Mein und Dein: „Das angeborene Recht ist nur ein einziges“. Dieses einzige angeborene Recht ist die „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“. Dieses Recht steht „jedem Menschen, kraft seiner Menschheit,“ zu. Es umfaßt auch die „angeborne Gleichheit“ (alles S. 345), deren immanente Befugnisse „wirklich nicht von ihr . . . unterschieden“ sind (S. 346). Als angeborenes Recht kommt das innere Mein und Dein den Menschen unabhängig vom Staat und damit auch im vor- oder außerstaatlichen Zustand zu. Daher wäre eine Behandlung auch dieses Rechts im Privatrecht als Recht im Naturzustand zu erwarten. Kant widmet sich im Privatrecht aber nur dem äußeren Mein und Dein und faßt es damit enger als in der oben dargelegten Definition als natürliches Recht oder Recht im Naturzustand.4 Als Grund führt Kant folgendes an: „Da es nun in Ansehung des angebornen, mithin inneren Mein und Dein keine Rechte, sondern nur ein Recht gibt, so wird diese Obereinteilung als aus zwei dem Inhalte nach äußerst ungleichen Gliedern bestehend in die Prolegomenen geworfen, und die Einteilung der Rechtslehre bloß auf das äußere Mein und Dein bezogen werden können.“ (S. 346)

Kant braucht das innere Mein und Dein unter dem Aspekt des Erwerbens und Besitzens nicht zu behandeln, da dieses Recht angeboren ist, d. h. nicht erworben werden und damit auch nicht eigens nachgewiesen werden muß.5 Die Tatsache, daß die Freiheit des Menschen nicht erworben werden muß (und kann), weist gleichzeitig darauf hin, daß sie andererseits ebensowenig veräußert werden kann.6 4 5 6

Fulda, H. F., Systematik (1998), S. 144. s. Saage, R., Eigentum (1973), S. 12. Höffe, O., Kant (1996), S. 220.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

Als äußeres Mein und Dein, mit dessen Besitz, Erwerbung und subjektiv-bedingter Erwerbung durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit sich das Privatrecht beschäftigt, kommen drei Objekte in Betracht, nämlich 1. „eine (körperliche) Sache“, 2. „die Willkür eines anderen zu einer bestimmten Tat“, und 3. „der Zustand eines anderen in Verhältnis auf mich“ (§ 4, S. 355). Die Rechtsgebiete, die sich mit der Erwerbung und Innehabung des Mein und Dein an diesen Objekten befassen, sind 1. das Sachenrecht,7 2. das persönliche Recht,8 d. h. das Vertrags- oder Schuldrecht, und 3. das auf dingliche Art persönliche Recht,9 das das Eherecht, das Elternrecht und das Hausherren-Recht umfaßt. Kant weist die Notwendigkeit und Legitimität des Staates allein im Rahmen seiner Ausführungen zum Sachenrecht nach,10 so daß sich die folgenden Erörterungen hierauf beschränken. (3) Kants Eigentumsbegriff Den Begriff „Eigentum“ wendet Kant nur auf eine der drei möglichen Objekte des äußeren Mein und Dein an, nämlich auf Sachen.11 Dies stellt er am Ende des Sachenrechts, am Schluß des § 17, klar, wenn er schreibt: „Der äußere Gegenstand, welcher der Substanz nach das Seine von jemanden ist, ist dessen Eigentum (dominium), welchem alle Rechte in dieser Sache (wie Akzidenzen der Substanz) inhärieren, über welche also der Eigentümer (dominus) nach Belieben verfügen kann . . . Aber hieraus folgt von selbst: daß ein solcher Gegenstand nur eine körperliche Sache sein könne, daher ein Mensch sein eigener Herr . . ., aber nicht Eigentümer von sich selbst . . . (über sich nach Belieben disponieren zu können) geschweige denn von anderen Menschen sein kann, weil er der Menschheit in seiner eigenen Person verantwortlich ist . . .“ (§ 17, S. 381)12

Der Begriff des Eigentums stellt also einen Unterbegriff zum Terminus des äußeren Mein und Dein dar, wie auch in § 55 deutlich wird, wenn Kant vom Recht spricht, „mit dem Seinen (Eigentum) zu tun, was man will“ (§ 55, S. 468). Bezüglich der Willkürgegenstände Sachen sind also die Begriffe „Mein und Dein“ und „Eigentum“ gleichzusetzen. 7

s. Erster Abschnitt, § 11 ff., S. 370 ff. s. Zweiter Abschnitt, § 18 ff., S. 382 ff. 9 s. Dritter Abschnitt, § 22 ff., S. 388 ff. 10 s. dazu Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 179. 11 Allerdings schreibt Kant in § 55 der Rechtslehre: „Was jemand aber der Substanz nach selbst gemacht hat, davon hat er ein unbestrittenes Eigentum.“ (§ 55, S. 468) Nach dieser Formulierung wäre es möglich, unter Kants Eigentumsbegriff auch nicht-körperliches, geistiges Eigentum zu fassen, d. h. Urheberrechte. s. hierzu Brandt, R., Eigentumstheorien (1974), S. 192; Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 180; ders., Sachenrecht (1999), S. 118. 12 s. hierzu auch Hespe, F., Gesellschaftsvertrag (1998), S. 300, Fn. 17. 8

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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Aus Kants Definition in § 17 ergibt sich, daß das Eigentum alle Rechte bezüglich der betreffenden Sache beinhaltet und damit ein umfassendes Herrschaftsrecht darstellt. Der Eigentümer kann über die dem Eigentumsrecht immanenten Rechte „nach Belieben“ verfügen, d. h. er kann sie selbst wahrnehmen, gar nicht wahrnehmen oder teilweise an andere übertragen. Auch die vollständige Übertragung aller Rechte an einen anderen, d. h. die Übereignung der Sache etwa durch Verkauf, Verschenken oder Vererben, steht ihm zu. Da er nicht nur über einzelne, sondern über alle Rechte und damit über die Sache selbst verfügen kann, ist das Eigentum auch „der Substanz nach das Seine von jemanden“. Damit steht dem Eigentümer ebenfalls das Recht zu, die Sache zu zerstören. Daß er nach Kants Verständnis das alleinige und umfassende Recht hat, mit der Sache nach seinem Gutdünken zu verfahren, zeigt sich auch im oben angeführten Zitat aus § 55.13 Im Gegensatz zur heute im Zivilrecht herrschenden Ansicht14 sind die vom Eigentum umfaßten Rechte nach der Auffassung Kants keine Rechte an der Sache selbst; die heute gängige Definition des Eigentumsbegriffs als das umfassendste Herrschaftsrecht an einer Sache15 würde er ablehnen, da er davon ausgeht, daß Rechte nur gegen Personen denkbar sind. Kant formuliert das Problem wie folgt: „Ist dieses äußere rechtliche Verhältnis meiner Willkür etwa ein unmittelbares Verhältnis zu einem körperlichen Dinge? So müßte derjenige, welcher sein Recht nicht unmittelbar auf Personen, sondern auf Sachen bezogen denkt, es sich freilich . . . vorstellen.“ (§ 11, S. 370)

Der Grund für seine Ablehnung dieser Ansicht liegt darin, daß einem Recht jeweils eine Pflicht korrespondiert, was bei Annahme eines Rechts unmittelbar an einer Sache zu einer Verpflichtung dieser Sache gegenüber dem Berechtigten führen würde. Eine solche Verpflichtung von Dingen ist aber nicht denkbar, da sie keine vernunftbegabten Wesen sind, die nach Freiheitsgrundsätzen handeln können; sie würde eine Personifizierung der Sache voraussetzen. Kant drückt dies wie folgt aus: „. . . nämlich, weil dem Recht auf einer Seite eine Pflicht auf der andern korrespondiert, daß die äußere Sache, ob sie zwar dem ersten Besitzer abhanden gekommen, diesem doch immer verpflichtet bleibe, d. i. sich jedem anmaßlichen anderen Besitzer weigere, weil sie jenem schon verbindlich ist, und so mein Recht, gleich einem die Sache begleitenden und vor allem fremden Angriffe bewahrenden Genius, den

13 Dort weist Kant auf das Recht hin, „mit dem Seinen (Eigentum) zu tun, was man will.“ (§ 55, S. 468). 14 Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 189 f. und 133; ders., Sachenrecht (1999), S. 120. 15 s. Bassenge, P., in Palandt, BGB (2006), § 903, Rn. 1 und Überbl v § 903, Rn. 1.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft fremden Besitzer immer an mich weise. Es ist also ungereimt, sich Verbindlichkeit einer Person gegen Sachen und umgekehrt zu denken . . .“ (§ 11, S. 370 f.)

Bei diesem Verständnis des Sachenrechtes handelt es sich um die „in geheim obwaltende . . . Täuschung, Sachen zu personifizieren und . . . unmittelbar gegen sie sich ein Recht zu denken“ (§ 17, S. 380). Das Eigentumsrecht ist nach Kant nicht ein Recht an einer oder gegen eine Sache, sondern vielmehr ein Recht gegen andere Personen in bezug auf diese Sache. Daher könnte ein Mensch, der in völliger sozialer Isolation lebt, auch keine Sachen als sein Eigentum haben: „Es ist aber klar, daß ein Mensch, der auf Erden ganz allein wäre, eigentlich kein äußeres Ding als das Seine haben, oder erwerben könnte; weil zwischen ihm, als Person, und allen anderen äußeren Dingen, als Sachen, es gar kein Verhältnis der Verbindlichkeit gibt. Es gibt also, eigentlich und buchstäblich verstanden, auch kein (direktes) Recht in einer Sache, sondern nur dasjenige wird so genannt, was jemanden gegen eine Person zukommt . . .“ (§ 11, S. 371 f.)

Die vom Eigentum verliehenen Rechte stehen dem Eigentümer nicht nur gegenüber einem bestimmten Personenkreis zu, sondern gegenüber allen anderen Menschen. Dies ergibt sich aus § 1 der Rechtslehre, in dem Kant schreibt: „Das Rechtlich-Meine . . . ist dasjenige, womit ich so verbunden bin, daß der Gebrauch, den ein anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen möchte, mich lädieren würde.“ (§ 1, S. 353)

Ohne auf die weiteren Einzelheiten dieser Definition einzugehen, auf die sogleich zurückzukommen sein wird, zeigt sich hier, daß „ein anderer“ – und damit jeder andere – die Erlaubnis des Eigentümers zum Zugriff auf dessen Sache braucht. Beim Eigentum handelt es sich damit also um ein absolutes Recht. b) Begründung des Eigentums als Rechtsinstitut Kant widmet sich im Rahmen seiner Eigentumstheorie zunächst der Frage des Innehabens von Eigentum, des Habens an sich; das Problem der Erwerbung läßt er im ersten Hauptstück16 noch außer Betracht und geht erst später, im zweiten Hauptstück, darauf ein.17 Es geht ihm zunächst um die generelle Rechtfertigung des Eigentums als Rechtsinstitut; erst im Anschluß daran widmet er sich der Frage, wie ein Anspruch des einzelnen auf Eigentum entstehen kann.18

16 Eine detaillierte Analyse des ersten Hauptstücks des Privatrechts („Von der Art, etwas Äußeres als das Seine zu haben“) liefert Fulda, H. F., Erkenntnis (1999), insbesondere der logischen Struktur und der Gedankenabfolge des Abschnitts. 17 s. auch Saage, R., Eigentum (1973), S. 12. 18 Baumann, P., Seiten (KS 85, 1994), S. 148.

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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(1) Möglichkeit, Eigentum haben zu können Kant beginnt seine Ausführungen mit der oben angeführten Definition des rechtlich Meinen.19 Danach setzt die Qualifikation einer Sache als rechtlich Meines und damit als Eigentum eine besondere Verbindung zwischen dem Eigentümer und der Sache voraus, die beim unerlaubten Gebrauch der Sache durch andere zu einer Verletzung des Eigentümers führen würde. Diese Verbindung könnte zunächst durch den physischen Besitz begründet werden. Denn die Sachen, die jemand physisch besitzt, d. h. unmittelbar in Händen hält oder bei sich trägt, sind unmittelbar mit dem Körper des Innehabenden verbunden und befinden sich in seiner Sphäre, so daß derjenige, der die entsprechende Sache ohne Einwilligung gebrauchen wollte, sie dem Inhaber gegen seinen Willen wegnehmen und ihm aus der Hand oder vom Körper reißen müßte. Damit würde er den Inhaber in seiner Freiheit, d. h. im inneren Seinen, verletzen. Aber er würde ihn nur im inneren Seinen verletzen, nicht dagegen auch im äußeren Seinen (seinem Eigentum), wie Kant betont: „. . . der, welcher mir . . . den Apfel aus der Hand winden, oder mich von meiner Lagerstätte wegschleppen wollte, würde mich zwar freilich in Ansehung des inneren Meinen (der Freiheit), aber nicht des äußeren Meinen lädieren, wenn ich nicht, auch ohne Inhabung, mich im Besitz des Gegenstandes zu sein behaupten könnte; ich könnte also diese Gegenstände (den Apfel und das Lager) auch nicht mein nennen.“ (§ 4, S. 356)

Diesen Gedanken formuliert Kant in bezug auf den Boden wie folgt: „Ein Platz auf der Erde ist nicht darum ein äußeres Meine, weil ich ihn mit meinem Leibe einnehme (denn es betrifft hier nur meine äußere Freiheit, mithin nur den Besitz meiner selbst, kein Ding außer mir, und ist also nur ein inneres Recht); sondern, wenn ich ihn noch besitze, ob ich mich gleich von ihm weg und an einen andern Ort begeben habe, nur alsdenn betrifft es mein äußeres Recht . . .“ (§ 7, S. 363)

Der physische Besitz reicht deshalb nicht aus, weil die durch ihn begründete Verbindung mit dem Loslassen der Sache bzw. dem Verlassen des Bodens (der Parzelle) erlischt; sobald der Besitzer den betreffenden Gegenstand nicht mehr in seiner Sphäre hätte, könnte jeder andere ihn zu Recht an sich nehmen. Sobald dieser neue Besitz begründet wäre, könnte sich der vorige Besitzer nicht mehr darauf berufen, die Sache sei seine, und so die Rückgabe verlangen, da er damit nunmehr seinerseits die Freiheit (das innere Mein und Dein) des neuen Besitzers verletzen würde.20 Damit würde die rechtliche Qualifikation als Ei-

19 „Das Rechtlich-Meine (meum iuris) ist dasjenige, womit ich so verbunden bin, daß der Gebrauch, den ein anderer ohne meine Einwilligung von ihm machen möchte, mich lädieren würde.“ (§ 1, S. 353) 20 s. hierzu Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 105.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

gentum völlig vom empirischen Verhältnis der Dinge zum Besitzer abhängen;21 das Recht könnte keine über die faktische Lage hinausgehende normative Aussage bezüglich äußerer Gegenstände treffen und würde damit von den Fakten absorbiert. Wenn es möglich sein soll, Sachen als Eigentum im Sinne eines umfassenden Herrschaftsrechtes zu haben, muß vielmehr eine Verbindung zwischen dem Eigentümer und der Sache bestehen, die den rein physischen Besitz transzendiert und von diesem unabhängig ist: „Etwas Äußeres aber würde nur dann das Meine sein, wenn ich annehmen darf, es sei möglich, daß ich durch den Gebrauch, den ein anderer von einer Sache macht, in deren Besitz ich doch nicht bin, gleichwohl lädiert werden könne.“ (§ 1, S. 353)

Andererseits ist der Besitz der Sache aber doch nötig, um die erforderliche läsionsfähige Verbindung zwischen ihr und ihrem Eigentümer zu konstituieren: „Im Besitze eines Gegenstandes muß derjenige sein, der eine Sache als das Seine zu haben behaupten will; denn wäre er nicht in demselben: so könnte er nicht durch den Gebrauch, den der andere ohne seine Einwilligung davon macht, lädiert werden; weil, wenn diesen Gegenstand etwas außer ihm, was mit ihm gar nicht rechtlich verbunden ist, affiziert, ihn selbst (das Subjekt) nicht affizieren und ihm Unrecht tun könnte.“ (§ 3, S. 355)

Diese beiden Voraussetzungen scheinen sich zu widersprechen; der Widerspruch löst sich aber durch die Differenzierung zwischen zwei unterschiedlichen Arten von Besitz auf: zwischen dem physischen, tatsächlichen Besitz einerseits und einem bloß-rechtlichen, intelligiblen Besitz andererseits. Kant formuliert den Widerspruch und seine Auflösung wie folgt: „Also widerspricht es sich selbst, etwas Äußeres als das Seine zu haben, wenn der Begriff des Besitzes nicht einer verschiedenen Bedeutung, nämlich des sinnlichen und des intelligiblen Besitzes fähig wäre, und unter dem einen der physische, unter dem anderen aber ein bloßrechtlicher Besitz ebendesselben Gegenstandes verstanden werden könnte.“ (§ 1, S. 353)

Während der physische Besitz der tatsächliche Besitz in der Sinnenwelt ist, „der empirische Besitz . . . in der Erscheinung (possessio phaenomenon)“ (§ 5, S. 357), ist der intelligible Besitz die „possessio noumenon“ (§ 5, S. 357), d. h. ein rein gedanklicher Besitz in der Verstandeswelt, ein „Besitz ohne Inhabung“ (§ 1, S. 353). Kant greift hier im Zusammenhang mit der Frage des Eigentumsrechtes seine Unterscheidung zwischen der noumenalen und der phänomenalen Welt auf,22 d. h. die Unterscheidung zwischen der Verstandes- und der Sinnenwelt.23 Diese

21 22 23

s. Deggau, H.-G., Aporien (1983), S. 61 f. Saage, R., Eigentum (1973), S. 13. s. hierzu Nieschmidt, G.-P., Vernunft (1965), S. 4–7.

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ergibt sich aus erkenntnistheoretischen Überlegungen, und zwar der Einsicht, daß sich die menschliche Erkenntnis von Gegenständen nicht nach diesen richtet, sondern sich umgekehrt die Gegenstände nach der menschlichen Erkenntnis richten (KrV S. 25, B XVI). Diese setzt zwei Faktoren voraus, nämlich Sinnlichkeit und Verstand. Erstere ist das Vermögen, „Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke)“, durch diese Anschauung „wird uns ein Gegenstand gegeben“ (KrV S. 97, B 74). Der Verstand dagegen ist „das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe)“, durch ihn wird der Gegenstand sinnlicher Anschauung gedacht (KrV S. 97, B 74). Erst beide Elemente zusammengenommen führen zur Erkenntnis: „Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als, seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen, oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen.“ (KrV S. 98, B 76 f.)

Der Mensch kann seine Umwelt also nur insoweit erkennen, wie sie sinnlich auf ihn einwirkt und er diese Anschauung mit dem Verstand nach Begriffen beurteilt.24 Der zu erkennende Gegenstand wird vom Menschen damit stets nur als „Objekt der sinnlichen Anschauung . . ., d. i. als Erscheinung“ (KrV S. 30, B XXVI) oder Phaenomenon wahrgenommen, nicht dagegen als Ding an sich, als Noumenon; Kant betont, „daß wir ferner keine Verstandesbegriffe, mithin auch gar keine Elemente zur Erkenntnis der Dinge haben, als so fern diesen Begriffen korrespondierende Anschauung gegeben werden kann, folglich wir von keinem Gegenstande als Dinge an sich selbst, sondern nur so fern es Objekt der sinnlichen Anschauung ist, d. i. als Erscheinung, Erkenntnis haben können . . .“ (KrV S. 30, B XXV f.)

Diese Dinge an sich selbst sind aber keine bloße Einbildung, da das sinnliche Abbild sonst ohne Vorbild und damit unmöglich wäre: „Gleichwohl wird, welches wohl gemerkt werden muß, doch dabei immer vorbehalten, daß wir eben dieselben Gegenstände auch als Dinge an sich selbst, wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens müssen denken können. Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint.“ (KrV S. 30 f., B XXVI f.)25

24 Nieschmidt, G.-P., Vernunft (1965), S. 4. Zur Funktion des Verstandes s. KrV S. 109 f., B 92–94. 25 s. hierzu Höffe, O., Kant (1996), S. 133 f.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

Die Welt kann daher einerseits als Welt der Erscheinungen, als phaenomenale Sinnenwelt, betrachtet werden, andererseits kann sie als Welt der Dinge an sich selbst, als noumenale Verstandeswelt, gedacht werden. Als letztere kann sie aber eben nur gedacht, nicht dagegen erkannt werden wie die erstere, die allein der Anschauung fähig ist. Der intelligible Besitz ist nun im Rahmen der noumenalen Welt anzusiedeln, während der sinnliche Besitz der Welt der Erscheinungen zugehört. Die Unterscheidung zwischen intelligiblem und empirischem Besitz erinnert an die juristische Unterscheidung zwischen Eigentum und Besitz:26 während das Eigentum eine rechtliche Zuordnung von Sachen an Personen trifft, beschreibt der Besitz vorwiegend ein tatsächliches Verhältnis zwischen Personen und Sachen. Allerdings bestehen auch Unterschiede zwischen den beiden Begriffspaaren:27 Der intelligible Besitz im Sinne Kants ist eine rein gedankliche Konstruktion, die dem Bereich des Noumenalen angehört und von Raum-ZeitBedingungen abstrahiert. Das Eigentum dagegen ist als konkretes Rechtsinstitut an die empirische Welt gebunden und von ihr abhängig. Auch muß der Besitz im juristischen Sinne nicht immer mit einer physischen Innehabung verbunden sein, da es auch mittelbaren Besitz gibt, bei dem wohl der unmittelbare Besitzer, nicht aber der mittelbare die Sache „in den Händen hat“. Die Unterscheidung zwischen sinnlichem und intelligiblem Besitz löst die Antinomie auf, die Kant wie folgt ausdrückt: „Der Satz heißt: Es ist möglich, etwas Äußeres als das Meine zu haben; ob ich gleich nicht im Besitz desselben bin. Der Gegensatz: Es ist nicht möglich, etwas Äußeres als das Meine zu haben; wenn ich nicht im Besitz desselben bin. Auflösung: Beide Sätze sind wahr: der erstere, wenn ich den empirischen Besitz (possessio phaenomenon), der andere, wenn ich unter diesem Wort den reinen intelligibelen Besitz (possessio noumenon) verstehe.“ (§ 7, S. 364)

Nach dieser Unterscheidung wird verständlich, daß Kant sagt: „Ich kann einen Gegenstand im Raume (eine körperliche Sache) nicht mein nennen, außer wenn, obgleich ich nicht im physischen Besitz desselben bin, ich dennoch in einem anderen wirklichen (also nicht physischen) Besitz desselben zu sein behaupten darf.“ (§ 4, S. 355 f.)

Daher ist das äußere Meine „dasjenige, in dessen Gebrauch mich zu stören Läsion sein würde, ob ich gleich nicht im Besitz desselben (nicht Inhaber des Gegenstandes) bin.“ (§ 5, S. 357)

Ohne diese Unterscheidung zwischen dem (noumenalen) Besitz als rein gedankliche Herrschaftsbeziehung zu einer Sache und dem (phänomenalen) Besitz als tatsächliches In-den-Händen-halten wäre die Begründung eines umfassenden Eigentumsrechtes – wie oben gezeigt – nicht möglich. Daher gilt: 26 27

Kaulbach, F., Freiheit (1973), S. 83. So auch Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 132 f.

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„Also muß . . . ein intelligibler Besitz . . . als möglich vorausgesetzt werden, wenn es ein äußeres Mein oder Dein geben soll.“ (§ 5, S. 357)

(2) Notwendigkeit, Eigentum haben zu können Daß es ein äußeres Mein und Dein geben soll, daß also die prinzipielle Möglichkeit bestehen muß, Eigentum im Sinne eines absoluten, umfassenden Rechtes haben zu können, ist ein Postulat der praktischen Vernunft. Dieses rechtliche Postulat der praktischen Vernunft lautet in seiner ersten und zweiten Fassung28 wie folgt: „Es ist möglich, einen jeden äußern Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben; d. i.: eine Maxime, nach welcher, wenn sie Gesetz würde, ein Gegenstand der Willkür an sich (objektiv) herrenlos (res nullius) werden müßte, ist rechtswidrig.“ (§ 2, S. 354)

Kant betont hier, daß jede Sache eigentumsfähig ist: Nicht jede Sache muß aktuell einen Eigentümer haben, aber jede muß potentiell einen Eigentümer haben können; es darf keine Sachen geben, die der menschlichen Verfügungsbefugnis und Aneignung als Eigentum prinzipiell entzogen sind. Kant weist die Gültigkeit des rechtlichen Postulates der praktischen Vernunft durch einen apagogischen Beweis nach, d. h. indem er die Unrichtigkeit des Gegenteils aufzeigt. Dabei argumentiert er wie folgt: „Denn ein Gegenstand meiner Willkür ist etwas, was zu gebrauchen ich physisch in meiner Macht habe. Sollte es nun doch rechtlich schlechterdings nicht in meiner Macht stehen, d. i. . . . unrecht sein . . ., Gebrauch von demselben zu machen: so würde die Freiheit sich selbst des Gebrauchs ihrer Willkür in Ansehung eines Gegenstandes derselben berauben, dadurch, daß sie brauchbare Gegenstände außer aller Möglichkeit des Gebrauchs setzte: d. i. diese in praktischer Rücksicht vernichtete, und zur res nullius machte; obgleich die Willkür, formaliter, im Gebrauch der Sachen mit jedermanns äußerer Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmete. – Da nun die reine praktische Vernunft keine andere als formale Gesetze des Gebrauchs der Willkür zum Grunde legt, und also von der Materie der Willkür, d. i. der übrigen Beschaffenheit des Objekts . . . abstrahiert, so kann sie in Ansehung eines solchen Gegenstandes kein absolutes Verbot seines Gebrauchs enthalten, weil dieses ein Widerspruch der äußeren Freiheit mit sich selbst sein würde.“ (§ 2, S. 354)

Kant weist zunächst darauf hin, daß ein rechtliches Verbot des physisch möglichen Gebrauchs von Sachen diese faktisch vernichten würde, da ihr Gebrauch bei rechtskonformem Verhalten nicht mehr möglich wäre und sie damit dem menschlichen Zugriff entzogen wären. Dieses Verbot müßte ausnahmslos alle Gegenstände treffen, da die praktische Vernunft den Gebrauch der Willkür nur durch formale Gesetze regeln kann und von den Objekten der Willkür, d. h. den 28

Zu den übrigen vier Fassungen s. Fulda, H. F., Erkenntnis (1999), S. 92 f.

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zu gebrauchenden Sachen und ihrer kontingenten Beschaffenheit, absehen muß. Daher muß das, was für einen (beliebigen) Gegenstand der Willkür gilt, für alle gelten. Es kann also nur ein generelles, prinzipielles Gebrauchsverbot oder eine generelle Gebrauchserlaubnis geben.29 (a) Freiheitswidrigkeit eines prinzipiellen Gebrauchsverbotes Ein prinzipielles Gebrauchsverbot aber wäre freiheitswidrig. Denn der Mensch ist als vernunftbegabtes Wesen frei; ihm kommt die äußere Freiheit zu, sich seine eigenen Zwecke zu setzen und in bezug auf sie zu handeln.30 Zur Realisierung seiner Zwecke ist der Mensch aber auf die Natur, auf Dinge außer sich angewiesen, da er als endliches Wesen nichts aus sich selbst erschaffen und hervorbringen kann.31 Die Verwirklichung seiner äußeren Freiheit setzt daher den Zugriff auf die Umwelt voraus.32 Allerdings ist dieser Zugriff nur dann von der äußeren Freiheit des Menschen mit umfaßt, wenn er prinzipiell mit der Freiheit aller anderen Menschen vereinbar und damit rechtmäßig ist. Denn der Mensch lebt nicht allein, sondern teilt sich seine Umwelt mit seinen Mitmenschen, die ebenfalls mit Willkürfreiheit ausgestattet sind und ihre je eigenen Zwecke verfolgen. Um Freiheit unter Berücksichtigung der sozialen Eingebundenheit des Menschen überhaupt zu ermöglichen, ist die Freiheit jedes einzelnen von vornherein auf ihre Verträglichkeit mit der Freiheit aller anderen Menschen eingeschränkt; angesichts der sozialen Eingebundenheit des Menschen kann sie überhaupt nur als mit der Freiheit aller anderen Menschen konforme Freiheit gedacht werden.33 Kant drückt dies wie folgt aus: „. . . die Vernunft sagt . . ., daß sie [meine Freiheit] in ihrer Idee darauf eingeschränkt sei und von andern auch tätlich eingeschränkt werden dürfe.“ (§ C, S. 338) 29 s. Höffe, O., Kant (1996), S. 222 f.; Herb, K./Ludwig, B., Naturzustand (KS 84, 1993), S. 290; Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 112. 30 Diesen Aspekt der äußeren Freiheit bezeichnet Kant in der Metaphysik als „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“, „sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann . . .“ (S. 345); im Gemeinspruch beschreibt er ihn wie folgt: „Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann . . . nicht Abbruch tut.“ (Gemeinspruch S. 145) Zur Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Freiheit und ihren positiven und negativen Aspekten s. unten D. I. 3. a). 31 Brandt, R., Eigentumstheorien (1974), S. 191 f. 32 Köhler, M., Teilhabegerechtigkeit (1999), S. 108, spricht vom Zugriff des Menschen auf Sachen als der „gegenständlichen Grundlage freiheitlicher Selbstentfaltung“. 33 s. hierzu Ebbinghaus, J., System (1964), S. 170 f.

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Die äußere Freiheit des Menschen ist daher keine ungebundene Freiheit, die ihm das Recht gibt, uneingeschränkt zu tun und zu lassen, was er will; sie steht stets unter der Bedingung ihrer Übereinstimmung mit der Freiheit aller anderen. Diese stete Mitberücksichtigung der fremden Freiheitssphären bei der Verwirklichung der eigenen Freiheit bewahrt die anderen Menschen vor einer Benutzung als bloßes Mittel zu den eigenen Zwecken, sie gewährleistet ihre Anerkennung auch als Zweck an sich selbst. Diese Bedingung der allgemeinen Freiheitskompatibilität ist im Hinblick auf die prinzipielle Möglichkeit des Sachgebrauchs erfüllt. Zunächst vermögen die zu benutzenden Sachen selbst der Freiheit des einzelnen keine Schranken zu setzen, da sie mangels Vernunftbegabung und eines freien Willens keine Rechte haben und nicht freiheitsfähig sind,34 wie Kant in seiner Definition des Begriffs deutlich macht: „Sache ist ein Ding, was keiner Zurechnung fähig ist. Ein jedes Objekt der freien Willkür, welches selbst der Freiheit ermangelt, heißt daher Sache (res corporalis).“ (S. 330)

Daher können Sachen durch ihren Gebrauch auch nicht verletzt und in ihrer Freiheit beeinträchtigt werden;35 sie müssen nicht als Zweck an sich selbst behandelt, sondern können als reines Mittel betrachtet werden und stehen damit den Menschen prinzipiell uneingeschränkt zur freien Verfügung.36 Zudem wird auch die Freiheit der Mitmenschen durch den Zugriff auf äußere Gegenstände grundsätzlich nicht verletzt, da das Vorhaben des einzelnen, Sachen überhaupt zu gebrauchen und nicht generell für unbrauchbar zu erklären, diesen Gebrauch auch allen anderen zugesteht und ihnen die Sachen nicht prinzipiell abspricht. Da also der Gebrauch von Sachen durch den Menschen prinzipiell mit der Freiheit aller anderen vereinbar ist, schließt der positive, äußere Freiheitsbegriff der Handlungsfreiheit die Freiheit ein, äußere Dinge zu gebrauchen.37 Damit würde die praktische Vernunft, die dem Menschen im Rahmen seiner äußeren Freiheit Handlungsfreiheit zuspricht, sich selbst widersprechen, wenn sie ihm andererseits das Substrat zur Verwirklichung dieser Handlungsfreiheit, nämlich äußere Gegenstände, vorenthielte. Denn durch die Vernichtung der Gebrauchsfreiheit an Gegenständen würde auch die Handlungsfreiheit des Menschen vernichtet.38 Ludwig drückt diesen Widerspruch konzis wie folgt aus:

34

Mulholland, L. A., System (1990), S. 237. Westphal, K. R., Justify (1997), S. 176. 36 Kersting, W., Eigentum (1991), S. 117; Luf, G., Freiheit (1978), S. 83 f. 37 Höffe, O., Kant (1996), S. 222; Kersting, W., Freiheit (1993), S. 237 f. 38 Geismann, G., Vollender (Staat 27, 1982), S. 180; Kersting, W., Freiheit (1993), S. 237 f. 35

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„das generelle Verbot des – empirischen – Gebrauchs erklärt Handlungen für unrecht, die gemäß dem allgemeinen Rechtsprinzip recht sind: Widerspruch!“ 39

Die Notwendigkeit von Eigentum ergibt sich damit für Kant nicht aus pragmatischen oder utilitaristischen Überlegungen, etwa derjenigen, daß Sachen nur dann optimal genutzt werden können, wenn sie jemandem dauerhaft zur Verfügung stehen, oder jener, daß Eigentum zur Verwirklichung eines bestimmten Zweckes nötig ist. Vielmehr ist das Eigentum für Kant eine vernunftgebotene Institution; er leitet seine Notwendigkeit allein aus apriorischen Prinzipien ab, nämlich aus der Tatsache, daß es unerläßliche Voraussetzung für die Verwirklichung der menschlichen Freiheit ist.40 Allerdings wird teilweise vertreten, daß Kant die allgemeine Freiheitskompatibilität des Sachgebrauchs nicht hinreichend nachgewiesen habe,41 da jeder, der ein Gebrauchsrecht an einer Sache hat, andere von ihrer Benutzung ausschließe,42 so daß unter bestimmten Bedingungen, z. B. extremer Güterknappheit, keine Sache in einer Weise gebraucht werden könne, die mit der Freiheit aller anderen nach einem allgemeinen Gesetz konform gehe.43 Die Behauptung Kants, das Rechtsinstitut Eigentum stimme mit dem Rechtsprinzip überein, sei zudem sehr allgemein und gebe kein handhabbares Kriterium an, das entscheiden ließe, unter welchen Bedingungen individuelle Freiheitsspielräume miteinander verträglich seien.44 Diese Kritik verkennt aber, daß es Kant zunächst nur um das rein abstrakte Vorhaben geht, Sachen überhaupt zu gebrauchen, nicht dagegen um den Gebrauch konkreter Sachen und die daraus resultierende Notwendigkeit der Abgrenzung von Ansprüchen. Kant legt vorerst nur dar, daß die Absicht des einzelnen, äußere Gegenstände prinzipiell, d. h. unabhängig von ihrer Beschaffenheit und der konkreten Situation, zu gebrauchen, mit der Absicht aller anderen, dies auch zu tun, unter Freiheitsgesichtspunkten übereinstimmt. Denn er sagt, daß „die Willkür, formaliter, im Gebrauch der Sachen“ freiheitskonform wäre (s. § 2, S. 354); er spricht also nicht von einer (einzigen, bestimmten) Sache, sondern von den Sachen (generell). Durch die Verwendung des Plurals wird deutlich, daß es hier nicht um den Gebrauch konkreter Sachen geht. Dies wird noch verstärkt durch den Einschub des Begriffs „formaliter“; damit weist Kant deutlich darauf hin, daß er hier nur den Willen des einzelnen anspricht, äußere Gegenstände abstrakt gesehen (d. h. abgesehen vom konkreten Fall und der kon39

s. Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 112, Fn. 53. Höffe, O., Kant (1996), S. 222; Kersting, W., Eigentum (1991), S. 118 f.; ders., Freiheit (1993), S. 235–238; Luf, G., Freiheit (1978), S. 86; Mulholland, L. A., System (1990), S. 233. 41 Mulholland, L. A., System (1990), S. 250; Westphal, K. R., Justify (1997), S. 157. 42 Mulholland, L. A., System (1990), S. 250. 43 Westphal, K. R., Justify (1997), S. 160. 44 Baumann, P., Seiten (KS 85, 1994), S. 151. 40

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kreten Sache) überhaupt zu nutzen und nicht etwa (für alle) als unbenutzbar zu erklären. Kant erörtert hier, im ersten Hauptstück, nur das Ob des Sachgebrauchs, auf das Wie, die Abgrenzung der individuellen Ansprüche, geht er erst im zweiten Hauptstück ein. (b) „Gebrauchen“ als umfassendes Herrschaftsrecht Die bisherige Argumentation Kants stützt sich auf Überlegungen zum Gebrauch der Sachen, so daß ihm teilweise vorgeworfen wird, er habe zwar die Notwendigkeit eines Gebrauchs-, nicht aber eines Eigentumsrechtes nachgewiesen. Seine obige Argumentation ergebe nicht, daß der notwendige Gebrauch rechtlich in Form des Eigentums abgesichert sein müsse; es sei möglich, Sachen zu gebrauchen, auch wenn kein Eigentum an ihnen bestehe.45 Diese Kritik ist aber nicht überzeugend, denn Kant bezeichnet mit dem Begriff des Gebrauchens nicht nur die bloße Benutzung der Sache, sondern verwendet ihn in einem weiten Sinne als Oberbegriff für alle mit der Sache möglichen Verwendungen und folglich als Synonym für den Eigentumsbegriff.46 Für dieses Verständnis spricht zunächst der Wortlaut: Im zweiten Absatz des § 2, nach dem zweiten Spiegelstrich, spricht Kant vom „beliebigen Gebrauch“ (§ 2, S. 354) des Gegenstandes der Willkür. Diese Formulierung weist darauf hin, daß der Mensch mit den Sachen nach seinem Gutdünken verfahren kann, sie also nicht nur benutzen, sondern auch andere Dinge mit ihnen tun kann; dazu würde etwa ihre Zerstörung47 oder Überlassung an andere gehören. Damit 45 s. etwa Baumann, P., Seiten (KS 85, 1994), S. 150. Eine differenziertere These stellt Westphal auf: auch er ist der Ansicht, daß Kant das Rechtsinstitut Eigentum nicht hinreichend begründet, sondern nur ein weniger umfängliches Recht an Sachen legitimiert, nämlich eine Art Nießbrauchsrecht, das Westphal als „usufructary rights in a . . . general sense“ oder „qualified choses in possession“ bezeichnet, s. Westphal, K. R., Justify (1997), S. 148, 151 f. Er geht jedoch davon aus, daß auch dieses beschränktere Recht, dessen Nachweis Kant gelingt, zur Legitimation des Staates ausreicht und damit Kants Begründung der Notwendigkeit von Staat trägt, s. a. a. O. S. 151 f. 46 Anderer Ansicht ist Westphal, K. R., Justify (1997), S. 158: „Or it may be assumed, third, that Kant’s argument in § 2 aims to prove, not merely rights to possession, but rights to property, insofar as it aims to prove a right to ,arbitrary‘ (beliebigen) use, that is, the right to do whatever one pleases with something . . ., where this can include any of the rights involved in the further incidents of proprietary ownership. Reading Kant’s text in this way assimilates possessio to dominium by stressing Kant’s term ,beliebigen‘. So far as Kant’s literal statement is concerned, it is equally plausible to stress Kant’s term ,Gebrauch‘ (use), which would restrict Kant’s argument to justifying possessio.“ Zu Westphals weiteren Argumenten gegen die weite Auslegung (und zu ihrer Widerlegung) s. u. 47 Westphal führt eine Reflexion Kants an, der er entnimmt, daß Kant Zerstörungsrechte ablehnt, s. Westphal, K. R., Justify (1997), S. 181 f. Aber die Passage ist einer undatierten Reflexion entnommen, und die Reflexionen spiegeln vielfach Ansichten Kants wider, die er später, in der Rechtslehre, nicht mehr vertreten hat; s. dazu Herb,

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erinnert der obige Ausdruck an seine Beschreibung des Eigentums in § 55: „aus dem Rechte, mit dem Seinen (Eigentum) zu tun, was man will“ (S. 468). Zudem umfaßt Kants Gebrauchsrecht auch ein Ausschlußrecht,48 wie sich aus einer Zusammenschau mit § 9 ergibt. Dort schreibt Kant: „weil . . . jede Inhabung ein Zustand ist, . . . der . . . jedermann, der mit mir nicht in den Zustand einer öffentlich gesetzlichen Freiheit treten will, von aller Anmaßung des Gebrauchs eines solchen Gegenstandes abzuhalten berechtigt, um . . . eine Sache, die sonst praktisch vernichtet würde, seinem Gebrauch zu unterwerfen.“ (§ 9, S. 367)

Hier spricht Kant im Zusammenhang mit der praktischen Vernichtung der Sache, durch die sie zur res nullius würde, vom Recht, andere vom Gebrauch der Sache abzuhalten. Um zu verhindern, daß Sachen zur res nullius werden (können), wird jedem also nicht nur das Recht zugesprochen, Sachen zu gebrauchen, sondern auch das Recht, andere vom Gebrauch der Sache auszuschließen. Daß zur Bezeichnung von Eigentum nicht eine Aufzählung aller ihm immanenten Rechte nötig ist, wie teilweise vertreten wird,49 sondern diese generalisierend in einem Ausdruck zusammengefaßt werden können, zeigt sich auch am heutigen deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch. Nach § 903 BGB kann der Eigentümer „mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen“. Diese knappe Formulierung benennt als negativen Aspekt die auch von Kant angeführte Ausschlußbefugnis; als positiven Aspekt zählt sie keine Einzelbefugnisse auf, sondern gibt dem Eigentümer die umfassende Erlaubnis für alle denkbaren Verwendungen der Sache. Diese Befugnis umfaßt sowohl rechtliche Einwirkungen (wie Übereignung, Eigentumsaufgabe, Belastung mit beschränkt dinglichen Rechten oder Regelung der Benutzung) als auch faktische (etwa durch Besitz, Benutzung oder Nichtbenutzung, Veränderungen, Verbrauch oder Vernichtung).50 Zwar wurde das BGB erst im Jahre 1896 erlassen, d. h. fast 100 Jahre nach dem Erscheinen von Kants Metaphysik der Sitten, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 432. Zudem bezieht sich das Zitat nur auf den Boden, nicht aber auf bewegliche Sachen, und eine vollständige Vernichtung des Bodens wäre in der Tat kaum durchzuführen (selbst beim Abtragen zahlreicher Erdschichten wäre immer noch Boden als „Boden unter den Füßen“ da). So schreibt Kant auch in § 12: „. . . alles aber, was zerstört werden kann, ein Baum, Haus u.s.w. ist . . . beweglich“ (§ 12, S. 372). Daher scheint Kants Aussage eher die Schlußfolgerung aus dieser faktischen Unmöglichkeit zu ziehen als ein rechtliches Verbot vorschreiben zu wollen, so daß man im Umkehrschluß davon ausgehen kann, daß Kant an beweglichen Sachen ein Zerstörungsrecht gerade zuläßt. 48 Dies nimmt auch Westphal an. Er versteht den Begriff des Gebrauchens „in the narrow sense of having exclusive physical control of a thing in order to use and enjoy that thing. However, these are only two . . . incidents of property ownership“, s. Westphal, K. R., Justify (1997), S. 151. 49 s. Westphal, K. R., Justify (1997), S. 158 f. 50 s. Bassenge, P., in Palandt, BGB (2006), § 903, Rn. 5.

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so daß keine direkten Rückschlüsse von der Regelungstechnik des damaligen deutschen Gesetzgebers auf Kants Ausführungen gezogen werden können. Der Vergleich zeigt aber dennoch, daß es zur Beschreibung des Eigentums keiner Aufzählung aller von ihm umfaßten Rechte bedarf. Für eine weite Auslegung des Begriffs „Gebrauchen“ durch Kant spricht neben diesen terminologischen Argumenten vor allem auch die inhaltliche Überlegung, daß nicht nur ein Gebrauchs-, sondern auch ein Eigentumsverbot freiheitswidrig wäre. Denn ein solches Verbot würde bedeuten, daß es keine über den physischen Besitz hinausgehende Zuordnung von Sachen an Menschen gäbe. Allein bezüglich des physischen Besitzes käme jedem das Recht zu, allein über die Sache zu verfügen und andere von ihrer Benutzung auszuschließen, da er durch den Zugriff anderer im inneren Seinen, d. h. in seiner Freiheit, verletzt würde. Nur das (physisch) von jemandem Innegehabte wäre dem Zugriff anderer entzogen; alle anderen, brachliegenden Sachen könnten von jedem in Besitz genommen und gebraucht werden. Um das Gebrauchsrecht an „seinen“ Sachen aufrechtzuerhalten, müßte der Mensch also stets in physischer Verbindung mit ihnen bleiben, was zu einer Aufhebung seiner äußeren Freiheit führen würde.51 Die Herrschaft der Person über die Sache würde – mit den Worten Kühls – „insofern in eine Herrschaft der Sache über den Menschen umschlagen, als der Besitzer gezwungen wäre, allzeit bereit zu sein, um sich seinen Besitz zu erhalten.“ 52

51 s. Brandt, R., Eigentumstheorien (1974), S. 188; Deggau, H.-G., Aporien (1983), S. 71. 52 Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 139. Auch eine Beschränkung des Menschen auf Westphals „Nießbrauchsrecht“, d. h. seine „qualified choses in possession“, wäre freiheitswidrig. Denn dieses Recht, das sich auf den Gebrauch im engen Sinne, auf das Benutzen der Sache stützt, soll nach Westphal dann erlöschen, wenn der Berechtigte die Sache nicht mehr benötigt, s. Westphal, K. R., Justify (1997), S. 182. Wie oben dargelegt, kann die praktische Vernunft aber nur formale Gesetze des Gebrauchs der Willkür erlassen und muß von der Materie der Willkür absehen; bezüglich des Gebrauchs von Sachen darf also nur die Tatsache in Betracht gezogen werden, daß sie überhaupt Gegenstände der Willkür sind. Eine Gebrauchserlaubnis – bzw. das von Westphal vorgesehene Nießbrauchsrecht – an Sachen, die jemand braucht, und ein Erlöschen dieses Rechts, wenn die Sache nicht mehr benötigt wird, würde aber nach materiellen Kriterien differenzieren und damit dem obigen Formalitätserfordernis nicht genügen. Mit einer solchen Differenzierung wäre dieses Recht – ebenso wie bei der Beschränkung von Gebrauchsrechten auf den physischen Besitz – von empirischen Gegebenheiten abhängig, nämlich von der Bedürfnishaftigkeit und den konkreten Bedürfnissen der Menschen. Damit würden wiederum empirische Fakten das Recht bestimmen und so seinen normativen Charakter aufheben; die Vernunft als Gesetzgeberin würde von Fakten abhängig gemacht, die Freiheit von Tatsachen außer sich, s. Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 138. Die Freiheit wäre also auch vernichtet, wenn man die Möglichkeit der Menschen, Sachen zu haben, nur auf ein Nießbrauchsrecht beschränkte.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

(3) Reziprozität der Eigentumsansprüche Da das Recht auf Eigentum prinzipiell jedem Menschen zusteht, beinhaltet das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft nicht nur das Recht auf Anerkennung der eigenen Eigentumsansprüche, sondern gleichzeitig auch die Verpflichtung, die Eigentumsansprüche der anderen Menschen zu achten. Diese Zweiseitigkeit betont Kant in einer weiteren Fassung des Postulates: „Also ist es eine Voraussetzung a priori der praktischen Vernunft, einen jeden Gegenstand meiner Willkür als objektiv-mögliches Mein oder Dein anzusehen und zu behandeln.“ (§ 2, S. 354 f.)

Alle Sachen und sonstigen Gegenstände der menschlichen Willkür sind als potentielles Mein oder Dein zu behandeln; damit schließt der Anspruch, etwas als sein Eigentum zu haben, die gleichzeitige Anerkennung potentieller fremder Eigentumsansprüche ein:53 „Wenn ich (wörtlich oder durch die Tat) erkläre, ich will, daß etwas Äußeres das Meine sein solle, so erkläre ich jeden anderen für verbindlich, sich des Gegenstandes meiner Willkür zu enthalten: eine Verbindlichkeit, die niemand ohne diesen meinen rechtlichen Akt haben würde. In dieser Anmaßung aber liegt zugleich das Bekenntnis: jedem anderen in Ansehung des äußeren Seinen wechselseitig zu einer gleichmäßigen Enthaltung verbunden zu sein; denn die Verbindlichkeit geht hier aus einer allgemeinen Regel des äußeren rechtlichen Verhältnisses hervor.“ (§ 8, S. 365)

In dem Anspruch, andere vom Gebrauch meines Eigentums auszuschließen, liegt die grundsätzliche Anerkennung dieses Rechtsinstituts und damit zugleich das Versprechen an die anderen, mich umgekehrt des Gebrauchs ihres Eigentums zu enthalten. Diese gegenseitige Verpflichtung zur Anerkennung gilt natürlich auch umgekehrt, d. h. aus der Sicht des anderen: „Ich bin also nicht verbunden, das äußere Seine des anderen unangetastet zu lassen, wenn mich nicht jeder andere dagegen auch sicher stellt, er werde in Ansehung des Meinigen sich nach ebendemselben Prinzip verhalten; welche Sicherstellung gar nicht eines besonderen rechtlichen Akts bedarf, sondern schon im Begriffe einer äußeren rechtlichen Verpflichtung, wegen der Allgemeinheit, mithin auch der Reziprozität der Verbindlichkeit aus einer allgemeinen Regel, enthalten ist.“ (§ 8, S. 365)

Die Verpflichtung anderer, sich meiner Sachen zu enthalten, wird damit gleichzeitig zu einer Selbstverpflichtung, sich der Sachen anderer zu enthalten. Damit enthält der eigene Anspruch, etwas als Eigentum zu haben, gleichzeitig eine allgemeine, d. h. für jeden anderen, aber auch sich selbst geltende Gesetzgebung, wie Kant in § 7 betont: „Gerade darin: daß, abgesehen vom Besitz in der Erscheinung . . ., die praktische Vernunft den Besitz nach Verstandesbegriffen . . . gedacht wissen will, liegt der

53

Brandt, R., Eigentumstheorien (1974), S. 188 f.

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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Grund der Gültigkeit eines solchen Begriffs vom Besitze (possessio noumenon) als einer allgemeingeltenden Gesetzgebung; denn eine solche ist in dem Ausdrucke enthalten: ,dieser äußere Gegenstand ist mein‘; weil allen andern dadurch eine Verbindlichkeit auferlegt wird, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs desselben zu enthalten.“ (§ 7, S. 363)

(a) Zwischenmenschliche Dynamik: Staat Allein der einseitige Anspruch, eine Sache als Eigentum zu haben, kann andere Menschen jedoch nicht wirksam verpflichten, da diese Forderung nicht ihrem eigenen, sondern einem fremden Willen entspringt und daher nicht mit ihrer Freiheit und dem allgemeinen Prinzip des Rechts vereinbar ist. Auch bioder multilaterale Übereinkünfte, sich der Sachen des jeweils anderen zu enthalten, können keine gültige Verpflichtung schaffen, da hierzu die Übereinstimmung aller Betroffenen notwendig ist. Nur durch ein omnilaterales Versprechen, das alle (potentiellen) Eigentümer einschließt, kann Eigentum konstituiert werden: „Nun kann der einseitige Wille in Ansehung eines äußeren . . . Besitzes nicht zum Zwangsgesetz für jedermann dienen, weil das der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen Abbruch tun würde. Also ist nur ein jeden anderen verbindender, mithin kollektiv-allgemeiner (gemeinsamer) und machthabender Wille derjenige, welcher jedermann jene Sicherheit leisten kann.“ (§ 8, S. 365 f.)

Ein solcher gemeinsamer Wille entsteht durch die (virtuelle) Vereinigung der Einzelwillküren,54 die durch den Gesellschaftsvertrag vollzogen wird: „Der Akt, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat konstituiert, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann, ist der ursprüngliche Kontrakt . . .“ (§ 47, S. 434)55

Allein unter einem solchen, mit Macht bewehrten Willen, d. h. im Staat, kann also gesichertes Eigentum bestehen: „Der Zustand aber unter einer allgemeinen äußeren (d. i. öffentlichen) mit Macht begleiteten Gesetzgebung ist der bürgerliche. Also kann es nur im bürgerlichen Zustande ein äußeres Mein und Dein geben.“ (§ 8, S. 366)

(aa) Provisorisches und peremtorisches Eigentum Allerdings steht das Recht der Menschen auf Eigentum ihnen schon deshalb zu, weil sie vernunftbegabte, freie Wesen sind, also unabhängig vom Staat.56 Allein, weil den Menschen ihre äußere Freiheit zukommt und zukommen muß, 54 Zu den Unterschieden zwischen Rousseaus volonté générale und Kants allgemeinem Willen s. Shell, S. M., Reason (1980), S. 131. 55 Zu Kants Konzeption des Gesellschaftsvertrages s. im einzelnen unten D. I. 56 s. Luf, G., Freiheit (1978), S. 79.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

muß es Eigentum geben können, und nicht etwa, weil der Staat es ihnen gewährt. Der Staat, der das Eigentum sichern soll und muß, setzt dieses, d. h. das zu sichernde Objekt, also bereits voraus. Denn erst die einzelnen Eigentumsansprüche entwickeln aufgrund ihrer Reziprozität die zum Staat treibende Dynamik. Kant drückt dies wie folgt aus: „. . . denn bürgerliche Verfassung ist allein der rechtliche Zustand, durch welchen jedem das Seine nur gesichert, eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt wird. – Alle Garantie setzt also das Seine von jemandem . . . schon voraus. Mithin muß vor der bürgerlichen Verfassung (oder von ihr abgesehen) ein äußeres Mein und Dein als möglich angenommen werden . . .“ (§ 9, S. 366)

Auch im Naturzustand gibt es also ein äußeres Mein und Dein, d. h. Eigentum; es ist mangels der Verwilligung durch einen allgemeinen, vereinigten Willen, der zwangsbewehrt ist, aber noch nicht hinreichend legitimiert und noch ungesichert. Dieses ungesicherte Eigentum nennt Kant „provisorisch“ und unterscheidet es vom gesicherten und umfassend legitimierten Eigentum im Staat, das er „peremtorisch“ nennt: „Ein Besitz in Erwartung und Vorbereitung eines solchen Zustandes, der allein auf einem Gesetz des gemeinsamen Willens gegründet werden kann . . ., ist ein provisorisch-rechtlicher Besitz, wogegen derjenige, der in einem solchen wirklichen Zustande angetroffen wird, ein peremtorischer Besitz sein würde.“ (§ 9, S. 366 f.)

Daher qualifiziert Kant seine obige Aussage, daß es nur im bürgerlichen Zustand ein Mein und Dein geben könne, wie folgt: „Im Naturzustande kann doch ein wirkliches, aber nur provisorisches äußeres Mein und Dein statt haben.“ (§ 9, S. 366)

Es stellt sich nun die Frage, ob sich das peremtorische Eigentum vom provisorischen nur hinsichtlich seiner umfassenderen Legitimierung und Absicherung unterscheidet oder ob auch inhaltliche Unterschiede bestehen. Hiermit eng verbunden ist die Frage, ob der Staat bezüglich des Eigentums eine reine Sicherungsfunktion hat oder ob er auch inhaltlichen Einfluß auf die Gestaltung der Eigentumsordnung nehmen kann. Nach Kants oben angeführter Aussage in § 957 scheint der Staat allein zur Absicherung des provisorischen Eigentums befugt zu sein, er scheint keinerlei inhaltlichen Einfluß auf die vorgefundenen Verhältnisse des Naturzustandes nehmen zu dürfen. Das provisorische Eigentum bliebe damit beim Übergang in den Staat inhaltlich unverändert bestehen, es würde sich lediglich die Modalität des Innehabens vom ungesicherten zum gesicherten Eigentum ändern.58 Das Eigen-

57 „. . . denn bürgerliche Verfassung ist allein der rechtliche Zustand, durch welchen jedem das Seine nur gesichert, eigentlich aber nicht ausgemacht und bestimmt wird . . .“ (§ 9, S. 366) 58 Brandt, R., Eigentumstheorien (1974), S. 193.

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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tum im Naturzustand wäre danach inhaltlich bereits komplett ausgeformt und bedürfte keiner näheren Ausgestaltung und Bestimmung mehr.59 Allerdings äußert Kant sich an anderer Stelle scheinbar gegensätzlich, wenn er schreibt: „weil, obgleich nach jedes seinen Rechtsbegriffen etwas Äußeres durch Bemächtigung oder Vertrag erworben werden kann, diese Erwerbung doch nur provisorisch ist, so lange sie noch nicht die Sanktion eines öffentlichen Gesetzes für sich hat, weil sie durch keine öffentliche (distributive) Gerechtigkeit bestimmt, und durch keine dies Recht ausübende Gewalt gesichert ist.“ (§ 44, S. 430 f.)

Hier scheint Kant davon auszugehen, daß dem Staat neben der Sicherungsfunktion auch die Aufgabe zukommt, die Erwerbung eingehender zu regeln; er scheint anzunehmen, daß das provisorische Eigentum im Staat nicht nur der Absicherung, sondern auch der inhaltlichen Bestimmung bedarf. Danach gewönne das Eigentum erst im Staat Gestalt; überspitzt formuliert würde das provisorische Eigentum vom peremtorischen Eigentum absorbiert und löste sich darin auf. Saage (der allerdings die gegenteilige Ansicht vertritt) formuliert dies wie folgt: „Verschlingt nicht gewissermaßen die im Staat aktualisierte volonté générale dadurch den vorstaatlichen Kern des Privateigentums, daß dieses erst . . . durch jene ,realisiert‘, d. h. peremtorisch-rechtlich wird?“ 60

Nach dieser Auslegung61 wäre Kants provisorisches Eigentum eine Chimäre, zwar gedanklich faßbar, aber in praktischer Hinsicht ein Nullum.62 An anderer Stelle in der Metaphysik zeigt sich aber, daß solch weitgehende Schlußfolgerungen Kants Auffassung nicht gerecht werden. Im Privatrecht äußert sich Kant zu der Frage, ob das provisorische Eigentum eine eigenständige Bedeutung und Funktion gegenüber jenem im Staat hat, wie folgt: das öffentliche Recht, d. h. der staatliche Zustand,

59 So etwa Lisser, zitiert nach Luf, G., Freiheit (1978), S. 213 f., und Saage, R., Eigentum (1973), S. 38 f., der dies wie folgt formuliert: „Kant verleiht . . . dem Privateigentum . . . eine geradezu absolute Dignität, die sich jeder strukturellen Relativierung durch soziale Bindungen entzieht.“ (S. 39) Kritisch zu Saages Verständnis Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 24. 60 s. Saage, R., Naturzustand (1976), S. 212. 61 Zu den unterschiedlichen Auffassungen s. Saage, R., Naturzustand (1976), S. 212 f. Zu den Vertretern dieser Auffassung gehört auch Westphal, der der Ansicht ist, Kant könne das Eigentum gar nicht legitimieren, da sein Ausgangspunkt der Naturzustand ist, s. dazu sogleich unten. 62 Damit würde sich Kants Auffassung inhaltlich der Position Hobbes’ annähern, der davon ausgeht, daß im Naturzustand „kein Eigentum, überhaupt keine Vorstellung von mein und dein“ existiert (s. Hobbes, Th., Leviathan (1651), Kap. XIII, S. 101); der Unterschied zwischen Kant und Hobbes wäre lediglich noch ein semantischer. So auch Höffe, O., Begründung (1979), S. 208.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

„enthält nicht mehr, oder andere Pflichten der Menschen unter sich, als in jenem [dem Zustand des Privatrechts] gedacht werden können; die Materie des Privatrechts ist eben dieselbe in beiden. Die Gesetze des letzteren betreffen also nur die rechtliche Form ihres Beisammenseins (Verfassung) . . .“ (§ 41, S. 424)

Dies klingt, als sei der Inhalt der Gesetze in beiden Zuständen identisch, so daß allein ein modaler Unterschied zwischen den beiden Eigentumsarten bestünde. Danach wären die gleichen und gleich umfänglichen Rechte im Naturzustand lediglich ungesichert, im Staat dagegen gesichert, was für die obige erste Auslegung sprechen würde. Allerdings schreibt Kant an anderer Stelle, im öffentlichen Recht: „Denn, der Form nach, enthalten die Gesetze über das Mein und Dein im Naturzustande ebendasselbe, was die im bürgerlichen vorschreiben, so fern dieser bloß nach reinen Vernunftbegriffen gedacht wird: nur daß im letzteren die Bedingungen angegeben werden, unter denen jene zur Ausübung . . . gelangen.“ (§ 44, S. 431)

Auch hier zeigt sich, daß nach Kants Auffassung der Inhalt der Gesetze im außerstaatlichen und im staatlichen Zustand gleich ist – allerdings nur der Inhalt der Vernunftgesetze, d. h. der a priori gültigen Gesetze. Die den Menschen nach diesen Gesetzen zukommenden Rechte (und Pflichten) stehen ihnen im Naturzustand und im Staat gleichermaßen und ohne inhaltlichen Unterschied zu. Das Vernunftrecht muß im Staat jedoch noch in positives Recht transformiert werden und bedarf auch der näheren inhaltlichen Ausgestaltung: es müssen noch „die Bedingungen, unter denen jene zur Ausübung gelangen“, angegeben werden. Daher wird eine staatliche Gestaltungsbefugnis bezüglich des Eigentums von Kant nicht ausgeschlossen.63 Diese Befugnis ist aber nicht absolut, sondern findet ihre Grenzen in den Vernunftgesetzen: nur im dadurch vorgegebenen Rahmen darf der positive Gesetzgeber sich bewegen. Da die prinzipielle Möglichkeit des Privateigentums vernunftgeboten ist, wäre etwa ein Verbot von Privateigentum und die alleinige Zulassung von Gemeineigentum nicht möglich.64 Kants Auffassung liegt also in der Mitte zwischen den beiden obigen Auslegun-

63 So auch Hofmann, H., Naturzustand (1982), S. 26 und S. 40, Fn. 59; Kersting, W., Eigentum (1991), S. 132; Langer, C., Prinzipien (1986), S. 153 f., 155, 159; Luf, G., Freiheit (1978), S. 123. Strittig ist, ob Kants Eigentumstheorie Verteilungsgerechtigkeit bedingt und eine sozialstaatliche Komponente beinhaltet, s. dazu unten 4. c). Ein Überblick zu dieser Frage findet sich bei Kühl, K., Sachenrecht (1999), S. 126 und 128–131. 64 Mulholland, L. A., System (1990), S. 294, hält dies allerdings für möglich, wenn alle Mitglieder des Staates zustimmen. Aber diese Zustimmung aller kann das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft nicht aufheben, das die prinzipielle Möglichkeit von (Privat-!) Eigentum vorschreibt; die prinzipielle Möglichkeit für jeden, Privateigentum zu haben, muß im Staat gewahrt bleiben. s. hierzu auch Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 215 f.

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gen:65 Der Kerngehalt des provisorischen Eigentums muß im Staat erhalten bleiben, es löst sich nicht völlig im peremtorischen Eigentum auf, sondern hat normative Wirkung für dieses. Andererseits unterliegt es seinerseits auch der staatlichen Ausgestaltung und kann und muß innerhalb des von den Vernunftgesetzen gesteckten Rahmens näher bestimmt werden;66 das Privatrecht läßt dem Staat also einen Gestaltungsspielraum, der vorstaatliche Zustand wird nicht einfach unverändert übernommen.67 (bb) Das Erlaubnisgesetz Allerdings stellt sich die Frage, wie Eigentumsansprüche schon im außerstaatlichen Zustand entstehen können, wie provisorisches Eigentum möglich ist, wenn „der einseitige Wille . . . nicht zum Zwangsgesetz für jedermann dienen“ kann, sondern nur ein „kollektiv-allgemeiner (gemeinsamer) . . . Wille“ (§ 8, S. 365 f.). Oben wurde zwar festgestellt, daß der Gebrauch von Sachen prinzipiell mit der Freiheit aller anderen Menschen vereinbar ist, also mit dem Rechtsgesetz übereinstimmt. Diese Aussage gilt aber nur bezüglich des grundsätzlichen Gebrauchs von Sachen, nicht mehr dagegen bezüglich des Gebrauchs bestimmter Sachen. 65

So auch Langer, C., Prinzipien (1986), S. 159. Die Tatsache, daß das Vernunftrecht noch in positives Recht umgesetzt werden muß und dem Staat im Rahmen dessen eine Gestaltungsfunktion zukommt, bedeutet aber nicht, daß man deshalb das Eigentum im Naturzustand nicht legitimieren kann, wie Westphal meint. Er nimmt dies an, da er der Ansicht ist, viele der zentralen Rechte, die das Eigentum ausmachen, könnten erst im Staat definiert und spezifiziert werden, so daß Kant sich nicht mit ihnen auseinandersetzen könne, da er das Eigentum im Naturzustand behandle; s. Westphal, K. R., Justify (1997), S. 148. Aber der Kerngehalt des Eigentums, das zentrale Recht, liegt eben darin, daß es sich hierbei um ein umfassendes Herrschaftsrecht handelt. Dieser Kerngehalt ist vernunftrechtlich vorgegeben und muß auch im Staat gewahrt bleiben. Welche Befugnisse es später im einzelnen umfaßt, d. h. wie der Staat die Möglichkeiten des Rechtsverkehrs regelt und welche Rechtsinstitute er schafft, ist für die prinzipielle Begründung des Eigentums unerheblich; es sind alle vom positiven Recht vorgesehenen darin enthalten. Und staatliche Beschränkungen sind zwar möglich, dürfen aber nur so weit gehen, daß dieser Kerngehalt gewahrt bleibt und die Vernunftgesetze noch zur Geltung kommen; ein völliges staatliches (Privat-)Eigentumsverbot wäre beispielsweise nicht zulässig. Die grundlegende Frage nach der Möglichkeit eines umfassenden Herrschaftsrechtes kann daher nicht mit dem Argument verneint werden, man könne noch gar nicht absehen, welche Einzelbefugnisse dieses enthalten werde oder inwieweit es eventuell beschränkt werden könne. Auch Luf, G., Freiheit (1978), S. 78, zieht aus der Tatsache, daß Kant das Eigentum ausgehend vom Naturzustand begründet, nur die Schlußfolgerung, daß keine „differenzierte Untersuchungen zur Gestaltung der staatlichen Eigentumsordnung“ zu erwarten sind und „die Frage nach staatlichen Gestaltungsbefugnissen von vornherein nur untergeordnete Bedeutung erlangen kann“. Er nimmt dagegen nicht an, daß Kant deshalb das Rechtsinstitut Eigentum nicht legitimieren kann. 67 Hofmann, H., Naturzustand (1982), S. 26. 66

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

Daher ist im Naturzustand, vor der Einsetzung des allgemein vereinigten Willens, eine spezielle Erlaubnis erforderlich, um umfassende Rechte und eine Ausschlußbefugnis auch bezüglich konkreter, nicht physisch besessener Sachen zu haben. Da die Möglichkeit, Eigentum haben zu können, wie oben dargelegt vernunftnotwendig ist, gibt uns die praktische Vernunft zur Ermöglichung eines solchen Rechtes „ein Erlaubnisgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft“ (§ 2, S. 355). Dieses Gesetz gibt „uns die Befugnis . . ., die wir aus bloßen Begriffen vom Rechte überhaupt nicht herausbringen könnten; nämlich allen anderen eine Verbindlichkeit aufzulegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände unserer Willkür zu enthalten, weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen haben.“ (§ 2, S. 355)68

Damit läßt das Erlaubnisgesetz etwas zu, was allein nach dem Rechtsgesetz nicht erlaubt wäre, nämlich andere vom Gebrauch der Gegenstände auszuschließen, die wir zuerst in Besitz genommen haben69 – auch, wenn wir sie im Moment nicht physisch besitzen. Es sanktioniert diese einseitige Handlung vorläufig, da der durch diesen Akt geschaffene Zustand notwendiges Durchgangsstadium auf dem Weg zur Verwirklichung des Rechtes und zur Schaffung eines rechtlichen Zustandes ist.70 Das Gesetz bietet damit die Basis für die Entstehung von Eigentumsansprüchen unter Bedingungen, unter denen dies sonst nicht möglich wäre.71 Eben weil das Eigentum im Naturzustand auf einseitigen Handlungen und nicht einem allgemeinen Konsens beruht, ist es provisorisch. Es ist noch kein voll legitimiertes und gesichertes Eigentum wie im Staat, sondern eine Vorstufe. Daher gilt: „die Art, etwas Äußeres als das Seine im Naturzustande zu haben, ist ein physischer Besitz, der die rechtliche Präsumtion für sich hat, ihn, durch Vereinigung mit dem Willen aller in einer öffentlichen Gesetzgebung, zu einem rechtlichen zu machen, und gilt in der Erwartung komparativ für einen rechtlichen.“ (§ 9, S. 367)

68 Diese Befugnis läßt sich deshalb nicht aus dem Begriff des Rechts ableiten, weil dieser nur das interpersonale Verhältnis berücksichtigt, nicht dagegen die Beziehung der Willkür auf äußere Gegenstände. Um diese Beziehung herstellen zu können, ist eine synthetische Erweiterung des Rechtsbegriffs nötig, die durch die Einführung des intelligiblen Besitzes erfolgt, s. dazu § 6, S. 358 ff., und Hespe, F., Gesellschaftsvertrag (1998), S. 298 ff. 69 An dieser Stelle kommt nun doch ein Moment des Erwerbens von Eigentum ins Spiel, nämlich die Inbesitznahme. Dieser Vorgriff auf den zweiten Hauptteil ist nötig, weil das Haben einer äußeren Sache, die dem Menschen eben äußerlich und nicht per se verbunden ist, logischerweise ihre Erwerbung voraussetzt, s. Deggau, H.-G., Aporien (1983), S. 63 f. 70 s. Brandt, R., Erlaubnisgesetze (1995), S. 76. 71 Herb, K./Ludwig, B., Naturzustand (KS 84, 1993), S. 294.

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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Das Eigentum im Naturzustand ist durch den physischen Besitz gekennzeichnet, da der erste Zugriff auf die Sache das (provisorische) Recht an ihr begründet und Bedingung für die Ausschlußbefugnis des Eigentümers ist. Erst durch den Eintritt in den staatlichen Zustand wird dieser Besitz in einen rechtlichen transformiert; aufgrund des Erlaubnisgesetzes gilt er aber bereits „komparativ“ für den rechtlichen – allerdings nur „in der Erwartung“, d. h. im Hinblick auf den rechtlichen Zustand. Die im Erlaubnisgesetz enthaltene Befugnis unterliegt also einer wichtigen Einschränkung: sie sanktioniert die einseitige Inbesitznahme eben nur als notwendige Vorstufe für den staatlichen Zustand, nicht aber per se. Daher ergibt sich aus dem Recht und der Pflicht, Eigentum grundsätzlich anzuerkennen, das Recht und die Pflicht, die Bedingungen für die Absicherung dieses Eigentums herbeizuführen: „Wenn es rechtlich möglich sein muß, einen äußeren Gegenstand als das Seine zu haben: so muß es auch dem Subjekt erlaubt sein, jeden anderen, mit dem es zum Streit des Mein und Dein über ein solches Objekt kommt, zu nötigen, mit ihm zusammen in eine bürgerliche Verfassung zu treten.“ (§ 8, S. 366)

Aus der Notwendigkeit, Eigentum haben zu können, ergibt sich die Notwendigkeit und Verpflichtung, in einen staatlichen Zustand einzutreten, und dieses Recht auf Staat kann zwangsweise durchgesetzt werden. Ist dieser Übergang noch nicht vollzogen, gilt folgendes: „Vor dem Eintritt in diesen Zustand, zu dem das Subjekt bereit ist, widersteht er denen mit Recht, die dazu sich nicht bequemen und ihn in seinem einstweiligen Besitz stören wollen; weil der Wille aller andern . . . bloß einseitig ist, mithin eben so wenig gesetzliche Kraft (als die nur im allgemeinen Willen angetroffen wird) zum Widersprechen hat, als jener zum Behaupten, indessen daß der letzere doch dies voraus hat, zur Einführung und Errichtung eines bürgerlichen Zustandes zusammenzustimmen.“ (§ 9, S. 367)

Zwar stehen sich im Naturzustand bloß einseitige Willküren und einseitige Ansprüche auf Sachen gegenüber, die mangels ihrer Zusammenfassung zum allgemein vereinigten Willen keine Verpflichtungskraft gegenüber anderen haben. Dabei besteht aber zwischen den Anspruchstellern, die zum Eintritt in den Staat bereit sind, und jenen, die es nicht sind, ein Unterschied: die ersteren sind mit der Einführung eines rechtlichen Zustandes einverstanden und stehen damit auf der Seite des Rechts. Daher haben sie gegenüber den letzteren auch schon im Naturzustand das Recht auf ihrer Seite und können sich bei Nichtbeachtung ihrer Eigentums- bzw. Besitzansprüche mit Recht ihnen gegenüber wehren. (b) Staatstranszendente Dynamik: Völker- und Weltbürgerrecht Letztlich entwickelt dieser Gedanke eine noch weitergehende Dynamik, die über den Staat hinausweist. Denn es ist eine unumgängliche empirische Tat-

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

sache, daß es auf der Erde nicht nur einen, sondern zahlreiche Staaten gibt,72 deren Beziehungen zueinander nicht oder nur unzulänglich rechtlich geregelt sind. Daher herrscht zwischen ihnen – ebenso wie zwischen den einzelnen Menschen vor dem Eintritt in den Staat – ein rechtloser Zustand, sie befinden sich also untereinander im Naturzustand. Dieser Gedanke findet sich zwar noch nicht im ersten Hauptstück, im Staatsrecht aber weist Kant darauf hin: „Da der Naturzustand der Völker, eben so wohl als einzelner Menschen, ein Zustand ist, aus dem man herausgehen soll, um in einen gesetzlichen zu treten: so ist, vor dieser Ereignis, alles Recht der Völker und alles durch den Krieg erwerbliche oder erhaltbare äußere Mein und Dein der Staaten bloß provisorisch . . .“ (§ 61, S. 474)

Auch zwischen den Staaten und Völkern sind die jeweiligen Eigentumsansprüche, etwa Gebietsansprüche, nur einseitig und vermögen damit die anderen Staaten und ihre Einwohner nicht wirksam zu verpflichten. Daher ist letztlich auch zwischen den Staaten bzw. den Bewohnern aller Staaten ein bürgerlicher Zustand herzustellen, wie Kant in § 43 fordert: er weist darauf hin, daß „unter dem allgemeinen Begriffe des öffentlichen Rechts, nicht bloß das Staats- sondern auch ein Völkerrecht . . . zu denken“ ist, „welches dann, weil der Erdboden eine nicht grenzenlose, sondern sich selbst schließende Fläche ist, beides zusammen zu der Idee eines Völkerstaatsrechts . . . oder des Weltbürgerrechts . . . unumgänglich hinleitete: so, daß, wenn unter diesen drei möglichen Formen des rechtlichen Zustandes es nur einer an dem die äußere Freiheit durch Gesetze einschränkenden Prinzip fehlt, das Gebäude aller übrigen unvermeidlich untergraben werden, und endlich einstürzen muß.“ (§ 43, S. 429)

Erst wenn alle drei rechtlichen Zustände verwirklicht sind, ist das äußere Mein und Dein umfassend gesichert;73 bis zu diesem Zeitpunkt sind die entsprechenden Rechte nur provisorisch. Die Notwendigkeit der Schaffung rechtlicher Beziehungen zwischen den Staaten ist damit ebenso wie die Notwendigkeit der Schaffung eines Staates bereits in Kants Eigentumstheorie angelegt.74 Die Einrichtung des Völker- und Weltbürgerrechts dient ebenso wie die Einrichtung des Staatsrechtes der Sicherung des Eigentums und damit letztlich der Verwirklichung der menschlichen Freiheit.

72 Solche grundlegenden empirischen Tatsachen kommen auch bei einer „aus der Vernunft hervorgehende[n]“ Rechtslehre (S. 309) ins Spiel, da durch sie erst der „Anwendungsbereich des Rechts“ (Höffe) definiert wird; s. dazu Höffe, O., Kant (1996), S. 211 f. 73 s. auch Langer, C., Prinzipien (1986), S. 171. 74 s. hierzu Herb, K./Ludwig, B., Naturzustand (KS 84, 1993), S. 313 f.; Mulholland, L. A., System (1990), S. 246.

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(c) Staatsimmanente Dynamik: Republikanisierung Daneben enthält Kants Eigentumstheorie noch eine weitere dynamische Komponente; sie treibt nicht nur in zwischenstaatlicher und globaler Perspektive, sondern auch im Hinblick auf die innerstaatliche Ausgestaltung über den zunächst gegründeten Staat hinaus. Denn im Staatsrecht weist Kant darauf hin, daß das Eigentum nicht in jedem Staat peremtorisch ist, sondern allein in einer Republik:75 „Dies ist die einzige bleibende Staatsverfassung, wo das Gesetz selbstherrschend ist, und an keiner besonderen Person hängt; der letzte Zweck alles öffentlichen Rechts, der Zustand, in welchem allein jedem das Seine peremtorisch zugeteilt werden kann; indessen, daß, so lange . . . nur ein provisorisches inneres Recht, und kein absolut-rechtlicher Zustand, der bürgerlichen Gesellschaft zugestanden werden kann. Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks . . .“ (§ 52, S. 464)

Die Qualifizierung eines Staates zur Republik steht im Zusammenhang mit der Zweiweltenlehre, die Kant auch auf die Einteilung der Staaten anwendet. Er unterscheidet im Staatsrecht den „Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll“, von „jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen“ (§ 45, S. 431), differenziert also zwischen einem intelligiblen Staat und den realen, empirischen Staaten. Der erstere dient den letzteren „zur Richtschnur (norma)“, soweit seine Gesetze „als Gesetze a priori notwendig . . . sind“ (§ 45, S. 431); er hat also Vorbildcharakter für die realen Staaten. Im 1798 erschienenen Streit der Fakultäten nennt Kant diesen Staat die „respublica noumenon“ 76, die „ein platonisches Ideal“ und „die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt“ ist (Streit S. 364). Die realen, empirischen Staaten lassen sich nun nach ihrer Übereinstimmung mit diesem Ideal in zwei Kategorien teilen: in die Staaten, die dem apriorischen Ideal nahekommen und es in der Erscheinung darstellen, und in jene, die noch nicht an das Vorbild heranreichen. Im Streit drückt Kant dies wie folgt aus: „Eine dieser [der ewigen Norm] gemäß organisierte bürgerliche Gesellschaft ist die Darstellung derselben nach Freiheitsgesetzen durch ein Beispiel in der Erfahrung (respublica phaenomenon).“ (Streit S. 364)

In der Metaphysik beschreibt Kant die respublica phaenomenon als „den Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien“ (§ 49, S. 437). Da erst unter dieser Bedingung das Eigentum wahrhaft peremtorisch ist, entwickelt Kants Eigentumstheorie eine innerstaatliche Dynamik und treibt über die bestehenden geschichtlichen Staaten hinaus zur „wahre[n] Republik“ (§ 52, 75 76

s. hierzu auch Langer, C., Prinzipien (1986), S. 170 f. s. dazu Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 433–435.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

S. 464), d. h. zur Annäherung der realen Staaten an die respublica noumenon. Bereits in Kants Eigentumstheorie ist die Forderung nach einer Reform der bestehenden Staatsverfassungen, nach einer Republikanisierung, angelegt.77 Damit beruht seine Forderung, die realen Staaten dem idealen Staat soweit wie möglich anzugleichen, auf dem Bestreben, das Eigentum zu peremtorisieren, um so die dadurch mitverwirklichte menschliche Freiheit umfassend zu sichern. c) Begründung individueller Eigentumsansprüche Nachdem Kant im ersten Hauptstück nachgewiesen hat, daß es prinzipiell möglich sein muß, Eigentum zu haben, dieses also als Rechtsinstitut legitimiert hat, widmet er sich im zweiten Hauptstück unter dem Titel „Von der Art, etwas Äußeres zu erwerben“ der Frage, wie individuelle Eigentumsrechte entstehen können. (1) Erwerbung alles Äußeren nötig Kant äußert sich hierzu wie folgt: „Ursprünglich mein ist dasjenige Äußere, was auch ohne einen rechtlichen Akt mein ist . . . Nichts Äußeres ist ursprünglich mein . . .“ (§ 10, S. 368). Im Gegensatz zum inneren Mein und Dein gibt es nichts Äußeres, das einem Menschen ohne rechtlichen Akt angehört, d. h. angeboren ist. Anders als der eigene Körper und die eigene Willkür, die jedem angeboren sind und nicht erworben werden müssen,78 muß alles Äußere erst vom Menschen erworben werden, um es zu seinem zu machen, denn „[i]ch erwerbe etwas, wenn ich mache (efficio), daß etwas mein werde.“ (§ 10, S. 368) Diese Erwerbung kann entweder vom Eigentum eines anderen abgeleitet sein, oder sie kann ursprünglich sein: „Eine Erwerbung . . . ist ursprünglich diejenige, welche nicht von dem Seinen eines anderen abgeleitet ist.“ (§ 10, S. 368). Niemand kann also einen äußeren Gegenstand ursprünglich als seinen haben, sondern muß ihn immer erst erwerben, aber er kann ihn ursprünglich erwerben: etwas Äußeres „kann . . . ursprünglich, d. i. ohne es von dem Seinen irgend eines anderen abzuleiten, erworben sein.“ (§ 10, S. 368). Nun gilt: „Irgend eine ursprüngliche Erwerbung des Äußeren aber muß es indessen doch geben; denn abgeleitet kann nicht alle sein.“ (§ 15, S. 377). Denn wenn niemandem ursprünglich etwas Äußeres als das Seine gehört, kann ursprünglich auch nichts abgeleitet von jemandem erworben werden. Daher muß alles Äußere zunächst ursprünglich erworben werden, bevor es dann weiterveräußert, d. h. abgeleitet vom Seinen eines anderen erworben werden kann.79 77

s. hierzu Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 473 f. Brandt, R., Eigentumstheorien (1974), S. 187. 79 Daher ist es nicht zutreffend, wenn Buhr, M./Irrlitz, G., Kant (1976), schreiben: „Hier wird deutlich, daß Kants Begriff des Rechts als eines Verhältnisses von Perso78

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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Allerdings gilt dies nur bezüglich eines der drei Objekte der menschlichen Willkür, nämlich bezüglich Sachen: „Die ursprüngliche Erwerbung eines äußeren Gegenstandes der Willkür . . . kann nicht anders, als an körperlichen Dingen (Substanzen) statt finden.“ (§ 10, S. 369). Die Erwerbung der Willkür eines anderen und seiner Person im Sinne eines auf dingliche Art persönlichen Rechts kann nur abgeleitet sein, da diese beiden Objekte zwar für mich als Erwerbenden, nicht aber für den anderen als Veräußernden etwas Äußeres sind. Diese Objekte sind nicht herrenlos,80 sondern dem anderen angeboren, so daß ich sie nur von ihm übertragen bekommen kann, nicht aber unabhängig von ihm erwerben kann. (2) Ursprüngliche Erwerbung möglich Als erstes Objekt aller nicht abgeleiteten Erwerbung kommt nur eine Sache in Betracht: der Boden. „Der Boden . . . ist, in Ansehung alles Beweglichen auf demselben, als Substanz, die Existenz des letzteren aber nur als Inhärenz zu betrachten und . . . so kann . . . das Bewegliche auf dem Boden nicht das Seine von jemanden sein, wenn dieser nicht vorher als im rechtlichen Besitz desselben befindlich . . . angenommen wird. Denn setzet, der Boden gehöre niemandem an: so werde ich jede bewegliche Sache, die sich auf ihm befindet, aus ihrem Platze stoßen können, um ihn selbst einzunehmen, bis sie sich gänzlich verliert, ohne daß der Freiheit irgend eines anderen, der jetzt gerade nicht Inhaber desselben ist, dadurch Abbruch geschieht . . .“ (§ 12, S. 372)

Jede bewegliche Sache benötigt einen Platz auf dem Erdboden. Könnte man nun zwar bewegliche Sachen, nicht aber den Boden selbst als Eigentum haben, so könnte jeder jede fremde Sache von ihrem Platz bewegen, wenn der Eigentümer selbst sich nicht dort befindet, und zwar solange, bis die Sache keinen Platz mehr auf Erden hätte und damit ihrer Existenzgrundlage beraubt wäre.81 Daher muß auch – und zwar zunächst – der Boden erworben werden können. Durch die Erwerbung dieser Substanz werden auch die auf ihm befindlichen beweglichen Sachen miterworben, weil sie nur Akzidenzen zu ihm sind: „Was die Körper auf einem Boden betrifft, der schon der meinige ist, so gehören sie, wenn sie sonst keines anderen sind, mir zu, ohne daß ich zu diesem Zweck eines besonderen rechtlichen Akts bedürfte . . .; nämlich, weil sie als der Substanz inhärierende Akzidenzen betrachtet werden können . . .“ (§ 17, S. 380) nen die Existenz kapitalistischer Warenproduktion zur Voraussetzung hat. Der Tauschwert ist für Kant die Grundlage des Rechtsverhältnisses.“ (S. 116) Die Autoren verkennen hier, daß jeder vertraglichen Übereignung von Sachen logisch zunächst die ursprüngliche Erwerbung des Bodens und aller Sachen vorausgeht, die gerade nicht auf Tauschbasis, sondern auf Einseitigkeit beruht, s. dazu sogleich. Kants Verständnis des Sachenrechts als interpersonales Recht ist durchaus auch ohne „kapitalistische Warenproduktion“ haltbar und überzeugend. 80 s. Kersting, W., Freiheit (1993), S. 262. 81 s. hierzu Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 127.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

Die erste Erwerbung einer Sache setzt nach Kant also zunächst logisch die Erwerbung des Bodens voraus, auf dem sie sich befindet: „Die erste Erwerbung einer Sache kann keine andere als die des Bodens sein“ (§ 12, S. 372); allein der Boden kann ursprünglich erworben werden,82 wie Kant in § 15 betont: „Die Unbestimmtheit, in Ansehung der Quantität sowohl als der Qualität des äußeren erwerblichen Objekts, macht diese Aufgabe (der einzigen ursprünglichen äußeren Erwerbung) unter allen zur schweresten sie aufzulösen.“ (§ 15, S. 377)

Allerdings heißt allein die Tatsache, daß der Boden der logisch erste zu erwerbende Gegenstand ist, nicht, daß diese Erwerbung damit auch eine ursprüngliche Erwerbung ist; die zeitlich erste Erwerbung ist nicht automatisch gleich der ursprünglichen: „Indessen ist die erste Erwerbung doch darum so fort nicht die ursprüngliche.“ (§ 10, S. 369). Denn eine ursprüngliche Erwerbung liegt nur bei Einseitigkeit vor: „Sie ist ursprünglich auch nur die Folge von einseitiger Willkür; denn wäre dazu eine doppelseitige erforderlich, so würde sie von dem Vertrag zweier (oder mehrerer) Personen, folglich von dem Seinen anderer abgeleitet sein.“ (§ 10, S. 369). So gibt es zumindest eine erste Erwerbung, die keine ursprüngliche ist, nämlich die „Erwerbung“ des bürgerlichen Zustandes, d. h. die Vereinigung der Menschen zum Staat: „Denn die Erwerbung eines öffentlichen rechtlichen Zustandes durch Vereinigung des Willens aller zu einer allgemeinen Gesetzgebung wäre eine solche, vor der keine vorhergehen darf, und doch wäre sie von dem besonderen Willen eines jeden abgeleitet und allseitig: da eine ursprüngliche Erwerbung nur aus dem einseitigen Willen hervorgehen kann.“ (§ 10, S. 369)

Die „Erwerbung“ des staatlichen Zustandes wäre also logisch gesehen eine erste Erwerbung, da dieser Zustand vorher noch nicht bestand, sie wäre aber keine ursprüngliche Erwerbung, da sie nicht durch einen einseitigen, sondern allseitigen Willen zustande kommt. Kant betont: „Ein jeder Boden kann ursprünglich erworben werden . . .“ (§ 13, S. 372), geht also davon aus, daß der Boden durch einseitige Willkür erworben werden kann. Damit lehnt er die von Grotius und Pufendorf vertretene Vorstellung ab, daß die erste Erwerbung nicht ursprünglich, d. h. einseitig, sondern durch eine vertragliche Übereinkunft erfolge.83 Wie die ursprüngliche Erwerbung nach Kants Ansicht möglich ist, soll im folgenden gezeigt werden. (3) Voraussetzungen der ursprünglichen Erwerbung Bevor er im einzelnen auf die ursprüngliche Erwerbung eingeht, stellt Kant in § 10 das allgemeine Prinzip der äußeren Erwerbung vor, das sowohl für das 82 Kritisch zu dieser Aussage Kants und ihrer Begründung Kühl, K., Sachenrecht (1999), S. 196 f. 83 Brandt, R., Eigentumstheorien (1974), S. 191; Höffe, O., Kant (1996), S. 223 f.; Kersting, W., Freiheit (1993), S. 279 f., 282.

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Sachen- als auch das Schuldrecht und das auf dingliche Art persönliche Recht gilt, wie sich aus der Bezeichnung als „allgemeines Prinzip“ (§ 10, S. 368) und aus der systematischen Stellung vor den jeweiligen Abschnitten ergibt.84 Dieses allgemeine Prinzip gilt damit sowohl für die ursprüngliche als auch die abgeleitete Erwerbung. Gemäß § 10 ist das „Prinzip der äußeren Erwerbung . . . nun: Was ich (nach dem Gesetz der äußeren Freiheit) in meine Gewalt bringe, und wovon, als Objekt meiner Willkür, Gebrauch zu machen ich (nach dem Postulat der praktischen Vernunft) das Vermögen habe, endlich, was ich (gemäß der Idee eines möglichen vereinigten Willens) will, es solle mein sein, das ist mein.“ (§ 10, S. 368)

Die – abgeleitete oder ursprüngliche – Erwerbung setzt also drei Ereignisse voraus: 1. ich muß das zu erwerbende Objekt – das keine Sache sein muß – in meine Gewalt bringen, 2. ich muß das Vermögen haben, von ihm als Objekt meiner Willkür Gebrauch zu machen, 3. ich muß wollen, daß es meines sein soll. Die diesen Voraussetzungen in Klammern angefügten Zusätze stellen einschränkende Bedingungen dar, die diese Akte mit den rechtlichen Prinzipien in Einklang bringen und ihre Rechtmäßigkeit sichern.85 So muß 1. das In-Gewaltbringen mit dem Gesetz der äußeren Freiheit, d. h. mit dem allgemeinen Rechtsgesetz (s. § C der Rechtslehre) vereinbar sein, 2. der Willkürgebrauch mit dem Postulat der praktischen Vernunft übereinstimmen und 3. der „Eigentumswille“ der Idee eines vereinigten Willens entsprechen.86 Auf die ursprüngliche Erwerbung übertragen, lauten diese allgemeinen Voraussetzungen wie folgt: „Die Momente . . . der ursprünglichen Erwerbung sind also 1. die Apprehension eines Gegenstandes, der keinem angehört, widrigenfalls sie der Freiheit anderer nach allgemeinen Gesetzen widerstreiten würde. Diese Apprehension ist die Besitznehmung des Gegenstandes der Willkür im Raum und der Zeit; der Besitz also, in den ich mich setze, ist (possessio phaenomenon). 2. Die Bezeichnung (declaratio) des Besitzes dieses Gegenstandes und des Akts meiner Willkür, jeden anderen davon abzuhalten. 3. Die Zueignung (appropriatio) als Akt eines äußerlich allgemein gesetzgebenden Willens (in der Idee), durch welchen jedermann zur Einstimmung mit meiner Willkür verbunden wird.“ (§ 10, S. 368 f.)

Da die ursprüngliche Erwerbung wie dargelegt nur an körperlichen Dingen, genauer gesagt nur am Boden, stattfinden kann, erläutert Kant diese Voraussetzungen entsprechend näher im Sachenrecht, in den Paragraphen 11 bis 17.

84 85 86

s. Kühl, K., Sachenrecht (1999), S. 117. Kühl, K., Sachenrecht (1999), S. 119. s. Kühl, K., Sachenrecht (1999), S. 119.

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(a) Die Besitznehmung Die Apprehension ist als „Besitznehmung des Gegenstandes . . . im Raum und der Zeit“ (§ 10, S. 368) die Herstellung empirischen, physischen Besitzes am Boden; sie ist „der Anfang der Inhabung einer körperlichen Sache im Raume (possessionis physicae)“ (§ 14, S. 373) und die „physische Besitznehmung (apprehensio physica)“ (§ 15, S. 374). Im allgemeinen Prinzip der äußeren Erwerbung beschreibt Kant diese Komponente wie folgt: „Was ich (nach dem Gesetz der äußeren Freiheit) in meine Gewalt bringe . . .“ (§ 10, S. 368). Die Tatsache, daß ich den Gegenstand bzw. den Boden in meine Gewalt bringe, bedeutet aber nicht, daß dies durch einen Akt der Gewalt geschieht, wie die Formulierung zunächst nahelegen könnte.87 Vielmehr weist Kant hiermit auf den Unterschied zwischen dem In-Gewalt-haben und dem In-der-Macht-haben einer Sache hin, den er in § 2 näher erläutert. Dort schreibt er: „Ein Gegenstand meiner Willkür aber ist das, wovon beliebigen Gebrauch zu machen ich das physische Vermögen habe, dessen Gebrauch in meiner Macht . . . steht: wovon noch unterschieden werden muß, denselben Gegenstand in meiner Gewalt . . . zu haben, welches nicht bloß ein Vermögen, sondern auch einen Akt der Willkür voraus setzt.“ (§ 2, S. 354)

Eine Sache in seiner Macht zu haben, bedeutet das potentielle Vermögen, sie zu gebrauchen, während man eine Sache in seiner Gewalt hat, wenn man dieses Vermögen durch einen Akt der Willkür aktualisiert hat, d. h. die Sache tatsächlich gebraucht. Der erstere Begriff bezeichnet die potentielle, der letztere die aktualisierte Verfügungsmöglichkeit über einen Gegenstand. Die Besitznehmung ist kein Akt der Gewalt, da sie unter der Bedingung steht, mit dem allgemeinen Prinzip des Rechts, d. h. mit der Freiheit aller nach einem allgemeinen Gesetz, zusammenzustimmen. Diese Bedingung wird durch die Priorität der Besitznehmung erfüllt; nur als zeitlich erste ist die Apprehension zulässig: „Wo nun eine solche statt findet, bedarf sie zur Bedingung des empirischen Besitzes die Priorität der Zeit vor jedem anderen, der sich einer Sache bemächtigen will.“ (§ 10, S. 369)

Die entsprechende Parzelle darf noch niemandem angehören, da der Besitznehmende sonst den vorigen Besitzer verdrängen würde, d. h. ihn seiner eigenen Willkür unterwerfen und damit dessen Freiheit verletzen würde: „Die Besitznehmung (apprehensio), als der Anfang der Inhabung einer körperlichen Sache im Raume . . ., stimmt unter keiner anderen Bedingung mit dem Gesetz der äußeren Freiheit von jedermann . . . zusammen, als unter der der Priorität in Anse-

87 s. zu dieser Frage Kersting, W., Freiheit (1993), S. 275; Luf, G., Freiheit (1978), S. 107 f.

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hung der Zeit, d. i. nur als erste Besitznehmung . . ., welche ein Akt der Willkür ist.“ (§ 14, S. 373)88

Die Besitznehmung geschieht folgendermaßen: „Der Besitzer fundiert sich auf dem angebornen Gemeinbesitze des Erdbodens . . . und erwirbt durch die erste Besitzung ursprünglich einen bestimmten Boden . . .“ (§ 6, S. 359)

Allein durch die Etablierung auf dem Erdboden, d. h. durch seine physische Anwesenheit und damit die Besetzung des Bodens, nimmt der Erwerbende die betreffende Parzelle in Besitz.89 Darüber hinausgehende Betätigungen sind nicht notwendig, insbesondere nicht die Bearbeitung des Bodens. Kant konzediert zwar, daß auch diese ein Zeichen der Besitznehmung sein könnte, sie ist aber keineswegs erforderlich: „Die Bearbeitung ist, wenn es auf die Frage von der ersten Erwerbung ankommt, nichts weiter als ein äußeres Zeichen der Besitznehmung, welches man durch viele andere, die weniger Mühe kosten, ersetzen kann.“ (§ 15, S. 376)

(aa) Ablehnung der Arbeitstheorie Kant lehnt damit die insbesondere auf John Locke zurückgehende Arbeitstheorie des Eigentums ab; er äußert sich sehr dezidiert zu der Frage: „Ferner: ist die Bearbeitung des Bodens (Bebauung, Beackerung, Entwässerung u. dergl.) zur Erwerbung desselben notwendig? Nein!“ (§ 15, S. 376) 88 Diese Voraussetzung der ursprünglichen Erwerbung, die ihre Vereinbarkeit mit dem Rechtsprinzip sichert, tritt nicht erst bei der Begründung individueller Eigentumsansprüche auf, sondern kommt auch schon bei der Begründung des Rechtsinstituts Eigentum ins Spiel: das Erlaubnisgesetz des § 2 gibt die Befugnis, andere vom Gebrauch gewisser Sachen auszuschließen, „weil wir zuerst sie in unseren Besitz genommen haben“ (§ 2, S. 355). Dieser Vorgriff ist nötig, weil das Haben einer äußeren Sache, die dem Menschen nicht angeboren ist, logischerweise ihre Erwerbung voraussetzt, s. Deggau, H.-G., Aporien (1983), S. 63 f. 89 Kersting sieht die Besitznehmung schon durch die Geburt vollzogen, s. Kersting, W., Freiheit (1993), S. 270. Kühl dagegen weist darauf hin, daß durch die Geburt zwar jeder in den angeborenen Gesamtbesitz eintritt (s. dazu unten), dieser aber nicht mit dem durch die Besitznehmung entstandenen Besitz zu verwechseln ist, s. Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 200. Für Kühls Ansicht spricht, daß Kant auch „von der Besitznehmung des Bodens, in der Absicht, ihn dereinst zu erwerben“, spricht (§ 6, S. 360) und von einer solchen Absicht beim Säugling wohl nicht die Rede sein kann. Zudem ist die Befugnis zur Besitznehmung nach Kant quantitativ begrenzt: sie erstreckt sich nur so weit, wie die Macht des Erwerbenden reicht, den in Besitz genommenen Boden zu verteidigen (s. dazu unten). Diese Fähigkeit ist beim Säugling aber ebenfalls nicht gegeben. Auch hätte Kant sonst nicht darauf hinweisen müssen, daß die Bearbeitung einer Sache ein mögliches Zeichen der Besitznehmung sei; er hätte einfach darauf verweisen können, daß diese gar nicht mehr nötig und möglich sei, da jeder Mensch die Besitznehmung schon durch die Geburt vollziehe. Die überwiegenden Gründe sprechen also dafür, die Besitznehmung nicht schon durch die Geburt verwirklicht zu sehen.

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Bevor auf Kants Begründung eingegangen wird, soll die von ihm abgelehnte Theorie zum besseren Verständnis seiner Argumente kurz skizziert werden. Locke90 geht davon aus, daß sich die Erde und die Natur (mit Ausnahme der Menschen selbst) im gemeinschaftlichen Besitz aller Menschen befinden. Der Mensch kann sich nun Teile dieses Besitzes aneignen und exklusiv für sich beanspruchen, weil er Eigentum an sich selbst hat und daher auch die Handlungen seines Körpers sein Eigentum sind. Durch Bearbeitung einer Sache wird diese mit seinen Handlungen, nämlich seiner Arbeit, und damit auch mit seiner Persönlichkeit „vermischt“;91 die Sache wird ihrem natürlichen Zustand enthoben und durch die in sie investierte Arbeit in die Sphäre des Bearbeitenden einbezogen, sie wird Teil seiner selbst.92 Diese „Einverleibung“ der Sache macht sie zum Eigentum des Bearbeitenden und verleiht ihm eine Ausschlußbefugnis gegenüber anderen Menschen. Mit dieser Theorie stellt sich Locke – wie Kant – gegen die von Grotius und Pufendorf vertretene Theorie der vertraglichen Übereignung des Eigentums im Rahmen der ersten Erwerbung; Locke geht wie später Kant davon aus, daß zum ersten Eigentumserwerb kein Vertrag nötig ist, d. h. daß das erste Eigentum ursprünglich und nicht abgeleitet erworben werden kann.93 Allerdings wirft seine Argumentation einige Fragen auf;94 insbesondere setzt Locke das Eigentum am eigenen Körper schon voraus und erweitert es dann über diesen hinaus, aber er begründet nicht, wie das Eigentum am Körper und damit letztlich Eigentum überhaupt entstehen kann.95 Kant lehnt die Theorie des Arbeitseigentums vor allem aus dem Grund ab, daß sie auf 90 Locke äußert sich zum Eigentum in der zweiten seiner Zwei Abhandlungen über die Regierung von 1690, die Ausführungen Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung macht. Zur Aneignung von Sachen schreibt er im 5. Kapitel, in § 27, folgendes: „Obwohl die Erde und alle niederen Lebewesen allen Menschen gemeinsam gehören, so hat doch jeder Mensch ein Eigentum an seiner eigenen Person. Auf diese hat niemand ein Recht als nur er allein. Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sind, so können wir sagen, im eigentlichen Sinne sein Eigentum. Was immer er also diesem Zustand entrückt, den die Natur vorgesehen und in dem sie es belassen hat, hat er mit seiner Arbeit gemischt und ihm etwas eigenes hinzugefügt. Er hat es somit zu seinem Eigentum gemacht. Da er es dem gemeinsamen Zustand, in den es die Natur gesetzt hat, entzogen hat, ist ihm durch seine Arbeit etwas hinzugefügt worden, was das gemeinsame Recht der anderen Menschen ausschließt. Denn da diese Arbeit das unbestreitbare Eigentum des Arbeiters ist, kann niemand außer ihm ein Recht auf etwas haben, was einmal mit seiner Arbeit verbunden ist.“ Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 27, S. 216 f. 91 s. Kersting, W., Eigentum (1991), S. 124. 92 Kersting, W., Eigentum (1991), S. 123; ders., Freiheit (1993), S. 281. 93 Brandt, R., Eigentumstheorien (1974), S. 191; Höffe, O., Kant (1996), S. 223 f.; Kersting, W., Freiheit (1993), S. 279 f., 282. 94 s. hierzu etwa Kersting, W., Eigentum (1991), S. 124 f.; Nozick, R., Anarchie (1974), S. 163 f. 95 s. Kersting, W., Eigentum (1991), S. 125; Westphal, K. R., Justify (1997), S. 141.

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„der in geheim obwaltenden Täuschung [beruht], Sachen zu personifizieren und, gleich als ob jemand sie sich durch an sie verwandte Arbeit verbindlich machen könne, keinem anderen als ihm zu Diensten zu stehen, unmittelbar gegen sie sich ein Recht zu denken.“ (§ 17, S. 380)

Eine Verpflichtung der Sache aufgrund der in sie investierten Arbeit, d. h. ein Recht an der Sache selbst als unmittelbares Verhältnis zwischen Eigentümer und Gegenstand ist aber wie oben dargelegt nicht denkbar; ein Sachenrecht kann nur ein mittelbares Verhältnis zwischen Person und Sache sein, nämlich ein Recht des Eigentümers (bezüglich der Sache) gegen andere Personen. Die Bearbeitung einer Sache vermag daher nach Kants Ansicht kein Eigentum am betreffenden Gegenstand zu begründen. Zudem erkennt die Arbeitstheorie nicht die Nachrangigkeit der Bearbeitung gegenüber dem bearbeiteten Material. Denn durch die Arbeit wird die Sache bzw. der Boden nicht vom Bearbeitenden selbst geschaffen, „nicht aus dem Nichts erzeugt“ (Höffe), vielmehr setzt die Möglichkeit, Arbeit überhaupt investieren zu können, bereits den Stoff voraus.96 Daher ist die Bearbeitung des Bodens in der Terminologie Kants nur Akzidenz zu seiner Substanz, und es kann nur die Substanz erworben werden: „. . . da diese Formen (der Spezifizierung) nur Akzidenzen sind, so machen sie kein Objekt eines unmittelbaren Besitzes aus, und können zu dem des Subjekts nur gehören, so fern die Substanz vorher als das Seine desselben anerkannt ist.“ (§ 15, S. 376)

Das „Eigentum“ an der Bearbeitung, wenn man von einem solchen sprechen könnte, folgt also dem Eigentum am bearbeiteten Objekt nach und nicht umgekehrt,97 wie Kant auch an späterer Stelle betont: „Daß die erste Bearbeitung, Begrenzung, oder überhaupt Formgebung eines Bodens keinen Titel der Erwerbung desselben, d. i. der Besitz des Akzidens nicht ein Grund des rechtlichen Besitzes der Substanz abgeben könne, sondern vielmehr umgekehrt das Mein und Dein nach der Regel . . . aus dem Eigentum der Substanz gefolgert werden müsse, und daß der, welcher an einen Boden, der nicht schon vorher der seine war, Fleiß verwendet, seine Mühe und Arbeit gegen den ersteren verloren hat, ist für sich selbst so klar . . .“ (§ 17, S. 380)

Die in eine Sache oder den Boden investierte Arbeit verbleibt also nur dann dem Bearbeitenden, wenn ihm das Objekt bereits vorher gehört hat; anderenfalls wird die Arbeit quasi vom Objekt absorbiert und nicht das Objekt von der Arbeit, wie Locke annimmt.98

96

s. hierzu Höffe, O., Kant (1996), S. 224. s. hierzu auch Brandt, R., Eigentumstheorien (1974), S. 191 f. 98 Die Erklärung, daß nach Lockes Theorie der Gegenstand das Eigentum aufsaugt, findet sich bei Nozick, R., Anarchie (1974), S. 164. 97

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

Daß Kant die Arbeitstheorie ablehnt und darauf hinweist, daß die Besitznehmung des Bodens auch durch seine bloße Besetzung erfolgen kann, bedeutet aber nicht, daß er eine „Okkupationstheorie des Eigentums“ vertritt99 oder daß von einem „Gewaltmotiv“ 100 in seiner Eigentumstheorie die Rede sein kann101, wie teilweise angenommen wird. Denn erstens steht die Besetzung des Bodens stets unter der Bedingung der Priorität; nur der Boden, der noch keinem anderen angehört, darf in Besitz genommen werden.102 Diese erste Aneignung verletzt weder die Freiheit eines anderen noch das allgemeine Prinzip des Rechts. Kersting drückt dies wie folgt aus: „Nicht der Stärkere wird durch die Theorie Kants begünstigt, sondern der Erste“.103 Zudem ist die Besetzung des Bodens nur eine Komponente der Erwerbung – wie es auch die ebenfalls zulässige Bearbeitung wäre: beide vollziehen nur die Besitznehmung des Bodens. Um eine Sache aber als Eigentum zu erwerben, müssen nach Kant noch zwei weitere Bedingungen erfüllt, nämlich die Bezeichnung und die Zueignung vollzogen werden. In letzterer nun kommt das „Konsensmoment“ (Kersting)104 ins Spiel, da die Zueignung durch den allgemein vereinigten Willen vollzogen wird (bzw. seiner Idee gemäß; s. dazu im einzelnen unten).105 Durch diese (simulierte) Zustimmung aller Betroffenen wird in der Zueignung die faktische Besitznehmung des Bodens rechtlich sanktioniert; in ihr löst sich die (gewaltlose!) Einseitigkeit der Besitznehmung auf. (bb) Keine quantitativen Aneignungsschranken Nach Locke unterliegt die Aneignung von Sachen und des Bodens bestimmten Grenzen: die erworbenen Sachen müssen wirklich gebraucht bzw. verbraucht werden, sie dürfen nicht verderben oder – im Falle von Land – brachliegen.106 Auch Kant äußert sich zu der Frage, ob die Besitznehmung der Sache Grenzen unterliegt: 99 Diesen Begriff benutzt Baumann, P., Seiten (KS 85, 1994), S. 151, der später allerdings selbst darauf hinweist, daß Kant sie mit einer „Konsenstheorie“ verknüpft (S. 153). 100 Saage, R., Eigentum (1973), S. 25, der dieses Motiv zwar durch die „normative Aneignungsschranke und das Kriterium der Priorität“ modifiziert sieht (s. S. 26), aber die ursprüngliche Okkupation eben doch als Akt der Gewalt qualifiziert. Weitere Nachweise zum angeblichen „Gewalteigentum“ Kants finden sich a. a. O., S. 27. 101 Gegen eine solche Einordnung der kantischen Eigentumslehre auch Höffe und Kersting (s. sogleich unten) sowie Zaczyk, R., Gerechtigkeit (1994), S. 118, Fn. 60. 102 s. Höffe, O., Kant (1996), S. 224 f. 103 Kersting, W., Freiheit (1993), S. 275. 104 Kersting, W., Eigentum (1991), S. 121. 105 s. hierzu Baumann, P., Seiten (KS 85, 1994), S. 153; Kersting, W., Eigentum (1991), S. 127 f. 106 Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 31, S. 218 f.; II, § 37 f., S. 223 f. s. hierzu Brandt, R., Eigentumstheorien (1974), S. 82.

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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„Es ist die Frage: wie weit erstreckt sich die Befugnis der Besitznehmung eines Bodens? So weit, als das Vermögen, ihn in seiner Gewalt zu haben, d. i. als der, so ihn sich zueignen will, ihn verteidigen kann; gleich als ob der Boden spräche: wenn ihr mich nicht beschützen könnt, so könnt ihr mir auch nicht gebieten.“ (§ 15, S. 375)

An anderer Stelle formuliert er dies wie folgt: „So weit ich aus meinem Sitze mechanisches Vermögen habe, meinen Boden gegen den Eingriff anderer zu sichern (z. B. so weit die Kanonen vom Ufer abreichen), gehört [er] zu meinem Besitz . . .“ (§ 17, S. 381)

Kant scheint hier davon auszugehen, daß das Recht zur Besitznehmung des Bodens nicht nur dem Erfordernis der Priorität unterliegt, sondern auch einer quantitativen Schranke, daß es nämlich nicht weiter reicht als das Vermögen des Erwerbers, den Boden gegen andere zu verteidigen. Teilweise wird angenommen, daß Kant mit diesen Formulierungen eine Aneignungsschranke aufstellt, durch die er die Inbesitznahme und Aneignung eines Großteils des Bodens durch einen einzigen oder die Konzentration des gesamten Bodens in den Händen weniger ausschließt.107 Allerdings würde durch eine solche Einschränkung der Apprehensionsbefugnis das Recht (zur Besitznehmung und damit auch zur Erwerbung) von empirischen Gegebenheiten abhängig, nämlich von der Fähigkeit des einzelnen, seinen Besitz zu verteidigen. Diese Beschränkung des Rechts durch empirische und damit zufällige Gegebenheiten widerspricht aber Kants vernunftrechtlicher Position.108 So kann etwa die Reichweite der Kanonen angesichts der heutigen, zur globalen Vernichtung fähigen Waffen kein Kriterium mehr sein, wie Kühl anmerkt.109 Auch wäre eine solche Aneignungsschranke kein Gerechtigkeitskorrektiv, als das sie ja gerade dienen soll: sie würde das Recht des einzelnen von seiner individuellen Konstitution abhängig machen und damit nicht mehr die Ersten begünstigen, sondern die stärkeren Ersten, die sich mehr aneignen dürften als die schwächeren. Statt die Besitznehmung gerechter zu machen, würde eine solche Aneignungsschranke also die Macht zum Mitkriterium für die 107 So Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 130 f., der dies allerdings auf die zweite Voraussetzung der ursprünglichen Erwerbung, nämlich die Bezeichnung bezieht, s. ebd.: „Kann ich den Gegenstand in meine Gewalt bringen, d. i. ihn als den Meinen bezeichnen und verteidigen . . .“; und: „Das zweite Moment schließt eine rechtmäßige Aneignung z. B. des gesamten Erdbodens durch einseitige Beanspruchung aus.“ Allerdings schreibt Kant – wie oben dargelegt – im allgemeinen Prinzip der äußeren Erwerbung: „Was ich (nach dem Gesetz der äußeren Freiheit) in meine Gewalt bringe, und wovon, als Objekt meiner Willkür, Gebrauch zu machen ich (nach dem Postulat der praktischen Vernunft) das Vermögen habe, endlich, was ich . . . will, es solle mein sein, das ist mein.“ (§ 10, S. 368) Daher bezieht sich das In-die-Gewalt-bringen auf die erste Komponente der Erwerbung, nämlich die Besitznehmung, während die zweite Komponente, die Bezeichnung, nur das Vermögen des Gebrauchs voraussetzt. 108 Kersting, W., Freiheit (1993), S. 276. 109 Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 210.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

Rechtmäßigkeit der Apprehension erheben. Unter vernunftrechtlichen Gesichtspunkten kann das Recht zur Besitznehmung und Aneignung von Sachen seine Grenze aber nur in der Verträglichkeit mit der Freiheit aller anderen Menschen gemäß dem allgemeinen Prinzip des Rechts finden (s. § C).110 Allerdings wäre es denkbar, daß auch das Erfordernis der Freiheitskonformität eine über die zeitliche Bedingung hinausgehende quantitative Begrenzung erfordert, damit nicht ein Mensch oder wenige alle anderen vom Gebrauch des Bodens ausschließen können. Denn jeder Mensch braucht, um seine Freiheit verwirklichen zu können – bzw. um überhaupt existieren zu können – einen Platz auf dem Boden.111 Allein schon die Bedingung der Priorität verhindert aber die Kumulation des Bodens in den Händen eines einzigen oder weniger zu Lasten aller anderen, denn jeder Erwerber findet sich stets schon in der Gesellschaft anderer Menschen. Es gibt in Kants virtuellem Naturzustand keinen Adam, der sich als erster den gesamten Globus allein aneignen kann. Den Boden, den jemand einnimmt, kann sich kein anderer mehr aneignen, so daß durch das Erfordernis der Priorität jedenfalls gewährleistet ist, daß jeder Mensch Anrecht auf einen Platz auf Erden hat. Nach Kants Aussage an anderer Stelle ist das Prioritätserfordernis daher auch die einzige Einschränkung der Apprehensionsbefugnis: „Die Besitznehmung . . ., stimmt unter keiner anderen Bedingung mit dem Gesetz der äußeren Freiheit von jedermann . . . zusammen, als unter der der Priorität in Ansehung der Zeit, d. i. nur als erste Besitznehmung . . .“ (§ 14, S. 373)

Unter dieser einen Bedingung stimmt die Besitznehmung mit dem Gesetz der äußeren Freiheit von jedermann zusammen – und nur diese eine Bedingung gilt es daher zu erfüllen. Kant macht in diesem Zitat deutlich, daß es neben der temporären Voraussetzung keine weitere, quantitative Begrenzung der Aneignungsbefugnis und damit der Erwerbung gibt.112 Allerdings stellt sich dann die Frage, wie Kants obige Aussagen zur Verteidigungsfähigkeit zu verstehen sind. Bei ihrer Auslegung ist zu beachten, daß Kant sie im Zusammenhang mit der ursprünglichen Erwerbung trifft, die nur im Naturzustand erfolgen kann, wie sich unten zeigen wird. Im Naturzustand ist die Besitznehmung, auf die sich das erste Zitat bezieht, als einseitiger Akt aber unter Umständen konkurrierenden Ansprüchen anderer Erwerber ausgesetzt, die den entsprechenden Boden für sich beanspruchen und ebenfalls als erste in Besitz genommen haben wollen. Mangels staatlicher Entscheidungsinstanzen im Naturzustand kann dieser Konflikt nicht in einem institutionalisierten Verfahren beigelegt werden, sondern muß unmittelbar von den Parteien selbst ausgetragen 110

Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 211. s. hierzu auch Langer, C., Prinzipien (1986), S. 162. 112 Daß Kant „empirische Aneignungsschranken ausschließt“, vertritt auch Langer, C., Prinzipien (1986), S. 157. 111

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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werden: „. . . aber es war doch ein Zustand der Rechtlosigkeit (status iustitia vacuus), wo, wenn das Recht streitig . . . war, sich kein kompetenter Richter fand, rechtskräftig den Ausspruch zu tun . . .“ (§ 44, S. 430). Jeder muß das von ihm behauptete Recht selbst bestimmen und durchsetzen, und zwar durch die Verteidigung seines physischen Besitzes. In einem solchen Konfliktfall – und erst in diesem – kommt es auf die Verteidigungsfähigkeit des Erwerbers an:113 Was der einzelne nicht verteidigen kann, kann er auch nicht in seiner Gewalt behalten, sondern verliert es an den Konkurrenten. Daß auch Kant die Verteidigungsfähigkeit im Zusammenhang mit Streitfällen sieht, zeigt sich im Anschluß an das obige Zitat von S. 375, wenn er schreibt: „Darnach müßte also auch der Streit über das freie oder verschlossene Meer entschieden werden . . .“ (§ 15, S. 375). Kant sieht die Frage nach der Verteidigungsreichweite nicht als apriorische Schranke der Besitznehmung und damit des Eigentumserwerbs, sondern als Entscheidungskriterium für Streitfälle im Naturzustand. Bei diesem Kriterium handelt es sich um eine faktische Grenze der Besitznehmung, die sich aus der fehlenden Verrechtlichung des Naturzustandes ergibt, nicht dagegen um eine apriorische, rechtliche. (b) Die Bezeichnung Das zweite Moment der ursprünglichen Erwerbung ist „[d]ie Bezeichnung (declaratio) des Besitzes dieses Gegenstandes und des Akts meiner Willkür, jeden anderen davon abzuhalten.“ (§ 10, S. 369). Die Bezeichnung ist neben der Besitznehmung notwendig, da diese keinen kontinuierlichen physischen Besitz schafft; wie oben dargelegt, kann und muß der Eigentümer keinen ständigen Kontakt zu seinen Sachen bzw. seinem Boden halten. Daher muß er den anderen, die er von seinem Eigentum ausschließen will, auf andere Weise kenntlich machen, welche Sachen bzw. welche Parzelle er für sich beansprucht,114 er muß seinen Eigentumsanspruch in der physischen Welt sichtbar machen. Damit stellt dieses zweite Moment der ursprünglichen Erwerbung das Bindeglied zwischen dem tatsächlichen Akt der Besitznehmung und dem rechtlichen Akt der Zueignung her; es verknüpft den durch die Besitznehmung entstandenen physischen Besitz der Sache mit dem durch die Zueignung entstandenen rechtlichen, intelligiblen Besitz und macht den Umfang des letzteren in der Erscheinungswelt sichtbar.115 Diese Kennzeichnung erfolgt beispielsweise durch das Umzäunen eines bestimmten Landstücks.116

113 114 115 116

Kersting, W., Eigentum (1991), S. 129. Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 186. s. Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 185 f. Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 186; ders., Sachenrecht (1999), S. 124.

126

C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

(c) Die Zueignung Sowohl die Apprehension als auch die Bezeichnung sind einseitige Momente, die als solche anderen keine Verpflichtung auferlegen können. Sie werden erst durch das dritte Element der ursprünglichen Erwerbung, die Zueignung, rechtlich sanktioniert und begründen eine wirksame Verpflichtung für andere, sich des Eigentums zu enthalten. Die Zueignung definiert Kant in § 14 als „Wille . . ., die Sache (mithin auch ein bestimmter abgeteilter Platz auf Erden) solle mein sein“ (§ 14, S. 373). Dies entspricht dem dritten Element des allgemeinen Prinzips der äußeren Erwerbung: „was ich . . . will, es solle mein sein“ (§ 10, S. 368). (aa) Scheinbarer Widerspruch Der Wille zur Erwerbung „kann in einer ursprünglichen Erwerbung nicht anders als einseitig . . . sein“ (§ 14, S. 373), da jede durch zwei- oder mehrseitigen Willen vollzogene Erwerbung abgeleitet wäre (s. S. 369); andererseits hat Kant aber bereits im ersten Hauptstück betont, daß jemand durch seinen (einseitigen) Willen einem anderen keine Verpflichtung auferlegen kann, da dies dessen Freiheit und damit dem Rechtsprinzip (s. § C, S. 337) widersprechen würde. Dies gilt auch im Zusammenhang mit der ursprünglichen Erwerbung: „Derselbe Wille aber kann doch eine äußere Erwerbung nicht anders berechtigen, als nur so fern er in einem a priori vereinigten (d. i. durch die Vereinigung der Willkür aller, die in ein praktisches Verhältnis gegen einander kommen können) absolut gebietenden Willen enthalten ist; denn der einseitige Wille . . . kann nicht jedermann eine Verbindlichkeit auflegen, die an sich zufällig ist, sondern dazu wird ein allseitiger nicht zufällig, sondern a priori, mithin notwendig vereinigter und darum allein gesetzgebender Wille erfordert; denn nur nach dieses seinem Prinzip ist Übereinstimmung der freien Willkür eines jeden mit der Freiheit von jedermann, mithin ein Recht überhaupt, und also auch ein äußeres Mein und Dein möglich.“ (§ 14, S. 374)

Diese Ausführungen entsprechen denen im § 8; parallel dazu weist Kant hier darauf hin, daß die Freiheit aller, d. h. ihre Unabhängigkeit von der nötigenden Willkür anderer Personen, nur dann gewährleistet ist, wenn die ihnen auferlegten zufälligen Verpflichtungen (auch) ihrem Willen entspringen, sie also ihre Zustimmung dazu gegeben haben. Die Verpflichtung, sich des Gebrauchs bestimmter Sachen zu enthalten, ist eine solche zufällige Verpflichtung und bedarf daher der Zustimmung aller von diesem Anspruch Betroffenen. Diese Zustimmung aller liegt nur im allgemein vereinigten Willen vor; bloß zwei- oder mehrseitige Übereinkünfte wären nicht hinreichend, da sie nicht die Freiheit aller Betroffenen in Einklang bringen würden. Daher gilt: „Der Vernunfttitel der Erwerbung aber kann nur in der Idee eines a priori vereinigten . . . Willens aller liegen . . .; denn durch einseitigen Willen kann anderen eine Verbindlichkeit, die sie für sich sonst nicht haben würden, nicht auferlegt werden.“ (§ 15, S. 375)

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Die Zueignung als drittes Moment der ursprünglichen Erwerbung setzt damit zwei Faktoren voraus: einerseits die Einseitigkeit des Zueignungswillens, um die Ursprünglichkeit der Erwerbung zu gewährleisten, andererseits die Allseitigkeit dieses Willens, um die Rechtsförmigkeit der Erwerbung zu gewährleisten. Diese beiden Voraussetzungen scheinen sich in eklatanter Weise zu widersprechen und zu einer paradoxen Situation zu führen: da die erste Erwerbung des Bodens nur ursprünglich sein kann, muß sie auf einem einseitigen Willen basieren. Andererseits kann aber ein einseitiger Wille andere nicht wirksam verpflichten, so daß zur Erwerbung des Bodens ein allseitiger Wille nötig ist, durch den die Erwerbung aber nicht mehr ursprünglich wäre.117 (bb) Idee des a priori vereinigten Willens Dieser Widerspruch wäre nur aufzulösen, wenn die Zueignung auf einem Willen basierte, der gleichzeitig einseitig und allseitig sein könnte. Wie dies möglich ist, deutet sich in Kants obiger Aussage an, daß „[d]er Vernunfttitel der Erwerbung . . . nur in der Idee eines a priori vereinigten . . . Willens aller liegen“ könne (§ 15, S. 375). Diese Idee des allgemein vereinigten Willens birgt die Lösung des Problems in sich,118 wie Kant in seiner ersten Definition der Zueignung deutlich macht: „Die Zueignung . . . [ist] Akt eines äußerlich allgemein gesetzgebenden Willens (in der Idee), durch welchen jedermann zur Einstimmung mit meiner Willkür verbunden wird.“ (§ 10, S. 369)

Die Zueignung ist Akt eines allgemeinen Willens nur in der Idee, d. h. nur gedanklich; die Zueignung durch den allgemein vereinigten Willen, d. h. die Zustimmung aller Betroffenen, wird gedanklich simuliert.119 „Faktisch“ bleibt die Zueignung dagegen ein einseitiger Akt des Erwerbers, so daß die Ursprünglichkeit der Erwerbung gewahrt bleibt. Allerdings darf der Begriff „faktisch“ nicht zu der Annahme verleiten, daß Kant den Naturzustand als reales, historisches Stadium ansieht; für Kant ist der Naturzustand vielmehr eine rein virtuelle Konzeption, ein Gedankenexperiment, das dem Staat „nicht zeitlich-historisch, sondern logisch vorhergeht“ (Saage).120 Da die „tatsächliche“ Vereinigung aller Willen, die die Ursprünglichkeit der Erwerbung aufheben würde, im Staat vorliegt, kann die ursprüngliche Erwerbung nur im Naturzustand erfolgen: 117 s. hierzu auch Kersting, W., Eigentum (1991), S. 121; ders., Freiheit (1993), S. 262 f. 118 Kersting, W., Freiheit (1993), S. 265. 119 s. hierzu Kersting, W., Eigentum (1991), S. 121 f. 120 Saage, R., Naturzustand (1976), S. 206. s. hierzu auch ders., Eigentum (1973), S. 31–33 und Kersting, W., Concept (1992), S. 144.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

„Der Zustand aber eines zur Gesetzgebung allgemein wirklich vereinigten Willens ist der bürgerliche Zustand. Also nur in Konformität mit der Idee eines bürgerlichen Zustandes, d. i. in Hinsicht auf ihn und seine Bewirkung, aber vor der Wirklichkeit desselben (denn sonst wäre die Erwerbung abgeleitet), mithin nur provisorisch kann etwas Äußeres ursprünglich erworben werden. – Die peremtorische Erwerbung findet nur im bürgerlichen Zustande statt.“ (§ 15, S. 375)

Da die ursprüngliche Erwerbung auf Einseitigkeit beruhen muß, kann sie nur im außerstaatlichen Zustand erfolgen und muß damit zwangsweise provisorisch bleiben, da Voraussetzung für eine peremtorische Erwerbung die Verwilligung durch den allseitigen Willen ist, der nur im Staat vorliegt. Das Problem, daß mit dem nur simulierten kollektiven Willen letztlich noch keine tatsächliche, wirksame Zustimmung aller zum Eigentumsanspruch des einzelnen gegeben ist, löst Kant wie im ersten Hauptteil über die Konstruktion des Erlaubnisgesetzes: „Eine solche [provisorische] Erwerbung aber bedarf doch und hat auch eine Gunst des Gesetzes (lex permissiva), in Ansehung der Bestimmung der Grenzen des rechtlich-möglichen Besitzes, für sich, weil sie vor dem rechtlichen Zustande vorhergeht und, als bloß dazu einleitend, noch nicht peremtorisch ist . . .“ (§ 16, S. 378)

Die provisorische Erwerbung bedarf aufgrund der Einseitigkeit des ihr zugrundeliegenden Willens eines besonderen Rechtsgrundes, und ein solcher besteht, da sie ein notwendiges Stadium auf dem Weg zur Verrechtlichung der Eigentumsansprüche ist, die ihrerseits Pflicht ist. „In diesem Zustand aber, d. i. vor Gründung und doch in Absicht auf denselben, d. i. provisorisch, nach dem Gesetz der äußeren Erwerbung zu verfahren, ist Pflicht, folglich auch rechtliches Vermögen des Willens, jedermann zu verbinden, den Akt der Besitznehmung und Zueignung, ob er gleich nur einseitig ist, als gültig anzuerkennen; mithin ist eine provisorische Erwerbung des Bodens, mit allen ihren rechtlichen Folgen möglich.“ (§ 16, S. 378)

Die Pflicht zur Anerkennung der einseitigen Erwerbshandlungen besteht, da sonst die Möglichkeit der Entstehung von Eigentum überhaupt vereitelt würde, was dem rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft widersprechen würde: „Gleichwohl ist jene provisorische dennoch eine wahre Erwerbung; denn, nach dem Postulat der rechtlich-praktischen Vernunft, ist die Möglichkeit derselben, in welchem Zustande die Menschen neben einander sein mögen (also auch im Naturzustande), ein Prinzip des Privatrechts . . .“ (§ 15, S. 375)

Mit dieser Berufung auf das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft verweist Kant auf § 2, in dem er die Notwendigkeit, prinzipiell an jedem Gegenstand Eigentum haben zu können, begründet.

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(cc) Verpflichtung zum Staat und zur weitergehenden Verrechtlichung Das Erlaubnisgesetz sanktioniert die einseitige Handlung aber nur im Hinblick auf die Verrechtlichung des Zustandes unter den Eigentümern; die Erlaubnis zur einseitigen und daher provisorischen Erwerbung ist mit der Bedingung verknüpft, diese Erwerbung peremtorisch zu machen. Der Befugnis zur einseitigen Erwerbung korrespondiert daher die Pflicht, in einen bürgerlichen Zustand einzutreten: „Die bürgerliche Verfassung, obzwar ihre Wirklichkeit subjektiv zufällig ist, ist gleichwohl objektiv, d. i. als Pflicht, notwendig. Mithin gibt es in Hinsicht auf dieselbe und ihre Stiftung ein wirkliches Rechtsgesetz der Natur, dem alle äußere Erwerbung unterworfen ist.“ (§ 15, S. 374)

Denn wenn der einseitige Zueignungsakt als Akt eines allgemein vereinigten Willens zumindest in der Idee gelten soll, so muß für diesen wenigstens ein Anhaltspunkt bestehen. Dieser Anhaltspunkt ist die Hinwirkung aller Eigentümer auf den bürgerlichen Zustand. Der einseitige Zueignungsakt des einzelnen kann nur dann den allgemeinen Willen repräsentieren und ihn in der Idee darstellen, wenn der Erwerbende gemäß einem solchen Willen handelt, d. h. unter Anerkennung anderer Eigentumsansprüche und im Hinblick auf ihre gegenseitige Absicherung.121 Daher darf im Naturzustand jeder den anderen zum Eintritt in den Staat zwingen: „. . . aus welchem [dem Naturzustand] nun in einen rechtlichen zu treten ein jeder den anderen mit Gewalt antreiben darf; weil, obgleich nach jedes seinen Rechtsbegriffen etwas Äußeres durch Bemächtigung oder Vertrag erworben werden kann, diese Erwerbung doch nur provisorisch ist, so lange sie noch nicht die Sanktion eines öffentlichen Gesetzes für sich hat, weil sie durch keine öffentliche (distributive) Gerechtigkeit bestimmt, und durch keine dies Recht ausübende Gewalt gesichert ist.“ (§ 44, S. 430 f.)

Bis zur Herbeiführung des bürgerlichen Zustandes hat der (provisorische) Eigentümer das Recht, seinen einseitig erworbenen Besitz gegen jeden anderen zu verteidigen: „Der Besitzer . . . erwirbt durch die erste Besitzung ursprünglich einen bestimmten Boden, indem er jedem andern mit Recht (iure) widersteht, der ihn im Privatgebrauch desselben hindern würde, obzwar als im natürlichen Zustande nicht von rechtswegen (de iure), weil in demselben noch kein öffentliches Gesetz existiert.“ (§ 6, S. 359)122 121

s. hierzu auch Kersting, W., Kontraktualismus (AZP 1983), S. 10. s. auch Kants Hinweis in § 16, daß das Erlaubnisgesetz eine Befugnis vermittelt, „welche Gunst sich aber nicht weiter erstreckt, als bis zur Einwilligung anderer (teilnehmender) zu Errichtung des letzteren [des rechtlichen Zustandes], bei dem Widerstande derselben aber, in diesen (den bürgerlichen) zu treten, und so lange derselbe 122

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

Der Besitzer darf sich jedem anderen mit Gewalt widersetzen, weil das Recht mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist123 und der erste Besitz bereits ein Recht am Boden darstellt: „Der bloße physische Besitz (die Inhabung) des Bodens ist schon ein Recht in einer Sache . . . [A]uf andere ist er, als . . . erster Besitz, mit dem Gesetz der äußern Freiheit einstimmig . . .; mithin den ersten Inhaber eines Bodens in seinem Gebrauch desselben zu stören eine Läsion.“ (§ 6, S. 360)

Diese Notwendigkeit, sein Eigentum selbst zu verteidigen, und die damit verbundene Unsicherheit entfällt im Staat; der Gesellschaftsvertrag, durch den die Menschen in den Staat eintreten, hebt die Unbestimmtheit und provisorische Eigenschaft des naturzuständlichen Eigentums auf: „Die Unbestimmtheit, in Ansehung der Quantität sowohl als der Qualität des äußeren erwerblichen Objekts, macht diese Aufgabe (der einzigen ursprünglichen äußeren Erwerbung) unter allen zur schweresten sie aufzulösen. . . . Aber, wenn sie auch durch den ursprünglichen Vertrag aufgelöset wird, so wird, wenn dieser sich nicht aufs ganze menschliche Geschlecht erstreckt, die Erwerbung doch immer nur provisorisch bleiben.“ (§ 15, S. 377 f.)

Erst im Staat können die Eigentumsansprüche von den staatlichen Instanzen rechtskräftig festgelegt und durchgesetzt werden; erst im bürgerlichen Zustand besteht austeilende Gerechtigkeit, d. h. iustitia distributiva.124 Zugleich zeigt sich im obigen Zitat, daß Kants Eigentumstheorie auch unter dem Aspekt der Begründung individueller Eigentumsansprüche eine über den Staat hinausweisende Dynamik entwickelt. Parallel zu den Erwägungen im ersten Hauptstück betont Kant auch hier die Notwendigkeit eines globalen Rechtssystems, d. h. eines Völkerrechts und Weltbürgerrechts, um die Eigentumsrechte umfassend abzusichern. In gleicher Weise wie im ersten Hauptstück entwickeln seine Überlegungen auch eine innerstaatliche Dynamik, die sich wiederum aus der Unterscheidung zwischen provisorischem und peremtorischen Besitz und Kants Hinweis darauf ergibt, daß das Eigentum erst im republikanischen Staat wahrhaft peremtorisiert ist. (dd) Ursprünglicher Gesamtbesitz Wie oben dargelegt, wird in der Zueignung die Zustimmung aller Betroffenen zum Eigentumserwerb simuliert. Allerdings kann nur derjenige etwas wirksam währt, allen Effekt einer rechtmäßigen Erwerbung bei sich führt, weil dieser Ausgang auf Pflicht gegründet ist.“ (§ 16, S. 378 f.) Zu diesem Effekt einer rechtmäßigen Erwerbung gehört auch die Verteidigung des Eigentums gegen den Zugriff anderer. 123 Denn ein dem Recht entgegengesetzter Zwang ist unrecht; wenn nun diesem wiederum ein Zwang entgegengesetzt wird, dient er der Verwirklichung des Rechts und ist damit rechtmäßig, s. § D, S. 338 f. 124 s. auch § 41, S. 423.

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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verwilligen, der auch die diesbezügliche Verfügungsbefugnis hat. Daher könnte der allgemein vereinigte Wille nur dann allen außer dem Eigentümer die Verbindlichkeit auferlegen, sich des Gebrauchs der Sache bzw. des Bodens zu enthalten, wenn dieser Gebrauch überhaupt allen gemeinsam zustünde.125 Diese gemeinschaftliche Verfügungsbefugnis ist nach Kant gegeben, da alle Menschen ursprünglich und gemeinsam den Boden besitzen: „. . . der Grund der Möglichkeit dieser Erwerbung [d. h. der ursprünglichen Erwerbung des Bodens] ist die ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens überhaupt.“ (§ 13, S. 372)

Die Erwerbung (und damit auch Innehabung) von Eigentum am Boden wäre ohne einen solchen ursprünglichen Gesamtbesitz nicht möglich; dieser enthält „a priori den Grund der Möglichkeit eines Privatbesitzes“ (§ 6, S. 360). Denn daß ich mit allen anderen im Gesamtbesitz der beanspruchten Sache (hier also des Bodens) bin, „ist die einzige Bedingung, unter der es allein möglich ist, daß ich jeden anderen Besitzer vom Privatgebrauch der Sache ausschließe . . ., weil ohne einen solchen Gesamtbesitz vorauszusetzen, sich gar nicht denken läßt, wie ich, der ich doch nicht im Besitz der Sache bin, von andern, die es sind, und die sie brauchen, lädiert werden könne.“ (§ 11, S. 371)

Die Möglichkeit, lädiert zu werden, ohne im Besitz der Sache zu sein, ist nur bei intelligiblem Besitz gegeben (s. § 1, S. 353); daher weist Kant hier darauf hin, daß der ursprüngliche Gesamtbesitz die Voraussetzung für den intelligiblen Besitz (am Boden) ist. Der Grund dafür ist folgender: Gäbe es keinen Gesamtbesitz, so gäbe es keinen allgemeinen Willen, der als Berechtigter und damit wirksam über den Boden verfügen könnte. Daher könnte keine Herrschaftsbeziehung zum Boden, auch keine rein gedankliche, wie sie im intelligiblen Besitz vorliegt, über den allgemeinen Willen vermittelt werden.126 Mangels Gemeinbesitzes und mangels des daraus folgenden interpersonalen Rechtsverhältnisses könnte eine gedankliche Herrschaftsbeziehung im Sinne des intelligiblen Besitzes und damit ein Eigentumserwerb nur durch den Boden selbst vermittelt werden: „Durch einseitige Willkür kann ich keinen andern verbinden, sich des Gebrauchs einer Sache zu enthalten . . .: also nur durch vereinigte Willkür aller in einem Gesamtbesitz. Sonst müßte ich mir ein Recht in einer Sache so denken: als ob die Sache gegen mich eine Verbindlichkeit hätte, und davon allererst das Recht gegen jeden Besitzer derselben ableiten; welches eine ungereimte Vorstellungsart ist.“ (§ 11, S. 371)

125

Brandt, R., Eigentumstheorien (1974), S. 190 f. Zum Zusammenhang zwischen allgemein vereinigter Willkür und intelligiblem Besitz s. auch Kersting, W., Freiheit (1993), S. 267. 126

132

C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

Kant lehnt jedoch die Existenz von Rechten an einer Sache selbst wie gesehen ab. Daher wäre ohne die Annahme eines ursprünglichen Gesamtbesitzes aller Menschen am Erdboden kein intelligibler Besitz an diesem und damit auch keine Erwerbung des Bodens denkbar. Zudem würde die Ablehnung der Auffassung, daß alle Menschen sich ursprünglich im gemeinsamen Besitz des Bodens befinden, zur Annahme eines ursprünglich freien Bodens führen. Auch dies würde aber seine – von Kant abgelehnte – Personalisierung voraussetzen: „Wenn auch gleich ein Boden als frei, d. i. zu jedermanns Gebrauch offen angesehen . . . würde, so kann man doch nicht sagen, daß er . . . von Natur und ursprünglich, vor allem rechtlichem Akt, frei sei, denn auch das wäre ein Verhältnis zu Sachen, nämlich dem Boden, der jedermann seinen Besitz verweigerte . . .“ (§ 6, S. 359)

Der Gesamtbesitz ist damit Voraussetzung für den intelligiblen Besitz, aber nicht mit diesem identisch.127 Denn der intelligible Besitz abstrahiert „von allen Raumes- und Zeitbedingungen“ (§ 7, S. 362), während der Gemeinbesitz sowohl intelligible als auch empirische Elemente enthält.128 Erstere, weil er kein tatsächliches, historisches Stadium ist, sondern ein „praktischer Vernunftbegriff“, d. h. eine rein gedankliche Konstruktion, eine virtuelle Vorstellung: „. . . ein ursprünglicher Gesamtbesitz (communio possessionis originaria), dessen Begriff nicht empirisch und von Zeitbedingungen abhängig ist, wie etwa der gedichtete aber nie erweisliche eines uranfänglichen Gesamtbesitzes (communio primaeva), sondern ein praktischer Vernunftbegriff, der a priori das Prinzip enthält, nach welchem allein die Menschen den Platz auf Erden nach Rechtsgesetzen gebrauchen können.“ (§ 13, S. 373)

Der ursprüngliche Gesamtbesitz abstrahiert aber nur von Zeit-, nicht dagegen von Raumbedingungen; in letzterer Hinsicht ist er von empirischen Gegebenheiten abhängig, nämlich der Kugelgestalt der Erde. Er „ist ein gemeinsamer Besitz, wegen der Einheit aller Plätze auf der Erdfläche, als Kugelfläche; weil, wenn sie eine unendliche Ebene wäre, die Menschen sich darauf so zerstreuen könnten, daß sie in gar keine Gemeinschaft mit einander kämen, diese also nicht eine notwendige Folge von ihrem Dasein auf Erden wäre.“ (§ 13, S. 373)

Nur wegen der Kugelgestalt der Erde129 ist der ursprüngliche Besitz Gemeinbesitz;130 die aus ihr resultierende Endlichkeit des menschlichen Lebensraumes 127 Anders Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 193, der ihn auch „intelligibler Gesamtbesitz“ nennt. 128 Kersting, W., Freiheit (1993), S. 268; Luf, G., Freiheit (1978), S. 89. 129 Mit der Kugelgestalt der Erde kommt wiederum eine grundlegende empirische Tatsache ins Spiel. Diese Tatsachen übernehmen aber in Kants vernunftrechtlicher Rechtslehre „keine Begründungsfunktion“, sondern definieren „den Anwendungsbereich des Rechts“ (Höffe). Auf solche grundlegenden Fakten kann daher auch eine apriorische Rechtslehre nicht verzichten; s. dazu Höffe, O., Kant (1996), S. 211 f. 130 Kersting, W., Freiheit (1993), S. 268.

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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führt unweigerlich zum Kontakt der Menschen untereinander und verhindert eine Vereinzelung, die bei einem unendlichen Lebensraum denkbar wäre. Als Mischung aus intelligiblen und empirischen Momenten vermittelt der ursprüngliche Gesamtbesitz zwischen dem intelligiblen Besitz, der von allen empirischen Gegebenheiten abstrahiert, und der Empirie, d. h. den konkret zu erwerbenden Parzellen des Bodens; er verknüpft den allgemeinen Willen mit der „materiale[n] Grundlage allen Privatrechts“ (Höffe).131 Der Gemeinbesitz stellt damit den Bezug des intelligiblen Besitzes zu einer bestimmten Sache her.132 Der Gemeinbesitz ist ursprünglich, weil sich die Menschen ohne allen rechtlichen Akt im rechtmäßigen Besitz des Bodens befinden: „Alle Menschen sind ursprünglich (d. i. vor allem rechtlichen Akt der Willkür) im rechtmäßigen Besitz des Bodens, d. i. sie haben ein Recht, da zu sein, wohin sie die Natur, oder Zufall (ohne ihren Willen) gesetzt hat.“ (§ 13, S. 373)

Dieser Besitz ist „von der Natur selbst konstituiert“ (§ 13, S. 373) und den Menschen angeboren; Kant bezeichnet ihn auch als den „angebornen Gemeinbesitze des Erdbodens“ (§ 6, S. 359).133 Die Menschen haben damit allein schon durch ihre Geburt ein Recht auf den Besitz des Bodens (in Gemeinschaft mit allen anderen); das Recht, auf Erden zu leben, folgt aus dem angeborenen Mein und Dein, der menschlichen Freiheit, für die es unabdingbare Voraussetzung ist.134 Die Einnahme eines Platzes auf der Erde durch die Geburt kann nicht unrecht sein, da dies eine zurechenbare pflichtwidrige Handlung voraussetzen würde. Das Geborenwerden ist aber keine eigene Handlung, sondern vielmehr ein dem Menschen widerfahrendes Ereignis.135 Allerdings scheint die Annahme, daß sich der Boden ursprünglich im Besitz aller Menschen befindet, ein Widerspruch zu Kants einführenden Bemerkungen ins zweite Hauptstück zu sein, in denen er sagt: „Nichts Äußeres ist ursprünglich mein . . .“ (§ 10, S. 368). Dieser scheinbare Widerspruch löst sich dadurch auf, daß Kant zwischen Besitz und dem Mein und Dein, d. h. dem Eigentum, unterscheidet. So weist er in § 6136 darauf hin: 131

Höffe, O., Kant (1996), S. 224. s. hierzu Luf, G., Freiheit (1978), S. 89 f. 133 s. hierzu Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 200. 134 Kersting, W., Freiheit (1993), S. 269; Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 200. 135 Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 128. Insofern ist es mit dem Stranden zu vergleichen, zu dem Kant sich wie folgt äußert: „Das Stranden aber, es sei der Menschen, oder der ihnen zugehörigen Sachen, kann, als unvorsätzlich, von dem Strandeigentümer nicht zum Erwerbrecht gezählt werden; weil es nicht Läsion (ja überhaupt kein Faktum) ist . . .“ (§ 17, S. 381) 136 Nach Fulda, H. F., Erkenntnis (1999), gehören die Absätze 4 bis 8 von § 6 eigentlich nicht an diese Stelle, sondern sind vielmehr als Absätze 3 bis 7 des § 16 zu 132

134

C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

„Der bloße physische Besitz (die Inhabung) des Bodens ist schon ein Recht in einer Sache, obzwar freilich noch nicht hinreichend, ihn als das Meine anzusehen.“ (§ 6, S. 360)

Auch in § 10 betont er: „Der Zustand der Gemeinschaft des Mein und Dein (communio) kann nie als ursprünglich gedacht, sondern muß (durch einen äußeren rechtlichen Akt) erworben werden; obwohl der Besitz eines äußeren Gegenstandes ursprünglich und gemeinsam sein kann.“ (§ 10, S. 368)137

Da Besitz und Eigentum (Mein und Dein) nicht gleichzusetzen sind, können alle Menschen, obwohl sie ursprünglich kein (äußeres) Eigentum haben können, doch schon ein weniger umfängliches Recht haben, nämlich gemeinsam ursprünglich im Besitz des Bodens sein. d) Verhältnis von Eigentum, Naturzustand und Staat Das prinzipielle Recht der Menschen auf Eigentum entwickelt eine Dynamik, die zur umfassenden Verrechtlichung der zwischenmenschlichen Verhältnisse aus dem Naturzustand hinaus (zunächst) in den Staat treibt. Das provisorische Eigentum im Naturzustand und der Staat stellen Stufen der Rechtsverwirklichung dar; wie das Eigentum ist der Staat unerläßliche Bedingung für die Verwirklichung der menschlichen Freiheit. Das Eigentum ist die primäre Realisierungsbedingung dieser Freiheit, der Staat die sekundäre.138 Im Übergang vom Naturzustand zum Staat erfolgt eine Erweiterung der Perspektive:139 Ausgangspunkt ist die Freiheit des einzelnen, deren Verwirklichung zunächst das provisorische Eigentum dient. Da der Mensch aber nicht allein auf Erden ist, sondern in Gesellschaft lebt, ist in einem zweiten Schritt auch die Freiheit seiner Mitmenschen einzubeziehen. Diese zwischenmenschliche Perspektive führt zum Staat, der das Eigentum umfassend legitimiert und sichern kann.

lesen (s. S. 101, Fn. 1). Auch Ludwig, B., Rechtslehre (1988), geht davon aus, daß die Absätze nicht in den § 6 gehören; er ordnet sie aber § 10 zu (nach dem letzten Absatz) (s. S. 60 und 70 f.). Aufgrund der thematischen Inkongruenz in § 6 ist einer „Versetzung“ der fraglichen Absätze zuzustimmen; aufgrund ihres Inhaltes gehören sie offensichtlich ins zweite Hauptstück des Privatrechts. 137 Daher ist die folgende Aussage Kerstings nicht ganz zutreffend: „. . . die Erde ist nicht nur der gemeinsame Lebensraum aller Menschen, sie befindet sich auch im rechtlichen Besitz aller Menschen, sie ist das ursprüngliche Eigentum des Menschengeschlechts“ (s. Kersting, W., Freiheit (1993), S. 270). Sie kann als äußerer Gegenstand kein ursprüngliches Eigentum sein, sich aber dennoch im ursprünglichen Besitz aller Menschen befinden. 138 s. auch Höffe, O., Kant (1996), S. 225 f. 139 s. hierzu Herb, K./Ludwig, B., Naturzustand (KS 84, 1993), S. 309.

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Aufgrund dieser engen Verknüpfung zwischen Eigentum und Staat und der der Eigentumsbegründung innewohnenden Dynamik stehen Eigentum und Staat in einem wechselseitigen Bezug;140 die eine Institution ist ohne die andere nicht umfassend legitimiert denkbar. Kant bringt dies in § 44 wie folgt zum Ausdruck: „Wollte man vor Eintretung in den bürgerlichen Zustand gar keine Erwerbung, auch nicht einmal provisorisch, für rechtlich erkennen, so würde jener selbst unmöglich sein. Denn, der Form nach, enthalten die Gesetze über das Mein und Dein im Naturzustande ebendasselbe, was die im bürgerlichen vorschreiben, so fern dieser bloß nach reinen Vernunftbegriffen gedacht wird: nur daß im letzteren die Bedingungen angegeben werden, unter denen jene zur Ausübung (der distributiven Gerechtigkeit gemäß) gelangen. – Es würde also, wenn es im Naturzustande auch nicht provisorisch ein äußeres Mein und Dein gäbe, auch keine Rechtspflichten in Ansehung desselben, mithin auch kein Gebot geben, aus jenem Zustande herauszugehen.“ (§ 44, S. 431)

Kant betont hier die herausragende Rolle des Eigentums für die Legitimierung des Staates; er scheint zunächst sogar davon auszugehen, daß der letztere ohne die Existenz des provisorischen Eigentums im Naturzustand „unmöglich“, d. h. gar nicht zu begründen wäre. Diese Aussage qualifiziert er im letzten Satz dahingehend, daß der Staat in diesem Falle nicht als vernunftgeboten zu legitimieren wäre und damit keine Pflicht bestünde, in ihn einzutreten. Ohne die Existenz des provisorischen Eigentums wäre der Staat also nicht als geboten denkbar, sondern nur als beliebige Institution, deren Gründung den Menschen freistünde; es gäbe keine Verpflichtung der Menschen, in den Staat einzutreten und die zwischenmenschlichen Verhältnisse zu verrechtlichen.141 Aufgrund dieser Rolle des Eigentums stehen Naturzustand und Staat im Rahmen von Kants eigentumstheoretischer Begründung nicht beziehungslos nebenund beliebig zueinander; sie sind nicht voneinander unabhängig, sondern durch die der Eigentumstheorie innewohnende Dynamik miteinander verbunden. Der Übergang vom Naturzustand zum Staat erfolgt nicht „im Bruch mit der natürlichen Ordnung . . ., sondern . . . in Kontinuität mit ihr“ (Herb/Ludwig),142 denn er erfolgt unter Perpetuierung des Kerngehalts des Eigentums. Der Naturzustand ist daher nicht der Antipode des Staates, sondern vielmehr sein Vorläufer, sein

140

s. Kersting, W., Eigentum (1991), S. 131. Allerdings ist der Staat auch zur Sicherung des inneren Mein und Dein geboten; auch zur Absicherung der Freiheit der Menschen besteht die Pflicht, im Staat zu leben, wie sich unten zeigen wird. Aus dem inneren Mein und Dein läßt sich der Staat aber nicht als umfassende Sicherungsinstanz der menschlichen Rechte legitimieren, da er allein aufgrund des inneren Mein und Dein nicht den sachbezogenen Umgang der Menschen miteinander regeln kann, sondern auf die Regelung der nicht sachbezogenen interpersonellen Beziehungen beschränkt ist, s. dazu unten 5. 142 Herb, K./Ludwig, B., Naturzustand (KS 84, 1993), S. 306. Kritisch dazu Fulda, H. F., Postulat (1997), S. 273. 141

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

Wegbereiter. Er ist „kein Zustand im Verhältnis der Kontradiktion, sondern der Privation“ (Höffe).143 Wegen des beschriebenen Zusammenhangs zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht und der Dynamik von Kants Eigentumstheorie steht am Ende seines Privatrechts der „Übergang von dem Mein und Dein im Naturzustande zu dem im rechtlichen Zustande überhaupt“ (S. 422). Hier schreibt Kant: „Aus dem Privatrecht im natürlichen Zustande geht nun das Postulat des öffentlichen Rechts hervor: du sollst, im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins, mit allen anderen, aus jenem heraus, in einen rechtlichen Zustand, d. i. den einer austeilenden Gerechtigkeit, übergehen.“ (§ 42, S. 424)

Der Aufforderungscharakter des Postulats betont nochmals, daß es den Menschen rechtlich gesehen nicht freisteht, in den staatlichen Zustand einzutreten, sondern daß sie dazu verpflichtet sind. Daher dürfen die Menschen zum Eintritt in den bzw. zum Leben im Staat gezwungen werden, wie Kant an anderer Stelle betont: „. . . aus welchem [dem Naturzustand] nun in einen rechtlichen zu treten ein jeder den anderen mit Gewalt antreiben darf; weil, obgleich nach jedes seinen Rechtsbegriffen etwas Äußeres durch Bemächtigung oder Vertrag erworben werden kann, diese Erwerbung doch nur provisorisch ist, so lange sie noch nicht die Sanktion eines öffentlichen Gesetzes für sich hat, weil sie durch keine öffentliche (distributive) Gerechtigkeit bestimmt, und durch keine dies Recht ausübende Gewalt gesichert ist.“ (§ 44, S. 430 f.)

Das Postulat des öffentlichen Rechts fordert aber nicht nur zum Eintritt in den Staat auf, sondern verlangt allgemein die Schaffung eines rechtlichen Zustandes. Hiermit findet eine erneute Perspektivenerweiterung statt: auch die Staaten untereinander und ihre Bürger befinden sich „im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins“, so daß auch eine globale Verrechtlichung und damit die Schaffung eines Völkerrechts und Weltbürgerrechts nötig ist. Daneben hat die Forderung nach einer umfassenden Verrechtlichung der zwischenmenschlichen Verhältnisse auch in innerstaatlicher Hinsicht Auswirkungen: es wird kein beliebiger Staat gefordert, sondern ein rechtlicher Zustand. Dieser besteht nicht schon in jedem zufälligen, empirischen Staat, sondern nur in der ,wahren Republik‘ (s. § 52, S. 464). In innerstaatlicher Hinsicht fordert das Postulat des öffentlichen Rechts damit die Annäherung der bestehenden Staaten an Vernunftprinzipien und damit ihre Republikanisierung. Das auf dem Privatrecht basierende Postulat des öffentlichen Rechts treibt damit wie das erstere in zweifacher Hinsicht über den zunächst gegründeten, empirischen Staat hinaus.

143

Höffe, O., Begründung (1979), S. 208.

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

137

2. Anthropologische Begründung Allerdings gibt Kant direkt im Anschluß an das aus Vernunftprinzipien abgeleitete Postulat des öffentlichen Rechts eine (zusätzliche) empirische Begründung für die Notwendigkeit staatlicher Herrschaft. Hier, in § 42 der Rechtslehre, begründet er das Postulat des öffentlichen Rechts mit anthropologischen Erwägungen, nämlich der Natur der Menschen und ihrem Verhalten im Naturzustand. Er gibt zunächst zwar noch an, der Grund für die Notwendigkeit, den Naturzustand zu verlassen und in den rechtlichen Zustand einzutreten, lasse sich „analytisch aus dem Begriffe des Rechts . . . im Gegensatz der Gewalt . . . entwickeln“ (§ 42, S. 424), stützt sich im folgenden aber auf anthropologische Prämissen: „Niemand ist verbunden, sich des Eingriffs in den Besitz des anderen zu enthalten, wenn dieser ihm nicht gleichmäßig auch Sicherheit gibt, er werde eben dieselbe Enthaltsamkeit gegen ihn beobachten. Er darf also nicht abwarten, bis er etwa durch eine traurige Erfahrung von der entgegengesetzten Gesinnung des letzteren belehrt wird; denn was sollte ihn verbinden, allererst durch Schaden klug zu werden, da er die Neigung der Menschen überhaupt über andere den Meister zu spielen . . . in sich selbst hinreichend wahrnehmen kann, und es ist nicht nötig, die wirkliche Feindseligkeit abzuwarten; er ist zu einem Zwange gegen den befugt, der ihm schon seiner Natur nach damit droht.“ (§ 42, S. 424 f.)

Kernstück seiner Argumentation ist hier die Neigung der Menschen, Macht über andere Menschen auszuüben, und damit ein bestimmter menschlicher Charakterzug. Eine solche anthropologische Argumentation findet sich auch in den früheren, geschichtsphilosophischen und politischen Schriften Kants. So betont er bereits in der 1784 erschienenen Idee: „In diesen Zustand des Zwanges zu treten, zwingt den sonst für ungebundene Freiheit so sehr eingenommenen Menschen die Not; und zwar die größte unter allen, nämlich die, welche sich Menschen unter einander selbst zufügen, deren Neigungen es machen, daß sie in wilder Freiheit nicht lange neben einander bestehen können . . . Die Schwierigkeit . . . ist diese: der Mensch ist ein Tier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nötig hat. Denn er mißbraucht gewiß seine Freiheit in Ansehung anderer seinesgleichen; und, ob er gleich, als vernünftiges Geschöpf, ein Gesetz wünscht, welches der Freiheit aller Schranken setze: so verleitet ihn doch seine selbstsüchtige tierische Neigung, wo er darf, sich selbst auszunehmen. Er bedarf also einen Herrn, der ihm den eigenen Willen breche, und ihn nötige, einem allgemein-gültigen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen.“ (Idee S. 39 f.)

Kant geht auch hier davon aus, daß sich die Menschen gegenseitig Schaden zufügen und die Freiheit des anderen verletzen, und zwar deshalb, weil sie nicht nur ihrer Vernunft, sondern vor allem ihren Neigungen folgen. Als Vernunftwe-

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

sen ist den Menschen zwar bewußt, daß jedermanns Freiheit eingeschränkt werden muß und auch sie ihre Freiheit nicht schrankenlos ausleben können; als Sinnenwesen aber lehnen sie Einschränkungen ihrer eigenen Freiheit ab und folgen ihren Neigungen, nicht den Geboten der Vernunft. Ein ähnlicher Gedanke findet sich auch im Gemeinspruch von 1793: „So wie allseitige Gewalttätigkeit und daraus entspringende Not endlich ein Volk zur Entschließung bringen mußte, sich dem Zwange, den ihm die Vernunft selbst als Mittel vorschreibt, nämlich dem öffentlicher Gesetze zu unterwerfen, und in eine staatsbürgerliche Verfassung zu treten . . .“ (Gemeinspruch S. 169)

Zwar weist Kant hier darauf hin, daß der Eintritt in den Staat vernunftgeboten ist, aber er begründet nicht näher, warum dies der Fall ist, sondern führt rein pragmatische Gründe für den Ausgang aus dem Naturzustand an. Auch nach dem Gemeinspruch sind es die zwischenmenschlichen Konflikte und das durch sie bedingte Unglück, die die Menschen zum Eintritt in den staatlichen Zustand bewegen; diese Konflikte haben ihren Grund in der Veranlagung der Menschen: „Ob es zwar in der Natur des Menschen, nach der gewöhnlichen Ordnung, eben nicht liegt, von seiner Gewalt willkürlich nachzulassen . . .“ (Gemeinspruch S. 171)

Der Mensch ist nicht bereit, auf seine Macht zu verzichten, wenn er nicht durch die Umstände dazu gezwungen wird. Auch hier wird deutlich, daß Kant den Naturzustand als Zustand der Gewalttätigkeit und Not sieht, in dem der Mensch auf der Durchsetzung seiner Ziele beharrt. Angesichts der sinnlichen Affizierung der Menschen stellt die Errichtung des Staates ein großes Problem dar: „Das höchste Oberhaupt soll aber gerecht für sich selbst, und doch ein Mensch sein. Diese Aufgabe ist daher die schwerste unter allen; ja ihre vollkommene Auflösung ist unmöglich: aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“ (Idee S. 41)

Dennoch ist diese Schwierigkeit zu überwinden, wie Kant im Frieden (1795) betont: „Das Problem der Staatserrichtung ist . . . selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben), auflösbar . . .“ (Frieden S. 224)

Die Lösung liegt darin, sich die Natur des Menschen, d. h. seine egoistische Disposition, zunutze zu machen: „Denn es ist nicht die moralische Besserung der Menschen, sondern nur der Mechanism der Natur, von dem die Aufgabe zu wissen verlangt, wie man ihn an Menschen benutzen könne, um den Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesinnungen in einem Volk so zu richten, daß sie sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nötigen, und so den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeiführen müssen. . . . mithin der Mechanism der Natur durch selbstsüchtige Neigungen, die natürlicherweise einander auch äußerlich entgegen wirken, von der Vernunft zu einem Mittel gebraucht werden kann . . .“ (Frieden S. 224 f.)

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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Kant geht davon aus, daß die Natur selbst hierfür Sorge trägt: „Das, was diese Gewähr . . . leistet, ist nichts Geringeres, als die große Künstlerin Natur . . ., aus deren mechanischem Laufe sichtbarlich Zweckmäßigkeit hervorleuchtet, durch die Zwietracht der Menschen Eintracht selbst wider ihren Willen emporkommen zu lassen . . .“ (Frieden S. 217)

Denn: „Ihre provisorische Veranstaltung besteht darin: daß sie 1. für die Menschen in allen Erdgegenden gesorgt hat, daselbst leben zu können; – 2. sie durch Krieg allerwärts hin, selbst in die unwirtbarste Gegenden, getrieben hat, um sie zu bevölkern; 3. – durch eben denselben sie in mehr oder weniger gesetzliche Verhältnisse zu treten genötigt hat . . .“ (Frieden S. 219 f.).

Gerade die Konfliktgeneigtheit der Menschen, die zum Krieg unter ihnen führt, ist es, die zum Eintritt in den Staat zwingt; der Schaden, den die Menschen sich im Naturzustand gegenseitig zufügen, bringt sie dazu, auf ihre grenzenlose Freiheit zu verzichten und sich aus Nützlichkeitserwägungen einer übergeordneten Macht zu beugen. In der Idee drückt Kant dies wie folgt aus: „Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft, so fern dieser doch am Ende die Ursache einer gesetzmäßigen Ordnung derselben wird. Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen; d. i. den Hang derselben, in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist.“ (Idee S. 37)

Mit dieser anthropologischen Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft knüpft Kant an die Ausführungen Thomas Hobbes’ zu diesem Thema an,144 dem Hobbes sich in seinem Leviathan von 1651 widmet. Auch Hobbes hält die Errichtung des Staates aufgrund der Natur der Menschen für notwendig:145 Er geht davon aus, daß das menschliche Handeln teils von der Vernunft, hauptsächlich aber von den Leidenschaften gelenkt wird146 und die Menschen ohne eine „übergeordnete Gewalt“, die ihrem Handeln Grenzen setzt, allein ihren Trieben folgen können.147 Daher erwartet im Naturzustand jeder vom anderen ein eigennütziges, bedrohliches Verhalten und nimmt an, daß der andere ihm schaden werde,148 und „[d]ie Folge dieses wechselseitigen Argwohns ist, 144

s. hierzu auch Herb, K./Ludwig, B., Naturzustand (KS 84, 1993), S. 298 f. „So sehen wir drei Hauptursachen des Streites in der menschlichen Natur begründet: Wettstreben, Argwohn und Ruhmsucht.“ s. Hobbes, Th., Leviathan (1651), Kap. XIII, S. 98. 146 s. Hobbes, Th., Leviathan (1651), Kap. XIII, S. 101. Der Einfluß der Leidenschaften überwiegt, da Hobbes als „Haupttriebfeder des Menschen . . . den unstillbaren und nagenden Hunger nach Macht und abermals Macht, der erst im Tode endet“, sieht (s. Kap. XI, S. 77). 147 Hobbes, Th., Leviathan (1651), Kap. XVII, S. 133. 148 Hobbes, Th., Leviathan (1651), Kap. XIII, S. 99 f. 145

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

daß sich ein jeder um seiner Sicherheit willen bemüht, dem anderen zuvorzukommen.“ 149 Aus diesem Grund ist der Naturzustand nach Hobbes’ Ansicht ein Kriegszustand,150 dem die Menschen vor allem aus Gründen des Selbstschutzes zu entrinnen suchen:151 „Die letzte Ursache und der Hauptzweck des Zusammenlebens der Menschen in einem Staat . . . ist sein Selbsterhaltungstrieb und sein Wunsch nach einem gesicherten Leben. Damit ist gemeint: der Wunsch, jenem elenden Zustand des Krieges aller gegen alle zu entrinnen, der, wie ich oben schon gezeigt habe, unweigerlich eintritt, wenn der Mensch allein seinen Trieben folgt, d. h. wenn keine sichtbare Gewalt da ist, die ihn in Zucht hält . . .“ 152

Damit liegt die Unterordnung unter eine staatliche Gewalt im „rationalen Selbstinteresse“ (Höffe)153 des einzelnen. Der Eintritt in den Staat ist damit für den einzelnen zwar nützlich, nicht aber geboten; es steht jedem frei, seine unsichere Freiheit im Naturzustand dem gesicherten Leben unter staatlicher Herrschaft vorzuziehen. Anders als nach Kants eigentumstheoretischer Begründung besteht nach Hobbes damit keine Rechtspflicht zum Eintritt in den Staat.154 149 Hobbes, Th., Leviathan (1651), Kap. XIII, S. 98. Diese Charakterisierung der menschlichen Natur bedeutet jedoch nicht, daß Hobbes den Menschen per se für „schlecht“ oder „böse“ hält; s. hierzu auch Höffe, O., Begründung (1979), S. 202; Willms, B., Hobbes (1987), S. 134 f. Hobbes betont vielmehr ausdrücklich: „Doch . . . klagen wir nicht die Natur des Menschen an sich an. Die menschlichen Triebe und Leidenschaften sind in sich selbst nicht Sünde. Und auch seine triebhaften Handlungen sind es nicht, solange kein Gesetz sie verbietet. Ein solches Gesetz kann der Mensch aber erst dann kennen, wenn es geschaffen ist; und es kann erst dann geschaffen werden, wenn man irgend jemanden zum Gesetzgeben ermächtigt hat.“ s. Hobbes, Th., Leviathan (1651), Kap. XIII, S. 100. 150 s. Hobbes, Th., Leviathan (1651), Kap. XIII, S. 99. Diesen Zustand beschreibt Hobbes wie folgt: „In einem solchen Zustand gibt es keinen Fleiß, denn seine Früchte werden ungewiß sein, keine Bebauung des Bodens, keine Schiffahrt, keinerlei Einfuhr von überseeischen Gütern, kein behagliches Heim, keine Fahrzeuge zur Beförderung von schweren Lasten, keine geographischen Kenntnisse, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine Literatur, keine Gesellschaft. Statt dessen: Ständige Furcht und die drohende Gefahr eines gewaltsamen Todes. Das Leben der Menschen: einsam, arm, kümmerlich, roh und kurz.“ (ebd.) 151 „Was ihn zum Frieden treibt, ist seine Furcht vor dem Tode, sein Verlangen nach Dingen, die ihm sein Leben angenehmer machen können, und die Hoffnung, sie durch Anstrengung zu erlangen.“ s. Hobbes, Th., Leviathan (1651), Kap. XIII, S. 101. s. auch Kap. XI, S. 77: „Das Streben nach Muße und sinnlichen Vergnügen veranlaßt den Menschen, sich einer öffentlichen Gewalt zu unterstellen . . . Auch die Furcht vor dem Tode und vor Mißhandlungen macht ihn zum Gehorsam geneigt.“ 152 Hobbes, Th., Leviathan (1651), Kap. XVII, S. 133. 153 Höffe, O., Begründung (1979), S. 202. 154 So auch Fulda, H. F., Postulat (1997), S. 274; a. A. Hespe, F., Gesellschaftsvertrag (1998), S. 314.

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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Ähnlich müßte der Fall hier nach Kants anthropologischer Argumentation liegen: würde er sich nur auf diese Begründung stützen, wäre auch nach ihm der Staat nur nützlich, da er die (potentiellen) Feindseligkeiten der Menschen untereinander verhindern würde, nicht aber geboten. Vielmehr stünde es den Menschen rechtlich gesehen frei, im Naturzustand zu verbleiben; der Eintritt in den Staat beruhte nur auf voluntaristischen Erwägungen. Damit wäre der letztere nicht mehr die zwingende Weiterentwicklung des ersteren; der Übergang vom Naturzustand zum Staat vollzöge sich anders als im Rahmen der eigentumstheoretischen Begründung im Bruch mit den bestehenden Verhältnissen. Kant schlägt diesen Weg aber nicht ein; vielmehr findet sich am Ende der anthropologischen Begründung wiederum der Verweis auf das Postulat des öffentlichen Rechts, wenn Kant betont, daß die Individuen im Naturzustand „überhaupt“ unrecht daran tun, in einem solchen nicht-rechtlichen Zustand zu sein und bleiben zu wollen (§ 42, S. 425).155 Kant bleibt nicht bei der anthropologischen Begründung stehen, sondern kommt letztlich auf die apriorische Legitimierung des Staates zurück und betont, daß der Eintritt in den Staat Pflicht ist, obwohl sich dies aus der vorhergehenden anthropologischen Argumentation nicht ergibt. Der Grund dafür ist Kants apriorischer Ansatz in der Metaphysik: er betont, daß er seine rechtsphilosophischen Prinzipien gerade nicht der Erfahrung, sondern der Vernunft entnehmen wolle156 und die Natur des Menschen nicht als Grundlage für solche Prinzipien dienen könne: „. . . ja die Begriffe und Urteile über uns selbst und unser Tun und Lassen bedeuten gar nichts Sittliches, wenn sie das, was sich bloß von der Erfahrung lernen läßt, enthalten, und, wenn man sich etwa verleiten läßt, etwas aus der letztern Quelle zum moralischen Grundsatze zu machen, so gerät man in die Gefahr der gröbsten und verderblichsten Irrtümer. . . . Die Belehrung in ihren Gesetzen [der Sittlichkeit] ist nicht aus der Beobachtung seiner selbst und der Tierheit in ihm, nicht aus der Wahrnehmung des Weltlaufs geschöpft, von dem, was geschieht und wie gehandelt wird . . ., sondern die Vernunft gebietet, wie gehandelt werden soll, wenn gleich noch kein Beispiel davon angetroffen würde . . .“ (s. S. 320 f.)157 155 Damit verbleibt für Kant auch im Naturzustand Raum für die Vorstellung von Recht und Unrecht, während Hobbes von folgendem ausgeht: „Wenn ein jeder gegen jeden Krieg führt, so kann auch nichts als unerlaubt gelten. Für die Begriffe Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit bleibt kein Raum. Wo es keine Herrschaft gibt, gibt es auch kein Gesetz. Wo es kein Gesetz gibt, kann es auch kein Unrecht geben. List und Gewalt sind die einzigen Tugenden.“ s. Hobbes, Th., Leviathan (1651), Kap. XIII, S. 101; s. auch S. 100. s. hierzu auch Herb, K./Ludwig, B., Naturzustand (KS 84, 1993), S. 299. Auch kommt den Menschen nach Kant als Ausfluß ihres angeborenen Freiheitsrechts unabhängig vom Staat und damit auch schon im Naturzustand das (prinzipielle) Recht auf Eigentum zu, während Hobbes von folgendem ausgeht: „Aus demselben Grunde auch gibt es keinen Besitz, kein Eigentum, überhaupt keine Vorstellung von mein und dein. Vielmehr kann sich jeder alles aneignen und kann es so lange für sich behaupten, wie er in der Lage ist, es zu sichern.“ (s. Kap. XIII, S. 101) 156 s. Metaphysik S. 309.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

Angesichts dessen nimmt die anthropologische Begründung im Vergleich mit der eigentumstheoretischen auch nur sehr wenig Raum ein, und bezüglich der Zitate aus den anderen Schriften Kants ist zu beachten, daß es in der Idee, dem Gemeinspruch und dem Ersten Zusatz zum Frieden nicht primär um rechtsphilosophische, sondern um geschichtsphilosophische Betrachtungen geht, d. h. um die Frage, warum die Menschen den von der Vernunft vorgeschriebenen Weg einschlagen werden. 3. Herleitung direkt aus der Freiheit der Menschen Seinem apriorischen Ansatz gemäß verwirft Kant auch wenige Paragraphen später, zu Beginn seiner Erörterungen des öffentlichen Rechts, eine solche empirische Begründung und betont, daß die Natur des Menschen für die Legitimation des Staates ohne Bedeutung ist: „Es ist nicht etwa die Erfahrung, durch die wir von der Maxime der Gewalttätigkeit der Menschen belehrt werden, und ihrer Bösartigkeit, sich, ehe eine äußere machthabende Gesetzgebung erscheint, einander zu befehden, also nicht etwa ein Faktum, welches den öffentlich gesetzlichen Zwang notwendig macht, sondern, sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewalttätigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht, zu tun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin von der Meinung des anderen nicht abzuhängen . . .“ (§ 44, S. 430)

Kant weist hier ausdrücklich darauf hin, daß die Menschen auch dann im Naturzustand nicht vor gegenseitigen Gewalttätigkeiten sicher wären, wenn sie durch und durch rechtstreu und friedfertig wären, d. h. das Handeln nach Rechtsgrundsätzen zu ihrer Maxime erhoben hätten. Das Problem der potentiellen gegenseitigen Gewalt besteht also unabhängig vom Charakter und der Grunddisposition der Menschen, es existiert allein schon deshalb, weil die Menschen im Naturzustand das Recht haben, zu tun, was ihnen „recht und gut dünkt“ und weil im „Naturzustande . . . jeder seinem eigenen Kopfe folgt“ (§ 44, S. 430).158 Die einzige Voraussetzung der Konfliktträchtigkeit des Naturzustandes ist damit die Prämisse der gesamten Philosophie Kants,159 daß die Menschen als vernunftbegabte Wesen frei sind, sich eigene Ziele zu setzen und nach diesen Zielen zu handeln, d. h. Willkürfreiheit besitzen.160 Unabhängig von allen weiteren 157 Wood, A., Geselligkeit (1998), ist der Ansicht, daß Kants Moralphilosophie trotzdem auf bestimmten anthropologischen Grundannahmen basiert; s. insbesondere S. 35–37. 158 s. hierzu Höffe, O., Begründung (1979), S. 208 f. 159 s. Lorz, R. A., Menschenrechtsverständnis (1993), S. 72.

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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menschlichen Eigenschaften und Charakterzügen reicht bereits dies aus, Konflikte zu verursachen, da die Menschen als endliche Wesen und Individuen unterschiedliche Ziele verfolgen161 und mit anderen „in Wechselwirkung zu geraten . . . nicht vermeiden“ können (§ 44, S. 430), d. h. sich einen endlichen Lebensraum teilen.162 Hierbei müssen sie nicht die Absicht haben, die Rechte anderer Menschen zu verletzen, vielmehr ergibt sich die Konfliktträchtigkeit und Gewaltgeneigtheit des Naturzustandes allein daraus, daß in diesem Zustand ohne staatliche Entscheidungsinstanzen alle rechtlichen Ansprüche von der subjektiven Rechtsmeinung des Anspruchstellers und -gegners abhängen und in die Entscheidungskompetenz der Parteien selbst gelegt sind. Allein schon diese subjektive Dezision, die Beanspruchung dessen, was der jeweiligen Seite „recht und gut dünkt“, kann zu Konflikten führen, selbst dann, wenn keine Seite der anderen schaden will, sondern lediglich auf ihrem „guten Recht“ beharrt. Grund für die Konfliktträchtigkeit des Naturzustandes ist damit „nur ein nicht öffentlich-rechtlich geregeltes Gutdünken innerhalb desselben Lebensraumes“ (Höffe).163 Diese Überlegung bezieht Kant im Staatsrecht allgemein auf das Mein und Dein und damit auch auf die menschliche Freiheit und weitere mit ihr verbundene Rechte.164 Denn er betont in § 44, „man müsse aus dem Naturzustande . . . herausgehen . . ., also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt, und durch hinreichende Macht . . . zu Teil wird.“ (S. 430)

Er spricht hier vom Seinen allgemein und verwendet damit den Oberbegriff, der sowohl das äußere als auch das innere Mein und Dein einschließt, d. h. neben dem Eigentum auch die menschliche Freiheit umfaßt. Daß der Staat nicht nur der Sicherung des Eigentums, sondern auch der menschlichen Freiheit allgemein dient, droht im Privatrecht unterzugehen – obwohl auch das Recht auf Eigentum der Verwirklichung der menschlichen Handlungsfreiheit dient –, weil Kant das innere Mein aus dem Privatrecht ausgeschlossen hat.165 Das Problem gegensätzlicher Ansprüche kann aber nicht nur in bezug auf Eigentumsrechte bestehen, sondern auch in bezug auf andere, von Sachen unabhängige Rechte. Kühl formuliert dies wie folgt: 160

Höffe, O., Begründung (1979), S. 208 f. s. Pinkard, T., Citizenship (1999), S. 156 f. 162 s. Höffe, O., Begründung (1979), S. 208 f. 163 Höffe, O., Begründung (1979), S. 210. 164 Zu diesen gehören etwa das Recht auf „Leben, Leib, persönliche (und Fortbewegungs-)Freiheit, Ehre und sexuelle Selbstbestimmung“, s. Kühl, K., Sachenrecht (1999), S. 128. s. hierzu Höffe, O., Kant (1996), S. 226; Kühl, K., a. a. O., S. 126–128; Zaczyk, R., Gerechtigkeit (1994), S. 120. Zur Nennung einzelner Freiheitsrechte in Kants Schriften s. Burg, P., Revolution (1974), S. 149–154. 165 s. S. 346 und Höffe, O., Kant (1996), S. 226. 161

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

„Die Situation, daß jeder tut, ,was ihm recht und gut dünkt‘ . . ., kann auch im Umgang zwischen Menschen auftreten, die sich nicht als Eigentümer und rechtloser Besitzer gegenüberstehen; sie muß deshalb auch im nicht-sachbezogenen Umgang zwischen Menschen vermieden werden.“ 166

Auch unter diesem Aspekt ist der Staat nicht nur nützlich, sondern vernunftgeboten. Denn die Freiheit der Menschen ist zwar als angeborenes Recht anders als die Eigentumsrechte auf keine weitere Legitimation angewiesen, aber auch sie ist im Naturzustand ungesichert und damit nicht umfassend verwirklicht.167 Wie die Eigentumsrechte bedarf auch sie der Absicherung, d. h. der Durchsetzung der jedermanns Freiheit schon immanenten Beschränkung auf ihre Kompatibilität „mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz“ (S. 345). Dieses einschränkende allgemeine Gesetz der Freiheit (s. S. 337) darf niemanden der nötigenden Willkür eines anderen unterwerfen; es setzt also die allseitige Zustimmung voraus, die nur im allgemein vereinigten Willen und damit im Staat vorliegt. Aus dem Recht, in seiner Freiheit nur durch ein allgemeines Gesetz der Freiheit eingeschränkt zu werden, ergibt sich die komplementäre Pflicht, diese Bedingung herbeizuführen, d. h. in den Staat einzutreten:168 „. . . mithin das erste, was ihm zu beschließen obliegt, wenn er nicht allen Rechtsbegriffen entsagen will, der Grundsatz sei: man müsse aus dem Naturzustande, in welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt, herausgehen und sich mit allen anderen (mit denen in Wechselwirkung zu geraten er nicht vermeiden kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt, und durch hinreichende Macht (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Teil wird, d. i. er solle vor allen Dingen in einen bürgerlichen Zustand treten.“ (S. 430)169

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Kühl, K., Sachenrecht (1999), S. 128. s. hierzu Kühl, K., Sachenrecht (1999), S. 128. 168 Kersting, W., Freiheit (1993), S. 69. 169 Fulda geht davon aus, daß Kant in § 44 keine erneute Begründung des Postulates des öffentlichen Rechts liefert, das eine bestimmte Handlung fordert, sondern den Menschen die dem Postulat entsprechende Maxime vorschreibt, den Naturzustand zu verlassen (s. Fulda, H. F., Postulat (1997), S. 282, Fn. 12 und S. 284 f.). Diese Auffassung vermag aber nicht zu überzeugen. Zwar erinnert die Formulierung in § 44 „. . . was ihm zu beschließen obliegt . . . der Grundsatz sei . . .“ (§ 44, S. 430) an den Begriff des „subjektiven Grundsatzes“ (S. 331) und damit an Kants Definition von Maxime. Aber angesichts Kants ausdrücklicher Trennung zwischen Recht und Ethik [s. dazu unten D. I. 3. a) (2)], zwischen Legalität und Moralität, ist eine Gleichsetzung von „Grundsatz“ mit „Maxime“ in § 44 ausgeschlossen. Kant stellt in der Rechtslehre nicht die Forderung auf, daß die Menschen sich eine bestimmte Maxime zu eigen machen müssen; hier wird von ihnen vielmehr nur ein bestimmtes Handeln gefordert (nämlich den Naturzustand zu verlassen). Warum sie dies tun, ob sie dabei allein vom Gedanken der Pflichterfüllung beseelt sind oder etwa nur ihren eigenen Vorteil suchen, ist unter rechtlichen Gesichtspunkten unerheblich und eine Frage der Ethik. 167

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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Die Ableitung aus dem inneren Mein erschöpft sich ebensowenig wie die eigentumstheoretische Begründung in der Legitimierung allein des Staates; aus der Notwendigkeit einer umfassenden Absicherung der Freiheit ergibt sich auch hier darüber hinaus die Gebotenheit eines Völker- und Weltbürgerrechts einerseits und die Verpflichtung zur Republikanisierung der bestehenden Staaten andererseits.170 Kant spricht dies hier zwar nicht explizit an, fordert aber im obigen Zitat den Eintritt in einen „bürgerlichen Zustand“ (§ 44, S. 430), den er an anderer Stelle einen Zustand des „öffentlichen Rechts“ (§ 41, S. 424) nennt. Dieses umfaßt aber mehr als nur das Staatsrecht. Auch aus der Freiheit der Menschen ergibt sich damit eine über den Staat hinausweisende Dynamik. 4. Zweck des Staates Die obigen Ausführungen zeigen, daß Kant den Zweck des Staates primär in der Rechtssetzung und -sicherung zur Peremtorisierung des Mein und Dein der Menschen sieht, das sowohl ihre Freiheit als auch erworbene Rechte umfaßt.171 Daneben schreibt er dem Staat noch eine sekundäre Aufgabe zu, die nachrangig ist und nicht gegen den primären Zweck verstoßen darf. a) Primär: Freiheits- durch Rechtssicherung Daß der Staat in erster Linie der Rechtssicherung dient, betont Kant bereits im Gemeinspruch: „Der Zweck nun, der in solchem äußern Verhältnis an sich selbst Pflicht und selbst die oberste formale Bedingung . . . aller übrigen äußeren Pflicht ist, ist das Recht der Menschen unter öffentlichen Zwangsgesetzen, durch welche jedem das Seine bestimmt und gegen jedes anderen Eingriff gesichert werden kann.“ (Gemeinspruch S. 144)

Im folgenden weist er darauf hin, daß nur die Freiheit der Menschen, nicht dagegen ihre Glückseligkeit, dem Recht und dem staatlichen Handeln zugrundegelegt werden darf: „Der Begriff aber eines äußeren Rechts überhaupt geht gänzlich aus dem Begriff der Freiheit im äußeren Verhältnisse der Menschen zu einander hervor; und hat gar nichts mit dem Zwecke, den alle Menschen natürlicher Weise haben (der Absicht auf Glückseligkeit) . . . zu tun: so daß auch daher dieser letztere sich in jenes Gesetze schlechterdings nicht, als Bestimmungsgrund derselben, mischen muß.“ (Gemeinspruch S. 144)172 170

s. Kersting, W., Freiheit (1993), S. 69. s. hierzu etwa Herb, K./Ludwig, B., Naturzustand (KS 84, 1993), S. 316; Höffe, O., Kant (1996), S. 225 f.; Kersting, W., Concept (1992), S. 154; Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 166 und 172; Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 66; Schmidt, H., Reform (ARSP 71, 1985), S. 304. 171

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

Unter Glückseligkeit versteht Kant den „empirischen Zweck“ der Menschen (Gemeinspruch S. 145), die „Zufriedenheit mit seinem Zustande“ (Tugendlehre S. 517) oder „das Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens“ (KpV S. 129, A 40). Sie kann deshalb kein Maßstab für das staatliche Handeln sein, weil sie keines objektiven Prinzips fähig, sondern stets nur subjektiv bestimmbar ist: „In Ansehung der ersteren (der Glückseligkeit) kann gar kein allgemein gültiger Grundsatz für Gesetze gegeben werden. Denn, so wohl die Zeitumstände, als auch der sehr einander widerstreitende und dabei immer veränderliche Wahn, worin jemand seine Glückseligkeit setzt . . ., macht alle feste Grundsätze unmöglich, und zum Prinzip der Gesetzgebung für sich allein untauglich.“ (Gemeinspruch S. 154)

Wollte der Staat den Bürgern seine eigenen inhaltlichen Vorstellungen vom Glück vorschreiben, würde er ihre Freiheit beschneiden und die schlimmste Form des Despotismus annehmen: „Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung . . ., wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaft nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts . . . zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus . . .“ (Gemeinspruch S. 145 f.)

Auch in der Metaphysik verweist Kant darauf, daß eine in diesem Sinne väterliche Regierung „die am meisten despotische unter allen (Bürger als Kinder zu behandeln)“ ist (§ 49, S. 435). Das staatliche Handeln kann somit nicht auf inhaltliche Vorgaben abzielen, sondern allein von formalen Gesichtspunkten geleitet sein; es muß der Koordination der unterschiedlichen Freiheitssphären der Menschen dienen, die ihnen die jeweiligen Zielsetzungen und Lebensgestaltungen im Rahmen dieser Sphären selbst überläßt. Der Kompatibilisierung dieser unterschiedlichen Lebensbereiche dient das Recht als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (§ B, S. 337), wie Kant im Gemeinspruch weiter ausführt: „Der Satz: Salus publica suprema civitatis lex est, bleibt in seinem unverminderten Wert und Ansehen; aber das öffentliche Heil, welches zuerst in Betrachtung zu ziehen steht, ist gerade diejenige gesetzliche Verfassung, die jedem seine Freiheit durch Gesetze sichert: wobei es ihm unbenommen bleibt, seine Glückseligkeit auf

172 s. auch Gemeinspruch S. 154: „Denn die Rede ist hier nicht von Glückseligkeit, die aus einer Stiftung oder Verwaltung des gemeinen Wesens für den Untertan zu erwarten steht; sondern allererst bloß vom Rechte, das dadurch einem jeden gesichert werden soll: welches das oberste Prinzip ist, von welchem alle Maximen, die ein gemeines Wesen betreffen, ausgehen müssen, und das durch kein anderes eingeschränkt wird.“

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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jedem Wege, welcher ihm der beste dünkt, zu suchen, wenn er nur nicht jener allgemeinen gesetzmäßigen Freiheit, mithin dem Rechte anderer Mituntertanen, Abbruch tut.“ (Gemeinspruch S. 154 f.)173

Der Staat ist nach Kant in erster Linie nicht um des Wohles seiner Bürger willen da, sondern um ihrer Rechte und des Rechtes willen. Als Mittel der rechtsförmigen Koordination der Freiheitssphären kommt dem Staat zugleich eine friedensstiftende Funktion zu, auf die Kant im Beschluß der Rechtslehre verweist: „Man kann sagen, daß diese allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung nicht bloß einen Teil, sondern den ganzen Endzweck der Rechtslehre innerhalb den Grenzen der bloßen Vernunft ausmache; denn der Friedenszustand ist allein der unter Gesetzen gesicherte Zustand des Mein und Dein in einer Menge einander benachbarter Menschen, mithin die in einer Verfassung zusammen sind . . .“ (S. 479)

Der Zweck des Staates ist damit die Friedenssicherung durch die rechtliche Absicherung des Mein und Dein. b) Sekundär: Förderung des Gemeinwohls Obwohl Kant die Förderung des Wohls der Bevölkerung als primären Staatszweck ablehnt, sieht er hierin doch eine sekundäre, nachrangige Aufgabe des Staates.174 Dabei zeichnet sich in den verschiedenen relevanten Schriften eine Entwicklung seiner entsprechenden Vorstellungen ab. (1) Im Gemeinspruch Im Gemeinspruch äußert er sich zu sozialen Aufgaben des Staates wie folgt: „Wenn die oberste Macht Gesetze gibt, die zunächst auf die Glückseligkeit (die Wohlhabenheit der Bürger, der Bevölkerung u. dergl.) gerichtet sind: so geschieht dieses nicht als Zweck der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung, sondern bloß als Mittel, den rechtlichen Zustand vornehmlich gegen äußere Feinde des Volks zu sichern. Hierüber muß das Staatsoberhaupt befugt sein, selbst und allein zu urteilen, ob dergleichen zum Flor des gemeinen Wesens gehöre, welcher erforderlich ist, um seine Stärke und Festigkeit so wohl innerlich, als wider äußere Feinde, zu sichern; so aber das Volk nicht gleichsam wider seinen Willen glücklich zu machen, sondern nur zu machen, daß es als gemeines Wesen existiere.“ (Gemeinspruch S. 155) 173 Auch in der Metaphysik definiert Kant das „Heil des Staats“ wie folgt: „. . . worunter man nicht das Wohl der Staatsbürger und ihre Glückseligkeit verstehen muß; denn die kann vielleicht (wie auch Rousseau behauptet) im Naturzustande, oder auch unter einer despotischen Regierung, viel behaglicher und erwünschter ausfallen: sondern den Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien versteht, als nach welchem zu streben uns die Vernunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich macht.“ (§ 49, S. 437) 174 s. auch Ju, G.-J., Menschenrecht (1990), S. 148.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

Staatliche Regelungen zur Unterstützung der allgemeinen Wohlfahrt sind hiernach insofern erlaubt, als sie der Erhaltung des Gemeinwesens dienen und es vor einer Schwächung bewahren, die inneren Unruhen oder Angriffen von außen Vorschub leisten könnte; sie haben nicht primär das Wohlergehen des einzelnen im Auge, sondern dienen der Aufrechterhaltung und Stabilisierung des staatlichen Zustandes.175 Dieser Zielrichtung entsprechend stehen soziale Maßnahmen im freien Ermessen des Herrschers, der – unter Beachtung des Primats der Rechtssicherung – über ihr Ob und Wie allein entscheiden kann. Damit propagiert Kant hier lediglich ein Recht, nicht aber die Pflicht des Staates, für das Wohl seiner Bürger zu sorgen; er schreibt dem Staat keine soziale Verpflichtung gegenüber dem einzelnen zu, sondern lediglich die Pflicht zur Rechtssicherung und scheint damit der Apologet eines Nachtwächter- oder Minimalstaates zu sein.176 (2) In Zum ewigen Frieden Im Frieden dagegen schreibt Kant, daß es „die eigentliche Aufgabe der Politik ist“, mit „dem allgemeinen Zweck des Publikums (der Glückseligkeit) . . . zusammen zu stimmen (es mit seinem Zustande zufrieden zu machen)“ (Frieden S. 250). Hier scheint er die oben dargestellte Rangfolge umzukehren und der Glückseligkeit des Volkes das Primat im Staate zuzuschreiben. Allerdings ergibt sich aus dem Kontext seiner Äußerung und seinen expliziten Aussagen, daß auch nach dem Frieden die Förderung der Zufriedenheit des Volkes stets sekundär zur Freiheitssicherung ist. Denn Kant unterscheidet in dieser Schrift zwischen der Politik als ausübender Rechtslehre (s. Frieden S. 229) und der Moral, die die Ethik und die Rechtslehre umfaßt (s. Frieden S. 250); er weist bereits mit dieser Unterscheidung darauf hin, daß die Politik mit anderen Zielen befaßt ist als die Rechtslehre. Zudem betont er mehrfach die Vorrangigkeit der letzteren vor der ersteren; so schreibt er: „Die wahre Politik kann also keinen Schritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben . . . – Das Recht dem [„der“ laut Akademie-Ausgabe] Menschen muß heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten. Man kann hier nicht halbieren, und das Mittelding eines pragmatischbedingten Rechts (zwischen Recht und Nutzen) aussinnen, sondern alle Politik muß ihre Knie vor dem erstern beugen . . .“ (Frieden S. 243 f.)

Trotz dieser Einordnung der menschlichen Zufriedenheit als sekundär zu ihrem Recht spricht Kant ihr hier aber eine weitaus höhere Bedeutung zu als im 175 s. Ludwig, B., Verabschiedung (JRE 1, 1993), S. 230; Rosen, A. D., Justice (1993), S. 178. 176 Vertreter dieser Ansicht nennt Rosen, A. D., Justice (1993), S. 173, der selbst anderer Auffassung ist, s. S. 174. Zum Minimalstaat s. Köhler, M., Teilhabegerechtigkeit (1999), S. 111.

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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Gemeinspruch: im Mittelpunkt der Frage nach der Glückseligkeit des Volkes steht nicht mehr die Erhaltung des Staates, sondern das Wohl des Volkes; es findet ein Perspektivenwechsel von den Bedürfnissen des Staates hin zu jenen der Bürger statt. Auch stehen die entsprechenden Aufgaben des Staates nach Kants Auffassung im Frieden nicht mehr im freien Ermessen des Staatsoberhauptes, vielmehr schreibt Kant dem Staat hier eine Pflicht zur Sorge für das Wohl der Bevölkerung zu, und zwar die Pflicht der Menschenliebe: „Beides, die Menschenliebe und die Achtung fürs Recht der Menschen, ist Pflicht . . .“ (Frieden S. 250). Was Kant unter dieser Pflicht versteht, erläutert er näher im zweiten Teil der Metaphysik, der Tugendlehre. Hier stellt er zunächst folgendes klar: „Die Liebe wird hier aber nicht als Gefühl . . . verstanden (denn Gefühle zu haben, dazu kann es keine Verpflichtung durch andere geben), sondern muß als Maxime des Wohlwollens (als praktisch) gedacht werden, welche das Wohltun zur Folge hat.“ (Tugendlehre § 25, S. 585)

Im folgenden Paragraphen geht er weiter darauf ein: „Die Menschenliebe (Philanthropie) muß, weil sie hier als praktisch, mithin nicht als Liebe des Wohlgefallens an Menschen gedacht wird, im tätigen Wohlwollen gesetzt werden, und betrifft also die Maxime der Handlungen.“ (Tugendlehre § 26, S. 586)

Das Postulat der Menschenliebe verpflichtet nicht dazu, ein bestimmtes Gefühl für andere Menschen zu hegen, sondern dazu, sie gut zu behandeln. Zu den Liebespflichten zählt Kant die Wohltätigkeit, die Dankbarkeit und die Teilnehmung oder teilnehmende Empfindung (s. Tugendlehre S. 588). Im Verhältnis zwischen Bürger und Staat ist dabei die Wohltätigkeit von größtem Interesse, denn sie bedeutet, „anderen Menschen in Nöten zu ihrer Glückseligkeit, ohne dafür etwas zu hoffen, nach seinem Vermögen beförderlich zu sein“ (Tugendlehre § 30, S. 589).177 Allerdings handelt es sich bei der Pflicht, Menschen in Not zu helfen, nur um eine ethische Pflicht, die im Gegensatz zur Rechtspflicht nicht erzwingbar ist: „Die Tugendpflicht ist von der Rechtspflicht wesentlich darin unterschieden: daß zu dieser ein äußerer Zwang moralisch-möglich ist, jene aber auf dem freien Selbstzwange allein beruht.“ (Tugendlehre S. 512)178

177 Kant betont, daß die Pflicht der Wohltätigkeit dem Spender nicht das Recht gibt, dem Empfänger seine Vorstellungen aufzuoktroyieren: „Ich kann niemand nach meinen Begriffen von Glückseligkeit wohltun (außer unmündigen Kindern oder Gestörten), sondern nach jenes seinen Begriffen, dem ich eine Wohltat zu erweisen denke, indem ich ihm ein Geschenk aufdringe.“ (Tugendlehre S. 591) Kant betont also auch in bezug auf Privatpersonen und nicht nur den Staat, daß es nicht zulässig ist, anderen seine Auffassungen vom Glück und der richtigen Lebensweise aufzuzwingen. 178 Zur Erzwingbarkeit der Rechtspflichten s. § D und E, S. 338 ff.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

Damit scheint sich der festgestellte Unterschied zu Kants Konzeption im Gemeinspruch zu verringern. Allerdings ist zu beachten, daß die Pflichten des Staates nie erzwingbar, sondern stets nur unvollkommene Pflichten sind;179 zwischen der Konzeption des Gemeinspruchs und des Friedens besteht damit ein gravierender Unterschied: während der Staat nach der ersteren keine sozialen Pflichten gegenüber dem Bürger hat, ist dies nach Kants Aussagen im Frieden der Fall (auch wenn sie – wie alle Pflichten des Staates – nicht erzwingbar sind). Zudem besteht nach dem Gemeinspruch eine Veranlassung zu sozialen Maßnahmen erst dann, wenn die Stabilität des Staates gefährdet werden könnte, während die Wohltätigkeitspflicht des Friedens immer besteht, d. h. gegenüber jedem bedürftigen Bürger, unabhängig von weiteren Parametern wie etwa der politischen Lage. (3) In der Metaphysik Auch in der Metaphysik spricht Kant dem Staat soziale Pflichten gegenüber dem Bürger zu und präzisiert diese gegenüber seinen Aussagen im Frieden näher. Er widmet sich den sozialen Aufgaben des Staates in den Anmerkungen, die sich mit der empirischen Rechtspraxis und nicht den apriorischen Rechtsprinzipien befassen. Die entsprechende Funktion des Staates beschreibt Kant wie folgt: „Dem Oberbefehlshaber steht indirekt, d. i. als Übernehmer der Pflicht des Volks, das Recht zu, dieses mit Abgaben zu seiner (des Volks) eigenen Erhaltung zu belasten, als da sind: das Armenwesen, die Findelhäuser und das Kirchenwesen, sonst milde, oder fromme Stiftungen genannt.“ (AA C, S. 446)

Kant bezeichnet die Erhaltung des Volkes hier ausdrücklich als Pflicht und stellt damit klar, daß sie – im Unterschied zu den Ausführungen im Gemeinspruch – nicht im Ermessen des Staates steht.180 Anders als noch im Frieden qualifiziert Kant diese soziale Pflicht, zu der insbesondere die Armenfürsorge und die Fürsorge für ausgesetzte Kinder zählt, in der Metaphysik aber nicht als direkte Pflicht des Staates, sondern als indirekte, die der Staat vom Volk als eigentlich Verpflichtetem übernimmt. Dies begründet er wie folgt: „Der allgemeine Volkswille hat sich nämlich zu einer Gesellschaft vereinigt, welche sich immerwährend erhalten soll, und zu dem Ende sich der inneren Staatsgewalt unterworfen, um die Glieder dieser Gesellschaft, die es selbst nicht vermögen, zu erhalten. Von Staatswegen ist also die Regierung berechtigt, die Vermögenden zu

179

s. Ludwig, B., Verabschiedung (JRE 1, 1993), S. 240. s. dazu auch unten D. I. 5.

a). 180 Den Grund für die Änderung der Auffassung Kants erläutert Rosen, A. D., Justice (1993), S. 195 f.

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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nötigen, die Mittel der Erhaltung derjenigen, die es, selbst den notwendigsten Naturbedürfnissen nach, nicht sind, herbei zu schaffen; weil ihre Existenz zugleich als Akt der Unterwerfung unter den Schutz und die zu ihrem Dasein nötige Vorsorge des gemeinen Wesens ist, wozu sie sich verbindlich gemacht haben, auf welche der Staat nun sein Recht gründet, zur Erhaltung ihrer Mitbürger das Ihrige beizutragen.“ (AA C, S. 446)

Kant sieht primär das Volk als Gesellschaft dazu verpflichtet, sich zu erhalten. Diese Pflicht leitet er offensichtlich aus dem Postulat des öffentlichen Rechts ab, das den Übergang „in einen rechtlichen Zustand, d. i. den einer austeilenden Gerechtigkeit“ fordert (§ 42, S. 424). Dieser rechtliche Zustand ist der „einer unter einer distributiven Gerechtigkeit stehenden Gesellschaft“ (§ 41, S. 423). Die Erhaltungspflicht erstreckt sich dabei nicht nur auf das Kollektiv Gesellschaft, sondern auf jedes einzelne Mitglied, wie durch Kants Hinweis auf die Versorgung der „Glieder dieser Gesellschaft, die es selbst nicht vermögen“, deutlich wird. Damit ist dem Einwand vorgebeugt, die Bewahrung der Gesellschaft als solcher setze nicht die Erhaltung aller ihrer Mitglieder voraus; der Tod einiger Bürger gefährde nicht die Existenz des Staates.181 Anders als noch im Gemeinspruch hat Kant in der Metaphysik nicht die Erhaltung des Staates als solchen im Blick, vielmehr steht hier im Mittelpunkt der sozialen Fürsorgepflicht – wie im Frieden – das Individuum. Allerdings ist das Volk als „Menge von Menschen“ (§ 43, S. 429) nicht in der Lage, dieser Pflicht nachzukommen und die distributive Gerechtigkeit durchzusetzen, vielmehr ist hierzu eine übergeordnete Instanz nötig, die die Rechte der Menschen zwangsweise durchsetzen kann. Das Volk muß sich dem Schutz des Staates unterwerfen;182 indem es dies tut, stimmt es zugleich konkludent den Maßnahmen zu, die hierzu notwendig sind. Zu diesen Maßnahmen zählt auch die Erhebung der für die soziale Fürsorge nötigen Mittel von den „Vermögenden“. Dabei kann der Staat wie folgt vorgehen: „Das kann nun geschehen: durch Belastung des Eigentums der Staatsbürger, oder ihres Handelsverkehrs, oder durch errichtete Fonds und deren Zinsen . . ., aber nicht bloß durch freiwillige Beiträge (weil hier nur vom Rechte des Staats gegen das Volk die Rede ist), . . . sondern zwangsmäßig, als Staatslasten.“ (AA C, S. 446 f.)

Dem Staat kommt damit das Recht zu, zu Zwecken der sozialen Fürsorge Steuern von den (vermögenden) Bürgern zu erheben. 181

Zu diesem Argument s. auch Rosen, A. D., Justice (1993), S. 181 und 198. Wollte man den Begriff des Unterwerfens als Hinweis darauf auffassen, daß Kant zwischen Unterwerfungs- und Gesellschaftsvertrag unterscheidet oder einen Unterwerfungsvertrag propagiert, so ist zu beachten, daß er diese Aussage in den Anmerkungen macht, die sich mit der empirischen Rechtspraxis befassen. Auch an anderer Stelle in den Anmerkungen spricht er (das einzige Mal in der gesamten Rechtslehre) vom „Vertrag der Unterwerfung unter denselben (pactum subiectionis civilis)“ (AA A, S. 437 f.), während er im Textteil ausschließlich vom ursprünglichen Vertrag oder Kontrakt spricht (s. § 15, S. 378; § 47, S. 434; § 52, S. 464). 182

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

Allerdings handelt es sich bei der Hilfspflicht für Bedürftige nach Kants Prinzipien strenggenommen nicht um eine indirekte Pflicht des Staates, sondern um eine direkte, originäre. Denn das Postulat des öffentlichen Rechts fordert in erster Linie nicht das Leben in der Gesellschaft, sondern im Staat, in dem allein die distributive Gerechtigkeit verwirklicht werden kann und ein rechtlicher Zustand herrscht. Primär ist nicht die Gesellschaft, sondern der Staat zu seiner eigenen Erhaltung – und damit auch zur Erhaltung seiner Mitglieder – verpflichtet. Denn der Pflicht jedes Menschen zum Leben im Staat korrespondiert ein Recht darauf, im Staat zu leben, das als fundamentale Voraussetzung für die Wahrnehmung aller anderen vom Staat zu sichernden Rechte das Recht auf Leben umfaßt. Die Sicherung der Freiheit und sonstigen Rechte des Menschen setzt die Gewährleistung seines Überlebens voraus. Damit gehört die Fürsorge für Bedürftige nach Kants Prinzipien zu den fundamentalen, apriorischen Pflichten des Staates; als solche müßte Kant die soziale Sicherungspflicht eigentlich im Textteil und nicht in den Anmerkungen behandeln. Zwar scheint die Annahme einer originären Fürsorgepflicht des Staates Kants expliziten Aussagen zu widersprechen, aber es ist zu beachten, daß seine Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft nicht im heutigen Sinne zu verstehen ist. Anders als im heutigen Sprachgebrauch wurde zu Kants Zeiten noch nicht zwischen dem Staat einerseits und der bürgerlichen Gesellschaft als vom Einflußbereich des ersteren unterschiedener Sphäre andererseits differenziert; Staat und Gesellschaft waren vielmehr identisch.183 Entsprechend betrachtet Kant sie hier nur aus verschiedenen Perspektiven, zum einen der horizontalen als „Zustand der einzelnen im Volke, in Verhältnis untereinander“, zum anderen der vertikalen als dem Ganzen derselben, „in Beziehung auf seine eigene Glieder“ (s. § 43, S. 429). Damit ist seine Qualifizierung der sozialen Hilfspflicht als indirekte Pflicht im Grunde obsolet; er betont ihre Mittelbarkeit lediglich, um die Heranziehung des Volkes zur Finanzierung der staatlichen Hilfeleistung begründen zu können, die im Mittelpunkt seiner Erörterung steht, denn er weist explizit darauf hin, daß „hier nur vom Rechte des Staats gegen das Volk die Rede ist“ (AA C, S. 446 f.). Das staatliche Rückgriffsrecht auf das Volk würde aber auch bei einer Einordnung der sozialen Sicherungspflicht als originäre Staatsaufgabe bestehen; die Besteuerung der vermögenden Bürger wäre auch unter dieser Bedingung rechtmäßig, weil sie keinen Eingriff in die Freiheit der Steuerzahler darstellen würde. Denn die menschliche Freiheit ist nicht grenzenlos, sondern von vornherein nur als durch die Freiheit der Mitmenschen beschränkte denkbar, und diese umfaßt als Grundvoraussetzung zuvörderst ihr Recht auf Leben. Das Exi-

183 s. dazu Göhler, G., Einführung (1990), S. 239, und Riedel, M., Herrschaft (1974), S. 236.

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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stenzrecht des einzelnen stellt damit eine immanente Schranke für die Freiheit aller anderen und damit auch für die (Verfügungs-)Freiheit der Eigentümer dar; die Besteuerung der wohlhabenden Bürger zur Existenzsicherung der Bedürftigen stellt die Realisierung dieser Schranke dar.184 Zum Umfang der sozialen Hilfspflicht äußert sich Kant nicht direkt, aber er versteht unter der Pflicht zur Erhaltung des Volkes die Erhaltung derjenigen Bürger, die nicht in der Lage sind, selbst für sich zu sorgen, und zwar „selbst den notwendigsten Naturbedürfnissen nach“ nicht. Daher ist anzunehmen, daß Kant ihnen die für die Befriedigung dieser Bedürfnisse nötigen Mittel zur Verfügung stellen will, jedoch nicht mehr, daß er also nur eine minimale Unterstützung vorsieht, die die Subsistenz, d. h. das Existenzminimum, sichert. Dem entspricht, daß er „die Versorgung der Armen . . . durch nach und nach gesammelte Bestände und überhaupt fromme Stiftungen“ (AA C, S. 447) ablehnt, weil er befürchtet, daß sie, „wenn sie mit der Zahl der Armen anwachsen, das Armsein zum Erwerbmittel für faule Menschen machen, und so eine ungerechte Belästigung des Volks durch die Regierung sein würden.“ (AA C, S. 447). Kant will also mit der staatlichen sozialen Fürsorge keinen Anreiz bieten, diese der eigenständigen Versorgung durch Arbeit vorzuziehen.185 Die staatliche Hilfeleistung darf allerdings keine paternalistische Form annehmen, d. h. sie darf den Hilfsempfängern keine bestimmte Lebensweise vorschreiben, sondern muß ihnen Mittel und Leistungen zum selbstbestimmten Verbrauch, zur freien Verfügung überlassen. Denn nur unter dieser Bedingung verstößt sie nicht gegen das Recht und die Freiheit der Menschen.186 Bei der Erhaltungspflicht der Metaphysik handelt es sich – anders als bei jener des Friedens – nicht um eine Tugend-187, sondern um eine Rechts184

s. hierzu auch Rosen, A. D., Justice (1993), S. 205–208. s. hierzu auch Merle, J.-Chr., Staatsverwaltung (1999), S. 204. Seine folgende Annahme vermag allerdings nicht zu überzeugen: „Die Forderung an die Armen, wenn es nur möglich ist, zu arbeiten, würde ein fremdes Element in der Kantischen Rechtsphilosophie darstellen. Kant hat nie das Eigentum von der Arbeit abhängig gemacht.“ (S. 204) Kant hat nur die ursprüngliche Erwerbung nicht von der Arbeit abhängig gemacht, wohl aber die Anhäufung von Eigentum im Wege der abgeleiteten Erwerbung, wie sich etwa im folgenden Zitat zeigt: „Jedes Glied desselben muß zu jeder Stufe eines Standes in demselben [dem gemeinen Wesen] . . . gelangen dürfen, wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen können . . .“ (Gemeinspruch S. 147) Hier zeigt sich eindeutig, daß Kant die Erlangung von Eigentum und Vermögen durchaus an Fleiß und damit an Arbeit koppelt. Daher wäre auch ein staatliche Hilfe empfangender Bedürftiger – anders als Merle meint – nicht selbständig, da er seine Erhaltung nicht seinen eigenen Kräften, sondern denen des Staates verdankt. Merles Begründung, „daß die Arbeit im Kantischen Recht ausdrücklich keine legitimatorische Rolle spielt“ (S. 205), gilt eben nur für die ursprüngliche Erwerbung. Die Forderung an Empfänger staatlicher Hilfe, sich um Arbeit zu bemühen, wäre mit Kants philosophischen Prinzipien durchaus vereinbar. 186 s. auch Ludwig, B., Verabschiedung (JRE 1, 1993), S. 239; Rosen, A. D., Justice (1993), S. 188 f. 185

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

pflicht188. Denn während erstere einen Spielraum ihrer Befolgung und eine Abwägung mit anderen Tugendpflichten zuläßt,189 ist bei der Erhaltungspflicht der Rechtslehre das Ob und Wie ihrer Erfüllung festgelegt; Kant räumt dem Staat keinen Ermessensspielraum ein. Zudem ist die Tugendpflicht der Wohltätigkeit abhängig vom Vermögen des Wohltäters, Hilfe zu leisten,190 während die Hilfspflicht der Metaphysik unabhängig vom Vermögen des Staates ist: sie tritt ein, wenn ein Bürger bzw. Untertan nicht in der Lage ist, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Die Fürsorgepflicht ist allein an die Bedürftigkeit des Hilfsempfängers gekoppelt, weitere Rahmenbedingungen sind unerheblich.191 Damit ist diese Verpflichtung unabhängig vom Vermögen des Staates zur Hilfeleistung und besteht auch bei schlechter finanzieller Lage; der Staat kann sich in schlechten wirtschaftlichen Situationen nicht darauf berufen, für soziale Hilfe der beschriebenen Art stünden keine Mittel zur Verfügung. Andererseits stellt dies auch eine Begrenzung der Sozialpflicht des Staates dar: auch wenn er in der Lage wäre, in umfassenderer Weise Hilfe zu leisten, ist er nur zur Bereitstellung des Existenzminimums verpflichtet. Von weitergehenden sozialen Maßnahmen und einer generellen Förderung der Wohlfahrt des Volkes spricht Kant in der Metaphysik – anders als im Frieden und dem Gemeinspruch – nicht. Allerdings bedeutet dies nicht, daß entsprechende Maßnahmen unzulässig sind und Kant die soziale Rolle des Staates gegenüber den früheren Schriften beschränkt.192 Vielmehr ist anzunehmen, daß Kant die Förderung der Glückseligkeit des Volkes deshalb nicht anspricht, weil er in der Metaphysik eine reine Rechtslehre vorlegt und sich nicht mit politischen Erwägungen befaßt. Die generelle Förderung der Wohlfahrt ist dem Staat auch nach Kants Prinzipien in der Metaphysik erlaubt, solange sie nicht gegen den primären Staatszweck der Rechtssicherung verstößt; allerdings darf der 187 So aber Ludwig, B., Verabschiedung (JRE 1, 1993), S. 237 f., 240 f.; Rosen, A. D., Justice (1993), S. 179. 188 So auch Luf, G., Freiheit (1978), S. 122, und Merle, J.-Chr., Staatsverwaltung (1999), S. 203. Allerdings ist diese Einordnung von minderer Bedeutung, da auch die Beachtung der Rechtspflichten des Staates vom Bürger nicht erzwingbar ist, s. dazu oben. 189 s. dazu Tugendlehre S. 520: „Die ethischen Pflichten sind von weiter, dagegen die Rechtspflichten von enger Verbindlichkeit. Dieser Satz ist eine Folge aus dem vorigen; denn wenn das Gesetz nur die Maxime der Handlungen, nicht die Handlungen selbst, gebieten kann, so ist’s ein Zeichen, daß es der Befolgung . . . einen Spielraum . . . für die freie Willkür überlasse, d. i. nicht bestimmt angeben könne, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle.“ s. hierzu auch Ludwig, B., Verabschiedung (JRE 1, 1993), S. 238. 190 s. Tugendlehre § 30, S. 589. 191 Insbesondere tritt sie nicht erst – wie nach dem Gemeinspruch – dann ein, wenn die Armut insgesamt staatsgefährdende Ausmaße erreicht und die Gefahr von inneren Unruhen besteht. 192 So auch Rosen, A. D., Justice (1993), S. 192 f.

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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Staat dazu nicht – wie zur Existenzsicherung Bedürftiger – Abgaben vom Volk erheben, sondern muß sie auf andere Weise finanzieren. Damit ist Kants Konzeption in der Metaphysik weiter gefaßt als in den früheren Schriften: während soziale Maßnahmen dort entweder im Ermessen des Herrschers standen und nur die Erhaltung des Staates als solchen im Blick hatten oder bloße Tugendpflichten darstellten, die vom Vermögen des Staates abhängig waren und der Abwägung mit anderen Pflichten unterlagen, betont Kant in der Metaphysik, daß die Fürsorge für Bedürftige zu den Rechtspflichten des Staates gehört und damit kein sekundärer, sondern ein primärer Staatszweck ist. c) Keine weitergehende sozialstaatliche Komponente Umstritten ist, ob Kants Theorie eine weitergehende sozialstaatliche Komponente einschließt und seine Prinzipien dem Staat nicht nur die oben dargelegte soziale Sicherung, sondern auch die Förderung der sozialen Gerechtigkeit auferlegen oder sie zumindest zulassen.193 Der Gedanke der sozialen Gerechtigkeit basiert auf der Erkenntnis, daß die jedem Menschen rechtlich zustehende Freiheit faktisch von wirtschaftlichen und sozialen Realisierungsbedingungen abhängig ist und Ungleichheiten in diesen Voraussetzungen zu ungleichen Handlungsspielräumen führen. Das Postulat sozialer Gerechtigkeit verpflichtet den Staat zur Bereitstellung der wirtschaftlichen und sozialen Basis, die zur Verwirklichung der menschlichen Freiheit notwendig ist.194 Dieser Bereitstellung dienen etwa Maßnahmen, die die Ungleichheiten der gewachsenen Eigentumsordnung und die Folgen der uneingeschränkten Vertragsfreiheit korrigieren, durch die der Staat also umverteilend tätig wird.195 Teilweise wird vertreten, daß Kants Theorie ein solches sozialstaatliches Element aufweist. Anknüpfungspunkt ist dabei Kants Eigentumstheorie, insbesondere der Gedanke des allgemein vereinigten Willens und des ursprünglichen Gesamtbesitzes, in denen der „Aspekt sozialer Schranken des Eigentums“ (Luf) anklingen soll.196 Die obige Ansicht geht davon aus, daß sich aus Kants Eigentumstheorie die Aufgabe des Staates ergibt, in die bestehenden Eigentumsverhältnisse zum Zweck der gerechteren Verteilung von Eigentum regelnd einzugreifen.197 Der Staat soll nach dieser Ansicht nicht nur für formelle, abstrakte 193 Zusammenfassend hierzu Kühl, K., Sachenrecht (1999), S. 126, 128–131, und Unruh, P., Vernunft (1993), S. 183–193. 194 s. hierzu Kersting, W., Freiheit (1993), S. 61 f. 195 s. Degenhart, C., Staatsrecht (2006), Rn. 568. 196 Luf, G., Freiheit (1978), S. 92; s. auch Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 203 f. 197 So etwa Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 264 ff.; ders., Sachenrecht (1999), S. 126, 128–131; Luf, G., Freiheit (1978), S. 88 ff., 124 ff.; Langer, C., Prinzipien (1986), S. 165–170, die allerdings davon ausgeht, daß Kant „solche inhaltlichen

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Chancengleichheit sorgen, d. h. für Rechtsgleichheit und die gleiche prinzipielle Möglichkeit aller, Eigentum zu erwerben, sondern auch für inhaltliche, konkrete Chancengleichheit, d. h. die Schaffung gleicher Ausgangsbedingungen.198 Dieser Auffassung ist insofern zuzustimmen, als Kant eine staatliche Gestaltungsbefugnis bezüglich des Eigentums nicht gänzlich ausschließt;199 die staatliche Eigentumsordnung ist nicht nur auf die Sanktionierung und Konservierung der naturzuständlichen, vorgefundenen Eigentumsverhältnisse beschränkt, sondern darf und muß in gewissem Umfang gestaltend tätig werden. Allerdings ist die Gestaltungsbefugnis des Staates nicht absolut, sondern muß den Kerngehalt des Privateigentums wahren und sich im Rahmen der Vernunftgesetze bewegen. In diesen Rahmen fällt die oben erörterte Besteuerung der Vermögenden zum Erhalt des Lebens bedürftiger Staatsbürger, denn diese Umverteilung zu Zwecken sozialer Fürsorge und Sicherung ist mit apriorischen Prinzipien und insbesondere dem allgemeinen Prinzip des Rechts200 vereinbar, weil sie keinen Eingriff in die Freiheit der besteuerten Bürger darstellt.201 Eine darüber hinausgehende Umverteilung zu Zwecken sozialer Gerechtigkeit dagegen ist mit Kants Prinzipien nicht zu vereinbaren; eine Umverteilung zu anderen Zwecken als der reinen Existenzsicherung würde eine Verletzung der Freiheit der Belasteten darstellen und wäre rechtswidrig. Denn die menschliche Freiheit als immanente Beschränkung der Freiheit anderer umfaßt das Recht jedes Menschen auf seine Existenz, nicht dagegen ein Recht auf die Ausstattung mit einem bestimmten Maß an Eigentum. Die Freiheit ist angeboren und kommt „jedem Menschen, kraft seiner Menschheit“ zu (S. 345); sie ist also allein von der Existenz des Menschen und nicht von weiteren Zusatzbedingungen abhängig. Daß sich die menschliche Freiheit durchaus mit ökonomischer Festlegungen vermeidet“, nämlich die Festlegung, ob der Staat nur das Existenzminimum zu garantieren hat oder auch eine gerechte Verteilung des Eigentums. Langer ist vielmehr der Ansicht, daß Kant „es unter sich verändernden kontingenten Bedingungen dem Konsens aller überläßt, welche Regelung sie vornehmen wollen“, s. ebd. S. 189. 198 s. etwa Luf, G., Freiheit (1978), S. 95 f.: „Dem Gleichheitsgebot entspricht weder die Beschränkung auf die abstrakte Chance, Eigentum zu erwerben, noch die undifferenzierte Forderung nach quantitativem Ausgleich. Welches allgemeine Maß erforderlich ist, kann nur in der historischen Situation zureichende Beantwortung finden, gemessen am Prüfstein der Tauglichkeit, ,als im synthetisch-allgemeinen Willen enthalten, und mit dem Gesetz desselben zusammenstimmend gedacht‘ zu werden. . . . Daß bei der Verteilung des Eigentums ein zureichender und einheitlicher Standard materieller Lebensbedingungen anzustreben ist, stellt wohl eine Selbstverständlichkeit dar, obgleich Kant in seiner Eigentumslehre keinen expliziten Zusammenhang zwischen Eigentum und materiellen Elementarbedingungen herstellt.“ 199 So auch Hofmann, H., Naturzustand (1982), S. 26 und S. 40, Fn. 59; Kersting, W., Eigentum (1991), S. 132; Langer, C., Prinzipien (1986), S. 153 f., 155, 159; Luf, G., Freiheit (1978), S. 123. s. dazu oben 1. b) (3) (a) (aa). 200 s. § C, S. 337 f. 201 s. dazu oben b) (3).

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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Abhängigkeit vereinbaren läßt, betont Kant explizit in § 46, wenn er darauf hinweist, daß auch den im wirtschaftlichen Sinne Unselbständigen, die kein Eigentum haben, das sie ernährt,202 die angeborene Freiheit zukommt.203 Daher vermag die obige Ansicht, die in Kants Eigentumstheorie über die soziale Sicherung hinausgehende „soziale Schranken“ erkennen will, nicht zu überzeugen.204 Sie stützt sich zudem auf Elemente aus Kants Nachweis der prinzipiellen Möglichkeit, Eigentum innehaben und erwerben zu können, und mißdeutet diese als Vorgaben für die positive Eigentumsordnung, d. h. sie verwechselt – in den Worten Kerstings – „geltungslogische Argumente aus [Kants] Eigentumsbegründung mit Prinzipien der Gestaltung der gesellschaftlichen Eigentumsordnung“.205 Zudem ist fraglich, welche über die reine Lebenserhaltung hinausgehenden materialen Verteilungskriterien sich dem Gedanken des ursprünglichen Gesamtbesitzes und des allgemein vereinigten Willens entnehmen lassen können, da Kant im Rahmen der ursprünglichen Erwerbung keine weitergehenden Aneignungsschranken aufstellt und die Idee des allgemein vereinigten Willen keinen materialen, sondern einen rein prozeduralistischen Gehalt hat, d. h. keine bestimmten Inhalte, sondern nur ein bestimmtes Verfahren vorschreiben kann.206 Daß Kant eine Umverteilung unter dem Gesichtspunkt sozialer Gerechtigkeit nicht zuläßt, bedeutet aber nicht, daß er jegliche staatliche Regelungen zur Korrektur der gewachsenen Eigentumsordnung ablehnt. Er ist sich vielmehr durchaus bewußt, daß die konkrete Eigentumsverteilung teilweise auf Ungerechtigkeit beruht und nicht nach Vernunftprinzipien zustande gekommen ist, wie er in der Tugendlehre zeigt: „Das Vermögen wohlzutun, was von Glücksgütern abhängt, ist größtenteils ein Erfolg aus der Begünstigung verschiedener Menschen durch die Ungerechtigkeit der Regierung, welche eine Ungleichheit des Wohlstandes, die anderer Wohltätigkeit notwendig macht, einführt.“ (Tugendlehre S. 591)

202

Vgl. Gemeinspruch S. 151. Eine Verpflichtung des Staates zur Umverteilung aus Gründen sozialer Gerechtigkeit ergibt sich auch nicht aus Kants Prinzip der Selbständigkeit als Kriterium des Gesellschaftsvertrages. Wie sich unten zeigen wird, muß zwischen der Selbständigkeit als apriorischem Prinzip und seiner empirischen Ausfüllung unterschieden werden, und in ersterer Hinsicht bedeutet Selbständigkeit lediglich Mündigkeit, d. h. die Fähigkeit, eigenständig zu entscheiden, unabhängig von allen wirtschaftlichen Zusammenhängen. Daher verpflichtet Kant auch mit der Postulierung der Selbständigkeit als apriorisches Prinzip den Staat nicht dazu, jedem eine bestimmte wirtschaftliche Basis zur Verfügung zu stellen, sondern lediglich, die Aufklärung als Weg zur Mündigkeit nicht zu behindern. s. hierzu unten D. I. 3. c). 204 So auch Kersting, W., Freiheit (1993), S. 61 und 66, S. 338 ff., Fn. 24. 205 Kersting, W., Freiheit (1993), S. 61. 206 s. Kersting, W., Freiheit (1993), S. 66. 203

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Kant weist hier nicht nur darauf hin, daß die unterschiedliche Verteilung von Eigentum gerade durch ungerechte staatliche Regelungen verursacht werden kann, sondern auch darauf, daß mit dieser unterschiedlichen Verteilung auch unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten und -spektren, d. h. unterschiedliche Grade an Handlungsfreiheit, verbunden sind, so die Möglichkeit zum wohltätigen Handeln, die nicht jedem offensteht. Als Konsequenz aus dieser Erkenntnis fordert Kant jedoch – wie gesehen – nicht den materiellen Ausgleich von Gütern, sondern die Schaffung gleicher abstrakter Chancen, d. h. gleicher rechtlicher Bedingungen. So betont er in der Metaphysik: „. . . daß, welcherlei Art die positiven Gesetze . . . auch sein möchten, sie doch den natürlichen der Freiheit und der dieser angemessenen Gleichheit aller im Volk, sich nämlich aus diesem passiven Zustande zu dem aktiven empor arbeiten zu können, nicht zuwider sein müssen.“ (§ 46, S. 434)

Aus dem Gedanken der Gleichheit ergibt sich die Verpflichtung zur vertikalen Mobilität der Gesellschaft.207 Entsprechend fordert Kant vom Staat die Beseitigung struktureller Hindernisse für eine gleichmäßigere Eigentumsverteilung, zu denen er unter anderem den erblichen Adel und Fideikommisse zählt.208 Letztere lehnt er in der Metaphysik mit folgenden Worten ab: „Hieraus folgt: daß es auch keine Korporation im Staat, keinen Stand und Orden geben könne, der als Eigentümer den Boden zur alleinigen Benutzung den folgenden Generationen (ins Unendliche) nach gewissen Statuten überliefern könne. Der Staat kann sie zu aller Zeit aufheben, nur unter der Bedingung, die Überlebenden zu entschädigen.“ (AA B, S. 444)

Auch die Institution des Erbadels lehnt Kant als gegen die Freiheit und Gleichheit verstoßend ab.209 Kant betont auch im Rahmen seiner Erörterungen zur Gleichheit, daß diese nicht numerisch verstanden werden darf, daß also ebenso, wie die Freiheit der Menschen mit wirtschaftlicher Abhängigkeit einhergehen kann, ihre Gleichheit nicht materiale Gleichheit bedeutet und keine gleiche Verteilung von Eigentum bedingt, sondern formelle Gleichheit ist: „Diese durchgängige Gleichheit der Menschen in einem Staat, als Untertanen desselben, besteht aber ganz wohl mit der größten Ungleichheit, der Menge, und den Graden ihres Besitztums, es sei an körperlicher oder Geistesüberlegenheit über andere, oder an Glücksgütern außer ihnen und an Rechten überhaupt (deren es viele geben kann) respektiv auf andere; so daß des einen Wohlfahrt sehr vom Willen des anderen abhängt (des Armen vom Reichen) . . .“ (Gemeinspruch S. 147) 207

s. unten D. I. 3. b) (1). s. hierzu auch Kühl, K., Eigentumsordnung (1984), S. 286 f.; ders., Sachenrecht (1999), S. 129 f. 209 s. dazu AA D, S. 449 ff. und unten D. I. 3. b) (1). 208

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Angesichts dieser klaren Aussagen Kants vermag nicht nur die oben dargelegte Ansicht nicht zu überzeugen, die sozialstaatliche Prinzipien aus Kants Eigentumstheorie ableiten will; auch die Auffassung, die unabhängig von Kants Eigentumstheorie – und teilweise erklärtermaßen über ihn hinausgehend – ein sozialstaatliches Element aus dem Freiheitsgedanken und dem Kriterium des Gesellschaftsvertrages herauslesen will,210 ist nicht stichhaltig. Kant sieht den Staat nicht zur Schaffung gleicher konkreter Chancen und zum aktiven Ausgleich bereits bestehender Ungleichheiten berufen oder auch nur befugt, sondern allein zur Schaffung gleicher abstrakter Chancen, d. h. zur Wahrung der Rechtsgleichheit.211 Kants Staat dient damit nur der Sicherung der menschlichen Freiheit, nicht aber der Schaffung der wirtschaftlichen und sozialen Realisierungsbedingungen dieser Freiheit.212 5. Ergebnis Kant zeigt im Rahmen seiner Legitimation staatlicher Herrschaft nicht nur – wie der Großteil der politischen Theoretiker und Philosophen vor ihm – die Nützlichkeit der staatlichen Oberhoheit für die ihr unterworfenen Menschen auf, sondern begründet ihre rechtliche Gebotenheit und die vernunftrechtliche Verpflichtung des Menschen, in den Staat einzutreten. Diese Verpflichtung ergibt sich aus dem angeborenen Freiheitsrecht der Menschen, das nur dann umfassend verwirklicht ist, wenn die ihm immanente Beschränkung auf die Kompatibilität mit der Freiheit aller anderen Menschen beachtet und gegebenenfalls zwangsweise durchgesetzt wird. Als Grundlage von Zwangsmaßnahmen zur Freiheitssicherung kann dabei nur ein mit jedermanns Freiheit vereinbares Gesetz dienen, das der allseitigen Zustimmung bedarf, d. h. dem allgemein vereinigten Willen entspringen muß, der nur im Staat vorliegt. Die Pflicht zum Staat ist damit die Kehrseite des angeborenen Freiheitsrechts der Menschen. Kant stützt sich dabei zum einen direkt auf dieses Recht, zum anderen beruft er sich auf das prinzipielle Recht jedes Menschen auf Eigentum, das der umfassenden Verwirklichung der menschlichen Handlungsfreiheit dient und sich damit aus dem ersteren ergibt. Bei diesen beiden Nachweisen handelt es sich um 210 So etwa Kersting, W., Eigentum (1991), S. 132 ff.; ders., Freiheit (1993), S. 64– 67, der hier unter Verwendung eines Ausdrucks von Höffe vom „verborgenen vernunftrechtlichen Motiv eines ,freiheitsfunktionalen Sozialstaats‘ bei Kant“ spricht, s. a. a. O., S. 64. s. auch Rosen, A. D., Justice (1993), S. 202 und 206, insb. Fn. 63. 211 So auch Baumann, P., Seiten (KS 85, 1994), S. 153, Fn. 25 und S. 154, Fn. 31; Deggau, H.-G., Aporien (1983), S. 248 ff.; Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 128, Fn. 70; ders., Verabschiedung (JRE 1, 1993), S. 233 ff., 253. 212 Deshalb ist Langers Ansicht nicht überzeugend, daß Kant „solche inhaltlichen Festlegungen vermeidet“ und „es unter sich verändernden kontingenten Bedingungen dem Konsens aller überläßt, welche Regelung sie vornehmen wollen“, s. Langer, C., Prinzipien (1986), S. 189.

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zwei komplementäre Begründungen, die nebeneinander stehen müssen; erst beide Begründungsstränge zusammengenommen können den Staat als umfassendes Sicherungsinstrument der menschlichen Freiheit legitimieren. Die Ableitung aus dem inneren Mein und Dein ist nötig, weil die eigentumstheoretische Begründung nur das sachbezogene Verhältnis der Menschen zueinander im Blick hat, nicht dagegen ihre von äußeren Gegenständen abstrahierenden Beziehungen zueinander. Andererseits wäre der Staat bei einer Ableitung allein aus dem inneren Mein und Dein und den mit ihm verbundenen allgemeinen Freiheitsrechten nur zur Sicherung der Freiheit als interpersonelles Verhältnis berufen, ohne den Bezug auf äußere Gegenstände herstellen zu können. Denn die angeborene Freiheit vermittelt Rechte an Sachen nur insoweit und so lange, wie diese mit dem Körper verbunden sind; eine über den physischen Besitz hinausgehende Beziehung der Willkür zu Sachen vermag sie nicht zu begründen.213 Mit dieser Beschränkung der Rechte der Menschen auf den physischen Besitz aber wäre ihnen die umfassende Verfügungsmöglichkeit über Sachen versagt und ihre Handlungsfreiheit stark beschnitten. Ein nur aus den angeborenen Freiheitsrechten legitimierter Staat würde damit keine umfassende menschliche Freiheit gewährleisten, sondern nur die „minimale“ interpersonale. Neben dieser zweigliedrigen vernunftrechtlichen Begründung führt Kant in einem schwächeren Argument noch die selbstsüchtige Natur der Menschen als Grund für die Notwendigkeit staatlicher Herrschaft an.214 Danach erweist sich das Leben im Staat für die Menschen als nützlich, da der erstere sie vor Übergriffen durch die anderen schützt, nicht aber als vernunftgeboten; unter rechtlichen Gesichtspunkten steht es den Menschen frei, im Naturzustand zu verblei213 Hierzu bedarf es der synthetischen Erweiterung des Rechtsbegriffs, die durch die Einführung des intelligiblen Besitzes erfolgt, s. dazu § 6, S. 358 ff. und Hespe, F., Gesellschaftsvertrag (1998), S. 298 ff. Ohne diese Erweiterung liefe der Rechtsbegriff zwar nicht gänzlich leer, wie Hespe annimmt (s. a. a. O. S. 300), da es auch den „nicht-sachbezogenen Umgang zwischen Menschen“ gibt (Kühl), d. h. Rechte, die nur das interpersonale Verhältnis ohne Bezug auf äußere Gegenstände betreffen, s. Kühl, K., Sachenrecht (1999), S. 128. Der Rechtsbegriff wäre aber erheblich eingeschränkt, da den Menschen keine umfassende Verfügungsbefugnis über Sachen zustünde. 214 Teilweise wird vertreten, Kant bewege sich nur auf einer Argumentationsebene; s. etwa Fulda, H. F., Postulat (1997), S. 281, Fn. 11, S. 285; Hespe, F., Gesellschaftsvertrag (1998), S. 315 und 317, Fn. 49. Andere Autoren sehen zwei Begründungsschienen; s. Baumann, P., Seiten (KS 85, 1994), S. 154 f., 159; Herb, K./Ludwig, B., Naturzustand (KS 84, 1993), S. 284 f. und 292 f.; Kersting, W., Concept (1992), S. 145 f.; ders., Kontraktualismus (AZP 1983), S. 9. Allerdings sollten diese Einteilungen nicht überbewertet werden, da die Übergänge fließend sind. So finden sich in Kants anthropologischer Argumentation schon wieder Momente der eigentumstheoretischen Begründung, und auch am Ende der Ableitung allgemein aus Freiheitsrechten kommt Kant auf die letztere zurück. Entsprechend sehen beispielsweise auch Herb/ Ludwig, die Kants Argumentation an den o. a. Stellen als zweigleisig bezeichnen, in den §§ 42 bis 44 drei unterschiedliche Argumentationsebenen vorliegen, s. a. a. O., S. 297.

I. Bei Kant: Gebotenheit des Staates

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ben, auch wenn sich dies in pragmatischer Hinsicht als unklug erweisen würde. Die Berufung auf anthropologische Prämissen und damit auf empirische Fakten kann aber im Rahmen einer metaphysischen, aus der Vernunft hervorgehenden Rechtslehre die staatliche Herrschaft nicht legitimieren, da aus empirischen Gegebenheiten keine normativen Schlußfolgerungen gezogen werden können; das Sollen kann im Rahmen einer auf apriorische Prinzipien gegründeten Theorie nicht vom Sein abgeleitet werden, da es damit jeglichen normativen Gehaltes beraubt wäre. Entsprechend mißt auch Kant der anthropologischen Begründung im Rahmen seiner Rechtslehre keine große Bedeutung zu, wie sich bereits am geringen Raum zeigt, den sie einnimmt. Zudem führt Kant sie im Privatrecht in § 42 unter der Überschrift „Übergang von dem Mein und Dein im Naturzustande zu dem im rechtlichen Zustande überhaupt“ (S. 422) und damit lediglich als Annex zur eigentumstheoretischen Begründung auf und kommt am Ende der anthropologischen Ausführungen schon wieder auf die apriorische Begründung zurück, wenn er betont, daß der Ausgang aus dem Naturzustand Pflicht sei. Auch lehnt er im Anschluß daran im Staatsrecht eine auf die Empirie rekurrierende Begründung ausdrücklich ab (s. § 44). Daß er sie im Privatrecht dennoch einführt, könnte darauf zurückzuführen sein, daß er die rechtsphilosophische Perspektive, die Frage nach dem Sollen, hier um die geschichtsphilosophische Perspektive ergänzen will, um darzulegen, warum die Menschen die ihnen von der Vernunft auferlegte Verpflichtung auch erfüllen werden. Hespe bezeichnet diese Ausführungen als „plausibilisierende Erläuterungen, die das Argument selbst nicht tragen.“ 215 Abschließend bleibt damit festzuhalten, daß Kant sich in seiner Legitimation des Staates letztlich allein auf Vernunftprinzipien beruft und aus diesen die Gebotenheit staatlicher Herrschaft, d. h. die Verpflichtung der Menschen zum Leben im Staat, deduziert. Dessen Zweck sieht er primär in der Rechtssetzung und -sicherung zur Freiheitssicherung, die auch die soziale Fürsorge für Bedürftige umfaßt. Daneben schreibt Kant dem Staat die sekundäre Aufgabe zu, für das Gemeinwohl zu sorgen, allerdings nur insoweit, als dies nicht gegen den primären Staatszweck verstößt. Eine über die soziale Sicherungspflicht hinausgehende sozialstaatliche Komponente läßt sich Kants Theorie nicht entnehmen; insbesondere finden sich keine Anhaltspunkte für eine Theorie sozialer Gerechtigkeit, wie teilweise angenommen wird. Kant fordert lediglich die Schaffung von Rechtsgleichheit, nicht dagegen von materieller Chancengleichheit. Damit stellt er sich als Vertreter eines liberalen Rechtsstaates mit minimalem sozialen Gehalt dar. Ein solchermaßen eingeschränktes Verständnis der staatlichen Aufgaben wird den heutigen sozialen Problemen nicht mehr gerecht;216 215

Hespe, F., Gesellschaftsvertrag (1998), S. 316.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

allerdings kann dies Kant nicht zum Vorwurf gemacht werden, da sich das Problem der Verteilungsgerechtigkeit zu seiner Zeit noch nicht in dem späteren Umfang stellte. Die negativen Folgen des ungebremsten ökonomischen Liberalismus zeigten sich erst im Laufe der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert, die die Soziale Frage des Schutzes sozial schwacher Schichten, insbesondere der Arbeiter, aufwarf. Im 18. Jahrhundert dagegen wurde das ungehinderte Wirken der Kräfte einer freien Wirtschaftsordnung als Garant für die Entwicklung einer freien und gleichen Gesellschaft ohne ständische und kirchliche Privilegien gesehen.217 Vor diesem geschichtlichen Hintergrund sind auch Kants Ausführungen zu verstehen; sie richten sich vor allem gegen den absolutistischpaternalistischen Wohlfahrtsstaat seiner Zeit.218

II. Im Federalist: Nützlichkeit des Staates Die Autoren des Federalist stellen die Notwendigkeit staatlicher Herrschaft angesichts des bestehenden Grundkonsenses in dieser Frage und der Unbestrittenheit ihrer Ansichten apodiktisch als selbstverständlich dar. Bereits im zweiten Artikel der Aufsatzserie postulieren sie: „Nichts ist so gewiß wie die absolute Notwendigkeit von Regierung“ (Nr. 2, S. 5). An den Stellen, an denen sie auf dieses Thema zurückkommen, machen sie deutlich, daß sie die Existenz staatlicher Macht aufgrund der menschlichen Natur für notwendig halten. So schreibt Madison in Nr. 51: „. . . ist nicht die Notwendigkeit von Regierung schon an sich die stärkste Kritik an der menschlichen Natur? Wenn die Menschen Engel wären, so bräuchten sie keine Regierung . . .“ (Nr. 51, S. 314),

und Hamilton betont in Nr. 15: „Die wahren Antriebskräfte menschlichen Verhaltens hat man . . . noch nie wirklich begriffen und die ursprüngliche Motivation zur Errichtung staatlicher Macht [civil power] von jeher verkannt. Warum werden denn überhaupt Regierungssysteme errichtet? Weil sich die Menschen mit ihren Leidenschaften den Geboten von Vernunft und Gerechtigkeit nicht ohne Zwang beugen.“ (Nr. 15, S. 86)

1. Die Impulse menschlichen Handelns Wenn die Verfasser der Essays von der menschlichen Natur sprechen, meinen sie hiermit in erster Linie das menschliche Verhalten und die Frage nach seinen 216 s. Ludwig, B., Verabschiedung (JRE 1, 1993), S. 249. Zu den heutigen gesellschaftspolitischen Problemen und einem möglichen Lösungsansatz s. beispielsweise Köhler, M., Teilhabegerechtigkeit (1999). 217 Salvemini, G., Concepts (1968), S. 116. 218 s. Ludwig, B., Verabschiedung (JRE 1, 1993), S. 249; Unruh, P., Vernunft (1993), S. 191.

II. Im Federalist: Nützlichkeit des Staates

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Beweggründen.219 Dies wird deutlich, wenn man ihre expliziten Berufungen auf diesen Topos untersucht: so sprechen sie von der „menschlichen Natur“ 220, aber auch vom „menschlichen Verhalten“ 221 und von den „Triebfedern des menschlichen Charakters“ (Nr. 34, S. 191) bzw. den „Antriebskräfte[n] menschlichen Verhaltens“ (Nr. 15, S. 86). Damit geht es Hamilton, Madison und Jay in ihrer Erörterung der Natur des Menschen nicht um dessen moralische Verpflichtung oder um seine Erkenntnisfähigkeit, sondern vielmehr um die Frage, warum der Mensch bestimmte Verhaltensweisen an den Tag legt. Anhand der hierzu gewonnenen Erkenntnisse weisen sie dann nach, inwiefern die neue Verfassung sich diese Muster zunutze macht und das menschliche Verhalten in wünschenswerte Bahnen lenkt.222 Die zentrale Frage der Essays, ob und warum die neue Verfassung angenommen werden soll, beantworten die Autoren deshalb positiv, weil sie davon ausgehen, daß die Menschen, die den Staat als seine Amtsträger zum Leben erwecken und in seinem Namen handeln, unter der neuen Verfassung zu einem vernünftigeren Verhalten bewegt werden als unter den Konföderationsartikeln223 und so ein besserer Staat entsteht. Die Verfasser des Federalist legen ihre Sicht der menschlichen Natur nicht systematisch in einem gesonderten Kapitel dar, sondern führen sie immer wieder verstreut im Laufe der Aufsatzserie an, um die verschiedenen Bestimmungen der Verfassung zu verteidigen und zu befürworten.224 Letztlich begründen sie die Notwendigkeit oder Nützlichkeit aller grundlegenden Verfassungsbestimmungen mit anthropologischen Erwägungen, so daß man sagen kann, daß Pu-

219

Scanlan, J. P., Nature (RoP 21, 1959), S. 660. s. Nr. 6, S. 26; Nr. 17, S. 96; Nr. 65, S. 397; Nr. 66, S. 405. 221 Nr. 64, S. 391; Nr. 75, S. 455. 222 Scanlan, J. P., Nature (RoP 21, 1959), S. 669; White, M. G., Federalist (1987), S. 88 f., 102. 223 s. von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 104; Scanlan, J. P., Nature (RoP 21, 1959), S. 660. 224 So rechtfertigen sie mit dem Hinweis auf die menschliche Natur etwa die Notwendigkeit einer gemeinsamen Regierung für alle Einzelstaaten (s. Nr. 6, S. 24), eines repräsentativen und großflächigen Regierungssystems (s. Nr. 10, S. 54), die Notwendigkeit eines Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten (s. Nr. 22, S. 131), einer umfassenden Steuerkompetenz der Union (Nr. 31, S. 176 und Nr. 34, S. 191), die Ablehnung eines Konventes zur Korrektur von Verfassungsbrüchen (s. Nr. 49, S. 305, 309 und Nr. 50, S. 311), die geringe Größe des Repräsentantenhauses (s. Nr. 58, S. 356), die Notwendigkeit eines Senats (s. Nr. 62, S. 376), die vorgesehene Anzahl und Amtszeit der Senatoren (s. Nr. 63, S. 381), die Notwendigkeit, den Präsidenten mit Rat und Zustimmung des Senats Verträge abschließen zu lassen (s. Nr. 643, S. 391). Daneben belegt Madison im 51. Artikel auch die Notwendigkeit von Gewaltenteilung und einer föderalen Staatsgliederung mit zahlreichen Verweisen auf die menschliche Natur. Zur Untermauerung ihrer Auffassung führen die Autoren immer wieder auch historische Beispiele menschlichen Handelns und Verhaltens an. 220

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

blius’ Sicht der menschlichen Natur seiner gesamten Staatstheorie zugrunde liegt.225 Dadurch, daß die Autoren der Essays immer wieder auf „die“ menschliche Natur per se hinweisen und ihr bestimmte Eigenschaften zuschreiben, zeigen sie, daß sie sie als unabänderliches Faktum, als Konstante ansehen, die nur richtig erkannt und beschrieben werden muß, um aus ihr Schlußfolgerungen ziehen zu können. Da die Verfasser von ihrer Unabänderlichkeit überzeugt sind, versuchen sie nicht, sie durch den Staat zu ändern und den Menschen durch staatlichen Einfluß zu reformieren und zu verbessern; sie wollen die Natur des Menschen lediglich im Staat und für den Staat nutzbar machen.226 a) Meinungen, Leidenschaften und Interessen Die Konzentration des Federalist auf das menschliche Verhalten und seine Motive wird vor allem im berühmten 10. Essay deutlich, dem ersten aus Madisons Feder stammenden. Madison weist darauf hin, daß das menschliche Handeln von bestimmten Impulsen gesteuert wird, die er in drei Gruppen einteilt. In seiner Definition des Begriffs der Faktion spricht er zunächst die Leidenschaften und die Interessen als Triebfedern des (faktiösen) menschlichen Verhaltens an: „Unter einer Faktion verstehe ich eine Gruppe von Bürgern, – das kann eine Mehrheit oder eine Minderheit der Gesamtheit sein, – die durch den gemeinsamen Impuls einer Leidenschaft oder eines Interesses vereint und zum Handeln motiviert ist, welcher im Widerspruch zu den Rechten anderer Bürger oder dem permanenten und gemeinsamen Interesse der Gemeinschaft steht.“ (Nr. 10, S. 51)

Daneben nennt Madison noch einen weiteren Impuls, der das menschliche Handeln steuert: ihre Meinungen. Denn er schreibt, daß die Ursachen von Faktionen beseitigt werden könnten, wenn es möglich wäre, „alle Bürger mit den gleichen Meinungen, den gleichen Leidenschaften und denselben Interessen zu versehen“ (Nr. 10, S. 51) – was er allerdings für unmöglich hält. Die Gleichstellung von „Meinung“ mit den oben genannten Impulsen „Leidenschaft“ und „Interesse“ zeigt, daß Madison auch die Meinungen der Menschen als eine Triebfeder ihres Verhaltens ansieht.227 So weist er etwa auch in Nr. 49 darauf hin, „daß die Stärke der Meinung jedes einzelnen und ihr praktischer Einfluß auf sein Verhalten sehr von der Zahl derjenigen abhängt, von denen er annimmt, sie teilten die gleiche Meinung.“ (Nr. 49, S. 306)228

225

Wright, B. F., Introduction (1961), S. 26. s. von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 105; Smith, M., Reason (JoP 22, 1960), S. 543; Taylor, Q. P., Essential (1998), S. 22 und 34; Wright, B. F., Nature (Ethics 59, 1949), S. 4. 227 So auch Scanlan, J. P., Nature (RoP 21, 1959), S. 661 f. 226

II. Im Federalist: Nützlichkeit des Staates

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Unter Leidenschaften versteht Publius (starke) Gefühle wie beispielsweise „Abneigung, Vorliebe, Rivalität und das Verlangen nach ungerechtfertigtem Eigentumserwerb“ oder „Wut, Ablehnung, Eifersucht, Habgier“ (Nr. 6, S. 27), um nur eine Aufzählung von vielen zu nennen. Die Interessen sieht er in erster Linie an die Art und Menge von Eigentum gekoppelt:229 „Die Besitzenden und die Besitzlosen haben schon immer getrennte gesellschaftliche Interessen gebildet. Zwischen Gläubigern und Schuldnern besteht derselbe Unterschied. Grundbesitzer, Manufakturbesitzer, Vertreter von Handel und Finanzen und viele kleinere Interessengruppen entstehen in zivilisierten Nationen zwangsläufig . . .“ (Nr. 10, S. 52)

Unterschiedliche Meinungen können nach Publius in allen möglichen Fragen entstehen, so nennt er etwa „unterschiedliche Meinungen in Glaubensdingen, in Fragen des politischen Systems und zu vielen anderen Fragen“ (Nr. 10, S. 52). Daß es sich bei dem Trio Meinungen, Leidenschaften und Interessen um die einzigen Triebfedern menschlichen Verhaltens handelt und diese Aufzählung abschließend ist, sagt Madison nicht explizit;230 jedoch findet sich weder im 10. Aufsatz noch in den übrigen Essays eine weitere Kategorie von Impulsen. Alle weiteren genannten Antriebe lassen sich in eine der drei Kategorien einordnen, so daß man davon ausgehen kann, daß die Autoren des Federalist Meinungen, Leidenschaften und Interessen als die einzigen Impulse ansehen.231 Allerdings findet sich an einigen Stellen eine andere Dreiteilung: so beklagt Hamilton etwa in Nr. 22, daß die Union „damit permanent den Vorurteilen, Leidenschaften und Interessen jedes einzelnen Mitglieds der Legislative auf Gedeih und Verderb ausgeliefert“ sei (Nr. 22, S. 131). Der Impuls der Meinungen ist hier durch den der Vorurteile ersetzt. Diese stellen aber keine vierte Kategorie dar, sondern treten an die Stelle der Meinungen; an anderer Stelle wird deutlich, daß Publius Vorurteile dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechend für eine Unterart von Meinungen hält, nämlich für voreilige, vorschnelle Meinungen, die sich jemand ohne nähere Prüfung der Tatsachen gebildet hat.232 So schreibt Hamilton in Nr. 31: „Die Unklarheit liegt viel häufiger in den Gefühlen und Vorurteilen des Betrachters als in seinem Gegenstand. Die Menschen geben allzu oft ihrem eigenen Verstand 228 Warum Madison einerseits Meinungen, Leidenschaften und Interessen als Triebfedern menschlichen Handelns sieht, andererseits aber nur Leidenschaften und Interessen als Ursache von Faktionen nennt (s. seine oben genannte Definition von Faktionen), d. h. hier den Impuls „Meinung“ nicht aufführt, wird weiter unten erörtert werden, s. E. II. 2. a) (1). s. dazu auch White, M. G., Federalist (1987), S. 72–74. 229 Allerdings werden die Interessen nicht nur durch die Besitzverhältnisse bestimmt, s. dazu unten E. II. 2. a) (1). 230 s. zu dieser Frage White, M. G., Federalist (1987), S. 104. 231 So auch Scanlan, J. P., Nature (RoP 21, 1959), S. 665. 232 White, M. G., Federalist (1987), S. 127.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

keine wirkliche Chance, weil sie sich einem vielversprechenden Vorurteil unterwerfen.“ (Nr. 31, S. 176)

Nach Ansicht der Autoren des Federalist entspringen sowohl Meinungen als auch Vorurteile der gleichen Wurzel, nämlich der Vernunft. In Nr. 10 stellt Madison klar, daß unterschiedliche Meinungen entstehen, weil „die menschliche Vernunft fehlbar ist und der Mensch frei ist, sie zu benutzen“ (Nr. 10, S. 52). Daher ist denkbar, daß Menschen durch Anwendung ihrer Vernunft zu Meinungen kommen, die entweder objektiv wahr oder falsch sind (und daher im Gegensatz zu den von anderen gefaßten objektiv falschen oder wahren Ansichten stehen).233 Ebenso ist denkbar, daß der Mensch seine Vernunft nicht hinreichend nutzt und dadurch zu nicht ausreichend durchdachten Meinungen, eben den Vorurteilen, kommt. Damit stehen diese den objektiv falschen Urteilen nahe, sie sind Meinungen, die durch die „falsche“, nämlich nicht hinreichende Anstrengung des Verstandes entstanden sind.234 Für eine Einordnung von Vorurteilen und Meinungen in die gleiche Kategorie spricht auch eine Stelle im 49. Artikel, in dem Madison darauf hinweist, „daß alle Regierungssysteme auf Meinung basieren“ und „daß die Stärke der Meinung jedes einzelnen und ihr praktischer Einfluß auf sein Verhalten sehr von der Zahl derjenigen abhängt, von denen er annimmt, sie teilten die gleiche Meinung. Die Vernunft der Menschen ist, auf sich allein gestellt, . . . furchtsam und vorsichtig, sie gewinnt an Festigkeit und Selbstvertrauen proportional zur Zahl derer, mit denen sie geteilt wird.“ (Nr. 49, S. 306)

Aus diesem Grunde „wird es auch das rationalste Regierungssystem nicht überflüssig finden, die Vorurteile der Gemeinschaft auf seiner Seite zu wissen“ (Nr. 49, S. 307). Hier setzt Madison Meinungen und Vorurteile fast gleich und weist darauf hin, daß beide Impulse auf der Vernunft basieren. Die Dreiteilung in Interessen, Leidenschaften und Vorurteile findet sich auch im 31. Essay: „In Diskursen jeder Art gibt es bestimmte Grundwahrheiten oder ursprüngliche Prinzipien, von denen alle folgenden Überlegungen abhängen. Sie enthalten eine inhärente Überzeugungskraft, die aller Überlegung oder Logik vorausgeht und die Zustimmung des Verstandes gebietet. Wo sie diese Wirkung nicht haben, muß das entweder aus einer Störung der Wahrnehmungsorgane herrühren oder aus einer Beeinflussung durch ein starkes Interesse, eine Leidenschaft oder ein Vorurteil . . .“ (Nr. 31, S. 174 f.)

Auch hier führt Hamilton die Vorurteile nicht als vierte Kategorie, sondern anstelle der Meinungen auf, und es zeigt sich erneut, daß Vorurteile voreilige Meinungen sind, die nicht hinreichend durchdacht sind und sich daher der „inhärenten Überzeugungskraft“ der Grundwahrheiten entziehen können. 233 234

s. White, M. G., Federalist (1987), S. 58. s. hierzu White, M. G., Federalist (1987), S. 127.

II. Im Federalist: Nützlichkeit des Staates

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Damit bleibt festzuhalten, daß die Autoren des Federalist die Impulse menschlichen Handelns in drei Kategorien einteilen. Da die beiden Impulse der ersten Kategorie, die Meinungen und Vorurteile, Ausfluß der (fehlbaren) menschlichen Vernunft sind, knüpfen die Verfasser der Essays an das Trio von Vernunft, Leidenschaften und Interessen an, das im 18. Jahrhundert von den britischen Moralisten als bestimmender Faktor des menschlichen Handelns angesehen wurde.235 b) Die Entstehung der Impulse Die Entstehung der Impulse wird von Publius nur kurz angesprochen, da er keine systematische Abhandlung der menschlichen Psyche und der Motivation des menschlichen Handelns liefern will. Auch ist ihm bewußt, daß dieses Gebiet noch weit von seiner vollständigen Erforschung entfernt ist, wie Madison in Nr. 37 betont: „Die Fähigkeiten des Verstandes sind bisher auch durch die scharfsinnigsten und theoretischsten Denker überhaupt noch nicht hinreichend analysiert und definiert worden. Wahrnehmung, Bewußtsein, Urteil, Wunsch, Wille, Gedächtnis und Phantasie sind bekanntlich durch so schwache Schattierungen und winzige Abstufungen voneinander geschieden, daß sich ihre Grenzen noch den subtilsten Analysen entzogen haben und weiterhin eine bedeutungsschwere Quelle spitzfindiger Diskurse und Kontroversen sind.“ (Nr. 37, S. 211)

Den eher beiläufigen Äußerungen der Autoren läßt sich aber folgendes entnehmen: Meinungen und Vorurteile basieren nach ihrer Ansicht auf der Vernunft des Menschen; unterschiedliche Meinungen entstehen, weil „die menschliche Vernunft fehlbar ist und der Mensch frei ist, sie zu benutzen“ (Nr. 10, S. 52). Daher können die Menschen – wie oben bereits erwähnt – durch die Anwendung der Vernunft, d. h. die Anstrengung ihres Verstandes, zu Meinungen kommen, die entweder objektiv wahr oder falsch sein können. Andererseits können sie auch gegensätzliche Meinungen bilden, die weder wahr noch falsch sein müssen, sondern rein subjektiv sind und sich einer objektiven Überprüfbarkeit entziehen. Dies scheint Hamilton anzudeuten, wenn er in Nr. 70 schreibt: „Wann immer zwei oder mehr Personen mit einem gemeinsamen Unternehmen oder Projekt beschäftigt sind, besteht die Gefahr von Meinungsverschiedenheiten.“ (Nr. 70, S. 427)

Zudem können unterschiedliche Meinungen auch entstehen, weil einige Menschen ihre Ansichten nicht hinreichend durchdenken und vorschnell urteilen, d. h. Vorurteilen unterliegen. Der zweite Handlungsimpuls, die Leidenschaften, steht im Zusammenhang mit dem Egoismus des Menschen. So schreibt Madison in Nr. 10: 235

White, M. G., Federalist (1987), S. 103 f.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

„Solange zwischen seiner Vernunft und seinem Egoismus ein Zusammenhang besteht, werden sich seine Ansichten und seine Leidenschaften wechselseitig beeinflussen und aus seinen Meinungen Ziele erwachsen, an die sich dann die Leidenschaften heften.“ (Nr. 10, S. 52)

Aus dieser parallelen Auflistung wird deutlich, daß so, wie die Vernunft die Meinungen des Menschen hervorruft, der Egoismus die Leidenschaften des Menschen bedingt. Gleichzeitig zeigt das Zitat, daß auch zwischen den Impulsen Meinung und Leidenschaft eine Verbindung besteht, die unten genauer untersucht werden wird. Auf die Verbindung zwischen den Leidenschaften und dem Egoismus weist auch Hamilton hin: „Nichts tendiert bei den Menschen so sehr dazu, die Leidenschaften aufzuputschen, wie persönliche Rücksichten, ob sie nun uns selbst betreffen oder andere, die Gegenstand unserer Wahl oder Bevorzugung sind.“ (Nr. 76, S. 460)

Die unterschiedlichen Interessen der Menschen entstehen nach Publius letztlich aufgrund ihrer unterschiedlichen Fähigkeiten. So schreibt Madison: „Die Vielfalt der menschlichen Fähigkeiten, in denen die Eigentumsrechte ihren Ursprung haben, bildet ein ebenso unüberwindliches Hindernis für die Gleichheit der Interessen. Der Schutz dieser Fähigkeiten ist die vornehmste Aufgabe von Staaten. Aus dem Schutz der unterschiedlichen und ungleichen Fähigkeiten beim Erwerb von Eigentum ergeben sich unmittelbar unterschiedliche Arten und Mengen von Eigentum; und aus dem Einfluß, den diese auf die Gefühle und Ansichten der jeweiligen Eigentümer haben, ergibt sich die Einteilung der Gesellschaft in unterschiedliche Interessen und Parteien.“ (Nr. 10, S. 52)

Die Interessen basieren zwar in erster Linie auf den unterschiedlichen Arten und Mengen von Eigentum; der erste Satz macht aber deutlich, daß auch andere als ökonomische Fragen die Interessen des Menschen hervorrufen und lenken.236 So kann jemand es durchaus als vorteilhaft für sich ansehen, sein Eigentum zu schützen und zu vermehren, genauso kann er aber auch daran interessiert sein, sein Wissen und nicht sein Eigentum zu vermehren.237 2. Das Verhältnis der Impulse zueinander Die Autoren des Federalist gehen davon aus, daß die drei Triebfedern des menschlichen Handelns unterschiedlich stark sind; bestimmte Impulse setzen sich im Regelfall gegenüber den anderen durch und bestimmen so das menschliche Verhalten. Dies deutet sich etwa in Nr. 34 an, wenn Publius von den „schwächeren Triebfedern des menschlichen Charakters“ spricht und darauf hinweist, 236 Daß Madison nicht nur ökonomisch determinierte Interessen kennt, betonen z. B. Howe, D. W., Psychology (WMQ 44, 1987), S. 490 und White, M. G., Federalist (1987), S. 109. 237 White, M. G., Federalist (1987), S. 109.

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„daß die wütenden und destruktiven Leidenschaften des Krieges die menschliche Brust viel mächtiger beherrschen als die milden und wohltätigen Gefühle des Friedens.“ (Nr. 34, S. 191)

Die Rangliste der Impulse ergibt sich inzident aus den zahlreichen Berufungen der Autoren auf die menschliche Natur. a) Vernunft und Leidenschaften Ein immer wiederkehrendes Thema in den Essays ist das Verhältnis von Vernunft und Leidenschaften, das die Autoren an zahlreichen Stellen in verschiedenen Zusammenhängen ansprechen. Sie sehen diese beiden Impulse primär als Antagonisten: Die Leidenschaften sind in der Regel Gegenspieler der Vernunft und stärker als diese. Dies wird im schon eingangs genannten Zitat aus Nr. 15 deutlich, in dem Hamilton schreibt: „Warum werden denn überhaupt Regierungssysteme errichtet? Weil sich die Menschen mit ihren Leidenschaften den Geboten von Vernunft und Gerechtigkeit nicht ohne Zwang beugen. Hat man feststellen können, daß menschliche Institutionen rechtschaffener und weniger egoistisch handeln als Individuen? Genau das Gegenteil haben gute Beobachter des menschlichen Verhaltens immer wieder festgestellt . . .“ (Nr. 15, S. 86)

Der Einfluß der Leidenschaften führt dazu, daß sowohl einzelne Menschen als auch Gruppen und Körperschaften unrecht und egoistisch handeln, d. h. sich und ihre Vorteile in den Mittelpunkt stellen, ohne die Interessen der Mitmenschen und das Gemeinwohl zu berücksichtigen.238 Diese Tendenz potenziert sich in Kollektiven noch, weil sich der einzelne hier hinter der Gruppe verstecken kann: „. . . und diese Feststellung basiert auf leicht erkennbaren Gründen. Man muß um den guten Ruf weniger besorgt sein, wenn die Infamie der bösen Tat auf mehrere Menschen verteilt werden kann, und nicht ein einzelner dafür verantwortlich ist. Der Geist der Faktion . . . wird die Beteiligten häufig zu unerlaubten Handlungen und Auswüchsen veranlassen, über die sie als Privatpersonen vor Scham erröten würden.“ (Nr. 15, S. 86)239 238 s. auch Hamiltons Aussage in Nr. 71: „Aber es fordert kein bedingungsloses Nachgeben gegenüber jedem plötzlichen Windstoß der Irrationalität [passion, d. h. Leidenschaft] oder jedem flüchtigen Gefühl, das Männer entfachen, die dem Volk und seinen Vorurteilen schmeicheln, um seine Interessen verraten zu können. Es ist eine richtige Beobachtung, daß das Volk im allgemeinen das Gemeinwohl will . . . Doch sein gesunder Menschenverstand sollte den Schmeichler verachten, der ihm vorgaukelt, es habe immer Recht, was die Mittel angeht, das Gemeinwohl zu fördern.“ (Nr. 71, S. 434) Unter dem Gemeinwohl verstehen die Autoren des Federalist „das tatsächliche Wohl der großen Masse des Volkes“ (Nr. 45, S. 279); s. dazu auch unten 3. b).

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

Auch Madison weist darauf hin, daß die Leidenschaften die Menschen zu einem Verhalten bewegen, das der Allgemeinheit schadet: „. . . so gibt es doch bestimmte Augenblicke in der Politik, in denen das Volk, aufgeputscht durch eine momentane Leidenschaft . . ., nach Maßnahmen ruft, die es selbst später am stärksten bedauern und verdammen wird. In solchen kritischen Augenblicken wird sich die Intervention eines gemäßigten und angesehenen Gremiums von Mitbürgern als segensreich erweisen, um den Weg in die Irre zu versperren und den Schlag, den das Volk gegen sich selbst führen will, so lange aufzuschieben, bis Vernunft, Gerechtigkeit und Wahrheit wieder Herr über die öffentliche Meinung geworden sind.“ (Nr. 63, S. 382)

Der Einfluß der Vernunft, die sowohl Hamilton als auch Madison eng mit der Gerechtigkeit verbunden sehen, verhindert ein gemeinwohlschädliches, unrechtes Verhalten; allerdings kann er sich gegen die Leidenschaften nicht durchsetzen, sondern kommt erst dann zum Tragen, wenn diese abgekühlt sind. Das Verhältnis zwischen Vernunft und Leidenschaften hat aber noch eine zweite Ebene: wie oben angedeutet, stehen sich die Vernunft, deren Ausfluß die Meinungen sind, und die Leidenschaften nicht nur antagonistisch gegenüber, sondern können sich auch gegenseitig beeinflussen. Dies macht Madison im oben bereits angeführten Zitat aus Nr. 10 deutlich.240 So, wie die Meinungen der Menschen ihre Leidenschaften beeinflussen können, indem sie ihnen ein Objekt des Interesses bieten, können umgekehrt auch die Leidenschaften die Meinungen beeinflussen. Diesen Fall beschreibt Madison in Nr. 50:

239 Daß die Leidenschaften nicht nur das Verhalten von Individuen, sondern auch von Versammlungen aller Art steuern, betonen die Verfasser der Essays im Laufe der Aufsatzserie immer wieder. So stellt Madison in Nr. 49 bezüglich des Vorschlages, Verfassungsbrüche durch einen speziell einzuberufenden Konvent korrigieren zu lassen, fest: „Die Leidenschaften [passions] der Öffentlichkeit und nicht ihre Vernunft [reason] würden also zu Gericht sitzen.“ (Nr. 49, S. 309) In Nr. 50 schreibt er in bezug auf die Mitglieder des pennsylvanischen Rates der Zensoren, „daß unglücklicherweise Leidenschaften und nicht Vernunft ihre Entscheidungen bestimmt haben müssen“ (Nr. 50, S. 311). In Nr. 55, 58 und 62 bezieht er diese Erkenntnis auf gesetzgebende Körperschaften: „In allen zahlenmäßig besonders großen Legislativen . . . hat die Leidenschaft es noch immer vermocht, der Vernunft das Szepter zu entwenden“ (Nr. 55, S. 337); „Je größer eine gesetzgebende Körperschaft ist, ganz gleich aus welchen Persönlichkeiten sie sich zusammensetzt, desto stärker setzt sich die Leidenschaft gegenüber der Vernunft durch.“ (Nr. 58, S. 356); „. . . daß alle aus nur einer Kammer bestehenden und großen gesetzgebenden Versammlungen dazu neigen, Impulsen plötzlicher und heftiger Emotionen [passions] nachzugeben und sich von politischen Faktionsführern zu maßlosen und bösartigen Beschlüssen verführen zu lassen.“ (Nr. 62, S. 376) 240 „Solange zwischen seiner Vernunft und seinem Egoismus ein Zusammenhang besteht, werden sich seine Ansichten und seine Leidenschaften wechselseitig beeinflussen und aus seinen Meinungen Ziele erwachsen, an die sich dann die Leidenschaften heften.“ (Nr. 10, S. 52)

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„. . . daß unglücklicherweise Emotionen [passion, d. h. Leidenschaft] und nicht Vernunft ihre Entscheidungen bestimmt haben müssen. Wenn Männer ihre Vernunft sachlich und frei zu einer Vielzahl unterschiedlicher Fragen bemühen, dann kommen sie bei einigen von ihnen unweigerlich zu unterschiedlichen Ansichten. Wenn sie von einer gemeinsamen Emotion [a common passion] geleitet werden, dann werden ihre Ansichten, falls man sie noch als solche bezeichnen kann, übereinstimmen.“ (Nr. 50, S. 311)

Unterschiedliche Meinungen können entstehen, weil die Vernunft fehlbar und der Mensch frei ist, sie zu gebrauchen. Steht er dabei jedoch unter dem Einfluß einer Leidenschaft, so gebraucht er sie nicht mehr frei, sondern wird in eine bestimmte Richtung gelenkt, so daß das Ergebnis kaum noch den Namen „Meinung“ verdient. Der Einfluß der Leidenschaften pervertiert also den Gedankenprozeß und damit auch das Ergebnis dieses Prozesses. Dies erinnert an die Entstehung der Vorurteile, bei denen der Mensch seine eigene Vernunft nicht hinreichend gebraucht und sich gegebenenfalls den Ansichten anderer Menschen anschließt, ohne sie selbst zu überprüfen. Auch dort ist der Prozeß der Meinungsbildung gestört, und das Ergebnis ist nach Publius ebenfalls keine Meinung im strengen Sinne mehr, sondern nur eine Meinung „minderer Qualität“. Die Leidenschaften können die Meinungen sogar in einem solchen Maße beeinflussen, daß die letzteren im Gegensatz zur Vernunft stehen, wie Madison im oben angeführten Zitat aus Nr. 63 ausführt.241 Da Menschenmengen dem Einfluß der Leidenschaften noch stärker unterworfen sind als Individuen, kann auch die Meinung einer Gruppe und sogar des gesamten Volkes, d. h. die öffentliche Meinung, in dieser Weise pervertiert werden. Hierbei werden die Meinungen quasi von den Leidenschaften absorbiert und führen zu dem gleichen egoistischen Verhalten wie diese. Anders ist es bei der zweiten Gruppe der „unvernünftigen“ Meinungen, den Vorurteilen; diese können durchaus eine positive Wirkung haben. So betont Madison im bereits angeführten Zitat aus Nr. 49, daß Vorurteile der Menschen über ihr Regierungssystem diesem die nötige Anerkennung verleihen und seine Autorität stützen können.242 Damit tragen sie zur Stabilität des Regierungssystems 241 „. . . so gibt es doch bestimmte Augenblicke in der Politik, in denen das Volk, aufgeputscht durch eine momentane Leidenschaft . . ., nach Maßnahmen ruft, die es selbst später am stärksten bedauern und verdammen wird. In solchen kritischen Augenblicken wird sich die Intervention eines gemäßigten und angesehenen Gremiums von Mitbürgern als segensreich erweisen, um den Weg in die Irre zu versperren und den Schlag, den das Volk gegen sich selbst führen will, so lange aufzuschieben, bis Vernunft, Gerechtigkeit und Wahrheit wieder Herr über die öffentliche Meinung geworden sind.“ (Nr. 63, S. 382) 242 „Und in jeder anderen Nation wird es auch das rationalste Regierungssystem nicht überflüssig finden, die Vorurteile der Gemeinschaft auf seiner Seite zu wissen.“ (Nr. 49, S. 307)

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bei243 und nützen somit auch der Allgemeinheit, die von dieser Ordnung profitiert. Andererseits können Vorurteile aber auch gemeinschaftsschädliche Auswirkungen haben; in Nr. 71 warnt Hamilton vor Männern, „. . . die dem Volk und seinen Vorurteilen schmeicheln, um seine Interessen verraten zu können.“ (Nr. 71, S. 434). Meinungen und Vorurteile können also sowohl auf Seiten der Vernunft als auch im Gegensatz zu ihr stehen; es kann sich bei ihnen sowohl um einen gemeinnützigen als auch einen gemeinschaftsschädlichen Impuls handeln. Diese Unterscheidung treffen die Autoren des Federalist aber nicht nur bei den Meinungen, sondern auch bei den Leidenschaften; auch diese führen nicht ausnahmslos zu egoistischem, faktiösem Verhalten. Ein solches Verhalten wird vielmehr durch bestimmte Leidenschaften hervorgerufen, die die Verfasser der Essays als „momentane Leidenschaft“ (Nr. 63, S. 382), „Leidenschaften des Augenblicks“ (Nr. 6, S. 27) oder „starke Leidenschaften“ (Nr. 63, S. 380) bezeichnen; an anderer Stelle sprechen sie von „Impulsen plötzlicher und heftiger Emotionen [passions]“ (Nr. 62, S. 376). Daneben kennen sie aber auch Leidenschaften mit positiver Wirkung, die nicht zu vernunftwidrigem Handeln führen, sondern vielmehr die Menschen dazu bewegen, zum Wohl der Allgemeinheit zu handeln. Dies macht Hamilton in Nr. 72 deutlich: „. . . das Streben nach Ruhm – die beherrschende Leidenschaft der edelsten Geister, die einen Mann veranlaßt, umfangreiche und mühselige Projekte zum Nutzen der Allgemeinheit zu planen und zu unternehmen, welche beträchtliche Zeitspannen brauchen, um heranzureifen und vervollkommnet zu werden . . .“ (Nr. 72, S. 439)

Auch in Nr. 34 unterscheidet er zwischen negativen, destruktiven Leidenschaften und positiven, konstruktiven Emotionen: „Urteilt man aufgrund der Geschichte der Menschheit, dann sind wir zu dem Schluß gezwungen, daß die wütenden und destruktiven Leidenschaften des Krieges die menschliche Brust viel mächtiger beherrschen als die milden und wohltätigen Gefühle des Friedens.“ (Nr. 34, S. 191)

Allerdings bezeichnet er die philanthropischen Emotionen hier nicht mehr als Leidenschaften, sondern als Gefühle; dies zeigt, daß Publius vor allem die heftigen Gefühle für gefährlich hält, da sie die Vernunft besiegen. Dies betont auch in Madison in Nr. 49: „Die Gefahr, die öffentliche Ruhe zu stören, indem man die Emotionen [passions] der Öffentlichkeit zu sehr aufrührt, ist ein noch schwerwiegenderer Einwand . . .“ (Nr. 49, S. 307)

Er geht davon aus, daß die öffentliche Ruhe erst dann gestört wird, wenn man die Leidenschaften „zu sehr“ aufrührt, ist also der Ansicht, daß ein gewisses 243

s. Nr. 49, S. 306.

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Maß von Leidenschaft in allen menschlichen Angelegenheiten und auch der Politik erträglich ist. Dieser Impuls wird aber dann gefährlich, wenn er eine bestimmte Schwelle überschreitet. In diesem Fall obsiegen die Leidenschaften nicht nur gegenüber der Vernunft, sondern auch gegenüber den „gemäßigten“ Leidenschaften, den bloßen Gefühlen, wie im angeführten Zitat aus Nr. 34 deutlich wird. Wie Hamilton geht auch Madison davon aus, daß die gemäßigten Leidenschaften, d. h. Gefühle, positive Auswirkungen haben können: „Jeder erdenkliche Grund, der den Menschen beeinflussen kann, wie Ehre, Eid, ein guter Ruf, das Gewissen, die Liebe zum Vaterland, Familienbande und -bindungen, sind ein Faustpfand für ihre Treue.“ (Nr. 64, S. 394)

Andererseits können die Gefühle jedoch wiederum die Leidenschaften im engeren Sinne, d. h. die heftigen und plötzlichen Leidenschaften, anstacheln: „Deshalb wird ein einzelner um so viel weniger dazu neigen, sich durch Gefühle der Freundschaft und Zuneigung verleiten zu lassen. Nichts tendiert bei den Menschen so sehr dazu, die Leidenschaften aufzuputschen, wie persönliche Rücksichten, ob sie nun uns selbst betreffen oder andere, die Gegenstand unserer Wahl oder Bevorzugung sind.“ (Nr. 76, S. 460)

Die Leidenschaften im strengen Sinne können sich also nicht nur an die Meinungen, sondern auch an die Gefühle heften. Wie bei den Meinungen unterscheiden die Autoren des Federalist damit zwei Arten von Leidenschaften: einerseits Leidenschaften, die heftig und plötzlich sind und nur das eigene Wohl im Blick haben (die Leidenschaften im engeren Sinne), andererseits positive, philanthropische Leidenschaften, die schwächer sind und auch das Wohl anderer Menschen berücksichtigen bzw. ihnen nützen (die Gefühle).244 Diese Unterscheidung zwischen wohlwollenden und gemeinschaftsschädlichen Leidenschaften war in der Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts üblich.245 Die Autoren des Federalist differenzieren allerdings nicht explizit zwischen ihnen, sondern deuten dies nur in ihrer Beschreibung der verschiedenen Leidenschaften an.246 b) Vernunft und Interessen Auch bei der Untersuchung des dritten Impulses und seines Verhältnisses zur Vernunft wird deutlich, daß Publius zwischen eigennützigen und gemeinnützi244 Scanlan, J. P., Nature (RoP 21, 1959) unterscheidet zwischen „amicable and antagonistic passions“ (s. S. 663); White, M. G., Federalist (1987) bezeichnet sie als „harmonious or friendly passions“ einerseits und „hostile or antagonistic“ passions andererseits (s. S. 116 f.). 245 Howe, D. W., Psychology (WMQ 44, 1987), S. 503. 246 s. Scanlan, J. P., Nature (RoP 21, 1959), S. 663.

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gen Impulsen unterscheidet,247 und zwar ausdrücklicher als bezüglich der Leidenschaften.248 Wie die Leidenschaften können auch die Interessen Gegenspieler der Vernunft sein, wie Hamilton in Nr. 6 aufzeigt: „Mußte man nicht ganz im Gegenteil und ohne Ausnahme feststellen, daß Leidenschaften des Augenblicks und unmittelbare Interessen das menschliche Verhalten stärker und zwingender beherrschen als eine allgemeine und vage Rücksichtnahme auf politische Grundsätze, Nützlichkeit oder Gerechtigkeit?“ (Nr. 6, S. 27)

Zwar setzt er Leidenschaften und unmittelbare Interessen hier nicht explizit in Gegensatz zur Vernunft, aber zur Gerechtigkeit, die für die Autoren des Federalist eng mit der ersteren verbunden ist. Auch Madison weist auf den Antagonismus von Interessen und Vernunft hin: „. . . weil in zweifelhaften Fällen, insbesondere wenn die Gremien der Nation von einer starken Leidenschaft oder einem Interesse des Augenblicks erfaßt werden, die angenommene oder tatsächliche Meinung einer unvoreingenommenen Welt die beste Richtschnur sein kann, an die man sich halten sollte.“ (Nr. 63, S. 380)

Die hier zum Interesse des Augenblicks kontrastierte unvoreingenommene Meinung ist wie oben dargelegt Ausfluß der Vernunft. In Nr. 10 bringt Madison explizit zum Ausdruck, daß die Interessen die Meinungen der Menschen beeinflussen können: „Niemand darf Richter in eigener Sache sein, weil seine Interessen mit Sicherheit sein Urteil beeinflussen und wahrscheinlich sogar seine Integrität korrumpieren würden.“ (Nr. 10, S. 53)

Das Urteil eines Menschen stellt eine besonders sorgfältig überprüfte Meinung dar. An anderer Stelle betont Madison: „Wer diese Frage ohne Leidenschaft und Eigeninteresse betrachtet, dem muß das Verlangen der handeltreibenden Staaten, indirekte Steuern von ihren nicht-handeltreibenden Nachbarstaaten in welcher Form auch immer zu erheben, ebenso unklug wie unfair erscheinen . . . Doch die milde Stimme der Vernunft, die für die Sache eines weiteren [enlarged, d. h. erweiterten] und dauerhaften Interesses argumentiert, wird nur allzu oft in öffentlichen Gremien wie bei Individuen durch das Geschrei ungeduldiger Gier nach sofortigem und unmäßigem Gewinn erstickt.“ (Nr. 42, S. 255)

247 s. dazu Howe, D. W., Psychology (WMQ 44, 1987), S. 503. Smith, M., Reason (JoP 22, 1960), S. 527 f. und White, M. G., Federalist (1987), S. 113 ff. unterscheiden zwischen „true interests“ und „immediate interests“. 248 Scanlan, J. P., Nature (RoP 21, 1959), S. 663.

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Hier wird deutlich, daß „die milde Stimme der Vernunft“ dann Gehör findet, wenn die Menschen bzw. die öffentlichen Gremien frei sind von Leidenschaften und Eigeninteressen.249 Es sind jedoch nicht die Interessen an sich, die Publius der Vernunft gegenüberstellt, vielmehr qualifiziert er sie meist näher als „unmittelbare Interessen“ (Nr. 6), „Interessen des Augenblicks“ (Nr. 63) oder „Eigeninteresse“ (Nr. 42). Im Gegensatz zur Vernunft stehen also die – zeitlich oder personell – beschränkten Interessen, die in der Regel stärker sind als die Vernunft und sich ihr gegenüber durchsetzen. Diesen beschränkten Interessen stellt Madison ein „unbeschränktes“ Interesse, das erweiterte und dauerhafte Interesse („enlarged and permanent interest“), gegenüber, für das „die milde Stimme der Vernunft . . . argumentiert“ (Nr. 42, S. 255). Dieses Interesse ist deshalb vernunftgemäß, weil es dem Gemeinwohl entspricht, wie sich aus Madisons Ausführungen in Nr. 10 ergibt. Hier verwendet er eine ähnliche Formulierung wie „enlarged and permanent interest“; er spricht von den „permanent and aggregate interests of the community“ 250, wenn er sagt, daß der Impuls einer Faktion „im Widerspruch zu den Rechten anderer Bürger oder dem permanenten und gemeinsamen Interesse der Gemeinschaft steht“ (Nr. 10, S. 51). Kurz darauf prangert er an, daß die Ursachen für Faktionen „. . . die Menschen in Parteien gespalten [haben], die sich feindselig gegenüberstehen und eher dazu tendieren, die anderen zu schikanieren und zu unterdrücken, als für das Gemeinwohl zusammenzuarbeiten“ (Nr. 10, S. 52). Madison setzt hier die permanenten und gemeinsamen Interessen der Gemeinschaft und das Gemeinwohl gleich; beide werden durch Faktionen bzw. Parteien bedroht. Auch Hamilton sieht im oben bereits angeführten Zitat aus Nr. 71 die Interessen des Volkes als Synonym für das Gemeinwohl.251 Die Begriffe „permanent and enlarged“ bzw. „permanent and aggregate interest“ zeigen, daß es sich beim Gemeinwohl um mehr als die Summe aller Einzelinteressen handelt. Dies macht auch Madison in Nr. 10 deutlich: „Es ist müßig, dagegen einzuwenden, aufgeklärte Staatsmänner könnten diese unvereinbaren Interessen ausgleichen und dem öffentlichen Wohl unterordnen. Es werden nicht immer aufgeklärte Staatsmänner am Ruder sein. Noch wird man in vielen 249 Umgekehrt können auch die Meinungen die Interessen des Menschen beeinflussen, wie Madison im gleichen Essay andeutet: „Aus dem Schutz der unterschiedlichen und ungleichen Fähigkeiten beim Erwerb von Eigentum ergeben sich unmittelbar unterschiedliche Arten und Mengen von Eigentum; und aus dem Einfluß, den diese auf die Gefühle und Ansichten der jeweiligen Eigentümer haben, ergibt sich die Einteilung der Gesellschaft in unterschiedliche Interessen und Parteien.“ (Nr. 10, S. 52) Im letzten Halbsatz klingt an, daß neben den Gefühlen auch die Ansichten, d. h. Meinungen, bei der Entstehung von Interessen eine Rolle spielen. 250 s. Nr. 10, S. 46. 251 s. Nr. 71, S. 434 (s. o. Fn. 238).

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Fällen zu einem solchen Ausgleich kommen können, ohne mittelbare und fernerliegende Überlegungen mit einzubeziehen, die nur selten den Sieg über die unmittelbaren Interessen davontragen werden, die von einer Partei angeführt werden, um die Rechte der anderen oder das Wohl der Gesamtheit zu mißachten.“ (Nr. 10, S. 53 f.)

Im Gemeinwohl werden die Einzelinteressen miteinander vermittelt und ausgeglichen; damit liegt es auf einer höheren Ebene und ist von anderer Qualität als die bloße Summe der Individualinteressen. Sein Verhältnis zu einer solchen rein quantitativen Interessenbilanz erinnert an die Relation von Rousseaus volonté générale (Gemeinwillen) zu seiner volonté de tous (Gesamtwillen).252 Dem Gemeinwohl entsprechen die Interessen, die zwei Kriterien erfüllen: sie dürfen keine Eigeninteressen sein, d. h. nicht nur das eigene Wohl verfolgen, sondern müssen auch das Wohl der anderen Menschen miteinbeziehen, und sie dürfen keine Interessen des Augenblicks sein, d. h. nicht nur kurzfristige Ziele verfolgen, sondern müssen die langfristige Entwicklung im Auge haben.253 Diese Interessen setzen sich dann durch, wenn die „milde Stimme der Vernunft“ ungestört für sie argumentieren kann, wie es Madison in Nr. 42 ausdrückt (s. S. 255), wenn also vernünftige Erwägungen den Deliberationsprozeß leiten.254 Dies betont auch Hamilton in Nr. 71: „In Situationen, in denen die Interessen des Volkes im Gegensatz zu seinen Neigungen stehen, ist es die Pflicht der Personen, die es zu Wächtern über diese Interessen gewählt hat, der vorübergehenden Verblendung standzuhalten, um ihm Zeit und Gelegenheit zu kühler und gelassener Reflektion zu geben.“ (Nr. 71, S. 434)

c) Leidenschaften und Interessen Das Verhältnis zwischen den Impulsen Leidenschaften und Interessen ergibt sich aus den oben angestellten Überlegungen. Einerseits besteht zwischen ihnen 252 s. Rousseau, J. J., Gesellschaft (1762), 2. Buch, Kap. III, S. 29: „Oft besteht ein großer Unterschied zwischen dem Gesamtwillen und dem Gemeinwillen: dieser blickt nur auf das gemeinsame Interesse, jener blickt nur auf das private Interesse und stellt nur eine Summe von Sonderinteressen dar. Subtrahiert man von diesen nämlichen Willensentscheidungen das Mehr oder Weniger, das sich gegenseitig aufhebt . . ., so bleibt als Summe, nach Abzug der Abweichungen, der Gemeinwille übrig.“ Und 2. Buch, Kap. IV, S. 30 f.: „Das beweist, . . . daß der Gemeinwille, um wahrhaft gemeinsam zu sein, dies ebenso in seiner Anwendung wie in seinem Wesen sein muß, daß er von allen ausgehen muß, um auf alle angewendet zu werden, und daß er seine natürliche Richtigkeit verliert, sobald er nach einem individuellen und bestimmten Ziel strebt . . .“; „Es gilt also zu verstehen, daß weniger die Zahl der Stimmen den Willen gemeinsam macht als das Gemeinschaftsinteresse, das sie vereint.“ 253 Scanlan, J. P., Nature (RoP 21, 1959), S. 663 f.; White, M. G., Federalist (1987), S. 121. 254 s. Smith, M., Reason (JoP 22, 1960), S. 529: „One must conclude that true interests . . . are distinguished from false interests by the supremacy of rational over passionate determination. This is hardly a new idea . . ., but it is seldom found in the scant and largely unphilosophic literature on The Federalist.“

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eine Verbindung, da sie beide Gegenspieler der Vernunft sein können. Dies zeigt sich in den oben angeführten Zitaten, etwa aus Nr. 6255, Nr. 42256 oder Nr. 63257. Die Gleichstellung von Leidenschaften und Interessen als negative, der Vernunft entgegengesetzte Einflüsse findet sich auch in Nr. 73: „Je häufiger eine Maßnahme unter die Lupe genommen wird, je größer das Spektrum derjenigen ist, die sie analysieren, desto geringer muß die Gefahr von Irrtümern sein, die auf einem Mangel an Diskussion oder auf Fehlern beruhen, die durch den verderblichen Einfluß kollektiver Leidenschaften oder Interessen verbreitet werden.“ (Nr. 73, S. 446)

Und auch in Nr. 37 wird deutlich, daß sowohl Leidenschaften als auch Interessen die Erwägungen der Menschen negativ beeinflussen können: „Es ist ein Unglück, welches untrennbar mit allen menschlichen Angelegenheiten verbunden ist, daß öffentliche Maßnahmen selten im Geist eben der Mäßigung analysiert werden, der so entscheidend für eine gerechte Einschätzung ihrer tatsächlichen Auswirkungen auf das öffentliche Wohl ist . . . Wer diese Erfahrung beachtet, den kann es nicht überraschen, daß die Vorlage des Konventes mit ihren vielen wichtigen Änderungen und Neuerungen . . . so viele Emotionen [passions] auslöst und Interessen berührt, daß negative Gefühle – auf der einen wie auf der anderen Seite – eine faire Erörterung und richtige Beurteilung ihrer Vorzüge erschweren.“ (Nr. 37, S. 208)

Andererseits können sich Leidenschaften und Interessen jedoch auch antagonistisch gegenüberstehen:258 die gemeinschaftsschädlichen Leidenschaften können dem permanenten und erweiterten Interesse, dem Gemeinwohl, zuwiderlaufen, wie Madison und Hamilton in Nr. 42259 und Nr. 71260 ausführen. In diesen Fällen sind die Leidenschaften stärker als das permanente und erweiterte Interesse. Den Antagonismus von Leidenschaften und Interessen führt Publius allerdings seltener an als ihr Zusammenwirken; meist stellt er diese beiden Impulse als gemeinsame Feinde der Vernunft dar.261 Leidenschaften und Interessen können sich zudem gegenseitig beeinflussen, wie Hamilton in Nr. 31 andeutet: 255 „Mußte man nicht ganz im Gegenteil und ohne Ausnahme feststellen, daß Leidenschaften des Augenblicks und unmittelbare Interessen das menschliche Verhalten stärker und zwingender beherrschen als eine allgemeine und vage Rücksichtnahme auf politische Grundsätze, Nützlichkeit oder Gerechtigkeit?“ (Nr. 6, S. 27) 256 „Wer diese Frage ohne Leidenschaft und Eigeninteresse betrachtet . . .“ (Nr. 42, S. 255) 257 „. . . insbesondere wenn die Gremien der Nation von einer starken Leidenschaft oder einem Interesse des Augenblicks erfaßt werden . . .“ (Nr. 63, S. 380) 258 s. hierzu auch Scanlan, J. P., Nature (RoP 21, 1959), S. 662. 259 „Wer diese Frage ohne Leidenschaft und Eigeninteresse betrachtet . . . Doch die milde Stimme der Vernunft, die für die Sache eines weiteren und dauerhaften Interesses argumentiert, . . . wird nur allzu oft . . . erstickt.“ (Nr. 42, S. 255) 260 s. Nr. 71, S. 434 (s. o. Fn. 238). 261 s. auch Scanlan, J. P., Nature (RoP 21, 1959), S. 662.

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

„Die Gegenstände geometrischer Analyse sind so weit von den praktischen Vorhaben entfernt, die die ungebärdigen Leidenschaften des menschlichen Herzens aufwühlen, daß die Menschheit ohne Schwierigkeiten die einfacheren Leitsätze ebenso wie die schwer verständlichen Paradoxe der Wissenschaft akzeptiert . . .“ (Nr. 31, S. 175)

Mit den „praktischen Vorhaben“ 262 der Menschen spricht Hamilton wohl die Verfolgung ihrer Interessen an; auf die Durchsetzung oder Verteidigung ihrer Meinungen paßt dieser Ausdruck nicht. Damit weist er hier darauf hin, daß die Interessen die Leidenschaften der Menschen entfachen können. Daß umgekehrt auch die Leidenschaften oder Gefühle die Interessen beeinflussen können, klingt in Madisons Ausführungen in Nr. 10 an.263 d) Ergebnis: Das Menschenbild des Federalist Die Autoren des Federalist gehen davon aus, daß sich die negativen, eigennützigen Impulse der Menschen zumeist gegen die positiven, altruistischen Triebfedern durchsetzen und ein entsprechendes Verhalten hervorrufen; sie nehmen also an, daß der Mensch in der Regel egoistisch handelt und seinen eigenen Vorteil verfolgt, ohne das Wohl der Mitmenschen zu berücksichtigen. Entsprechend schreiben sie ihm an einigen Stellen lediglich negative Eigenschaften zu, etwa wenn sie ihn als „dem Gebot des Eigennutzes“ folgend beschreiben (Nr. 2, S. 8), als „machthungrig, rachsüchtig und raffgierig“ (Nr. 6, S. 24), als machtliebend (Nr. 15, S. 87) oder als stolz und eitel (Nr. 57, S. 347). In Nr. 38 sagt Madison, daß die Geschichte fast aller Versammlungen „die Schwächen und Verderbtheit des menschlichen Charakters in finsterer und entwürdigendster Form“ offenbart (Nr. 38, S. 214), und in Nr. 78 erwähnt Hamilton „die normale Verderbtheit der menschlichen Natur“ (Nr. 78, S. 477). Die Tatsache, daß der Mensch in der Regel den eigennützigen Impulsen folgt, bedeutet für die Autoren des Federalist aber nicht, daß er durch und durch schlecht ist, vielmehr sind ihm auch gemeinnützige Impulse eigen, die zwar meist schwächer sind als die ersteren, sich jedoch auch durchsetzen können.264 Entsprechend schreiben die Verfasser der Essays dem Menschen an anderer 262 Im Original heißt es: „those pursuits which stir up and put in motion the unruly passions of the human heart“ (Nr. 31, S. 161). 263 „Aus dem Schutz der unterschiedlichen und ungleichen Fähigkeiten beim Erwerb von Eigentum ergeben sich unmittelbar unterschiedliche Arten und Mengen von Eigentum; und aus dem Einfluß, den diese auf die Gefühle und Ansichten der jeweiligen Eigentümer haben, ergibt sich die Einteilung der Gesellschaft in unterschiedliche Interessen und Parteien.“ (Nr. 10, S. 52) Der letzte Halbsatz weist darauf hin, daß neben den Ansichten auch die Gefühle die Entstehung der Interessen beeinflussen können. 264 Scanlan, J. P., Nature (RoP 21, 1959), S. 668 f.; White, M. G., Federalist (1987), S. 127.

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Stelle auch positive Eigenschaften zu: in Nr. 22 macht Hamilton deutlich, daß es – wenn auch nur wenige – Menschen gibt, „die allein durch höchste Tugendhaftigkeit motiviert sind“ (Nr. 22, S. 129),265 und auch Madison stellt fest, daß es „in jeder Brust eine Empfindsamkeit für die Bezeugungen von Ehre, Gunst, Achtung und Vertrauen . . .“ gibt (Nr. 57, S. 347). Auch Jay betont, daß nicht nur selbstsüchtige Impulse das Verhalten des Menschen bestimmen: „Jeder erdenkliche Grund, der den Menschen beeinflussen kann, wie Ehre, Eid, ein guter Ruf, das Gewissen, die Liebe zum Vaterland, Familienbande und -bindungen . . .“ (Nr. 64, S. 394)

In Nr. 77 stellt Hamilton der menschlichen Natur im Zusammenhang mit dem Senat ein positives Zeugnis aus: „Ein Mensch, der dazu neigt, die menschliche Natur so zu sehen, wie sie ist, ohne ihren Tugenden zu schmeicheln oder ihre Untugenden zu übertreiben, wird genügend Anlaß für Vertrauen in die Redlichkeit des Senats finden, um beruhigt zu sein . . .“ (Nr. 77, S. 462)

Die Autoren des Federalist sehen den Menschen also differenziert: einerseits besitzt er negative Eigenschaften, die der Kontrolle bedürfen, andererseits aber hat er auch positive Eigenschaften, die eine Kontrolle des Menschen durch seinesgleichen und damit die Selbstregierung der Menschen ermöglichen. So schreibt Madison in Nr. 55: „Ebenso wie Schlechtigkeit unter den Menschen existiert, die ein gewisses Maß an Vorsicht und Mißtrauen erforderlich macht, so hat die menschliche Natur auch andere Eigenschaften, die ein gewisses Maß an Achtung und Vertrauen rechtfertigen. Das republikanische Regierungssystem geht von der Existenz dieser Eigenschaften in höherem Maß aus als jede andere Regierungsform . . .“ (Nr. 55, S. 340 f.)

Diesen Gedanken wiederholt Hamilton in Nr. 76: „Die Annahme einer universellen Käuflichkeit und Korruptheit der menschlichen Natur ist in der politischen Theorie nicht weniger falsch als die Annahme einer universellen Aufrichtigkeit. Die Institutionalisierung delegierter Macht impliziert, daß ein gewisses Maß an Tugendhaftigkeit und Ehre unter den Menschen existiert, das als Basis für solches Vertrauen dienen und es rechtfertigen kann. Und die Erfahrung bestätigt die Theorie . . .“ (Nr. 76, S. 462)

Angesichts dieser differenzierten Einschätzung der menschlichen Natur durch die Autoren des Federalist fällt eine schlagwortartige Bewertung ihres Menschenbildes schwer. So haben auch die meisten Autoren in der Sekundärliteratur auf eine Bezeichnung verzichtet oder ihre Einordnung relativiert. Jene, die Publius’ Menschenbild als pessimistisch bezeichnen, weisen gleichzeitig darauf hin, daß auch optimistische Züge oder Schlußfolgerungen vorhanden sind.266 265

s. hierzu Scanlan, J. P., Nature (RoP 21, 1959), S. 668. So Smith, M., Reason (JoP 22, 1960), S. 525, der Publius’ Ansicht als „tempered pessimism“, d. h. gemäßigten Pessimismus, beschreibt. 266

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

Die Autoren, die seine Sicht der Menschen optimistisch nennen, geben zu, daß die Essays auch einige „dunkle“ Passagen enthalten, in denen der Mensch pessimistisch gesehen wird.267 Andere Autoren haben die Einschätzung vermittelnd realistisch genannt268 und diese Einordnung teilweise weiter in Richtung Pessimismus oder Optimismus qualifiziert.269 Wieder andere haben ganz auf eine Bezeichnung verzichtet und lediglich darauf hingewiesen, daß Publius die Menschen weder für vollkommen schlecht noch gut hält.270 Angesichts dieser Schwierigkeiten erscheint es am angemessensten, von einer Kategorisierung Abstand zu nehmen271 und sich mit dem – zugegebenermaßen inhaltlich wenig aussagekräftigen – Attribut „differenziert“ zu begnügen. Denn letztlich bieten pauschale Bezeichnungen als optimistisch oder pessimistisch zwar einen ersten Anhaltspunkt, werden dem nuancierten Menschenbild des Federalist aber nicht gerecht. 3. Zweck des Staates Die Autoren des Federalist gehen davon aus, daß den Menschen unabhängig vom Staat bestimmte Rechte als natürliche Rechte zukommen: „Nichts ist so gewiß wie die absolute Notwendigkeit von Regierung; es ist ebenso unbestreitbar, daß wo immer und wie immer sie eingerichtet wird, das Volk einige seiner Naturrechte abtreten muß, um sie mit den notwendigen Kompetenzen auszustatten.“ (Nr. 2, S. 5 f.)272

Diese Rechte sind im Naturzustand jedoch ungesichert und aufgrund der Tatsache, daß die Menschen in der Regel ihren egoistischen Triebfedern folgen und eigennützig handeln, stets der Gefahr ausgesetzt, verletzt zu werden. Um diese Gefahr zu bannen und sich vor Übergriffen zu schützen, unterwerfen sich die Menschen staatlicher Herrschaft: „In einer Gesellschaft, deren Strukturen es zulassen, daß sich eine stärkere Faktion mit Leichtigkeit zusammentun und die schwächere Faktion unterdrücken kann, in einer solchen Gesellschaft kann man wahrlich sagen, es herrsche Anarchie wie im 267

Wills, G., Explaining (1981), S. 189. Beard, Ch. A., Enduring (1959), S. 15; von Bose, H., Mischverfassung (1989), S. 57; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 104; Wright, B. F., Introduction (1961), S. 27. 269 So von Bose, H., Mischverfassung (1989), S. 57 („im Grundton pessimistisch, zugleich deutlich realistisch“; „enthält aber neben realistisch-pessimistischen auch optimistische Züge“); von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 104 („eher realistisch als pessimistisch“). 270 s. Carey, G. W., Design (1989), S. 72 f., 105; Taylor, Q. P., Essential (1998), S. 37; White, M. G., Federalist (1987), S. 91 f., 100. Wright, B. F., Nature (Ethics 59, 1949), S. 4, 17 scheint eher von einer pessimistischen Sichtweise Publius’ auszugehen („they seem to have a poor view of men’s capacities and character“); differenzierter dagegen ders., Introduction (1961), S. 14, 79 f., 83. 271 So auch von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 106. 272 s. hierzu auch unten D. II. 2. a)–c). 268

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Naturzustand, wo der Schwächere nicht sicher sein kann vor der Gewalttätigkeit des Stärkeren. Und so wie im Naturzustand auch die Stärkeren durch die Ungewißheit ihres Zustandes veranlaßt werden, sich einer Regierung unterzuordnen, die die Schwächeren genau wie sie selbst schützt, so werden auch in dem oben genannten System die mächtigeren Faktionen oder Parteien aus ähnlichen Motiven sich ein Regierungssystem wünschen, das alle Parteien, die schwächeren und die mächtigeren, schützt.“ (Nr. 51, S. 317)

Der Zweck des Staates besteht damit nach dem Federalist in der Sicherung der natürlichen Rechte des Volkes.273 Um den erforderlichen Schutz gewährleisten zu können, muß die staatliche Herrschaft zur Ausübung von Zwang befugt sein, da „sich die Menschen mit ihren Leidenschaften den Geboten von Vernunft und Gerechtigkeit nicht ohne Zwang beugen“ (Nr. 15, S. 86), d. h. im allgemeinen nicht freiwillig auf die Belange der anderen Menschen Rücksicht nehmen: „Regierung beinhaltet die Kompetenz der Gesetzgebung. Wesentlich für das Konzept eines Gesetzes ist, daß es von Sanktionen begleitet wird, oder, anders ausgedrückt, von Strafen oder Bestrafung bei Nichtbefolgung. Wenn mit der Nichtbefolgung keine Strafe verbunden ist, laufen die Beschlüsse oder Anweisungen, die vorgeblich Gesetze sind, auf nichts anderes hinaus als Ratschläge oder Empfehlungen.“ (Nr. 15, S. 85)

Auch in Nr. 33 weist Hamilton darauf hin, daß „ein Regierungssystem . . . nur ein anderes Wort für politische Gewalt und Suprematie ist.“ (Nr. 33, S. 187). Allerdings stellt Madison im obigen Zitat aus Nr. 51 zugleich klar, daß nicht jeder Staat den Naturzustand (endgültig) überwindet, vielmehr erfüllen nur die Staaten ihren Zweck, die die Rechte aller Gruppierungen und damit aller Bürger, auch der schwachen, sichern. Dazu müssen die Menschen nicht nur voreinander geschützt werden, sondern auch vor dem Staat selbst, denn seine Macht wird von fehlbaren Menschen ausgeübt,274 deren egoistische Neigung sich in den staatlichen Institutionen noch potenziert.275 Die menschliche Natur erfordert nicht nur staatliche Herrschaft an sich, sondern auch ihre richtige Ausgestaltung, um einen Mißbrauch der staatlichen Macht zu verhindern: „Es wirft ein schlechtes Licht auf die menschliche Natur, daß solche Vorkehrungen nötig sind, um den Mißbrauch der Regierungsgewalt zu verhindern. . . . Wenn Engel die Menschen regierten, dann bedürfte es weder innerer noch äußerer Kontrollen der Regierenden. Entwirft man jedoch ein Regierungssystem von Menschen über Menschen, dann besteht die große Schwierigkeit darin: man muß zuerst die Regierung befähigen, die Regierten zu beherrschen und sie dann zwingen, die Schranken der eigenen Macht zu beachten.“ (Nr. 51, S. 314) 273 Zu diesen Rechten zählen nach Ansicht der Verfasser Leben, Freiheit und Eigentum; s. im einzelnen unten D. II. 2. 274 s. auch von Bose, H., Mischverfassung (1989), S. 58. 275 s. dazu oben 2. a).

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Die Autoren des Federalist wollen durch die richtige Ausgestaltung des Staates verhindern, daß sich im politischen Prozeß die eigennützigen, gemeinschaftsschädlichen Impulse ungehindert gegen die gemeinnützigen Impulse und die Vernunft durchsetzen können und so zu unrechtem, gemeinwohlschädlichem staatlichen Handeln führen.276 Ziel der neuen Verfassung ist es, die Herrschaft der Vernunft im politischen Prozeß sicherzustellen und die Leidenschaften durch diesen Prozeß einzudämmen, wie Madison in Nr. 49 zum Ausdruck bringt: „Die Emotionen [passions, d. h. Leidenschaften] der Öffentlichkeit und nicht ihre Vernunft würden also zu Gericht sitzen. Doch sollte allein die Vernunft der Öffentlichkeit die Verfassungsorgane kontrollieren und regulieren. Die Emotionen [passions, d. h. Leidenschaften] ihrerseits sollten vom Regierungssystem kontrolliert und reguliert werden.“ (Nr. 49, S. 309)

Die Leidenschaften können im politischen Leben nicht vollständig unterdrückt, müssen aber zumindest eingedämmt werden; wie oben gesehen, halten die Autoren des Federalist allenfalls die gemäßigten Leidenschaften, d. h. die Gefühle, für legitime Impulse des staatlichen Handelns.277 Die Verfassung der Vereinigten Staaten bestimmt den Zweck des Staates in der Präambel wie folgt: „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unsere Union zu vervollkommnen, Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die Landesverteidigung zu sorgen, die allgemeine Wohlfahrt zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, verfügen und erlassen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika.“

Diese sechs Ziele greifen auch die Autoren des Federalist auf,278 wobei sie die Vervollkommnung der Union nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zur Verwirklichung der anderen genannten Zwecke sehen.279

276

s. hierzu im einzelnen unten E. Daß in den politischen Institutionen vor allem die „rationaleren“ Impulse, nämlich die Meinungen und Interessen, zum Tragen kommen sollen, wird an zahlreichen Stellen des Federalist deutlich; so schreibt Hamilton etwa in Nr. 35 in bezug auf die Größe des Repräsentantenhauses: „Manche halten es für notwendig, daß aus jeder Kategorie von Bürgern einer in der Volksvertretung sitzen müsse, damit ihre Meinungen und Interessen besser verstanden und berücksichtigt werden . . . Doch wo ist sie denn, diese Gefahr, daß die Interessen und Meinungen der unterschiedlichen Gruppen der Bürger von Männern dieser drei Kategorien nicht verstanden oder beachtet werden?“ (Nr. 35, S. 198) Auch im folgenden spricht er nochmals von der „Kenntnis der Interessen und Meinungen des Volkes“ (Nr. 35, S. 199). In dieser Akzeptanz der Interessen, Meinungen und – in beschränktem Maße – Leidenschaften als Grundlage des politischen Systems zeigt sich der Wandel vom klassischen Republikanismus zur liberalen Demokratie: während ersterer den Staat in der (politischen) Tugend der Bürger begründet sieht, basiert der Staat nach dem letzteren Verständnis auf dem Selbstinteresse der Bürger, s. dazu v. a. Wood, G. S., Creation (1969). 277

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Sie betonen an verschiedenen Stellen, daß die neue Verfassung nur dann angenommen werden sollte, wenn sie den anderen genannten Zielen zuträglich ist. Madison bringt dies etwa Nr. 45 zum Ausdruck: „Wäre der Entwurf des Konvents dem öffentlichen Wohl schädlich, so riefe ich: ,Lehnt den Entwurf ab!‘ Stünde die Union selbst dem Glück der Gemeinschaft [the public happiness] entgegen, würde ich sagen: ,Löst die Union auf!‘“ (Nr. 45, S. 279)

Zudem legen die Verfasser in Nr. 3 bis 5 die Notwendigkeit der Union für eine Sicherung gegen Feindseligkeiten von außen und in Nr. 6 bis 13 ihre positive Auswirkung auf die Ruhe im Innern dar und zeigen damit, daß sie sie als Mittel auch zu diesen Zwecken sehen. Damit bleiben als primäre Zwecke des Staates von den in der Präambel genannten die Gerechtigkeit, zudem Ruhe im Innern und Landesverteidigung oder Schutz vor äußerer Bedrohung, die sich unter dem Aspekt der Sicherheit zusammenfassen lassen, und Gemeinwohl und Freiheit.280 a) Freiheits- und Rechtssicherung Die in der Verfassung genannten primären Ziele des Staates sind teilweise identisch oder ergänzen sich. Die Aspekte der Gerechtigkeit und Sicherheit stehen in Zusammenhang mit der Freiheit:281 die Freiheit bedarf der Sicherheit, um dem Menschen nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zuzukommen,282 und in der Idee der Gerechtigkeit bringen die Autoren des Federalist das Postulat der gleichen (rechtlichen) Freiheit aller Menschen zum Ausdruck.283 Gerechtigkeit ist dann verwirklicht, wenn die Freiheit aller Bürger ge278 „Gerechtigkeit ist der Zweck von Regierung. Sie ist das Ziel von Gesellschaft [civil society].“ (Nr. 51, S. 317); „Der Schutz vor einer Bedrohung von außen ist einer der ursprünglichen Zwecke von Gesellschaft [civil society]. Er ist ein erklärter und wesentlicher Zweck der amerikanischen Union.“ (Nr. 41, S. 242) „Noch können Politiker nicht darauf bauen, wir vergäßen, daß das Gemeinwohl, das tatsächliche Wohl der großen Masse des Volkes, das höchste zu verfolgende Ziel ist, und daß jede Regierungsform nur so viel Wert ist, wie sie zur Erlangung dieses Ziels beiträgt.“ (Nr. 45, S. 279) „Ein gutes Regierungssystem muß über zweierlei verfügen: erstens, Treue gegenüber dem Ziel allen Regierens, und das sind Glück und Wohlergehen des Volkes . . .“ (Nr. 62, S. 377) Die Vorkehrungen der Verfassung zur Wahrung des inneren Friedens als drittes Ziel heben die Autoren vor allem in Nr. 42 hervor (s. S. 254– 259), und die Maßnahmen zur Sicherung der Freiheit erwähnen sie immer wieder im Laufe der Essays. 279 s. auch von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 46. 280 Hinzu kommt nach dem Federalist noch der Schutz des Lebens und Eigentums. 281 Dies gilt auch für das Recht der Menschen auf Leben und Eigentum; s. dazu unten D. II. 2. b). 282 Zur Bedeutung der Sicherheit für Freiheit und Eigentum s. Reid, J. P., Concept (1988), S. 68–71. 283 Zur Verbindung zwischen Gerechtigkeit und Freiheit s. Kammen, M., Spheres (1986), S. 6, und unten D. II. 2. c) (1).

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sichert ist, und zwar auch der Minderheiten. Damit steht im Mittelpunkt der von der Präambel genannten Staatsziele Gerechtigkeit, Sicherheit und Freiheit die letztere;284 die anderen Konzepte sind auf sie bezogen und dienen ihrer tatsächlichen und umfassenden Verwirklichung.285 b) Gemeinwohlförderung Auch der Gedanke des Gemeinwohls ist nach dem Federalist teilweise mit der Freiheit verknüpft, wie sich etwa in Nr. 45 zeigt: „Wurde die Amerikanische Revolution denn nicht in Gang gesetzt, wurde die Amerikanische Konföderation nicht gegründet . . ., damit das amerikanische Volk in Frieden, Freiheit und Sicherheit leben kann? Oder etwa damit die Regierungen der Einzelstaaten . . . ein gewisses Maß an Macht ausüben . . . können? . . . Soll diese selbe Lehre in neuer, anderer Form wiederbelebt werden – soll das umfassende Glück und Wohlergehen des Volkes [the solid happiness of the people 286] den Absichten politischer Institutionen ganz anderer Art geopfert werden? Noch können Politiker nicht darauf bauen, wir vergäßen, daß das Gemeinwohl [the public good 287], das tatsächliche Wohl der großen Masse des Volkes, das höchste zu verfolgende Ziel ist, und daß jede Regierungsform nur so viel Wert ist, wie sie zur Erlangung dieses Ziels beiträgt.“ (Nr. 45, S. 279)

Madison setzt hier die Begriffe „Glück des Volkes“ und „Gemeinwohl“ gleich und bestimmt sie zunächst als Leben „in Frieden, Freiheit und Sicherheit“. Er sieht das Gemeinwohl damit dann verwirklicht, wenn die Rechte und die Freiheit des Volkes gesichert sind,288 verwendet den Begriff hier also synonym für jenen der Gerechtigkeit.289

284

s. auch von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 46. Die vom Staat zu sichernde Freiheit ist dabei in erster Linie die negative, liberale Freiheit der Menschen. Zwar wollen die Autoren des Federalist prinzipiell auch die positive, demokratische Freiheit der Menschen im Staat durchsetzen, aber sie bewerten die persönliche Freiheit der Menschen höher. Da sich am Beispiel der Einzelstaaten gezeigt hatte, daß die politische Freiheit der Menschen ihre persönliche Freiheit gefährden und verletzen kann, muß die Sicherung der positiven Freiheit hinter der der negativen Freiheit zurücktreten [s. dazu unten D. II. 2. a) und c) (2)]. 286 s. Nr. 45, S. 257. 287 s. Nr. 45, S. 257. 288 So auch Dietze, G., Classic (1962), S. 134, Fn. 147; S. 146. 289 Entsprechend hatte sich bereits oben gezeigt, daß die Autoren des Federalist eine Verbindung zwischen dem Gemeinwohl und Vernunft und Gerechtigkeit sehen, die ebenfalls mit dem Konzept der Freiheit verbunden sind; s. etwa Madisons Aussage in Nr. 63: „In solchen kritischen Augenblicken wird sich die Intervention eines gemäßigten und angesehenen Gremiums von Mitbürgern als segensreich erweisen, um den Weg in die Irre zu versperren und den Schlag, den das Volk gegen sich selbst führen will, so lange aufzuschieben, bis Vernunft, Gerechtigkeit und Wahrheit wieder Herr über die öffentliche Meinung geworden sind.“ (Nr. 63, S. 382) s. dazu oben 2. a) und b). 285

II. Im Federalist: Nützlichkeit des Staates

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Die Verfasser der Essays verwenden die Begriffe des Gemeinwohls und des Glücks des Volkes aber nicht ausschließlich in dieser Bedeutung, sondern sehen sie noch unter einem zweiten Aspekt. Dies deutet sich etwa in Madisons Definition des Faktionsbegriffs an, in der er ausführt, eine Faktion sei durch einen Impuls motiviert, der „im Widerspruch zu den Rechten anderer Bürger oder dem permanenten und gemeinsamen Interesse der Gemeinschaft steht“ (Nr. 10, S. 51). Durch die Verknüpfung beider Objekte mit einem „oder“ unterscheidet Madison zwischen Gerechtigkeit und Gemeinwohl, wie es auch Hamilton in Nr. 79 tut: „An attempt to fix the boundary between the regions of ability and inability would much oftener give scope to personal and party attachments and enmities than advance the interests of justice or the public good.“ (Nr. 79, S. 442)290

Noch deutlicher wird diese zweite Sichtweise in Nr. 43, wenn Madison schreibt: „In beiden Fällen stimmen das öffentliche Wohl und die Ansprüche des einzelnen voll und ganz überein.“ (Nr. 43, S. 259)

Hier zeigt sich im Gegenschluß, daß es offensichtlich auch Fälle gibt, in denen das Gemeinwohl und die Rechte des einzelnen nicht übereinstimmen und einander gerade entgegengesetzt sind. In dieser zweiten Bedeutung bezieht sich das Gemeinwohl nicht auf die Rechte und Freiheit der Menschen, sondern auf ihr Wohlergehen. Dies zeigt sich sowohl in Madisons obiger Definition als „das tatsächliche Wohl der großen Masse des Volkes“ als auch darin, daß Hamilton in Nr. 30 die Förderung des Wohlstandes als Staatszweck vorstellt: „Aber wie soll ein nur halb ausgestattetes, stets bedürftiges Regierungssystem den Zweck seiner Einrichtung erfüllen: für die Sicherheit sorgen, den Wohlstand vergrößern und das Ansehen des Gemeinwesens mehren?“ (Nr. 30, S. 172 f.)

Auch in Nr. 2 betont er: „Bis vor kurzem war es überkommene und unwidersprochene Meinung, daß der Wohlstand der Bevölkerung Amerikas auch weiterhin von seiner engen Union abhängt.“ (Nr. 2, S. 6),

und in Nr. 1 verweist er auf den „Nutzen der Union für unsere politische Prosperität“ (Nr. 1, S. 4). Die Verfasser der Essays bezeichnen mit dem Gemeinwohl in diesem Sinne die – auch materiell verstandene – Wohlfahrt der Bevölkerung. Da sie diesen Begriff mit jenem des Glücks (happiness) des Volkes gleichsetzen, beschreibt dieser letztere keine himmlische oder trugbildhafte

290 Adams übersetzen dieses „oder“ als „und“: „Der Versuch, die Grenzen zwischen Fähigkeit und Unfähigkeit zu bestimmen, würde weit häufiger persönlichen und parteilichen Bindungen und Feindschaften freien Lauf lassen, als die Interessen der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls fördern.“ (Nr. 79, S. 480)

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Glückseligkeit, sondern das irdische Glück bzw. Glücklichsein der Menschen, ihr Wohlergehen und ihre Zufriedenheit.291 Entsprechend gewährt auch die Verfassung dem Kongreß das Recht, Steuern zu erheben, um für die allgemeine Wohlfahrt der Vereinigten Staaten zu sorgen (Art. 1 Abschn. 8 Abs. 1); zudem hat er die Kompetenz zur Regulierung des zwischenstaatlichen und internationalen Handels (Art. 1 Abschn. 8 Abs. 3). Daneben hat die Bundeslegislative etwa die Befugnis, Postämter und Poststraßen einzurichten und „den Fortschritt von Wissenschaft und Technik dadurch zu fördern, daß Autoren und Erfindern für einen begrenzten Zeitraum das ausschließliche Recht an ihren Publikationen und Entdeckungen gesichert wird“ (Abs. 7 und 8, die Madison in Nr. 42 und 43 verteidigt, s. S. 259), also Maßnahmen der Daseinsvorsorge zu ergreifen. Diese Verfassungsbestimmungen und die obigen Aussagen des Federalist zeigen, daß der von seinen Autoren verteidigte Staat kein reiner Nachtwächterstaat ist, der lediglich der Sicherung der Freiheit und Rechte der Menschen dient und keinerlei darüber hinausgehende Funktionen wahrnimmt.292 Die dem Bund in der Verfassung zugeschriebenen Aufgaben gehen über die eines liberalen Rechtsstaates hinaus, der lediglich eine von staatlichem Einfluß freie gesellschaftliche Sphäre gewährleisten soll, in der Rechtsgleichheit herrscht. Andererseits wäre auch ein Wohlfahrtsstaat im Sinne eines „Versorgungsstaates“ nicht mit den Prinzipien des Federalist zu vereinbaren, denn aus den Aussagen seiner Autoren zur (negativen) Freiheit ergibt sich, daß es dem Staat nicht erlaubt ist, den Menschen inhaltliche Vorschriften zur Lebensführung zu machen.293 Der Staat kann nicht vorhersagen oder gar bestimmen, an welchen Kriterien der einzelne Mensch seine Zufriedenheit und sein Wohlergehen mißt; daher ist das Gemeinwohl für die Verfasser des Federalist kein inhaltlich vorgegebenes, materiell bestimmtes Ziel, sondern das Recht jedes Menschen, seinen eigenen, selbstgesetzten Zielen nachzustreben.294 Hier klingt die oben bereits angesprochene Verbindung zwischen Gemeinwohl und Freiheit bzw. Gerechtigkeit wieder an. Von den heute unter dem Begriff der Sozialstaatlichkeit erörterten Betätigungsfeldern des Staates äußern sich die Autoren des Federalist zur sozialen Sicherheit nicht näher, während sie mit der Verfassung von der Befugnis des Staates ausgehen, bestimmte Maßnahmen zur Daseinsvorsorge zu treffen. Eine andere relevante Aufgabe dagegen lehnen sie ab, nämlich die Förderung der 291 s. hierzu Adams, A. und W. P., Einleitung (1994), S. lxxxviii; Sternberger, D., Bürger (1967), S. 131–147; insbesondere S. 134 f. und 139 f. S. dort auch zum Vergleich mit Kants Vorstellung und Terminologie. 292 So auch Adams, A. und W. P., Einleitung (1994), S. lxi. 293 Zur Freiheitskonzeption des Federalist s. unten D. II. 2. a). 294 s. hierzu auch Dietze, G., Classic (1962), S. 255, Fn. 1.

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sozialen Gerechtigkeit im Wege der Umverteilung. Die Verfasser sprechen sich explizit gegen umverteilende Maßnahmen, insbesondere auch mit dem Ziel einer gleichmäßigeren Eigentumsverteilung, aus. So schreibt Madison in Nr. 10: „Die wilden Forderungen nach Papiergeld, nach Annullierung der Schulden, nach gleicher Eigentumsverteilung oder jedem anderen untauglichen und schlimmen Vorhaben . . .“ (Nr. 10, S. 58)295

Die Autoren des Federalist fordern unter dem Topos der Gerechtigkeit die Gleichheit der Menschen, aber nicht ihre materielle, sondern die rechtliche Gleichheit.296 Soziale und wirtschaftliche Unterschiede sind nach ihrer Auffassung durchaus mit der Freiheit der Menschen vereinbar und sogar erwünscht.297 c) Verhältnis der Zwecke zueinander Ebensowenig, wie die Autoren des Federalist begrifflich scharf zwischen der Sicherung der Freiheit und der Förderung des Gemeinwohls unterscheiden, äußern sie sich explizit dazu, welchem der beiden Staatszwecke der Vorrang gebührt. Aus Madisons Ausführungen zur Gerechtigkeit ergibt sich jedoch, daß das Wohl des Kollektivs nicht über das Wohl und die Rechte des einzelnen gestellt werden darf; vielmehr kommt den letzteren das Primat zu. Denn er betont in Nr. 51 die Notwendigkeit des Schutzes nicht nur der Menschen vor dem Staat, sondern auch der Minderheit vor der Mehrheit: „Es ist in einer Republik von großer Bedeutung, nicht nur die Gemeinschaft vor der Unterdrückung durch die Herrschenden zu schützen, sondern auch den einen Teil der Gemeinschaft vor der Ungerechtigkeit des anderen Teils zu bewahren . . . Wenn die Mehrheit ein gemeinsames Interesse hat, sind die Rechte der Minderheit nicht sicher.“ (Nr. 51, S. 316 f.)

Madison fordert hier den Schutz der Freiheit und Rechte jedes einzelnen Menschen im Staate und betont, daß auch ein gemeinsames Interesse der Mehrheit diesen Schutz nicht aushebeln darf. Damit kann aber auch das Gemeinwohl als „Wohl der großen Masse des Volkes“ (Nr. 45, S. 279) nicht zur Rechtfertigung einer Verletzung der Freiheit und Rechte im Staat herangezogen werden. Das primäre Ziel des Staates liegt nach dem Federalist in der Sicherung der Freiheit und der Rechte des einzelnen; die Wohlfahrt des Volkes darf nicht zu ihren Lasten gefördert werden und ist damit ein lediglich sekundäres Ziel des Staates.298 295 Dazu, daß im 18. Jahrhundert keine Umverteilung von Vermögen gefordert wurde, s. auch Reid, J. P., Concept (1988), S. 5. 296 Ausführlich hierzu unten D. II. 2. c) (1). 297 s. hierzu im einzelnen unten D. II. 2. c) (1). 298 Epstein betont zwar die Bedeutung, die der Federalist der Gemeinwohlförderung zuschreibt, s. Epstein, D. F., Theory (1984), S. 162 ff.; s. dazu auch Kesler, Ch. R., Introduction (1999), S. XVIII f., XXI. Zugleich weist er aber auf folgendes hin: „A

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C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

III. Vergleich und Ergebnis Sowohl Kant als auch die Autoren des Federalist gehen davon aus, daß dem Menschen unabhängig vom Staat, d. h. bereits im Naturzustand, bestimmte Rechte zukommen. Damit unterscheiden sie sich beispielsweise von der Konzeption Hobbes’, der die Auffassung vertritt, im vorstaatlichen Zustand könnten per definitionem keine Rechte bestehen, da erst der Staat das Recht schaffe299. Die Rechte der Menschen sind nach der Auffassung Kants und des Federalist im Naturzustand jedoch ungesichert und damit nicht umfassend verwirklicht; sie sind der steten Gefahr der Verletzung durch andere ausgesetzt und müssen im Konfliktfall von den Inhabern selbst verteidigt werden. Um derartige private Kontroversen zu verhindern, ist die Errichtung staatlicher Herrschaft nötig, die sowohl nach der Konzeption Kants als auch des Federalist zur zwangsweisen Durchsetzung der erlassenen Gesetze befugt sein muß. Neben diesen Sicherungsaspekt tritt bei Kant bezüglich der Eigentumsrechte der Menschen noch der Aspekt ihrer Legitimierung durch den Staat, da diese Rechte nicht angeboren sind und daher durch die allseitige Zustimmung aller Betroffenen verwilligt werden müssen. Dieser Gesichtspunkt findet sich im Federalist nicht. Während der Federalist die Gefahr von Rechtsverletzungen aus der Natur der Menschen ableitet und sie gegeben sieht, weil die Menschen in der Regel egoistisch handeln, beruft Kant sich in erster Linie nicht auf anthropologische Prämissen, sondern auf die Tatsache, daß die Menschen mit Willkürfreiheit ausgestattete Wesen sind. Die Menschen können unabhängig davon, ob sie bös- oder violation of rights would be an objection [to a plan which serves the interests of the ,great body of the people‘]; and unless the great body of the people interprets its real welfare as including protection for minorities, it will endanger ,civil society‘ by stimulating insurrection.“ (a. a. O., S. 163) 299 s. Hobbes, Th., Leviathan (1651), Kap. XIII, S. 101: „Wenn ein jeder gegen jeden Krieg führt, so kann auch nichts als unerlaubt gelten. Für die Begriffe Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit bleibt kein Raum. Wo es keine Herrschaft gibt, gibt es auch kein Gesetz. Wo es kein Gesetz gibt, kann es auch kein Unrecht geben. . . . Aus demselben Grunde auch gibt es keinen Besitz, kein Eigentum, überhaupt keine Vorstellung von mein und dein. Vielmehr kann sich jeder alles aneignen und kann es so lange für sich behaupten, wie er in der Lage ist, es zu sichern.“ In scheinbarem Widerspruch hierzu geht Hobbes allerdings davon aus, daß den Menschen im Naturzustand ein Recht auf alles zukommt. Aber dieses Recht ist kein Recht im strengen Sinne, da ihm keine Verpflichtung der Mitmenschen gegenübersteht; es entpuppt sich damit letztlich als Recht auf nichts. s. a. a. O., Kap. XIV, S. 102 f.: „Wie im letzten Kapitel gezeigt worden ist, befindet sich der Mensch in dem Zustand des Krieges aller gegen alle. Jeder wird nur von seiner eigenen Vernunft geleitet, und es gibt nichts – so man es nur in den Griff bekommt –, was einem nicht dabei helfen könnte, sein Leben vor seinen Feinden zu schützen. So hat denn in solcher Lage jeder ein Recht auf alles, selbst auf das Leben seiner Mitmenschen. Und folglich kann es keine Sicherheit für den Menschen geben . . ., sich der Zeit seines Lebens, die ihm die Natur im allgemeinen schenkt, zu erfreuen, solange dieses natürliche Recht eines jeden auf alles besteht.“

III. Vergleich und Ergebnis

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gutartig, ego- oder altruistisch sind, miteinander in Konflikt geraten, weil sie frei sind, sich ihre eigenen Zwecke zu setzen und diese zu verfolgen. Aus der Freiheit und dem ihrer umfassenden Verwirklichung dienenden prinzipiellen Recht auf Eigentum ergibt sich nach Kant eine vernunftrechtliche Verpflichtung zum Eintritt in den Staat: den Rechten der Menschen korrespondiert die Pflicht zu ihrer umfassenden Verwirklichung und Absicherung, die nur im Staat gewährleistet ist. Nach dem Federalist dagegen ist der Staat zur Absicherung der natürlichen Rechte zwar nützlich, aber nicht geboten; es stünde den Menschen rechtlich gesehen frei, im Naturzustand zu leben – auch wenn dies unter Nutzengesichtspunkten äußerst unklug wäre. Allerdings greift Kant in einer zweiten, schwächeren Argumentation auf die Natur des Menschen als Grund für die Notwendigkeit staatlicher Herrschaft zurück; dieser Begründungsansatz entspricht dem des Federalist. Wie dessen Autoren geht auch Kant davon aus, daß der Mensch (als Sinnenwesen im Gegensatz zum Vernunftwesen) selbstsüchtig ist300 und daher in der (egoistischen) Verfolgung seiner eigenen Ziele die Rechte anderer Menschen zu verletzen droht. Sein Lösungsvorschlag für dieses Problem ähnelt dem des Federalist, der die menschlichen Impulse durch den richtigen Aufbau des Staates in die gewünschten Bahnen zu lenken sucht. Auch Kant geht davon aus, daß die Natur des Menschen, d. h. seine selbstsüchtigen Impulse, genutzt werden können, um einen Staat zu schaffen, der jedermanns Rechte und Freiheit sichert. Allerdings ist er der Auffassung, daß die Natur (oder Vorsehung) selbst hierfür Sorge trägt, diese Entwicklung also auch unabhängig vom Zutun der Menschen eintreten wird, während die Autoren des Federalist davon ausgehen, daß es der sorgfältigen Überlegung und der Schaffung einer entsprechend konstruierten Staatsverfassung bedarf, um die Impulse der Menschen im gewünschten Sinne zu nutzen. Die pragmatisch-anthropologischen Erwägungen finden sich aber vor allem in Kants geschichtsphilosophischen Schriften; im Rahmen seiner Rechtslehre nehmen sie nur einen sehr geringen Raum ein. Hier liegt Kants Hauptargumentation auf einer anderen, der vernunftrechtlichen Ebene, die sich bei Publius nicht findet. Als sekundären, der primären Aufgabe der Rechtssicherung nachrangigen Staatszweck sehen sowohl Kant als auch der Federalist die Förderung der Glückseligkeit der Menschen301, d. h. des Gemeinwohls, wobei Kant den Vorrang der Freiheitssicherung gegenüber der Wohlfahrtsförderung weitaus deut300 So weist er in der Idee auf „seine selbstsüchtige tierische Neigung“ hin (Idee S. 39 f.), und auch im Frieden spricht er von „selbstsüchtige[n] Neigungen“ (Frieden S. 25). 301 Kant und Publius verwenden den Begriff der Glückseligkeit im gleichen Sinne und verstehen darunter die Zufriedenheit und das Wohlergehen des Volkes; s. Sternberger, D., Bürger (1967), S. 140, der auch auf folgendes hinweist: „Die Möglichkeit ist nicht ganz von der Hand zu weisen, daß Kant die Ausdrücke der Unabhängigkeits-

190

C. Begründung der Notwendigkeit staatlicher Herrschaft

licher und in größerer begrifflicher Klarheit herausstellt als der Federalist. Maßnahmen der sozialen Sicherung zählen nach Kants Prinzipien allerdings nicht zu den sekundären, sondern den primären Staatsaufgaben, da die Gewährleistung der Existenz der Menschen unabdingbare Voraussetzung für den Schutz ihrer Freiheit und Rechte ist. Im Rahmen der Gemeinwohlförderung lehnen beide Autoren jedoch die Förderung der sozialen Gerechtigkeit durch umverteilende Maßnahmen explizit ab; sie sehen den Staat nicht zum aktiven Ausgleich berufen, sondern allein zur Schaffung gleicher Rahmenbedingungen, d. h. zur Gewährleistung von Rechtsgleichheit. Die Tatsache, daß ein solches Staatsverständnis den heutigen Problemen nicht mehr gerecht wird, kann weder Kant noch den Autoren des Federalist zum Vorwurf gemacht werden, da sich in der damaligen Zeit die Soziale Frage noch nicht entwickelt hatte und das Wirken der freien Kräfte in der Wirtschaftsordnung gerade als Garant für die Verwirklichung der Freiheit und Gleichheit der Menschen angesehen wurde. Abschließend bleibt damit als Gemeinsamkeit festzuhalten, daß sowohl Kant als auch die Autoren des Federalist den Grund für die Notwendigkeit des Staates primär in der Freiheit und den Rechten des einzelnen sehen, die vom Staat (legitimiert und) gesichert werden sollen; im Zentrum ihrer Erörterungen steht jeweils das Individuum mit seinen Rechten. Ein fundamentaler Unterschied besteht aber darin, daß der Staat nach Kant geboten ist, d. h. das Verlassen des Naturzustandes und das Leben im Staat Pflicht ist, während dies nach dem Federalist ins Belieben der Menschen gestellt ist.

erklärung sogar im Sinn gehabt haben könnte; ich bin dieser Frage noch nicht nachgegangen.“

D. Funktion des Gesellschaftsvertrages Die unter C. herausgearbeitete unterschiedliche Bewertung der Gebotenheit oder bloßen Nützlichkeit des Staates bei Kant und Publius führt zu Unterschieden in der Konzeption des Gesellschaftsvertrages, dem beide Autoren unterschiedliche Funktionen zuweisen.

I. Bei Kant: Normatives Kriterium Nach Kant ergibt sich bereits aus dem angeborenen Recht der Menschen, ihrer Freiheit, und dem ihrer umfassenden Verwirklichung dienenden prinzipiellen Recht auf Eigentum die im Postulat des öffentlichen Rechts aufgestellte Verpflichtung jedes Menschen, den Naturzustand zu verlassen und mit seinen Mitmenschen in einen rechtlichen, d. h. zunächst staatlichen, Zustand einzutreten. Da der Staat bzw. das Leben der Menschen im Staat vernunftgeboten ist, benötigt dieser keine weitere, rechtsexterne Legitimation; Kants Philosophie bedarf daher zur Herrschaftslegitimation keines Rückgriffs auf den Gesellschaftsvertrag. Der staatliche Autoritäts- und Gehorsamsanspruch speist sich nicht aus der Zustimmung und Selbstverpflichtung der dieser Autorität Unterworfenen, sondern aus der Tatsache, daß die praktische Vernunft das Leben im Staat zur unabwendbaren Rechtspflicht macht.1 Damit ist der Gesellschaftsvertrag in Kants Theorie von der ihm sonst im Kontraktualismus übertragenen Legitimations- und Begründungsfunktion entlastet und damit für eine andere Aufgabe frei.2 Diese ergibt sich aus der Tatsache, daß das Postulat des öffentlichen Rechts nicht den Eintritt in den Staat als solchen fordert, sondern den Übergang in einen rechtlichen Zustand. Jeder empirische Staat ist insofern ein Fortschritt gegenüber dem Naturzustand als rechtlosem Zustand, ein erster Schritt der Verrechtlichung, aber nicht jeder Staat erfüllt dieses Kriterium bereits vollkommen. Kant betont vielmehr, daß ein „absolut-rechtlicher Zustand“ nur in der „wahre[n] Republik“ (§ 52, S. 464) besteht. Das Postulat des öffentlichen Rechts, das einerseits den staatlichen Autoritätsanspruch unabhängig von der Zustimmung der Menschen legitimiert, enthält damit andererseits die Verpflichtung für den Staat, sich im Hinblick auf die respublica noumenon weiterzuentwickeln, 1 Hespe, F., Gesellschaftsvertrag (1998), S. 296; Kersting, W., Concept (1992), S. 145, 147 f. 2 Kersting, W., Kontraktualismus (AZP 8, 1983), S. 3.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

d. h. sich zu republikanisieren. Die Tatsache, daß der Mensch nach Kant verpflichtet ist, im Staat zu leben, bedeutet nicht, daß deshalb jeder bestehende Staat und jegliche Art staatlicher Herrschaft in gleicher Weise legitim und rechtmäßig sind. Der Staat ist zwar gegenüber dem – virtuellen, gedachten – Naturzustand eine höhere Stufe der Rechtsverwirklichung, aber noch nicht die letzte. Kant redet nicht den bestehenden Verhältnissen das Wort, sondern sucht nach einer vernünftigen und rechtmäßigen Ordnung der zwischenmenschlichen Verhältnisse,3 und zwar in umfassender Hinsicht. Als Kriterium dieser Ordnung dient Kants Konzept des Gesellschaftsvertrages, denn nach Vernunftprinzipien ist nur der freie, der die Freiheit des einzelnen bewahrende Zusammenschluß der Menschen rechtmäßig, und dieser liegt allein im Vertrag vor. Nur nach Vertragsprinzipien kann die Staatsgründung als rechtmäßig gedacht werden, wie Kant in der Metaphysik darlegt: „Der Akt, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat konstituiert, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann, ist der ursprüngliche Kontrakt, nach welchem alle . . . im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i. des Volks als Staat betrachtet . . . sofort wieder aufzunehmen, und man kann nicht sagen: der Staat, der Mensch im Staate, habe einen Teil seiner angebornen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d. i. in einem rechtlichen Zustande unvermindert wieder zu finden; weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt.“ (§ 47, S. 434)

Kennzeichen des Gesellschaftsvertrages ist der Gedanke, daß sich das Volk selbst zum Staat zusammenschließt, daß also jeder einzelne seine Zustimmung zum Eintritt in den Staat erteilt und ihm nicht die Herrschaft anderer aufoktroyiert wird. Nur unter dieser Bedingung kann die Rechtmäßigkeit des Zusammenschlusses zum Staat gedacht werden, da nur bei Zustimmung jedes einzelnen Betroffenen zur Unterwerfung unter die öffentlichen Gesetze die – ohnehin bestehende – Verpflichtung, diese Gesetze zu beachten, auch dem eigenen Willen entspringt und damit „mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen“ kann (§ C, S. 337). Der Gesellschaftsvertrag ist nach Kants Konzept nicht Grund der Verpflichtung, im Staat zu leben und staatlichen Gesetzen zu gehorchen, aber er gibt die Form vor, „mittels derer jene Verpflichtung mit dem angeborenen Recht zusammenbestehen kann“ (Herb/Ludwig)4. Da Kants ursprünglicher Vertrag der Wahrung der Freiheit des einzelnen dient, ist er ein Gesellschaftsvertrag, dem die Aufspaltung in Gesellschafts- und

3 4

s. hierzu Höffe, O., Begründung (1979), S. 195 und 210 f. Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 444; s. auch S. 446.

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

193

Herrschafts- oder Unterwerfungsvertrag fremd ist.5 Nach der von Kant abgelehnten dualistischen Sichtweise wird angenommen, daß sich die einzelnen Menschen zunächst im Gesellschaftsvertrag zu einer politischen Gemeinschaft zusammenschließen, um dann als solchermaßen verfaßte Gemeinschaft im Unterwerfungsvertrag die Herrschaft auf den Souverän zu übertragen.6 Rousseau formuliert die Unterscheidung wie folgt: „Bevor man also den Akt untersucht, durch den ein Volk einen König ernennt, wäre es an dem, den Akt zu untersuchen, durch den ein Volk ein Volk ist. Denn dieser Akt geht notwendigerweise dem anderen vorher und ist die wahre Grundlage der Gesellschaft.“ 7

Daß Kant demgegenüber eine monistische Vertragskonzeption vertritt, zeigt sich in folgender Aussage: „Meuterei aber, in einer schon bestehenden Verfassung, ist ein Umsturz aller bürgerlich-rechtlichen Verhältnisse, mithin alles Rechts, d. i. nicht Veränderung der bürgerlichen Verfassung, sondern Auflösung derselben, und dann der Übergang in die bessere nicht Metamorphose sondern Palingenesie, welche einen neuen gesellschaftlichen Vertrag erfordert, auf den der vorige (nun aufgehobene) keinen Einfluß hat. – Es muß aber dem Souverän doch möglich sein, die bestehende Staatsverfassung zu ändern, wenn sie mit der Idee des ursprünglichen Vertrags nicht wohl vereinbar ist, und hiebei doch diejenige Form bestehen zu lassen, die dazu, daß das Volk einen Staat ausmache, wesentlich gehöret.“ (§ 52, S. 463)

Würde Kant von einem Gesellschafts- und einem Herrschaftsvertrag ausgehen, so würde eine Revolution zwar den letzteren zerstören, den ersteren aber unberührt lassen; Kant betont jedoch, daß nach einer Revolution ein neuer gesellschaftlicher (!) Vertrag erforderlich wäre. Allerdings schreibt er an anderer Stelle, die demokratische Staatsform sei „die allerzusammengesetzteste, nämlich den Willen aller zuerst zu vereinigen, um daraus ein Volk, dann den der Staatsbürger, um ein gemeines Wesen zu bilden, und dann diesem gemeinen Wesen den Souverän, der dieser vereinigte Wille selbst ist, vorzusetzen.“ (§ 51, S. 462)

Obwohl Kant hier mehrere Verträge voneinander zu unterscheiden scheint, läßt sich auch diese Differenzierung nicht mit der dualen Terminologie von Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag fassen, da Kant hier insgesamt drei Akte 5 s. hierzu Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 47–52. Saage, R., Naturzustand (1976), S. 225 geht davon aus, daß Kant „ganz auf dem Boden des kontraktualistischen Monismus steht“, aber den Herrschaftsvertrag im Gesellschaftsvertrag „aufgehen läßt“, letztlich also doch beide Komponenten in seine Konzeption integriert. Hiergegen Maus, I., ebd. 6 s. hierzu Saage, R., Naturzustand (1976), S. 231, Fn. 22. 7 Rousseau, J. J., Gesellschaft (1762), 1. Buch, Kap. V, S. 17. Rousseau verneint allerdings die Möglichkeit eines Unterwerfungsvertrages, seiner Ansicht nach schließt der Gesellschaftsvertrag diese Möglichkeit aus. s. dazu auch 3. Buch, Kap. XVI, S. 83 f.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

aufführt und dem „Gesellschaftsvertrag“ noch einen weiteren „Vertrag“ vorschaltet, nämlich die Vereinigung aller Menschen zum Volk.8 Zudem ist auch der hier angesprochene letzte Akt kein Unterwerfungsvertrag, da das Volk sich keiner anderen Person unterwirft, sondern als Souverän den allgemein vereinigten Willen einsetzt, der die je eigene Willkür mit umfaßt.9 Damit „bleibt im Vertragsschluß das Volk unter sich“, wie es Maus formuliert.10 Kant geht davon aus, daß der Mensch beim Eintritt in den Staat nicht nur auf einen Teil seiner Freiheit und seiner Rechte verzichtet, sondern sie vielmehr ganz aufgibt. Damit schließt er sich Rousseaus Vorstellung an, es finde eine „totale Übereignung jedes Teilhabers mit all seinen Rechten an die gesamte Gemeinschaft“ 11 statt, und wendet sich gegen Hobbes’12 und Lockes13 An8 Mit der Unterscheidung zwischen dem ersten und dem zweiten Akt verweist Kant darauf, daß nur die Staatsbürger den politischen Körper bilden, d. h. politische Mitspracherechte haben, während diejenigen, die sich nicht zum Staatsbürger qualifizieren, nicht zum politischen Körper, aber dennoch zum Volk gehören, s. dazu unten 3. c). 9 Kant erwähnt den pactum subjectionis nur an einer Stelle in der Metaphysik, wenn er vom „Vertrag der Unterwerfung . . . (pactum subiectionis civilis)“ (S. 437 f.) spricht. Allerdings geht er nicht in Unterscheidung zum Gesellschaftsvertrag auf ihn ein, sondern setzt den Unterwerfungsvertrag hier an dessen Stelle. Zudem erörtert er den Unterwerfungsvertrag bezeichnenderweise nicht im Textteil, der sich mit den vernunftrechtlichen Grundsätzen beschäftigt, sondern in den Anmerkungen, die sich auf die empirische Rechtspraxis beziehen (s. S. 309). s. hierzu Langer, C., Prinzipien (1986), S. 69; Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 46. Daher ist es nicht zutreffend, wenn Scheffel, D., Verwerfung (1982), Kants ursprünglichen Vertrag als Unterwerfungsvertrag bezeichnet (s. insb. S. 200–202). 10 Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 51. 11 Rousseau, J. J., Gesellschaft (1762), 1. Buch, Kap. VI, S. 18: „Recht verstanden gehen alle diese Klauseln auf eine zurück, nämlich die totale Übereignung jedes Teilhabers mit all seinen Rechten an die gesamte Gemeinschaft. Denn wenn jeder sich vollkommen hingibt, ist erstens die Lage für alle die gleiche, und wenn die Lage für alle die gleiche ist, hat keiner ein Interesse daran, sie den andern beschwerlich zu machen. Da überdies die Übereignung ohne Vorbehalt geschieht, ist die Vereinigung so vollkommen, wie sie sein kann. Kein Teilhaber hat mehr etwas zurückzufordern. Denn wenn den einzelnen einige Rechte verblieben, würde jeder in einigen Punkten sein eigener Richter sein und dies bald für alle Punkte beanspruchen . . .“ 12 s. Hobbes, Th., Leviathan (1651), Kap. XIV, S. 103: „Zur Erhaltung des Friedens und zu ihrer eigenen Verteidigung sollen alle Menschen – sofern es ihre Mitmenschen auch sind – bereit sein, ihrem Recht auf alles zu entsagen, und sich mit dem Maß an Freiheit begnügen, das sie bei ihren Mitmenschen dulden.“ Kap. XIV, S. 104 f.: „Es gibt deshalb Rechte, denen man durch Worte oder irgendwelche anderen Zeichen schlechthin nicht entsagen und die man auch niemandem übertragen kann. Niemals kann man auf das Recht verzichten, Widerstand zu leisten, wenn man gewaltsam bedroht wird. . . . Und das gleiche gilt für den Fall, daß einem Verwundungen zugefügt werden sollen, daß man in Ketten gelegt oder in den Kerker geworfen werden soll.“ s. auch Kap. XIV, S. 108 („jenes (unveräußerliche) Naturrecht, welches ihm gebietet, sein eigenes Leben und die ihm dazu erforderlichen Mittel zu verteidigen“); Kap. XIV, S. 111; Kap. XV, S. 122 f. Und Kap. XXI, S. 170: „Die Macht in einem institutionellen Staat wurde durch Vertrag eines jeden mit allen geschaffen . . .

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

195

nahme einer nur teilweisen Preisgabe von Rechten.14 Der einzelne verliert seine Freiheit dabei aber nicht, sondern findet sie im Staat als gesetzlich gebundene wieder. Es findet kein quantitativer Freiheitsverzicht statt, vielmehr ändert sich die Qualität der – quantitativ gleichen – Freiheit.15 Der Mensch verliert bei der freiwilligen Unterwerfung unter öffentliche Zwangsgesetze seine Freiheit deshalb nicht, weil diese ohnehin nur als eingeschränkte überhaupt denkbar ist, nämlich eingeschränkt auf ihre Zusammenstimmung mit der Freiheit aller anderen nach einem allgemeinen Gesetz.16 Diese Einschränkung wird durch den Eintritt in den Staat aus der moralischen Selbstverpflichtung der Menschen heraus in eine äußere Instanz verlegt und durch positive, juridische Gesetze näher bestimmt.

Die Freiheit des Untertans liegt folglich in allem, worauf er in keinerlei Abkommen ein Recht übertragen kann. Schon im 14. Kapitel habe ich gezeigt, daß alle Verträge nichtig sind, die nicht des Menschen Leben sichern. Daraus folgt: Befiehlt ein Herrscher einem Menschen (er mag völlig zu Recht verurteilt sein), sich zu töten, zu verwunden, zu verstümmeln, seinen Angreifern keinen Widerstand zu leisten oder der Nahrung, der Luft, Medikamente oder anderer lebensnotwendiger Dinge zu entsagen, so hat dieser Mensch die Freiheit, sich seinem Befehl zu widersetzen.“ Hobbes’ Annahme eines teilweisen Rechtsverzichts scheint auf den ersten Blick seinem Verständnis vom Naturzustand als rechtlosem Zustand zu widersprechen (s. dazu oben C. III.), da jemand nur dann auf Rechte verzichten kann, wenn ihm solche überhaupt zustehen. Dieser scheinbare Widerspruch liegt in Hobbes’ Konzept des naturzuständlichen „Rechts auf alles“ begründet und wird letztlich durch dieses aufgehoben. Denn einerseits kann auf dieses allumfassende Recht teilweise verzichtet werden; andererseits entpuppt es sich aber als Recht auf nichts, da ihm keine Verpflichtung des anderen gegenübersteht, und vermag damit keinen rechtlichen Zustand zu schaffen. s. dazu oben C. III., Fn. 299. 13 s. Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 130, S. 281: „Deshalb muß er aber auch seinerseits so weit auf seine natürliche Freiheit, allein für sich selbst zu sorgen, verzichten, wie es das Wohl, das Gedeihen und die Sicherheit der Gesellschaft erfordern.“ Und II, § 131, S. 281: „Mit ihrem Eintritt in die Gesellschaft verzichten nun die Menschen zwar auf die Gleichheit, Freiheit und exekutive Gewalt des Naturzustandes, um sie in die Hände der Gesellschaft zu legen, damit die Legislative so weit darüber verfügen kann, wie es das Wohl der Gesellschaft erfordert.“ 14 s. hierzu Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 449, die auch auf die Unterschiede zwischen Rousseaus und Kants Vorstellungen hinweisen, s. ebd. Dieselben gehen allerdings in Herb, K./Ludwig, B., Naturzustand (KS 84, 1993) noch davon aus, daß Kant sich mit der Annahme eines „vollständigen Bruchs zwischen natürlicher und staatlicher Ordnung“ primär auf Hobbes’ und nicht Rousseaus Konzeption bezieht (s. ebd. S. 315 f.). 15 Auch diese Vorstellung findet sich in ähnlicher Form bei Rousseau: „Was der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag verliert, ist nämlich seine natürliche Freiheit sowie ein unbeschränktes Recht auf alles, was ihn lockt und was er erlangen kann. Was er gewinnt, ist nämlich die gesellschaftliche Freiheit und das Eigentum über alles, was er besitzt.“ (Rousseau, J. J., Gesellschaft (1762), 1. Buch, Kap. VIII, S. 21 f.). 16 s. § C, S. 337, und S. 345; dazu auch Kersting, W., Freiheit (1993), S. 347 und 351.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

1. Virtualisierung der Vertragskonzeption Aus Kants obiger Definition des Gesellschaftsvertrages17 ergibt sich, daß dieser Vertrag für ihn kein historisches Faktum ist, sondern eine Idee, ein virtuelles Konzept. Kant stellt klar, daß der ursprüngliche Kontrakt nicht der (tatsächliche) Akt ist, durch den sich das Volk zum Staat zusammenschließt, sondern nur die Idee dieses Aktes. Der Sozialvertrag ist keine empirische Tatsache, sondern ein gedankliches Konstrukt; dabei ist es nach der Terminologie des § 47 nicht nötig, von der Idee des Gesellschaftsvertrages zu sprechen, vielmehr ist der Gesellschaftsvertrag selbst die (bloße) Idee des Vereinigungsaktes.18 Den tatsächlichen Ursprung der bestehenden Staaten hält Kant für unerforschlich, geht aber davon aus, daß sie wohl durch Gewalt und nicht durch Konsens entstanden sind: „Der Geschichtsurkunde dieses Mechanismus nachzuspüren, ist vergeblich, d. i. man kann zum Zeitpunkt des Anfangs der bürgerlichen Gesellschaft nicht herauslangen . . ., und es ist auch schon aus der Natur roher Menschen abzunehmen, daß sie es mit der Gewalt angefangen haben werden.“ (§ 52, S. 462 f.)

Daß Kants Gesellschaftsvertrag keine reale Tatsache, sondern eine Idee, ein virtuelles Konstrukt ist,19 ergibt sich bereits aus der Struktur und Zielsetzung der Metaphysik:20 Kant legt hier ein apriorisches, aus der Vernunft hervorgehendes System vor (s. S. 309), das sich im Staatsrecht mit dem „Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll“ (§ 45, S. 431) beschäftigt. Dieser Staat in der Idee ist ein imaginärer, virtueller Staat; er kann logischerweise nicht durch den tatsächlichen Zusammenschluß realer Menschen entstehen, sondern nur als Gedankenexperiment. Aus dem gleichen Grunde ist auch der Naturzustand im Privatrecht eine bloß virtuelle Konstruktion.21 Daher nennt Kant den Gesellschaftsvertrag auch den „ursprünglichen Vertrag“ (§ 15, S. 378) oder „contractus originarius“ (Gemeinspruch S. 153) in Analogie zu seiner Unterscheidung zwischen der communio originaria und communio primaeva im Privatrecht.22 Die Betonung der Ursprünglichkeit im Gegensatz zur Uranfänglichkeit verweist dort darauf, daß der Begriff „nicht empirisch und von Zeitbedingungen abhängig“ ist, „sondern ein praktischer Vernunftbegriff“ (§ 13, S. 373). Die Bezeichnung als ursprünglicher Vertrag weist gleichermaßen darauf hin, daß es sich um einen reinen Vernunftbegriff handelt, der von empirischen Bedingungen abstrahiert.23 17 „Der Akt, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat konstituiert, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann, ist der ursprüngliche Kontrakt . . .“ (§ 47, S. 434) 18 s. auch Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 456. 19 s. Höffe, O., Begründung (1979), S. 212. 20 s. hierzu Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 451 und 453 f. 21 s. dazu oben C. I. 1. c) (3) (c) (bb). 22 s. § 6, S. 359 und § 13, S. 373.

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

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Im Gemeinspruch dagegen wird die Virtualisierung des Vertrages zunächst nicht ohne weiteres deutlich; hier beschreibt Kant ihn wie folgt: „Unter allen Verträgen, wodurch eine Menge von Menschen sich zu einer Gesellschaft verbindet . . ., ist der Vertrag der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung unter ihnen . . . von so eigentümlicher Art, daß, ob er zwar in Ansehung der Ausführung vieles mit jedem anderen (der eben sowohl auf irgend einen beliebigen gemeinschaftlich zu befördernden Zweck gerichtet ist) gemein hat, er sich doch im Prinzip seiner Stiftung . . . von allen anderen wesentlich unterscheidet. Verbindung vieler zu irgend einem (gemeinsamen) Zwecke (den alle haben) ist in allen Gesellschaftsverträgen anzutreffen; aber Verbindung derselben, die an sich selbst Zweck ist (den ein jeder haben soll), mithin die in einem jeden äußeren Verhältnisse der Menschen überhaupt, welche nicht umhin können, in wechselseitigen Einfluß auf einander zu geraten, unbedingte und erste Pflicht ist: eine solche ist nur in einer Gesellschaft, so fern sie sich im bürgerlichen Zustande befindet, d. i. ein gemeines Wesen ausmacht, anzutreffen. Der Zweck nun, der in solchem äußern Verhältnis an sich selbst Pflicht . . . ist, ist das Recht der Menschen unter öffentlichen Zwangsgesetzen, durch welche jedem das Seine bestimmt und gegen jedes anderen Eingriff gesichert werden kann.“ (Gemeinspruch S. 143 f.)

Kant betont, daß sich der Gesellschaftsvertrag in einer Hinsicht von allen anderen Verträgen unterscheidet und insofern ein Vertrag sui generis ist: im „Prinzip seiner Stiftung“. Denn der Zusammenschluß der Menschen erfolgt nicht zu irgendeinem beliebigen Zweck wie bei allen anderen Verträgen, sondern ist an sich selbst Zweck; damit weist Kant darauf hin, daß der Eintritt in den und das Leben im Staat Pflicht jedes Menschen ist. Diese Darlegungen Kants, vor allem die Einreihung des Gesellschaftsvertrages unter alle anderen Verträge „in Ansehung der Ausführung“,24 hören sich zunächst so an, als sei der ursprüngliche Vertrag ein tatsächlich existierender Vertrag, der wirklich geschlossen wurde bzw. geschlossen werden muß. Allerdings betont Kant an späterer Stelle:

23

s. Kersting, W., Kontraktualismus (AZP 8, 1983), S. 15. Hiermit scheint Kant vor allem den Vertragsschluß anzusprechen. Generell erfolgt ein Vertragsschluß – nach Kants Erläuterungen im zweiten Abschnitt des Privatrechts, dem als persönlichen Recht bezeichneten Schuldrecht – durch die Vereinigung der Willkür zweier Personen: „Der Akt der vereinigten Willkür zweier Personen . . . ist der Vertrag“ (§ 18, S. 383), und: „In jedem Vertrage sind zwei vorbereitende, und zwei konstituierende rechtliche Akte der Willkür“ (§ 19, S. 383). Auch der Abschluß des Gesellschaftsvertrages würde – wäre er ein realer Vertrag – durch die Vereinigung der Willkür aller Betroffenen erfolgen. Allerdings wäre er ein allseitiger und kein zweiseitiger Vertrag wie im Schuldrecht, in dem es um den „Besitz der Willkür eines anderen, als Vermögen, sie, durch die meine . . . zu einer gewissen Tat zu bestimmen“, geht (§ 18, S. 382), d. h. um den Anspruch gegen eine andere Person. Denn der Eintritt in den Staat ist aufgrund der menschlichen Freiheit und des prinzipiellen Rechts der Menschen auf Eigentum geboten, d. h. (auch) aufgrund eines Sachenrechts, bei dem es um den Anspruch des Eigentümers gegen alle anderen Personen geht; s. Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 444. 24

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

„Allein dieser Vertrag (contractus originarius oder pactum sociale genannt), als Koalition jedes besondern und Privatwillens in einem Volk zu einem gemeinschaftlichen und öffentlichen Willen (zum Behuf einer bloß rechtlichen Gesetzgebung), ist keinesweges als ein Faktum vorauszusetzen nötig (ja als ein solches gar nicht möglich) . . . Sondern es ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat . . .“ (Gemeinspruch S. 153)

Kant weist damit auch im Gemeinspruch darauf hin, daß sein Sozialkontrakt kein historisches Faktum ist, sondern eine bloße Idee; seine Aussagen zur Staatsentstehung sind danach auch hier nicht in einem historisch-tatsächlichen Sinne zu verstehen. Im Gegensatz zu den Ausführungen in der Metaphysik muß Kant dies hier aber noch eigens betonen, da es sich aus dem Aufbau des Werkes nicht zwangsläufig ergibt.25 2. In der Aufklärung und im Gemeinspruch: Kriterium bezüglich der einfachen Gesetze Die empirischen, phaenomenalen Staaten bedürfen keiner rückwirkenden Legitimation durch die Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen, da sie bereits durch das dem Gesellschaftsvertrag vorgängige Postulat des öffentlichen Rechts legitimiert sind. Allerdings stellt die Errichtung irgendeines Staates nur die erste Stufe der Rechtsverwirklichung dar; das Postulat fordert eine umfassende Verrechtlichung der zwischenmenschlichen Verhältnisse. In dieser Hinsicht vermag Kants Konzept des Gesellschaftsvertrages die Staaten nun doch mit Blick in die Zukunft zu legitimieren; er stellt die Kriterien für die weitergehende Verrechtlichung der inner- und zwischenstaatlichen Verhältnisse bereit, so daß die Legitimität der Staaten steigt, je mehr sie diesen Kriterien gerecht werden.26 Die im Gemeinspruch erwähnte „praktische Realität“ des ursprünglichen Vertrages ergibt sich aus seiner Einbettung in die respublica noumenon: als Entstehungsmodus des Staates „in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll“ (§ 45, S. 431), kommt ihm eine präskriptive Aufgabe zu. Wie die noumenale Republik selbst dient auch ihr Gründungsakt als Richtschnur für die phaenomenalen Staaten.27 Diese müssen ihr Handeln am Vertragsgedanken ausrichten; die Herrschaft muß eine „den vertraglichen Zusammenschluß in der Organisation der Gesetzgebung wiederholende“ (Kersting) sein.28 Kant beschreibt diese Funktion der Vertragsidee im Gemeinspruch wie folgt:

25

s. Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 453 f. s. Kersting, W., Verfassung (1995), S. 105; Langer, C., Prinzipien (1986), S 57; Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 171. 27 Kersting, W., Freiheit (1993), S. 351 f. 28 Kersting, W., Verfassung (1995), S. 92. 26

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

199

„Sondern es ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volks haben entspringen können, und jeden Untertan, sofern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmt habe. Denn das ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes.“ (Gemeinspruch S. 153)

Kants Konzeption des Gesellschaftsvertrages verpflichtet den Gesetzgeber in jedem realen Staat („jeden Gesetzgeber“), seine Gesetze so zu erlassen, als ob sie dem allgemein vereinigten Willen des Volkes entspringen; die Gesetze müssen dergestalt sein, daß jeder Betroffene seine Zustimmung dazu geben könnte. Diese Übereinstimmung der Gesetze mit der volonté générale ist das Kriterium für die Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit: „. . . da er sich selbst fragt, ob das Gesetz auch mit dem Rechtsprinzip zusammen stimme oder nicht; denn da hat er jene Idee des ursprünglichen Vertrags zum unfehlbaren Richtmaße, und zwar a priori, bei der Hand.“ (Gemeinspruch S. 155)

Die tatsächliche Zustimmung der vom staatlichen Handeln Betroffenen ist allerdings (zunächst) nicht erforderlich; ebensowenig, wie der Staat tatsächlich auf einem historischen Gesellschaftsvertrag beruhen muß, um legitim zu sein, müssen die Gesetze nach Kants Aussagen in den früheren Schriften wirklich dem vereinigten Volkswillen entspringen.29 So schreibt er im Gemeinspruch: „Ist nämlich dieses [Gesetz] so beschaffen, daß ein ganzes Volk unmöglich dazu seine Einstimmung geben könnte . . ., so ist es nicht gerecht; ist es aber nur möglich, daß ein Volk dazu zusammen stimme, so ist es Pflicht, das Gesetz für gerecht zu halten: gesetzt auch, daß das Volk itzt in einer solchen Lage, oder Stimmung seiner Denkungsart wäre, daß es, wenn es darum befragt würde, wahrscheinlicherweise seine Beistimmung verweigern würde.“ (Gemeinspruch S. 153 f.)30

Der Vertragsgedanke verpflichtet den Gesetzgeber zu einem Gedankenexperiment, zur gedanklichen Simulierung einer Abstimmungssituation und zur Prüfung der Konsensfähigkeit der Gesetze.31 In den empirischen, vorrepublikanischen Staaten ist damit Kriterium der Rechtmäßigkeit der Gesetze nicht ihre tatsächliche demokratische Entstehung, sondern der Grundsatz des „als ob“.32 Kants Gesellschaftsvertrag ist in seinen frühen Schriften ein regulatives Prinzip, das die hypothetische Zustimmung des Volkes zum Gerechtigkeitskriterium für die vom Staat erlassenen Gesetze macht;33 dem Gesetzgeber wird die Verbind29 Anders ist es nach Kants Auffassung im Frieden, der Metaphysik und dem Streit; s. dazu unten. 30 Eine ähnliche Unterscheidung fand sich auch in Publius’ obigen Ausführungen, die zwischen den langfristigen Interessen des Volkes und seinen momentanen Interessen und Leidenschaften unterscheiden [s. oben C. II. 2. a) und b)]. 31 s. hierzu Dreier, H., Repräsentation (AöR 113, 1988), S. 470 f.; Höffe, O., Begründung (1979), S. 213; Kersting, W., Freiheit (1993), S. 353. 32 s. Gemeinspruch S. 153; dazu auch Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 168. 33 Dreier, H., Repräsentation (AöR 113, 1988), S. 470 f.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

lichkeit auferlegt, seine Gesetze durch den Filter der virtuellen Zustimmungsbedürftigkeit des Volkes laufen zu lassen. Dabei kann der Gesellschaftsvertrag nur als Negativkriterium dienen; er kann nur die Rechtswidrigkeit staatlichen Handelns feststellen, nicht aber positive Aussagen treffen, die Gesetze eines bestimmten Inhalts vorschreiben.34 Die nach Vertragsprinzipien zustandegekommenen Gesetze sind rechtmäßig, weil sie (gedanklich simuliert) auf der Zustimmung der von ihnen Betroffenen beruhen. Damit entspringen diese Gesetze (gedanklich) der Willkür der Betroffenen und nicht der Willkür anderer und sind somit mit ihrer Freiheit („Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“, S. 345) vereinbar. An anderer Stelle argumentiert Kant mit dem Grundsatz des volenti non fit iniuria:35 „Ein öffentliches Gesetz aber . . . ist der Actus eines öffentlichen Willens, von dem alles Recht ausgeht, und der also selbst niemand muß Unrecht tun können. Hiezu aber ist kein anderer Wille, als der des gesamten Volks (da alle über alle, mithin ein jeder über sich selbst beschließt), möglich: denn nur sich selbst kann niemand unrecht tun.“ (Gemeinspruch S. 150)

Die Zustimmung aller zu öffentlichen Gesetzen bzw. das Entspringen dieser Gesetze aus einem allgemein vereinigten Willen ist notwendig, da nur dann jeder einzelne mit in die Beschlußfassung eingebunden ist und über sich selbst (mit-) beschließt. Unter dieser Bedingung kann nach dem Grundsatz des volenti non fit iniuria niemand in seiner Freiheit verletzt werden.36 Daher gilt: „Der Probierstein alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage: ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte?“ (Aufklärung S. 58)

Der Zusammenhang zwischen Gesellschaftsvertrag und der Zustimmung des Volkes, seinem allgemein vereinigten Willen, ergibt sich aus folgender Überlegung: im Gesellschaftsvertrag stimmen alle Betroffenen dem Vertragsinhalt zu; wäre der Gesellschaftsvertrag ein tatsächlicher Vertrag, würde er wie jeder andere Vertrag durch die Vereinigung der Willkür aller Betroffenen geschlossen. Diese Vereinigung aller Willküren würde gleichzeitig den allgemein vereinigten Willen schaffen,37 wie Kant in § 14 klarstellt: „Derselbe Wille aber kann doch eine äußere Erwerbung nicht anders berechtigen, als nur so fern er in einem a priori vereinigten (d. i. durch die Vereinigung der Willkür aller, die in ein praktisches Verhältnis gegen einander kommen können) absolut gebietenden Willen enthalten ist . . .“ (§ 14, S. 374)

34 Höffe, O., Begründung (1979), S. 211; Kersting, W., Kontraktualismus (AZP 8, 1983), S. 16. 35 s. dazu auch § 46, S. 432. 36 Zur Problematik dieser Argumentation s. Baumann, P., Seiten (KS 85, 1994), S. 157, Fn. 54, und Moulakis, A., Republikanismus (1998), S. 260. 37 s. hierzu Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 117 und S. 117, Fn. 61.

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

201

Da Kants ursprünglicher Vertrag aber kein tatsächlich geschlossener Vertrag, sondern – wie die respublica noumenon – nur eine Idee, ein virtuelles Konstrukt ist, entspricht ihm ein virtueller allgemeiner Wille oder die Idee eines solchen Gesamtwillens.38 Deshalb spricht Kant im obigen Zitat auch vom a priori vereinigten Willen;39 diese Formulierung weist darauf hin, daß nach Vernunftgesetzen die Willküren immer schon vereinigt sind, der Gesamtwille als Grundlage des Staates immer schon besteht, da es vernunftgeboten ist, im Staat zu leben. Kants Gesellschaftsvertrag (als Idee des Aktes der Staatsentstehung) ist also eine andere Bezeichnung für den a priori vereinigten Willen, d. h. die Idee des allgemein vereinigten Willens.40 Dennoch unterscheidet Kant an einigen Stellen zwischen beiden. So schreibt er in der Metaphysik: „. . . den Gesamtwillen . . ., der der Urgrund aller öffentlichen Verträge ist“ (§ 52, S. 465). Da auch der Gesellschaftsvertrag ein öffentlicher Vertrag ist, ist der allgemein vereinigte Wille die Quelle des Sozialkontraktes,41 geht ihm also offensichtlich vorher. Ähnlich äußert sich Kant auch im Gemeinspruch: „Man nennt dieses Grundgesetz, das nur aus dem allgemeinen (vereinigten) Volkswillen entspringen kann, den ursprünglichen Vertrag.“ (Gemeinspruch S. 151). Das „Grundgesetz“, auf dem der Staat basiert, ist der Gesellschaftsvertrag, und er kann nur aus dem allgemein vereinigten Willen hervorgehen. Auch dies betont, daß der allgemein vereinigte Wille vor dem Gesellschaftsvertrag besteht, ihm vorhergeht. Dieses „Vorhergehen“ ist aber nicht zeitlich, sondern logisch zu verstehen;42 Kant betont, daß der vereinigte Wille den Gesellschaftsvertrag schafft und nicht umgekehrt, um nochmals darauf hinzuweisen, daß die Vereinigung der Willküren und der Eintritt in den Staat unabhängig vom Gesellschaftsvertrag notwendig sind, nämlich aufgrund des Freiheitsrechts und des prinzipiellen Rechts jedes Menschen auf Eigentum. In diesen Zitaten klingt an, daß der Sozialkontrakt nicht der Grund für den Zusammenschluß zum Staat ist und den Staat nicht legitimiert, sondern daß dies aufgrund einer vorgängigen Verpflichtung, nämlich des Postulates des öffentlichen Rechts, geschieht. Für Kant ist der Gesellschaftsvertrag zwar Mittel zur Erzeugung der staatlichen Macht, nicht aber Grund für ihren Geltungsanspruch. 38 Folgt man Kants Aufbau der Rechtslehre, verhält es sich strenggenommen umgekehrt: da das Problem der ursprünglichen Erwerbung mit ihren paradoxen Elementen der Einseitigkeit und gleichzeitigen Allseitigkeit nur durch die Idee des allgemein vereinigten Willens aufgelöst werden kann, entspricht dieser Idee des allgemeinen Willens eben die Idee des Vereinigungsaktes. s. hierzu Herb, K./Ludwig, B., Naturzustand (KS 84, 1993), S. 294. 39 s. z. B. auch Metaphysik S. 374 f. und § 51, S. 461. 40 Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 443. Zum Verhältnis zwischen beiden im Hinblick auf Recht und Freiheit s. auch Riedel, M., Herrschaft (1974), S. 246 f. 41 s. hierzu Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 55. 42 Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 55.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

3. Kriterien des Gesellschaftsvertrages Ungeklärt ist bisher, welche Kriterien hinter der allgemeinen Konsensfähigkeit von Gesetzen stehen, unter welchen genauen Bedingungen das Volk einem bestimmten Gesetz also zustimmen könnte oder nicht. Kant betont, daß Glückseligkeitserwägungen insoweit irrelevant sind:43 „Denn die Rede ist hier nicht von Glückseligkeit, die aus einer Stiftung oder Verwaltung des gemeinen Wesens für den Untertan zu erwarten steht; sondern allererst bloß vom Rechte, das dadurch einem jeden gesichert werden soll . . .“ (Gemeinspruch S. 154)

Ein Gesetz muß objektiv gültig, d. h. allgemeinverbindlich sein44 und kann sich deshalb nicht an empirischen Zwecken oder Objekten, d. h. an materialen Kriterien, orientieren, die stets subjektiv sind. Seine Glückseligkeit beurteilt aber jeder Mensch im Vergleich zu anderen Menschen und selbst auch zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich, so daß sich hieraus keine allgemeingültigen, objektiven Vorgaben ableiten lassen. Daher ist die Zufriedenheit des Volkes nicht das entscheidende Kriterium für die Rechtmäßigkeit von Gesetzen: „Denn wenn es sich nur nicht widerspricht, daß ein ganzes Volk zu einem solchen Gesetze zusammen stimme, es mag ihm auch so sauer ankommen wie es wolle: so ist es dem Rechte gemäß.“ (Gemeinspruch S. 155)

Beurteilungskriterium für die Rechtmäßigkeit von Gesetzen ist vielmehr das Recht der Menschen, und zwar das angeborene Recht der Freiheit, da die Berufung auf erworbene Rechte, die peremtorisch erst aufgrund von staatlichen Gesetzen erworben werden können, zu einem Zirkelschluß führen würde. Allgemein konsensfähig sind nur die Gesetze, die die Freiheit des einzelnen nicht verletzen und die Freiheit jedes einzelnen in gleicher Weise wahren, d. h. auch die Gleichheit nicht beeinträchtigen.45 Denn man kann nur der Regelung wider43 Entsprechend lehnt Kant auch die Förderung der Glückseligkeit als primären Staatszweck ab, s. dazu oben C. I. 4. 44 s. dazu GMS S. 51 bzw. KpV S. 125, A 35. 45 Kersting, W., Kontraktualismus (AZP 8, 1983), S. 17. Wegen der Verknüpfung des Gesellschaftsvertrages mit den Kriterien der Freiheit und Gleichheit wird teilweise angenommen, der Gesellschaftsvertrag verdecke diese eigentlich relevanten, hinter ihm stehenden Kriterien und sei daher überflüssig, so Haensel, W., Widerstandsrecht (1926), S. 50 f.; ihm folgend Dulckeit, G., Naturrecht (1932), S. 41. Allgemein für die Vertragslehre s. auch Seelmann, K., Rechtsphilosophie (1994), § 9 Rn. 24 (S. 159). So sieht Haensel „die Idee eines vereinigten Willens aller nur als ein heuristisches Prinzip . . ., hinter dem erst das eigentliche Rechtskriterium, die Forderung der Vernunftgemäßheit, steht“; a. a. O., S. 50. Zur Kritik des Kriteriums der Vernunftgemäßheit s. Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 39, Fn. 61. Diese Auffassung ist aber nicht zutreffend; Kants Konzept des Gesellschaftsvertrages ist kein seiner Theorie externes Moment, das ohne Auswirkungen weggelassen und durch das Prinzip der Vernunftgemäßheit oder die Kriterien der Freiheit und Gleichheit ersetzt werden kann. Sein ursprünglicher Kontrakt ist nicht nur zentrales Element seines Staats-, sondern auch seines Privatrechts und unauflösbar mit beiden

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

203

spruchsfrei zustimmen, die man sowohl für sich selbst als auch für alle anderen akzeptiert; lehnt man ihre Anwendung nur auf sich oder bestimmte andere Personen ab, so zeigt man damit, daß man sie gerade nicht als allgemeines Gesetz will.46 Daneben sieht Kant als drittes Kriterium des Gesellschaftsvertrages teilweise das Prinzip der Selbständigkeit. Denn er beschreibt die Funktion des Sozialkontraktes wie folgt: „Hier ist nun ein ursprünglicher Kontrakt, auf den allein eine bürgerliche, mithin durchgängig rechtliche Verfassung unter Menschen gegründet und ein gemeines Wesen errichtet werden kann.“ (Gemeinspruch S. 153),

und diese Verfassung ist nach seiner Ansicht im Gemeinspruch durch drei apriorische Momente gekennzeichnet: „Der bürgerliche Zustand also, bloß als rechtlicher Zustand betrachtet, ist auf folgende Prinzipien a priori gegründet: 1. Die Freiheit jedes Gliedes der Sozietät, als Menschen. 2. Die Gleichheit desselben mit jedem anderen, als Untertan. 3. Die Selbständigkeit jedes Gliedes eines gemeinen Wesens, als Bürgers. Diese Prinzipien sind nicht sowohl Gesetze, die der schon errichtete Staat gibt, sondern nach denen allein eine Staatserrichtung, reinen Vernunftprinzipien des äußeren Menschenrechts überhaupt gemäß, möglich ist.“ (Gemeinspruch S. 145)

Auch in der Metaphysik nennt Kant die Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit als Attribute der Staatsbürger,47 während das letzte Kriterium im Frieden wegfällt.48 a) Freiheit Allerdings ist die Annahme, der Mensch sei frei, nicht unproblematisch.49 Denn der Mensch ist als Sinnenwesen durch seine natürlichen Triebe bestimmt Bereichen verknüpft. Denn der Gesellschaftsvertrag in Gestalt des allgemein vereinigten Willens ist die Ermöglichungsbedingung der ursprünglichen Erwerbung und damit des peremtorischen Eigentums, auf dem wiederum die Notwendigkeit des Staates beruht; s. auch Hespe, F., Gesellschaftsvertrag (1998), S. 320; Kersting, W., Kontraktualismus (AZP 8, 1983), S. 19 f. 46 s. dazu Langer, C., Prinzipien (1986), S. 99. 47 s. § 46, S. 432. 48 s. Frieden S. 204. 49 Die Freiheit des Menschen ist Gegenstand der praktischen Philosophie; sie basiert auf der transzendentalen Freiheit als Gegenstand der theoretischen Philosophie, der sich Kant in der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft (KrV S. 426 ff., B 472 ff.) und ihrer Auflösung (KrV S. 488 ff., B 560 ff.) widmet und die er in der Kritik der praktischen Vernunft auch „Unabhängigkeit von allem Empirischen und also von der Natur überhaupt“ nennt (KpV S. 222, A 173). Zur transzendentalen Freiheit s. König, S., Menschenrechte (1994), S. 212–219. Zum Zusammenhang zwischen dem transzendentalen und dem praktischen Freiheitsbegriff s. ebd., S. 217–219 und 222 f.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

und unterliegt den Gesetzen der Natur. Zu diesen Gesetzen gehört auch der Grundsatz der Kausalität, nach dem jedes Ereignis eine Ursache hat und haben muß, d. h. ein Ereignis ohne Ursache nicht denkbar ist.50 In der Kritik der praktischen Vernunft beschreibt Kant dieses Phänomen wie folgt: „. . . daß eine jede Begebenheit, folglich auch jede Handlung, die in einem Zeitpunkte vorgeht, unter der Bedingung dessen, was in der vorhergehenden Zeit war, notwendig sei. Da nun die vergangene Zeit nicht mehr in meiner Gewalt ist, so muß jede Handlung, die ich ausübe, durch bestimmende Gründe, die nicht in meiner Gewalt sein [„sind“ laut Akademie-Ausgabe], notwendig sein, d. i. ich bin in dem Zeitpunkte, darin ich handle, niemals frei.“ (KpV S. 219, A 169)

Der Mensch als sinnliches Wesen ist also der kausalen Determination durch vergangene Geschehnisse, der „Kausalität, als Naturnotwendigkeit“ (KpV S. 219, A 169), unausweichlich ausgeliefert und damit unfrei. Die Lösung des Problems, die Möglichkeit, den Menschen doch als frei zu sehen, liegt darin, ihn nicht nur als Sinnenwesen, d. h. als Erscheinung, zu betrachten, sondern (auch) als Vernunftwesen, als Ding an sich selbst: „Folglich, wenn man sie [die Freiheit] noch retten will, so bleibt kein Weg übrig, als das Dasein eines Dinges, so fern es in der Zeit bestimmbar ist, folglich auch die Kausalität nach dem Gesetze der Naturnotwendigkeit, bloß der Erscheinung, die Freiheit aber eben demselben Wesen, als Dinge an sich selbst, beizulegen.“ (KpV S. 220, A 170)

Die oben unter C. angesprochene Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich selbst51 gilt auch für den Menschen: auch er kann einerseits als sinnliches Wesen, als homo phaenomenon, andererseits als Vernunftwesen, als homo noumenon, gedacht werden. Als letzterer kann er aber nur gedacht, nicht dagegen erkannt werden, da hier – anders als beim homo phaenomenon – die sinnliche Anschauung nicht möglich ist. Kant formuliert diese unterschiedliche Sichtweise vom Menschen in der Metaphysik wie folgt: „Da . . . der Mensch . . . bloß nach seiner Menschheit, als von physischen Bestimmungen unabhängiger Persönlichkeit (homo noumenon), vorgestellt werden kann und soll, zum Unterschiede von eben demselben, aber als mit jenen Bestimmungen behafteten Subjekt, dem Menschen (homo phaenomenon), . . .“ (S. 347)

Die unausweichliche kausale Determination der menschlichen Handlungen und die damit verbundene Unfreiheit gilt nur für den homo phaenomenon, nicht für ihn als Noumen: „. . . daß die Naturnotwendigkeit, welche mit der Freiheit des Subjekts nicht zusammen bestehen kann, bloß den Bestimmungen desjenigen Dinges anhängt, das unter Zeitbedingungen steht, folglich nur dem [„denen“ laut Akademie-Ausgabe] des han50 s. König, S., Menschenrechte (1994), S. 213; Lorz, R. A., Menschenrechtsverständnis (1993), S. 78 f. 51 s. C. I. 1. b) (1).

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

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delnden Subjekts als Erscheinung . . . Aber ebendasselbe Subjekt, das sich anderseits auch seiner, als Dinges an sich selbst, bewußt ist, betrachtet auch sein Dasein, so fern es nicht unter Zeitbedingungen steht, sich selbst aber nur als bestimmbar durch Gesetze, die es sich durch Vernunft selbst gibt, und in diesem seinem Dasein ist ihm nichts vorhergehend vor seiner Willensbestimmung, sondern jede Handlung . . . ist im Bewußtsein seiner intelligibelen Existenz nichts als Folge, niemals aber als Bestimmungsgrund seiner Kausalität, als Noumens, anzusehen.“ (KpV S. 223, A 174 f.)

Als Angehöriger der noumenalen Welt ist der Mensch frei von der Determination durch vorhergehende Ereignisse; er hat das Vermögen, sich selbst vernünftige, von der Vernunft bestimmte Gesetze zu geben. Diese selbstgegebenen, vernunftgemäßen Gesetze sind dann Ursprung und Grund seiner Handlungen, nicht dagegen seine früheren Handlungen. (1) Innere Freiheit Diese intrapersonale, innere Freiheit52 beschreibt Kant auch als „Unabhängigkeit des Willens, von jedem anderen, außer allein dem moralischen Gesetze“ (KpV S. 218, A 167 f.). In dieser Definition deuten sich zwei Aspekte an: einerseits die Unabhängigkeit von allem anderen außer dem moralischen Gesetz, d. h. auch von der sinnlichen Welt, andererseits die Abhängigkeit vom moralischen Gesetz, d. h. das Vermögen, sich an ihm zu orientieren. Kant erwähnt diese beiden Aspekte auch explizit: „Jene Unabhängigkeit aber ist Freiheit im negativen, diese eigene Gesetzgebung aber der reinen, und, als solche, praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Verstande.“ (KpV S. 144, A 58 f.)

(a) Negative Freiheit Den negativen Freiheitsbegriff beschreibt Kant in der Rechtslehre wie folgt: „Denn die Freiheit . . . kennen wir nur als negative Eigenschaft in uns, nämlich durch keine sinnliche Bestimmungsgründe zum Handeln genötigt zu werden.“ (S. 333)

In der Kritik der reinen Vernunft äußert er sich folgendermaßen dazu: „Die Freiheit im praktischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit.“ (KrV S. 489, B 561 f.)

Der Begriff der Freiheit im negativen Sinne beschreibt damit die Unabhängigkeit der Willkür von den Neigungen und Trieben der Sinnenwelt, von sinnlicher Determination.53 52 Zur inneren Freiheit s. König, S., Menschenrechte (1994), S. 219 ff.; Lorz, R. A., Menschenrechtsverständnis (1993), S. 71 ff.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

(b) Positive Freiheit Dieser negative Begriff der inneren Freiheit ist die Basis für Kants positives Verständnis derselben. Kant sieht die menschliche Freiheit nicht nur als Unabhängigkeit von kausaler Determination und sinnlicher Bestimmung, denn diese negative Freiheit trifft keine Aussage darüber, ob und an welchen Prinzipien das menschliche Handeln sich ausrichten soll. Wäre der Mensch allein in diesem Sinne frei, so wäre sein Handeln orientierungslos und zufällig. Der durch die negative Freiheit geschaffene Freiraum prinzipien- und orientierungsloser Freiheit wird von Kant ausgefüllt durch sein Verständnis von Freiheit im positiven Sinne.54 Diese ist die „eigene Gesetzgebung . . . der reinen, und, als solche, praktischen Vernunft“ (KpV S. 144, A 59) oder die Abhängigkeit des Willens vom moralischen Gesetz (KpV S. 218, A 167 f.). Um im positiven Sinne frei zu sein, muß der Mensch also nicht nur von der Kausalität der phaenomenalen Welt und sinnlicher Determination frei sein, sondern seinen Willen von den Gesetzen der praktischen Vernunft, d. h. vom moralischen Gesetz, bestimmen lassen. Als Gesetz muß dieses per definitionem objektive Gültigkeit haben und für alle Menschen verbindlich sein;55 es kann daher keine materialen, d. h. am begehrten Objekt orientierte, sondern nur formale Kriterien aufstellen. Denn die auf das angestrebte Objekt oder Ziel gerichteten Prinzipien sind empirisch, da sie von der jeweiligen Verfassung des Subjekts und seinem Verhältnis zum Objekt abhängen, von der vom letzteren hervorgerufenen Lust oder Unlust.56 Alle materialen Prinzipien gehören zum Prinzip der Glückseligkeit;57 würde man die 53 Die Willkür ist das „Vermögen, nach Belieben zu tun oder zu lassen. Sofern es mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden ist“ (S. 317). Sie ist abzugrenzen vom Wunsch, bei dem das erstere Vermögen nicht mit dem letzteren verbunden ist, und vom Willen. Diesen definiert Kant als „Begehrungsvermögen, dessen innerer Bestimmungsgrund . . . in der Vernunft des Subjekts angetroffen wird“ (S. 317). Anders formuliert ist die Willkür „das Begehrungsvermögen . . . in Beziehung auf die Handlung“ und der Wille „das Begehrungsvermögen . . . in Beziehung auf . . . den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung“ (S. 317). Daher gilt: „Von dem Willen gehen die Gesetze aus; von der Willkür die Maximen.“ (S. 332). Diese beiden Begriffe unterscheidet Kant in der GMS wie folgt: „Maxime ist das subjektive Prinzip zu handeln, und muß vom objektiven Prinzip, nämlich dem praktischen Gesetze, unterschieden werden. Jene enthält die praktische Regel, die die Vernunft den Bedingungen des Subjekts gemäß . . . bestimmt, und ist also der Grundsatz, nach welchem das Subjekt handelt; das Gesetz aber ist das objektive Prinzip, gültig für jedes vernünftige Wesen, und der Grundsatz, nach dem es handeln soll, d. i. ein Imperativ.“ (GMS S. 51) s. hierzu auch KpV S. 125, A 35. Die Willkür, von der die Maximen ausgehen, gibt also praktische Regeln für den einzelnen, während der Wille das für alle Menschen gültige Gesetz gibt. s. hierzu Mulholland, L. A., System (1990), S. 279. 54 s. hierzu König, S., Menschenrechte (1994), S. 221. 55 s. dazu GMS S. 51 bzw. KpV S. 125, A 35. 56 KpV S. 127 f., A 38 ff.

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

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Gesetze der Vernunft an ihnen ausrichten, so würde damit der Zufall Leitlinie der Vernunft und Inhalt des moralischen Gesetzes sein. In der Metaphysik drückt Kant dies wie folgt aus: „Der positive [Begriff der Freiheit] ist: das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein. Dieses ist aber nicht anders möglich, als durch die Unterwerfung der Maxime einer jeden Handlung unter die Bedingung der Tauglichkeit der erstern zum allgemeinen Gesetze. Denn, als reine Vernunft, auf die Willkür, unangesehen dieser ihres Objekts, angewandt, kann sie, . . . da ihr die Materie des Gesetzes abgeht, nichts mehr, als die Form der Tauglichkeit der Maxime der Willkür zum allgemeinen Gesetz selbst zum obersten Gesetze und Bestimmungsgrunde der Willkür machen, und, da die Maximen des Menschen aus subjektiven Ursachen mit jenen objektiven nicht von selbst übereinstimmen, dieses Gesetz nur schlechthin, als Imperativ des Verbots oder Gebots, vorschreiben.“ (S. 318)

Die positive innere Freiheit als Selbstgesetzgebung der praktischen Vernunft fordert daher vom Menschen, sein Handeln von Grundsätzen leiten zu lassen, die auch für alle anderen Menschen als verbindlich gedacht werden können, d. h. ein allgemeines Gesetz sein können. Dieses streng formale Vernunftgesetz, das mit dem moralischen Gesetz identisch ist und als Orientierungspunkt menschlichen Handelns dient, kann nur vom reinen, von aller sinnlichen Determination freien und damit autonomen Willen als gesetzgebendem Vermögen ausgehen:58 „Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Pflichten; alle Heteronomie der Willkür gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Prinzip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen.“ (KpV S. 144, A 58)

Insofern ist die negative Freiheit Voraussetzung für die positive, da nur bei Vorliegen der ersteren die Autonomie des Willens und damit die letztere überhaupt möglich ist. Die Orientierung des Handelns am moralischen Gesetz, die Bestimmung des Willens durch das rein formale Vernunftgesetz, ist aber kein Faktum, sondern ein Gebot, da der Mensch eben nicht nur Vernunft-, sondern auch Sinnenwesen ist.59 Wäre er ein reines Vernunftwesen, so würde er das Gesollte immer auch wollen. Als Wesen aber, das von sinnlichen Trieben nicht frei ist, besteht ein Spannungsverhältnis zwischen Gesolltem und Gewolltem, so daß ihm die positive Freiheit als Verpflichtung, als Imperativ entgegentritt.60 Kant beschreibt diese zwiespältige Stellung des Menschen und seiner Willkür in der Metaphysik wie folgt: 57 58 59 60

KpV S. 128 f. und 133 f., A 40 f. und A 45 ff. s. hierzu Höffe, O., Kant (1996), S. 199. s. KpV S. 143, A 57 f. Höffe, O., Kant (1996), S. 200; Nieschmidt, G.-P., Vernunft (1965), S. 7, 13, 22.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

„. . . die Willkür, die durch reine Vernunft bestimmt werden kann, heißt die freie Willkür. Die, welche nur durch Neigung (sinnlichen Antrieb, stimulus) bestimmbar ist, würde tierische Willkür . . . sein. Die menschliche Willkür ist dagegen eine solche, welche durch Antriebe zwar affiziert, aber nicht bestimmt wird, und ist also für sich (ohne erworbene Fertigkeit der Vernunft) nicht rein, kann aber doch zu Handlungen aus reinem Willen bestimmt werden.“ (S. 317 f.)

Die menschliche Willkür ist also von sinnlichen Neigungen und Trieben nicht völlig frei, aber eben nicht ausschließlich durch sie bestimmt; dem Menschen ist es möglich, sich über diese Triebe zu erheben und seine Handlungen vom reinen Willen, d. h. vom moralischen Gesetz leiten zu lassen, da er auch Vernunftwesen ist. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Natur und Vernunft findet sich auch in einer Definition von Freiheit wieder, die Kant in der Kritik der praktischen Vernunft gibt: „Freiheit . . . ist Unabhängigkeit von Neigungen, wenigstens als bestimmenden (wenn gleich nicht als affizierenden) Bewegursachen unseres Begehrens.“ (KpV S. 247, A 212)

Freiheit im positiven Sinne ist also eine fortwährende Aufgabe für den Menschen, sie ist erst bzw. nur dann verwirklicht, wenn allein die reine praktische Vernunft und damit das moralische Gesetz Bestimmungsgrund des menschlichen Handelns ist.61 Aufgrund der zwiespältigen Stellung des Menschen definiert Kant die innere Freiheit in der Tugendlehre auch als „Vermögen des Selbstzwanges und zwar nicht vermittelst anderer Neigungen, sondern durch reine praktische Vernunft“ (Tugendlehre S. 527). Dieser dem Menschen auferlegte bzw. von ihm verlangte Zwang steht dabei nicht im Widerspruch zu seiner Freiheit, weil es sich hier um Selbstzwang handelt; die geforderte Unterwerfung seines Willens unter das moralische Gesetz ist mit seiner Freiheit verträglich, weil er sich dieses Gesetz vermöge seiner praktischen Vernunft selbst gibt, nämlich durch seinen autonomen Willen.62 Genauer gesagt ist diese gebotene Unterwerfung nicht nur mit der menschlichen Freiheit verträglich, vielmehr ist sie selbst der Grund dieser Freiheit: der Mensch ist frei, weil – und nicht obwohl – er moralisch verpflichtet ist. König formuliert dies wie folgt: „Erst durch das Bewußtsein des moralischen Gesetzes sind wir berechtigt, uns transzendentale Freiheit zuzusprechen, und erst in der Befolgung des Gesetzes verwirklichen wir praktische Freiheit.“63

Das Gebot, sich am moralischen Gesetz zu orientieren, ist kategorisch, „weil das Gesetz unbedingt ist“ (KpV S. 143, A 57); es stellt den kategorischen Imperativ dar, den Kant in der Kritik der praktischen Vernunft wie folgt formuliert: „Handle so, daß die Maxime deines Willen jederzeit zugleich als Prinzip einer 61 62 63

König, S., Menschenrechte (1994), S. 223. s. Nieschmidt, G.-P., Vernunft (1965), S. 21. König, S., Menschenrechte (1994), S. 222.

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

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allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (KpV S. 140, A 54).64 Daher definiert Kant die eigene Gesetzgebung der reinen praktischen Vernunft, d. h. die positive innere Freiheit, auch als „Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß“ (KpV S. 144, A 58). (2) Äußere Freiheit Das Problem der Möglichkeit menschlicher Freiheit stellt sich jedoch nicht nur intrapersonal, in bezug auf den Menschen als isoliertes Wesen, sondern auch in sozialer Perspektive, in bezug auf seine Mitmenschen. Diesen interpersonalen Aspekt der Freiheit behandelt Kant unter dem Begriff der äußeren Freiheit65, die er definiert als „Freiheit im äußeren Verhältnisse der Menschen zu einander“ (Gemeinspruch S. 144). Die äußere Freiheit ist Gegenstand des Rechtes;66 dessen Begriff umfaßt „. . . nur das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander . . . Einfluß haben können.“ (§ B, S. 337). Von der hinter diesen Handlungen stehenden Gesinnung, den Beweggründen des Handelns und den damit verfolgten Zwecken, abstrahiert das Recht: „Drittens . . . kommt auch gar nicht die Materie der Willkür, d. i. der Zweck, den ein jeder mit dem Objekt, was er will, zur Absicht hat, in Betrachtung, z. B. es wird nicht gefragt, ob jemand bei der Ware, die er zu seinem eigenen Handel von mir kauft, auch seinen Vorteil finden möge, oder nicht, sondern nur nach der Form im Verhältnis der beiderseitigen Willkür, sofern sie bloß als frei betrachtet wird, und ob durch die Handlung eines von beiden sich mit der Freiheit des andern nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse.“ (§ B, S. 337)

Die Frage nach den Beweggründen des menschlichen Handelns fällt vielmehr in den Bereich der intrapersonalen, inneren Freiheit und ist Gegenstand der Ethik, der Tugendlehre.67 Die beiden Bereiche der Sittenlehre unterscheiden 64 Die Formalität des moralischen Gesetzes, d. h. die Abstraktion von allen materialen Prinzipien, bedeutet aber nicht, daß es sich hierbei um ein inhaltsleeres Kriterium handelt, wie Kant oft vorgeworfen wurde. Richtig verstanden handelt es sich beim kategorischen Imperativ nicht um ein formales, sondern „ein formendes Prinzip“, wie Zaczyk es formuliert hat. s. Zaczyk, R., Gerechtigkeit (1994), S. 111 f.; s. auch ders., Strafe (1999), S. 79 f. 65 s. dazu König, S., Menschenrechte (1994), S. 228 ff.; Lorz, R. A., Menschenrechtsverständnis (1993), S. 125 ff. 66 Zum Zusammenhang zwischen äußerer Freiheit und Recht s. Geismann, G., Vollender (Staat 27, 1982), S. 179. 67 „Dagegen geht das Prinzip der Tugendlehre über den Begriff der äußern Freiheit hinaus und verknüpft nach allgemeinen Gesetzen mit demselben noch einen Zweck, den es zur Pflicht macht. . . . Diese Erweiterung des Pflichtbegriffs über den der äußeren Freiheit . . ., wo die innere Freiheit, statt des Zwanges von außen, das Vermögen des Selbstzwanges . . . durch reine praktische Vernunft . . ., aufgestellt wird, besteht

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

sich nicht durch unterschiedliche Inhalte, d. h. unterschiedliche Pflichten, die sie dem einzelnen auferlegen, sondern vielmehr durch die Vernachlässigung oder Berücksichtigung der Beweggründe oder Maxime68 des Handelnden: „Rechtslehre und Tugendlehre unterscheiden sich also nicht sowohl durch ihre verschiedene Pflichten, als vielmehr durch die Verschiedenheit der Gesetzgebung, welche die eine oder die andere Triebfeder mit dem Gesetze verbindet.“ (S. 325)69

(a) Negative Freiheit (als Mensch) Da die äußere Freiheit des Menschen von Zwecken insgesamt abstrahiert, ist der Mensch in rechtlicher Hinsicht nicht zur Ausrichtung seines Handelns am moralischen Gesetz verpflichtet, vielmehr ist er in juridischer Hinsicht frei, sich seine eigenen Zwecke zu setzen, seien sie, was sie wollen, und in bezug auf sie zu handeln.70 Das Vermögen des einzelnen, dies zu tun, ohne dem bestimmenden Einfluß und den Vorgaben anderer ausgesetzt zu sein, stellt den negativen Aspekt der äußeren Freiheit dar; dieser beschreibt die „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“, „sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann . . .“ (S. 345). Während sich die negative Freiheit intrapersonal auf die Unabhängigkeit von sinnlichen Eindarin und erhebt sich dadurch über die Rechtspflicht: daß durch sie Zwecke aufgestellet werden, von denen überhaupt das Recht abstrahiert.“ (Tugendlehre S. 527) Der Zweck, den die Ethik zur Pflicht macht, ist die Tugend selbst: „Aber in demjenigen [moralischen Imperativ], welcher die Tugendpflicht gebietet, kommt, noch . . . der eines Zwecks dazu, nicht den wir haben, sondern haben sollen, den also die reine praktische Vernunft in sich hat, deren höchster, unbedingter Zweck (der aber doch immer noch Pflicht ist) darin gesetzt wird: daß die Tugend ihr eigener Zweck . . . sei.“ (S. 527 f.) Wie oben dargelegt, besteht die (positive) innere Freiheit darin, dem moralischen Gesetz zu gehorchen. Zur Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität s. auch Zaczyk, R., Gerechtigkeit (1994), S. 114 ff. 68 Zum Begriff der Maxime s. Metaphysik S. 331, 332. 69 Die ethische Gesetzgebung ist jene, die „eine Handlung zur Pflicht, und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder macht“, während die juridische die ist, die „auch eine andere Triebfeder, als die Idee der Pflicht selbst, zuläßt“ (S. 324). Die Gesetze der Ethik fordern also, daß ihr Adressat sie allein deshalb befolgt, weil dies seine Pflicht ist; die juridischen Gesetze dagegen fordern lediglich, daß ihr Adressat sie befolgt, seine Motivation ist unerheblich. Ob er sie aus Pflichtbewußtsein erfüllt oder nur unwillig, etwa aus Angst vor Strafe, spielt keine Rolle, es kommt lediglich auf die Rechtskonformität seines Verhaltens an. Diese Einbeziehung bzw. Außerachtlassung der inneren Haltung des Handelnden macht den Unterschied zwischen Moralität und Legalität aus: „Man nennt die bloße Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung einer Handlung mit dem Gesetze, ohne Rücksicht auf die Triebfeder derselben, die Legalität (Gesetzmäßigkeit); diejenige aber, in welcher die Idee der Pflicht aus dem Gesetze zugleich die Triebfeder der Handlung ist, die Moralität (Sittlichkeit) derselben.“ (S. 324), oder, wie Kant an anderer Stelle formuliert: „Die Übereinstimmung einer Handlung mit dem Pflichtgesetze ist die Gesetzmäßigkeit (legalitas) – die der Maxime der Handlung mit dem Gesetze die Sittlichkeit (moralitas) derselben.“ (S. 332) 70 s. dazu Geismann, G., Vollender (Staat 27, 1982), S. 178 f.

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flüssen und kausaler Determination bezieht, geht es im Rahmen der äußeren Freiheit um die Unabhängigkeit von Einflüssen anderer Personen, um die Fähigkeit, in seinen Entscheidungen nicht von fremder, sondern nur der eigenen Willkür geleitet zu werden. Kant beschreibt dies im Gemeinspruch wie folgt: „Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, . . . nicht Abbruch tut.“ (Gemeinspruch S. 145)

Die Freiheit der anderen Menschen ist stets und von vornherein mitzudenken; die eigene Freiheit findet ihre Grenzen in der Freiheitssphäre anderer Menschen.71 Die negative äußere Freiheit als Recht auf freie Wahl der Lebensart richtete sich im Gesellschaftssystem, in dem Kant lebte, vor allem gegen die ständische Ordnung mit ihren Herrschaftsrechten, die die Freiheit des Menschen, nach seiner Vorstellung glücklich zu werden, durch eine Vielzahl ständischer und korporativer Sondervorschriften beschnitt.72 Hier handelt es sich um den „klassisch liberalen“ Aspekt der Freiheit, der darauf abzielt, dem einzelnen einen Handlungsspielraum zu eröffnen, in dem er frei von Einflüssen anderer und des Staates ist.73 Dieses Freiheitsrecht ist angeboren74 und kommt jedem Menschen zu: „Dieses Recht der Freiheit kömmt ihm, dem Gliede des gemeinen Wesens, als Mensch zu, so fern dieser nämlich ein Wesen ist, das überhaupt der Rechte fähig ist.“ (Gemeinspruch S. 146)

(b) Positive Freiheit (als Staatsbürger) Neben diesem negativen Aspekt umfaßt die äußere Freiheit – wie die innere – auch einen positiven Aspekt, der wie bei der inneren Freiheit mit dem Gedanken der Selbstgesetzgebung zusammenhängt. Diese positive äußere Freiheit beschreibt Kant in der Rechtslehre: „Die zur Gesetzgebung vereinigten Glieder einer solchen Gesellschaft . . ., d. i. eines Staats, heißen Staatsbürger . . ., und die rechtlichen, von ihrem Wesen (als solchem) unabtrennlichen Attribute derselben sind gesetzliche Freiheit, keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat – bürgerliche Gleichheit . . .; drittens, das Attribut der bürgerlichen Selbständigkeit, seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines anderen im Volke, sondern seinen eigenen

71 72 73 74

s. hierzu Zaczyk, R., Gerechtigkeit (1994), S. 116 f. Langer, C., Prinzipien (1986), S. 97 f.; Riedel, M., Herrschaft (1974), S. 249. Bobbio, N., Notions (AdPP 4, 1962), S. 105 f. s. Metaphysik S. 345.

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Rechten und Kräften, als Glied des gemeinen Wesens verdanken zu können . . .“ (§ 46, S. 432)

Es ist die Freiheit, über den Inhalt der Gesetze selbst mitzuentscheiden, denen man unterworfen ist, d. h. das Vermögen, sich diese Gesetze selber zu geben. Dieses positive Freiheitsverständnis liegt auch Kants Ausführungen im Frieden zugrunde, in dem Kant ebenfalls drei Prinzipien aufzählt, die dem Staat zugrunde liegen (sollen): „Die erstlich nach Prinzipien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen); zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Untertanen); und drittens, die nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung – die einzige, welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrags hervorgeht, auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volks gegründet sein muß – ist die republikanische.“ (Frieden S. 204)

Er erläutert diese Begriffe in einer Fußnote näher und schreibt zur Freiheit: „Vielmehr ist meine äußere (rechtliche) Freiheit so zu erklären: sie ist die Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können.“ (Frieden S. 204)

Dieses positive Freiheitsverständnis ist – nach heutiger Terminologie – demokratischer Prägung, es bezeichnet im Unterschied zur negativen Freiheit nicht die Freiheit „von etwas“, sondern die Freiheit „zu etwas“, nämlich zur politischen Partizipation.75 Ähnlich verhält es sich beim positiven Aspekt der inneren Freiheit: dort ist der Mensch dem moralischen Gesetz unterworfen, aber dennoch – bzw. deshalb – frei, weil er selbst sich dieses Gesetz vermöge seiner praktischen Vernunft gibt.76 b) Gleichheit In engem Zusammenhang mit der Freiheit der Menschen steht ihre Gleichheit, die der Durchsetzung und Koordination der unterschiedlichen Freiheits-

75 Bobbio, N., Notions (AdPP 4, 1962), S. 105 f.; Kammen, M., Liberty (1988), S. 107. 76 Eine Parallele zu den entsprechenden Darlegungen zieht Kant im Frieden, wenn er schreibt: „Die Gültigkeit dieser angebornen . . . Rechte wird durch das Prinzip der rechtlichen Verhältnisse des Menschen selbst zu höheren Wesen . . . bestätigt und erhoben, indem er sich nach eben denselben Grundsätzen auch als Staatsbürger einer übersinnlichen Welt vorstellt. – Denn, was meine Freiheit betrifft, so habe ich, selbst in Ansehung der göttlichen, von mir durch bloße Vernunft erkennbaren Gesetze, keine Verbindlichkeit, als nur so fern ich dazu selber habe meine Beistimmung geben können . . .“ (Frieden S. 204 f.) Kant verweist hier auch im Zusammenhang mit der äußeren Freiheit auf die Unterscheidung zwischen phaenomenaler und noumenaler Welt und betont die Notwendigkeit, den Menschen (auch) als homo noumenon zu begreifen, um ihn als frei denken zu können.

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sphären im sozialen Gefüge dient. Luf formuliert die Verbindung zwischen Freiheit und Gleichheit wie folgt: „Gleichheit wird so zum zentralen Postulat, um die Freiheit aller Individuen in der Rechtsordnung zur Geltung zu bringen.“ 77

Daher ergibt sich aus der Differenzierung zwischen dem positiven und dem negativen Aspekt der Freiheit eine entsprechende binäre Betrachtungsweise des Gleichheitsmomentes. Der negativen, liberalen Freiheit entspricht die natürliche Gleichheit oder Gleichheit als Untertan, während die bürgerliche Gleichheit oder Gleichheit als Staatsbürger der Koordination der positiven, demokratischen Freiheitssphären der Bürger dient. (1) Natürliche Gleichheit (als Untertan) Die Gleichheit als Untertan definiert Kant im Frieden als „Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Untertanen)“ (Frieden S. 204). Sie postuliert die Gleichheit aller Staatsbewohner vor dem Gesetz und verbietet dem Gesetzgeber, gleich gelagerte Sachverhalte unterschiedlich zu behandeln und nach zufälligen Kriterien zu differenzieren.78 Dieses Gleichheitsverständnis ist primär gegen das ständische Gesellschaftssystem mit seinen willkürlich differenzierenden Sondervorschriften gerichtet79 und dient der Durchsetzung des Rechts auf freie Wahl der Lebensart. Im Gemeinspruch beschreibt Kant dieses Gleichheitsmoment wie folgt: „Die Gleichheit als Untertan, deren Formel so lauten kann: Ein jedes Glied des gemeinen Wesens hat gegen jedes andere Zwangsrechte, wovon nur das Oberhaupt desselben ausgenommen ist (darum weil er von jenem kein Glied, sondern der Schöpfer oder Erhalter desselben ist); welcher allein die Befugnis hat zu zwingen, ohne selbst einem Zwangsgesetze unterworfen zu sein.“ (Gemeinspruch S. 146)

Hier betont Kant, daß im Rahmen der Gleichheit als Untertan der einzelne als unter den Gesetzen stehende Person im Verhältnis zu anderen ebenso Subordinierten betrachtet wird, nicht dagegen in bezug auf das Staatsoberhaupt und diese Gesetze selbst. Es handelt sich damit quasi um Gleichheit in horizontaler Hinsicht, nicht jedoch in vertikaler. Die Gleichheitsforderung bezieht sich nur auf die rechtliche, nicht die wirtschaftliche und soziale Stellung der Menschen, wie Kant ausdrücklich betont: „Diese durchgängige Gleichheit der Menschen in einem Staat, als Untertanen desselben, besteht aber ganz wohl mit der größten Ungleichheit, der Menge, und den

77

Luf, G., Freiheit (1978), S. 144. s. Ebbinghaus, J., System (1964), S. 182 und 184; Luf, G., Freiheit (1978), S. 145 f. 79 Ebbinghaus, J., System (1964), S. 182; Langer, C., Prinzipien (1986), S. 101 f. 78

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Graden ihres Besitztums, es sei an körperlicher oder Geistesüberlegenheit über andere, oder an Glücksgütern außer ihnen und an Rechten überhaupt (deren es viele geben kann) respektiv auf andere . . . Aber dem Rechte nach . . . sind sie dennoch, als Untertanen, alle einander gleich.“ (Gemeinspruch S. 147)

Dem Gleichheitspostulat widerspricht weder eine ungleiche Verteilung von Eigentum80 noch sonstiger körperlicher oder geistiger Güter; widersprechen würde ihm allerdings eine rechtliche Festschreibung und Perpetuierung dieser Ungleichheiten, da dies an zufällige Gegebenheiten anknüpfen würde, nämlich die kontingente aktuelle Eigentumsverteilung und Verteilung sonstiger Güter. Daher enthält die Gleichheit als Untertan die Verpflichtung zur Chancengleichheit und zur vertikalen Mobilität der Gesellschaft, wie Kant im Gemeinspruch betont: „Aus dieser Idee der Gleichheit der Menschen im gemeinen Wesen als Untertanen geht nun auch die Formel hervor: Jedes Glied desselben muß zu jeder Stufe eines Standes in demselben (die einem Untertan zukommen kann) gelangen dürfen, wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen können; und es dürfen ihm seine Mituntertanen durch ein erbliches Prärogativ (als Privilegiaten für einen gewissen Stand) nicht im Wege stehen, um ihn und seine Nachkommen unter demselben ewig niederzuhalten.“ (Gemeinspruch S. 147 f.)

Auch in der Metaphysik weist Kant darauf hin, „daß, welcherlei Art die positiven Gesetze, wozu sie stimmen, auch sein möchten, sie doch den natürlichen der Freiheit und der dieser angemessenen Gleichheit aller im Volk, sich nämlich aus diesem passiven Zustande zu dem aktiven empor arbeiten zu können, nicht zuwider sein müssen.“ (§ 46, S. 434)

Eine Perpetuierung der bestehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, insbesondere durch die Institution des Erbadels, ist daher unzulässig. Dies betont Kant auch im Frieden: „so kommt es in der Beantwortung der Frage von der Zulässigkeit des Erbadels allein darauf an: ,ob der vom Staat zugestandene Rang (eines Untertans vor dem andern) vor dem Verdienst, oder dieses vor jenem vorhergehen müsse‘. – Nun ist offenbar: daß, wenn der Rang mit der Geburt verbunden wird, es ganz ungewiß ist, ob das Verdienst (Amtsgeschicklichkeit und Amtstreue) auch folgen werde; mithin ist es eben so viel, als ob er ohne alles Verdienst dem Begünstigten zugestanden würde (Befehlshaber zu sein); welches doch der allgemeine Volkswille in einem ursprünglichen Vertrage (der doch das Prinzip aller Rechte ist) nie beschließen wird.“ (Frieden S. 205)

Da die Geburt des Menschen nicht sein Verdienst ist, wäre die Verleihung eines Titels allein aufgrund dieses Umstandes eine Verleihung ohne ein dahinterste80 Die Frage, ob Kants Theorie sozialstaatliche Anklänge enthält, ist umstritten, insbesondere, ob der Staat nach Kant verpflichtet oder ob es ihm erlaubt ist, in die bestehenden Eigentumsverhältnisse zum Zweck der gerechteren Verteilung von Eigentum einzugreifen. s. dazu oben C. I. 4. c) und 1. b) (3) (a) (aa).

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hendes Verdienst. Dies wäre jedoch eine Ungleichbehandlung aller anderen „Verdienstlosen“, d. h. der einfachen Bürger, und einer solchen grundlosen Differenzierung könnte der vernünftige allgemein vereinigte Wille nicht zustimmen. Die „natürliche Gleichheit“ (s. § 46, S. 433) kommt wie die negative Freiheit, deren Durchsetzung sie dient, allen Menschen ohne Einschränkung zu; sie ist nicht von weiteren Bedingungen abhängig. So schreibt Kant im Gemeinspruch: „Ein jedes Glied des gemeinen Wesens hat gegen jedes andere Zwangsrechte“ (Gemeinspruch S. 146), und im Frieden verweist er auf die „Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung“ (Frieden S. 204). (2) Bürgerliche Gleichheit (als Staatsbürger) Das Komplementärstück zur natürlichen Gleichheit ist die bürgerliche Gleichheit oder Gleichheit als Staatsbürger, die eng mit dem positiven, partizipatorischen Freiheitsbegriff verknüpft ist. Kant beschreibt sie in der Rechtslehre als „bürgerliche Gleichheit, keinen Oberen im Volk, in Ansehung seiner zu erkennen, als nur einen solchen, den er eben so rechtlich zu verbinden das moralische Vermögen hat, als dieser ihn verbinden kann“ (§ 46, S. 432). Dieser Aspekt der Gleichheit bezieht sich nicht mehr nur auf das Verhältnis des einzelnen zu seinen Mitbürgern, sondern auf seine Beziehung zu dem bzw. den „Oberen im Volk“, d. h. zu den Repräsentanten des Staates einschließlich des Staatsoberhauptes. Hier geht es also nicht mehr um Gleichheit in horizontaler, sondern in vertikaler Hinsicht. Anders als bei der Definition der natürlichen Gleichheit im Gemeinspruch, in der Kant jegliche Zwangsrechte gegen das Oberhaupt abgelehnt hatte,81 wendet Kant den Gleichheitsgedanken in der Metaphysik auch auf das Verhältnis zwischen Bürgern und Oberhaupt an und kommt zu folgender Überlegung: da die Amtsträger des Staates die unter den Gesetzen stehenden Bürger diesen gemäß verpflichten können, fordert der Gedanke der Gleichheit, daß sie ebenso von den Bürgern müssen verpflichtet werden können. Dies bedeutet zunächst, daß auch das Staatsoberhaupt und die staatlichen Funktionäre vom Anwendungsbereich der Gesetze erfaßt und nach diesen behandelt werden müssen; eine Herrschaftsform, nach der der Herrscher über den Gesetzen steht, d. h. legibus solutus ist, wäre ein Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip. Eine absolute Monarchie82, aber auch eine „absolute Diktatur“ und jede andere Staatsform, in der der herrschenden Klasse Vorrechte eingeräumt werden, verstößt damit gegen das Gleichheitsprinzip und den Gesellschaftsvertrag.

81 82

s. Gemeinspruch S. 146. Zur Ablehnung der Monarchie s. auch Langer, C., Prinzipien (1986), S. 103.

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Zudem bedeutet die Forderung der Möglichkeit einer wechselseitigen Verpflichtung, daß den Bürgern das gleiche Mitspracherecht bei der Entstehung der Gesetze gebührt wie den Repräsentanten des Staates. Denn wären die Bürger nicht in die Gesetzgebung einbezogen, so wäre die Reziprozität aufgehoben: „die Oberen“ könnten einseitig Gesetze erlassen und die Bürger durch diese verpflichten, ohne daß letztere dies ebenfalls tun könnten. Das Prinzip der bürgerlichen Gleichheit umfaßt daher nicht nur die Gleichheit der Bürger und des Staatsoberhauptes vor dem Gesetz, sondern fordert auch die gleiche Beteiligung aller an der Entstehung dieser Gesetze. Daher wäre eine Bevorzugung bestimmter Bevölkerungsgruppen, etwa in Form eines Mehrklassenwahlrechtes, nicht mit dem Prinzip der bürgerlichen Gleichheit vereinbar. Zudem beschränkt sich das Recht auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Leben nicht nur auf das Wahlrecht als primäres Instrument politischer Partizipation, sondern schließt auch die Chancengleichheit beim Zugang zu politischen Ämtern ein. Den das Recht auf politische Partizipation sichernden Aspekt der Gleichheit betont Kant auch im Frieden. Dort erläutert er die „Gleichheit derselben (als Staatsbürger)“ wie folgt: „Eben so ist die äußere (rechtliche) Gleichheit in einem Staat dasjenige Verhältnis der Staatsbürger, nach welchem keiner den andern wozu rechtlich verbinden kann, ohne daß er sich zugleich dem Gesetz unterwirft, von diesem wechselseitig auf dieselbe Art auch verbunden werden zu können.“ (Frieden S. 204)

Die Formulierung „keiner den andern“ schließt dabei sowohl das Verhältnis der einzelnen Bürger untereinander als auch das Verhältnis des einzelnen zum Staat und seinen Amtsträgern ein. Während im Rahmen der Gleichheit als Untertan die Abhängigkeit aller Untertanen von der Gesetzgebung betont wurde,83 d. h. ihnen eine lediglich passive Rolle im Hinblick auf die Gesetze zugeschrieben wurde, in der sie auf gleiche Behandlung von oben angewiesen waren, kommt ihnen im Rahmen der Gleichheit als Staatsbürger eine aktive Rolle zu, in der sie die rechtlichen Beziehungen zum Staat und zu ihren Mitmenschen aktiv mitgestalten können. Langer drückt dies wie folgt aus: „Es geht also nicht bloß um Gleichheit des Rechts unter öffentlichen Zwangsgesetzen, sondern um das gleiche Recht, über den Inhalt dieser Gesetze mitzubestimmen.“ 84

c) Selbständigkeit Allerdings spricht Kant die positive Freiheit und die ihr korrelierende bürgerliche Gleichheit anders als die negative Freiheit und natürliche Gleichheit nicht 83 84

s. Frieden S. 204. Langer, C., Prinzipien (1986), S. 103.

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in allen Schriften einheitlich dem Menschen als solchen zu. Dies ist nur im Frieden der Fall; hier betont Kant nach der näheren Erläuterung der positiven Freiheit und bürgerlichen Gleichheit: „Die Gültigkeit dieser angebornen, zur Menschheit notwendig gehörenden und unveräußerlichen Rechte . . .“ (Frieden S. 204). Als Prinzipien der republikanischen Verfassung und damit auch des Gesellschaftsvertrages, auf dem diese Verfassung beruht, sieht er hier die positive Freiheit, die bürgerliche Gleichheit und die „Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung“ (Frieden S. 204). Im Gemeinspruch und in der Metaphysik dagegen führt er als apriorische Prinzipien des bürgerlichen Zustandes neben Freiheit und Gleichheit die Selbständigkeit ein85 und beschränkt das Recht zur politischen Partizipation auf die Menschen, die dieses Kriterium erfüllen. Diese Einschränkung erläutert er im Gemeinspruch wie folgt: „3. Die Selbständigkeit . . . eines Gliedes des gemeinen Wesens als Bürgers, d. i. als Mitgesetzgebers. In dem Punkte der Gesetzgebung selbst sind alle, die unter schon vorhandenen öffentlichen Gesetzen frei und gleich sind, doch nicht, was das Recht betrifft, diese Gesetze zu geben, alle für gleich zu achten. Diejenigen, welche dieses Rechts nicht fähig sind, sind . . . Schutzgenossen.“ (Gemeinspruch S. 150)

Auch in der Metaphysik unterscheidet er anhand dieses Kriteriums zwei Klassen von Bürgern: „. . . die Fähigkeit der Stimmgebung . . . setzt die Selbständigkeit dessen im Volk voraus . . . Die letztere Qualität macht aber die Unterscheidung des aktiven vom passiven Staatsbürger notwendig . . .“ (§ 46, S. 432 f.)

Kant weist jedoch ausdrücklich darauf hin, daß diese Differenzierung nur die positive Freiheit und bürgerliche Gleichheit, nicht aber die negative Freiheit und natürliche Gleichheit der Menschen einschränkt. So betont er im Gemeinspruch: „Diejenigen, welche dieses Rechts nicht fähig sind, sind gleichwohl, als Glieder des gemeinen Wesens, der Befolgung dieser Gesetze unterworfen, und dadurch des Schutzes nach denselben teilhaftig . . .“ (Gemeinspruch S. 150)

Auch in der Metaphysik weist er darauf hin, „daß, welcherlei Art die positiven Gesetze . . . auch sein möchten, sie doch den natürlichen der Freiheit und der dieser angemessenen Gleichheit aller im Volk, sich nämlich aus diesem passiven Zustande zu dem aktiven empor arbeiten zu können, nicht zuwider sein müssen.“ (§ 46, S. 434)

Als Kriterien der Selbständigkeit führt Kant sowohl biologische als auch ökonomische Faktoren an. Der erste Aspekt schließt Frauen und Unmündige, zu denen auch Kinder gehören, vom Wahlrecht aus, der zweite Aspekt alle wirtschaftlich Abhängigen:

85

s. Gemeinspruch S. 145, Metaphysik § 46, S. 432.

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„Derjenige nun, welcher das Stimmrecht in dieser Gesetzgebung hat, heißt ein Bürger . . . Die dazu erforderliche Qualität ist, außer der natürlichen (daß es kein Kind, kein Weib sei), die einzige: daß er sein eigener Herr (sui iuris) sei, mithin irgend ein Eigentum habe (wozu auch jede Kunst, Handwerk, oder schöne Kunst, oder Wissenschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt . . .“ (Gemeinspruch S. 151)

Auch in der Metaphysik weist Kant darauf hin, daß „der Unmündige (naturaliter vel civiliter); alles Frauenzimmer . . . der bürgerlichen Persönlichkeit“ entbehrt (§ 46, S. 433). Den ökonomischen Aspekt der Selbständigkeit erläutert er näher wie folgt: „. . . d. i. daß er, in denen Fällen, wo er von andern erwerben muß, um zu leben, nur durch Veräußerung dessen was sein ist erwerbe, nicht durch Bewilligung, die er anderen gibt, von seinen Kräften Gebrauch zu machen, folglich daß er niemanden als dem gemeinen Wesen im eigentlichen Sinne des Worts diene.“ (Gemeinspruch S. 151)

Selbständig sind damit zunächst die Männer, die nicht auf eine Erwerbstätigkeit angewiesen sind, etwa Landbesitzer; von denen, die sich ihren Lebensunterhalt durch Arbeit verdienen müssen, sind nur die als selbständig anzusehen, die nicht ihre bloße Arbeitskraft „verkaufen“, d. h. nicht bloß „dienen“. In der Metaphysik fordert Kant vom Selbständigen, er müsse „. . . aus eigener Willkür in Gemeinschaft mit anderen handelnder Teil desselben [des Volkes] sein . . .“ (§ 46, S. 432 f.). Zur näheren Erläuterung seiner Position führt Kant einige Beispiele an und unterscheidet etwa den Friseur vom Perückenmacher, den „Holzhacker, den ich auf meinem Hofe anstelle . . ., in Vergleichung mit dem . . . Tischler . . ., der die Produkte aus dieser Arbeit als Ware öffentlich feil stellen kann“ oder den „Hauslehrer in Vergleichung mit dem Schulmann“ (§ 46, S. 433, s. auch Gemeinspruch S. 151). Am letzteren Beispiel zeigt sich, daß nicht nur der Verkauf selbst produzierter Waren den Selbständigen ausmacht, sondern daß auch geistige Leistungen als veräußerbare Produkte in Betracht kommen. Entsprechend betont Kant im Gemeinspruch, daß zum „Eigentum . . ., welches ihn ernährt“ „auch jede Kunst, Handwerk, oder schöne Kunst, oder Wissenschaft gezählt werden kann“ (Gemeinspruch S. 151). Nicht nur Warenproduzenten sind damit aktive Staatsbürger,86 sondern auch Künstler, Wissenschaftler und Beamte.87 Die letzteren hebt Kant sowohl im Gemeinspruch als auch in der Metaphysik von anderen „dienenden“ Berufen ab: der, der „niemanden als dem gemeinen Wesen im eigentlichen Sinne des Worts“ dient (Gemeinspruch S. 151), d. h. dem Staat selbst, ist stimmberechtigt. Dies betont Kant auch in der Metaphysik: aus-

86 So etwa Fetscher, I., Reformismus (1976), S. 184; Saage, R., Eigentum (1973), S. 87. 87 s. hierzu Luf, G., Freiheit (1978), S. 159–161.

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geschlossen vom Wahlrecht ist „der Dienstbote (nicht der im Dienste des Staats steht)“ (§ 46, S. 433). Damit sind nach heutiger Diktion vor allem die Arbeitnehmer von der politischen Partizipation ausgeschlossen.88 Neben dieser Differenzierung nach dem Kriterium der Selbständigkeit lehnt Kant weitere Einschränkungen des Wahlrechts ab, insbesondere eine Unterscheidung zwischen den nicht erwerbstätigen und den erwerbstätigen Selbständigen: „Hier sind nun Kunstverwandte und große (oder kleine) Gutseigentümer alle einander gleich, nämlich jeder nur zu einer Stimme berechtigt.“ (Gemeinspruch S. 151). Auch ein Mehrklassenwahlrecht, gekoppelt an die Größe des Grundbesitzes, lehnt er dezidiert ab: „so muß nach den Köpfen derer, die im Besitzstand sind, nicht nach der Größe der Besitzungen, die Zahl der Stimmfähigen zur Gesetzgebung beurteilt werden.“ (Gemeinspruch S. 152). Das später in Preußen durch die Verfassung von 1850 eingeführte Dreiklassenwahlrecht wäre damit von ihm mißbilligt worden.89 (1) Grund für den Ausschluß vom Stimmrecht Kant schließt die Unselbständigen von der politischen Partizipation aus, weil er davon ausgeht, daß sie in ihrer Willensbildung unfrei sind und sich am Willen anderer orientieren; in der Metaphysik schreibt er ihnen „Abhängigkeit vom Willen anderer“ zu (§ 46, S. 433). Dies ist jedoch nicht bezüglich aller von ihm genannten Gruppen plausibel; insbesondere ist seine Annahme nicht überzeugend, daß die ökonomische automatisch auch eine geistige Abhängigkeit nach sich zieht. Selbst wenn dies zu Kants Zeit so gewesen sein mag, handelt es sich dabei nicht um einen unumstößlichen, überzeitlich gültigen Grundsatz, denn die weitere geschichtliche Entwicklung hat gezeigt, daß die Lohnabhängigkeit nicht zur Absorption der Ansichten des Arbeitgebers führt. Ganz im Gegensatz hat sich die Arbeiterschaft im Zuge der industriellen Entwicklung gerade als eigenständiges politisches Lager formiert, dessen Interessen denen der Arbeitgeber oft entgegengesetzt sind und das diese Interessen eigenständig wahrnimmt und gegenüber den Arbeitgebern vertritt.90 Auch der angeblich „natürliche“ Ausschluß der Frauen vom Stimmrecht erscheint heute angesichts ihrer Rolle im öffentlichen Leben und ihrer Leistungen nicht mehr als vernunftgeboten, sondern als vernunftwidrig. Die genannten ökonomischen und biologischen Faktoren heben nicht per se die Fähigkeit zum eigenverantwortlichen Handeln „aus eigener Willkür“ auf (§ 46, S. 432), sondern erst aufgrund der zu Kants Zeiten vorherrschenden Ge-

88 89 90

Krüger, H., Kant (1969), S. 55. s. auch Fetscher, I., Reformismus (1976), S. 185. s. hierzu Luf, G., Freiheit (1978), S. 157.

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sellschaftsstruktur,91 d. h. erst aufgrund von Zusatzbedingungen. Diese Bedingungen sind zeitgebunden; Kants entsprechende Ausführungen spiegeln die damaligen politischen Verhältnisse wider. Der Ausschluß von Frauen und der von Kant genannten Berufsstände (wie etwa Gesellen und Dienstboten) vom Wahlrecht war damals eine Selbstverständlichkeit.92 Diesen Ausführungen Kants liegt die traditionelle Vorstellung der Hausgemeinschaft zugrunde, nach der diese Gemeinschaft nicht nur wirtschaftliche, sondern auch soziale Bedeutung hatte und der Hausherr, der pater familias, als allein Handlungsberechtigter die Angehörigen des Hauses (einschließlich der Dienstboten) gegenüber der Außenwelt vertrat.93 Dies erklärt auch, warum der Beamte als Staatsdiener im Gegensatz zu anderen „dienenden“ Berufen von Kant als selbständig und damit wahlberechtigt eingestuft wird: da der Beamte keinem anderen Untertanen, sondern dem Staat selbst dient, kann er von keinem anderen ihm vorgesetzten Herrn gegenüber dem Staat vertreten werden.94 Kant füllt das nach seinem Konzept normative Prinzip der Selbständigkeit mit empirischen Kriterien aus und erklärt damit die damaligen Gegebenheiten zum Vorbild; ihnen wird so eine präskriptive Wirkung zugeschrieben, die auch für die heutige Zeit noch verbindlich sein soll. Eine derartige Begrenzung des politischen Mitspracherechtes ist aber heutzutage – zumindest in säkularen, demokratischen Staaten – nicht mehr zu rechtfertigen und schon gar nicht als a priori geboten anzusehen. Mit einer solchen aposteriorischen Ausfüllung des 91

In anderen Schriften äußert sich Kant kritisch zu den bestehenden politischen Verhältnissen. So weist er bereits in der Aufklärung darauf hin, daß Frauen das Vermögen, eigenständig zu denken, nicht von Natur aus versagt ist, sondern ihre Mündigkeit durch die Tradition und gesellschaftlichen Konventionen behindert wird: „Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben, und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften: so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern, und schreckt gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.“ (Aufklärung S. 53 f.) Zu Kants Ansichten über Frauen und ihre Stellung s. Jauch, U. P., Geschlechterdifferenz (1988). Auch in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Religion) von 1793 plädiert Kant für eine Ausweitung des Rechts auf politische Partizipation und nennt als Beispiel „die Leibeigenen eines Gutseigentümers“, s. Religion S. 862 f., Anmerkung. 92 Krüger, H., Kant (1969), S. 55. 93 So etwa Krüger, H., Staatslehre (1964), S. 157; Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 162; Luf, G., Freiheit (1978), S. 161–163; ablehnend allerdings Langer, C., Prinzipien (1986), S. 134 f. Zur geschichtlichen Kontinuität des Bürgerverständnisses von Aristoteles bis zur Französischen Revolution s. Bien, G. Bürgerbegriff (1976), S. 78– 81. 94 Ebbinghaus, J., System (1964), S. 186; Krüger, H., Staatslehre (1964), S. 157.

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angeblich apriorischen Prinzips der Selbständigkeit nimmt Kant eine Vermischung der Kategorien vor, die seiner kritischen Rechtsphilosophie nicht gerecht wird.95 Angesichts dessen und angesichts der Veraltung von Kants Kriterien wird teilweise vertreten, das Prinzip der Selbständigkeit sei obsolet, es sei kein apriorisches Prinzip und könne weder ein Kriterium des Gesellschaftsvertrages noch ein Moment des bürgerlichen Zustandes sein.96 (2) Unterscheidung zwischen apriorischem Prinzip und empirischer Ausfüllung Diese Kritik ist aber nicht zutreffend; Kants Begründung des Ausschlusses der Unselbständigen von der politischen Partizipation zeigt vielmehr, daß das Kriterium der Selbständigkeit durchaus vernunftgeboten ist. Die Funktion des Kriteriums beschreibt Kant näher im Gemeinspruch, in dem er in bezug auf den allgemein vereinigten Willen schreibt: „Eigentlich kommen, um diesen Begriff auszumachen, die Begriffe der äußeren Freiheit, Gleichheit, und Einheit des Willens aller zusammen, zu welcher letzteren, da Stimmgebung erfordert wird, wenn beide erstere zusammen genommen werden, Selbständigkeit die Bedingung ist. Man nennt dieses Grundgesetz, das nur aus dem allgemeinen . . . Volkswillen entspringen kann, den ursprünglichen Vertrag.“ (Gemeinspruch S. 150 f.)

Kant betont, daß Selbständigkeit Voraussetzung für das Wahlrecht ist und sein muß, wenn Freiheit und Gleichheit („beide erstere“) gewahrt bleiben sollen.97 Denn der Unselbständige trifft per definitionem keine freien, eigenen Entscheidungen, sondern orientiert sich an anderen oder läßt sich von ihnen beeinflussen. Damit aber wird seine Stimme zu jener des Beeinflussenden, dem er seine Stimme quasi leiht. Dies hätte Konsequenzen bezüglich der Gleichheit und Freiheit: der geistige Vormund des Unselbständigen hätte mehr Stimmen als andere, an denen sich niemand orientiert, und in der Wahl würden nicht 95 s. hierzu Höffe, O., Kant (1996), S. 231; Kersting, W., Concept (1992), S. 153 f.; ders., Freiheit (1993), S. 381–389; Riedel, M., Herrschaft (1974), S. 249–251. 96 Zum Meinungsstand s. Schild, W., Strukturmomente (1981), S. 140–142. Ablehnend auch Kersting, W., Freiheit (1993), S. 385. 97 Diese Passage läßt sich noch auf eine weitere Art lesen; der Teil „wenn beide erstere zusammen genommen werden“ könnte sich auch auf das vorangehende „da Stimmgebung erfordert wird“ beziehen. Damit würde Kant darauf hinweisen, daß zur Einheit des Willens der freien und gleichen Menschen ihre Stimmgebung erfordert wird, würde also auch an dieser Stelle den Zusammenhang zwischen allgemein vereinigtem Willen (bzw. der Idee desselben) und vertraglicher Übereinkunft herausstellen. Nur durch einen (gedanklichen) vertraglichen Zusammenschluß kann die Freiheit und Gleichheit bei der virtuellen Zusammenfassung der Einzelwillen zum Gesamtwillen gewahrt bleiben. Allerdings würde diese Lesart nicht begründen, warum die Selbständigkeit Bedingung für die Stimmgebung ist.

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mehr nur die Stimmen wirklich freier Menschen zum Ausdruck kommen.98 Daher ist die Beschränkung des Partizipationsrechtes auf die Selbständigen zur Sicherung der Freiheit und Gleichheit des politischen Willensbildungsprozesses nötig und damit vernunftgeboten.99 Entsprechend betont Kant im Gemeinspruch im Hinblick auf Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit: „Diese Prinzipien sind nicht sowohl Gesetze, die der schon errichtete Staat gibt, sondern nach denen allein eine Staatserrichtung reinen Vernunftprinzipien des äußeren Menschenrechts überhaupt gemäß, möglich ist.“ (Gemeinspruch S. 145)

Allerdings stellt sich die Selbständigkeit nur dann als apriorisches Kriterium dar, wenn sie von empirischen Faktoren wie etwa der wirtschaftlichen Stellung entkoppelt und auf ihren Kerngehalt, die geistige Unabhängigkeit, reduziert wird. Diesen Schritt vollzieht Kant in der Metaphysik; bei genauerer Betrachtung zeigt sich, daß sich seine Position hier gegenüber der des Gemeinspruchs entscheidend weiterentwickelt hat.100 Anders als in der früheren Schrift trennt Kant in der Metaphysik streng zwischen der Selbständigkeit als apriorischem Prinzip und der empirischen Rechtspraxis;101 diese Differenzierung bringt er 98

s. auch Ebbinghaus, J., System (1964), S. 188. Insofern stellt sich „Selbständigkeit in bezug auf diese [Freiheit und Gleichheit] als ein explikatives Moment . . . und nicht als ein additives“ dar, wie Bartuschat, W., Trias (1999), S. 15, es formuliert. s. auch ebd. S. 21. Für die apriorische Gebotenheit des Selbständigkeitskriteriums auch Ebbinghaus, J., System (1964), S. 188 f.; Schild, W., Strukturmomente (1981), S. 142–144, 155. Aus den dargelegten Gründen ist Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 24, nicht zuzustimmen, wenn sie davon ausgeht, daß „bei Kant die Kombination von Stimmrecht und Selbständigkeit lediglich unter dem ,Erlaubnisgesetz‘ steht und eine bloß provisorische Verbindlichkeit besitzt“. Auch die folgende Auffassung Unruhs ist nicht überzeugend: „Das Prinzip der Selbständigkeit ist in Kants Ausgestaltung vernunftrechtlich nicht zu begründen. Es hält einer kritischen Überprüfung anhand seiner eigenen philosophischen Standards nicht stand. Ohne den Kantischen Intentionen Gewalt anzutun, läßt es sich auch nicht sinnvoll, bzw. methodenkonform modifizieren.“ s. Unruh, P., Vernunft (1993), S. 156. 100 Dies verkennt Langer, C., Prinzipien (1986), S. 136. Entsprechend versucht sie die Unterschiede zwischen dem Frieden und den beiden anderen Schriften durch die These zu erklären, „daß die Entwürfe im ,Gemeinspruch‘ und in der Rechtslehre Zwischenzuständen bzw. Durchgangsstufen Rechnung tragen“, s. a. a. O., S. 137. Dies trifft aber nur teilweise zu, nämlich bezüglich des Anmerkungsteils der Metaphysik. Bezüglich des dortigen Textteils und des Gemeinspruchs aber ist dies unzutreffend; hier betont Kant gerade, daß er die apriorischen Prinzipien des idealen, noumenalen Staates darstellt, d. h. das anzustrebende Ziel. Auch Langers Hinweis, daß nur der Frieden die „republikanische“, die beiden anderen Schriften aber die „bürgerliche“ Verfassung beschreiben (ebd.), vermag wohl nicht weiterzuhelfen, denn Kant versteht unter der bürgerlichen Verfassung in beiden Schriften den Staat „bloß als rechtlicher Zustand“ (Gemeinspruch S. 145) bzw. als „Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll“ (§ 45, S. 431). Auf eben dieses Vorbild für alle realen Staaten bezieht er sich aber auch im Frieden, in dem er die republikanische Verfassung sieht als „die einzige, welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrags hervorgeht, auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volks gegründet sein muß“ (Frieden S. 204). 101 Entgegen Unruhs Annahme ist damit eine „text-exegetisch kohärente Interpretation des Selbständigkeit-Kriteriums“ als vernunftrechtliches Prinzip möglich, die nicht 99

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durch die Textgestaltung zum Ausdruck. Seine empirischen Erläuterungen und Beispiele finden sich hier in einer eingerückten Anmerkung,102 und in der Vorrede zur Rechtslehre weist Kant darauf hin, daß nur der Text sich auf das apriorische System bezieht, die Anmerkungen dagegen auf „die Rechte . . ., welche auf besondere Erfahrungsfälle bezogen werden“ (S. 309), d. h. auf die empirische Rechtspraxis. Daß nicht nur die explizite Bezeichnung als Anmerkung, sondern auch das Einrücken von Text eine solche kennzeichnet, ergibt sich aus dem Vergleich mit einer späteren Stelle, nämlich § 52, in dem Kant seine Ausführungen zur Französischen Revolution – einem Erfahrungsfall – ebenfalls durch Einrücken vom Textteil absetzt (s. § 52, S. 465). Anders als noch im Gemeinspruch weist Kant damit in der Metaphysik durch die Textgestaltung explizit darauf hin, daß seine empirischen Ausführungen zur Selbständigkeit sich eben nur auf „Erfahrungsfälle“ beziehen und nicht zum apriorischen System gehören.103 Ein solcher Erfahrungsfall ist auch die politische und gesellschaftliche Situation seiner Zeit, die Kant in der Anmerkung darstellt. Daß sich Kants Position in der Metaphysik gegenüber jener im Gemeinspruch weiterentwickelt hat, zeigt sich auch daran, daß er in der älteren Schrift als apriorische Kriterien des bürgerlichen Zustandes neben der Selbständigkeit nur die negative Freiheit und die Gleichheit als Untertan sieht, in der Metaphysik dagegen die positive Freiheit und Gleichheit als Staatsbürger.104 (3) Apriorisches Kriterium: Mündigkeit Im Textteil der Metaphysik nennt Kant als Voraussetzung des Rechts zur politischen Partizipation die „Selbständigkeit, seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines anderen im Volke, sondern seinen eigenen Rechten und Kräften, als Glied des gemeinen Wesens verdanken zu können, folglich die bürgerliche Persönlichkeit, in Rechtsangelegenheiten durch keinen anderen vorgestellt werden zu dürfen.“ (§ 46, S. 432)

„über die Kantischen Ausführungen hinausreicht“, s. Unruh, P., Vernunft (1993), S. 152. 102 Hierauf weisen auch Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 465 f., Fn. 138, hin, die das Kriterium der Selbständigkeit allerdings im Rahmen der respublica noumenon für „zweifellos . . . fehl am Platze“ halten. Sie übersehen jedoch offensichtlich, daß Kant die Selbständigkeit nicht nur in der eingerückten Anmerkung, sondern auch zuvor im Textteil als Attribut des Staatsbürgers erwähnt. 103 So auch Küsters, G.-W., Rechtsphilosophie (1988), S. 122. Er geht davon aus, daß die von Kant aufgeführten Beispiele „sich aus der Anwendung der Selbständigkeitsforderung auf die historische Wirklichkeit“ ergeben und „nicht die Rechtfertigung der genannten Unselbständigkeiten“ sind. Allerdings sieht Küsters das Innehaben von Eigentum als – offensichtlich legitime – Bedingung der Selbständigkeit; auch dieses Kriterium ist aber nur empirisch zu bestimmen und damit zufällig. 104 s. Gemeinspruch S. 145; Metaphysik § 46, S. 432.

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Das Recht zur Mitgestaltung der politischen Verhältnisse sollen danach nur die Menschen haben, die nicht der Willkür anderer unterworfen sind, sondern eigenständige Entscheidungen treffen und autonom sind. Nur diejenigen, die die „bürgerliche Persönlichkeit“ haben, d. h. im privaten Bereich ihre eigenen Angelegenheiten wahrnehmen und selbst entscheiden und handeln, sollen auch im öffentlichen, politischen Bereich entscheidungsbefugt sein.105 Lediglich ein von Kant in den Anmerkungen genanntes Kriterium schließt a priori, unabhängig von etwaigen weiteren Bedingungen, die Fähigkeit zu selbstbestimmter, eigenverantwortlicher Entscheidung aus, nämlich die Unmündigkeit.106 Kant definiert sie in der Aufklärung wie folgt: „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (Aufklärung S. 53). Unmündige sind per definitionem außerstande, selbständig Entscheidungen zu treffen und unabhängig vom Einfluß anderer zu denken und handeln; sie bedürfen der Wahrnehmung ihrer Interessen durch andere. Kant teilt sie in zwei Gruppen ein, nämlich in die Unmündigen „naturaliter vel civiliter“ (§ 46, S. 433); er geht damit davon aus, daß die Unmündigkeit auf natürlichen oder auf bürgerlichen bzw. zivilrechtlichen Umständen beruhen kann. Die natürliche ist die Unmündigkeit des Kindes, das noch nicht eigenständig denken und handeln kann und dem die geistige Reife fehlt, die Konsequenzen seiner Handlungen zu überblicken. Da ihm diese Eigenverantwortlichkeit und Einsichtsfähigkeit fehlt und es auch im privaten Bereich keine selbständigen Entscheidungen trifft, sondern auf seine Eltern angewiesen ist, ist es vernunftgeboten, ihm auch im politischen Prozeß keine Stimme zu verleihen.107 Das gleiche gilt für die Unmündigen „civiliter“, unter denen Kant offensichtlich jene Menschen versteht, die eigentlich mündig wären, d. h. keine Kinder mehr sind, aber dennoch keine eigenständigen Entscheidungen treffen können – wie etwa geistig behinderte Menschen.108 Durch das Kriterium der Mündigkeit 105 Kants Definition des Selbständigen im Anmerkungsteil als „aus eigener Willkür in Gemeinschaft mit anderen handelnder Teil“ des Volkes (§ 46, S. 432 f.) hat damit Berechtigung, wenn man dieses Handeln nicht im obigen ökonomischen Sinne als „Handel treiben“ versteht, sondern allgemein als „agieren“. Die Selbständigkeit und damit das Wahlrecht steht all jenen Menschen zu, die eigenständig entscheiden und frei denken und handeln können. 106 s. hierzu Schild, W., Strukturmomente (1981), S. 143–145. 107 Den obigen Überlegungen entsprechend haben etwa in der Bundesrepublik Kinder und Jugendliche kein Wahlrecht (s. § 12 Abs. 1 Nr. 1 Bundeswahlgesetz (BWG)), und auch die Unmündigen „civiliter“ sind nach § 13 Nr. 2 BWG vom Wahlrecht ausgeschlossen, nämlich – in heutiger Terminologie – betreute Personen (s. §§ 1896 ff. BGB), die früher als entmündigt bezeichnet wurden. Der Ausschluß der Kinder vom Wahlrecht hat in jüngerer Zeit Bestätigung durch das Scheitern des Vorstoßes erfahren, Eltern für ihre Kinder wählen zu lassen. Dies wäre eine indirekte Verleihung des Wahlrechts an Kinder gewesen, die jedoch keine Mehrheit gefunden hat. 108 Entsprechend weist Kant in der Tugendlehre darauf hin, daß man diesen beiden Personengruppen im Rahmen der Wohltätigkeit die eigenen Vorstellungen aufoktroyie-

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als einziger Bedingung des apriorischen Prinzips der Selbständigkeit werden also in erster Linie Kinder von der politischen Partizipation ausgeschlossen, d. h. das Alter wird als Differenzierungskriterium angesetzt. Dieses Kriterium ist im Gegensatz zu den anderen von Kant genannten nicht zufällig, sondern – für alle Menschen – universal gültig, denn jeder Mensch durchläuft das Entwicklungsstadium der Kindheit.109 Zur näheren Bestimmung der Mündigkeit und damit indirekt auch zum Erreichen des Wahlalters äußert sich Kant im Rahmen des Elternrechts wie folgt: „Die Kinder des Hauses . . . werden, auch ohne allen Vertrag der Aufkündigung ihrer bisherigen Abhängigkeit, durch die bloße Gelangung zu dem Vermögen ihrer Selbsterhaltung (so wie es, teils als natürliche Volljährigkeit . . ., teils ihrer besonderen Naturbeschaffenheit gemäß, eintritt) mündig (maiorennes), d. i. ihre eigenen Herren (sui iuris), und erwerben dieses Recht ohne besonderen rechtlichen Akt, mithin bloß durchs Gesetz . . .“ (§ 30, S. 395 f.)

Eine Altersgrenze zieht Kant dabei nicht, denn diese Entscheidung ist eine Abwägungsfrage, die von empirischen Fakten abhängt, insbesondere der durchschnittlichen Entwicklung und Reife der Kinder und Jugendlichen. Diese kann jedoch nur als Durchschnittswert ermittelt werden, von dem starke individuelle Abweichungen vorliegen, und sie kann sich mit der gesellschaftlichen Entwicklung ändern.110 Als solchermaßen verstandenes apriorisches Prinzip des idealen bürgerlichen Zustandes hat die Selbständigkeit für die realen Staaten präskriptive Funktion und fordert die Verleihung des Rechtes auf politische Partizipation an alle mündigen Bürger.111 ren darf: „Ich kann niemand nach meinen Begriffen von Glückseligkeit wohltun (außer unmündigen Kindern oder Gestörten), sondern nach jenes seinen Begriffen, dem ich eine Wohltat zu erweisen denke, indem ich ihm ein Geschenk aufdringe.“ (Tugendlehre S. 591) 109 Ebbinghaus, J., System (1964), S. 182 weist darauf hin, daß das „Grundrecht der Gleichheit verbietet“, „die zufälligen natürlichen Verschiedenheiten der Menschen zum Rechtsgrunde einer Verschiedenheit in den[. . .] gesetzlichen Einschränkungen ihrer Freiheit zu machen“. Dennoch scheint er Differenzierungen nach dem Geschlecht für möglich bzw. sogar erforderlich zu halten, s. S. 185. 110 s. hierzu etwa Kants Ausführungen in seiner Schrift Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (Anfang), S. 94, in der er den Eintritt der Mündigkeit im „rohen Naturzustande“ auf etwa 16 bis 17 Jahre festlegt, im „kultivierten Zustande hingegen . . . wenigstens im Durchschnitte um 10 Jahre weiter hinausgerückt“ sieht. Zu den Diskussionen um das Wahl- und das Volljährigkeitsalter in der Bundesrepublik in den Jahren 1970 und 1974 s. Schild, W., Strukturmomente (1981), S. 145–147. 111 s. auch Bartuschat, W., Trias (1999), S. 24. Entsprechend bezeichnet Kant die Selbständigkeit in der Metaphysik auch explizit als Recht der Menschen: „Freiheit . . . ist diese einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht. – Die angeborne Gleichheit, d. i. die Unabhängigkeit, nicht zu mehrerem von anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann; mithin die Qualität des Menschen, sein eigener Herr (sui iuris) zu sein . . . – alle diese

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4. In der Metaphysik, im Frieden und Streit: Kriterium bezüglich der Verfassung Erst wenn jeder mündige Bürger in gleicher Weise an der politischen Willensbildung beteiligt ist, ist das Volk im Staat keiner fremden, sondern allein der eigenen Willkür unterworfen; erst wenn dieser Zustand erreicht ist, sind die Prinzipien des Gesellschaftsvertrages umfassend verwirklicht und ist die Forderung des kategorischen Imperativs erfüllt, nach dem der Mensch als Staatsbürger „im Staat immer als mitgesetzgebendes Glied betrachtet werden muß (nicht bloß als Mittel, sondern auch zugleich als Zweck an sich selbst) . . .“ (§ 55, S. 469).112 Solange die Zustimmung des Volkes lediglich durch die Prüfung der Konsensfähigkeit der Gesetze virtualisiert wird, werden seine Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit nur simuliert. Daher erstreckt sich die normative Funktion des Gesellschaftsvertrages nicht nur auf die einfachen Gesetze, sondern auf die dem Staat zugrundeliegenden Prinzipien; letztlich muß seine Verfassung113 selbst zum Objekt der Veränderung werden,114 wie Kant in der Metaphysik betont: „Es muß aber dem Souverän doch möglich sein, die bestehende Staatsverfassung zu ändern, wenn sie mit der Idee des ursprünglichen Vertrags nicht wohl vereinbar ist . . .“ (§ 52, S. 463)115

Diese erweiterte kriteriologische Funktion des Gesellschaftsvertrages spricht Kant zwar bereits im Gemeinspruch kurz an;116 erst in den späteren Schriften Befugnisse liegen schon im Prinzip der angebornen Freiheit, und sind wirklich von ihr nicht . . . unterschieden.“ (S. 345 f.) Die Qualität, sein eigener Herr zu sein, ist für Kant ein Synonym bzw. die Voraussetzung für Selbständigkeit, s. auch Langer, C., Prinzipien (1986), S. 134. Dies ergibt sich aus dem Gemeinspruch, in dem Kant betont: „Die dazu [zur Selbständigkeit] erforderliche Qualität ist . . . die einzige: daß er sein eigener Herr (sui iuris) sei . . .“ (Gemeinspruch S. 151) 112 Vgl. folgende Fassung in der GMS: „Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (GMS S. 61) 113 Kersting, W., Freiheit (1993), S. 453 f., geht davon aus, daß sich aus Kants Konzeption der Gedanke einer geschriebenen Verfassung (als Grundrechtskatalog) ergibt; a. A. Dreier, H., Repräsentation (AöR 113, 1988), S. 479 ff., der die Verfassung im Sinne Kants vor allem als Organisationsgrundgesetz sieht (s. S. 481). 114 So auch Langer, C., Prinzipien (1986), S. 82. Dies verkennt beispielsweise Bobbio, N., Notions (AdPP 4, 1962), S. 111. 115 Die eingeschränktere Funktion des Gesellschaftsvertrages als Beurteilungskriterium nur für einfache Gesetze findet sich in der Metaphysik lediglich in den Anmerkungen, die sich mit der empirischen Rechtspraxis beschäftigen (s. dazu S. 309). So schreibt Kant in bezug auf die Reformierbarkeit des Kirchenwesens: „denn, was das gesamte Volk nicht über sich selbst beschließen kann, das kann auch der Gesetzgeber nicht über das Volk beschließen.“ (AA C, S. 448) Auch bezüglich der Verteilung der (bürgerlichen) Ämter und der Berechtigung eines erblichen Adels findet sich dieses Kriterium in ähnlicher Formulierung (s. AA D, S. 449 und 450).

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weist er aber darauf hin, daß die Ausrichtung der Verfassung an den Vertragsprinzipien eine Pflicht des Herrschers darstellt.117 So betont Kant im Streit der Fakultäten: „Die Idee einer mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Konstitution: daß nämlich die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, vereinigt, gesetzgebend sein sollen, liegt bei allen Staatsformen zum Grunde, und das gemeine Wesen, welches, ihr gemäß, durch reine Vernunftbegriffe gedacht, ein platonisches Ideal heißt (respublica noumenon), ist nicht ein leeres Hirngespinst, sondern die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt . . . Eine dieser gemäß organisierte bürgerliche Gesellschaft ist die Darstellung derselben nach Freiheitsgesetzen durch ein Beispiel in der Erfahrung (respublica phaenomenon) . . .; mithin ist es Pflicht, in eine solche einzutreten . . .“ (Streit S. 364)

Kant erwähnt hier zwar den Gesellschaftsvertrag nicht explizit, betont aber, daß sein Prinzip, nämlich die Abhängigkeit vom vereinigten und damit (auch) vom eigenen Willen, den Staat mit dem „natürlichen Rechte der Menschen“, d. h. mit seiner Freiheit kompatibel macht und die Herbeiführung dieses Zustandes Pflicht ist. Auch im Frieden weist Kant auf die präskriptive Funktion des Gesellschaftsvertrages für die Verfassung der bestehenden Staaten hin: „Die erstlich nach Prinzipien der Freiheit der Glieder einer Gesellschaft (als Menschen); zweitens nach Grundsätzen der Abhängigkeit aller von einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung (als Untertanen); und drittens, die nach dem Gesetz der Gleichheit derselben (als Staatsbürger) gestiftete Verfassung – die einzige, welche aus der Idee des ursprünglichen Vertrags hervorgeht, auf der alle rechtliche Gesetzgebung eines Volks gegründet sein muß – ist die republikanische.“ (Frieden S. 204)118

Indem Kant die Vorbildfunktion des Gesellschaftsvertrages in den späteren Schriften nicht mehr nur auf die einfachen Gesetze, sondern auch auf die Verfassung des Staates bezieht, radikalisiert er dessen Rolle und bringt eine Dyna116 s. Gemeinspruch S. 159: „Wenn man zu allererst gefragt hätte, was Rechtens ist (wo die Prinzipien a priori feststehen, und kein Empiriker darin pfuschen kann): so würde die Idee des Sozialkontrakts in ihrem unbestreitbaren Ansehen bleiben: aber nicht als Faktum . . ., sondern nur als Vernunftprinzip der Beurteilung aller öffentlichen rechtlichen Verfassung überhaupt.“ (Gemeinspruch S. 159) s. hierzu Höffe, O., Begründung (1979), S. 212 f. 117 So auch Langer, C., Prinzipien (1986), S. 82. 118 Zwar beschreibt Kant den bürgerlichen Zustand im Gemeinspruch ähnlich; im Frieden stellt Kant jedoch in einer Anmerkung zum obigen Zitat klar, daß er hier die positive Freiheit und die bürgerliche Gleichheit meint, die er als „angeborne. . ., zur Menschheit notwendig gehörende. . . und unveräußerliche. . . Rechte“ bezeichnet (s. Frieden S. 204). Im Gemeinspruch dagegen sieht Kant als apriorische Prinzipien des bürgerlichen Zustandes nur die negative Freiheit, die Gleichheit als Untertan und schließlich die – hier noch durch ökonomische und biologische Faktoren beschränkte – Selbständigkeit.

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mik119 und politische Sprengkraft in sein Konzept. Diese will er allerdings auf reformerischem, nicht revolutionärem Wege verwirklicht sehen, wie er in der Metaphysik betont: „Aber der Geist jenes ursprünglichen Vertrages . . . enthält die Verbindlichkeit der konstituierenden Gewalt, die Regierungsart jener Idee angemessen zu machen, und so sie, wenn es nicht auf einmal geschehen kann, allmählich und kontinuierlich dahin zu verändern, daß sie mit der einzig rechtmäßigen Verfassung, nämlich der einer reinen Republik, ihrer Wirkung nach zusammenstimme, und jene alte empirische (statutarische) Formen, welche bloß die Untertänigkeit des Volks zu bewirken dienten, sich in die ursprüngliche (rationale) auflösen, welche allein die Freiheit zum Prinzip, ja zur Bedingung alles Zwanges macht, der zu einer rechtlichen Verfassung, im eigentlichen Sinne des Staats, erforderlich ist, und dahin auch dem Buchstaben nach endlich führen wird.“ (§ 52, S. 464)

Zum besseren Verständnis dieser Ausführungen ist es nötig, eine Unterscheidung herauszuarbeiten, die Kant hier eher beiläufig trifft, nämlich jene zwischen Staatsform und Regierungsart. a) Unterscheidung „Regierungsart – Staatsform“ Letztere erwähnt Kant explizit, erstere klingt in seinem Verweis auf den „Buchstaben“ der Verfassung an, denn an anderer Stelle schreibt er: „Die Staatsformen sind nur der Buchstabe . . . der ursprünglichen Gesetzgebung im bürgerlichen Zustande“ (§ 52, S. 463). Nähere Ausführungen zu diesen Begriffen finden sich im Frieden: „Die Formen eines Staats . . . können entweder nach dem Unterschiede der Personen, welche die oberste Staatsgewalt inne haben, oder nach der Regierungsart des Volks durch sein Oberhaupt, er mag sein welcher er wolle, eingeteilt werden; die erste heißt eigentlich die Form der Beherrschung (forma imperii), und es sind nur drei derselben möglich, wo nämlich entweder nur einer, oder einige unter sich verbunden, oder alle zusammen, welche die bürgerliche Gesellschaft ausmachen, die Herrschergewalt besitzen (Autokratie, Aristokratie und Demokratie, Fürstengewalt, Adelsgewalt und Volksgewalt). Die zweite ist die Form der Regierung (forma regiminis), und betrifft die auf die Konstitution . . . gegründete Art, wie der Staat von seiner Machtvollkommenheit Gebrauch macht: und ist in dieser Beziehung entweder republikanisch oder despotisch.“ (Frieden S. 206)

Alle Staaten können nach zwei verschiedenen Merkmalen beurteilt werden: zum einen quantitativ nach der Zahl der Personen, die die Macht innehaben, zum anderen qualitativ nach der Art der Herrschaftsausübung. Das erste Kriterium, das er im Frieden „Form der Beherrschung“ nennt, bezeichnet er in der Metaphysik als „Staatsform“, das zweite, qualitative Kriterium nennt er dort 119 Diese Dynamik ergibt sich aus der Dynamik, die Kants Eigentumstheorie entwickelt und die im Postulat des öffentlichen Rechts zum Ausdruck kommt.

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„Regierungsart“ statt „Form der Regierung“.120 Auch in der Metaphysik unterscheidet Kant die drei Staatsformen Autokratie (oder Monarchie), Aristokratie und Demokratie: „. . . entweder daß einer im Staate über alle, oder daß einige, die einander gleich sind, vereinigt, über alle andere, oder daß alle zusammen über einen jeden, mithin auch über sich selbst gebieten, d. i. die Staatsform ist entweder autokratisch, oder aristokratisch, oder demokratisch.“ (§ 51, S. 461)

Eine ähnliche Einteilung findet sich bereits bei Aristoteles: Auch er zieht ein quantitatives und ein qualitatives Kriterium heran und teilt die Staaten danach ein, wieviele Personen herrschen und ob die Herrschaft von diesen Personen gemein- oder eigennützig ausgeübt wird. Dadurch kommt er zu einer doppelten Trichotomie der Staatsformen: den richtigen – weil gemeinnützigen – Formen Politie (Herrschaft der Vielen), Aristokratie und Monarchie stellt er ihre Parekbasen Demokratie bzw. Ochlokratie, Oligarchie und Tyrannis gegenüber, in denen eigennützig geherrscht wird.121 Im Unterschied zu Aristoteles entkoppelt Kant in der Metaphysik die Frage nach der Regierungsart, d. h. das qualitative Kriterium, vom quantitativen, nämlich von der Staatsform:122 die „richtige“, in der Terminologie des Friedens republikanische Regierungsart, ist nicht an eine bestimmte Staatsform gebunden, sondern in jeder Staatsform möglich; sie ist nicht in der von Kant als Autokratie bezeichneten Monarchie, der Aristokratie und Demokratie je unterschiedlich, sondern unabhängig von der Zahl der Herrschenden stets nach gleichen Kriterien zu bestimmen. Denn es gilt: „Die Staatsformen sind nur der Buchstabe . . . der ursprünglichen Gesetzgebung im bürgerlichen Zustande, und sie mögen also bleiben, so lange sie . . . für notwendig gehalten werden. Aber der Geist jenes ursprünglichen Vertrages enthält die Verbindlichkeit . . ., die Regierungsart jener Idee angemessen zu machen . . .“ (§ 52, S. 463 f.)

Laut Metaphysik kann also die Regierungsart in jeder Staatsform an Vertragsprinzipien ausgerichtet und diesen angenähert werden.123 Dabei stellt Kant der republikanischen Regierungsart in der Metaphysik nicht – wie im Frieden mit 120 Die Terminologie der Metaphysik verwendet Kant auch im Streit, in dem er im Zusammenhang mit der republikanischen Verfassung betont, daß sie „es entweder selbst der Staatsform nach sein mag, oder auch nur nach der Regierungsart“ (Streit S. 361). 121 Aristoteles, Politik, III 6, 1279 a 17 – III 7, 1279 b 10. Zu Aristoteles’ Konzept und den Unterschieden zum kantischen Entwurf s. Bien, G. Bürgerbegriff (1976), S. 82 f. und 97, Fn. 27. 122 s. hierzu Kersting, W., Verfassung (1995), S. 99; Ludwig, B., Kommentar (1999), S. 179. 123 Im zwei Jahre früher erschienenen Frieden vertritt Kant noch eine andere Position; dort nimmt er die (direkte) Demokratie von der Entkoppelung aus und bezeichnet sie als notwendig despotisch, s. Frieden S. 207 f. s. dazu unten 4. d).

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der despotischen Regierungsart – ein Gegenstück gegenüber; die Regierungsart läßt sich hier nicht in zwei scharf umgrenzte Kategorien einordnen, sondern ist – je nach ihrer Annäherung an das Ideal der reinen Republik – mehr oder weniger republikanisch (wobei Kant auch diesen Terminus hier nicht ausdrücklich verwendet). Kant nimmt in der Metaphysik also keine Zweiteilung, sondern eine Abstufung vor. b) Zunächst Republikanisierung der Regierungsart Kant lehnt in der Metaphysik eine Annäherung an die respublica noumenon durch eine Veränderung der Staatsformen ab: „Diese Veränderung kann nun nicht darin bestehen, daß der Staat sich von einer dieser drei Formen zu einer der beiden anderen selbst konstituiert, z. B. daß die Aristokraten einig werden, sich einer Autokratie zu unterwerfen, oder in eine Demokratie verschmelzen zu wollen, und so umgekehrt; gleich als ob es auf der freien Wahl und dem Belieben des Souveräns beruhe, welcher Verfassung er das Volk unterwerfen wolle. Denn selbst dann, wenn er sich zu einer Demokratie umzuändern beschlösse, würde er doch dem Volk unrecht tun können, weil es selbst diese Verfassung verabscheuen könnte, und eine der zwei übrigen für sich zuträglicher fände.“ (§ 52, S. 463)

Zwar kann der Souverän (und nur dieser)124 die Staatsverfassung im Hinblick auf das Prinzip des allgemein vereinigten Willens ändern; dabei ist er aber durch den – hier offensichtlich empirisch und nicht virtuell verstandenen – Volkswillen eingeschränkt.125 Solange die bestehende Staatsform vom Volk oder vom Herrscher für notwendig gehalten wird, darf sie nicht abgeändert werden, denn sonst würde diese Änderung nicht jedermanns freiem Willen entspringen, wäre also nicht mit der Freiheit aller Menschen vereinbar und daher nicht rechtmäßig. Zudem garantiert die Umwandlung lediglich der äußeren Form des Staates keine zunehmende Verrechtlichung der innerstaatlichen Verhältnisse; vielmehr könnte bei einer bloßen Änderung der Herrschaftsstruktur auch der status quo bestehen bleiben oder ein Rückschritt zu freiheitswidrigeren Verhältnissen erfolgen. Eine Annäherung an republikanische Prinzipien ist nur nach einer Änderung in der Einstellung aller Betroffenen zu erwarten, wie Kant in der Aufklärung betont: „Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen; sondern neue Vorurteile werden, eben sowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen.“ (Aufklärung S. 55) 124 125

s. dazu unten 5. s. hierzu Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 464 f.

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

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Um dieses Problem zu vermeiden und zu verhindern, daß dem Volk vom Herrscher eine Verfassung aufoktroyiert wird, die nicht auf die Zustimmung des ersteren trifft, sieht Kant ein differenziertes Vorgehen vor, das die Staatsform zunächst unberührt läßt und nur Auswirkungen auf die Regierungsart hat. Zunächst soll nur diese an den Prinzipien des Gesellschaftsvertrages ausgerichtet werden: „Die Staatsformen sind nur der Buchstabe . . . der ursprünglichen Gesetzgebung im bürgerlichen Zustande, und sie mögen also bleiben, so lange sie, als zum Maschinenwesen der Staatsverfassung gehörend, durch alte und lange Gewohnheit (also nur subjektiv) für notwendig gehalten werden. Aber der Geist jenes ursprünglichen Vertrages . . . enthält die Verbindlichkeit der konstituierenden Gewalt, die Regierungsart jener Idee angemessen zu machen, und so sie, wenn es nicht auf einmal geschehen kann, allmählich und kontinuierlich dahin zu verändern, daß sie mit der einzig rechtmäßigen Verfassung, nämlich der einer reinen Republik, ihrer Wirkung nach zusammenstimme . . .“ (§ 52, S. 463 f.)

Der Herrscher ist verpflichtet, zunächst das staatliche Handeln am Vertragsgedanken auszurichten und dessen Prinzipien zu simulieren,126 d. h. die Untertanen als freie, gleiche und selbständige Menschen zu behandeln. Damit entspricht Kants Forderung der Republikanisierung der Regierungsart jener aus den früheren Schriften, der Herrscher solle die Gesetze so geben, als seien sie dem allgemein vereinigten Willen des Volkes entsprungen.127 Die Verrechtlichung des Staates soll sich also nicht durch abrupte, einseitig angeordnete institutionelle Veränderungen vollziehen, sondern auf reformerischem Wege in einem evolutiven, konsensualen Prozeß. Allerdings soll die Annäherung der Regierungsart an Vertragsprinzipien im Gegensatz zur umfassenden Republikanisierung des Staates schnellstmöglich erfolgen; Kant betont, daß die Regierungsart nur dann, „wenn es nicht auf einmal geschehen kann, allmählich und kontinuierlich“ (§ 52, S. 464) verändert werden soll. Der zur Verrechtlichung erforderliche Reformprozeß wird durch die Aufklärung vorangetrieben,128 die durch die Gewährung von Meinungsfreiheit in Gang gesetzt wird:129 126 Dies wird auch in Kants Definition der republikanischen Regierungsart im Streit deutlich: „republikanisch (nicht demokratisch) zu regieren, d. i., das Volk nach Prinzipien zu behandeln, die dem Geist der Freiheitsgesetze . . . gemäß sind, wenn gleich dem Buchstaben nach es um seine Einwilligung nicht befragt würde.“ (Streit S. 364 f.) 127 s. Kersting, W., Freiheit (1993), S. 427. 128 Zu Kants Reformvorstellungen und der Funktion der Aufklärung s. Fetscher, I., Reformismus (1976), S. 193–196; Habermas, J., Publizität (1976); Unruh, P., Vernunft (1993), S. 66 ff. Zur aufklärerischen Funktion der philosophischen Fakultät s. Streit S. 289 ff., insb. S. 292; dazu auch Bevc, T., Revolution (1999). 129 Zur Gewährung von Meinungsfreiheit ist der Herrscher nach den Prinzipien des Gesellschaftsvertrages verpflichtet; zur Frage, was gilt, falls er dieser Verpflichtung nicht nachkommt, s. unten 5. c) (1).

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

„Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.“ (Aufklärung S. 55)

Hierdurch wird sich zunächst das Volk selbst aufklären, d. h. zur Mündigkeit emporarbeiten: „Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich.“ (Aufklärung S. 54)

Die fortschreitende Mündigkeit des Volkes wird dann ihrerseits Einfluß auf die Geisteshaltung des Herrschers haben: „Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien Denken, ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmählich zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach und nach fähiger wird), und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.“ (Aufklärung S. 61)130

Wenn sich die Menschen im Volk zunehmend als freie, gleiche und selbständige Personen sehen und dies auch artikulieren können, werden sie schließlich auch vom Herrscher als solche behandelt werden. c) Letztlich umfassende Republikanisierung Da diese Behandlung „als ob“ aber die staatsbürgerlichen Rechte des Volkes nur simuliert,131 betont Kant, daß es sich bei der Republikanisierung der Regierungsart nur um die Vorstufe zur umfassenden Verrechtlichung handelt:132 130 Dies betont Kant auch in der Idee: „Diese Aufklärung aber . . . muß nach und nach bis zu den Thronen hinauf gehen, und selbst auf ihre Regierungsgrundsätze Einfluß haben.“ (Idee S. 46 f.) 131 Insofern ist es unerheblich, daß das Volk mehr Interesse an der Regierungsart als an der Staatsform hat: „Es ist aber an der Regierungsart dem Volk ohne alle Vergleichung mehr gelegen, als an der Staatsform“ (Frieden S. 208), und: „Autokratisch herrschen, und dabei doch republikanisch, d. h., im Geiste des Republikanism und nach einer Analogie mit demselben, regieren, ist das, was ein Volk mit seiner Verfassung zufrieden macht.“ (Streit S. 360, Fn.) Denn wie oben bereits ausgeführt, kann die Zufriedenheit des Volkes kein Kriterium für die Rechtmäßigkeit von Gesetzen und damit auch nicht der Verfassung des Staates sein, da sie stets nur subjektiv bestimmt ist und nicht als objektiver Maßstab gelten kann. Maßstab für die Gesetze und Verfassung des Staates können nicht eudämonistische Überlegungen, sondern letztlich nur das Recht selbst sein, und dieses fordert die Vereinigung der partikularen Willküren nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit (s. § B, S. 337). Diesem Gesetz ist mit der bloßen Simulierung der Freiheit der Untertanen nicht Genüge getan. 132 Im Frieden greift Kant in diesem Zusammenhang den Gedanken des Erlaubnisgesetzes auf, der auch im Privatrecht eine Rolle spielt: „Dies sind Erlaubnisgesetze der Vernunft, den Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so lange beharren zu lassen, bis zur völligen Umwälzung alles entweder von selbst

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

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„. . . mithin ist es Pflicht, in eine solche [respublica phaenomenon] einzutreten, vorläufig aber (weil jenes nicht so bald zu Stande kommt) Pflicht der Monarchen, ob sie gleich autokratisch herrschen, dennoch republikanisch (nicht demokratisch) zu regieren . . .“ (Streit S. 364 f.)133

Auch in der Metaphysik betont Kant, daß das Endziel der Entwicklung die umfassende Republikanisierung des Staates ist: „Aber der Geist jenes ursprünglichen Vertrages . . . enthält die Verbindlichkeit der konstituierenden Gewalt, die Regierungsart jener Idee angemessen zu machen, und so sie . . . dahin zu verändern, daß sie mit der einzig rechtmäßigen Verfassung, nämlich der einer reinen Republik, ihrer Wirkung nach zusammenstimme, und jene alte empirische (statutarische) Formen, welche bloß die Untertänigkeit des Volks zu bewirken dienten, sich in die ursprüngliche (rationale) auflösen, welche allein die Freiheit zum Prinzip, ja zur Bedingung alles Zwanges macht, . . . und dahin auch dem Buchstaben nach endlich führen wird.“ (§ 52, S. 464)

Wenn das staatliche Handeln an den Vertragsprinzipien orientiert und damit der „Wirkung nach“ republikanisch ist, wird eintreten, was Kant als Voraussetzung für die Umwandlung der Staatsform nennt: die Änderung im Denken, die Erkenntnis des Herrschers und der Untertanen, daß letztere ihre staatsbürgerlichen Rechte selbst ausüben können und diese ihnen auch tatsächlich gewährt werden müssen. Wenn diese geistige Wende erreicht ist, wird sich der Staat in einem organischen Prozeß umwandeln: die alten Staatsformen, in denen die Menschen nicht wahrhaft frei sind, werden abgelöst durch die vernunftgebotene, rationale Form, in der allein die Freiheit aller verwirklicht ist und nicht nur simuliert wird. Dies ist die phaenomenale Republik, zu der der oben beschrieben Prozeß „auch dem Buchstaben“, d. h. der Staatsform nach, führen wird. Allerdings ist die respublica phaenomenon nicht mit einer der drei Staatsformen gleichzusetzen oder wird in ihnen verwirklicht, vielmehr stellt sie ein aliud dar. Dies wird im obigen Zitat deutlich, in dem Kant betont, daß sich die alten empirischen Staatsformen in der Republik auflösen, d. h. durch diese ersetzt werden, und an anderer Stelle schreibt er: „sie mögen also bleiben, so lange sie gereift, oder durch friedliche Mittel der Reife nahe gebracht worden; weil doch irgend eine rechtliche, obzwar nur in geringem Grade rechtmäßige, Verfassung besser ist als gar keine, welches letztere Schicksal (der Anarchie) eine übereilte Reform treffen würde. – Die Staatsweisheit wird sich also in dem Zustande, worin die Dinge jetzt sind, Reformen, dem Ideal des öffentlichen Rechts angemessen, zur Pflicht machen . . .“ (Frieden S. 234) 133 Auch im Frieden deutet Kant an, daß die Annäherung des Staates an die republikanische Verfassung auf evolutionärem Wege vollzogen werden muß: „desto mehr stimmt die Staatsverfassung zur Möglichkeit des Republikanism, und sie kann hoffen, durch allmähliche Reformen sich dazu endlich zu erheben.“ (Frieden S. 207 f.) Daß diese Reformen sich auch hier zunächst auf die Regierungsart beziehen, wird im vorhergehenden Satz deutlich, wenn Kant schreibt: „so ist es bei ihnen doch wenigstens möglich, daß sie eine dem Geiste eines repräsentativen Systems gemäße Regierungsart annähmen . . .“ (Frieden S. 207)

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

. . . für notwendig gehalten werden.“ (§ 52, S. 463 f.). Der Grund liegt darin, daß die Staatsformen ein rein quantitatives, wertfreies Unterscheidungskriterium der empirischen (vorrepublikanischen) Staaten sind. So behandelt Kant sie in § 51 der Metaphysik im Zusammenhang mit der physischen Person, die den Souverän repräsentiert. In der wahren Republik aber „repräsentiert das vereinigte Volk nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst“ (§ 52, S. 464), so daß der Begriff der Staatsform hier obsolet ist.134 Zudem gilt für die respublica noumenon folgendes: „Dies ist die einzige bleibende Staatsverfassung, wo das Gesetz selbstherrschend ist, und an keiner besonderen Person hängt . . .“ (§ 52, S. 464). Für die Einteilung der Staatsformen war aber gerade entscheidend, wie viele Personen herrschen. Auch die Unterscheidung zwischen Regierungsart und Staatsform ist in der respublica phaenomenon hinfällig, da beide republikanisch sind. Kant bringt hier also zum Ausdruck, daß mit der Republikanisierung auch der Staatsform etwas qualitativ Neues entsteht, das auf einer höheren Ebene der Verrechtlichung steht als die vorhergehenden vorrepublikanischen Staaten. Als historisches Beispiel für den Übergang vom vorrepublikanischen Staat zur Republik führt Kant die Anfangsphase der Französischen Revolution an, in der Ludwig XVI. dem Volk in Gestalt der Generalstände die Tilgung der Staatsschulden auftrug: „Es war also ein großer Fehltritt der Urteilskraft eines mächtigen Beherrschers zu unserer Zeit, sich aus der Verlegenheit wegen großer Staatsschulden dadurch helfen zu wollen, daß er es dem Volk übertrug, diese Last nach dessen eigenem Gutbefinden selbst zu übernehmen und zu verteilen; da es denn natürlicherweise nicht allein die gesetzgebende Gewalt in Ansehung der Besteuerung der Untertanen, sondern auch in Ansehung der Regierung in die Hände bekam; . . . mithin die Herrschergewalt des Monarchen gänzlich verschwand (nicht bloß suspendiert wurde), und auf das Volk überging, dessen gesetzgebenden Willen nun das Mein und Dein jedes Untertans unterworfen wurde.“ (§ 52, S. 465)

Kant beurteilt diese Phase noch nicht als revolutionär, sondern als vom Monarchen eingeleitete Reform.135 Durch die Übertragung der Legislativgewalt an die Generalstände brachte der König zum Ausdruck, daß er das Volk für fähig hielt, diese Funktion auszuüben und sein diesbezügliches Recht selbst auszuüben. Die Verleihung dieser positiven Freiheit zog notwendigerweise die Beachtung der positiven, bürgerlichen Gleichheit nach sich, nämlich das Recht, „keinen Oberen im Volk, in Ansehung seiner zu erkennen, als nur einen solchen, den er eben so rechtlich zu verbinden das moralische Vermögen hat, als dieser ihn verbinden kann“ (§ 46, S. 432). 134 s. auch Kersting, W., Verfassung (1995), S. 106 (bezüglich der Terminologie des Friedens: Regierungsart und Herrschaftsform). 135 s. hierzu Beck, L. W., Revolution (JHI 32, 1971), S. 416 f.; Fetscher, I., Revolution (1976), S. 281 f.

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

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Ein solches Oberhaupt liegt nur in einer die Stimmen aller Bürger vereinenden oder repräsentierenden Körperschaft vor, ein absoluter Monarch ist mit der bürgerlichen Gleichheit nicht kompatibel. Daher lag in der Übertragung der gesetzgebenden Gewalt an das Volk durch Ludwig XVI. gleichzeitig die konkludente (Rück-)Übertragung der Souveränität an das Volk, dem sie in der Idee ohnehin zusteht.136 Kant beschreibt die respublica phaenomenon, die am Ende des Republikanisierungsprozesses steht, wie folgt: „Dies ist die einzige bleibende Staatsverfassung, wo das Gesetz selbstherrschend ist, und an keiner besonderen Person hängt; der letzte Zweck alles öffentlichen Rechts, der Zustand in welchem allein jedem das Seine peremtorisch zugeteilt werden kann; indessen, daß, so lange jene Staatsformen dem Buchstaben nach eben so viel verschiedene, mit der obersten Gewalt bekleidete, moralische Personen vorstellen sollen, nur ein provisorisches inneres Recht, und kein absolut-rechtlicher Zustand, der bürgerlichen Gesellschaft zugestanden werden kann.“ (§ 52, S. 464)

Kennzeichen der Republik ist die Herrschaft des Gesetzes, d. h. die Existenz einer Rechtsordnung, die vom partikularen Einfluß bestimmter Personen unabhängig ist. Kants Republik ist damit ein Rechtsstaat. Zudem zeigt sich auch hier wieder die enge Verknüpfung von Kants öffentlichem Recht mit dem Privatrecht: Kant betont, daß hinter der Verpflichtung zum Eintritt in den Staat und zur umfassenden Verrechtlichung der zwischenmenschlichen Verhältnisse die Legitimierung und Sicherung des Eigentums steht, das zur Verwirklichung der menschlichen Freiheit notwendig ist. Die für die Republik kennzeichnende Herrschaft des Gesetzes kann nur auf eine bestimmte Art gewährleistet werden: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten . . . ihre Rechte zu besorgen.“ (§ 52, S. 464)

Kant fordert damit eine repräsentative Demokratie,137 in der alle Staatsbürger, d. h. alle mündigen Bürger, Abgeordnete bestimmen, die stellvertretend für das gesamte Volk dessen Rechte wahrnehmen.138 Allerdings ist der Prozeß der Verrechtlichung mit der Errichtung einer solchen repräsentativen Demokratie nicht abgeschlossen, da die Annäherung an die respublica noumenon stets nur asymptotisch möglich ist. Diese hat auch für 136

Zu diesem Transformationsprozeß s. im einzelnen unten D. II. 1. c) (2) (a). s. hierzu Euchner, W., Philosoph (1976), S. 399. Im einzelnen s. unten E. II. 1. 138 Völlig unzutreffend ist daher die Behauptung Mandts, „daß in dem Bild des Kantischen Republikanismus nicht die Züge des westeuropäischen (parlamentarischen) Repräsentativsystems, sondern diejenigen der ,konstitutionellen Monarchie‘ . . . hervortreten“ und Kants Ansichten „als positives Verfassungsideal das Modell der konstitutionellen Monarchie zugrunde liegt“, s. Mandt, H., Traditionselemente (1976), S. 297 f. 137

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die respublica phaenomenon noch Vorbildcharakter, sie ist die „ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt“ (Streit S. 364). Kants Konzept erteilt auch den heute bestehenden repräsentativen Demokratien keine Absolution, es entbindet sie nicht von der Verpflichtung zur fortschreitenden Verrechtlichung. Auch der republikanisch verfaßte Staat befindet sich nicht im Ruhezustand, vielmehr bedarf auch er der ständigen Überprüfung des staatlichen Handelns im Hinblick auf seine Übereinstimmung mit den Prinzipien des Gesellschaftsvertrages und der respublica noumenon.139 Daß es sich bei der Annäherung an die respublica noumenon um einen immerwährenden, dauerhaften Prozeß handelt, der nie zum Abschluß kommen kann, betont Kant nochmals im Beschluß seines Anhangs erläuternder Bemerkungen zur Rechtslehre, wenn er darauf hinweist, daß „der Idee einer Staatsverfassung überhaupt, d. i. . . . einem Begriffe der praktischen Vernunft . . . zwar adäquat kein Beispiel in der Erfahrung untergelegt werden kann, dem aber auch, als Norm keine widersprechen muß.“ (S. 499)

d) Unterschiede zwischen der Konzeption des Friedens und der Metaphysik Wie oben dargelegt, entkoppelt Kant in der Metaphysik die Frage von Staatsform und Regierungsart und hält eine Republikanisierung der letzteren in allen drei Staatsformen für möglich. Im zwei Jahre früher erschienen Frieden dagegen nimmt er die Demokratie von der Entkoppelung aus und betont, daß in dieser Staatsform nicht republikanisch, sondern nur despotisch regiert werden kann: „Unter den drei Staatsformen ist die der Demokratie, im eigentlichen Verstande des Worts, notwendig ein Despotism, weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht mit einstimmt), mithin alle, die doch nicht alle sind, beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist.“ (Frieden S. 207)

Dies betont er auch an späterer Stelle nochmals: „Zu jener [der Regierungsart] aber, wenn sie dem Rechtsbegriff gemäß sein soll, gehört das repräsentative System, in welchem allein eine republikanische Regierungsart möglich, ohne welches sie (die Verfassung mag sein welche sie wolle) despotisch und gewalttätig ist.“ (Frieden S. 208)

Indem Kant darauf hinweist, daß in der Demokratie „im eigentlichen Verstande des Worts“ „alle“ die politischen Entscheidungen treffen, bringt er zum Ausdruck, daß er hier nur die direkte Variante darunter versteht,140 in der das gesamte Volk die staatlichen Funktionen selbst und unmittelbar ausübt.141 139 s. hierzu Langer, C., Prinzipien (1986), S. 95 f. und 104. Kritisch zur unreflektierten Gleichsetzung von parlamentarischer Demokratie und Republik auch Kersting, W., Freiheit (1993), S. 433.

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

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Kant hält die unmittelbare Volksherrschaft deshalb für unumgänglich despotisch, weil hier „alle, die doch nicht alle sind“ (Frieden S. 207), die politischen Entscheidungen fällen. In der direkten Demokratie ist der bloße Wille der Mehrheit ausschlaggebend, die ohne Berücksichtigung der Belange der Minderheiten herrschen und diese so unterdrücken kann. Grundlage des staatlichen Handelns ist damit lediglich die volonté de tous und nicht die volonté générale als allgemein vereinigter und damit allgemein konsensfähiger Wille.142 Dies ist „ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit“ (Frieden S. 207). Hier wird deutlich, daß Kant im Frieden – wie in der Metaphysik – die Orientierung des staatlichen Handelns am allgemein vereinigten Willen und seinem Korrelat, dem Gesellschaftsvertrag, als Kriterium zur Beurteilung der Regierungsart sieht.143 Dies zeigt sich auch in der Definition von Republikanismus und Despotismus:

140 Diese Terminologie, die Gleichsetzung des Begriffs Demokratie mit direkter Demokratie, war damals üblich. Während die Bezeichnung heute ein Oberbegriff für die Herrschaft des Volkes ist und sich sowohl auf die direkte als auch repräsentative Demokratie beziehen kann, wurde der Ausdruck im ausgehenden 18. Jahrhundert als Synonym für die direkte Demokratie verwandt und zur Republik kontrastiert, die die mittelbare, repräsentative Demokratie bezeichnete, s. dazu Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 39; Salvemini, G., Concepts (1968), S. 105 f. Allerdings verwendet Kant die Bezeichnung Demokratie in der Metaphysik auch für die mittelbare, repräsentative Demokratie, s. dazu unten. 141 Allerdings ist umstritten, ob Kant hier die direkte Wahrnehmung der gesetzgeberischen und ausführenden Funktion rügt, wie überwiegend angenommen wird (so etwa Borries, K., Politiker (1928), S. 194; Burg, P., Revolution (1974), S. 169 f.; Ju, G.-J., Menschenrecht (1990), S. 145; Langer, C., Prinzipien (1986), S. 110 f., 122 f.; Ludwig, B., Kommentar (1999), S. 182), oder ob er – wie Rousseau – nur die direkte Ausübung der exekutiven Funktion moniert (so Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 195 f.; auch Dreier, H., Repräsentation (AöR 113, 1988), S. 472, Fn. 58, schließt diese Bedeutung von Kants Aussagen im Frieden nicht aus. s. auch Rousseau, J. J., Gesellschaft (1762), 3. Buch, Kap. XV, insb. S. 81 und Kap. IV, S. 59). Der Kontext von Kants Äußerungen zeigt jedoch, daß die erste Auffassung zutreffend ist. Denn Kant benennt die exekutive Gewalt zwar explizit, aber zuvor spricht er vom öffentlichen Willen, der vom Regenten als Privatwille gehandhabt wird (Frieden S. 207), und anschließend betont er, daß die Demokratie ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst sei. Mit dem Topos des allgemeinen oder öffentlichen Willens meint Kant aber die Legislative, denn kurz darauf schreibt er: „. . . weil der Gesetzgeber in einer und derselben Person zugleich Vollstrecker seines Willens (so wenig . . .) sein kann . . .“ (Frieden S. 207) Hier wird deutlich, daß der Wille vom Gesetzgeber ausgeht, d. h. Ausfluß der Legislative ist, während die Exekutive als Vollstrecker ihn bloß ausführt. Kant moniert also im Frieden das Fehlen von Repräsentation nicht nur in der Exekutive, sondern auch der Legislative und rügt damit die direkte Demokratie im Sinne der attischen Staatsverfassung, s. Ludwig, B., a. a. O., S. 182. 142 s. hierzu Haller, B., Repräsentation (1987), S. 204 und 209 f. Im einzelnen s. dazu unten E. II. 1. b). 143 s. hierzu Kersting, W., Verfassung (1995), S. 103.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

„Der Republikanism ist das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden; der Despotism ist das der eigenmächtigen Vollziehung des Staates von Gesetzen, die er selbst gegeben hat, mithin der öffentliche Wille, sofern er von dem Regenten als sein Privatwille gehandhabt wird.“ (Frieden S. 206 f.)

Kant kennzeichnet den Staat als despotisch, der nicht den ,öffentlichen‘ Willen als Entscheidungsmaßstab ansetzt, sondern den privaten Willen des Herrschers. Dadurch wird das Volk „eines anderen nötigender Willkür“ (S. 345) unterworfen und ist somit unfrei. Republikanisch wird also nur der Staat regiert, in dem der Herrscher nicht nach seinen persönlichen Präferenzen entscheidet, sondern sich am allgemein vereinigten Willen bzw. am Gesellschaftsvertrag als Richtschnur orientiert und sein Handeln von diesem Kriterium leiten läßt.144 Anders als in der Metaphysik hält Kant aber im Frieden die Verwirklichung dieser Vorgabe in der direkten Demokratie für unmöglich. Damit stellt er neben diesem inhaltlichen Kriterium als weiteres, formales Kriterium die Implementierung des Repräsentationsprinzips auf. Unter Repräsentation versteht Kant dabei die personelle Differenz zwischen Volk und Herrscher:145 „Man kann daher sagen: je kleiner das Personale der Staatsgewalt (die Zahl der Herrscher), je größer dagegen die Repräsentation derselben, desto mehr stimmt die Staatsverfassung zur Möglichkeit des Republikanism, und sie kann hoffen, durch allmähliche Reformen sich dazu endlich zu erheben. Aus diesem Grunde ist es in der Aristokratie schon schwerer, als in der Monarchie, in der Demokratie aber unmöglich, anders, als durch gewaltsame Revolution zu dieser einzigen vollkommen rechtlichen Verfassung zu gelangen.“ (Frieden S. 207 f.)

Die personelle Unterscheidung zwischen Volk und Herrscher ist in der Monarchie und Aristokratie per definitionem verwirklicht, während nur die repräsentative Demokratie diese Voraussetzung erfüllen würde. Daneben stellt Kant noch ein drittes Kriterium zur Beurteilung der Regierungsart auf, nämlich die Frage der Gewaltenteilung: „Der Republikanism ist das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden . . .“ (Frieden S. 206 f.). Dieses zweite formale Merkmal ist eng mit den beiden anderen Prinzipien verknüpft, denn in der direkten Demokratie ist das gesamte Volk Mitglied sowohl der Legislative als auch der Exekutive, so daß hier keine personelle Trennung zwischen diesen beiden Gewalten besteht: „Alle Regierungsform nämlich, die nicht repräsentativ ist, ist eigentlich eine Unform, weil der Gesetzgeber in einer und derselben Person zugleich Vollstrecker seines Willens (so wenig . . .) sein kann, und wenn gleich die zwei andern Staatsverfassungen so fern immer fehlerhaft sind, daß sie einer solcher Regierungsart Raum 144 145

Kersting, W., Freiheit (1993), S. 427. s. Ludwig, B., Kommentar (1999), S. 181.

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

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geben, so ist es bei ihnen doch wenigstens möglich, daß sie eine dem Geiste eines repräsentativen Systems gemäße Regierungsart annähmen, wie etwa Friedrich II. wenigstens sagte: er sei bloß der oberste Diener des Staats, da hingegen die demokratische es unmöglich macht, weil alles da Herr sein will.“ (Frieden S. 207)

Das Fehlen von Repräsentation ist damit die Ursache der Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips, die wiederum zur Folge hat, daß ein partikularer und nicht allgemeiner Wille Grundlage des staatlichen Handelns ist und so die Prinzipien des Gesellschaftsvertrages verletzt werden. Allerdings ist diese Schlußfolgerung nicht zwingend und in dieser apodiktischen Strenge nicht aufrechtzuerhalten; Kants Argument, daß in der direkten Demokratie „alles . . . Herr sein will“ (Frieden S. 207), vermag nicht zu überzeugen.146 Denn auch in einem nicht repräsentativen und nicht gewaltenteiligen Staat ist die Achtung der Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit aller Staatsbürger nicht automatisch ausgeschlossen, sondern zumindest prinzipiell denkbar. Auch eine weitere Überlegung Kants im Frieden ist nicht überzeugend: Mit dem Hinweis darauf, daß die Ausgangsbasis für eine Republikanisierung umso besser ist, je weniger Herrscher ein Staat hat,147 spricht er offensichtlich Effizienzgesichtspunkte an; er scheint davon auszugehen, daß proportional zur geringeren Zahl der Herrscher ihre Macht und ihr Einfluß steigen und sie daher Reformen leichter durchsetzen können. Allerdings vermag auch dies nicht zu begründen, warum Reformen in der unmittelbaren Demokratie gänzlich unmöglich sein sollen; allenfalls ließe sich hiermit ihre längere Umsetzungsfrist erklären. Zudem läßt sich Kants obige Argumentation auch ins Gegenteil verkehren: mit der sinkenden Zahl der Herrscher und der Vergrößerung ihrer Macht sind nicht nur Reformen im republikanischen Sinne, sondern auch unterdrückerische, despotische Vorhaben leichter durchzuführen. Der angebliche Vorteil der größeren Effizienz kann sich daher auch als Nachteil entpuppen. Auf diese Gefahr weist Kant in der Metaphysik selbst ausdrücklich hin: „Was die Handhabung des Rechts im Staat betrifft, so ist freilich die einfachste auch zugleich die beste; aber, was das Recht selbst anlangt, die gefährlichste fürs Volk, in Betracht des Despotismus, zu dem sie so sehr einladet. Das Simplifizieren ist zwar im Maschinenwerk der Vereinigung des Volks durch Zwangsgesetze die vernünftige Maxime: wenn nämlich alle im Volk passiv sind, und Einem, der über sie ist, gehorchen; aber das gibt keine Untertanen als Staatsbürger.“ (§ 51, S. 462).

Zwar sind die „einfachen“ Staatsformen Monarchie und Aristokratie die besten, was „die Handhabung des Rechts“, d. h. ihre Effizienz betrifft, jedoch sind sie für das Volk gleichzeitig am gefährlichsten, weil sie zum Despotismus neigen, und zwar am stärksten die Monarchie. Denn sie konzentrieren die Macht in den 146 So auch Kersting, W., Freiheit (1993), S. 418 f., Fn. 146; Ludwig, B., Kommentar (1999), S. 182. 147 s. oben, Frieden S. 207 f.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

Händen weniger Personen bzw. lediglich einer einzigen und verführen diese damit zum Mißbrauch der Macht. Daher ist Kants Rangfolge der wünschenswerten Staatsformen in der Metaphysik genau umgekehrt zu jener im Frieden,148 wie sich im obigen Zitat zeigt. Die „einfachen“ Staatsformen mögen zwar effizient sein, sie bringen aber lediglich Untertanen, nicht dagegen Staatsbürger hervor. Nach reinen Rechtsprinzipien, nach der Idee des Vertrages, muß der Staat aber aus Bürgern, nicht Untertanen bestehen, da der Mensch nach der Vertragsidee im Zusammenschluß zum Staat seine Freiheit nicht opfert oder schmälert, sondern sie unvermindert wieder aufnimmt. Entsprechend gibt Kant in der Metaphysik die formalen Kriterien der Repräsentation und Gewaltenteilung zur Beurteilung der Regierungsart auf und setzt als einzigen Prüfstein die inhaltliche Frage an, ob das staatliche Handeln an den Prinzipien des Gesellschaftsvertrages ausgerichtet ist. Denn er schreibt: „Aber der Geist jenes ursprünglichen Vertrages . . . enthält die Verbindlichkeit der konstituierenden Gewalt, die Regierungsart jener Idee [des ursprünglichen Vertrages] angemessen zu machen, und so sie . . . dahin zu verändern, daß sie mit der einzig rechtmäßigen Verfassung, nämlich der einer reinen Republik, ihrer Wirkung nach zusammenstimme . . .“ (§ 52, S. 464)

Die Regierungsart muß der Vertragsidee nur entsprechen, ihr angemessen sein, sie muß diese Idee und ihre Prinzipien aber nicht verwirklichen. Entscheidend ist nur die Wirkung des staatlichen Handelns, nicht dagegen seine Ursache. Ob die Behandlung der Untertanen als freie, gleiche und selbständige Menschen lediglich der fortschrittlichen, philanthropischen Einstellung des Herrschers entspringt oder zusätzlich durch institutionelle Vorkehrungen weiter abgesichert ist, spielt bei der Bewertung der Regierungsart keine Rolle. Auf die institutionellen Verhältnisse im Staat kommt es erst bei der Beurteilung an, ob auch die Staatsform vom Republikanisierungsprozeß erfaßt wurde und der Staat sich zur Republik gewandelt hat.149

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s. auch Ludwig, B., Kommentar (1999), S. 184. In diesem Zusammenhang sind auch Kants Aussagen zur Verbindung zwischen Gewaltenteilung und Despotismus zu lesen, s. § 49, S. 435 f. Kant fordert hier (noch) keine personell-institutionelle Trennung der Gewalten, d. h. keine Verteilung auf unterschiedliche Träger, sondern zunächst nur die funktionale Trennung, d. h. die Orientierung des Herrschers, der Legislative und Exekutive in einer Hand vereint, am Gedanken der personell-institutionellen Gewaltenteilung und damit deren Simulierung. So, wie die demokratische Entstehung der Gesetze im Wege des „als ob“ simuliert werden kann, können nach Kants Auffassung in der Metaphysik auch die Auswirkungen der Gewaltenteilung auf das staatliche Handeln fingiert werden. Daher ist nach Kants Ansicht in dieser späteren Schrift – im Gegensatz zum Frieden – die republikanische Regierungsart auch in der direkten Demokratie möglich; die fehlende institutionelle Trennung der Gewalten ist hier unschädlich, wenn sich das Volk an diesem Gedanken orientiert und seine entsprechende Machtposition nicht zu Rechtsverletzungen ausnutzt. s. hierzu im einzelnen unten E. I. 1. b) (1). 149

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

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5. Kein Instrument der Widerstandslegitimierung Der Forderung Kants nach einer evolutiven Verrechtlichung der Staaten durch Reformen von oben korrespondiert ein Verbot gewaltsamer Maßnahmen von unten, aus dem Volk; Kant betont, daß sein Konzept des Gesellschaftsvertrages nicht als Anforderung an den Ursprung der empirischen Staaten mißverstanden und nicht zur Diskreditierung der nicht konsensual entstandenen Staaten benutzt werden darf: „Der Geschichtsurkunde dieses Mechanismus nachzuspüren, ist vergeblich, d. i. man kann zum Zeitpunkt des Anfangs der bürgerlichen Gesellschaft nicht herauslangen (denn die Wilden errichten kein Instrument ihrer Unterwerfung unter das Gesetz, und es ist auch schon aus der Natur roher Menschen abzunehmen, daß sie es mit der Gewalt angefangen haben werden). Diese Nachforschung aber in der Absicht anzustellen, um allenfalls die jetzt bestehende Verfassung mit Gewalt abzuändern, ist sträflich.“ (§ 52, S. 462 f.)150

Auch im Gemeinspruch weist er darauf hin, daß das Konzept des Gesellschaftsvertrages und Nachforschungen über die tatsächliche Entstehung der Staaten nicht der Rechtfertigung einer Verwerfung der bestehenden Verfassung dienen können:

150 Auch im Anmerkungsteil der Metaphysik lehnt Kant die Berufung auf den ursprünglichen Vertrag zur Widerstandslegitimierung ab: „Der Ursprung der obersten Gewalt ist für das Volk, das unter derselben steht, in praktischer Absicht unerforschlich: d. i. der Untertan soll nicht über diesen Ursprung, als ein noch in Ansehung des ihr schuldigen Gehorsams zu bezweifelndes Recht . . ., werktätig vernünfteln . . . – Ob ursprünglich ein wirklicher Vertrag der Unterwerfung unter denselben (pactum subiectionis civilis) als ein Faktum vorher gegangen, oder ob die Gewalt vorherging, und das Gesetz nur hintennach gekommen sei, oder auch in dieser Ordnung sich habe folgen sollen: das sind für das Volk, das nun schon unter dem bürgerlichen Gesetze steht, ganz zweckleere, und doch den Staat mit Gefahr bedrohende Vernünfteleien; denn, wollte der Untertan, der den letzteren Ursprung nun ergrübelt hätte, sich jener jetzt herrschenden Autorität widersetzen, so würde er nach den Gesetzen derselben, d. i. mit allem Recht, bestraft, vertilgt, oder (als vogelfrei, exlex) ausgestoßen werden.“ (S. 437 f.) s. auch seine Aussage im Beschluß des Anhangs erläuternder Bemerkungen: „Das Gebot: ,Gehorchet der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat‘, grübelt nicht nach, wie sie zu dieser Gewalt gekommen sei (um sie allenfalls zu untergraben); denn die, welche schon da ist, unter welcher ihr lebt, ist schon im Besitz der Gesetzgebung, über die ihr zwar öffentlich vernünfteln, euch aber selbst nicht zu widerstrebenden Gesetzgebern aufwerfen könnt.“ (S. 498) In den auf die empirischen Verhältnisse bezogenen Anmerkungen widmet sich Kant dem Widerstandsrecht ausführlicher als im Textteil, der sich mit der noumenalen Republik befaßt, da in dieser für das Volk kein Anlaß zur Revolution besteht. Denn hier kann das Staatsoberhaupt „kein anderer als das vereinigte Volk selbst sein“ (§ 47, S. 434), das sich hier aus vernünftigen Wesen zusammensetzt und daher nur gerechte Gesetze erläßt; die Gefahr einer Verletzung der Rechte des Volkes ist damit ausgeschlossen. Die Frage nach einem Widerstandsrecht stellt sich folglich nur in den phaenomenalen und hier hauptsächlich in den vorrepublikanischen Staaten; s. hierzu Seebohm, T., Revolution (SR 48, 1981), S. 577 f.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

„Allein dieser Vertrag . . . ist keinesweges als ein Faktum vorauszusetzen nötig . . .; gleichsam als ob allererst aus der Geschichte vorher bewiesen werden müßte, daß ein Volk, in dessen Rechte und Verbindlichkeiten wir als Nachkommen getreten sind, einmal wirklich einen solchen Actus verrichtet, und eine sichere Nachricht oder ein Instrument davon uns, mündlich oder schriftlich, hinterlassen haben müsse, um sich an eine schon bestehende bürgerliche Verfassung für gebunden zu achten.“ (Gemeinspruch S. 153)

Denn die phaenomenalen Staaten sind bereits durch das dem Gesellschaftsvertrag vorgängige Postulat des öffentlichen Rechts legitimiert, das das Verlassen des Naturzustandes und den Eintritt in den Staat zur Rechtspflicht macht. a) Umfang des Widerstandsverbotes Kant lehnt damit in den veröffentlichten Schriften151 ein Widerstandsrecht des Volkes ab; er verwirft zunächst den aktiven Widerstand als illegitim, der mit Gewalt gegen die staatlichen Organe verbunden ist und verschiedene Formen annehmen kann: „Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staats gibt es also keinen rechtmäßigen Widerstand des Volks . . .; also kein Recht des Aufstandes (seditio), noch weniger des Aufruhrs (rebellio), am allerwenigsten gegen ihn, als einzelne Person (monarch), unter dem Vorwande des Mißbrauchs seiner Gewalt (tyrannis), Vergreifung an seiner Person, ja an seinem Leben . . .“ (AA A, S. 439)

Allerdings muß Widerstand gegen die staatliche Gewalt nicht notwendigerweise von revolutionärer Qualität sein, d. h. auf einen Umsturz der bestehenden Verhältnisse zur Errichtung einer neuen politischen Ordnung abzielen, sondern kann auch zur Verteidigung höchstpersönlicher Rechtsgüter ohne das Ziel grundlegender politischer Umwälzungen eingesetzt werden152 oder sogar im konservierenden Sinne zur Verteidigung der Rechtsordnung erfolgen.153 Im Gemeinspruch scheint Kant sein Widerstandsverbot zunächst in diesem Sinne zu modifizieren und dem Volk das Aufbegehren gegen ungerechte Gesetze zu erlauben; in der Folge stellt er jedoch unmißverständlich klar, daß das Verbot absolut ist und selbst eine Verletzung der Grundnorm des politischen Zusammenlebens, des Sozialkontraktes, dem Volk kein Recht zum Widerstand gibt: „Ist aber ein öffentliches Gesetz diesem [dem Recht] gemäß, folglich in Rücksicht auf das Recht untadelig . . .: so ist damit auch die Befugnis zu zwingen, und auf der anderen Seite das Verbot, sich dem Willen des Gesetzgeber ja nicht tätlich zu widersetzen, verbunden . . . Und dieses Verbot ist unbedingt, so daß, es mag auch jene 151 Zu Kants Bejahung eines Widerstandsrechtes in den Reflexionen s. Kersting, W., Freiheit (1993), S. 458–464. 152 s. Schneider, P., Art. Revolution (1987), Spalte 2997. 153 s. etwa Art. 20 Abs. 4 GG: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

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Macht oder ihr Agent, das Staatsoberhaupt, so gar den ursprünglichen Vertrag verletzt und sich dadurch des Rechts, Gesetzgeber zu sein, nach dem Begriff des Untertans, verlustig gemacht haben, indem sie die Regierung bevollmächtigt, durchaus gewalttätig (tyrannisch) zu verfahren, dennoch dem Untertan kein Widerstand, als Gegengewalt, erlaubt bleibt.“ (Gemeinspruch S. 155 f.)154

Auch in der Metaphysik betont Kant, daß das Widerstandsverbot gegenüber allen (phaenomenalen) Staaten gilt – einschließlich der unvollkommenen, die republikanischen Prinzipien noch nicht verwirklichenden: „Wenn da nun ein Volk, durch Gesetze unter einer Obrigkeit vereinigt, da ist . . .; d. i. eine rechtliche Verfassung, im allgemeinen Sinne des Worts, ist da; und, obgleich sie mit großen Mängeln und groben Fehlern behaftet sein und nach und nach wichtiger Verbesserungen bedürfen mag, so ist es doch schlechterdings unerlaubt und sträflich, ihr zu widerstehen . . .“ (S. 497 f.)

Nicht einmal tyrannische Gewaltherrschaft155 kann nach Kant ein Revolutionsrecht des Volkes legitimieren. Im Frieden äußert er sich näher zu der Frage: „. . . ,ist Aufruhr ein rechtmäßiges Mittel für ein Volk, die drückende Gewalt eines so genannten Tyrannen . . . abzuwerfen?‘ Die Rechte des Volks sind gekränkt, und ihm (dem Tyrannen) geschieht kein Unrecht durch die Entthronung; daran ist kein 154 Angesichts dieser klaren Worte Kants vermag die Ansicht Westphals nicht zu überzeugen, „daß nur dann, wenn . . . ein Gesetz diese Bedingung [der allgemeinen Konsensfähigkeit] erfüllt, seine Erzwingung rechtmäßig ist und nur dann auch das Widerstandsverbot in Kraft tritt. Es ist nicht rechtmäßig, ein rechtswidriges Gesetz durchsetzen zu wollen, und nach diesen Prinzipien ist es nicht verboten, aktiv dem Willen eines ungerechten Gesetzgebers zu widerstehen oder sogar gegen ihn zu revoltieren!“ s. Westphal, K. R., Gehorsamspflicht (1998), S. 178. Das obige Zitat von Kant zitiert Westphal zwar eingangs mit (ebd. S. 176), läßt es aber in seiner folgenden Argumentation völlig außer Acht. Er geht davon aus, daß das von ihm angenommene Recht auf Widerstand gegen ungerechte Gesetze nur an einer anderen Stelle im Gemeinspruch eingeschränkt wird, und zwar dort, wo Kant das Beurteilungsprinzip der Rechte des Volkes näher erläutert und als Beispiel für ein nicht konsensfähiges und damit ungerechtes Gesetz ein die Religionsfreiheit einschränkendes Gesetz anführt. Kant fährt fort: „. . . – In allen Fällen aber, wenn etwas gleichwohl doch von der obersten Gesetzgebung so verfügt wäre, können zwar allgemeine und öffentliche Urteile darüber gefällt, nie aber wörtlicher oder tätlicher Widerstand dagegen aufgeboten werden.“ (Gemeinspruch S. 162) Westphal geht davon aus, daß sich dieses Verbot wörtlichen oder tätlichen Widerstandes nur auf ungerechte Gesetze der im Beispiel genannten Art bezieht, d. h. nur auf Gesetze, die Religionsangelegenheiten betreffen; er bezieht den Ausdruck „wenn etwas gleichwohl . . . so verfügt wäre“ allein auf die Verfügung in Religionssachen. Dies ist aber nicht überzeugend, denn zunächst grenzt Kant das Verbot wörtlichen oder tätlichen Widerstandes durch einen Bindestrich optisch vom Beispiel des rechtswidrigen Religionsgesetzes ab und weist damit darauf hin, daß sich dieser Satz nicht nur auf das direkt Vorangegangene bezieht und nicht nur einen Annex zu diesen Erörterungen darstellt, sondern eine eigenständige Bedeutung für den gesamten Text hat. Damit bezieht sich das Widerstandsverbot auf alle ungerechten Gesetze, unabhängig von ihrem Regelungsinhalt. Zudem paßt allein dieses Verständnis zu Kants pauschaler Verneinung eines Widerstandsrechtes auf S. 156 des Gemeinspruchs. 155 Aristoteles definiert diese als „eine Alleinherrschaft zum Nutzen des Herrschers“; s. Aristoteles, Politik, III 7, 1279 b 6 f.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

Zweifel. Nicht desto weniger ist es doch von den Untertanen im höchsten Grade unrecht, auf diese Art ihr Recht zu suchen, und sie können eben so wenig über Ungerechtigkeit klagen, wenn sie in diesem Streit unterlägen und nachher deshalb die härteste Strafe ausstehen müßten.“ (Frieden S. 245)

Die klassische Tyrannislehre sieht den Gewaltherrscher als Zerstörer der rechtlichen Verhältnisse und bejaht ein Widerstandsrecht, wenn die Absetzung des Tyrannen der Wiederherstellung der Rechtsordnung dient.156 Kant dagegen verwirft ein solches Recht, weil er davon ausgeht, daß selbst ein gewalttätig herrschendes Staatsoberhaupt mit seiner Macht die Funktionsfähigkeit des Staates garantiert und damit den ersten Schritt aus dem Naturzustand vollzieht.157 So weist er im Gemeinspruch darauf hin, daß es nicht der Tyrann ist, der die bestehende Rechtsordnung beseitigt, sondern erst der gegen ihn ausgeübte Widerstand; er betont, daß dieser letztere „alle rechtliche Verfassung unsicher macht, und den Zustand einer völligen Gesetzlosigkeit (status naturalis), wo alles Recht aufhört, wenigstens Effekt zu haben, einführt.“ (Gemeinspruch S. 158). Während der Widerstand gegen den Tyrannen zu einem Rückfall in den rechtlosen Naturzustand führen würde,158 hat das Recht im despotischen Staat „wenigstens Effekt“, d. h. es existieren – wenn auch teils ungerechte – rechtliche Regelungen, die von den staatlichen Organen durchgesetzt werden. Damit besteht grundsätzlich Rechtssicherheit, und es herrscht größere Gerechtigkeit als im rechtlosen Naturzustand. Auch der despotische, ungerechte Herrscher dient der fortschreitenden Verwirklichung des Rechts, da er einen – wenn auch in rechtlicher Hinsicht noch stark defizienten – Rechtszustand sichert.159 Erfüllt der Herrscher diese Funktion nicht mehr, d. h. ist der Staat in der Auflösung begriffen, stellt sich die Frage nach einem Widerstandsrecht nicht mehr. Vielmehr entfällt hier die Prämisse des Problems: bestehen keine staatlichen Herrschaftsstrukturen mehr, so kann auch keine Rede vom Widerstand gegen diese Herrschaft sein. Mit der Auflösung eines bestehenden Staates tritt vielmehr ein Rückfall in den Naturzustand ein, in dem jeder wieder auf die eigenmächtige Beurteilung und Durchsetzung seiner Rechte verwiesen ist.160 156

s. hierzu Spaemann, R., Kritik (1976), S. 347. Daß der klassischen Tyrannislehre in Kants Konzept keine Bedeutung zukommt, zeigt sich auch an der von Kant gewählten Bezeichnung als „so genannten Tyrannen“ (s. Frieden S. 245). 158 s. dazu im einzelnen unten. 159 Kersting, W., Freiheit (1993), S. 482 f. 160 s. hierzu Kersting, W., Freiheit (1993), S. 485. Kersting scheint allerdings den Zeitpunkt, in dem der Staat zu existieren aufhört, früher anzusetzen, als Kant es tut, da er von folgendem ausgeht: „Wenn nun ein Herrscher diese Ordnung selbst zerstört, sich aus der friedensstiftenden Position der Überparteilichkeit und gesellschaftlichen Neutralität herausbegibt und damit zu einem mit staatlichen Machtmitteln bewaffneten Privatmann wird, der ohne Rücksicht auf die bestehenden Gesetze seinen partikularen Willen gewaltsam durchsetzt, dann sind die fundamentalen Bedingungen eines frie157

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

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Indem Kant darauf hinweist, daß der Tyrann die Rechte des Volkes verletzt, grenzt er seine Position von der Hobbes’ ab, der davon ausgeht, daß der Herrscher dem Volk nicht Unrecht tun könne.161 Kant lehnt diese Auffassung grundsätzlich ab: denssichernden Systems außer Kraft gesetzt, dann haben wir keinen bürgerlichen Zustand mehr vor uns, in dem Ungerechtigkeit herrschen würde, sondern einen gewaltunterworfenen Naturzustand.“ (s. ebd., S. 486) Es ist aber durchaus denkbar, daß ein Herrscher „ohne Rücksicht auf die bestehenden Gesetze seinen partikularen Willen gewaltsam durchsetzt“, aber generell die Rechtsanwendung und die staatlichen Funktionen garantiert, wenn auch in vielen Fällen durch seinen Privatwillen verzerrt. Auch gegen einen solchen Herrscher würde Kant ein Widerstandsrecht ablehnen, wie sich aus seinen obigen Aussagen ergibt. Denn selbst dem Despoten, der den Gesellschaftsvertrag und damit die angeborenen und unverzichtbaren Rechte auf Freiheit und Gleichheit verletzt, darf unter Rechtsgesichtspunkten kein aktiver Widerstand geleistet werden. Nach Kants Aussagen kann als Beurteilungskriterium für die Grenzziehung zwischen Staat und Naturzustand nicht das Recht und der Umfang seiner Verletzung durch den Herrscher herangezogen werden, sondern allein die Frage nach der Macht des letzteren. Solange der Herrscher die zur Sicherung der staatlichen Funktionen notwendige Macht hat, ist die Herrschaft rechtlich (wenn auch nicht unbedingt rechtmäßig) und damit unwiderstehlich. Erst, wenn diese Macht verfällt, ist sie nicht mehr legitimiert. Kant vertritt hier die Hobbessche Position des auctoritas non veritas facit legem; solange die nötige auctoritas besteht, ist die Frage nach Rechtsverletzungen zur Legitimierung des Widerstandes illegitim. Diese Gleichsetzung von Macht und Recht ist nach Kant durch ein Erlaubnisgesetz gedeckt, s. dazu unten. 161 s. Hobbes, Th., Leviathan (1651), Kap. XVIII, S. 140 f.: „Zum vierten kann die Handlung des Herrschers einem Untertan gegenüber kein Unrecht sein, und er kann keines Vergehens beschuldigt werden, denn durch die Staatsgründung ist ein jeder der Urheber aller herrscherlichen Taten und Beschlüsse. Wer aber im Namen eines anderen handelt, kann diesem kein Unrecht zufügen: Wenn durch die Errichtung des Staates ein jeder Urheber aller herrscherlichen Handlungen ist, beklagt man sich folglich über seine eigene Tat, wenn man sich über ein Unrecht seines Herrschers beklagt. Ein jeder kann sich deshalb nur selbst anklagen. Da es aber unmöglich ist, sich selbst ein Unrecht zuzufügen, kann sich niemand eines Unrechts beklagen. Zwar mag ein souveräner Herrscher einmal unbillig handeln, von einem Unrecht im eigentlichen Sinne des Wortes kann jedoch nicht gesprochen werden.“ Allerdings ist zu beachten, daß Hobbes dem Untertanen das Recht zuspricht, dem Herrscher bei einer Verletzung oder Bedrohung der unveräußerlichen Rechte Widerstand zu leisten. s. etwa a. a. O., Kap. XXI, S. 170 f.: „Die Macht in einem institutionellen Staat wurde durch Vertrag eines jeden mit allen geschaffen . . . Die Freiheit des Untertans liegt folglich in allem, worauf er in keinerlei Abkommen ein Recht übertragen kann. Schon im 14. Kapitel habe ich gezeigt, daß alle Verträge nichtig sind, die nicht des Menschen Leben sichern. Daraus folgt: Befiehlt ein Herrscher einem Menschen (er mag völlig zu Recht verurteilt sein), sich zu töten, zu verwunden, zu verstümmeln, seinen Angreifern keinen Widerstand zu leisten oder der Nahrung, der Luft, Medikamente oder anderer lebensnotwendiger Dinge zu entsagen, so hat dieser Mensch die Freiheit, sich seinem Befehl zu widersetzen. . . . Wenn sich unsere Gehorsamsverweigerung nicht gegen das Ziel der Staatsgründung richtet, steht sie uns folglich frei.“ s. auch Kap. XXVIII, S. 240: „Zwar verzichtet bei der Staatsgründung ein jeder auf das Recht, einen anderen zu verteidigen, das Recht auf die eigene Verteidigung jedoch gibt er nicht auf.“ s. hierzu auch oben D. I., Fn. 12. Dem Herrscher bleibt jedoch auch in diesen Fällen das Recht erhalten, den Widerstand Leistenden zu bestrafen und sogar zu töten. s. Hobbes, Th., Bürger (1642), Kap.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

„Dieser Satz würde ganz richtig sein, wenn man unter Unrecht diejenige Läsion versteht, welche dem Beleidigten ein Zwangsrecht gegen denjenigen einräumt, der ihm Unrecht tut; aber, so im allgemeinen, ist der Satz erschrecklich.“ (Gemeinspruch S. 161)

Kant geht davon aus, daß dem Volk unverlierbare Rechte gegen den Herrscher zustehen, er betont, „. . . daß dieses gleichfalls seine unverlierbaren Rechte gegen das Staatsoberhaupt habe, obgleich diese keine Zwangsrechte sein können.“ (Gemeinspruch S. 161). Allerdings können diese Rechte vom Volk nicht zwangsweise durchgesetzt werden, es ist vielmehr auf die freiwillige Beachtung durch den Herrscher angewiesen.162 In der Metaphysik spricht Kant die umgekehrte Perspektive an: „. . . der Herrscher im Staat hat gegen den Untertan lauter Rechte und keine (Zwangs-)Pflichten“ (AA A, S. 438). Auch hier verneint er nicht die Existenz von Pflichten des Staatsoberhauptes, sondern nur ihre Erzwingbarkeit. Die nur mangelhafte Verrechtlichung der Verhältnisse im tyrannischen oder sonst durch ungerechtes Handeln geprägten Staat ist durch ein Erlaubnisgesetz gedeckt:163

6, S. 140: „Wenn mir also befohlen wird, mich selbst zu töten, so bin ich nicht verpflichtet, dies zu tun. . . . Ebenso verpflichtet der Herrscher durch ein Gebot, ihn, den Herrscher, zu töten, niemand, es zu tun; . . . Ebensowenig braucht man seinen Vater zu töten, mag er unschuldig oder schuldig und durch das Gesetz verurteilt sein . . . So gibt es noch viele andere Fälle, wo die Ausführung der Befehle für einzelne unsittlich ist, für andere aber nicht, wo deshalb von jenen der Gehorsam mit Recht verweigert und von diesen geleistet werden kann, unbeschadet des dem Herrscher eingeräumten absoluten Rechts. Denn diesem wird in keinem Falle das Recht entzogen, die Widerspenstigen zu töten.“ 162 Entsprechend betont Kant sowohl im Gemeinspruch als auch im Frieden, der Metaphysik und dem Streit in erster Linie die sich für den Herrscher aus dem Vertragskonzept ergebende Verpflichtung zu Reformen. 163 Das Erlaubnisgesetz, das einen eigentlich unrechtmäßigen Zustand im Hinblick auf die in ihm enthaltene Möglichkeit der umfassenden Verrechtlichung sanktioniert, führt Kant bereits im Privatrecht ein. Dort dient es der Legitimierung der in der provisorischen Erwerbung vorliegenden einseitigen Handlung und einseitig auferlegten Verpflichtungen, s. Brandt, R., Erlaubnisgesetze (1995), S. 76, und oben C. I. 1. b) (3) (a) (bb). Auch im Staatsrecht sanktioniert das Erlaubnisgesetz eine einseitige und wahrscheinlich sogar gewaltsame Handlung, nämlich die historische Machtergreifung im Staat, deren Einseitigkeit in den vorrepublikanischen Staaten durch ihre mangelnde konsensuelle Legitimation perpetuiert wird. Als notwendiges Durchgangsstadium auf dem Weg zur umfassenden Verrechtlichung ist dieser in rechtlicher Hinsicht mangelhafte Zustand jedoch vorläufig legitimiert. Die Parallele zwischen Privat- und Staatsrecht verdeutlicht Kant, indem er sowohl die ursprüngliche Erwerbung als auch die ursprüngliche Machtergreifung als Bemächtigung bezeichnet. So schreibt er im Privatrecht: „Die ursprüngliche Erwerbung eines äußeren Gegenstandes der Willkür heißt Bemächtigung . . .“ (§ 10, S. 369), und im Beschluß des Anhangs zur Metaphysik: „. . . daß es ein kategorischer Imperativ sei: Gehorchet der Obrigkeit . . . – Nicht allein aber dieses Prinzip, welches ein Faktum (die Bemächtigung) als Bedingung dem Rechte zum Grunde legt . . .“ (S. 497) Wie im

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„Dies sind Erlaubnisgesetze der Vernunft, den Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so lange beharren zu lassen, bis zur völligen Umwälzung alles entweder von selbst gereift, oder durch friedliche Mittel der Reife nahe gebracht worden; weil doch irgend eine rechtliche, obzwar nur in geringem Grade rechtmäßige, Verfassung besser ist als gar keine, welches letztere Schicksal (der Anarchie) eine übereilte Reform treffen würde.“ (Frieden S. 234)

Kant differenziert hier zwischen rechtlicher und rechtmäßiger Verfassung;164 die erstere stellt ein Minus zur letzteren dar und schafft einen Zustand, in dem es öffentliche Gesetze und eine diese sichernde öffentliche Gewalt gibt, d. h. einen staatlichen Zustand. Die letztere dagegen schafft einen umfassend verrechtlichten Zustand und liegt damit erst in der Republik vor. Kant betont, daß auch die zwar rechtlich, aber noch nicht rechtmäßig verfaßten Staaten an der Geltungskraft des Postulates des öffentlichen Rechts teilhaben und als erster Schritt aus dem gänzlich rechtlosen Naturzustand heraus legitimiert sind. Sobald ein rechtlicher, d. h. staatlicher Zustand besteht, dürfen Veränderungen in Hinblick auf die umfassende Verrechtlichung nur noch durch friedliche Mittel und nicht übereilt, d. h. nur durch angemessene Reformen, erfolgen. Da ein Widerstandsrecht nach Kant nicht einmal mit einer Verletzung des Rechts begründet werden kann, kann es erst recht nicht mit Glückseligkeitserwägungen gerechtfertigt werden, wie er insbesondere im Gemeinspruch betont: „Wenn also ein Volk unter einer gewissen itzt wirklichen Gesetzgebung seine Glückseligkeit einzubüßen mit größter Wahrscheinlichkeit urteilen sollte: was ist für dasselbe zu tun? Soll es sich nicht widersetzen? Die Antwort kann nur sein: es ist für dasselbe nichts zu tun, als zu gehorchen. Denn die Rede ist hier nicht von Glückseligkeit . . .; sondern allererst bloß vom Rechte . . .“ (Gemeinspruch S. 154)

Wie oben bereits dargelegt, kann die Glückseligkeit nicht als Prinzip der Beurteilung von Gesetzen und des staatlichen Handelns taugen, da sie stets nur subjektiv bestimmbar ist und daher keinen objektiven Maßstab abgeben kann.165 Kants Widerstandsverbot bezieht sich nicht nur auf tätlichen, sondern auch auf lediglich wörtlichen Widerstand: „In allen Fällen aber, wenn etwas gleichwohl doch von der obersten Gesetzgebung so [d. h. nicht konsensfähig] verfügt wäre, können zwar allgemeine und öffentliche Urteile darüber gefällt, nie aber wörtlicher oder tätlicher Widerstand dagegen aufgeboten werden.“ (Gemeinspruch S. 162)

Allerdings ist damit nicht jede kritische Aussage verboten, vielmehr spricht Kant dem Volk ein Recht auf freie Meinungsäußerung zu:

Privatrecht ist aber auch im Staatsrecht die Duldung des defizienten Rechtszustandes mit der Verpflichtung zur umfassenden Verrechtlichung verbunden. 164 s. hierzu Kersting, W., Freiheit (1993), S. 485 f.; Spaemann, R., Kritik (1976), S. 348. 165 s. oben C. I. 4. a); s. auch Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 101 ff.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

„Also ist die Freiheit der Feder – in den Schranken der Hochachtung und Liebe für die Verfassung worin man lebt . . . – das einzige Palladium der Volksrechte.“ (Gemeinspruch S. 161)

Auch in der Metaphysik unterscheidet er zwischen legitimer Meinungsäußerung und wörtlichem Widerstand: „Ferner, wenn das Organ des Herrschers, der Regent, auch den Gesetzen zuwider verführe . . ., so darf der Untertan dieser Ungerechtigkeit zwar Beschwerden . . ., aber keinen Widerstand entgegensetzen.“ (AA A, S. 438)

Direkte Beschwerden über einzelne Maßnahmen fallen noch in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit und sind rechtens, Kant schränkt den Schutzbereich aber ein166 und sieht die Grenze von der erlaubten Meinungsäußerung zum illegitimen wörtlichen Widerstand dort überschritten, wo die Äußerungen nicht mehr die „Schranken der Hochachtung . . . für die Verfassung“ beachten. Es ist anzunehmen, daß Kant die Verfassungskonformität dort nicht mehr gegeben sieht, wo die Souveränität und Entscheidungsbefugnis des Herrschers in Zweifel gezogen werden,167 d. h. dort, wo angekündigt oder angedroht wird, sich den staatlichen Maßnahmen zu widersetzen, oder wo zu einem solchen Verhalten aufgefordert wird. Entsprechend hält er auch die Anstiftung zum Widerstand für unzulässig: „Hieraus folgt: daß . . . alle Aufwiegelung, um Unzufriedenheit der Untertanen tätlich werden zu lassen, . . . das höchste und strafbarste Verbrechen im gemeinen Wesen ist; weil es dessen Grundfeste zerstört.“ (Gemeinspruch S. 156)

Wörtlicher Widerstand liegt damit dann vor, wenn die Meinungsäußerung Gewalt nach sich zu ziehen droht.168 Kant lehnt nicht nur ein überpositives, naturrechtlich fundiertes Widerstandsrecht ab, sondern verwirft auch ein derartiges positiviertes, konstitutionelles Recht. So schreibt er bereits im Gemeinspruch: „Denn daß die Konstitution auf diesen Fall ein Gesetz enthalte, welches die subsistierende Verfassung, von der alle besondern Gesetze ausgehen, (gesetzt auch der Kontrakt sei verletzt) umzustürzen berechtigte: ist ein klarer Widerspruch . . .“ (Gemeinspruch S. 160)

Auch in der Metaphysik betont er: „Ja es kann auch selbst in der Konstitution kein Artikel enthalten sein, der es einer Gewalt im Staat möglich machte, sich, im Fall der Übertretung der Konstitutional166

s. Unruh, P., Vernunft (1993), S. 198. Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 172, Fn. 165. s. auch Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 92 f. 168 Zur Frage nach dieser Abgrenzung, danach, „wo die Grenze zwischen der in einem freiheitlichen Staat nach seinen Prämissen notwendig zulässigen Verkündung von Theorien und der gewaltsamen Aktion liegt“, s. Frowein, J. Abr., Meinungsfreiheit (AöR 105, 1980), S. 172–174. 167

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gesetze durch den obersten Befehlshaber, ihm zu widersetzen, mithin ihn einzuschränken.“ (AA A, S. 438)

b) Begründung Seine Ablehnung eines (aktiven) Widerstandsrechts des Volkes begründet Kant mit unterschiedlichen Argumenten. (1) Rückfall in den Naturzustand Als Hauptargument führt er an, daß das Volk durch die Ausübung eines solchen Rechtes den staatlichen Zustand aufheben und einen Rückfall in den Naturzustand herbeiführen würde; er betont, daß „das Volk doch durch diese Art, ihr Recht zu suchen, im höchsten Grade Unrecht getan habe; weil dieselbe (zur Maxime angenommen) alle rechtliche Verfassung unsicher macht, und den Zustand einer völligen Gesetzlosigkeit (status naturalis), wo alles Recht aufhört, wenigstens Effekt zu haben, einführt.“ (Gemeinspruch S. 158)169

Mit der Maxime, im Fall ungerechter Herrschaft Widerstand zu leisten, behält sich das Volk vor, über das staatliche Handeln zu urteilen und dieses nur dann anzuerkennen, wenn es seinen Vorstellungen vom Recht entspricht. Käme es zwischen Volk und Herrscher zum Streit, gäbe es niemanden, der diesen entscheiden könnte: „Denn man setze: es [das Volk] habe ein solches, und zwar dem Urteile des wirklichen Staatsoberhaupts zuwider: wer soll entscheiden, auf wessen Seite das Recht sei? Keiner von beiden kann es, als Richter in seiner eigenen Sache, tun.“ (Gemeinspruch S. 156)170

169 So auch die Begründung in der Metaphysik; in den Anmerkungen schreibt Kant: „Der Grund der Pflicht des Volks . . . liegt darin: daß sein Widerstand wider die höchste Gesetzgebung selbst niemals anders, als gesetzwidrig, ja als die ganze gesetzliche Verfassung zernichtend gedacht werden muß.“ (AA A, S. 440) Zum Textteil s. unten. 170 Das Problem der Entscheidungsbefugnis führt auch Hobbes als Argument gegen ein Widerstandsrecht an, s. Hobbes, Th., Leviathan (1651), Kap. XVIII, S. 139 f.: „Im übrigen gibt es keinen Richter für den Fall, daß irgend jemand behauptete, der Herrscher habe das bei der Staatsgründung getroffene Abkommen verletzt, und andere Untertanen oder einer der Herrscher selbst behaupteten das Gegenteil. Der Streit könnte nur wieder durch das Schwert entschieden werden, und ein jeder erhielte das Recht zurück, mit den eigenen Kräften für seine Sicherheit zu sorgen – entgegen dem Ziel aller Staatsgründung.“ Dennoch bejaht Hobbes ein Widerstandsrecht des Untertanen, falls der Herrscher seine unveräußerlichen Rechte verletzt oder bedroht; allerdings darf letzterer diesen Widerstand wiederum bestrafen, insbesondere den Untertan töten (s. oben, Fn. 161). Damit bleibt die Entscheidungsbefugnis des Herrschers unangetastet, so daß sich die Frage des „quis judicabit“ nicht stellt.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

Im Konfliktfall stünden sich Volk und Herrscher mit ihren jeweiligen Ansichten gegenüber, ohne eine unparteiische, entscheidungsbefugte Instanz anrufen zu können; sie müßten das von ihnen behauptete Recht selbst durchsetzen. Ein solcher Zustand, in dem es keine institutionellen Wege der Konfliktbewältigung gibt und das Recht von der Privatmeinung des einzelnen abhängt, von seiner persönlichen Beurteilung und Anerkennung, wäre aber kein staatlicher Zustand mehr, sondern der Naturzustand.171 Diese Abhängigkeit von der Privatmeinung ist deshalb gegeben, weil im Widerstandsfall nicht das vereinigte Volk als Träger des allgemein vereinigten Willens agieren würde, sondern das Volk als vereinzelte Menge:172 „Denn diese Umänderung müßte durchs Volk, welches sich dazu rottierte, also nicht durch die Gesetzgebung geschehen; Meuterei aber, in einer schon bestehenden Verfassung, ist ein Umsturz aller bürgerlich-rechtlichen Verhältnisse, mithin alles Rechts, d. i. nicht Veränderung der bürgerlichen Verfassung, sondern Auflösung derselben, und dann der Übergang in die bessere nicht Metamorphose sondern Palingenesie, welche einen neuen gesellschaftlichen Vertrag erfordert, auf den der vorige (nun aufgehobene) keinen Einfluß hat.“ (§ 52, S. 463)

Das Volk kann nur durch die staatlichen Institutionen als vereinigtes agieren; nur in diesen kommt der Gemeinwille zum Ausdruck.173 Im Widerstandsfall aber widersetzt sich das Volk den staatlichen Gewalten; Grundlage seines Handelns wäre damit die bloße volonté de tous, die Summe der disparaten Einzelwillen, die nicht als legitime Entscheidungsbasis angesehen werden kann, da sie den bloß partikularen Willen der Mehrheit darstellt.174 171

s. Höffe, O., Kant (1996), S. 233. Daß das Widerstand leistende Volk und nicht der die Verfassung verletzende Herrscher die Grundlage des staatlichen Zusammenlebens zerstört, betont Kant auch an anderer Stelle: „Es mag auch immer der wirkliche Vertrag des Volks mit dem Oberherren verletzt sein: so kann dieses doch alsdann nicht sofort als gemeines Wesen, sondern nur durch Rottierung, entgegenwirken. Denn die bisher bestandene Verfassung war vom Volk zerrissen; die Organisation aber zu einem neuen gemeinen Wesen sollte allererst noch geschehen. Hier tritt nun der Zustand der Anarchie mit allen ihren Greueln ein, die wenigsten dadurch möglich sind . . .“ (Gemeinspruch S. 159, Anmerkung) 173 s. § 47, S. 434: die drei Gewalten „enthalten das Verhältnis eines allgemeinen Oberhaupts (der, nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein anderer als das vereinigte Volk selbst sein kann) zu der vereinzelten Menge ebendesselben als Untertans . . .“ s. auch Kants Ausführungen in den Anmerkungen: „Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staats gibt es also keinen rechtmäßigen Widerstand des Volks; denn nur durch Unterwerfung unter seinen allgemein-gesetzgebenden Willen ist ein rechtlicher Zustand möglich . . .“ (AA A, S. 439) 174 Den Gedanken des sich selbst zerstörenden Willens greift Kant im Beschluß des Anhangs erläuternder Bemerkungen nochmals zur Ablehnung eines Widerstandsrechtes auf: „so ist es doch schlechterdings unerlaubt und sträflich, ihr zu widerstehen; weil wenn das Volk dieser, obgleich noch fehlerhaften Verfassung und der obersten Autorität Gewalt entgegen setzen zu dürfen sich berechtigt hielte, es sich dünken würde, ein Recht zu haben: Gewalt an die Stelle der alle Rechte zu oberst vorschrei172

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

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Das Volk bricht den Gesellschaftsvertrag, der kein realer Vertrag, sondern nur die Idee des Vereinigungsaktes ist,175 dadurch, daß es die – zumindest ansatzweise – Verwirklichung dieser Idee im empirischen Staat nicht anerkennt. Damit zerstört es die bestehende Verfassung, ohne eine neue, legitime Entscheidungsgrundlage bieten zu können. Die in der Folge ablaufenden Prozesse sind zufällig; im Gegensatz zur reformerischen Verbesserung im bestehenden Staat hängt die Entstehung einer besseren Verfassung im Revolutionsfall allein vom Schicksal ab: „. . . wenn gleich die Organisation des Staats durch sich selbst fehlerhaft wäre, so kann doch keine subalterne Gewalt in demselben dem gesetzgebenden Oberhaupte desselben tätlichen Widerstand entgegensetzen, sondern die ihm anhängenden Gebrechen müssen durch Reformen, die er an sich selbst verrichtet, allmählich gehoben werden; weil sonst bei einer entgegengesetzten Maxime des Untertans (nach eigenmächtiger Willkür zu verfahren) eine gute Verfassung selbst nur durch blinden Zufall zu Stande kommen kann.“ (S. 498)

Damit aber wird auch die vom Staat zu leistende Legitimierung und Sicherung der menschlichen Rechte dem Zufall überlassen; der Rückfall in den Naturzustand unterstellt die Freiheit und sonstigen Rechte der Menschen wieder dem Privatrecht und ist als Verstoß gegen das Postulat des öffentlichen Rechts pflichtwidrig. (2) Unvereinbarkeit mit der Unteilbarkeit der Souveränität Ein Widerstandsrecht des Volkes ist zudem nicht mit Kants Souveränitätskonzeption vereinbar. Kant geht davon aus, daß das „rottierte“, unvereinigte Volk, indem es sich ein Beurteilungsrecht über das Verhalten des Herrschers anmaßt, die eigentliche Oberherrschaft im Staate beansprucht und damit die Souveränität des Staatsoberhauptes aufhebt: „Denn, um zu demselben befugt zu sein, müßte ein öffentliches Gesetz vorhanden sein, welches diesen Widerstand des Volks erlaubte, d. i. die oberste Gesetzgebung enthielte eine Bestimmung in sich, nicht die oberste zu sein, und das Volk, als Untertan, in einem und demselben Urteile zum Souverän über den zu machen, dem es untertänig ist; welches sich widerspricht und wovon der Widerspruch durch die Frage alsbald in die Augen fällt: wer denn in diesem Streit zwischen Volk und Souverän Richter sein sollte . . .; wo sich dann zeigt, daß das erstere es in seiner eigenen Sache sein will.“ (S. 440)176 benden Gesetzgebung zu setzen; welches einen sich selbst zerstörenden obersten Willen abgeben würde.“ (S. 498) 175 s. § 47, S. 434. 176 s. auch Kants Ausführungen im Beschluß des Anhangs erläuternder Bemerkungen der Metaphysik: „Gegen diese Machtvollkommenheit noch einen Widerstand zu erlauben (der jene oberste Gewalt einschränkete), heißt sich selbst widersprechen; denn alsdann wäre jene (welcher widerstanden werden darf) nicht die gesetzliche

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

Nach Kants Auffassung kann es nur eine souveräne Instanz im Staat geben; eine Verteilung der Souveränität auf mehrere Träger lehnt er ab. Damit folgt er der Auffassung Rousseaus,177 der die Souveränität als unveräußerlich und unteilbar ansieht,178 weil er sie mit der Staatsgewalt identifiziert und nicht zwischen der Substanz der Macht und ihrer Ausübung trennt.179 Im Falle eines überpositiven oder konstitutionell verankerten Widerstandsrechtes wäre aber nicht der durch die Verfassung bestimmte Souverän die oberste Macht im Staat, sondern die Gruppe bzw. Institution, die über den Widerstandsfall, d. h. über seine Amtsführung, entscheiden kann. Damit wäre diese Instanz ein zweites, faktisches Staatsoberhaupt neben bzw. über dem nominellen.180 Zudem stünden sich im strittigen Widerstandsfall beide Mächte mit ihren Meinungen gegenüber, so daß es einer unabhängigen dritten Instanz bedürfte, die unparteiisch entscheiden könnte. Damit wäre diese dritte Instanz den beiden ersten wiederum übergeordnet und damit die eigentliche Macht im Staate: „Denn daß die Konstitution auf diesen Fall ein Gesetz enthalte, welches die subsistierende Verfassung, von der alle besondern Gesetze ausgehen, (gesetzt auch der Kontrakt sei verletzt) umzustürzen berechtigte: ist ein klarer Widerspruch; weil sie alsdann auch eine öffentlich konstituierte Gegenmacht enthalten müßte, mithin noch ein zweites Staatsoberhaupt, welches die Volksrechte gegen das erstere beschützte, sein müßte, dann aber auch ein drittes, welches zwischen beiden, auf wessen Seite das Recht sei, entschiede.“ (Gemeinspruch S. 160)

Daher kann dem Volk kein Widerstandsrecht zukommen, die alleinige Entscheidungsbefugnis über die Rechtmäßigkeit des staatlichen Handelns kann nur beim Staat selbst liegen: „. . . und wer soll hier nun entscheiden? Wer sich im Besitz der obersten öffentlichen Rechtspflege befindet, und das ist gerade das Staatsoberhaupt, dieses kann es allein tun . . .“ (Gemeinspruch S. 157)181 oberste Gewalt, die zuerst bestimmt, was öffentlich recht sein soll oder nicht . . .“ (S. 498 f.) 177 s. Beck, L. W., Revolution (JHI 32, 1971), S. 413; Haensel, W., Widerstandsrecht (1926), S. 70 f.; Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 28 f. 178 s. Rousseau, J. J., Gesellschaft (1762), 2. Buch, Kap. I und II, S. 26–28. 179 s. Tsatsos, T., Geschichte (1968), S. 38. Einen kurzen Überblick über die Entwicklung des Souveränitätsverständnisses bietet Haensel, W., Widerstandsrecht (1926), S. 71 f. 180 Dies führt Kant auch in bezug auf ein konstitutionelles Widerstandsrecht explizit aus: „Ja es kann auch selbst in der Konstitution kein Artikel enthalten sein, der es einer Gewalt im Staat möglich machte, sich, im Fall der Übertretung der Konstitutionalgesetze durch den obersten Befehlshaber, ihm zu widersetzen, mithin ihn einzuschränken. Denn der, welcher die Staatsgewalt einschränken soll, muß doch mehr, oder wenigstens gleiche Macht haben, als derjenige, welcher eingeschränkt wird, und, als ein rechtmäßiger Gebieter, der den Untertanen befähle, sich zu widersetzen, muß er sie auch schützen können, und in jedem vorkommenden Fall rechtskräftig urteilen, mithin öffentlich den Widerstand befehligen können. Alsdann ist aber nicht jener, sondern dieser der oberste Befehlshaber; welches sich widerspricht.“ (AA A, S. 438 f.)

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

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(3) Verstoß gegen die Publizitätsfähigkeit Ein drittes Argument, das Kant gegen ein Widerstandsrecht des Volkes anführt, ist seine Unvereinbarkeit mit dem Prinzip der Publizität. Kant weist zunächst im Gemeinspruch darauf hin, daß Rechte im Staat generell öffentlich bekannt gemacht werden müssen, um wirksam zu sein: „Kein Recht im Staate kann durch einen geheimen Vorbehalt, gleichsam heimtükkisch, verschwiegen werden; am wenigsten das Recht, welches sich das Volk, als ein zur Konstitution gehöriges, anmaßt; weil alle Gesetze derselben als aus einem öffentlichen Willen entsprungen gedacht werden müssen. Es müßte also, wenn die Konstitution Aufstand erlaubte, diese das Recht dazu, und auf welche Art davon Gebrauch zu machen sei, öffentlich erklären.“ (Gemeinspruch S. 160, Anmerkung)

Da insbesondere verfassungsrechtlich verankerte Rechte der Publizität bedürfen, müßte auch ein Widerstandsrecht, um überhaupt Bestand zu haben, explizit in der Verfassung genannt werden. Im Frieden entwickelt Kant diesen Gedanken weiter und leitet daraus die transzendentale Formel des öffentlichen Rechts ab, die lautet: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“ (Frieden S. 245)

Anhand dieses Prinzips ist die Rechtswidrigkeit des aktiven Widerstandes gegen den Staat nach Kant leicht nachzuweisen: „. . . das transzendentale Prinzip der Publizität des öffentlichen Rechts kann sich diese Weitläufigkeit ersparen. Nach demselben frägt sich vor Errichtung des bürgerlichen Vertrags das Volk selbst, ob es sich wohl getraue, die Maxime des Vorsatzes einer gelegentlichen Empörung öffentlich bekannt zu machen. Man sieht leicht ein, daß, wenn man es bei der Stiftung einer Staatsverfassung zur Bedingung machen wollte, in gewissen vorkommenden Fällen gegen das Oberhaupt Gewalt auszuüben, so müßte das Volk sich einer rechtmäßigen Macht über jenes anmaßen. Alsdann wäre jenes aber nicht das Oberhaupt, oder, wenn beides zur Bedingung der Staats181 Kant durchbricht hier das an anderer Stelle (im Frieden und der Metaphysik) von ihm geforderte Gewaltenteilungsprinzip. Denn zuvor hatte er das Staatsoberhaupt bestimmt als „Vollzieher desselben“ (des öffentlichen Gesetzes) (Gemeinspruch S. 147), hatte ihm also die exekutive Funktion zugesprochen. Hier schreibt er dem Staatsoberhaupt zusätzlich die judikative Funktion zu: nicht der Staat generell, sondern das Staatsoberhaupt ist „im Besitz der obersten öffentlichen Rechtspflege“. Allerdings stellt Kant im Gemeinspruch die Gewaltenteilung – anders als im Frieden und der Metaphysik – nicht als apriorisches Kriterium des bürgerlichen Zustandes auf. Zudem legt Kant hier zunächst diese Kriterien dar (s. Gemeinspruch S. 145–153), um sie dann unter der Überschrift „Folgerung“ auf die Verhältnisse in den empirischen Staaten anzuwenden (s. Gemeinspruch S. 153–163), die eben nicht strikt gewaltenteilig organisiert sind. Es findet sich also eine ähnliche Einteilung wie in der Metaphysik, in der Kant sie jedoch durch die Unterscheidung zwischen Text- und Anmerkungsteil noch deutlicher herausstellt. Auch im letzteren Teil der Metaphysik „durchbricht“ Kant sein im Textteil postuliertes Gewaltenteilungsprinzip, da er sich dort mit der empirischen Rechtspraxis beschäftigt.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

errichtung gemacht würde, so würde gar keine möglich sein, welches doch die Absicht des Volks war. Das Unrecht des Aufruhrs leuchtet also dadurch ein, daß die Maxime desselben dadurch, daß man sich öffentlich dazu bekennte, seine eigene Absicht unmöglich machen würde. Man müßte sie also notwendig verheimlichen. – Das letztere wäre aber von Seiten des Staatsoberhauptes eben nicht notwendig.“ (Frieden S. 245 f.)

Der Vorsatz des Volkes (oder auch einzelner Menschen), sich unter bestimmten Bedingungen gegen die staatliche Gewalt aufzulehnen, müßte geheim gehalten werden, da der Staat sonst gegen die Insurgenten einschreiten und den Aufstand verhindern würde. Da der Vorbehalt der Rebellion somit nicht der Publizität fähig ist, kann ihm auch nicht die Geltungskraft eines öffentlichen Rechtes zukommen.182 (4) Weitere Probleme im vorrepublikanischen Staat Neben diesen grundsätzlich gegen ein Widerstandsrecht des Volkes sprechenden Argumenten führt Kant zusätzliche Gründe gegen ein konstitutionell verankertes Recht auf aktiven Widerstand im vorrepublikanischen Staat an, das in einer eingeschränkten Verfassung vorliegt: „In einer Staatsverfassung, die so beschaffen ist, daß das Volk durch seine Repräsentanten (im Parlament) jener [der ausübenden Gewalt] und dem Repräsentanten derselben (dem Minister) gesetzlich widerstehen kann – welche dann eine eingeschränkte Verfassung heißt – ist gleichwohl kein aktiver Widerstand (der willkürlichen Verbindung des Volks, die Regierung zu einem gewissen tätigen Verfahren zu zwingen, mithin selbst einen Akt der ausübenden Gewalt zu begehen), sondern nur ein negativer Widerstand . . . erlaubt . . .“ (AA A, S. 441)

Denn aktiver Widerstand würde zu einer Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips führen:183 würde das Parlament den Inhaber der Exekutive, der im vorrepublikanischen Staat das Staatsoberhaupt ist,184 zu einem bestimmten Verhalten zwingen, würde es sich eine exekutive Funktion anmaßen und damit in die Despotie abgleiten. Daher ist auch in der eingeschränkten Verfassung nur negativer Widerstand erlaubt, „. . . d. i. Weigerung des Volks (im Parlament), . . . jener [der Regierung] in den Forderungen, die sie zur Staatsverwaltung nötig zu haben vorgibt, nicht immer zu willfahren . . .“ (AA A, S. 441). Allerdings obliegt die Entscheidung über den Erlaß oder Nichterlaß bestimmter Beschlüsse ohnehin dem Parlament, so daß ihm hier kein zusätzliches Recht zugesprochen wird; 182 Die Frage, ob sich mit dieser transzendentalen Formel des öffentlichen Rechts auch positiv die Befugnis des Staatsoberhauptes nachweisen läßt, einen etwaigen Aufruhr zu unterdrücken (wie Kant im folgenden vertritt), verneinen Atkinson, R. F., Rigorism (1992), S. 237, und Westphal, K. R., Gehorsamspflicht (1998), S. 182 f. 183 Zu Kants Gewaltenteilungskonzeption s. im einzelnen unten E. I. 1. 184 In der Republik dagegen ist die Legislative souverän: „. . . die Herrschergewalt (Souveränität), in der [Person] des Gesetzgebers . . .“ (§ 45, S. 431)

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

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nach dem Prinzip der Gewaltenteilung ist der Exekutive die Einflußnahme auf die Legislative und die Forderung bestimmter Beschlüsse ohnehin untersagt.185 Dieses absolute Verbot von Eingriffen der Legislative in die Sphäre der Exekutive gilt allerdings nur im vorrepublikanischen Staat, in dem der Monarch souverän ist, nicht dagegen in der Republik, in der die vom Volk gewählte Legislative souverän ist. Dort gilt vielmehr folgendes: „Der Beherrscher des Volks (der Gesetzgeber) kann also nicht zugleich der Regent sein . . . Jener kann diesem auch seine Gewalt nehmen, ihn absetzen, oder seine Verwaltung reformieren, aber ihn nicht strafen . . ., denn das wäre wiederum ein Akt der ausübenden Gewalt, der zu oberst das Vermögen, dem Gesetze gemäß zu zwingen zusteht . . .“ (§ 49, S. 436)

Auch in der respublica phaenomenon gilt das Gewaltenteilungsargument fort und schließt eine Bestrafung des Inhabers der Exekutive aus, da dies ein Akt der ausführenden Gewalt wäre. Da aber die Legislative die oberste Gewalt ist und der Regent als Exekutive unter den Gesetzen steht, kann die Legislative den Regenten in der Republik absetzen und sogar „seine Verwaltung reformieren“, d. h. in seine ureigenste Sphäre eingreifen.186 In der Republik ist die Beurteilung der Amtsführung der Regierung durch die Legislative keine Frage des Widerstandsrechtes mehr, ihre Absetzung ist kein Widerstand, sondern Ausübung der der souveränen Legislative rechtlich zukommenden Befugnisse, Ausübung der staatlichen Gewalt.187 Damit kann die Legislative in der Republik größeren Einfluß auf die Exekutive nehmen als im vorrepublikanischen Staat (insbesondere der Monarchie) – bzw. sie kann überhaupt Einfluß nehmen. Insofern kommt der Frage nach dem Widerstandsrecht in der respublica phaenomenon eine viel geringere Bedeutung zu. In der vorrepublikanischen, eingeschränkten Verfassung dagegen ist der Widerstand nur im oben beschriebenen Umfang erlaubt, bei seiner verfassungsrechtlichen Gewährung allerdings auch geboten: „. . . vielmehr wenn das letzere geschähe [das Parlament stets den Forderungen der Exekutive willfahren würde], so wäre es ein sicheres Zeichen, daß das Volk verderbt, seine Repräsentanten erkäuflich und das Oberhaupt in der Regierung durch 185 s. Westphal, K. R., Gehorsamspflicht (1998), S. 187 f., der moniert, daß Kants Konzeption „in Wirklichkeit der Exekutive den Vorrang gibt“ und zum Despotismus der Exekutive führt. s. auch ders., Inadequacy (JRE 1, 1993), S. 271. 186 Insofern trifft Westphals obige Kritik nicht zu, daß Kants Gewaltenteilungskonzeption der Exekutive den Vorrang gebe, s. Westphal, K. R., Gehorsamspflicht (1998), S. 187 f., und ders., Inadequacy (JRE 1, 1993), S. 271. Dies gilt zwar für den Anmerkungsteil, in dem Kant sich aber mit den bestehenden Verhältnissen auseinandersetzt, nicht dagegen für den Textteil, in dem er das Vorbild darstellt, dem diese Verhältnisse anzupassen sind. Kant postuliert damit nicht den „Despotismus der Exekutive“, sondern vielmehr den Vorrang der Legislative und die Souveränität des Volkes. 187 Die entsprechenden Befugnisse der Legislative sind auch nicht mehr – wie bei der Frage des Widerstandsrechtes – an einen Rechtsbruch der Exekutive gebunden, s. Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 100 f.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

seinen Minister despotisch, dieser selbst aber ein Verräter des Volks sei.“ (AA A, S. 441 f.)

Die Volksvertreter müssen ihr Recht zur Verweigerung im Widerstandsfall ausüben, da sie sonst dieses dem Volk mittelbar zustehende Recht verletzen und damit das Volk verraten würden. Diese Gefahr führt Kant als weitere, pragmatische Begründung gegen ein konstitutionelles Widerstandsrecht und die eingeschränkte Verfassung an. Er verweist hier auf die empirische Erfahrung, daß die Volksvertreter dazu neigen, ihren eigenen Vorteil zu Lasten des Volkes zu suchen: „Das Volk, das durch seine Deputierte (im Parlament) repräsentiert wird, hat an diesen Gewährsmännern seiner Freiheit und Rechte Leute, die für sich und ihre Familien, und dieser ihre vom Minister abhängigen Versorgung, in Armeen, Flotte und Zivilämtern, lebhaft interessiert sind, und die (statt des Widerstandes gegen die Anmaßung der Regierung . . .) vielmehr immer bereit sind, sich selbst der Regierung in die Hände zu spielen. – Also ist die sogenannte gemäßigte Staatsverfassung, als Konstitution des innern Rechts des Staats, ein Unding, und anstatt zum Recht zu gehören, nur ein Klugheitsprinzip, um, so viel als möglich, dem mächtigen Übertreter der Volksrechte seine willkürliche Einflüsse auf die Regierung nicht zu erschweren, sondern unter dem Schein einer dem Volk verstatteten Opposition zu bemänteln.“ (AA A, S. 439)

Kant befürchtet, daß die Repräsentanten des Volkes eher auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind als auf die Rechte der Repräsentierten und daß sie durch das Inaussichtstellen materieller Vorteile, etwa durch Ämterpatronage, korrumpiert und leicht dazu gebracht werden können, die Interessen des Volkes zu verraten und denen des Herrschers zu willfahren. Aus diesem Grund schwächt die eingeschränkte Verfassung die Rechte des Volkes, statt sie zu stärken. Denn während sie vorgibt, die Macht des Monarchen einzuschränken, gaukelt sie dem Volk diese Einschränkung und die Kontrolle durch das Parlament nur vor. Durch den versteckten Einfluß des Herrschers auf das Parlament wird auch in einem solchen Staat despotisch regiert, da der Monarch nicht nur die Exekutive innehat, sondern auch die Legislative beeinflussen und nach seinem Willen lenken kann. Dieser versteckte Despotismus ist umso perfider, als hier die Verpflichtung zu republikanisierenden Reformen auf den ersten Blick bereits erfüllt scheint. Kersting formuliert diesen Kritikpunkt wie folgt: „die gemäßigte Monarchie wird von Kant hier darum verworfen, weil sie als Möglichkeit eines freiheitlich verkleideten Despotismus jeden Republikanisierungsprozeß blockieren kann, mit dem Hinweis auf die institutionalisierte Rechtsvertretung des Volkes sich gegen jede auf Rechtsverbesserung zielende Kritik zu immunisieren vermag.“ 188 188 Kersting, W., Freiheit (1993), S. 466, Fn. 222. Aus diesem Grund kritisiert Kant im Streit auch die Verfassung von Großbritannien, s. Streit S. 363 f.

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c) Rechte des Volkes Obwohl das Volk aus den oben genannten Gründen seine Rechte dem Herrscher gegenüber nicht zwangsweise durchsetzen darf, hat es dennoch die Möglichkeit, auf andere Weise zur Implementierung der gesellschaftsvertraglichen Prinzipien im Staat beizutragen, und zwar durch die freie Meinungsäußerung und durch passiven Widerstand, den Kant unter bestimmten Umständen für legitim hält. (1) Recht auf freie Meinungsäußerung Die Notwendigkeit der Gewährung von Meinungsfreiheit begründet Kant im Gemeinspruch wie folgt: „Der nicht-widerspenstige Untertan muß annehmen können, sein Oberherr wolle ihm nicht unrecht tun. Mithin, da jeder Mensch doch seine unverlierbaren Rechte hat, die er nicht einmal aufgeben kann, wenn er auch wollte, und über die er selbst zu urteilen befugt ist; das Unrecht aber, welches ihm seiner Meinung nach widerfährt, nach jener Voraussetzung nur aus Irrtum oder Unkunde gewisser Folgen aus Gesetzen der obersten Macht geschieht: so muß dem Staatsbürger, und zwar mit Vergünstigung des Oberherrn selbst, die Befugnis zustehen, seine Meinung über das, was von den Verfügungen desselben ihm ein Unrecht gegen das gemeine Wesen zu sein scheint, öffentlich bekannt zu machen. Denn, daß das Oberhaupt auch nicht einmal irren, oder einer Sache unkundig sein könne, anzunehmen, würde ihn als mit himmlischen Eingebungen begnadigt und über die Menschheit erhaben vorstellen. Also ist die Freiheit der Feder – in den Schranken der Hochachtung und Liebe für die Verfassung worin man lebt, durch die liberale Denkungsart der Untertanen, die jene noch dazu selbst einflößt, gehalten (und dahin beschränken sich auch die Federn einander von selbst, damit sie nicht ihre Freiheit verlieren) – das einzige Palladium der Volksrechte.“ (Gemeinspruch S. 161)

Kant betont hier zunächst, daß der gehorsame, gesetzestreue Untertan davon ausgehen können muß, daß der Herrscher ihm keinen Schaden zufügen wolle. Diesen Gedanken führt er an späterer Stelle weiter aus: „Es muß in jedem gemeinen Wesen ein Gehorsam, unter dem Mechanismus der Staatsverfassung nach Zwangsgesetzen . . ., aber zugleich ein Geist der Freiheit sein, da jeder, in dem was allgemeine Menschenpflicht betrifft, durch Vernunft überzeugt zu sein verlangt, daß dieser Zwang rechtmäßig sei, damit er nicht mit sich selbst in Widerspruch gerate.“ (Gemeinspruch S. 163)

Dem Menschen als vernunftbegabten Wesen widerstrebt der bloß erzwungene Gehorsam, der nicht zugleich von der Überzeugung seiner Rechtmäßigkeit getragen ist. Ein solcher unfreiwilliger Gehorsam verstößt auch unter sittlichen Gesichtspunkten gegen den kategorischen Imperativ und ist – in den Worten Westphals – „unmoralisch, weil er den Adressaten des Befehls nicht als Zweck an sich achtet“.189 Die Überzeugung von der Legitimität der staatlichen Macht 189

Westphal, K. R., Gehorsamspflicht (1998), S. 193, Fn. 36.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

und des staatlichen Zwanges kann aber nur dann bestehen, wenn das Volk davon ausgehen kann, daß der Staat ihm keinen Schaden zufügen will, d. h. seine Rechte nicht vorsätzlich verletzt. Hier deutet sich an, daß Kant trotz seines strikten Verbotes jeglichen aktiven Widerstandes aus Rechtsgründen natürlich erkennt, daß und warum Revolutionen in den geschichtlichen, empirischen Staaten stattfinden – er geht davon aus, daß sie immer dann auftreten, wenn der staatliche Zwang vom Volk nicht mehr als legitimiert empfunden wird, wenn der „Geist der Freiheit“ dermaßen unterdrückt wird, daß das Volk keinen anderen Ausweg sieht, seine Rechte zu schützen. Da jeder Herrscher ein Mensch und somit nicht unfehlbar ist, wird es immer wieder – auch bei rechtstreuen, gutmeinenden Herrschern – zu Fehlern und Rechtsverletzungen kommen, die ihnen versehentlich oder aus Unkenntnis unterlaufen. Da der Untertan annehmen können muß, daß diese Rechtsbrüche nicht vorsätzlich geschehen sind, muß er den Herrscher auf die – ungewollten – Konsequenzen seines Handelns hinweisen dürfen. Damit nützt die freie Meinungsäußerung nicht nur dem Untertanen, sondern auch dem Herrscher; ebenso schadet ihm auch ihre Unterdrückung mittelbar: „Denn diese Freiheit ihm auch absprechen zu wollen, ist nicht allein so viel, als ihm allen Anspruch auf Recht in Ansehung des obersten Befehlshabers (nach Hobbes) nehmen, sondern auch dem letzteren . . . alle Kenntnis von dem entziehen, was, wenn er es wüßte, er selbst abändern würde . . .“ (Gemeinspruch S. 161 f.)

Die Gewährung von Meinungsfreiheit ist damit auch aus pragmatischen Gründen für den Herrscher sinnvoll: die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung bietet ein Ventil für Kritik, die sich sonst andere, gewalttätigere Wege des Ausdrucks suchen könnte.190 Zwar verweist Kant darauf, daß die Unterdrückung der Meinungsfreiheit dem Untertanen jegliches Recht gegenüber dem Herrscher nimmt, da ihm Zwangsrechte ohnehin nicht zukommen. Andererseits stellt er aber ausdrücklich klar, daß die Verletzung der Rechte des Volkes – auch der unverlierbaren Rechte – kein Widerstandsrecht begründen kann, so daß selbst die Unterbindung der freien Meinungsäußerung durch den Herrscher keine Revolution oder anderen aktiven Widerstand des Volkes rechtfertigen kann.191 Allerdings wird teilweise angenommen, daß Kant in einem solchen Fall ein aktives Widerstandsrecht zulassen würde,192 weil er sich zu diesem Problem nicht explizit äußert. Diese 190

s. Frowein, J. Abr., Meinungsfreiheit (AöR 105, 1980), S. 171. So auch Nicholson, P. P., Revolutions (1992), S. 252; Spaemann, R., Kritik (1976), S. 352 f. 192 s. Arendt, H., Urteilen (1998), S. 69; Reiss, H. S., Rebellion (JHI 17, 1956), S. 190 f.; Scheffel, D., Verwerfung (1982), S. 206 f. Scheffel nimmt dies allerdings nur unter der Bedingung an, daß diese Revolution eine – in Scheffels Diktion – rechtliche Verfassung schafft, in der die Meinungsfreiheit wenigstens nicht unterdrückt wird und durch Reformen weitere Verbesserungen erreicht werden können, s. S. 207. 191

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Auffassung widerspricht aber seinen obigen Ausführungen, daß das Widerstandsverbot unbedingt ist und auch die unverlierbaren Rechte des Volkes keine Zwangsrechte sind, sondern nur unvollkommene Pflichten auf Seiten des Herrschers begründen.193 (2) Recht auf passiven Widerstand aus Gewissensgründen Da nicht einmal die Unterdrückung der Meinungsfreiheit durch den Herrscher dem Volk ein Widerstandsrecht verleiht, scheint dieses dem ersteren schutzlos ausgeliefert zu sein und auch im Fall der schlimmsten Rechtsverletzungen keinerlei Mittel der Verteidigung zur Verfügung zu haben. Aber Kant liefert in der letzten seiner relevanten Schriften eine Klarstellung seiner Widerstandslehre und erläutert den Umfang des scheinbar umfassenden Widerstandsverbotes näher. Im Beschluß seines Anhangs erläuternder Bemerkungen der Metaphysik, die er als Antwort auf die von Friedrich Bouterwek stammende Rezension dieses Werkes in den Göttinger Anzeigen schrieb,194 geht er nochmals auf das Thema ein: „Daß dem, welcher sich im Besitz der zu oberst gebietenden und gesetzgebenden Gewalt über ein Volk befindet, müsse gehorcht werden und zwar so juridisch-unbedingt, daß auch nur nach dem Titel dieser Erwerbung öffentlich zu forschen, also ihn zu bezweifeln, um sich, bei etwaniger Ermangelung desselben, ihm zu widersetzen, schon strafbar, daß es ein kategorischer Imperativ sei: Gehorchet der Obrigkeit (in allem, was nicht dem inneren Moralischen widerstreitet), die Gewalt über euch hat, ist der anstößige Satz, der in Abrede gezogen wird.“ (S. 497)195

Aus dieser Formulierung Kants ergibt sich zweierlei: zunächst erstreckt sich die Gehorsamspflicht nicht auf das ,innere Moralische‘, und zweitens ist bei einer Kollision der Gehorsamspflicht mit dem „inneren Moralischen“ die erstere nachrangig und dem letzteren Folge zu leisten. Die Pflicht zum Gehorsam erstreckt sich deshalb nicht auf das innere Moralische, weil die vom Staat auf193 Zur Widerlegung von Scheffels Argumentation s. auch Westphal, K. R., Gehorsamspflicht (1998), S. 186 f., Fn. 22. 194 s. Metaphysik S. 480. 195 Kant spricht hier vom Staatsoberhaupt als der „gebietenden und [!] gesetzgebenden Gewalt“, bezieht sich also auf die Verhältnisse im vorrepublikanischen empirischen Staat und nicht etwa auf die respublica phaenomenon oder gar noumenon. Insofern ist auch der mit dieser Formulierung verbundene Verstoß gegen die Gewaltenteilungslehre verständlich, die Kant sonst postuliert und den Westphal hier moniert (s. Westphal, K. R., Inadequacy (JRE 1, 1993), S. 268). Denn der vorrepublikanische Staat entspricht eben noch nicht dem Ideal der respublica noumenon und ist dieser gegenüber in vielerlei Hinsicht defizient, unter anderem im Hinblick auf die mangelnde Verwirklichung der Gewaltenteilung. Es trifft nicht zu, daß Kant hier „muddles together the governmental powers“, vielmehr wendet er hier nur das apriorische Recht auf die bestehenden rechtlichen, aber noch nicht rechtmäßigen Verhältnisse an, s. dazu Metaphysik S. 309: „der Begriff des Rechts, als ein reiner jedoch auf die Praxis (Anwendung auf in der Erfahrung vorkommende Fälle) gestellter Begriff“.

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gestellten Gesetze oder sonstigen Anordnungen, denen Folge zu leisten ist, nur bestimmte Handlungen fordern oder verbieten können, nicht aber eine hinter ihnen stehende bestimmte Gesinnung. Denn das Recht betrifft „nur das äußere . . . Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander . . . Einfluß haben können“ (§ B, S. 337); die juridischen Gesetze können „nur auf bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen“, ohne die Triebfeder der Handlung in Betracht zu ziehen (S. 318). Der Staat kann daher nur das gesetzmäßige Handeln fordern, die Legalität; die ethische Gesinnung, daß diese Handlung zugleich aus einem Pflichtgefühl heraus geschieht, kann er dagegen nicht erzwingen. Die Gehorsamspflicht erfaßt damit nur das, was überhaupt in den Regelungsbereich des Rechtes fällt.196 Das ,innere Moralische‘ ist damit eben dieser nicht vom Recht erfaßte Bereich, der Bereich der Ethik als „Lehre von den Pflichten, die nicht unter äußeren Gesetzen stehen“ und dieser auch nicht fähig sind (Tugendlehre, S. 508). Da das Recht keine bestimmte Gesinnung vorschreiben kann, ist den Gesetzen nicht Folge zu leisten, die dies versuchen – wie etwa Gesetzen, die die Glaubens- und Religionsfreiheit oder die Freiheit der Wissenschaft einschränken.197 Diese Gesetze sind vom Gehorsamsgebot ausgenommen, gegen sie ist passiver Widerstand im Sinne der bloßen Nichtbefolgung erlaubt. Kant betont zudem, daß bei einer Kollision der Gehorsamspflicht mit dem inneren Moralischen das letztere vorrangig ist und die Gehorsamspflicht erlischt. Strenggenommen kann nicht einmal von einer Pflichtenkollision gesprochen werden, da es eine solche nach Kant nicht gibt, wie er in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten erläutert: „Ein Widerstreit der Pflichten . . . würde das Verhältnis derselben sein, durch welches eine derselben die andere (ganz oder zum Teil) aufhöbe. – Da aber Pflicht und Verbindlichkeit überhaupt Begriffe sind, welche die objektive praktische Notwendigkeit gewisser Handlungen ausdrücken und zwei einander entgegengesetzte Regeln nicht zugleich notwendig sein können, sondern, wenn nach einer derselben zu handeln es Pflicht ist, so ist nach der entgegengesetzten zu handeln nicht allein keine Pflicht, sondern sogar pflichtwidrig: so ist eine Kollision von Pflichten und Verbindlichkeiten gar nicht denkbar . . . Es können aber gar wohl zwei Gründe der Verbindlichkeit . . ., deren einer aber, oder der andere, zur Verpflichtung nicht zureichend ist . . ., in einem Subjekt und der Regel, die es sich vorschreibt, verbunden sein, da dann der eine nicht Pflicht ist. – Wenn zwei solcher Gründe einander widerstreiten, so sagt die praktische Philosophie nicht: daß die stärkere Verbindlichkeit die Oberhand behalte . . ., sondern der stärkere Verpflichtungsgrund behält den Platz . . .“ (S. 330 f.)

Beim Vorliegen eines moralischen und eines gegen diesen verstoßenden juridischen Verbindlichkeitsgrundes tritt der juridische Verpflichtungsgrund zurück, 196 197

s. Kersting, W., Freiheit (1993), S. 478–480. s. hierzu Wilbrandt, R., Zweck (JGVV 28, 1904), S. 95–100.

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da die moralischen den rechtlichen Pflichten vorgängig sind.198 Daher ist es nicht nur keine Pflicht, eine juridisch geforderte, aber unmoralische Handlung vorzunehmen, sondern es ist pflichtwidrig und unerlaubt, sie zu begehen.199 Dies hatte Kant auch schon in der 1793 erschienenen Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Religion) betont: „Der Satz ,man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen‘ bedeutet nur, daß, wenn die letzten etwas gebieten, was an sich böse (dem Sittengesetz unmittelbar zuwider) ist, ihnen nicht gehorcht werden darf und soll.“ (Religion S. 758, Anmerkung)

Kriterium des Sittengesetzes ist der kategorische Imperativ, den Kant in der Einleitung in die Metaphysik wie folgt formuliert: „Der oberste Grundsatz der Sittenlehre ist also: handle nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann. – Jede Maxime, die sich hiezu nicht qualifiziert, ist der Moral zuwider.“ (S. 332)

In der Tugendlehre bestimmt er ihre Aufgabe wie folgt: „Denn es ist die Tugendlehre, welche gebietet, das Recht der Menschen heilig zu halten.“ (Tugendlehre S. 525)

Damit widerstreiten die Handlungen dem inneren Moralischen, die dieses Recht nicht wahren, die dem kategorischen Imperativ zuwiderlaufen und – nach einer weiteren Formulierung desselben – den Menschen lediglich als Mittel und nicht auch zugleich als Zweck betrachten.200 In den Fällen, in denen eine solche Handlung gefordert wird, ist der Untertan daher nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, dieses Handeln zu verweigern.201 Allerdings bedeutet dies nicht, wie Westphal annimmt, daß „[d]eshalb . . . die Sphäre des pflichtmäßigen Gehorsams mit derjenigen der legitimen positiven Gesetzgebung identisch“ ist.202 Denn Kant betont ausdrücklich an verschiedenen Stellen, daß auch der nur rechtlichen, aber noch nicht rechtmäßigen staatlichen Macht kein Widerstand entgegengesetzt werden darf, daß also auch 198

Kersting, W., Freiheit (1993), S. 479. s. S. 328: „Erlaubt ist eine Handlung . . ., die der Verbindlichkeit nicht entgegen ist . . . Hieraus versteht sich von selbst was unerlaubt . . . sei.“ 200 s. Kants Formulierung in der Grundlegung: „Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (GMS S. 61) 201 s. auch Ju, G.-J., Menschenrecht (1990), S. 138; Westphal, K. R., Gehorsamspflicht (1998), S. 193. Kant nennt einige Beispiele, allerdings nicht in einer Druckschrift, sondern in einer Reflexion: „Aber Gewalt, vor welche kein rechtskräftig Urtheil vorher geht, ist unrechtmäßig, folglich kann es [das Volk] sich nicht widersetzen außer in denen fällen, welche gar nicht in die unionem civilem kommen können, e. g. religionszwang. Zwang zu unnatürlichen Sünden: Meuchelmord etc. etc.“ (AkademieAusgabe Bd. XIX, S. 594 f., Nr. 8051) 202 s. Westphal, K. R., Gehorsamspflicht (1998), S. 193 f. 199

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ungerechten und sogar tyrannischen Gesetzen Folge zu leisten ist. Die Sphäre von Kants Widerstandserlaubnis aus moralischen Gründen ist enger zu ziehen;203 es darf nicht jedem ungerechten, illegitimen Gesetz widerstanden werden, sondern nur jenen, die rechtswidrig sind und gleichzeitig unmoralische Handlungen fordern.204 Das Recht zum Widerstand gegen Gesetze dieser Art beschränkt sich auf die bloße Verweigerung der unmoralischen Handlung; ein Recht, sich den staatlichen Organen auch darüberhinausgehend zu widersetzen, besteht nicht – selbst, wenn dem Untertanen dadurch Unrecht geschieht. Der Widerstand aus Gewissensgründen kann daher (wie das konstitutionelle Widerstandsrecht) nur negativ, nur passiv sein. Da er auf die bloße Weigerung beschränkt ist und keinen weitergehenden Widerstand rechtfertigt, muß der sich widersetzende Untertan die Folgen seines Handelns tragen und eine etwaige Bestrafung akzeptieren, die er für seine Gehorsamsverweigerung erfährt.205 d) Folgen einer erfolgreichen Revolution Kant geht – wie oben dargelegt – von der Legitimität der bestehenden staatlichen Macht unabhängig von ihrem Ursprung aus. Diese Position behält er konsequent auch in bezug auf den zwar unerlaubten, aber in der Welt der Erscheinungen dennoch vorkommenden aktiven Widerstand, insbesondere auf Revolutionen, bei: sobald hierdurch ein Umsturz der Verhältnisse eingetreten ist und sich eine neue politische Macht etabliert hat, ist nun dieser Macht ungeachtet ihrer Entstehungsbedingungen und der Illegitimität ihres Ursprungs Gehorsam zu leisten.206 Dies betont Kant in den Anmerkungen der Metaphysik: 203 Westphal selbst spricht dies an, verwirft es jedoch: „Es könnte so scheinen, daß die Erlaubnis, den Befehl unmoralischer Handlungen zu verweigern, strenggenommen nicht gleichbedeutend damit ist, rechtswidrigen Gesetze [sic] überhaupt zu widerstehen, weil z. B. ein Gesetz, daß [sic] die Rede- oder Versammlungsfreiheit verbietet, selbst nicht unmoralisch sein mag. Wie jedoch die in der letzten Anmerkung zitierten Textstellen zeigen, bildet der kategorische Imperativ Kants sine qua non der Legitimität des Gesetzes, und der politische Ausdruck des kategorischen Imperatives ist (wenigstens hypothetisch) die Zustimmung der Bürger.“ s. Westphal, K. R., Gehorsamspflicht (1998), S. 193, Fn. 36. Auf die Legitimität der Gesetze kommt es aber wie oben gesehen eben nicht an; ausreichend ist allein ihre Legalität. Zu dieser Unterscheidung s. Spaemann, R., Kritik (1976), S. 348. 204 Nicht dazu gehören würde etwa ein Gesetz, das ungerecht ist, weil es auf ungleiche Weise Steuern erhebt, denn es fordert keine unmoralischen Handlungen und widerstreitet nicht dem inneren Moralischen. 205 s. Kersting, W., Freiheit (1993), S. 480; Römpp, G., Exeundum (ARSP 74, 1988), S. 465, Fn. 4. Da der Herrscher die Gehorsamsverweigerung ahnden kann, bleibt seine Entscheidungsbefugnis unangetastet, so daß sich die Frage des „quis judicabit“ nicht stellt. Zwar maßt sich der Bürger bzw. Untertan ein Urteil über die Moralität der obrigkeitlichen Anordnung an, in diesem Streit zwischen Untertan und Herrscher entscheidet aber letztlich der letztere, indem er den ersteren straft. Dies übersehen Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 175 und Unruh, P., Vernunft (1993), S. 211.

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„Übrigens, wenn eine Revolution einmal gelungen, und eine neue Verfassung gegründet ist, so kann die Unrechtmäßigkeit des Beginnens und der Vollführung derselben die Untertanen von der Verbindlichkeit, der neuen Ordnung der Dinge sich, als gute Staatsbürger, zu fügen, nicht befreien, und sie können sich nicht weigern, derjenigen Obrigkeit ehrlich zu gehorchen, die jetzt die Gewalt hat.“ (AA A, S. 442)

Kants Ablehnung jeglichen Rechts zum (aktiven) Widerstand hat insofern sowohl eine konservative als auch eine progressive, anti-restaurative Wirkung.207 Auch im Frieden weist Kant auf diesen Aspekt hin: „Wenn auch durch den Ungestüm einer von der schlechten Verfassung erzeugten Revolution unrechtmäßigerweise eine gesetzmäßigere errungen wäre, so würde es doch auch alsdann nicht mehr für erlaubt gehalten werden müssen, das Volk wieder auf die alte zurück zu führen . . .“ (Frieden S. 233 f.)

Zwar könnte dies so verstanden werden, als könne nur die gesetzmäßigere Verfassung Gehorsam fordern, während bei einer Verschlechterung der rechtlichen Verhältnisse Widerstand zur Wiederherstellung des status quo ante geleistet werden dürfe, aber angesichts der sonstigen Aussagen Kants zu dieser Frage und der uneingeschränkten Gehorsamspostulierung in der Metaphysik muß davon ausgegangen werden, daß Kant Widerstand auch bei einem Rückschritt in der Verrechtlichung der Verhältnisse im Staat ablehnt.208 e) Bewertung von Kants Position Der Widerstandslehre Kants ist in mehrfacher Hinsicht Inkonsistenz oder sogar Versagen vorgeworfen worden, vor allem im Hinblick auf Kants positive 206 s. hierzu auch Schmidt, H., Reform (ARSP 71, 1985), S. 309. A. A. Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 85 f., die davon ausgeht, „daß Kant nicht etwa – wie die herrschende Kant-Literatur es will – das Recht der ,gelungenen Revolution‘ vertritt“, sondern der „revolutionären Begründung einer republikanischen Rechtsordnung“ zustimmt, die „nicht . . . auf Gewalt, sondern auf einer rechtsbegründenden Souveränität“ basiert und daher eben nicht beliebig ist. 207 s. auch Fetscher, I., Reformismus (1976), S. 183. Lediglich an einer Stelle in Kants Werken findet sich eine Aussage, die seinen übrigen Äußerungen zu diesem Thema widerspricht: „Wenn er [der entthronte Monarch] aber das letztere vorzieht [die Wiedererlangung der Macht], so bleibt ihm, weil der Aufruhr, der ihn aus seinem Besitz vertrieb, ungerecht war, sein Recht an demselben unbenommen.“ (AA A, S. 443) Diese Ansicht paßt nicht zu Kants Bejahung der Legitimität staatlicher Macht ungeachtet ihres Ursprungs und ist auch seinen sonstigen Ausführungen diametral entgegengesetzt. So schreibt er etwa im Frieden: „daß, wenn der Aufruhr dem Volk gelänge, jenes Oberhaupt in die Stelle des Untertans zurücktreten, eben sowohl keinen Wiedererlangungsaufruhr beginnen . . . müßte“ (lies: dürfte) (Frieden S. 246). s. hierzu auch Kersting, W., Freiheit (1993), S. 474, Fn. 229. Damit ist die von Reiss gestellte Frage, ob dieses Recht zur Gegenrevolution auch für einen despotischen Herrscher gelten würde, eigentlich obsolet (s. Reiss, H. S., Rebellion (JHI 17, 1956), S. 183). 208 Anderer Ansicht wohl Maus, I., Demokratietheorie (1992), da die Ergebnisse solcher Revolution beliebig sind und daher „durch ebenso beliebige Konterrevolutionen mit gleicher Rechtfertigung zu korrigieren“ (S. 85).

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Einstellung zur Amerikanischen und Französischen Revolution, hinsichtlich seiner eigenen Prinzipien und bezüglich der Folgen seiner Theorie angesichts tyrannischer, menschenverachtender Herrschaft in Unrechtsregimes. Im folgenden soll gezeigt werden, daß diese Vorwürfe nicht zutreffen und Kants Lehre weder widersprüchlich ist noch angesichts realer politischer Verhältnisse versagt. (1) Vereinbarkeit mit Kants positiver Bewertung historischer Revolutionen Obwohl Kant dezidiert ein Recht auf aktiven Widerstand und Revolution ablehnt, zollte er doch den beiden großen Revolutionen seiner Zeit Beifall und beurteilte sie positiv.209 Sein zeitgenössischer Biograph Jachmann berichtet, daß Kant wegen seiner Begeisterung für die Amerikanische Unabhängigkeitsbewegung von einem Engländer namens Green zum Duell gefordert wurde, ihn aber mit seinen Ausführungen überzeugen konnte und sich mit ihm anfreundete.210 Auch an den Vorgängen in Frankreich nahm Kant großen Anteil211 und äußerte sich über die Französische Revolution sowohl privat als auch in seinen Druckschriften positiv.212 So schreibt er im Streit: „Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greueltaten dermaßen angefüllt sein, daß ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie, zum zweitenmale unternehmend, glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde – diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer . . . eine Teilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere, als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.“ (Streit S. 358)

Zwar beurteilt Kant hier nicht die Revolution direkt, sondern die Anteilnahme der Zuschauer,213 aber er sieht diese als Beweis für eine moralische Anlage und als Zeichen dafür, daß das menschliche Geschlecht im Fortschreiten zum Besseren begriffen ist.214 Diese Schlußfolgerung könnte er nicht ziehen, wenn er die Revolution selbst als unmoralisch und verwerflich bewerten würde. 209 Hannah Arendt geht davon aus, daß „die Amerikanische und, mehr noch, die Französische Revolution ihn sozusagen aus seinem politischen Schlummer erweckt hatten“, s. Arendt, H., Urteilen (1998), S. 28. 210 Jachmann, R. B., Kant (1804), S. 135 f. 211 So schreibt Jachmann etwa: „Zur Zeit der französischen Revolution verlor sein Gespräch etwas an Mannigfaltigkeit und Reichhaltigkeit. Die große Begebenheit beschäftigte seine Seele so sehr, daß er in Gesellschaften fast immer auf sie, wenigstens auf Politik, zurückkam . . .“, s. Jachmann, R. B., Kant (1804), S. 158. Zu Kants politischen Ansichten jener Zeit s. auch ebd., S. 152–155. 212 Einen Überblick über Kants positive Äußerungen sowohl in seinen Schriften als auch in seiner Korrespondenz und in privaten Gesprächen bieten Gooch, G. P., Revolution (1920), S. 260–282, und Vorländer, K., Revolution (1912), S. 247–269. 213 Dies betont auch Nicholson, P. P., Revolutions (1992), S. 256 und 262 f.

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Kants positive Einstellung zur Amerikanischen und Französischen Revolution scheint auf den ersten Blick im Widerspruch zu seiner expliziten Ablehnung eines (aktiven) Widerstands- und Revolutionsrechtes zu stehen.215 Zwar sieht Kant die Anfangsphase der Französischen Revolution nicht als Revolution, sondern als freiwillige Übertragung der Souveränität vom Herrscher auf die Generalstände und damit auf das Volk,216 aber es ist anzunehmen, daß er die späteren Vorgänge, insbesondere die Hinrichtung des Königs, als revolutionäre Akte beurteilt.217 Zudem würde diese terminologische Argumentation nicht seine Sympathie für die Vorgänge in Nordamerika erklären können. Die Antwort auf die Frage nach einer etwaigen Widersprüchlichkeit Kants liegt vielmehr in der oben bereits erwähnten Überlegung, daß Kant Revolutionen unter rechtlichen Gesichtspunkten zwar verbietet, aber natürlich erkennt, daß sie dennoch geschehen, daß sie nicht vermeidbar sind und sich dann ereignen, wenn die Freiheit im Staat zu sehr unterdrückt wird.218 So spricht er im Frieden von der „von der schlechten Verfassung erzeugten Revolution“ (Frieden S. 233 f.) und fordert: „Die Staatsweisheit wird sich also in dem Zustande, worin die Dinge jetzt sind, Reformen, dem Ideal des öffentlichen Rechts angemessen, zur Pflicht machen: Revolutionen aber, wo sie die Natur von selbst herbei führt, nicht zur Beschönigung einer noch größeren Unterdrückung, sondern als Ruf der Natur benutzen, eine auf Freiheitsprinzipien gegründete gesetzliche Verfassung, als die einzige dauerhafte, durch gründliche Reform zu Stande zu bringen.“ (Frieden S. 234, Anmerkung)

Kant sieht Revolutionen in geschichtsphilosophischer Hinsicht als unvermeidbare Naturereignisse, die – wenn sie sich ereignen – als Chance genutzt werden können und müssen, da sie die Möglichkeit der Schaffung rechtmäßigerer Verhältnisse in sich bergen und der fortschreitenden Verrechtlichung dienen können, auch wenn ihre aktive Herbeiführung unter Rechtsgesichtspunkten unerlaubt ist. Daher steht Kants positive Bewertung der beiden großen Revolutionen seiner Zeit nicht im Widerspruch zu seiner Ablehnung eines Widerstandsrech214 Dies ist die Leitfrage des zweiten Abschnitts des Streits. s. die entsprechende Überschrift: „Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?“ (Streit S. 351). Ausführlicher zu Kants Ausführungen s. Nicholson, P. P., Revolutions (1992), S. 259–261 und Seebohm, T., Revolution (SR 48, 1981), S. 560–563 und 586. 215 So etwa Reiss, H. S., Rebellion (JHI 17, 1956), S. 179, 182, 189 und Beck, L. W., Revolution (JHI 32, 1971), S. 421, der zwar eine Erklärung für den Widerspruch findet, ihn aber letztlich nicht ganz ausgeräumt sieht, s. sogleich unten. 216 s. § 52, S. 465 und oben 4. c). 217 s. hierzu Nicholson, P. P., Revolutions (1992), S. 256 f. Zu Kants Verurteilung der Hinrichtung des Königs s. AA A, S. 440, Anmerkung, in der Kant unter anderem schreibt: „Unter allen Greueln einer Staatsumwälzung durch Aufruhr ist selbst die Ermordung des Monarchen noch nicht das Ärgste . . . Die formale Hinrichtung ist es, was die mit Ideen des Menschenrechts erfüllete Seele mit einem Schaudern ergreift . . .“ 218 s. oben c) (1).

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tes, vielmehr gehören diese beiden Fragen zwei unterschiedlichen Diskursen, zwei unterschiedlichen Problemkomplexen an:219 während Kant Revolutionen in rechtsphilosophischer Hinsicht, unter dem Aspekt „Was sollen wir tun?“, als unzulässig ablehnt, sieht er sie in geschichtsphilosophischer Hinsicht, unter dem Aspekt „Was dürfen wir hoffen?“, als unabwendbare, naturhafte Ereignisse, die als Chance genutzt werden können und müssen. (2) Keine systematische Inkonsistenz Die Frage nach einer Inkonsistenz Kants stellt sich aber nicht nur im Hinblick auf seine Sympathie für die Revolutionen seiner Zeit, sondern vor allem auch innersystematisch.220 So ist Kant vorgeworfen worden, daß seine Postulierung der Gehorsamspflicht gegenüber der staatlichen Gewalt gegen seine eigenen Prinzipien verstoße, da sich aus diesen ein Widerstandsrecht gegen ungerechte Gesetze zwingend ergebe.221 Denn die Verneinung eines solchen Rechtes stelle das positive Recht über das Naturrecht, d. h. die empirische Rechtsordnung über die apriorischen Prinzipien, und schreibe der ersteren eine stärkere Geltungskraft zu als den letzteren.222 Dulckeit etwa formuliert dies wie folgt: „. . . so ist es schlechterdings unbegreiflich, wie es ein Vernunftgesetz sein kann, einem mit der Rechtsidee offenkundig in Widerspruch stehenden positiven Recht zu gehorchen.“ 223

Einige Autoren versuchen, Kant aus diesem vorgeblichen Widerspruch zu befreien, indem sie seine Ablehnung eines Widerstandsrechts als Beschwichtigung der Zensur224 darstellen.225 Allerdings ist diese Ansicht nicht überzeugend,226 da Kant selbst als Reaktion auf Zensurandrohungen erklärt hat, daß alles, was 219 s. Axinn, S., Authority (JHI 32, 1971), S. 428, 430; Nicholson, P. P., Revolutions (1992), S. 249 und 262–264; Seebohm, T., Revolution (SR 48, 1981), S. 572 f. und 585. s. auch Beck, L. W., Revolution (JHI 32, 1971), S. 421, der den Widerspruch aber letztlich nicht ganz ausgeräumt sieht. 220 Westphal, K. R., Gehorsamspflicht (1998), S. 173. 221 s. Dulckeit, G., Naturrecht (1932), S. 56: „Prüft man nämlich die Frage, wie sich das von Kant behauptete natürliche Gesetz der Gehorsamspflicht mit dem Aufbau und den Ergebnissen der Rechtslehre vereinigen läßt, so muß man (im Gegensatz zu Kant) zum Schluß kommen, daß sich aus seinem System ein Widerstandsrecht gegen den empirischen Gesetzgeber mit geradezu zwingender Notwendigkeit ergibt.“ Reiss, H. S., Rebellion (JHI 17, 1956), S. 190 f., formuliert dies abgeschwächter und geht davon aus, daß ein Widerstandsrecht im Fall der Unterdrückung der Meinungsfreiheit nach kantischen Prinzipien existieren könnte. Ähnlich auch Höffe, O., Kant (1996), S. 233. 222 s. Dulckeit, G., Naturrecht (1932), S. 56 f.; Haensel, W., Widerstandsrecht (1926), S. 55 f. 223 Dulckeit, G., Naturrecht (1932), S. 57. 224 Zur Zensur in Preußen und Kants Berührungen mit ihr s. Bevc, T., Revolution (1999), S. 174–177; ausführlich Losurdo, D., Kant (1987), S. 179–220. s. auch Kants Vorrede zum Streit der Fakultäten (Streit S. 267–274).

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man sage, wahr sein müsse, auch wenn es nicht Pflicht sei, alle Wahrheit öffentlich zu sagen.227 Angesichts dessen würde es ihm nicht gerecht werden, ihm die vorsätzliche Täuschung des Lesers zu unterstellen. Zudem bedarf Kants Postulierung des staatsbürgerlichen Gehorsams keiner Entschuldigung durch solche systemtranszendenten Überlegungen, da sie keine systematische Inkonsistenz darstellt, sondern mit seinen sonstigen (rechts-)philosophischen Prinzipien übereinstimmt bzw. sich aus ihnen ergibt.228 Kants dargelegte Ablehnung eines Widerstandsrechtes gegen die staatliche Gewalt steht nicht im Gegensatz zum überpositiven Recht, sondern ist vielmehr selbst naturbzw. vernunftrechtlich begründet. Denn letztlich dient – was zunächst paradox klingt – die Verneinung dieses Rechtes der Verwirklichung und Absicherung der menschlichen Freiheit.229 Das Widerstandsverbot ist die Kehrseite der im Postulat des öffentlichen Rechts ausgesprochenen Verpflichtung zum Eintritt in den Staat: der Pflicht, im Staat zu leben, korrespondiert das Verbot, den einmal erreichten staatlichen Zustand wieder zu verlassen. Aufgrund dieser Überlegung lehnt Kant jene Arten von Widerstand ab, die den staatlichen Dezisionsanspruch in Frage stellen und so zum Rückfall in den Naturzustand führen. Die im Postulat des öffentlichen Rechts enthaltene Pflicht basiert auf der Notwendigkeit, die verschiedenen Freiheitssphären der Menschen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit miteinander zu vereinen, was nur auf der Grundlage des allgemein vereinigten Willens und 225 Bevc, T., Revolution (1999), S. 190, sieht in Kants Interpretation der Französischen Revolution als Reform die Bemühung, der Zensur zu entgehen. Westphal, K. R., Gehorsamspflicht (1998), vertritt diese Ansicht bezüglich Kants Ablehnung des Widerstandsrechtes im Frieden, s. S. 183 und 185. Zu Kants Position in der Metaphysik s. S. 194–197. Vgl. auch die Nachweise bei Nicholson, P. P., Revolutions (1992), S. 266, Fn. 16. 226 Gegen diese These von der Beschwichtigung der Zensur auch Beck, L. W., Revolution (JHI 32, 1971), S. 411; Haensel, W., Widerstandsrecht (1926), S. 74–76; Hinske, N., Pluralismus (1986), S. 38 (zu Kants Unverblümtheit in den Vorlesungen); Nicholson, P. P., Revolutions (1992), S. 254 f.; Seebohm, T., Revolution (SR 48, 1981), S. 567–569. 227 s. Losurdo, D., Kant (1987), S. 180. 228 So auch Kersting, W., Freiheit (1993), S. 491–493; Unruh, P., Vernunft (1993), S. 212. Eine Inkonsistenz Kants lehnt auch Westphal, K. R., Gehorsamspflicht (1998), S. 201, ab, der diese Auffassung aber anders begründet. Er sieht Kants Ablehnung des Widerstandsrechtes als pragmatisch begründet und nur bedingt an und geht davon aus, daß sie nur indirekt auf seinen moralischen Grundsätzen beruht. Diese pragmatisch begründete Ablehnung stimmt nach Westphals Ansicht mit Kants „Pessimismus hinsichtlich der Folgen von Revolutionen“ überein (s. S. 173 und 198–201). Diese Auffassung von der Bedingtheit des Widerstandsverbotes überzeugt aber nicht, s. hierzu im folgenden. 229 Daher kann man das Widerstandsrecht auch nicht – wie Haensel es versucht – aus dem allgemeinen Menschenrecht im Gegensatz zum Gesellschaftsvertrag ableiten, s. Haensel, W., Widerstandsrecht (1926), S. 56 f. s. hierzu Kersting, W., Freiheit (1993), S. 493.

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damit nur im Staat möglich ist.230 Der von Kant eingeforderte Gehorsam gegenüber dem Staat und der staatlichen Macht ist ebensowenig Selbstzweck wie diese Macht selbst, beide sind vielmehr Mittel zum Zweck,231 nämlich dem Zweck der Kompatibilisierung der verschiedenen Freiheitssphären durch das Recht und den diesem immanenten Zwang.232 Der Rückfall in den Naturzustand ist als Verletzung der durch das Postulat des öffentlichen Rechts gesicherten menschlichen Freiheit unbedingt zu vermeiden. Der eingeforderte Gehorsam gegenüber dem Staat als rechtssichernde und -durchsetzende Institution gilt daher letztlich nicht dem Staat, sondern dem Mitmenschen. Kersting formuliert dies wie folgt: „Denn nicht die Obrigkeit ist es, der der Gehorsam geschuldet wird, sondern der Mitmensch ist es, dessen Recht auf gesetzliche Verhältnisse einen derartigen Gehorsam verlangt.“ 233

Kants Ablehnung des aktiven Widerstandes ergibt sich somit nicht aus einer Güterabwägung, bei der Sicherheits- und Ordnungsgesichtspunkte mit Gerechtigkeitserwägungen verglichen und erstere höher bewertet werden;234 Kant verneint ein Widerstandsrecht nicht deshalb, weil er die vom Staat garantierte Sicherheit für ein höherrangiges Rechtsgut hält als die inhaltliche Gerechtigkeit der staatlichen Gesetze und sonstigen Maßnahmen,235 sondern weil der staatliche Zustand insgesamt ein gerechterer Zustand ist als der Naturzustand, der per definitionem, a priori, ein Status der Ungerechtigkeit ist. Nicht Sicherheits-, sondern Gerechtigkeitserwägungen sprechen in erster Linie für die Notwendigkeit staatlicher Herrschaft. Kant ist der Ansicht, daß auch dem unter Rechtsgesichtspunkten noch defizienten vorrepublikanischen Staat dieser Gerechtigkeitsvorsprung gegenüber dem Naturzustand zukommt und dieser ein erster Schritt auf dem Weg zur umfassenden Verrechtlichung ist. Würde man aufgrund des Zurückbleibens gegenüber dem idealen Staat, der respublica noumenon, ein Recht zum Widerstand annehmen, so wäre der Naturzustand nie zu überwinden,236 da die Annäherung 230

s. dazu oben C. I. 1. b) (3) (a). Zwar schreibt Kant in bezug auf die respublica phaenomenon: „Dies ist die einzige bleibende Staatsverfassung, wo das Gesetz selbstherrschend ist, und an keiner besonderen Person hängt; der letzte Zweck alles öffentlichen Rechts . . .“ (§ 52, S. 464) Damit bringt er aber zum Ausdruck, daß nicht der Staat Selbstzweck ist, sondern die Herrschaft des Gesetzes, d. h. ein „absolut-rechtlicher Zustand“ (s. ebd.). Der Staat dient lediglich der Verwirklichung dieses Zustandes; s. auch Kersting, W., Kontraktualismus (AZP 8, 1983), S. 12: „Kants Staat hingegen ist der Diener des Rechts.“ 232 Da sie der Absicherung der menschlichen Freiheit dient, ist die von Kant postulierte Gehorsamspflicht entgegen Westphals obiger Ansicht in erster Linie doch moralisch und nicht pragmatisch begründet, d. h. unbedingt. 233 Kersting, W., Freiheit (1993), S. 493. 234 So Luf, G., Freiheit (1978), S. 179 f. 235 So auch Kersting, W., Freiheit (1993), S. 493. 231

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an die intelligible Republik stets nur asymptotisch erfolgen und ein absolut gerechter Staat von Menschen, die nicht nur Vernunft-, sondern auch Sinnenwesen sind, nie geschaffen werden kann. Da der Staat aber nicht Selbstzweck ist, sondern als Mittel der Verwirklichung und Sicherung der menschlichen Freiheit durch das Recht dient, stellt sich die Frage, was gilt, wenn er diesen Zweck nicht mehr verwirklicht, sondern ihm vielmehr schadet, indem er die Freiheit unterdrückt.237 Angesichts dieser Frage ist Kant für sein Widerstandsverbot vor allem unter zwei Aspekten kritisiert worden: einmal angesichts von Staaten, die die Meinungsfreiheit unterdrücken,238 und zum zweiten angesichts jener Herrschaft, die die Freiheit der Menschen in noch umfassenderer Weise unterdrückt, das angeborene Menschenrecht in eklatanter Weise verletzt und von Kant unter dem Begriff der Tyrannei erörtert wird. Auf das Problem der Unterbindung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, die Kant als Antrieb der Aufklärung und der Republikanisierung des Staates sieht, geht er nicht ein, obwohl – oder weil239 – seine eigenen Schriften der unter König Friedrich Wilhelm II. und seinem Kultusminister Wöllner zunehmend strenger werdenden Zensur in Preußen unterlagen. Kant müßte aber auch in einem solchen Staat ein aktives Widerstandsrecht verneinen. Er scheint zur Lösung dieses Problems darauf vertraut zu haben, daß eine absolute Unterdrückung der Meinungsfreiheit zumindest auf Dauer nicht möglich ist.240 (3) Kein Versagen angesichts von Unrechtsregimes Auch gegenüber tyrannischer, unterdrückerischer Herrschaft hat Kant das Recht zum aktiven Widerstand verneint. Insofern stellt sich die Frage, ob er sich nicht widerspricht, wenn er einerseits den Menschen als Zweck an sich selbst vorstellt und verbietet, ihn als bloßes Mittel zu anderen Zwecken zu sehen,241 andererseits aber Gehorsam auch gegenüber der Herrschaft postuliert, 236

s. Kersting, W., Freiheit (1993), S. 491. s. hierzu auch Höffe, O., Kant (1996), S. 233. 238 s. etwa Reiss, H. S., Rebellion (JHI 17, 1956), S. 189 f.; Unruh, P., Vernunft (1993), S. 211. 239 s. Losurdo, D., Kant (1987), S. 179–220. 240 s. hierzu auch Reiss, H. S., Rebellion (JHI 17, 1956), S. 188 f. 241 s. Kants Ausführungen in der Grundlegung: „Nun sage ich: der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“ (GMS S. 59) Und: „Der praktische Imperativ wird also folgender sein: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (GMS S. 61) 237

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

die den Menschen eben so betrachtet und ihn als bloßes Mittel ge- bzw. mißbraucht. Entsprechend ist Kant vorgeworfen worden, daß seine Theorie angesichts von Unrechtsregimes, die die Freiheit der Menschen absichtlich und systematisch unterdrücken, versagt; als Beispiel wird teilweise auf die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland verwiesen.242 Eine solche tyrannische Herrschaft zerstört nicht notwendigerweise den staatlichen Zustand, was einen Rückfall in den Naturzustand und die Wiedererstehung der entsprechenden privaten Rechte des einzelnen bedeuten würde, u. a. eines Selbstverteidigungsrechtes. Vielmehr zeichnete sich etwa der Nationalsozialismus durch eine rege Tätigkeit aller staatlichen Funktionen aus,243 und das positive Recht wurde als Medium der Verdeckung und technisierenden Verharmlosung der unter seinem legalistischen Deckmantel ablaufenden unmenschlichen Grausamkeiten benutzt. Reiss formuliert diese Tatsache wie folgt: „Modern totalitarianism, indeed, is organized unlawfulness.“ 244 Hier stellt sich in der Tat die Frage, ob auch für einen solchen Staat der oben konstatierte Gerechtigkeitsvorsprung noch gilt und auch ihm kein Widerstand entgegengesetzt werden darf. Bevor Kant allerdings das Versagen seiner Theorie vorgeworfen werden kann, muß diese zunächst genau betrachtet und der Umfang des Widerstandsverbotes vor Augen geführt werden. Dabei wird sich zeigen, daß bei konsequenter Anwendung von Kants Prinzipien zwar nicht jede Form ungerechter Herrschaft verhindert wird, aber doch jene, die die Grenze zum Unmoralischen überschreitet. Die unter dem Topos der Tyrannei diskutierten Fälle, ihre schlimmsten Auswüchse und menschenverachtende Grausamkeiten werden durch Kants Prinzipien verhindert. Denn Kant versagt das Recht auf aktiven Widerstand gegen den Staat, gleichzeitig aber versagt er das Recht, unmoralischen Befehlen zu folgen. Es ist nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht der Menschen, sich solchen Befehlen aus Gewissensgründen zu widersetzen, wie sich aus Kants Erörterungen zur Pflichtenkollision ergibt und wie er in der Religion ausdrücklich betont: „. . . daß, wenn die letzten [die Menschen] etwas gebieten, was an sich böse (dem Sittengesetz unmittelbar zuwider) ist, ihnen nicht gehorcht werden darf und soll.“ (Religion S. 758, Anmerkung). Diese Pflicht gilt nicht nur für den Untertanen bzw. Bürger als letztes Glied der Befehlskette, sondern für jeden Menschen und damit auch für die übrigen an der Entstehung und Durchsetzung unmoralischer 242

s. etwa Unruh, P., Vernunft (1993), S. 211 f. Zwar wurde das legislative Organ, der Reichstag, durch das als Ermächtigungsgesetz bezeichnete Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 23. März 1933 (RGBl. 1933 I, S. 141) praktisch seiner gesetzgebenden Funktion enthoben und zum Akklamationsorgan herabgestuft, aber diese Funktion wurde durch das gleiche Gesetz der Regierung übertragen, die damit auch nach Kants Prinzipien als despotisch einzustufen ist. 244 Reiss, H. S., Rebellion (JHI 17, 1956), S. 190. 243

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

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Gesetze und sonstiger Anordnungen Beteiligten, d. h. auch für die staatlichen Funktionäre. Es ist die Pflicht jedes Menschen, sich dem Beitrag zum Gelingen und der Ausführung sittenwidriger Anordnungen zu verweigern. Da die staatlichen Funktionen von Menschen ausgeübt werden und jeder Staat und Herrscher zur Ausführung seiner Gesetze und sonstigen Anordnungen auf die Mitwirkung zahlreicher Menschen angewiesen ist, würde sich das Problem der Unrechtsherrschaft im Sinne unmoralischer Herrschaft nicht mehr (in dem Umfang) stellen, wenn jeder Mensch seiner moralischen Verpflichtung zum passiven Widerstand nachkäme; zumindest würde sich eine solche Herrschaft nicht lange aufrechterhalten lassen. Zwar ist gegen „nur“ ungerechte Gesetze, die nicht gegen das Sittengesetz verstoßen, nicht einmal passiver Widerstand erlaubt; auch kann die Beurteilung im Einzelfall durchaus unterschiedlich ausfallen, so daß einige Menschen Anordnungen als unmoralisch beurteilen könnten, die andere nicht als Verstoß gegen das Sittengesetz ansähen. Aber bei den krassesten Mißbräuchen wie etwa der Entwürdigung oder Vernichtung menschlichen Lebens besteht weitgehend Einigkeit, und die dem Menschen „auf dunkle Art“ innewohnende Metaphysik der Sitten (s. S. 321) meldet sich bei den meisten Menschen als Regung des Gewissens. Die Entstehung oder wenigstens Durchsetzung ungerechter und (zumindest grob) unmoralischer Anordnungen wäre damit nicht mehr möglich oder würde zumindest behindert. Diese Hemmung wird umso größer ausfallen, je mehr Personen am politischen Dezisionsprozeß und der Durchsetzung dieser Entscheidungen beteiligt sind, so daß die Gefahr tyrannischer Herrschaft in einer absoluten Monarchie größer ist als in der Demokratie, wie Kant in § 51 betont.245 Unter rein rechtlichen Gesichtspunkten verneint Kant also ein Recht zum aktiven Widerstand in jedem Staat, gleichzeitig aber verneint er auch ein Recht zur Befolgung unsittlicher Befehle und stellt für diese Fälle die Pflicht zum passiven Widerstand aus Gewissensgründen auf. Dadurch wird nach Kants Prinzipien die Entstehung eines absoluten Unrechtsstaates verhindert. Gegen diese Konzeption läßt sich einwenden, daß sie dem einzelnen die Bürde der Unrechtsverhinderung und gleichzeitigen Ertragung der sich aus seiner Verweigerung ergebenden Konsequenzen allein auferlegt246 und diese Anforderung so hoch ist, daß dieser Anspruch an den Menschen unrealistisch ist und kaum erfüllt werden kann oder wird. Die Tatsache, daß die meisten Menschen ein bestimmtes Verhalten aufgrund der unterschiedlichsten Gründe nicht an den Tag legen werden, etwa aus Furcht, Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit etc., kann aber keinen Einfluß auf die Frage nach der Richtigkeit und Geboten-

245 246

s. § 51, S. 462. Kersting, W., Freiheit (1993), S. 483.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

heit dieses Verhaltens haben. Denn diese empirischen, sich aus der Natur der Menschen ergebenden Bedingungen können keinen Einfluß auf die apriorischen Gesetze haben, die nicht danach fragen, wie die Menschen tatsächlich handeln, sondern wie sie handeln sollen. Würde man das Recht von den empirischen Fakten abhängig machen, so würde es jeglichen normativen Gehaltes beraubt. Dies betont Kant in der Einleitung in die Metaphysik: „Allein mit den Sittengesetzen ist es anders bewandt. Nur sofern sie als a priori gegründet und notwendig eingesehen werden können, gelten sie als Gesetze, ja die Begriffe und Urteile über uns selbst und unser Tun und Lassen bedeuten gar nichts Sittliches, wenn sie das, was sich bloß von der Erfahrung lernen läßt, enthalten, und, wenn man sich etwa verleiten läßt, etwas aus der letztern Quelle zum moralischen Grundsatze zu machen, so gerät man in Gefahr der gröbsten und verderblichsten Irrtümer.“ (S. 319 f.)

Und: „Allein mit den Lehren der Sittlichkeit ist es anders bewandt. Sie gebieten für jedermann, ohne Rücksicht auf seine Neigungen zu nehmen; bloß weil und sofern er frei ist und praktische Vernunft hat. Die Belehrung in ihren Gesetzen ist nicht aus der Beobachtung seiner selbst und der Tierheit in ihm, nicht aus der Wahrnehmung des Weltlaufs geschöpft, von dem, was geschieht und wie gehandelt wird . . ., sondern die Vernunft gebietet, wie gehandelt werden soll, wenn gleich noch kein Beispiel davon angetroffen würde, auch nimmt sie keine Rücksicht auf den Vorteil, der uns dadurch erwachsen kann . . .“ (S. 320 f.)247

Es geht Kant in der Metaphysik also um Regeln dafür, wie die Menschen sich verhalten sollen, nicht, wie sie sich verhalten werden. Zieht man sich dennoch auf die obige Position zurück, daß Kants Konzept „unrealistisch“ sei, da es den menschlichen Neigungen zumindest zum Teil widerstrebt, und fragt man in Weiterführung dieses Gedankenganges „aufgrund der historischen Erfahrungen gerade der jüngeren Zeit“ nach der „Praktikabilität der kantischen Position“ (Unruh),248 so ist zu beachten, daß Kant bei einem solchen Wechsel der Perspektive von dem, was passieren soll, zu dem, was wahrscheinlich passieren wird, klar ist, daß das menschliche Verhalten oft vom moralisch gebotenen Handeln abweichen wird, da der Mensch eben nicht nur Vernunft-, sondern auch Sinnenwesen ist. Kant verschließt vor dieser Tatsache nicht blind die Augen, sondern weist selbst deutlich darauf hin, daß Revolutionen im Lauf der Geschichte immer wieder geschehen werden – und zwar dann, wenn die Freiheit im Staat zu sehr unterdrückt wird. So betont er im Gemeinspruch, 247 s. auch seine Ausführungen in der Grundlegung: „In einer praktischen Philosophie, wo es uns nicht darum zu tun ist, Gründe anzunehmen, von dem, was geschieht, sondern Gesetze von dem, was geschehen soll, ob es gleich niemals geschieht, d. i. objektiv-praktische Gesetze . . .“ (GMS S. 58) 248 Unruh, P., Vernunft (1993), S. 212.

I. Bei Kant: Normatives Kriterium

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„daß, wenn einmal nicht vom Recht, sondern nur von der Gewalt die Rede ist, das Volk auch die seinige versuchen, und so alle gesetzliche Verfassung unsicher machen dürfe.“ (Gemeinspruch S. 164)

Die Tatsache, daß die menschliche Natur oft hinter den an sie gestellten Ansprüchen zurückbleibt, nimmt den Gesetzen der Vernunft nichts von ihrer Geltungskraft. Kant redet mit seiner Widerstandslehre nicht Unrechtsregimes das Wort und fordert keinen blinden Obrigkeitsgehorsam, vielmehr geht sein Konzept in rechtlicher Hinsicht weit über das der Apologeten des Widerstandes hinaus: Statt des bloß nachträglichen Widerstandes gegen bereits geschehene Ungerechtigkeiten und den Versuch ihrer Wiedergutmachung im nachhinein fordert er die präventive Verhinderung dieses Unrechts. Angesichts dessen ist es nicht nötig, Kants Widerstandslehre trotz ihres apriorischen Anspruchs als zeitgebunden zu entschuldigen,249 vielmehr entpuppt sie sich als wahrhaft überzeitlich und für jegliche Art politischer Herrschaft gültig. Daß diese Lehre vom einzelnen ein hohes Verantwortungsbewußtsein und eine hohe Opferbereitschaft fordert, die oft nicht eingelöst werden wird, kann sein Konzept nicht diskreditieren, da diese moralische Verantwortung gerade angesichts eklatanter Verletzungen der Menschenrechte vom einzelnen gefordert werden kann und muß. Daß diese Verantwortung nicht nur eine von außen aufoktroyierte, zufällig aufgestellte Verpflichtung ist, sondern vielmehr „als a priori gegründet und notwendig eingesehen werden“ kann (S. 319 f.), zeigt sich an der Gewissensregung angesichts unmenschlicher Grausamkeiten. 6. Zusammenfassung und Ergebnis In Kants Konzept ist der Gesellschaftsvertrag von der ihm herkömmlicherweise zugeschriebenen zentralen Funktion der Herrschaftslegitimation befreit. Dies bedeutet jedoch nicht, daß er hier eine untergeordnete Rolle spielt oder überflüssig ist – auch wenn er nur an wenigen Stellen in der Metaphysik erwähnt wird250 –, vielmehr bestimmt Kant die dem Gesellschaftsvertrag zukommende Position und seinen methodischen Status genauer.251 Der Vertragsge249 So etwa Kersting, W., Freiheit (1993), S. 490, Fn. 253: „Die Prinzipien der Rechtsphilosophie Kants sind zwar mit einem Geltungsanspruch ausgestattet, der sich von aller Empirie unabhängig macht; gleichwohl ist es nicht statthaft, die Theorie Kants von den geschichtlichen Erfahrungen ihres Autors abzukoppeln und sie an Erscheinungen staatlicher Gewalt- und Unrechtsherrschaft zu messen, wie sie unser Jahrhundert nicht aufhört hervorzubringen und die so grauenerregend sind, daß ihnen gegenüber ein Widerstandsrecht zu leugnen blanker Zynismus wäre. Es ist müßig, Kants Widerstandslehre auf den Hintergrund des Hitlerstaates zu projizieren.“ Ähnlich auch Unruh, P., Vernunft (1993), S. 211 f. 250 Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 442. 251 Höffe, O., Begründung (1979), S. 206; s. auch Herb, K./Ludwig, B., Naturzustand (KS 84, 1993), S. 295 bezüglich des Naturzustandsmodelles.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

danke wird bei ihm zu einem Kriterium gerechter Herrschaft, das entscheidenden Einfluß auf sein gesamtes staatsrechtliches Konzept hat.252 Denn auch wenn der Mensch nach dem Postulat des öffentlichen Rechts verpflichtet ist, im Staat zu leben, dieser also zu seiner Legitimation nicht der Zustimmung der Bürger bedarf, so erschöpft sich das Postulat doch nicht in dieser Forderung, sondern treibt weiter zu einem umfassend verrechtlichten Zustand. Rechtmäßig und vernunftgemäß aber ist nur die die Freiheit des einzelnen bewahrende Herrschaft, die jedermanns Zustimmung voraussetzt. Diese wird im allseitigen Vertrag erteilt. Damit ist der Gesellschaftsvertrag als Idee des freiheitlichen Zusammenschlusses der Menschen bei Kant Maßstab für die Rechtmäßigkeit des Staates und seines Handelns. Der ursprüngliche Vertrag ist bei Kant kein historisches Faktum, sondern eine Idee, ein virtuelles Konzept, das eine präskriptive Funktion hat und den realen, empirischen Staaten als Vorbild dient. Die Legitimation des Staates ist zwar nicht mehr rückwirkend nötig, da sie ihm hier durch das Postulat des öffentlichen Rechts bereits verliehen wird, wohl aber für die Zukunft im Sinne der Annäherung an die Kriterien des Gesellschaftsvertrages.253 Kant zieht die normative Funktion seines ursprünglichen Vertrages in den verschiedenen Schriften unterschiedlich weit: Im Gemeinspruch und der Aufklärung bezieht er sie nur auf die einfachen Gesetze, die so gegeben werden müssen, als ob sie dem allgemein vereinigten Willen, dem Korrelat des Gesellschaftsvertrages, entsprungen seien. Dies verpflichtet den Herrscher, die Gesetze auf ihre allgemeine Konsensfähigkeit zu überprüfen, die gegeben ist, wenn die Gesetze die Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit der Menschen achten. Im Frieden, der Metaphysik und im Streit weitet Kant die Funktion des Gesellschaftsvertrages dagegen aus und bezieht sie letztlich auch auf die Verfassung. Zwar fordert er auch hier mit der Republikanisierung der Regierungsart zunächst nur die Simulierung der gesellschaftsvertraglichen Prinzipien; letztlich postuliert er aber die Verpflichtung des Herrschers, auch die Staatsform zu republikanisieren, d. h. den bestehenden Staat in eine Republik umzuwandeln. Die Konzeption der späteren Schriften ist damit radikaler als die der früheren, die die grundlegende Verfassung des Staates unberührt lassen. Indem Kants Gesellschaftsvertrag eine Richtschnur für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Verfassung und des staatlichen Handelns insgesamt zur Verfügung stellt, übernimmt er im Staatsrecht die Funktion, die dem kategorischen Imperativ254 als Moralprinzip zukommt.255 Der Unterschied zwischen beiden besteht in der zu beurteilenden Materie: während sich der kategorische Imperativ auf die Rechtmäßigkeit der Maximen des menschlichen Handelns be252

s. Baumann, P., Seiten (KS 85, 1994), S. 156. s. hierzu auch Kersting, W., Verfassung (1995), S. 105; Langer, C., Prinzipien (1986), S. 57; Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 171. 253

II. Im Federalist: Herrschaftslegitimation und -limitation

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zieht, d. h. auf die „Regel des Handelnden, die er sich selbst aus subjektiven Gründen zum Prinzip macht“ (S. 331), bezieht sich das Recht überhaupt nur auf äußere Handlungen, unabhängig von den hinter diesen Handlungen stehenden Maximen,256 so daß auch im Staatsrecht nur die äußeren Handlungen der Beurteilung unterliegen können.257 Allerdings kann der Gesellschaftsvertrag wie der kategorische Imperativ nur als Negativkriterium dienen; er kann nur die Rechtswidrigkeit staatlichen Handelns feststellen, nicht aber positive Aussagen treffen, die Gesetze eines bestimmten Inhalts vorschreiben.258 Das Recht zur Beurteilung kommt dabei in erster Linie dem Herrscher und nicht dem Volk zu; insbesondere ergibt sich aus Kants Konzept des Gesellschaftsvertrages auch bei ungerechter Herrschaft kein Recht des Volkes auf aktiven Widerstand, etwa auf Revolution. Seine kriteriologische Funktion hat der Gesellschaftsvertrag auch noch in der respublica phaenomenon, da die Annäherung an die noumenale Republik – und damit an die Vertragsprinzipien – nur asymptotisch möglich ist. Auch die heute bestehenden repräsentativen Demokratien können sich damit nicht auf ihre Errungenschaften berufen und als Endzustand der politischen Entwicklung sehen, sondern stehen weiterhin unter der Verpflichtung zur fortwährenden Überprüfung ihres Handelns und ihrer politischen und rechtlichen Prinzipien im Sinne von Kants Gesellschaftsvertrag.

II. Im Federalist: Herrschaftslegitimation und -limitation Die Autoren des Federalist erwähnen den Gesellschaftsvertrag an verschiedenen Stellen der Essays, ohne das Modell näher theoretisch zu erläutern. So nennt Madison in Nr. 44 bestimmte Arten von Gesetzen und gibt an, daß sie „den ursprünglichen Prinzipien des Gesellschaftsvertrags [the social compact]“ widersprechen (Nr. 44, S. 272), und Hamilton spricht an anderer Stelle vom „Gesellschaftsvertrag. . . [social compact] zwischen den Staaten“ (Nr. 21, S. 118). Die Verfasser gehen deshalb nicht näher auf das Vertragstheorem und das mit ihm verbundene Naturzustandskonzept ein, weil sie es zum einen als allgemein 254 In der Rechtslehre gibt Kant ihm folgende Fassung: „Der kategorische Imperativ, der überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei, ist: handle nach einer Maxime, welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann.“ (S. 331) 255 Höffe, O., Begründung (1979), S. 213; Kersting, W., Concept (1992), S. 149; ders., Kontraktualismus (AZP 8, 1983), S. 16. 256 s. § B, S. 337 und § C, S. 338. 257 Höffe, O., Begründung (1979), S. 211; Kersting, W., Kontraktualismus (AZP 8, 1983), S. 16. 258 Höffe, O., Begründung (1979), S. 211; Kersting, W., Kontraktualismus (AZP 8, 1983), S. 16.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

bekannte und anerkannte Doktrin voraussetzen können, die keiner besonderen Erläuterung oder Begründung bedarf.259 Zum anderen sind sie der Überzeugung, daß der Mensch im Naturzustand und im Staat von den gleichen Impulsen geleitet wird. Die Erfahrungen in den Einzelstaaten hatten gezeigt, daß im Naturzustand und im Staat die gleichen Probleme auftreten, wenn die Staaten nicht richtig ausgestaltet sind;260 auch in den Einzelstaaten hatte es eklatante Rechtsverletzungen und legislatives Unrecht gegeben. Daher betonen die Autoren des Federalist nicht primär den Unterschied zwischen Naturzustand und Staat, sondern jenen zwischen dem schlecht und dem gut ausgestalteten Staat, da die Natur des Menschen auch im Staat in Betracht gezogen werden muß. 1. Herrschaftslegitimation Die Verfasser der Essays begründen die Notwendigkeit staatlicher Herrschaft mit anthropologischen Erwägungen, insbesondere der Tatsache, daß die Menschen als überwiegend eigennützig handelnde Wesen sich gegenseitig Schaden zufügen werden und dies im Naturzustand ungehindert tun können. Die zwangsbewehrte staatliche Herrschaft soll diese gegenseitigen Rechtsverletzungen verhindern und die Impulse der Menschen in sozialverträgliche Bahnen lenken. Allerdings stellt sich staatliche Herrschaft damit lediglich als pragmatisch-notwendig, als nützlich dar, nicht dagegen als rechtlich geboten. Im Gegensatz zu Kants Konzept steht es den Menschen nach den Darlegungen des Federalist frei, im Naturzustand zu verbleiben, auch wenn dies im höchsten Maße unklug wäre. Daher bedarf Publius – anders als Kant – eines zusätzlichen Argumentes, um die staatliche Autorität zu legitimieren und den Gehorsamsanspruch des Staates zu begründen. Dieser Legitimation dient in der Theorie des Federalist der Gesellschaftsvertrag, der den staatlichen Autoritätsanspruch in der Zustimmung der Menschen, d. h. in ihrer Selbstverpflichtung, verankert. Die Verfasser der Essays gehen davon aus, daß den Menschen bestimmte natürliche, vorstaatliche Rechte zukommen und sie beim Eintritt in den Staat auf einige dieser Rechte verzichten und sie auf den Staat übertragen müssen: „Nichts ist so gewiß wie die absolute Notwendigkeit von Regierung; es ist ebenso unbestreitbar, daß wo immer und wie immer sie eingerichtet wird, das Volk einige seiner Naturrechte abtreten muß, um sie mit den notwendigen Kompetenzen auszustatten.“ (Nr. 2, S. 5 f.)

Dieser mit dem Eintritt in den Staat verbundene Rechtsverzicht stellt nur dann keine Verletzung der natürlichen Rechte dar, d. h. ist nur dann rechtmäßig, wenn er freiwillig erfolgt und nicht erzwungen wird. Staatliche Herrschaft kann 259 Adams, A. und W. P., Einleitung (1994), S. lxxxvi f.; Rossiter, C., Seedtime (1953), S. 356; Taylor, Q. P., Essential (1998), S. 45, Fn. 32. 260 Ähnlich auch Epstein, D. F., Theory (1984), S. 145.

II. Im Federalist: Herrschaftslegitimation und -limitation

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daher in den Augen Publius’ nur dann legitim sein, wenn sie auf der Zustimmung der ihr unterworfenen Menschen beruht. Diese Zustimmung der Betroffenen, d. h. des Volkes, wird im Gesellschaftsvertrag als gegenseitiger Übereinkunft der Anerkennung der staatlichen Herrschaft erteilt. Die Autoren des Federalist suchen den Widerspruch zwischen der Freiheit des einzelnen und seiner Unterwerfung unter staatliche Herrschaft folglich dadurch zu lösen, daß sie die letztere aus dem Willen des Volkes und damit der einzelnen Menschen selbst hervorgehen lassen, ihren Rechtsgrund also in der freiwilligen Selbstverpflichtung des einzelnen sehen. Die Überzeugung, daß legitime staatliche Herrschaft auf der Zustimmung des Volkes beruhen müsse, bringt Hamilton am explizitesten in Nr. 22 zum Ausdruck, in dem er gegen Ende kritisiert, daß die Konföderationsartikel durch die Einzelstaatslegislativen und nicht das Volk ratifiziert wurden. In diesem Zusammenhang schreibt er: „Das Gefüge eines amerikanischen Gesamtstaates [empire] sollte auf der soliden Basis der Zustimmung des Volkes ruhen. Der Strom nationaler Macht sollte direkt aus jener reinen, ursprünglichen Quelle aller legitimen Autorität entspringen.“ (Nr. 22, S. 132)

An späterer Stelle greift Madison diesen Gedanken wieder auf: „Da das Volk die einzig legitime Quelle der Macht ist und sich von ihm die Verfassungsurkunde herleitet . . .“ (Nr. 49, S. 305)

Auch am Schluß der Artikelserie spielt Hamilton nochmals auf die Legitimierung der Verfassung durch die Zustimmung des Volkes an: „Die Einführung einer Verfassung durch die freiwillige Zustimmung eines ganzen Volkes in einer Zeit tiefen Friedens ist ein außerordentliches Ereignis, dessen Vollendung ich mit bangem Erwarten entgegensehe.“ (Nr. 85, S. 537)

Mit diesen Ausführungen machen die Autoren der Essays deutlich, daß sie das Volk für den Träger der Staatsgewalt halten, d. h. vom Prinzip der Volkssouveränität ausgehen. Dies kommt auch in der Präambel der Verfassung klar zum Ausdruck: „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten . . . verfügen und erlassen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika.“261

Die Souveränität des Volkes äußert sich im Akt der Verfassungsgebung und findet in diesem Dokument ihren Ausdruck.262 Daß diese Präambel nicht nur ein Lippenbekenntnis war und die Väter der Verfassung die Zustimmung des Volkes tatsächlich als unerläßlich für die Legitimität des neu zu errichtenden Staates ansahen, zeigt sich nicht nur im Federa261 262

(bb).

s. hierzu auch Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 39 und 42. s. Gebhardt, J., Federalist (1987), S. 72; s. hierzu auch unten E. I. 2. b) (3) (c)

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

list als der Verteidigungsschrift des neuen Regierungssystems, sondern vor allem auch im praktischen Prozedere bei der Schaffung der Verfassung. So wurden die Delegierten zum Verfassungskonvent von den Einzelstaatslegislativen entsandt und damit indirekt vom zur Wahl dieser Parlamente berechtigten Volk, und der Verfassungsentwurf wurde nach seiner Verabschiedung durch den Konvent in den Einzelstaaten von Ratifizierungskonventen gebilligt, die vom Volk gewählt wurden.263 Die Anforderungen an die Wahlberechtigung waren dabei für die damalige Zeit sehr gering, so daß ein Großteil der (männlichen weißen) Bevölkerung ein Stimmrecht hatte.264 Damit beruhten alle mit der Schaffung und Annahme der Verfassung befaßten Gremien direkt oder indirekt auf der Zustimmung des Volkes.265 Die Frage nach der Legitimation staatlicher Herrschaft war in diesem historischen Kontext nicht nur ein theoretisches Gedankenexperiment, sondern von großer praktischer Bedeutung und politischer Brisanz.266 In diesem Bemühen um die Legitimierung der Verfassung nicht nur in theoretischer, sondern vor allem auch in praktischer Hinsicht zeigt sich die Überzeugung der Amerikaner, daß die nach der Revolution (zunächst in den Einzelstaaten) neu zu schaffenden Verfassungen mit dem Gesellschaftsvertrag identisch waren.267 Auch die Autoren des Federalist halten diesen nicht nur für ein theoretisches Konstrukt, sondern sehen die Verfassung selbst als einen Gesellschaftsvertrag (compact), wie sich aus Madisons Ausführungen in Nr. 39 ergibt: „Ein solcher Gerichtshof ist auf die eine oder andere Art ganz eindeutig essentiell, um eine Anrufung der Waffen und eine Auflösung des Vertrages [compact] zu verhindern.“ (Nr. 39, S. 231)

Mit dem Vertrag spricht er hier die neue Verfassung an. Zur Verbreitung der Vertragstheorie in Nordamerika hatte unter anderem John Locke mit seinen Zwei Abhandlungen über die Regierung, insbesondere ihrem zweiten Teil, beigetragen.268 Locke geht davon aus, daß sich die Menschen ursprünglich im Naturzustand befinden,269 der – anders als nach der Auffassung 263 Nur Rhode Island entschied sich gegen einen Konvent und für die Ratifizierung per Referendum, s. dazu oben B. II. 4. e). 264 s. hierzu unten 2. a) (2). 265 Vgl. Tate, T. W., Contract (WMQ 22, 1965), S. 381 und 383. 266 s. hierzu Höffe, O., Begründung (1979), S. 197. 267 s. von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 107; Rothman, R., Impact (Publius 10, Nr. 4, 1980), S. 155 und 162; Tate, T. W., Contract (WMQ 22, 1965), S. 381 und 383. 268 Zum Einfluß Lockes s. etwa Dietze, G., Kommentar (1988), S. 20 f., 22; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 151, Fn. 27; Rossiter, C., Seedtime (1953), S. 357, differenzierend S. 358 f.; Tate, T. W., Contract (WMQ 22, 1965), S. 376. 269 Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 4, S. 201. Zum Naturzustand bei Locke s. Hofmann, H., Naturzustand (1982), S. 22 f.

II. Im Federalist: Herrschaftslegitimation und -limitation

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Hobbes’270 – kein rechtloser Zustand ist;271 vielmehr kommen den Menschen bereits hier Rechte zu.272 Auch sieht Locke den Naturzustand nicht wie Hobbes per se als Kriegszustand, sondern betont, daß im „eigentlichen Naturzustand“ die Menschen „nach der Vernunft zusammenleben“.273 Da die Menschen aber nicht immer auf die Stimme der Vernunft hören, kann der Naturzustand ein Kriegszustand sein;274 auch nach Locke besteht hier die Gefahr von Übergriffen und Rechtsverletzungen.275 Um der daraus resultierenden Unsicherheit ihrer Rechte ein Ende zu bereiten und diese zu sichern, verlassen die Menschen den Naturzustand und treten in den Staat ein: „. . . obwohl er nämlich im Naturzustand ein solches Recht hat, so ist doch die Freude an diesem Recht sehr ungewiß, da er fortwährend den Übergriffen anderer ausgesetzt ist. . . . Das läßt ihn bereitwillig einen Zustand aufgeben, der bei aller Freiheit voll von Furcht und ständiger Gefahr ist. Und nicht grundlos trachtet er danach und ist dazu bereit, sich mit anderen zu einer Gesellschaft zu verbinden . . ., zum gegenseitigen Schutz ihres Lebens, ihrer Freiheiten und ihres Vermögens, was ich unter der allgemeinen Bezeichnung Eigentum zusammenfasse.“ 276

Um die Unsicherheit des Naturzustandes zu überwinden, muß der einzelne auf seine natürliche Freiheit und das ihr innewohnende Recht verzichten, seine Rechte selbst zu verteidigen; dieser Verzicht kann nur mit seiner Zustimmung erfolgen,277 die im „ursprünglichen Vertrag“ erteilt wird, „durch den er sich mit anderen zu einer Gesellschaft vereinigt“.278 270 Zu Hobbes’ entsprechender Ansicht s. oben C. I. 2. und C. III. Zur Vereinbarkeit von Hobbes’ Sicht des Naturzustandes als rechtlosem Zustand mit seiner Annahme eines teilweisen Rechtsverzichts beim Eintritt in den Staat s. oben D. I., Fn. 12. 271 Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 6, S. 203. 272 Dazu zählt auch ihr Recht auf Besitz bzw. Eigentum; s. etwa Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 4, S. 201 und § 59, S. 235: „Steht ein Mensch unter dem Gesetz der Natur? Was machte ihn frei unter diesem Gesetz? Was gab ihm, innerhalb der Grenzen jenes Gesetzes, freie Verfügung über sein Eigentum nach seinem Willen?“ Zu Lockes Begründung des Eigentums s. oben C. I. 1. c) (3) (a) (aa). 273 Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 19, S. 211. 274 s. Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 16 ff., S. 209 ff. 275 Staatliche Herrschaft ist auch nach Locke aufgrund der menschlichen Natur notwendig: „Und gäbe es nicht die Verderbtheit und Schlechtigkeit entarteter Menschen, so würde man auch kein Verlangen nach einer anderen Gesellschaft haben; es läge keinerlei Notwendigkeit vor, daß sich die Menschen von dieser großen und natürlichen Gemeinschaft trennen sollten und sich durch positive Vereinbarungen zu kleineren oder Teilgemeinschaften vereinigten.“ (Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 128, S. 280) 276 Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 123, S. 278. Hier nähert sich Lockes Beschreibung des Naturzustandes – entgegen seiner Behauptung, dieser sei kein Kriegszustand – der Konzeption Hobbes an, s. dazu auch Euchner, W., Einleitung (1995), S. 31 und 36. 277 s. Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 89, S. 254; § 87, S. 253 f.; § 130 f., S. 280 f.; § 95, S. 260.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

Die so geschaffene Gesellschaft setzt die Regierung ein,279 und zwar im Wege des trust, eines fiduziarischen Verhältnisses,280 als treuhänderischen Verwalter ihrer Rechte, wie Locke an verschiedenen Stellen ausführt281 und insbesondere in § 149 darlegt: „Obwohl es in einem verfaßten Staat . . . nur eine höchste Gewalt geben kann, nämlich die Legislative . . ., so ist doch die Legislative nur eine Gewalt, die auf Vertrauen beruht und zu bestimmten Zwecken handelt. Es verbleibt dem Volk dennoch die höchste Gewalt, die Legislative abzuberufen oder zu ändern, wenn es der Ansicht ist, daß die Legislative dem in sie gesetzten Vertrauen zuwiderhandelt. Denn da alle Gewalt, die im Vertrauen auf einen bestimmten Zweck übertragen wird, durch diesen Zweck begrenzt ist, so muß, wenn dieser Zweck vernachlässigt oder ihm entgegen gehandelt wird, dieses Vertrauen notwendigerweise verwirkt sein und die Gewalt in die Hände derjenigen zurückfallen, die sie erteilt haben und die sie nun von neuem vergeben können, wie sie es für ihre Sicherheit und ihren Schutz am besten halten.“ 282

Die Legislative ist an die im Treuhandverhältnis festgelegten Bedingungen gebunden; handelt sie diesen und dem in sie gesetzten Vertrauen zuwider, d. h. begeht sie einen breach of trust,283 so erlischt das Treuhandverhältnis und die Souveränität fällt wieder an das Volk, das eine neue Legislative einsetzen kann.284 Wie Locke gehen auch die Verfasser des Federalist davon aus, daß zwischen Volk und Staat ein Treuhandverhältnis (trust) besteht. Dies zeigt sich an verschiedenen Stellen in den Essays; so betont Madison in Nr. 46: „Die Verfassungsorgane von Bund und Einzelstaaten sind in Wirklichkeit nur unterschiedliche Makler und Treuhänder des Volkes, mit unterschiedlichen Kompetenzen versehen und für verschiedene Aufgaben vorgesehen.“ (Nr. 46, S. 284),

278

Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 97, S. 261; § 171, S. 309. Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 106, S. 266. 280 s. hierzu Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 180 ff. Die deutsche Ausgabe der Abhandlungen übersetzt den Begriff „trust“ durchgängig mit „Vertrauen“. 281 s. etwa Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 134, S. 284: „. . . Gehorsam gegen die Legislative . . ., wenn sie dem Vertrauensamt gemäß handelt“; § 142, S. 188: „Dies sind die Grenzen, die der legislativen Gewalt eines jeden Staates . . . gesetzt sind, und zwar durch das Vertrauen, das die Gesellschaft und das Gesetz Gottes und der Natur in sie gelegt haben“; § 155, S. 297: „Wenn man die Gewalt ohne Vollmacht gegen das Volk gebraucht, entgegen dem Vertrauen, das in ihn gesetzt wurde . . .“; § 164, S. 304: „Ein guter Fürst, eingedenk des in seine Hände gelegten Vertrauens . . .“. Zum englischen Originaltext s. Locke, J., Treatises (1690), II, § 134, S. 183; § 142, S. 188; § 155, S. 194; § 164, S. 200. 282 Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 149, S. 294. 283 Locke, J., Treatises (1690), II, § 222, S. 227. 284 Dabei kann es auch eine neue Regierungsform wählen, s. Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 222, S. 338 f. s. hierzu auch Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 185. 279

II. Im Federalist: Herrschaftslegitimation und -limitation

281

und auch in Nr. 14 und Nr. 57 weist er explizit darauf hin: „In Republiken aber versammeln sich seine [des Volkes] Repräsentanten und üben als Beauftragte die Regierungsgewalt aus.“ (Nr. 14, S. 75),

und: „Ziel jeder politischen Verfassung ist es, oder sollte es sein, erstens, als Herrscher solche Männer zu gewinnen, die den schärfsten Blick haben, das Gemeinwohl ihrer Gesellschaft zu erkennen und die größte [politische] Tugend, es tatkräftig zu verfolgen. Als nächstes sind die wirksamsten Vorkehrungen zu treffen, deren Tugendhaftigkeit zu bewahren, solange sie das ihnen übertragene öffentliche Amt in Treuhänderschaft ausüben.“ (Nr. 57, S. 346)

An anderen Stellen erwähnen die Autoren der Essays das fiduziarische Verhältnis eher nebenbei, wie etwa Hamilton in Nr. 23: „. . . daß die Regierung mit all den Vollmachten ausgestattet werden muß, die zur vollständigen Durchführung dieser ihr übertragenen Pflicht erforderlich sind“ (Nr. 23, S. 133 f.),285

und später im gleichen Essay: „Ein Regierungssystem, dessen Verfassung so beschaffen ist, daß man seinen Organen nicht alle Vollmachten übertragen kann, die ein freies Volk Regierungsorganen übertragen sollte, würde ein unsicherer und ungeeigneter Hort der nationalen Interessen sein.“ (Nr. 23, S. 136)286

In diesen Ausführungen zeigt sich, daß nach Auffassung der Autoren des Federalist – wie nach Locke – der Staat legitim ist, weil und soweit das Volk seine Rechte zur treuhänderischen Wahrnehmung an ihn abtritt; die Legitimität staatlicher Herrschaft ist dem Grunde und dem Umfang nach von der fiduziarischen Übertragung durch das Volk abhängig. Damit hat der Staat – in den Worten Fraenkels – „keine originären, sondern lediglich derivative Befugnisse“.287 Die Regierungsgewalt verbleibt der Substanz nach beim souveränen Volk und wird dem Staat lediglich zur Ausübung übertragen. Das in der Verfassung verkörperte Treuhandverhältnis legt gleichzeitig den Umfang der staatlichen Befugnisse fest; die Staatsgewalt ist an die hier festgelegten Bedingungen gebunden und findet in ihnen ihre Grenze.288 Handeln die staatlichen Organe außerhalb der ihnen so zugeschriebenen Sphäre, d. h. begehen sie einen breach of 285 Im Original lautet diese Stelle: „that that government ought to be clothed with all the powers requisite to complete the execution of its trust“, s. Nr. 23, S. 121 f. 286 Das Zitat lautet im Original: „A government, the constitution of which renders it unfit to be trusted with all the powers which a free people ought to delegate to any government, would be an unsafe and improper depositary of the national interests.“ s. Nr. 23, S. 124. 287 Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 181. 288 Zur Konzeption des trust s. von Bose, H., Mischverfassung (1989), S. 48 (zu Locke) und 117–122; Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 180–184; Haller, B., Meinung (1986), S. 95.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

trust, so steht dem Volk auch nach Ansicht des Federalist das Recht zur Einsetzung eines neuen Treuhänders zu, wie sich unten zeigen wird.289 2. Prinzipien des Gesellschaftsvertrages Die Verfasser der Federalist-Essays schreiben dem Gesellschaftsvertrag neben der herrschaftslegitimierenden auch eine kriteriologische Funktion zu, denn sie erklären bestimmte Gesetze für unrecht, die gegen Vertragsprinzipien verstoßen: „Ausnahmegesetze, die Einzelpersonen durch die Legislative ohne Gerichtsverfahren verurteilen [bills of attainder], rückwirkende Gesetze und Gesetze, die zivilrechtliche Vertragsverpflichtungen beeinträchtigen, widersprechen den ursprünglichen Prinzipien des Gesellschaftsvertrages und jedem Grundsatz ordentlicher Gesetzgebung . . .“ (Nr. 44, S. 272)

Der Gesellschaftsvertrag fungiert als Gerechtigkeitskriterium nicht nur bezüglich der einfachen Gesetze, sondern auch der Verfassung selbst, denn die Autoren des Federalist prüfen auch die verschiedenen vorgeschlagenen Verfassungsbestimmungen auf ihre Vereinbarkeit mit den Prinzipien des ursprünglichen Vertrages – ohne allerdings ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß es sich hierbei um Vertragsprinzipien handelt. Sie machen aber deutlich, daß die Menschen den Naturzustand verlassen und durch den Gesellschaftsvertrag in den Staat eintreten, um ihre natürlichen Rechte zu schützen und zu sichern; zu diesen Rechten, um derentwillen der Vertrag geschlossen wird, gehört die Trias von Leben, Freiheit und Eigentum (life, liberty and property), die auch Locke immer wieder als natürliche und vom Staat zu schützende Rechte des Menschen erwähnt.290 Auch Hamilton kündigt im ersten Essay an, die Aufsatzserie werde unter anderem folgendes behandeln: „Die zusätzliche Sicherheit, die deren Verabschiedung [der vorgeschlagenen Verfassung] . . . für die Freiheit und das Eigentum haben wird.“ (Nr. 1, S. 4)

a) Leben und Freiheit Die Autoren des Federalist sehen eine elementare, fundamentale Aufgabe des Staates in der Sicherung des Lebens seiner Bürger:

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s. unten 3. a). s. etwa folgende Formulierung: „Und nicht grundlos trachtet er danach und ist dazu bereit, sich mit anderen zu einer Gesellschaft zu verbinden . . ., zum gegenseitigen Schutz ihres Lebens, ihrer Freiheiten und ihres Vermögens, was ich unter der allgemeinen Bezeichnung Eigentum zusammenfasse.“ s. Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 123, S. 278. s. auch II, § 135, S. 284; § 137, S. 286; § 171, S. 309; § 209, S. 331; § 221, S. 338; § 222, S. 338. Jefferson greift diesen Gedanken in der Unabhängigkeitserklärung auf, allerdings unter Abwandlung des Eigentumsmomentes in das Recht auf Streben nach Glück. 290

II. Im Federalist: Herrschaftslegitimation und -limitation

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„Regierungen existieren nicht weniger zum Schutz des Eigentums als der Person von Individuen.“ (Nr. 54, S. 333)

Auch der Freiheit weisen die Verfasser der Essays einen fundamentalen Stellenwert zu; sie erwähnen häufig die Gefahren, die der Freiheit seitens bestimmter politischer Praktiken drohen,291 und betonen immer wieder, daß die vorgesehenen Verfassungsbestimmungen der Sicherung der Freiheit dienen.292 Auch die Verfassung selbst, deren Verteidigung die Essays dienen, erwähnt die Freiheit als eines der herausragenden Ziele des Staates bereits in der Präambel.293 Die Autoren des Federalist unterscheiden zwischen zwei verschiedenen Aspekten der Freiheit, die Madison in Nr. 10 als „gesellschaftliche und individuelle Freiheit“ bezeichnet (Nr. 10, S. 50). Mit der ersteren spricht er die positive Freiheit als Recht zur politischen Partizipation an, mit der letzteren die negative Freiheit als Recht auf eigenständige Lebensführung.294 (1) Negative, persönliche Freiheit Auch Hamilton differenziert zwischen beiden Aspekten; er bezeichnet die negative, liberale Freiheit als bürgerliche Freiheit: „Aus den Unruhen . . . haben die Befürworter des Despotismus ihre Argumente bezogen, nicht allein gegen die Formen republikanischer Regierungssysteme, sondern gegen die Prinzipien bürgerlicher Freiheit [civil liberty] an sich.“ (Nr. 9, S. 45)

Dieser Begriff wurde im 18. Jahrhundert zwar uneinheitlich und ungenau verwendet,295 aber indem Hamilton betont, daß sich die Apologeten des Despotis291 s. etwa Nr. 25 und 26 in bezug auf die Notwendigkeit eines stehenden Heeres: „Wir würden unser Eigentum und unsere Freiheit fremden Eindringlingen auf Gedeih und Verderb ausliefern . . .“ (Nr. 25, S. 146) und: „Pläne, die Freiheit einer großen Gemeinschaft zu untergraben, benötigen Zeit, in der sie reif zur Durchführung werden. Ein Heer, das groß genug wäre, um die Freiheitsrechte ernsthaft zu bedrohen, könnte nur allmählich, Schritt für Schritt aufgebaut werden . . .“ (Nr. 26, S. 153). s. auch Nr. 55: „Die wirkliche Frage, die damit zu entscheiden ist, lautet, ob die Geringfügigkeit der Zahl [der Abgeordneten im Repräsentantenhaus] als vorübergehende Regelung gefährlich für die politische Freiheit [the public liberty] ist?“ (Nr. 55, S. 338) 292 Zur freiheitssichernden Funktion, die der Federalist der Gewaltenteilung, der Repräsentation und dem Föderalismus zuspricht, s. unten E. I. 2., II. 2. und III. 2. 293 „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unsere Union zu vervollkommnen, Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die Landesverteidigung zu sorgen, die allgemeine Wohlfahrt zu fördern und das Glück der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahren, verfügen und erlassen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika.“ 294 s. auch von Bose, H., Mischverfassung (1989), S. 188 f.; Kammen, M., Liberty (1988), S. 107; Ketcham, R., Posterity (1993), S. 38 und 40. Zu dieser Unterscheidung und den verschiedenen Sichtweisen im 18. Jahrhundert s. Salvemini, G., Concepts (1968), S. 112 f. 295 s. dazu Salvemini, G., Concepts (1968), S. 111. Teilweise bezeichnete er die Freiheit des bürgerlichen Zustandes im Gegensatz zu jener im Naturzustand, s. Reid,

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

mus nicht nur gegen republikanische Regierungssysteme richten, in denen die positive Freiheit als Recht auf Teilnahme am politischen Prozeß verwirklicht ist, sondern darüber hinaus sogar gegen die bürgerliche Freiheit selbst aussprechen, unterscheidet er diese vom Recht auf politische Partizipation und stellt sie als etwas noch Grundlegenderes dar. Daß Hamilton mit dem Begriff der bürgerlichen Freiheit die negative, liberale Freiheit anspricht,296 ergibt sich auch daraus, daß er an anderer Stelle zwischen den „bürgerlichen und politischen Rechte[n]“ unterscheidet (Nr. 8, S. 40). Der Begriff der Freiheit wurde im 18. Jahrhundert überwiegend unter diesem Aspekt gesehen, als Freiheit von, nicht dagegen als Freiheit zu etwas.297 Es wurde angenommen, daß diese negative Freiheit jedem Menschen zukomme – als sein Eigentum oder als Naturrecht.298 Allerdings verlieh sie den Menschen nicht das Recht, zu tun und zu lassen, was ihnen gefiel, sondern wurde überwiegend als Recht gesehen, dies innerhalb der Grenzen der Gesetze zu tun.299 Dies zeigt sich deutlich in den Aussagen Lockes: „Freiheit bedeutet also nicht . . .: eine Freiheit für jeden, zu tun, was ihm beliebt, zu leben, wie es ihm gefällt, und durch keine Gesetze gebunden zu sein, sondern: die Freiheit der Menschen unter einer Regierung bedeutet, unter einem feststehenden Gesetz zu leben, das für jeden dieser Gesellschaft Gültigkeit besitzt und von der legislativen Gewalt, die in ihr errichtet wurde, verabschiedet worden ist. Es ist eine Freiheit, mich in allen Angelegenheiten nach meinem eigenen Willen zu richten, wo jene Regel nichts vorschreibt, und nicht dem unbeständigen, ungewissen, unbekannten und willkürlichen Verlangen eines anderen unterworfen zu sein. Und somit bedeutet natürliche Freiheit auch, keiner anderen Einschränkung als der des natürlichen Gesetzes unterworfen zu sein.“ 300

J. P., Concept (1988), S. 32; teilweise wurde darunter gerade die positive Freiheit zur politischen Partizipation verstanden; s. Kammen, M., Liberty (1988), S. 110; Salvemini, G., a. a. O., S. 112. 296 So auch Epstein, D. F., Theory (1984), S. 147, und Kammen, M., Spheres (1986), S. 33 f. Epstein geht allerdings davon aus, daß „Freiheit“ im Federalist grundsätzlich politische Freiheit bedeutet: „The fundamental meaning of liberty is what is today usually called ,political liberty‘, as distinguished from the ,private liberty‘ or ,civil liberty‘ which governments may secure for their citizens. Men are free when they engage in political life – not when they are merely benignly neglected. Liberty exists in a government in which the people or their elected representatives have at least a share in rule.“ (ebd.) Im Gegensatz zu dieser Auffassung wird im folgenden zu zeigen sein, daß die Bundesverfassung und die Autoren des Federalist angesichts der in den Einzelstaaten gemachten Erfahrungen mit demokratischen Legislativen gerade die negative, liberale Freiheit gegenüber der partizipatorischen, demokratischen Freiheit betonen. 297 Reid, J. P., Concept (1988), S. 56. 298 s. Reid, J. P., Concept (1988), S. 24–26. 299 Reid, J. P., Concept (1988), S. 65 f. 300 Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 22, S. 214.

II. Im Federalist: Herrschaftslegitimation und -limitation

285

Die liberale Freiheit war damit das Recht, das zu tun, was nach den bestehenden Gesetzen erlaubt bzw. nicht verboten war, und innerhalb dieses so vorgegebenen Handlungsspielraums nicht dem Willen eines anderen unterworfen zu sein. Erst diese eingeschränkte Freiheit wurde als Freiheit angesehen; die ungebundene, absolute Freiheit wurde vielfach nicht einmal als Freiheit bezeichnet, sondern als licentiousness, einem heute in diesem Zusammenhang nicht mehr gebräuchlichen Ausdruck, der sich am ehesten mit Ausschweifung übersetzen läßt oder – im politischen Kontext – mit Anarchie.301 Dieses Freiheitsverständnis zeigt sich auch im Federalist, so spricht Madison in Nr. 41 von dem „räuberischen Geist zügelloser Abenteurer“ (Nr. 41, S. 247), dem „predatory spirit of licentious adventurers“ (Nr. 41, S. 229), und in Nr. 53 weist er auf folgendes hin: „Dennoch wäre es nicht leicht zu beweisen, daß Connecticut und Rhode Island besser regiert werden oder mehr vernünftige Freiheit genießen als South Carolina . . .“ (Nr. 53, S. 324 f.)

Damit deutet Madison (allerdings im politischen Kontext) an, daß es auch unvernünftige, irrationale Freiheit gibt, die diesen Namen kaum noch verdient. Die Freiheit steht nach diesem Verständnis in einem Spannungsverhältnis zum Recht, das James Wilson wie folgt ausdrückt: „Without liberty, law loses its nature and its name, and becomes oppression. Without law, liberty also loses its nature and its name, and becomes licentiousness.“ 302

Einerseits bedarf die Freiheit der Einschränkung durch das Recht, um nicht zur licentiousness zu degenerieren, andererseits lauert am anderen Ende des Spektrums die Gefahr der Tyrannei und Willkürherrschaft, falls die Freiheit zu stark beschnitten wird.303 Daher gilt es, diese beiden Komponenten auszutarieren, um so ein – mit dem Ausdruck Madisons – vernünftiges Maß an Freiheit im Staat zu gewährleisten. Locke drückt diese Angewiesenheit der Freiheit auf das Recht wie folgt aus: „Wo es kein Gesetz gibt, da gibt es auch keine Freiheit. Freiheit nämlich heißt frei sein von dem Zwang und der Gewalttätigkeit anderer, was da nicht möglich ist, wo es keine Gesetze gibt.“ 304

Daß auch nach der Ansicht des Federalist eine enge Verbindung zwischen Freiheit und der effizienten Durchsetzung der Gesetze besteht, zeigt sich bereits im ersten Essay, in dem Hamilton schreibt: 301 s. hierzu Kammen, M., Spheres (1986), S. 37 und 73; Reid, J. P., Concept (1988), S. 32–37. 302 Zitiert nach Kammen, M., Spheres (1986), S. 37. („Ohne Freiheit verliert das Recht seine Wesensart und seinen Namen und wird zur Unterdrückung. Ohne Recht verliert die Freiheit ebenso ihre Wesensart und ihren Namen und wird zur Ausschweifung bzw. Anarchie.“) 303 s. Roche, J. P., Liberty (1958), S. 140. 304 Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 57, S. 234.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

„Andererseits wird gleichermaßen vergessen, daß die Stärke eines politischen Systems für die Sicherung der Freiheit unerläßlich ist . . .“ (Nr. 1, S. 3)

An anderer Stelle betont er: „Die Stärke der Exekutive ist ein bestimmendes Merkmal bei der Definition eines guten Regierungssystems. Sie ist entscheidend . . . für den Schutz des Eigentums . . .; für den Schutz der Freiheit . . .“ (Nr. 70, S. 424)

Allerdings war mit der Annahme, daß allen Menschen ein natürliches Recht auf persönliche Freiheit zusteht, die Institution der Sklaverei nicht vereinbar, da sie den betroffenen Menschen keinerlei Entscheidungsfreiheit über die Gestaltung des eigenen Lebens zugestand und sie in Abhängigkeit vom Willen und der Willkür anderer hielt. Dieser Widerspruch war den Schöpfern der Verfassung, die teilweise selbst Sklavenhalter waren, durchaus bewußt.305 Es hatte sich im Konvent jedoch als unmöglich erwiesen, die Sklaverei durch die Verfassung verbieten zu lassen, da die Delegierten der Südstaaten eine solche Bestimmung ablehnten und die entsprechenden Staaten den Entwurf unter dieser Bedingung nicht ratifiziert hätten.306 Stattdessen wurde in Art. 1 Abschn. 9 Abs. 1 lediglich festgelegt, daß die Einfuhr von Sklaven307 vom Kongreß nicht vor dem Jahr 1808 verboten werden konnte. Daß auch die Autoren des Federalist die Unvereinbarkeit von Freiheitspostulat und Sklaverei sehen, zeigt sich insbesondere in Nr. 54, in dem Madison den Kompromiß verteidigt, bei der Verteilung der Sitze des Repräsentantenhauses und der direkten Steuern auf die Einzelstaaten jeweils fünf Sklaven wie drei weiße Männer zu zählen.308 Zunächst überbrückt er die Diskrepanz zwischen seiner persönlichen Auffassung und der zu verteidigenden Verfassungsbestimmung, indem er einen imaginären Südstaatler sprechen läßt (s. Nr. 54, S. 330). Zudem betont er: „Sollten die Neger aber per Gesetz wieder in die ihnen genommenen Rechte eingesetzt werden, könnte man ihnen zugegebenermaßen nicht länger einen gleichen An-

305 s. hierzu Adams, W. P., Verfassung (1973), S. 181. Auch Jefferson, Verfasser der Unabhängigkeitserklärung und Verkünder des Grundsatzes, daß alle Menschen gleich geschaffen seien, war Sklavenhalter, s. Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 86 f. Zum Gleichheitsgrundsatz der Unabhängigkeitserklärung im Verhältnis zu Sklaverei und Rassendiskriminierung s. Schwenk, E. H., Declaration (DVBl. 91, 1976), S. 453– 455. 306 Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 328 f. 307 Jedoch wurde der Ausdruck „Sklaven“ vermieden, um nicht den Anschein zu erwecken, die Verfassung sanktioniere die Sklavenhaltung moralisch. Vielmehr beschreibt die genannte Bestimmung sie als solche „Personen, deren Zulassung einer der derzeit bestehenden Staaten für zweckmäßig hält“. 308 Auch Art. 1 Abschn. 2 Abs. 3 der Verfassung, der den Drei-Fünftel-Kompromiß festschreibt, vermeidet den Ausdruck „Sklaven“ und bestimmt, daß „zur Gesamtzahl der freien Personen . . . drei Fünftel der Gesamtzahl aller übrigen Personen hinzugezählt werden.“

II. Im Federalist: Herrschaftslegitimation und -limitation

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teil an der Repräsentation gemeinsam mit den übrigen Bewohnern verwehren.“ (Nr. 54, S. 331)

Er geht davon aus, daß den Sklaven bestimmte Rechte genommen wurden, die ihnen also ursprünglich, unabhängig von den Gesetzen und damit als Naturrechte, zustanden. Diese Rechte, zu denen nach Ansicht der Verfasser des Federalist auch die natürliche Freiheit gehört, würden nach Madisons Auffassung bei einer Änderung der Gesetzeslage, d. h. der Aufhebung der Sklavereigesetze, wieder aufleben. (2) Positive, öffentliche Freiheit Von diesem negativen, persönlichen Aspekt der Freiheit unterscheiden die Autoren des Federalist den positiven Aspekt der politischen Partizipation, den sie in Nr. 10 als öffentliche309 und in Nr. 37 als republikanische Freiheit bezeichnen. Madison äußert sich im letzteren Essay wie folgt dazu: „Der Geist republikanischer Freiheit scheint einerseits zu verlangen, daß alle Macht vom Volk ausgeht und diejenigen, die damit in Treuhänderschaft betraut worden sind, durch die kurze Dauer ihrer Ernennung vom Volk abhängig bleiben und die Verantwortung selbst während dieser kurzen Zeit nicht einigen wenigen, sondern vielen Händen übertragen wird.“ (Nr. 37, S. 210)

Die republikanische Freiheit verleiht den Menschen das Recht, an der treuhänderischen Bestellung der eigenen Repräsentanten mitzuwirken, d. h. im politischen Prozeß stimmberechtigt zu sein. Gleichzeitig müssen nach republikanischen Prinzipien auch die Repräsentanten selbst dem Volk entstammen; die Autoren des Federalist fordern ein „Regierungssystem . . ., in dem alle Gewalt direkt oder indirekt von der Gesamtheit des Volkes ausgeht und von Personen ausgeübt wird, die ihre Ämter jederzeit abrufbar für eine begrenzte Zeit oder während guter Amtsführung ausüben. Es ist wesentlich für ein solches Regierungssystem, daß es sich aus der Gesamtheit der Gesellschaft herleitet und nicht bloß von einem unerheblichen Teil oder einer bevorzugten Klasse . . . Es ist ausreichend für ein solches Regierungssystem, daß die Personen, die regieren, entweder direkt oder indirekt vom Volk ernannt werden und ihre Ämter nur für eine der beiden eben benannten Amtsperioden innehaben.“ (Nr. 39, S. 226)

Damit umfaßt die republikanische, öffentliche Freiheit ebenfalls das Recht des einzelnen, selbst als Repräsentant aufzutreten.310 309 Auch an anderer Stelle spricht Madison im Zusammenhang mit den politischen Rechten des Volkes von public liberties, d. h. öffentlichen Freiheiten bzw. Freiheitsrechten: „Besteht aufgrund von Einstellung und Verhalten der Volksvertreter vor der Revolution Grund zu der Annahmen, daß Wahlen alle zwei Jahre für die politischen Freiheitsrechte [the public liberties] gefährlich waren?“ (Nr. 52, S. 322) 310 s. auch Kammen, M., Liberty (1988), S. 107.

288

D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

Ein solches, von den Autoren des Federalist als Republik311 bezeichnetes System der Selbstregierung des Volkes durch seine Repräsentanten wäre in heutiger Terminologie eine repräsentative Demokratie. Im 18. Jahrhundert war der Sprachgebrauch jedoch überwiegend ein anderer als in heutiger Zeit; damals bezeichnete der Begriff Demokratie die direkte, unmittelbare Demokratie, während die repräsentative Variante als Republik bezeichnet wurde.312 Diese Unterscheidung trifft auch der Federalist; so betont etwa Madison in Nr. 10: „. . . eine reine Demokratie – womit ich ein Gemeinwesen meine, das aus wenigen Bürgern besteht, die sich in personam versammeln und die Regierungsgewalt selbst ausüben . . .“ (Nr. 10, S. 54 f.), und kurz darauf führt er aus: „Eine Republik, womit ich ein Regierungssystem meine, in dem das Konzept der Repräsentation verwirklicht ist . . .“ (Nr. 10, S. 55). Auch in Nr. 14 weist er auf den Unterschied zwischen beiden Regierungsformen hin und warnt vor einer Verwechslung: „Ich will an dieser Stelle nur sagen, daß dieser Irrtum nur entstehen und verbreitet werden konnte, weil man Republik und Demokratie verwechselt hat . . . Der wahre Unterschied zwischen beiden ist bereits weiter oben erörtert worden. Er besteht darin, daß sich in einer Demokratie das [Wahl-]Volk versammelt und selbst die Regierungsgewalt ausübt. In Republiken aber versammeln sich seine Repräsentanten und üben als Beauftragte die Regierungsgewalt aus.“ (Nr. 14, S. 74 f.)

Während heute der Begriff der Demokratie als Oberbegriff sowohl für die direkte als auch die repräsentative Demokratie verwendet wird, war der Oberbegriff für die (reine) Demokratie und die Republik im 18. Jahrhundert das „popular government“,313 wie sich auch im Federalist zeigt. So schreibt Madison in Nr. 14 weiter: „Man hat diesen Trugschluß wahrscheinlich deshalb umso weniger bemerkt, als die meisten auf dem Willen des Volkes beruhenden [popular] Regierungssysteme der Antike zur demokratischen Gattung gehörten.“ (Nr. 14, S. 75)

Die positive Freiheit kam aber nach dem Verfassungsentwurf, den Publius verteidigt – anders als die natürliche, jedem Menschen angeborene negative Freiheit – nicht jedem Menschen zu. Vielmehr waren ganze Bevölkerungsgruppen vom aktiven wie vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen, und zwar Frauen und Kinder, die amerikanischen Ureinwohner, d. h. Indianer, sowie Afroamerikaner und Sklaven. Damit blieb die positive Freiheit als Recht auf politische Partizipation zunächst auf die weißen Männer beschränkt, die etwa 40% der Bevölkerung ausmachten.314 311

s. etwa Nr. 39, S. 226. Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 39. 313 Diamond, M., Democracy (APSR 53, 1959), S. 54; ders., Federalist (1964), S. 580. 314 s. hierzu Bonsteel Tachau, M. K., Equality (1988), S. 76–80. 312

II. Im Federalist: Herrschaftslegitimation und -limitation

289

Zudem war das aktive Wahlrecht von gewissen Eigentumsqualifikationen abhängig: da sich die Delegierten des Verfassungskonventes hierüber nicht hatten einigen können, hatten sie das Recht zur Wahl des Repräsentantenhauses an die Wahlberechtigung in den Einzelstaaten gekoppelt und sie in Art. 1 Abschn. 2 Abs. 1 S. 2 der Verfassung den Personen zugesprochen, die berechtigt waren, in ihrem Heimatstaat die zahlenmäßig stärkste Kammer der Einzelstaatslegislative zu wählen. Dabei waren von Staat zu Staat unterschiedliche Eigentumsqualifikationen zu erfüllen, die jedoch insgesamt für die damalige Zeit recht gering waren.315 Allerdings wurde hierdurch nochmals etwa ein Viertel der prinzipiell wahlberechtigten Bevölkerungsgruppe vom politischen Prozeß ausgeschlossen.316 Das passive Wahlrecht dagegen unterlag keinerlei Eigentumsanforderungen, und zwar weder die Wählbarkeit zum Repräsentantenhaus (s. Art. 1 Abschn. 2 Abs. 2) noch zum Senat (s. Art. 1 Abschn. 3 Abs. 3), zum Amt des Präsidenten (s. Art. 2 Abschn. 1 Abs. 4) oder des Richters (s. Art. 3 Abschn. 1). Die Verfasser des Federalist unterscheiden terminologisch zwischen den wahlberechtigten und nicht wahlberechtigten Einwohnern der Vereinigten Staaten; nur die ersteren bezeichnen sie als Bürger, wie sich in Nr. 43 zeigt: „Kann denn nicht schließlich aus einer Minderheit von Bürgern eine Mehrheit von Personen werden, durch Addition der ausländischen Einwohner, durch den gelegentlichen Zuzug von Abenteurern oder von denjenigen, denen die jeweilige Einzelstaatsverfassung kein Wahlrecht verliehen hat?“ (Nr. 43, S. 265)

Die Autoren des Federalist sehen die positive Freiheit ebensowenig wie die negative als ungebundene, absolute; auch bezüglich der politischen Freiheit befürchten sie, daß sie zur Ausschweifung317 oder Anarchie degenerieren könnte.318 Ein abschreckendes Beispiel boten die nachrevolutionären Einzelstaatslegislativen, die vielfach die Rechte von Minderheiten grob mißachtende Gesetze wie etwa Schuldnerschutzgesetze erlassen hatten und aufgrund der kurzen Legislaturperioden, der hohen personellen Rotation und der Unerfahrenheit vieler Abgeordneter eine wechselhafte und unübersichtliche Rechtslage geschaf-

315 s. Adams, A. und W. P., Entstehung (1995), S. 286 sowie die Tabelle auf S. 284 f. Eine ausführliche Darstellung des Wahlrechts und seiner Entwicklung findet sich bei Williamson, C., Suffrage (1960). 316 Adams, W. P., Verfassung (1973), S. 207, geht davon aus, daß ein Viertel bis maximal die Hälfte der weißen Männer von der Wahlberechtigung ausgeschlossen wurden; Diamond, M., Democracy (APSR 53, 1959), S. 58, nimmt im Anschluß an Robert E. Brown an, daß es maximal ein Viertel, in den meisten Staaten aber nur fünf bis zehn Prozent waren. 317 Statt von licentiousness wurde im politischen Kontext auch von mobocracy gesprochen, s. etwa Adams, W. P., Verfassung (1973), S. 159; Dietze, G., Classic (1962), S. 161. 318 s. dazu das oben angeführte Zitat aus Nr. 53, S. 324 f.: „Dennoch wäre es nicht leicht zu beweisen, daß Connecticut und Rhode Island besser regiert werden oder mehr vernünftige Freiheit genießen als South Carolina . . .“ (Nr. 53, S. 324 f.)

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

fen hatten.319 Madison stellt die negativen Folgen dieser unbeständigen Gesetzgebung in Nr. 62 vor: „Die inneren Folgen einer unsteten Politik sind noch verheerender. Denn sie vergiftet selbst die Wohltaten der Freiheit. Es wird dem Volk wenig nützen, daß die Gesetze von Männern ihrer Wahl gemacht werden, wenn die Gesetze so umfangreich sind, daß man sie nicht lesen kann oder so unzusammenhängend, daß man sie nicht verstehen kann. Werden sie aber aufgehoben oder revidiert, bevor sie bekanntgemacht worden sind, oder aber unaufhörlich abgeändert, so kann keiner, der heute weiß, was rechtens ist, auch nur raten, was morgen gelten wird. Recht und Gesetz werden als Maß des Handelns definiert. Doch wie kann das ein Maßstab sein, was kaum bekannt und noch weniger festgeschrieben ist?“ (Nr. 62, S. 378)

Da die negative Freiheit als Recht gesehen wird, im Rahmen der bestehenden Gesetze frei und selbstbestimmt handeln zu können,320 führt die dauernde Veränderung dieses Rahmens und die damit verbundene Unsicherheit zu einer Beeinträchtigung der liberalen Freiheit.321 Das Beispiel der Einzelstaatslegislativen hatte den Verfassungsvätern gezeigt, daß ein Übermaß an politischer Freiheit zu einer Gefährdung bzw. Verletzung der persönlichen Freiheit führt, anstatt sie zu sichern. Während die positive Freiheit in der ersten Zeit nach der Revolution als Garantie für die Wahrung der negativen Freiheit angesehen wurde, war in der Folgezeit deutlich geworden, daß diese Auffassung falsch war und auch die demokratisch gewählten und besetzten Einzelstaatslegislativen durchaus ihre positive Freiheit mißbrauchen und der persönlichen Freiheit der Menschen schaden konnten.322 Angesichts dieser Erfahrungen warnte Benjamin Rush: „In our opposition to monarchy, we forgot that the temple of tyranny has two doors. We bolted one of them by proper restraints; but we left the other open, by neglecting to guard against our own ignorance and licentiousness.“ 323

319

s. hierzu oben B. II. 4. a) (3). So hatte schon Locke betont, daß die negative Freiheit bedeute, „unter einem feststehenden Gesetz zu leben, das für jeden dieser Gesellschaft Gültigkeit besitzt . . .“, s. Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 22, S. 214. 321 Zudem hat die Rechtsunsicherheit auch negative Auswirkungen auf das Eigentum der Menschen bzw. auf die Möglichkeit, dieses zu vermehren, s. Nr. 62, S. 379. 322 s. hierzu Dietze, G., Classic (1962), S. 59–65. 323 Zitiert nach Dietze, G., Classic (1962), S. 63. („. . . in unserem Widerstand gegen die Monarchie haben wir vergessen, daß der Tempel der Tyrannei zwei Türen hat. Eine von ihnen haben wir mit angemessenen Einschränkungen verriegelt, aber die andere haben wir offengelassen, indem wir es versäumt haben, uns gegen unsere eigene Ignoranz und Ausschweifung abzusichern.“) s. auch Madisons Warnung: „Auf eine so allgemeine Antwort sollte die allgemeine Erwiderung genügen, daß die Freiheit durch den Mißbrauch der Freiheit ebenso gefährdet ist wie durch den Mißbrauch der Macht, daß es zahlreiche Beispiele für ersteres wie für letzteres gibt und ersteres, nicht letzteres offenbar in den Vereinigten Staaten vor allem befürchtet werden muß.“ (Nr. 63, S. 385 f.) 320

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Trotz dieser negativen Beispiele für die möglichen Gefahren des popular government gehen die Autoren des Federalist davon aus, daß ein republikanisches Regierungssystem funktionieren kann und sich mit der menschlichen Natur vereinbaren läßt: „Ebenso wie Schlechtigkeit unter den Menschen existiert, die ein gewisses Maß an Vorsicht und Mißtrauen erforderlich macht, so hat die menschliche Natur auch andere Eigenschaften, die ein gewisses Maß an Achtung und Vertrauen rechtfertigen. Das republikanische Regierungssystem geht von der Existenz dieser Eigenschaften in höherem Maß aus als jede andere Regierungsform.“ (Nr. 55, S. 340 f.)

Aufgrund ihres differenzierten Menschenbildes324 sprechen die Verfasser der Essays den Menschen eine gewisse – wenn auch beschränkte – Rationalität und Tugendhaftigkeit zu, aufgrund derer sie sie als zur Selbstregierung fähig ansehen.325 Zwar sind sich die Autoren angesichts der vielfältigen historischen Beispiele und der in den Einzelstaaten gemachten Erfahrungen bewußt, daß dabei wegen der Unzulänglichkeiten der Menschen erhebliche Probleme entstehen, aber sie gehen davon aus, daß diese Probleme, wenn sie richtig erkannt werden, gelöst werden können.326 Dabei stützen sie sich auf die Wissenschaft der Politik, von der sie annehmen, daß sie genügend Erkenntnisse erbracht hat, um ein stabiles republikanisches Regierungssystem zu ermöglichen.327 Um die persönliche Freiheit zu sichern, die nun höher bewertet wurde als die politische Freiheit, versuchte der Verfassungskonvent, die letztere in den politischen Institutionen des Bundes zurückzudrängen,328 ohne die Grundsätze des Republikanismus zu verletzen.329 Dies geschah in erster Linie durch den Aufbau der Bundesorgane, vor allem dadurch, daß der unmittelbar vom Volk ge324

s. hierzu oben C. II. 2. d). s. hierzu Wright, B. F., Nature (Ethics 59, 1949), S. 28. 326 Scanlan, J. P., Nature (RoP 21, 1959), S. 677. 327 Mace, G., Locke (1979), S. 101; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 106; Taylor, Q. P., Essential (1998), S. 28. s. auch Hamiltons Ausführungen in Nr. 9: „Wenn es sich als unmöglich erwiesen hätte, Modelle mit einer verbesserten Struktur zu entwerfen, dann wäre den aufgeklärten Freunden der Freiheit nichts anderes übrig geblieben, als die Sache dieser Regierungsform als unhaltbar aufzugeben. Die Wissenschaft von der Politik hat aber wie die meisten anderen Wissenschaften große Fortschritte gemacht. Heute begreift man die Wirkungsweise verschiedener Prinzipien, die den Menschen der Antike entweder gar nicht oder unvollständig bekannt waren.“ (Nr. 9, S. 45) 328 s. Dietze, G., Classic (1962), S. 66–68; Kammen, M., Spheres (1986), S. 37 f. Dietze bezeichnet die negative Freiheit als protection principle (Schutzprinzip) und die positive Freiheit als participation principle (Partizipations- oder Teilnahmeprinzip). Zum Vorrang des ersteren vor dem letzeren bei Madison s. ebd. S. 115–118, bei Hamilton S. 144–148. 329 s. hierzu auch Madisons Hinweis: „Eine der großen Schwierigkeiten, denen sich der Konvent gegenübersah, lag gewiß darin, die notwendige Stabilität und Stärke des Regierungssystems mit der unantastbaren Achtung, wie sie Freiheit und republikanischer Regierungsform gebühren, in Einklang zu bringen.“ (Nr. 37, S. 209) 325

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wählten Kammer der Legislative andere starke Institutionen wie Senat und Präsident zur Seite gestellt wurden, die nur indirekt vom Volk gewählt wurden und mit denen sich das Repräsentantenhaus gewisse Kompetenzen teilte. In vertikaler Perspektive wurde die Stellung der Bundesorgane insgesamt gestärkt, da die neue Verfassung ihnen weitaus mehr Kompetenzen und Macht verlieh als dem Kongreß unter den Konföderationsartikeln. b) Eigentum Ein weiteres natürliches Recht der Menschen, dessen Sicherung der Staat in den Augen Publius’ dient, und damit ein weiteres Prinzip des Gesellschaftsvertrages ist das Recht auf Eigentum. Dieses war in der Sicht des 18. Jahrhunderts auf das engste mit der Freiheit verbunden und teilweise mit ihr gleichzusetzen. Denn der Begriff des Eigentums wurde zum Teil umfassender verstanden als heute, er schloß neben dem Eigentum an beweglichen Sachen und an Land auch das Eigentum an sich selbst ein und war insoweit mit dem Postulat der Freiheit identisch.330 Zudem wurde die Freiheit als Eigentum der Menschen angesehen: sie stand den Menschen zu, weil sie ihr natürliches Recht und ihr Eigentum war.331 Entsprechend hoch wurde auch das Recht der Menschen auf Eigentum bewertet, wie sich an der gängigen Trias von Leben, Freiheit und Eigentum (life, liberty and property) und der gängigen Annahme zeigt, daß der Staat zum Schutz dieser Rechte und vor allem des Eigentums existiere.332 Dieses weite Verständnis von Eigentum zeigt sich auch bei Locke, der unter den Begriff teilweise auch das Recht auf Leben und Freiheit faßt, wie er an verschiedenen Stellen klarstellt: „sein Eigentum, d. h. sein Leben, seine Freiheit und seinen Besitz“.333 An anderen Stellen dagegen verwendet er den Begriff im heutigen Sinne als Herrschaftsrecht an Sachen.334 Den Zusammenhang zwischen Freiheit und Eigentum betonen auch die Autoren des Federalist.335 So preist etwa Hamilton in Nr. 1 die „zusätzliche Sicher-

330

s. Salvemini, G., Concepts (1968), S. 114. Reid, J. P., Concept (1988), S. 24 f. 332 s. Kammen, M., Spheres (1986), S. 24; Reid, J. P., Concept (1988), S. 25 und 68. 333 Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 87, S. 253. s. auch II, § 123, S. 278; § 173, S. 310. 334 s. etwa Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 25, S. 215: „Wenn wir dies aber annehmen, scheint es für manchen eine sehr schwierige Frage zu sein, wie denn irgend jemand überhaupt einen beliebigen Gegenstand als Eigentum besitzen kann.“, oder II, § 28, S. 217: „Das Gras, das mein Pferd gefressen, der Torf, den mein Knecht gestochen, und das Erz, das ich an irgendeiner Stelle gegraben . . . habe, werden ohne die Anweisung und Zustimmung von irgend jemand mein Eigentum.“ s. auch Euchner, W., Einleitung (1995), S. 38. 335 s. Kammen, M., Spheres (1986), S. 41. 331

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heit . . . für die Freiheit und für das Eigentum“ an (Nr. 1, S. 4), ein Gedanke, den er zum Abschluß der Artikelserie wieder aufgreift: „Der zusätzliche Schutz für das republikanische Regierungssystem, für Freiheit und Eigentum, der sich aus der Annahme des hier diskutierten Entwurfs ergibt . . .“ (Nr. 85, S. 531)

Auch in der oben bereits zitierten Stelle aus Nr. 70 betont Hamilton den – gleichzeitigen – Schutz von Freiheit und Eigentum und die Abhängigkeit beider Rechte von einer gewissen Macht oder Stärke.336 In diesen Zitaten läßt sich nicht feststellen, in welchem Sinne die Autoren den Begriff des Eigentums verwenden, an anderer Stelle aber unterscheidet Madison explizit zwischen dem Eigentum im engeren, materiellen Sinne und anderen Rechten: „Die Eigentumsrechte [rights of property] sind denselben Händen anvertraut wie die Individualrechte [personal rights].“ (Nr. 54, S. 333)

Auch zwischen dem Eigentum in diesem engeren Sinne und der Freiheit bestand nach der Auffassung des 18. Jahrhunderts eine enge Verbindung:337 Die Möglichkeit, Eigentum innezuhaben, das dem willkürlichen Zugriff anderer entzogen war, wurde als Voraussetzung für die Freiheit des einzelnen angesehen, da es ihm Unabhängigkeit von anderen gewährte und damit Voraussetzung für seine freie Selbstentfaltung und Autonomie war.338 Adams drückt diesen Zusammenhang wie folgt aus: „Sicherheit des Eigentums vor willkürlichem Zugriff der Regierenden hatte sich als materielle Basis aller anderen Freiheiten des Bürgers erwiesen.“ 339 336 „Die Stärke der Exekutive ist ein bestimmendes Merkmal bei der Definition eines guten Regierungssystems. Sie ist entscheidend . . . für den Schutz des Eigentums . . .; für den Schutz der Freiheit . . .“ (Nr. 70, S. 424) Insofern waren die Konzepte des Eigentums und der Freiheit auch eng mit dem der Sicherheit verknüpft, denn die beiden ersteren bedurften der letzteren, um dem Menschen nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zuzukommen. Dies erklärt auch die oben angesprochene Verbindung zwischen Recht, Macht und Freiheit: Freiheit bedurfte des Rechts, da dieses Sicherheit schuf. Zur Bedeutung der Sicherheit für Freiheit und Eigentum s. Reid, J. P., Concept (1988), S. 68–71. Auch diesen Gesichtspunkt erwähnen die Verfasser der Essays, wie sich etwa im obigen Zitat aus Nr. 70 zeigt, in dem Hamilton vom „Schutz der Freiheit“, eigentlich aber der „Sicherheit der Freiheit“ spricht, da es im Original „the security of liberty“ heißt (Nr. 70, S. 391). In Nr. 45 zählt Madison die Sicherheit als gleichberechtigt neben der Freiheit stehend auf: „Wurde die Amerikanische Revolution denn nicht in Gang gesetzt. . ., damit das amerikanische Volk in Frieden, Freiheit und Sicherheit leben kann?“ (Nr. 45, S. 279) 337 Andererseits bestand zwischen den Konzepten der Freiheit und des Eigentums auch ein Spannungsverhältnis bzw. Widerspruch, wie sich insbesondere im Fall der Sklaverei zeigt. Während sich die Sklaven auf ihr Recht auf natürliche Freiheit berufen konnten, verwiesen die Sklavenhalter auf ihr Eigentumsrecht, s. dazu Kettner, J. H., Persons (1996), insb. S. 137 und 150 ff. 338 Reid, J. P., Concept (1988), S. 72 f. 339 Adams, W. P., Verfassung (1973), S. 216. Während teilweise vertreten wird, daß nur die Personen, die Eigentum an materiellen Gütern hatten, als wirklich frei angese-

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Eigentum wurde dabei nicht nur als Basis für die wirtschaftliche, sondern auch als unabdingbar für die geistig-politische Unabhängigkeit gesehen: es wurde angenommen, daß die Menschen, denen kein eigenes Eigentum zur Verfügung stand, die Interessen derer teilten, von denen sie wirtschaftlich abhängig waren, und sich in ihrer Willensbildung an ihnen orientierten. Da ihnen so in gesellschaftlich-politischer Hinsicht ein eigener Wille abgesprochen wurde, waren sie auch nicht wahlberechtigt; es wurde davon ausgegangen, daß sie nicht frei, sondern dem Willen ihrer Arbeitgeber oder – im Fall von Frauen – ihrer Männer entsprechend wählen würden.340 Diese Ansicht war damals weitverbreitet;341 der Grund für die Koppelung von Eigentum und Wahlrecht lag darin, daß sich in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts die Soziale Frage noch nicht entwickelt hatte und es noch keine Arbeiterklasse gab. Arm zu sein und kein eigenes Eigentum zu haben, wurde nicht als durch die Umstände bedingtes Schicksal empfunden, sondern als in der Verantwortung des Betroffenen liegend. Die Armen wurden vielfach als arbeitsunwillig und faul angesehen, insbesondere auch in den Vereinigten Staaten mit dem noch unerschöpften Landbesitz im Westen, der jedem die prinzipielle Möglichkeit eröffnete, Land zu erwerben.342 Diese Auffassung zeigt sich auch im Federalist: in Nr. 43 unterscheidet Madison nicht nur zwischen (wahlberechtigten) Bürgern und nicht wahlberechtigten Einwohnern, sondern weist auch auf die Existenz einer dritten gesellschaftlichen Schicht hin, die ebenfalls vom Wahlrecht ausgeschlossen ist: „Kann denn nicht schließlich aus einer Minderheit von Bürgern eine Mehrheit von Personen werden, durch Addition der ausländischen Einwohner, durch den gelegentlichen Zuzug von Abenteurern oder von denjenigen, denen die jeweilige Einzelstaatsverfassung kein Wahlrecht verliehen hat? Ich berücksichtige nicht jene unglückliche Abart der Bevölkerung, von der es in einigen der Staaten unzählige gibt, die in Zeiten geordneter politischer Verhältnisse auf ein Dasein unterhalb der Menschenwürde herabgesunken sind, sich jedoch in stürmischen Zeiten gesellschaftlichen Aufruhrs auf ihr Menschsein besinnen und jeweils der Gruppierung zur Überlegenheit verhelfen, der sie sich anschließen.“ (Nr. 43, S. 265)

Madison scheint davon auszugehen, daß die Personen der „mittleren“ Schicht irgendwann das Wahlrecht erringen können – wie etwa Einwanderer nach ihrer Einbürgerung oder Besitzlose, nachdem sie sich Eigentum erarbeitet haben –, während die Menschen der „untersten“ Schicht nicht einmal unter normalen, hen wurden (s. etwa Adams, W. P., Verfassung (1973), S. 216; Kammen, M., Spheres (1986), S. 25), betont Reid, daß es sich hierbei um ein Mißverständnis handelt. Als Basis der menschlichen Freiheit sei vielmehr die generelle Sicherheit des Eigentums angesehen worden, nicht das Eigentum selbst, s. Reid, J. P., Concept (1988), S. 5. 340 Adams, W. P., Verfassung (1973), S. 215–217. 341 s. Krüger, H., Kant (1969), S. 54 f. 342 s. hierzu Salvemini, G., Concepts (1968), S. 110 f.

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geordneten Umständen die Fähigkeit aufweisen, ein menschenwürdiges Leben zu führen und daher auch nicht zu erwarten ist, daß sie jemals zur Teilnahme am politischen Leben berechtigt sein werden – noch es sein sollten. Entsprechend hatte sich Madison – wie Hamilton – im Verfassungskonvent dafür ausgesprochen, das Wahlrecht an Eigentumsqualifikationen zu knüpfen.343 Die politische Freiheit der Menschen setzte also nach der von Publius verteidigten Bundesverfassung, die insofern auf die Einzelstaatsverfassungen verwies, Eigentum an materiellen Gütern voraus und schloß damit bestimmte Bevölkerungsgruppen von der politischen Partizipation aus. Andererseits ergab sich aber in den Augen der Verfassungsväter aus der persönlichen Freiheit der Menschen ihr Recht, im Rahmen der bestehenden Gesetze Eigentum zu erwerben und damit auch politische Freiheit zu gewinnen. Auch die Autoren des Federalist fordern Chancengleichheit und die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs: „Es gibt in allen gesellschaftlichen Schichten starke Persönlichkeiten, die trotz der Benachteiligungen ihrer Ausgangslage aufsteigen und sich mit ihrer Leistung die ihnen zustehende Anerkennung nicht nur in ihrer eigenen Schicht, sondern in der Gesellschaft als ganzer erkämpfen. Die Tür sollte allen gleichermaßen offenstehen . . .“ (Nr. 36, S. 200)

Der Ausschluß vom politischen Prozeß und der öffentlichen Freiheit war damit für die Bevölkerungsgruppe der eigentumslosen weißen Männer nicht absolut, wohl aber für die anderen ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen. c) Gleichheit Während die Autoren des Federalist Freiheit und Eigentum als vom Staat zu schützende Rechte und als Prinzipien des Gesellschaftsvertrages erwähnen, nennen sie das Kriterium der Gleichheit in diesem Zusammenhang nicht; ebensowenig wurde es auch im Verfassungskonvent ausführlich erörtert.344 (1) Persönliche Gleichheit (Gerechtigkeit) Da die Verfasser der Essays jedoch davon ausgehen, daß jedem Menschen die gleiche persönliche Freiheit als Naturrecht zukommt, postulieren sie implizit die natürliche, persönliche Gleichheit der Menschen. Diese fordern sie auch explizit, allerdings nicht unter dem Begriff der Gleichheit, sondern dem der Gerechtigkeit. Madison erläutert diesen Begriff in Nr. 51 wie folgt: „Der beste Schutz zur Sicherung der Rechte aller Gruppen von Bürgern in republikanischen Staaten aber würde dadurch geschwächt . . . Gerechtigkeit ist der Zweck von Regierung. Sie ist das Ziel von Gesellschaft [civil society]. Man hat darum gerungen und wird solange darum ringen, bis man sie erlangt oder in ihrem Verfolg 343 344

Bonsteel Tachau, M. K., Equality (1988), S. 81. s. Bonsteel Tachau, M. K., Equality (1988), S. 73 f.

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die Freiheit verloren hat. In einer Gesellschaft, deren Strukturen es zulassen, daß sich eine stärkere Faktion mit Leichtigkeit zusammentun und die schwächere Faktion unterdrücken kann, in einer solchen Gesellschaft kann man wahrlich sagen, es herrsche Anarchie wie im Naturzustand . . .“ (Nr. 51, S. 317)

Madison versteht unter Gerechtigkeit die „Sicherung der Rechte aller Gruppen von Bürgern“, und zwar sowohl der Mehrheit als auch der Minderheiten;345 er spricht damit den Aspekt der gleichen Freiheit aller Menschen an. Mit diesem Gedanken tragen die Autoren des Federalist dem Umstand Rechnung, daß der Mensch im Staat kein isoliertes Wesen ist, sondern im sozialen Kontext lebt, so daß die Freiheitssphären der einzelnen miteinander kollidieren können und zum Ausgleich gebracht werden müssen. Die vom Staat für alle gleichermaßen zu sichernde Freiheit ist dabei die oben beschriebene liberale, negative Freiheit, die die Individualrechte der Menschen umfaßt, nicht dagegen die positive, politische Freiheit. Denn Madison betont an anderer Stelle in Nr. 51: „In einem freien Staat müssen die Bürgerrechte ebenso gesichert sein wie die religiösen Rechte“ (Nr. 51, S. 317), und etwas später spricht er von der „Unsicherheit der Freiheitsrechte“ (ebd.). Damit fordert Madison unter dem Stichwort der Gerechtigkeit die rechtliche Gleichheit aller Menschen, ihre Gleichheit vor dem Gesetz.346 Die wirtschaftliche oder soziale Gleichheit der Menschen haben die Autoren des Federalist dagegen nicht vor Augen,347 eine ungleiche Verteilung des Eigentums und anderer Güter ist ihrer Ansicht nach mit der Gleichheit der Menschen durchaus vereinbar. So geht Madison in Nr. 10 davon aus, daß die Menschen von Natur aus unterschiedliche Fähigkeiten haben, die zum Erwerb unterschiedlicher Mengen von Eigentum führen: „Die Vielfalt der menschlichen Fähigkeiten, in denen die Eigentumsrechte ihren Ursprung haben, bildet ein ebenso unüberwindliches Hindernis für die Gleichheit der Interessen. Der Schutz dieser Fähigkeiten ist die vornehmste Aufgabe von Staaten. 345 Die Verknüpfung der Gerechtigkeit mit den Belangen aller Menschen und nicht nur einer bestimmten Gruppe zeigt sich auch daran, daß die Verfasser des Federalist den Begriff eng mit der Vernunft verbunden sehen, die das Wohl aller im Blick hat und nicht nur Sonderinteressen. s. hierzu oben C. II. 2. a) und b) und Nr. 15: „Warum werden denn überhaupt Regierungssysteme errichtet? Weil sich die Menschen mit ihren Leidenschaften den Geboten von Vernunft und Gerechtigkeit nicht ohne Zwang beugen.“ (Nr. 15, S. 86) s. auch Nr. 63: „bis Vernunft, Gerechtigkeit und Wahrheit wieder Herr über die öffentliche Meinung geworden sind.“ (Nr. 63, S. 382) s. auch Taylor, Q. P., Essential (1998), S. 36. 346 Diese Gleichheit vor dem Gesetz postulieren die Autoren des Federalist auch implizit mit ihrem Hinweis auf die angeborene persönliche Freiheit der Menschen, denn diese bedeutet – in den Worten Lockes – „die Freiheit der Menschen . . ., unter einem feststehenden Gesetz zu leben, das für jeden dieser Gesellschaft Gültigkeit besitzt und von der legislativen Gewalt, die in ihr errichtet wurde, verabschiedet worden ist“, s. Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 22, S. 214. 347 Bonsteel Tachau, M. K., Equality (1988), S. 80.

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Aus dem Schutz der unterschiedlichen und ungleichen Fähigkeiten beim Erwerb von Eigentum ergeben sich unmittelbar unterschiedliche Arten und Mengen von Eigentum . . .“ (Nr. 10, S. 52)

Aufgabe des Staates ist nicht die Angleichung der Eigentumsverhältnisse, sondern vielmehr der Schutz jener Fähigkeiten und Qualifikationen, aus denen sich die ungleichen Eigentumsverhältnisse gerade ergeben. Dies betont Madison auch im folgenden: „Die Besitzenden und die Besitzlosen haben schon immer getrennte gesellschaftliche Interessen gebildet. Zwischen Gläubigern und Schuldnern besteht derselbe Unterschied. Grundbesitzer, Manufakturbesitzer, Vertreter von Handel und Finanzen und viele kleinere Interessengruppen entstehen in zivilisierten Nationen zwangsläufig und spalten die Gesellschaft in verschiedene Klassen, die durch unterschiedliche Gefühle und Meinungen motiviert sind. Diese vielfältigen und widersprüchlichen Interessen zu regulieren, ist die vordringliche Aufgabe moderner Gesetzgebung, die auch Parteigeist und Interessengegensätze in die nötigen und normalen Funktionen eines Regierungssystems einbeziehen muß.“ (Nr. 10, S. 52 f.)

Dem Staat obliegt es, die ungleichen Interessen zu regulieren und miteinander vereinbar zu machen, nicht dagegen, sie anzugleichen. Die wirtschaftliche und soziale Vielfalt und Ungleichheit ist nach Madison nicht nur zulässig, sondern im Staat sogar erwünscht, da sie das Heilmittel für das Problem von Faktionen bietet:348 erst die Zersplitterung der Gesellschaft in mehrere unterschiedliche Gruppen macht es einer Gruppe unmöglich, die anderen zu unterdrücken. Madison geht davon aus, daß wirtschaftliche und gesellschaftliche Ungleichheit auch bei vollkommener politischer Gleichheit besteht: „Die politischen Theoretiker, die für diese Regierungsform [die direkte Demokratie] eingetreten sind, sind fälschlicherweise davon ausgegangen, daß die Menschen mit der Einführung einer vollkommenen Gleichheit der politischen Rechte gleichzeitig in ihrem Eigentum, ihren Meinungen und ihren Leidenschaften vollkommen gleich und einander angeglichen würden.“ (Nr. 10, S. 55)

Madison dagegen nimmt an, daß auch politische Gleichheit keine soziale Gleichheit schaffen kann, sondern die entsprechende Ungleichheit in der menschlichen Natur, in den unterschiedlichen Fähigkeiten der Menschen begründet ist. Für nicht zulässig halten die Verfasser der Essays aber die Perpetuierung bereits bestehender Ungleichheiten durch das Recht, vielmehr fordern sie Chancengleichheit und die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs.349 Entsprechend lehnt 348

s. dazu unten E. II. 2. s. Nr. 36, S. 200: „Es gibt in allen gesellschaftlichen Schichten starke Persönlichkeiten, die trotz der Benachteiligungen ihrer Ausgangslage aufsteigen und sich mit ihrer Leistung die ihnen zustehende Anerkennung nicht nur in ihrer eigenen Schicht, sondern in der Gesellschaft als ganzer erkämpfen. Die Tür sollte allen gleichermaßen offenstehen . . .“ s. auch oben b). 349

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Publius mit der Verfassung die Institution des Erbadels ab.350 Auch waren in den Einzelstaaten nach der Revolution die Primogenitur, das ausschließliche Alleinerbrecht des Erstgeborenen, aufgehoben und Fideikommisse aufgelöst worden,351 unveräußerliche Vermögensmassen, die nach festgelegten Bestimmungen und meist innerhalb der Familie weitervererbt werden mußten. Diese Rechtsinstitute hatten eine Ungleichbehandlung der prinzipiell erbberechtigten Kinder bedeutet und zum Verbleib des Familienbesitzes in einer Hand geführt.352 (2) Politische Gleichheit Im Gegensatz zur persönlichen Gleichheit (verstanden als rechtliche, nicht aber soziale oder wirtschaftliche Gleichheit) postulieren die Autoren des Federalist keine uneingeschränkte politische Gleichheit. Zum einen sprechen sie sich in personeller Hinsicht für eine Ungleichbehandlung aus, denn sie gehen davon aus, daß die positive, partizipatorische Freiheit nicht jedem Menschen zukommt und zukommen soll. Vielmehr halten sie nur die weißen Männer für fähig, politische Entscheidungen zu treffen, und zwar nur jene, die Eigentum innehaben. Hierbei handelt es sich um eine allgemein übliche Ansicht ihrer Zeit,353 und es ist anzunehmen, daß die Autoren des Federalist sie heute nicht mehr vertreten würden. So änderte beispielsweise Madison im Laufe der Jahre seine Auffassung, daß nur Eigentümer wahlberechtigt sein sollten, und plädierte später für ein Wahlrecht auch der Besitzlosen.354 Zum anderen sprechen sich die Autoren des Federalist in systematischer Hinsicht für eine Ungleichbehandlung aus: Unabhängig von persönlichen Eigenschaften wollen sie nicht dem gesamten so eingegrenzten Wahlvolk den gleichen Einfluß auf den politischen Prozeß gewähren, denn eine „vollkommene Gleichheit der politischen Rechte“ ist ihrer Ansicht nach nur in der direkten Demokratie gegeben (s. Nr. 10, S. 55), in der jeder Bürger in gleicher Weise direkt mit den politischen Entscheidungen befaßt ist. In einer repräsentativen Demokratie dagegen haben die Vertreter des Volkes einen größeren Einfluß auf die Gestaltung der Politik als das Volk selbst. Die Verfasser des Federalist lehnen eine direkte Demokratie vehement ab, weil sie „kein Heilmittel gegen die schädlichen Folgen von Faktionen kennt“ (Nr. 10, S. 55), die die Hauptursache

350 Art. 1 Abschn. 9 Abs. 7 verbietet die Verleihung von Adelstiteln durch die Vereinigten Staaten, Art. 1 Abschn. 10 Abs. 1 untersagt dies den Einzelstaaten, s. dazu Nr. 39, S. 227; Nr. 44, S. 272; Nr. 84, S. 521 f.; Nr. 85, S. 532. 351 s. hierzu Adams, W. P., Verfassung (1973), S. 196 f. 352 Nevins, A./Commager, H. S., History (1956), S. 103. 353 s. etwa Krüger, H., Kant (1969), S. 55. 354 s. hierzu Allen, W. B., Justice (1987), S. 145–149; Bonsteel Tachau, M. K., Equality (1988), S. 81.

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für die Verletzung der persönlichen Freiheit im Staat sind;355 Publius lehnt die vollkommene politische Gleichheit also wegen ihrer Gefahr für die natürliche oder persönliche Gleichheit ab. Diese erwünschte systematische Ungleichheit wird nicht nur durch die Unterscheidung zwischen Wahlvolk und politischen Repräsentanten (im weiteren Sinne, nicht nur bezogen auf die Abgeordneten des Repräsentantenhauses) erreicht, sondern noch dadurch verstärkt, daß der Einfluß des Wahlvolkes bei der Wahl dieser Repräsentanten unterschiedlich ist, je nachdem, ob es sich um eine direkte oder indirekte Wahl handelt. Hinzu kommt, daß der Einfluß der Treuhänder auf den politischen Prozeß nicht gleich ist, sondern der der indirekt gewählten Repräsentanten größer ist als der der direkt gewählten. So hat ein einzelner Volksvertreter im Repräsentantenhaus proportional einen geringeren Einfluß als ein Delegierter im Senat als dem kleineren Gremium – und ein Senator wiederum einen geringeren Einfluß als der Präsident, der nach der trust-Theorie ebenfalls als Treuhänder des Volkes angesehen wird und in seinem Kompetenzbereich allein entscheiden kann.356 Die Autoren des Federalist setzen sich mit der neuen Verfassung bewußt für eine Verletzung der politischen Gleichheit in systematischer Hinsicht ein, um die natürliche Gleichheit zu sichern; so, wie die politische Freiheit hinter der persönlichen zurücktreten muß, soll auch die politische Gleichheit hinter der persönlichen zurückstehen. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich Hamilton, Madison und Jay (wie auch die Verfassung selbst) grundsätzlich zum Prinzip politischer Gleichheit – im systematischen, nicht personellen Sinne – bekennen, da sie ein republikanisches und kein monarchisches, aristokratisches oder gemischtes politisches System errichten wollen. So betont etwa Madison in Nr. 39: „Die erste Frage lautet, ob die allgemeine Form und Gestalt des Regierungssystems streng republikanisch ist. Es ist offenkundig, daß keine andere Form mit dem Geist der Bevölkerung Amerikas vereinbar wäre, mit den fundamentalen Prinzipien der Revolution oder mit der ehrenwerten Entschlossenheit, die jeden Vorkämpfer der Freiheit beseelt und verlangt, alle unsere politischen Experimente in der Fähigkeit des Menschen zur Selbstregierung gründen zu lassen.“ (Nr. 39, S. 225)

Diese Überzeugung von der Fähigkeit und Notwendigkeit des Volkes, sich selbst zu regieren, war in der damaligen Zeit durchaus keine Selbstverständlichkeit, wie etwa Fraenkel betont:

355

Im einzelnen s. dazu unten E. II. 2. a). Im Verfassungskonvent war über eine mehrköpfige Exekutivspitze nachgedacht worden, die Verfechter eines solchen Systems hatten sich jedoch nicht durchsetzen können, s. dazu oben B. II. 4. b) (2) und unten E. I. 2. a) (2) (a). Publius verteidigt die Ein-Personen-Exekutive vor allem in Nr. 70, S. 424 ff. 356

300

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„Wenn alles über die konservative Grundeinstellung der Männer gesagt worden ist, die für die Bildung der neuen Staatswesen auf amerikanischem Boden verantwortlich sind, bleibt die Tatsache bestehen, daß sie im Zeitalter ererbter Privilegien und einer ständisch gegliederten Gesellschaft das Prinzip verkündet haben, daß jeder Bürger zur Ausübung öffentlicher Funktionen berufen sei und daß niemand kraft Geburt einen Anspruch auf bevorzugte Positionen im Staatsleben erheben könne.“ 357

d) Vergleich zwischen Unabhängigkeitserklärung und Verfassung Mit ihrem Plädoyer für ein republikanisches Regierungssystem unterscheiden sich die Autoren des Federalist von Lockes Konzeption und der der Unabhängigkeitserklärung, nach denen nicht nur eine republikanische, sondern jede beliebige Regierungsform auf der Zustimmung des Volkes beruhen kann.358 Mit dem Verständnis der Regierungsgewalt als trust und der Annahme, daß staatliche Herrschaft auf der Zustimmung des Volkes beruhen muß, ist grundsätzlich keine bestimmte Regierungsform verbunden; vielmehr kann das Volk jeder Regierungsform zustimmen, die es für geeignet hält, seine Rechte zu sichern. Es muß dabei die staatliche Gewalt nicht selbst bilden und nicht an der Regierung beteiligt sein. Nach Jefferson wie nach Locke muß die staatliche Macht auf der Zustimmung des Volkes beruhen, dieses muß aber nicht am politischen Prozeß beteiligt werden – die staatliche Regierung muß vom Volk lediglich gebilligt, nicht aber gebildet werden. Im Gegensatz dazu halten die Autoren des Federalist nur ein republikanisches Regierungssystem für vereinbar „mit dem Geist der Bevölkerung Amerikas“ 359.

357

Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 88. s. Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 106, S. 266. Als mögliche Formen nennt er Demokratie, Oligarchie, Monarchie und gemischte Regierungsformen, s. § 132, S. 282. Allerdings macht er eine Einschränkung und betont, daß das Volk einer absoluten Monarchie nicht zustimmen könnte, da diese „mit bürgerlicher Gesellschaft unverträglich“ ist; s. § 90, S. 255. Zur Begründung dieser Ablehnung s. ebd., §§ 90– 94, S. 255 ff. Auch die Declaration of Independence geht davon aus, daß auf der Zustimmung der Menschen „irgendeine Regierungsform“ basieren kann, also nicht nur ein republikanisches Regierungssystem; s. hierzu Diamond, M., Declaration (1975), S. 234 f.; ders., Equality (1976), S. 245 f. Auch für den Fall der Änderung der Regierungsform fordert Jefferson lediglich die Ablösung durch das System, das den Menschen am besten zur Wahrung ihrer Rechte geeignet scheint – dies muß aber nicht notwendigerweise ein republikanisches System sein. 359 s. Madison in Nr. 39: „Die erste Frage lautet, ob die allgemeine Form und Gestalt des Regierungssystems streng republikanisch ist. Es ist offenkundig, daß keine andere Form mit dem Geist der Bevölkerung Amerikas vereinbar wäre, mit den fundamentalen Prinzipien der Revolution oder mit der ehrenwerten Entschlossenheit, die jeden Vorkämpfer der Freiheit beseelt und verlangt, alle unsere politischen Experimente in der Fähigkeit des Menschen zur Selbstregierung gründen zu lassen.“ (Nr. 39, S. 225) 358

II. Im Federalist: Herrschaftslegitimation und -limitation

301

Trotzdem nahm eine früher weit verbreitete Meinung an, daß die Verfassung im Vergleich zur Unabhängigkeitserklärung das – in heutiger Terminologie – undemokratischere Dokument und ein bewußt von einer anti-demokratischen Elite durchgesetzter Rückschritt gegenüber der letzteren sei.360 Diese Ansicht stützte sich unter anderem auf Charles A. Beards Ökonomische Interpretation der Verfassung.361 Zwar ist dieser Ansicht zu konzedieren, daß die Väter der Verfassung und die Autoren des Federalist der Demokratie in der Tat insofern kritisch gegenüberstanden, als ihnen bewußt war, daß nicht jede demokratische Regierung automatisch eine gute Regierung gewährleistete. Sie wußten und belegten anhand zahlreicher historischer Beispiele, daß auch eine Demokratie, d. h. das popular government, Defekte haben konnte, die nicht selten den Untergang von Staaten verursacht hatten. Dennoch bekannten sich die Verfassungsväter und der Federalist zu einem in heutiger Terminologie demokratischen Regierungssystem; die Delegierten des Verfassungskonventes und die Autoren des Federalist konzentrierten sich deshalb vorwiegend auf die Gefahren der Demokratie und ließen die anderer Regierungssysteme außer acht, weil eine andere Staatsform für sie ohnehin nicht in Betracht kam.362 Sie wollten die bekannten Defekte demokratischer Regierungssysteme (in erster Linie die Gefahr der Unterdrückung der Minderheit durch die Mehrheit) bei grundsätzlicher Beibehaltung eines solchen Systems für die Vereinigten Staaten vermeiden und so nicht weniger, sondern eine bessere Demokratie schaffen.363 Die oben genannte Ansicht verwechselt die kritische Haltung gegenüber den möglichen Defekten einer Demokratie, die mit einem grundsätzlichen Bekenntnis zu dieser Staatsform verbunden war, mit einer Ablehnung der Demokratie als solcher. Sie beruft sich dabei unter anderem auch auf den Gleichheitsbegriff der Unabhängigkeitserklärung und verweist darauf, daß die Declaration of Independence postuliert, alle Menschen seien gleich geschaffen, während die Verfassung und der Federalist die wirtschaftlich-soziale und politische Ungleichheit der Menschen voraussetzen und für wünschenswert halten. Allerdings ist zu beachten, daß auch Jefferson in der Unabhängigkeitserklärung keine politische oder soziale Gleichheit fordert; seine Aussage bezieht sich nicht auf den Menschen im Staat, sondern auf seine Stellung im Naturzustand,364 in dem jeder die gleiche vollkommene Freiheit genießt.365 Denn erst nach der Postulierung der 360 Zu dieser Diskussion s. etwa Diamond, M., Declaration (1975); ders., Democracy (APSR 53, 1959). 361 s. Beard, Ch. A., Interpretation (1965). Im einzelnen s. hierzu unten E. II. 2. a) (1). 362 s. Diamond, M., Declaration (1975), S. 236 f. 363 s. hierzu Diamond, M., Democracy (APSR 53, 1959), S. 56. 364 s. hierzu Diamond, M., Declaration (1975), S. 233 f.; ders., Equality (1976), S. 244. 365 s. etwa Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 4, S. 201.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

(natürlichen) Gleichheit und der Ausstattung mit gewissen unveräußerlichen Rechten äußert sich Jefferson zur Errichtung des Staates und betont, daß dieser zur Sicherung dieser (daher offensichtlich vorstaatlichen) Rechte eingerichtet wird. Soziale oder politische Gleichheit wurde während der Revolution und bei der Erklärung der Unabhängigkeit ebensowenig postuliert oder gefordert wie während der Entstehung der Verfassung: die amerikanischen Revolutionäre forderten ihre rechtliche Gleichheit mit den englischen Bürgern ein, die Gleichbehandlung nach dem Gesetz, nicht aber soziale Gleichheit innerhalb der Kolonien.366 Auch die nachrevolutionären Einzelstaatsverfassungen sahen trotz gewisser Lockerungen noch Eigentumsqualifikationen für das Wahlrecht vor und schlossen bestimmte Bevölkerungsgruppen ganz vom politischen Prozeß aus. Während die Unabhängigkeitserklärung also lediglich die natürliche, vorstaatliche Gleichheit der Menschen postuliert, nicht jedoch ihre politische, und daher keine bestimmte Staatsform fordert, bekennen sich die Schöpfer der Verfassung und die Autoren des Federalist grundsätzlich zur politischen Gleichheit der Menschen und damit zu einem republikanischen Regierungssystem. Da diese Gleichheit allerdings nur das Mittel zum Zweck der Sicherung der natürlichen Gleichheit und Freiheit ist, wird sie von der Verfassung eingeschränkt. Dennoch ist angesichts des grundlegenden Bekenntnisses zur Demokratie (im heutigen Verständnis) als allein angemessener Staatsform nicht die Unabhängigkeitserklärung, sondern die Verfassung das demokratischere Dokument. 3. Herrschaftslimitation: Instrument der Widerstandslegitimierung Wenn staatliche Herrschaft nur durch die Zustimmung des Volkes legitimiert und ihr Zweck die treuhänderische Wahrnehmung und Sicherung der Rechte des Volkes ist, kann dieses seine Zustimmung dann wieder entziehen, wenn der Staat diesen Zweck nicht mehr erfüllt, d. h. die Rechte des Volkes nicht mehr zu sichern vermag oder sie aktiv verletzt. Entsprechend geht etwa Locke davon aus, daß das zwischen Volk und Staat bestehende Treuhandverhältnis bei einem breach of trust, bei einem Bruch der entsprechenden Vereinbarung, erlischt und die Souveränität an das Volk zurückfällt, das eine neue Regierung einsetzen kann.367 Auch Jefferson postuliert in der Unabhängigkeitserklärung, „daß, wenn immer irgendeine Regierungsform diesen Zielen abträglich wird, das Volk berechtigt ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen . . .“ 368 Die oben beschriebene Konzeption des Gesellschaftsvertrages und 366 Bonsteel Tachau, M. K., Equality (1988), S. 77, 82. Sie sahen das Gleichheitspostulat also nur als außen-, nicht dagegen als innenpolitische Forderung, s. Adams, W. P., Verfassung (1973), S. 174 f., 188 f. 367 s. dazu oben 1. und Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 222, S. 338 f. 368 s. Sautter, U., Geschichte (1994), S. 555.

II. Im Federalist: Herrschaftslegitimation und -limitation

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des korrespondierenden treuhänderischen Verhältnisses zwischen staatlicher Regierung und Volk hat damit nicht nur herrschaftslegitimierende, sondern auch -limitierende Funktion. a) Prinzipielles Revolutionsrecht des Volkes Auch die Autoren des Federalist halten im Rahmen eines Treuhandverhältnisses grundsätzlich die Handlungen für unwirksam, die die darin festgelegten Bedingungen verletzen; so betont Hamilton in Nr. 78: „Es gibt keinen Lehrsatz, der auf eindeutigeren Grundsätzen beruht, als den, daß jede Handlung einer delegierten Autorität nichtig ist, die dem Sinn der ursprünglichen Vollmacht widerspricht.“ (Nr. 78, S. 472)

Entsprechend gehen sie mit Locke und der Unabhängigkeitserklärung davon aus, daß dem Volk bei einer Überschreitung der der staatlichen Gewalt gezogenen Grenzen prinzipiell das Recht zukommt, die bestehende Regierungsform zu ändern, und zwar auf revolutionärem Wege. Die Verfasser der Essays berufen sich dabei teilweise explizit auf die Declaration of Independence; so schreibt etwa Madison in Nr. 40: „Sie müssen sich darauf besonnen haben, daß bei allen großen Veränderungen eines bestehenden Regierungssystems die Formen zugunsten des Inhalts zurücktreten müssen, weil ein starres Festhalten an ersteren in solchen Fällen ein höherrangiges und wertvolleres Recht des Volkes zu einem rein formalen machen würde und damit nichtig, nämlich das Recht ,sein Regierungssystem abzuschaffen oder so abzuändern, wie es seiner Meinung nach, am ehesten seiner Sicherheit und seinem Glück dienen würde.‘“ (Nr. 40, S. 238)

In der Fußnote zu dieser Stelle weist Madison darauf hin, daß er hier die Unabhängigkeitserklärung zitiert. Auch in Nr. 43 bezieht er sich auf sie, und zwar im Zusammenhang mit Art. 7 der Verfassung, der die Ratifikation durch neun Einzelstaatskonvente für ihre Annahme ausreichen ließ. Diese Abweichung vom Einstimmigkeitserfordernis der Konföderationsartikel sieht Madison unter folgendem Gesichtspunkt gerechtfertigt: „Die erste Frage ist sofort beantwortet, wenn man sich auf die absolute Notwendigkeit dieses Falles besinnt: auf das große Prinzip der Selbsterhaltung, auf das übergeordnete Recht der Natur und Gottes in der Natur, das verkündet, daß Sicherheit und Wohlergehen [happiness] einer Gesellschaft die Zwecke sind, denen alle politischen Institutionen dienen, und denen alle derartigen Institutionen auch geopfert werden müssen.“ (Nr. 43, S. 268)369 369 An anderer Stelle stellt Madison mit Blick auf die Niederlande eine Revolution sogar als wünschenswertes Mittel zur Verbesserung der politischen Situation vor: „Der erste Wunsch, den die Menschlichkeit gebietet, muß lauten, daß diese schwere Heim-

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

Auch Hamilton bejaht unter Paraphrasierung der Declaration of Independence grundsätzlich ein Recht des Volkes zum Widerstand: „Obwohl ich darauf vertraue, daß die Freunde der vorgeschlagenen Verfassung niemals gemeinsam mit deren Feinden den fundamentalen Grundsatz eines republikanischen Regierungssystems in Frage stellen werden, der das Recht des Volkes garantiert, die geltende Verfassung zu ändern oder abzuschaffen, wann immer sie seiner Meinung nach im Widerspruch zu seinem Glück und Wohlergehen steht . . .“ (Nr. 78, S. 474 f.)

Grundvoraussetzung für die Legitimität jeglichen Widerstandes ist der Mißbrauch bzw. die Überschreitung der dem Staat übertragenen Gewalt, ein breach of trust: „Wenn Volksvertreter ihre Wähler betrügen, gibt es keine andere Zuflucht als das ursprüngliche Recht auf Selbstverteidigung, das allen positiven Formen von Herrschaft vorausgeht . . .“ (Nr. 28, S. 161)

Diese grundlegende Anforderung klingt auch in Nr. 33 an, wenn Hamilton schreibt: „Es wird, glaube ich, niemandem entgangen sein, daß die Suprematie ausdrücklich auf Gesetze beschränkt ist, die gemäß der Verfassung verabschiedet worden sind . . . Obwohl also ein Gesetz, das eine Steuer zugunsten der Vereinigten Staaten auferlegt, seiner Natur nach den höchsten Rang einnimmt und rechtlich kein Widerstand und keine Kontrolle dagegen möglich sind, wäre ein Gesetz, das die Einziehung einer Steuer [anordnet], die qua Amtsgewalt eines Einzelstaates erhoben wird . . . nicht das höchste Recht des Landes, sondern die willkürliche Anmaßung einer nicht durch die Verfassung übertragenen Gewalt.“ (Nr. 33, S. 187)

Hamilton läßt hier erkennen, daß er Widerstand nur gegen die Gesetze für legitim hält, die nicht gemäß der Verfassung verabschiedet worden sind, während verfassungsgemäße Gesetze befolgt werden müssen. Allerdings ist den Autoren des Federalist auch bewußt, daß Revolutionen und politische Umwälzungen mit Gefahren verbunden sind, da sie zu Instabilität führen und nicht zu steuern sind. Als Beispiel für einen Aufstand stand den Verfassern der Essays etwa Shays’ Rebellion in Massachusetts vor Augen, auf die Hamilton in Nr. 21 Bezug nimmt: „Die stürmische Lage, die Massachusetts kaum überwunden hat, macht deutlich, daß Gefahren dieser Art keine reine Spekulation sind. Wer kann entscheiden, was der Ausgang der jüngsten Unruhen gewesen wäre, wenn die Unzufriedenen von einem Caesar oder Cromwell angeführt worden wären?“ (Nr. 21, S. 119)

Kurz darauf bezeichnet er „Veränderungen, die durch Gewalt erreicht werden sollten“, als Katastrophe (s. Nr. 21, S. 119). Auch in Nr. 28 betont er:

suchung in eine Revolution des politischen Systems mündet, wodurch die Union hergestellt und zum Quell von Ruhe, Freiheit und Glück gemacht wird.“ (Nr. 20, S. 116)

II. Im Federalist: Herrschaftslegitimation und -limitation

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„Ganz gleich, was der unmittelbare Anlaß für einen Aufstand ist, er gefährdet letztlich jegliches Regieren.“ (Nr. 28, S. 159)

Angesichts dieser Gefahr von Instabilität und Anarchie halten die Verfasser Revolutionen und aktiven Widerstand gegen den Staat nur bei einer gewissen Schwere und Dauer des breach of trust für legitim. Bereits Jefferson hatte in der Unabhängigkeitserklärung betont, daß die staatliche Autorität nicht wegen kleinerer und vorübergehender Überschreitungen aufs Spiel gesetzt werden sollte: „Die Vernunft gebietet freilich, daß seit langem bestehende Regierungen nicht aus geringfügigen und flüchtigen Anlässen geändert werden sollten . . . Aber wenn eine lange Reihe von Mißbräuchen und Übergriffen, die ausnahmslos das gleiche Ziel verfolgen, die Absicht deutlich werden läßt, das Volk unumschränktem Despotismus zu unterwerfen, so ist es sein Recht wie auch seine Pflicht, eine solche Regierung zu beseitigen und durch neue schützende Einrichtungen für seine künftige Sicherheit Vorsorge zu treffen.“ 370

Auch Hamilton betont, daß das Volk seine Bindung an die Verfassung nicht aufgrund momentaner Unzufriedenheiten und willkürlicher Entscheidungen lösen kann: „. . . so kann aus diesem Grundsatz nicht hergeleitet werden, daß die Vertreter des Volkes, immer dann, wenn eine momentane Laune gerade die Mehrheit ihrer Wähler packt, die mit den Bestimmungen der bestehenden Verfassung unvereinbar ist, aus diesem Grund legitimiert wären, die Verfassungsbestimmungen zu verletzen . . . Bis das Volk durch eine feierliche und autoritative Rechtshandlung die geltende Verfassung annulliert oder verändert hat, ist es selbst kollektiv und individuell daran gebunden, und keine Vermutung noch Kenntnis seiner Stimmung kann seine Vertreter zu einer Abweichung von der Verfassung ermächtigen.“ (Nr. 78, S. 475)

Zwar hat Hamilton hier vor allem die Volksvertreter im Blick, es wird aber deutlich, daß er ,momentane Launen‘ generell nicht als Grund für Abweichungen von der Verfassung und damit auch nicht für Revolutionen sieht. Daß kleinere Probleme und Verfehlungen nach Ansicht der Verfasser der Essays keinen legitimen Anlaß für eine Revolution liefern, sondern allenfalls große, grundlegende Defekte, zeigt sich auch daran, daß sie das Revolutionsrecht auf das „Prinzip der Selbsterhaltung“ (Nr. 43, S. 268) stützen und als „Recht auf Selbstverteidigung“ sehen (Nr. 28, S. 161). b) Versuch der Verhinderung in praxi Den Eintritt eines Revolutionsfalles suchen die Autoren des Federalist durch den richtigen Aufbau des Regierungssystems zu vermeiden:371

370 371

s. Sautter, U., Geschichte (1994), S. 555. s. Dietze, G., Classic (1962), S. 282.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

„Um derartige Katastrophen zu verhindern, kann man gar nicht genügend Barrieren vorsehen. Der Frieden einer Gesellschaft und die Stabilität ihres politischen Systems hängen absolut von der Wirksamkeit der Vorkehrungen ab, die hierfür eingeführt wurden. Wo die ganze Regierungsgewalt in den Händen des Volkes liegt, wird es weniger Anlässe für den Einsatz von Gewalt geben, um geringe gelegentliche Unpäßlichkeiten des Staates zu kurieren. Das natürliche Heilmittel gegen schlechte Verwaltung in einem demokratischen [popular] oder repräsentativen Verfassungssystem ist das Auswechseln der Verantwortlichen.“ (Nr. 21, S. 119)

Ein Mittel, den Mißbrauch der Regierungsgewalt zu verhindern oder ihn zumindest keine revolutionsauslösenden Ausmaße annehmen zu lassen, ist die regelmäßige Wahl der politisch Verantwortlichen, denn sie ermöglicht eine personelle Auswechslung der Akteure, ohne die entsprechenden Ämter und das ganze System verändern zu müssen. Ein weiteres Mittel ist die in Art. 5 der Verfassung vorgesehene Möglichkeit, nachträglich Änderungen an ihr vorzunehmen.372 Diese Bestimmung gewährleistet, daß grundlegende staatsrechtliche Entscheidungen, die sich im Nachhinein als unklug erweisen, auf legalem Wege und durch ein geregeltes Verfahren rückgängig gemacht oder fehlende Regelungen angefügt werden können. Diese Bereitstellung eines rechtlich geregelten Prozesses verhindert, daß fundamentale Änderungen nur auf extralegalem Weg erreicht werden können; die revolutionäre Veränderung der Verfassung wird durch ihre evolutionäre Weiterentwicklung ersetzt. Ein drittes Instrument, das Revolutionen vorbeugen soll, ist das Recht der Judikative, Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung zu überprüfen und sie bei Verstößen für nichtig zu erklären, d. h. das Normenkontrollrecht der Gerichte (judicial review).373 Dieses Recht ist in der amerikanischen Verfassung nicht explizit erwähnt, wurde aber von Hamilton im Federalist in Nr. 78 postuliert und im Jahre 1803 faktisch sanktioniert, als das Oberste Bundesgericht unter dem Vorsitz von Chief Justice John Marshall im Fall Marbury vs. Madison erstmals ein Bundesgesetz für verfassungswidrig und nichtig erklärte.374 Das Normenkontrollrecht beugt insofern revolutionären Tendenzen vor, als es Verstöße der Legislative gegen die Verfassung – und damit gegen das Treuhandverhältnis – verhindert, die legitimer Anlaß für eine Revolution sein könnten. Die Richter als „Hüter der Verfassung“ (Nr. 78, S. 475) achten

372 s. hierzu von Bose, H., Mischverfassung (1989), S. 200; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 103. s. auch Nr. 43, S. 267. 373 s. hierzu von Bose, H., Mischverfassung (1989), S. 199 f.; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 102 f.; Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 185 f. 374 Adams, A. und W. P., Einleitung (1994), S. lxxvii; Sautter, U., Geschichte (1994), S. 137 f. Im einzelnen s. dazu unten E. I. 2. b) (3) (c) (bb).

II. Im Federalist: Herrschaftslegitimation und -limitation

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auf die Wahrung der Grenzen, die der Legislative vom Volk durch die Verfassung gesetzt worden sind; sie wachen darüber, daß der trust nicht verletzt wird. Die Autoren des Federalist haben die Hoffnung, daß die neue Verfassung durch diese Bestimmungen Aufstände und revolutionäre Umwälzungen obsolet machen wird,375 auch wenn sie sich bewußt sind, daß sich politische Unruhen nicht mit absoluter Sicherheit verhindern lassen: „Und was jene tödlichen Fehden betrifft, die unter bestimmten Umständen eine ganze Nation oder doch wenigstens einen erheblichen Teil mit einem Großbrand überziehen können, die entweder aus schwerwiegenden Gründen einer allgemeinen Unzufriedenheit mit der Regierung herrühren oder der Seuche gewalttätiger Anfälle von Gewalt im Volk, beide fallen nicht unter die normalen Regeln des berechenbaren Verhaltens. Kommt es dazu, laufen sie im allgemeinen auf Revolutionen und die Auflösung von Herrschaftsbereichen [empire] hinaus. Keine Regierungsform kann sie auf immer ausschließen oder unter Kontrolle halten. Es wäre vergebens zu hoffen, man könne Ereignisse vermeiden, die für menschliche Vorausschau oder Vorsicht zu gewaltig sind, und sinnlos wäre es, ein Regierungssystem abzulehnen, weil es Unmögliches nicht leisten kann.“ (Nr. 16, S. 94)

c) Die Bedeutung der Meinungs- und Pressefreiheit Ein weiteres, außerhalb des politischen Systems angesiedeltes Instrument zur Verhinderung von Revolutionen ist die Meinungs- und Pressefreiheit, die in England und Amerika im 19. Jahrhundert als einer der Grundpfeiler eines freiheitlichen Staatswesens angesehen wurde.376 Sie war zwar in der zunächst ohne Bill of Rights erlassenen amerikanischen Bundesverfassung ursprünglich nicht verankert, wurde aber von den Schöpfern der Verfassung als selbstverständlich bestehendes und bereits von den einzelstaatlichen Grundrechtskatalogen377 geschütztes Recht angesehen.378 Die diesem Recht zugemessene Bedeutung zeigt sich auch im Federalist: In Nr. 84 lehnt Hamilton die Notwendigkeit einer Bill of Rights mit verschiedenen Argumenten ab,379 ohne dabei einzelne Grundrechte anzusprechen – mit Ausnahme der Pressefreiheit, auf die er eigens eingeht.380 Hamilton sieht die wich375 s. auch von Bose, H., Mischverfassung (1989), S. 199 f.; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 103; Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 185. 376 Stourzh, G., Entwicklung (1986), S. 128. Zu ihrer Entwicklung s. ebd. S. 121– 130. 377 Angesichts der ihr zugemessenen fundamentalen Bedeutung wurde die Meinungs- und Pressefreiheit nach der Loslösung der amerikanischen Kolonien vom Mutterland in den Grundrechtskatalogen einiger Einzelstaaten verankert und damit erstmals konstitutionell gewährleistet, s. Stourzh, G., Entwicklung (1986), S. 135 f. 378 s. hierzu Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1060. 379 s. Nr. 84, S. 519 ff. 380 s. Nr. 84, S. 524.

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

tige Funktion der Presse für einen modernen demokratischen Großflächenstaat voraus,381 wenn er betont: „Zeitungen werden schnelle Nachrichtenübermittler noch an die entferntesten Bewohner der Union sein.“ (Nr. 84, S. 527)

Diesem Stellenwert entsprechend wurde die Meinungs- und Pressefreiheit in der nachträglich erlassenen Bill of Rights des Bundes gleich im ersten der zehn Artikel festgeschrieben: „Der Kongreß darf kein Gesetz erlassen, das . . . die Rede- oder Pressefreiheit . . . einschränkt . . .“

Dem Recht auf freie, öffentliche Meinungsäußerung kommt deshalb eine herausragende Bedeutung für die Sicherung der Freiheit im Staat zu, weil sie zur Verhütung von Machtmißbrauch beiträgt, wie Hamilton in bezug auf die Exekutive ausführt: „Aus diesen Überlegungen ist offenkundig, daß eine Pluralität der Exekutive dazu tendiert, das Volk seiner zwei größten Sicherheiten zu berauben, die es für die getreuliche Ausübung delegierter Macht überhaupt haben kann: Erstens, die hemmende Kontrolle durch die öffentliche Meinung . . .“ (Nr. 70, S. 430)

Damit beugt die Meinungs- und Pressefreiheit zugleich dem Eintritt des Revolutionsfalles vor.382 Den Grund für die hemmende Wirkung der öffentlichen Meinung spricht Madison in Nr. 10 an: „Wo Menschen sich des Unrechts und der Unehrenhaftigkeit bestimmter Ziele bewußt werden, wird ihre Verständigung über diese Ziele immer durch ein gewisses Mißtrauen gebremst und zwar genau im Verhältnis zur Zahl derer, deren Zustimmung nötig ist.“ (Nr. 10, S. 57)

Die Menschen sind sich bewußt, daß unrechtmäßige Pläne keiner öffentlichen Überprüfung standhalten, und scheuen sich daher, diese Ziele offenzulegen; die Zurückhaltung steigt dabei proportional zur Größe des entsprechenden Forums. Diese Aussage Madisons erinnert an Kants transzendentale Formel des öffentlichen Rechts, die er im Frieden darlegt: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“ (Frieden S. 245)

Während Kant aus der Publizitäts-Inkompatibilität von Maximen die Rechtswidrigkeit einer Handlung folgert, zieht Madison die umgekehrte Schlußfolgerung und nimmt an, daß Menschen sich über schon als unrecht erkannte Pläne nicht frei öffentlich verständigen werden. Zwar stellt er damit die kriteriologische 381

s. Adams, A. und W. P., Einleitung (1994), S. lvi. Damit schützt die Meinungs- und Pressefreiheit nicht nur den einzelnen vor dem Staat, sondern gleichzeitig auch – in umgekehrter Perspektive – den Staat vor der Menge der einzelnen. 382

II. Im Federalist: Herrschaftslegitimation und -limitation

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Funktion dieser Überlegung nicht so deutlich heraus wie Kant, aber er weist ebenso wie jener auf den Zusammenhang zwischen Publizität und der Rechtmäßigkeit von Maximen hin. Dieser Zusammenhang findet sich unter umgekehrten Vorzeichen auch bei Hamilton, der damit in Nr. 27 die Undurchführbarkeit von Plänen begründet, die Freiheit des Volkes durch eine Militärdiktatur einzuschränken: „Ein solches Komplott wäre über einen längeren Zeitraum einfach nicht geheimzuhalten.“ (Nr. 27, S. 154)

Hamilton geht hier gemäß dem Sprichwort Truth will out383 im Umkehrschluß zu Kant und Madison davon aus, daß unrechte Maßnahmen im von der Verfassung geschaffenen Staat auf Dauer nicht vor der Öffentlichkeit verborgen werden können, und zwar deshalb nicht, weil an den meisten politischen Entscheidungen mehrere politische Institutionen und an allen Entscheidungen eine Mehr- oder Vielzahl von Personen beteiligt ist und die menschliche Natur eben nicht nur verderbt ist: „Kann man davon ausgehen, daß man nicht einen einzigen Mann finden würde, der genug Urteilskraft besäße, eine derart ungeheuerliche Verschwörung aufzudecken, oder mutig und ehrlich genug, seine Wähler über diese Gefahr zu informieren?“ (Nr. 27, S. 153)

4. Zusammenfassung und Ergebnis Dem Gesellschaftsvertrag kommt nach der Konzeption des Federalist eine dreifache Funktion zu. Zunächst dient er der Herrschaftslegitimation, denn die Autoren der Essays halten nur die staatliche Herrschaft für legitim, die auf der Zustimmung der ihr Unterworfenen beruht. Diese Zustimmung wird im Gesellschaftsvertrag erteilt, in dem das Volk nach Ansicht der Verfasser des Federalist einen Teil seiner Rechte zur treuhänderischen Wahrnehmung an den Staat abtritt. Diese Rechte, um derer willen die Menschen den Naturzustand verlassen, stellen nach Publius’ Ansicht Kriterien zur Verfügung, an denen sich die realen Staaten messen lassen müssen. Die Verfasser der Essays weisen dem Vertragsgedanken eine kriteriologische Rolle zu und lehnen unter Berufung auf seine Prinzipien bestimmte einfache Gesetze als unzulässig ab. Zugleich fordern sie (allerdings ohne explizite Berufung auf den Vertrag) eine bestimmte Regierungsform und halten nur ein republikanisches Regierungssystem für legitimierbar, sprechen den Vertragskriterien also eine normative Funktion auch für die Verfassung zu.

383

Etwa: „Die Sonne wird es ans Licht bringen.“

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D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

Verletzt der Staat diese Prinzipien, d. h. die Rechte des Volkes, in schwerwiegender und dauerhafter Weise, so kann das Volk nach Auffassung Publius’ seine im Vertrag erteilte Zustimmung wieder entziehen; ihm steht in diesem Fall ein Widerstands- und Revolutionsrecht zu. Damit fungiert der Gesellschaftsvertrag in der Theorie des Federalist zugleich als Instrument der Widerstandslegitimierung. Dies führt jedoch zu einem Widerspruch, denn der Vertrag soll den staatlichen Autoritätsanspruch begründen, hebt ihn aber dadurch, daß er zugleich den Widerstand gegen diese Herrschaft legitimiert, grundsätzlich wieder auf. Damit vermag er die ihm von Publius abverlangte Begründungsleistung nicht zu erbringen; die Aufgaben der gleichzeitigen Herrschaftslegitimation und -limitation sind nicht miteinander zu vereinbaren.384 Allerdings scheinen die Autoren des Federalist und insbesondere Hamilton sich dieses Problems grundsätzlich bewußt gewesen zu sein, auch wenn sie es nicht auf theoretischer, sondern praktischer Ebene behandeln; so verweist Hamilton an verschiedenen Stellen auf die Gefahr, die Revolutionen für die Stabilität des Staates darstellen. Der Federalist spricht zwar den theoretischen Widerspruch in seiner Position nicht an, aber er versucht, aus pragmatischen Gründen die praktischen Folgen dieses Problems zu verhindern, indem er das prinzipielle, theoretische Recht des Volkes auf Revolution praktisch möglichst bedeutungslos zu machen sucht. Publius’ „Revolutionstheorie“ erfährt damit – insbesondere durch Hamilton – eine konservative Handhabung.

III. Vergleich und Ergebnis Das Konzept des Gesellschaftsvertrages hat in der Theorie Kants und der des Federalist unterschiedliche Funktionen, die sich aus ihrer unterschiedlichen Begründung der Notwendigkeit des Staates ergeben. 1. Herrschaftslegitimation In Kants Konzept ist der ursprüngliche Vertrag von Legitimationsaufgaben entlastet, da sich der staatliche Autoritätsanspruch auf die praktische Vernunft und das Postulat des öffentlichen Rechts stützen kann und keiner weiteren Begründung bedarf. Nach der Theorie des Federalist dagegen besteht keine Pflicht zum Leben im Staat, so daß der staatliche Machtanspruch auf andere Weise fundiert werden muß. Dazu greifen die Autoren des Federalist auf das Konzept des Gesellschaftsvertrages zurück: staatliche Herrschaft ist legitim, weil – und soweit – das Volk ihr im Vertrag seine Zustimmung erteilt. Die Verfasser der Essays gehen davon aus, daß das Volk einen Teil seiner natürlichen Rechte zur 384

s. zu diesem Problem Kersting, W., Kontraktualismus (AZP 8, 1983), S. 1 f.

III. Vergleich und Ergebnis

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treuhänderischen Wahrnehmung an den Staat überträgt, der nur im Rahmen dieser Kompetenzen tätig werden darf und an die Bedingungen des trust, des Treuhandverhältnisses, gebunden ist. Dieses Verständnis der staatlichen Herrschaft als trust widerspricht Kants Prinzipien:385 da die staatliche Herrschaft schon dem Grunde nach nicht vom Volk abhängig ist, wäre auch eine Begrenzung ihrer Befugnisse nach Maßgabe der Vorstellungen des Volkes nicht mit Kants Verständnis vereinbar. Auch ist Kant nicht der Auffassung, daß die Menschen beim Eintritt in den Staat (in der Idee) nur teilweise auf ihre natürlichen Rechte verzichten; vielmehr geht er im Anschluß an Rousseau386 davon aus, daß sie ihre gesamte Freiheit aufgeben, um sie im Staat unvermindert, aber qualitativ verändert, wieder aufzunehmen. Während Kant nicht zwischen Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag unterscheidet, sondern beide in einem Akt verwirklicht sieht und damit von einer monistischen Konzeption ausgeht, läßt sich die entsprechende Auffassung des Federalist nicht abschließend klären.387 Generell besteht Uneinigkeit darüber, ob die treuhänderische Einsetzung der Regierungsgewalt durch das Volk ein zweites rechtliches Verhältnis neben dem Gesellschaftsvertrag schafft oder ob es in diesem enthalten ist. Teilweise wird vertreten, der trust stelle ein dem Herrschaftsvertrag entsprechendes zweites Rechtsverhältnis neben dem Gesell385 So auch Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 103; Saage, R., Naturzustand (1976), S. 227. Anderer Ansicht dagegen Haller, B., Repräsentation (1987), S. 209 und 214: „. . . die Einheit des politischen Gemeinwesens . . . wird repräsentiert durch das Handeln der zur Treuhandschaft für dieses Ganze berufenen Bürger und Amtsträger.“ Haller übersieht jedoch, daß diese Annahme eines Treuhandverhältnisses den Staat von der Zustimmung des Volkes abhängig machen würde – ein Verständnis, das auch er Kant nicht unterstellt, s. a. a. O., S. 199: „Die Vertragstheorien vor Kant waren entworfen worden, um den Übergang vom Naturzustand zum Rechtszustand aus einer fiktiven Selbstverpflichtung aller Bürger verständlich zu machen. Diese Aufgabe ist aber in der Kantschen Gedankenführung überflüssig geworden durch die Ansetzung einer a priori bestehenden juridischen Gesetzgebung der Vernunft, die uns auf die Existenz in einem bürgerlichen Gemeinwesen verpflichtet.“ 386 Zum Unterschied zwischen der entsprechenden Auffassung Rousseaus und der des Federalist s. Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 183. 387 Dietze geht davon aus, daß sowohl Madison als auch Hamilton zwischen Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag unterscheiden, s. Dietze, G., Classic (1962), S. 113 für Madison und S. 142 für Hamilton. Allerdings stützt er sich hierbei auf andere ihrer Schriften: Madisons entsprechende Ansicht entnimmt er einem Brief desselben aus dem Jahre 1830, der über 40 Jahre nach dem Federalist geschrieben wurde, s. ebd., Fn. 9. Hamiltons Ansicht entnimmt er seiner Schrift The Farmer Refuted aus dem Jahre 1775, die über 10 Jahre vor dem Federalist verfaßt wurde, s. a. a. O., S. 142, Fn. 8, s. auch S. 141, Fn. 1. Angesichts dieser zeitlichen Diskrepanz läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, daß die Autoren diese Auffassung auch schon bzw. noch beim Schreiben der Federalist-Essays vertraten. Zudem schreibt Dietze in bezug auf Madisons Beitrag im Federalist sogar explizit, er hebe die – von Dietze ohnehin als „subtil“ bezeichnete – Unterscheidung an einer bestimmten Stelle auf, s. a. a. O., S. 114, Fn. 17.

312

D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

schaftsvertrag dar,388 während die Gegenmeinung annimmt, der Zusammenschluß des Volkes zum politischen Körper und die Schaffung der staatlichen Herrschaft durch das Treuhandverhältnis erfolgten in einem einzigen Akt, dem Gesellschaftsvertrag, der sich nicht in Sozial- und Herrschaftskontrakt aufspalten lasse.389 Eine dritte Auffassung geht vermittelnd davon aus, die trust-Konzeption sei ein Mittelding zwischen der dualistischen Konzeption von Herrschafts- und Gesellschaftsvertrag und der monistischen Konzeption, die den Staat allein durch den Gesellschaftsvertrag begründet sieht.390 Die Autoren des Federalist äußern sich erwartungsgemäß nicht explizit zu dieser Frage, da es ihnen nicht um die Klärung abstrakter Probleme der Staatstheorie geht. Allerdings scheint Jay in Nr. 2 von einem zweistufigen Prozeß der Staatsgründung auszugehen, wenn er (in bezug auf die Konföderationsartikel) schreibt: „Das Volk schuf die Union, sobald es selbst eine eigene politische Existenz hatte . . .“ (Nr. 2, S. 7). Damit deutet er an, daß sich das amerikanische Volk zunächst durch einen ersten Akt als politischer Körper konstituierte, um anschließend in einem zweiten, eigenständigen Akt die Vereinigten Staaten zu schaffen. Hierfür spricht auch, daß er im gleichen Artikel die nationale Zusammengehörigkeit des amerikanischen Volkes bereits unter den Konföderationsartikeln betont.391 Nach diesem Verständnis wäre der Gesellschaftsvertrag der neuen, propagierten Verfassung vorhergegangen; seine reale, geschichtliche Manifestation wäre die Unabhängigkeitserklärung, durch die sich die amerikanischen Kolonien vom englischen Mutterland lösten und ihre Selbständigkeit begründeten. Die Einsetzung der staatlichen Gewalt durch die neue Verfassung wäre demgegenüber ein eigenständiger zweiter Akt.

388 s. zu dieser Diskussion Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 47 ff. Für die Zweistufigkeit des Vertrages bei Locke etwa Saage, s. Maus a. a. O., S. 49, Fn. 86. 389 So etwa Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 48 f.; wohl auch Kersting, W., Freiheit (1993), da er davon ausgeht, daß nach Locke im Widerstandsfall ein Rückfall in den Naturzustand erfolgt: „Zwar spricht auch Locke von der Gesamtheit des Volks . . ., diese ist jedoch nicht das staatsrechtlich definierte corpus civile, sondern der natürliche Souverän, die natürliche Rechtsgemeinschaft, die mit den ursprünglichen Vertragspartnern identisch ist.“ (s. ebd. S. 462 f., Fn. 218). S. zu dieser Frage insbesondere Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 243. 390 So etwa Euchner, W., Einleitung (1995), S. 38; s. auch Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 49, Fn. 86. 391 s. Nr. 2, S. 6 f.: „Mit gleichem Vergnügen habe ich immer wieder festgestellt, daß es der Vorsehung gefallen hat, dieses zusammenhängende Land einem vereinten Volk zu überlassen – einem Volk, das von denselben Vorfahren abstammt, dieselbe Sprache spricht, sich zum selben Glauben bekennt, für dieselben Grundsätze politischer Herrschaft eintritt, in Sitten und Gebräuchen sehr ähnlich ist und sich darüber hinaus nach gemeinsamer Beratung, nach Einsatz gemeinsamer Waffen und Anstrengungen in einem langen und blutigen Krieg Seite an Seite seine allgemeine Freiheit und Unabhängigkeit in edlem Kampf errungen hat.“

III. Vergleich und Ergebnis

313

Allerdings stellt die obige Schilderung Jays eine Übertreibung aus rhetorischen Gründen dar; statt der Realität stellt er die gewünschten, durch die Verfassung erst zu verwirklichenden Verhältnisse dar.392 Zudem bedeutet die nationale Zusammengehörigkeit von Menschen nicht automatisch ihre Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Staat, wie etwa das Beispiel Deutschlands vor der nationalen Einigung von 1866/67 durch den Norddeutschen Bund zeigt.393 Zwar postulierte die Unabhängigkeitserklärung tatsächlich: „Wenn es im Laufe der Menschheitsgeschichte für ein Volk notwendig wird, die politischen Bande zu lösen, die es mit einem anderen Volke verbunden haben . . .“,394 aber es waren die einzelnen Kolonien, die hier ihre Eigenstaatlichkeit behaupteten, nicht das amerikanische Volk als solches. Mit der Unabhängigkeitserklärung beanspruchte jede einzelne Kolonie ihre Souveränität und Autonomie, und die Probleme mit der Annahme der Konföderationsartikel zeigten, daß keiner der neuen Staaten gewillt war, diese zugunsten eines übergeordneten Verbandes aufzugeben oder beschneiden zu lassen.395 Dies wird insbesondere im zweiten der Konföderationsartikel deutlich, der jedem Einzelstaat seine Souveränität, Freiheit und Unabhängigkeit garantiert. Daß unter den Konföderationsartikeln nicht von einem amerikanischen Volk im Sinne Jays die Rede sein kann, zeigt sich auch an ihrem vierten Artikel, der den freien Einwohnern der Staaten die Privilegien der freien Bürger der anderen Staaten und das Recht zur freien Fortbewegung und zum Handel zuspricht. Diese Rechte mußten also erst per Gesetz gewährt werden, und „paupers, vagabonds, and fugitives from justice“ (Arme, Vagabunden und vor dem Gesetz Flüchtige) waren davon ausgenommen. Die Menschen waren damit unter den Konföderationsartikeln primär Bürger oder Bewohner ihres jeweiligen Einzelstaates; erst sekundär, aufgrund besonderer Anordnung, kam ihnen auch in den anderen Staaten ein ähnliches Recht zu, das allerdings nicht alle Menschen einschloß. Gegen die Behauptung Jays, das amerikanische Volk habe sich schon vor den Konföderationsartikeln zu einem politischen Körper zusammengeschlossen, spricht auch, daß diese Artikel noch von den Einzelstaaten verabschiedet wurden, wie sich aus ihrer Präambel ergibt. Erst die Verfassung wurde laut Präambel vom Volk der Vereinigten Staaten erlassen. Erst durch sie wurde also das Volk der Vereinigten Staaten als politischer Körper geschaffen, gleichzeitig wurde hierdurch aber auch die neue Staatsgewalt eingesetzt.

392

s. Adams, A. und W. P., Einleitung (1994), S. xlviii f. s. Van Tyne, C. H., Sovereignty (AHR 12, 1906/07), S. 544. 394 s. Sautter, U., Geschichte (1994), S. 555. 395 Sautter, U., Geschichte (1994), S. 94. Dafür, daß erst mit der Verfassung von 1787/88 ein (einziger) souveräner amerikanischer Staat entstand, auch Van Tyne, C. H., Sovereignty (AHR 12, 1906/07). 393

314

D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

2. Normative Funktion des Gesellschaftsvertrages Kant sieht den Gesellschaftsvertrag nicht als historisches Ereignis, sondern als virtuelles Konzept. Den Ursprung der empirischen Staaten hält er für unerforschbar, wahrscheinlich aber in Gewalt und nicht in Konsens begründet. Der Vertrag ist jedoch Ursprung des Staates nach Vernunftprinzipien, Entstehungsmodus der respublica noumenon, da nach apriorischen Prinzipien nur die staatliche Herrschaft rechtmäßig ist, der sich die Menschen freiwillig unterwerfen. Dieser Gedanke des freiheitlichen Zusammenschlusses, der im Gesellschaftsvertrag vollzogen würde, hat für die realen Staaten eine Vorbildfunktion; dem Gesellschaftsvertrag kommt damit nach Kant eine normative, kriteriologische Aufgabe zu. Auch für die Autoren des Federalist ist der Gesellschaftsvertrag einerseits eine überzeitliche Idee, an der sie die einfachen Gesetze und die Verfassung selbst messen; auch sie weisen dem Vertrag eine kriteriologische Funktion zu, die sie allerdings nicht so klar herausstellen wie Kant. Andererseits sehen die Verfasser der Essays die gesellschaftsvertragliche Idee in der Verfassung der Vereinigten Staaten verwirklicht, sehen den Vertrag also auch als reales Ereignis. Zwar gehen sie wie Kant davon aus, daß Staaten meist durch Gewalt entstehen, aber sie sehen sich in der glücklichen historischen Situation, eine bessere Grundlage für den Staat schaffen und die gesellschaftsvertragliche Theorie in die Praxis umsetzen zu können,396 wie Hamilton in Nr. 1 betont: „Man hat verschiedentlich darauf hingewiesen, daß es offenbar dem Volk dieses Landes vorbehalten ist, durch sein Verhalten und Beispiel über die wichtige Frage zu entscheiden, ob menschliche Gemeinschaften tatsächlich fähig sind, durch Nachdenken und freie Entscheidung ein gutes Regierungssystem einzurichten, oder ob sie auf ewig, was ihre jeweilige politische Verfassung betrifft, von Zufall und Gewalt abhängig bleiben.“ (Nr. 1, S. 1)

Als Prinzipien des Vertrages nennt Kant die Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit der Menschen, während nach dem Federalist Leben, Freiheit und Eigentum die natürlichen Rechte sind, die das Volk im Gesellschaftsvertrag zur Sicherung an den Staat abtritt. Die Vertragskriterien sind nach Kant auf evolutivem Wege zu implementieren, denn jeder empirische Staat, auch der in rechtlicher Hinsicht noch defiziente, ist schon ein erster Schritt auf dem Weg zur umfassenden Verrechtlichung. Diese darf nur unter Wahrung der bereits erreichten Erfolge vorangetrieben werden, da jeder Rückschritt ein Verstoß gegen das Postulat des öffentlichen Rechts und damit rechtswidrig wäre. Den Gedanken,

396 s. auch Broch, H., Bemerkungen (1946), S. 93: „Im Gegensatz zum Apriori der Gewaltanwendung gibt es einige wenige Beispiele für Gemeinschaftsgründungen, die unter einem Apriori der moralischen Grundanschauungen vor sich gegangen sind; die U.S.A. sind eines dieser seltenen Beispiele.“

III. Vergleich und Ergebnis

315

daß auch die noch unvollkommenen Staaten bereits der Rechtssicherung dienen, bringt auch Hamilton im Federalist vor: „Wenn die Menschheit beschlösse, so lange kein Regierungssystem einzurichten, bis jeder einzelne Teil einem absoluten Maßstab der Vollkommenheit entspricht, so würde die Gesellschaft in völlige Anarchie verfallen und die Erde zur Wüste werden.“ (Nr. 65, S. 399)

Er führt diese Überlegung als Argument dafür an, die neue Verfassung trotz etwaiger Unzulänglichkeiten anzunehmen; hier spiegelt sich der Gedanke Kants wider, daß eine – wenn auch noch defiziente – rechtliche Regelung besser ist als gar keine. Kant unterscheidet zwischen Regierungsart als qualitativem und Staatsform als quantitativem Kriterium und fordert zunächst nur die Republikanisierung der ersteren, um die evolutive Verrechtlichung des Staates zu sichern; letztlich muß dieser Prozeß jedoch auch die Staatsform ergreifen und sich der Staat in eine Republik umwandeln. Eine der Unterscheidung zwischen Staatsform und Regierungsart ähnelnde Differenzierung trifft auch Madison an einer Stelle im Federalist: „Das Erscheinungsbild des Regierungssystems mag auf diese Art und Weise demokratischer werden, doch die Seele, die es belebt, wäre oligarchischer.“ (Nr. 58, S. 356)

Mit dem Erscheinungsbild spricht Madison ein formales Kriterium an, das an Kants Staatsform erinnert, während die Seele ein qualitatives Kriterium ist und damit Kants Regierungsform ähnelt. Die Autoren des Federalist vertiefen diesen Gedanken jedoch nicht näher und sind auch nicht der Auffassung, daß die Weiterentwicklung oder Verbesserung des Staates ausschließlich auf evolutionärem Wege erfolgen muß. Dies wäre angesichts ihrer historischen Situation auch schlecht vertretbar, da die amerikanischen Einzelstaaten durch eine Revolution entstanden waren und auch die neue Verfassung teilweise einen Bruch der bisher geltenden Konföderationsartikel darstellte. Allerdings versuchen die Verfasser der Essays, politische Umbrüche und Revolutionen im neuen Staat möglichst zu vermeiden und stattdessen eine evolutionäre Weiterentwicklung der Verhältnisse zu fördern. Dabei stützen sie sich jedoch auf pragmatische Gründe, nicht auf Rechtsgründe wie Kant. Sowohl Kant als auch Publius sehen die Freiheit als vom Staat zu sicherndes Recht der Menschen und unterscheiden zwischen dem negativen, liberalen und dem positiven, partizipatorischen Aspekt der Freiheit. Allerdings erörtert Kant das Problem der menschlichen Freiheit eingehender als Publius und unterscheidet die hier angesprochene äußere Freiheit, die sich auf das zwischenmenschliche Verhältnis bezieht, von der inneren, intrapersonalen. Publius, der nicht mit theoretischen, philosophischen Fragen befaßt ist, sondern der neuen Verfassung zum Erfolg verhelfen will, geht hierauf nicht ein. Auch Kants Überlegung, daß

316

D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

die menschliche Freiheit nur als durch die Freiheitssphären aller anderen Menschen begrenzte überhaupt denkbar ist, findet sich in dieser Stringenz nicht im Federalist. Zwar greifen seine Autoren die zu ihrer Zeit gängige Überzeugung auf, daß Freiheit der Beschränkung bedarf, da sie sonst zur Ausschweifung oder Anarchie degeneriert; auch Publius sieht also die Notwendigkeit, die Freiheitssphären der Menschen miteinander in Einklang zu bringen, um für Gerechtigkeit zu sorgen. Allerdings scheint er die Freiheit eher nachträglich eingrenzen zu wollen; der Gedanke einer immanenten Beschränkung findet sich bei ihm nicht. Die negative Freiheit soll sowohl nach Kant als auch nach Publius allen Menschen zukommen; allerdings handelt es sich hierbei um ein bloßes Postulat, da das Recht auf freie Wahl der Lebensart in der (aufgeklärt) absolutistischen Gesellschaftsordnung, in der Kant lebte, durch korporative Sondervorschriften beschnitten wurde und in den USA zumindest die Sklaven von diesem Recht ausgeschlossen waren. Im Zusammenhang mit seiner Verteidigung der Sklaverei durch einen fiktiven Südstaaten-Sprecher weist Madison den Sklaven die Eigenschaft zu, gleichzeitig Mensch und Eigentum zu sein:397 „Der wahre Stand der Dinge ist, daß sie beide Eigenschaften haben: Sie werden von unseren Gesetzen in gewisser Hinsicht als Personen und in anderer als Eigentum betrachtet.“ (Nr. 54, S. 330 f.)

Diese Mischform erinnert an Kants „auf dingliche Art persönliche[s] Recht“ (s. § 22 ff.) als das Recht „des Besitzes eines äußeren Gegenstandes als einer Sache und des Gebrauchs desselben als einer Person“ (§ 22, S. 388 f.), zu dem das Eherecht (§ 24–27), das Elternrecht (§ 28 f.) und das Hausherren-Recht (§ 30) zählen. Jedoch besteht ein fundamentaler Unterschied, da Kant betont, daß die Herrschaft des Hausherren nie Leibeigenschaft oder Sklaverei sein kann, da „ein Vertrag . . ., durch den ein Teil zum Vorteil des anderen auf seine ganze Freiheit Verzicht tut, mithin aufhört, eine Person zu sein, folglich auch keine Pflicht hat, einen Vertrag zu halten, sondern nur Gewalt anerkennt, in sich selbst widersprechend, d. i. null und nichtig ist.“ (§ 30, S. 396 f.)

Wenn die Autoren die (negative) Freiheit aller Menschen postulieren, fordern sie allerdings nur die rechtliche, nicht dagegen auch die soziale oder wirtschaftliche Gleichheit der Menschen. Gleichheit bedeutet sowohl bei Kant als auch bei Publius nicht materielle Gleichheit, sondern Chancengleichheit; beide Autoren fordern daher die Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs und lehnen rechtliche Hindernisse der vertikalen Mobilität, wie etwa die Institutionen des Adels und der Fideikommisse, ab. Anders als die negative ist die positive, politische Freiheit sowohl nach der Ansicht Kants als auch des Federalist an Bedingungen geknüpft und damit auf 397

s. zu dieser Frage auch Kettner, J. H., Persons (1996).

III. Vergleich und Ergebnis

317

einen bestimmten Personenkreis beschränkt. Publius schließt mit der Verfassung, die das Wahlrecht an die Einzelstaatsverfassungen koppelt, Frauen, Kinder, Sklaven, Indianer und Eigentumslose vom Wahlrecht aus, und auch Kant spricht im Gemeinspruch den letzteren sowie Frauen und Kindern das Recht zur politischen Partizipation ab. Diese Auffassung war im 18. Jahrhundert weit verbreitet; nach damaligem Verständnis führte die ökonomische zur geistigen und damit auch politischen Abhängigkeit. Auf diese Parallele in der Auffassung Kants und der Verfassungsväter weist auch Krüger hin: „In einem Punkte . . . läßt sich eine Übereinstimmung mit Kant feststellen –, nämlich in der These, daß sozial abhängige Personen, insbesondere (wie man heute sagen würde) Arbeitnehmer, mangels ,Freiheit‘ nicht Bürger und erst recht nicht Wähler sein können. Aber man übertreibt nicht, wenn man diese These einen Gemeinplatz ihrer Zeit nennt, dem insbesondere auch die ,Founding Fathers‘ gehuldigt haben: Wenn in diesen Zeiten von ,Volk‘ die Rede ist, dann endet es bei den ,Hausvätern‘; was hiernach übrigbleibt, gehört im wahrsten Sinne des Worte nicht dazu, selbst wenn es die weitaus größere Zahl ausmacht.“ 398

Allerdings rücken beide Autoren im Laufe der Zeit (zumindest teilweise) von dieser Position ab: von den Verfassern des Federalist spricht sich zumindest Madison später gegen eine Eigentumsqualifikation aus, und Kant koppelt das Recht zur politischen Partizipation in seiner letzten relevanten Schrift, der Metaphysik, nur noch an die Mündigkeit, d. h. das Alter, nicht mehr an andere biologische oder ökonomische Faktoren wie Geschlecht oder Eigentum. 3. Widerstandslegitimierung Trotz der festgestellten Parallelen, die sich hinsichtlich der normativen Funktion des Gesellschaftsvertrages in gewissem Umfang zeigen, besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen den Positionen Kants und Publius’. Denn diese Funktion hat bei beiden eine unterschiedliche Stoßrichtung: während Kant sich mit dem Kriterium des Gesellschaftsvertrages vor allem an den Herrscher und nicht an das Volk wendet, sieht Publius ihn als Beurteilungsinstrument für das letztere. Zwar spricht auch Kant dem Volk das Recht zu, über das staatliche Handeln zu urteilen, es darf „öffentlich vernünfteln“ (S. 498). Aber diesem Urteil dürfen keine Taten folgen; das Volk darf auch bei unrechtmäßigem staatlichen Handeln keinen aktiven Widerstand leisten. Der Verpflichtung des Herrschers zur vertragskonformen Herrschaftsausübung entsprechen keine Zwangsrechte des Volkes. Publius äußert sich zwar nicht explizit zu dieser Frage, aber aus seinen Aussagen zur Revolution wird deutlich, daß er die Beurteilungskompetenz nicht dem Herrscher, sondern gerade dem Volk zuspricht und diesem auch Zwangsrechte, d. h. ein Widerstandsrecht gegen den Staat, zuerkennt. 398

Krüger, H., Kant (1969), S. 54 f.

318

D. Funktion des Gesellschaftsvertrages

Daher besteht in der Frage, welche Konsequenzen eine Verletzung der oben erläuterten Vertragskriterien nach sich zieht, ein fundamentaler Unterschied zwischen den Positionen Kants und Publius’. Kant, der das Leben im Staat als Pflicht – und als Recht – der Menschen ansieht, verneint generell ein Recht des Volkes zum aktiven Widerstand gegen den Staat, da dies einen Rückfall in den Naturzustand bedeuten würde und ein solcher Rückfall als Verstoß gegen das Postulat des öffentlichen Rechts rechtswidrig wäre. Publius dagegen, der den Staat als nützliches, aber rechtlich beliebiges Sicherungsinstrument der menschlichen Interessen ansieht, spricht dem Volk ein Recht auf Widerstand und Revolution zu, falls der Staat seiner Aufgabe nicht nachkommt und gegen das Treuhandverhältnis verstößt. Kant vertritt seine rigorose Position selbst für den Fall eklatanter Rechtsverletzungen, die sonst unter dem Topos der tyrannischen Herrschaft behandelt werden; er lehnt ein aktives Widerstandsrecht auch bei solcher Herrschaft ab. Publius dagegen geht davon aus, daß Widerstand gegen einen Tyrannen rechtmäßig ist, wie Hamilton in Nr. 29 deutlich macht: „. . . würden die Tyrannen in ihren vorgeblichen Festungen der Macht zerschmettern und ein Beispiel für die gerechte Rache eines mißhandelten und aufgebrachten Volkes an ihnen statuieren.“ (Nr. 29, S. 168)

Trotz dieses grundlegenden Unterschiedes in der rechtlichen Beurteilung von Revolutionen gibt es in praktischer Hinsicht eine gewisse Annäherung der Positionen Kants und Publius’. Denn obwohl Publius aktiven Widerstand unter rechtlichen Gesichtspunkten prinzipiell für legitim hält, versucht er aus pragmatischen Gründen, den Eintritt des Widerstandsfalles durch die richtige Ausgestaltung der Verfassung zu verhindern, da er die Unsicherheiten und Gefahren gewaltsamer politischer Umwälzungen fürchtet. Dies ist den Verfassungsvätern auch gelungen: bis auf den Bürgerkrieg, der aus der in der Verfassung nicht klar gelösten Sklavenfrage entstand, kam es zu keinen größeren, die Existenz der Vereinigten Staaten gefährdenden politischen Unruhen. In diesem Zusammenhang hebt Publius sowohl die Bedeutung einer möglichen evolutionären Veränderung der Staatsverfassung als auch die Bedeutung der Meinungs- und Pressefreiheit hervor. Damit spricht er Punkte an, die auch Kant betont; allerdings fordert letzterer eine evolutionäre Entwicklung des Staates aus Rechtsgründen, während Publius sie aus pragmatischen Gründen propagiert. Im Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit stellen die Autoren des Federalist ähnliche Überlegungen an wie Kant in seiner transzendentalen Formel des öffentlichen Rechts und sprechen den Zusammenhang zwischen der Publizität und der Rechtmäßigkeit von bestimmten Vorhaben an. Allerdings leiten sie anders als Kant kein Kriterium aus diesen Überlegungen her. Eine Annäherung der Positionen ergibt sich zum zweiten auch dadurch, daß Kant Revolutionen in geschichtsphilosophischer Perspektive durchaus positiv

III. Vergleich und Ergebnis

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beurteilt, da er sie hier als Chance für die Schaffung rechtmäßigerer Verhältnisse sieht. Aus diesem Grunde stand er auch der Französischen und der Amerikanischen Revolution beifällig gegenüber. Obwohl Kant keinen aktiven Widerstand gegen den Staat zuläßt und seine Widerstandslehre damit restriktiver als die des Federalist ist, hat sein Konzept hinsichtlich der Verhinderung staatlichen Unrechts eine weiterreichende Wirkung. Denn Kant postuliert die moralische – nicht rechtliche – Pflicht, gegen unmoralische Gesetze passiven Widerstand zu leisten. Wenn die Menschen dieser Pflicht nachkommen, wird die Entstehung von Unrechtsregimes verhindert oder erschwert, Unrecht also schon präventiv verhindert und nicht erst nachträglich bekämpft. Dieser Gedanke findet sich bei Publius erwartungsgemäß nicht, da er die Annahme der neuen Verfassung propagiert und nicht mit den moralischen Pflichten der Menschen befaßt ist. 4. Ergebnis Publius’ Konzept des Gesellschaftsvertrages, das sowohl der Legitimation als auch Limitation staatlicher Herrschaft dient, führt zu einem Widerspruch, denn als Instrument der Widerstandslegitimierung hebt der Vertrag den von ihm begründeten Herrschaftsanspruch des Staates wieder auf und sabotiert damit seine herrschaftslegitimierende Funktion. Zwar versuchen die Autoren des Federalist, dieses Problem auf praktischer Ebene zu minimieren; der konzeptionelle Widerspruch bleibt jedoch bestehen. Kant dagegen entgeht dem Paradoxon, dem Gesellschaftsvertrag gleichzeitig die Legitimation und Limitation staatlicher Herrschaft abzuverlangen. Aufgrund seiner Entlastung von Legitimationsaufgaben kann der Vertrag bei Kant als beschränkendes Moment, als „Prüfstein der Gerechtigkeit“ dienen, ohne die Notwendigkeit und Gebotenheit des Staates zu untergraben. Kants Konzeption des ursprünglichen Vertrages ist damit – anders als die des Federalist und des „herkömmlichen“ Kontraktualismus – in sich schlüssig und widerspruchsfrei.

E. Aufbau des Staates Um seine Zwecke erfüllen zu können, muß der Staat sowohl nach der Ansicht Kants als auch des Federalist auf eine bestimmte Art ausgestaltet sein und gewisse Anforderungen erfüllen. Hamilton nennt im neunten Essay fünf Voraussetzungen für einen funktionierenden republikanischen Staat: „Die symmetrische Verteilung der Macht in getrennte Gewalten, die Einführung von Gleichgewicht und gegenseitiger Kontrolle in der Legislative [balances and checks], die Schaffung von Gerichten mit Richtern, die ihr Amt während guter Amtsführung bekleiden, die Vertretung des Volkes in der Legislative durch Delegierte ihrer Wahl . . . sind Methoden und zwar wirksame Methoden, mit deren Hilfe die vortrefflichen Seiten der republikanischen Regierungsform erhalten und ihre Mängel verringert oder ausgeschaltet werden können. Zu diesem Katalog von Umständen . . . möchte ich ein Mittel hinzufügen . . .: ich meine die Vergrößerung des Wirkungskreises, in dem solche Systeme funktionieren, entweder was die Ausdehnung eines einzigen Staates angeht oder den Zusammenschluß mehrerer kleinerer Staaten in einer großen Konföderation.“ (Nr. 9, S. 45 f.)

Auch Kant fordert einen gewaltenteilig organisierten Staat, der repräsentativ ausgestaltet ist, und den Zusammenschluß der einzelnen Staaten in einer übergeordneten Organisation hält er zur umfassenden Sicherung der menschlichen Freiheit ebenfalls für notwendig.

I. Die drei Gewalten Der erste und fundamentale Schritt ist sowohl in den Augen Kants als auch der Autoren des Federalist die Konstituierung der staatlichen Gewalt durch die Schaffung und Ausgestaltung von drei Gewalten, der gesetzgebenden, der ausführenden und der rechtsprechenden Gewalt. 1. Bei Kant Die umfassendste und ausführlichste Darstellung seines Konzepts der staatlichen Gewalten findet sich bei Kant in der Metaphysik. Während er im Frieden lediglich das Verhältnis von Legislative und Exekutive erörtert1 und die Judikative nicht erwähnt, behandelt er in der Metaphysik alle drei Gewalten und ihr Verhältnis zueinander. Er äußert sich wie folgt dazu: 1

s. Frieden S. 206 f.

I. Die drei Gewalten

321

„Ein Staat . . . ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen. So fern diese als Gesetze a priori notwendig . . . sind, ist seine Form die Form eines Staats überhaupt, d. i. der Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll, welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen . . . zur Richtschnur . . . dient. Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): die Herrschergewalt (Souveränität), in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt, in der des Regierers (zu Folge dem Gesetz) und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz), in der Person des Richters (potestas legislatoria, rectoria et iudiciaria), gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß: dem Obersatz, der das Gesetz jenes Willens, dem Untersatz, der das Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz, d. i. das Prinzip der Subsumtion unter denselben, und dem Schlußsatz, der den Rechtsspruch . . . enthält, was im vorkommenden Falle Rechtens ist.“ (§ 45, S. 431 f.)

Durch die Einführung der drei Gewalten im Rahmen der respublica noumenon und den Hinweis darauf, daß sie in jedem Staat existieren, macht Kant deutlich, daß es sich bei ihnen um a priori notwendige Bestandteile des Staates handelt. Auch im folgenden behandelt er die drei Gewalten in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der Konstituierung und Zusammensetzung der staatlichen Gewalt: „Alle jene drei Gewalten im Staate sind Würden, und, als wesentliche aus der Idee eines Staats überhaupt zur Gründung desselben (Konstitution) notwendig hervorgehend, Staatswürden.“ (§ 47, S. 434)

Kant stellt hier deutlich heraus, daß der Staat kein originäres, vorgegebenes Gebilde ist, sondern erst erschaffen werden muß. Denn wie oben dargelegt,2 geht Kant in seinem Modell der virtuellen Staatsentstehung davon aus, daß der Mensch ursprünglich3 nicht im Staat, sondern im vor- oder außerstaatlichen Naturzustand lebt. Die drei Gewalten sind nach Vernunftprinzipien deshalb zur Konstituierung der Staatsgewalt unerläßlich, weil der Staat nur bei der Existenz dieser drei Funktionsbereiche seinen Zweck erfüllen kann: „Die drei Gewalten im Staate sind also erstlich einander, als so viel moralische Personen, beigeordnet . . ., d. i. die eine ist das Ergänzungsstück der anderen zur Vollständigkeit . . . der Staatsverfassung . . .“ (§ 48, S. 434 f.)

a) Vorstrukturierung durch das Privatrecht Die Vernunftgebotenheit der staatlichen Funktionsbereiche Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung und die damit verbundene dreigliedrige Grundstruktur eines jeden Staates ergibt sich aus der Fundierung des Staates im Pri2

s. oben C. I., etwa 1. d). Dieser Begriff ist dabei rein logisch, nicht dagegen zeitlich zu verstehen, s. oben C. I. 1. c) (3) (c) (bb). s. auch Kants Unterscheidung zwischen „ursprünglich“ und „uranfänglich“ in § 6, S. 359 f., § 10, S. 368, und § 13, S. 373. 3

322

E. Aufbau des Staates

vatrecht.4 Der Staat ist Voraussetzung für die Möglichkeit eines peremtorischen äußeren Mein und Dein,5 das im Gegensatz zum angeborenen inneren in dreifacher Hinsicht problematisch ist:6 zunächst muß geklärt werden, wie äußere Gegenstände überhaupt als jemandes Seines innegehabt werden können; als nächstes stellt sich die Frage, wie äußere Gegenstände – ihre prinzipielle Eigentumsfähigkeit vorausgesetzt – erworben werden können und schließlich, wie in strittigen Fällen zu entscheiden ist. Entsprechend teilt Kant sein Privatrecht in drei Hauptstücke ein; das erste handelt „Von der Art, etwas Äußeres als das Seine zu haben“, das zweite „Von der Art, etwas Äußeres zu erwerben“ und das dritte „Von der subjektiv-bedingten Erwerbung durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit“ (s. S. 3147). Diese drei Problemkreise können im Naturzustand letztlich nicht gelöst werden; sie weisen über diesen hinaus und erzeugen die zum öffentlichen Recht drängende Dynamik des kantischen Privatrechts. Damit dient der Staat als Teilbereich des öffentlichen Rechts8 in erster Linie der Bewältigung dieser drei Fragen; er muß die Innehabung, die Erwerbung und die rechtliche Klärung kollidierender Ansprüche bezüglich äußerer Gegenstände regeln. Damit aber ist die triadische Differenzierung der staatlichen Funktionen vernunftnotwendig vorgegeben. Aufgrund dieses notwendigen Zusammenwirkens der drei Gewalten zur umfassenden Bestimmung und Sicherung des äußeren Mein und Dein zieht Kant im obigen Eingangszitat (§ 45, S. 431 f.) die Analogie zum praktischen Vernunftschluß. Denn der Syllogismus führt ebenfalls in drei aufeinander aufbauenden Schritten – ausgehend vom Allgemeinen – zur Bestimmung des Einzelfalles.9 Die dreifache Funktion des Staates und des öffentlichen Rechts insgesamt spiegelt sich auch in der Dreiteilung der öffentlichen Gerechtigkeit in die „beschützende (iustitia tutatrix), die wechselseitig erwerbende (iustitia commutativa) und die austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva)“ wider, die Kant vornimmt (s. § 41, S. 423).10 4 Diesen Zusammenhang betonen vor allem Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 436–441; Ludwig, B., Kommentar (1999), S. 176; Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 154 f. und 160 f. 5 s. hierzu oben C. I. 1. b) (3) (a). 6 Vgl. Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 436; Ludwig, B., Kommentar (1999), S. 176. 7 Zur Bezeichnung des dritten Hauptstücks s. ebd. Fn. 3 und S. 412. 8 s. hierzu § 43, S. 429. 9 s. hierzu Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 436; Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 160, Fn. 127; Zaczyk, R., Gerechtigkeit (1994), S. 121. s. auch Joerden, J. C., Gewaltenteilung (JRE 1, 1993), S. 217–220, der darauf hinweist, daß der „Syllogismus . . . gegenüber dem Einzelfall gerade das Allgemeine zur Geltung“ bringt – was bezogen auf den Staat bedeutet: „Erst dann, wenn auch das staatliche Handeln sich in der Form eines praktischen Vernunftschlusses vollzieht, kann die Allgemeinheit des Gesetzes sich gegen den Einzelfall durchsetzen und damit der ,allgemeine Wille‘ gegen den partikularen.“ (S. 218)

I. Die drei Gewalten

323

(1) Legislative Die im ersten Hauptstück des Privatrechts behandelte Frage nach der Möglichkeit der Innehabung äußerer Gegenstände als jemandes Seines findet ihre Entsprechung und Auflösung in der ersten Gewalt, der Legislative. Die Rückkoppelung dieser wie der beiden anderen Gewalten an das Privatrecht zeigt sich deutlich in den Parallelen, die Kants entsprechende Ausführungen aufweisen.11 So betont er sowohl in § 8 des ersten Hauptstücks als auch in § 46 bezüglich der Legislative, daß nur der allgemein vereinigte Wille als Grundlage der für alle verbindlichen Gesetze dienen kann: „Nun kann der einseitige Wille in Ansehung eines äußeren . . . Besitzes nicht zum Zwangsgesetz für jedermann dienen, weil das der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen Abbruch tun würde. Also ist nur ein jeden anderen verbindender, mithin kollektiv-allgemeiner (gemeinsamer) und machthabender Wille derjenige, welcher jedermann jene Sicherheit leisten kann. – Der Zustand aber unter einer allgemeinen äußeren (d. i. öffentlichen) mit Macht begleiteten Gesetzgebung ist der bürgerliche. Also kann es nur im bürgerlichen Zustande ein äußeres Mein und Dein geben.“ (§ 8, S. 365 f.)

Die Möglichkeit, etwas Äußeres als das Seine zu haben, setzt eine entsprechende Übereinkunft aller Betroffenen voraus, da die daraus resultierende Pflicht zum Verzicht auf den Gebrauch fremder Gegenstände nur bei allseitiger Zustimmung dem je eigenen Willen entspringt und so mit jedermanns Freiheit vereinbar ist.12 Der gleiche Gedanke steht hinter Kants Ausführungen zur Legislative: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn, da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht tun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, so fern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein.“ (§ 46, S. 432)

Hier bezieht Kant den Gedanken jedoch nicht mehr nur auf Gesetze bezüglich des äußeren Mein und Dein, sondern allgemein auf die Gesetzgebung. Denn nicht nur das sachbezogene Verhältnis der Menschen zueinander, sondern auch ihr sonstiger Umgang miteinander bedarf der rechtlichen Regelung zur Abgren-

10 s. hierzu Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 437 f.; Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 160 und 161, Fn. 130. 11 s. hierzu auch Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 160. 12 s. hierzu oben C. I. 1. b) (3) (a).

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E. Aufbau des Staates

zung der verschiedenen Freiheitssphären,13 so daß der Legislative nicht nur die Klärung von Eigentumsfragen obliegt, sondern allgemein die Organisation der zwischenmenschlichen Beziehungen, soweit rechtliche und nicht moralische Aspekte betroffen sind.14 Die Kompatibilisierung der einzelnen Freiheitssphären muß – um rechtmäßig zu sein – auch bezüglich dieser Fragen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit erfolgen;15 damit bedürfen alle von der Legislative erlassenen Gesetze der allgemeinen Zustimmung, d. h. müssen dem allgemein vereinigten Willen entspringen.16 Dieser Wille entsteht durch die Vereinigung der Staatsbürger zur Gesetzgebung: „Die zur Gesetzgebung vereinigten Glieder einer solchen Gesellschaft (societas civilis), d. i. eines Staats, heißen Staatsbürger . . ., und die rechtlichen, von ihrem Wesen (als solchem) unabtrennlichen Attribute derselben sind gesetzliche Freiheit, keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat – bürgerliche Gleichheit, keinen Oberen im Volk, in Ansehung seiner zu erkennen, als nur einen solchen, den er eben so rechtlich zu verbinden das moralische Vermögen hat, als dieser ihn verbinden kann; drittens, das Attribut der bürgerlichen Selbständigkeit, seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines anderen im Volke, sondern seinen eigenen Rechten und Kräften, als Glied des gemeinen Wesens verdanken zu können, folglich die bürgerliche Persönlichkeit, in Rechtsangelegenheiten durch keinen anderen vorgestellt werden zu dürfen. Nur die Fähigkeit der Stimmgebung macht die Qualifikation zum Staatsbürger aus; jene aber setzt die Selbständigkeit dessen im Volk voraus, der nicht bloß Teil des gemeinen Wesens, sondern auch Glied desselben . . . sein will.“ (§ 46, S. 432 f.)

Die Staatsbürger haben das Recht zur Stimmgebung, d. h. zur Abstimmung im politischen Prozeß. Damit kommt ihnen nicht nur die allen Menschen zustehende negative Freiheit und die entsprechende natürliche Gleichheit zu, sondern auch die positive Freiheit, d. h. das Recht zur politischen Mitbestimmung, und die entsprechende bürgerliche Gleichheit.17 Allerdings knüpft Kant dieses Recht und damit die Staatsbürgerqualität an eine Bedingung, und zwar die der Selbständigkeit. Dieses Kriterium hat vielfach Kritik erfahren und ist als zeitgebundenes, veraltetes Prinzip moniert worden, dem kein Platz in einer apriorischen Rechtslehre gebühre.18 Diese Kritik beruht jedoch auf einem Mißverständnis, wie oben ausführlich dargelegt wurde. Denn richtig verstanden bezeichnet Kant 13 So begründet Kant die Notwendigkeit staatlicher Herrschaft nicht nur mit eigentumstheoretischen Überlegungen, sondern auch mit dem inneren Mein und Dein der Menschen, d. h. ihrer Freiheit. s. dazu oben C. I. 3. 14 s. hierzu Kants Definition des Rechts in § B, S. 337; s. auch oben D. I. 3. a) (2). 15 s. § C, S. 337. 16 s. hierzu Kersting, W., Freiheit (1993), S. 400 f. 17 s. hierzu oben D. I. 3. a) (2) und b). 18 Zu diesem Problemkreis und dem richtigen Verständnis der Selbständigkeit in der Metaphysik s. oben D. I. 3. c).

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mit dem Topos der Selbständigkeit in der Metaphysik19 die Mündigkeit des Menschen, seine Fähigkeit, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“, wie er es in der Aufklärung formuliert (Aufklärung S. 53). Dieses Kriterium ist durchaus ein apriorisches Prinzip, da es die Freiheit und Gleichheit im politischen Prozeß sichert. Den dergestalt näher bestimmten Staatsbürgern, d. h. allen mündigen Bürgern, kommt „die Fähigkeit der Stimmgebung“ (§ 46, S. 432) und „das Recht der Stimmgebung“ zu (§ 46, S. 433); zu den näheren Modalitäten des Abstimmungsverfahrens äußert sich Kant allerdings im Rahmen der respublica noumenon nicht. Insbesondere nimmt er nicht dazu Stellung, ob die Staatsbürger direkt über die Gesetze abstimmen oder lediglich die gesetzgebende Körperschaft wählen.20 In seiner Erörterung der respublica phaenomenon stellt er dagegen klar, daß sich das Stimmrecht der Staatsbürger im realen Staat nicht unmittelbar auf die Gesetze bezieht, sondern auf die Wahl eines repräsentativen Gremiums: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen.“ (§ 52, S. 464)

Kant bringt hier zum Ausdruck, daß zur größtmöglichen Annäherung an reine Rechtsprinzipien ein republikanisches, in heutiger Diktion repräsentativ-demokratisches Regierungssystem nötig ist21 und daß die Staatsbürger nur durch ihre Abgeordneten als vereinigtes Volk agieren können. Damit ist eine direkte Abstimmung aller Staatsbürger im Sinne der direkten Demokratie nicht vereinbar. Kant unterscheidet an anderer Stelle zwischen dem Volk als Gemeinschaft und als bloßer Menge: „Sie [die drei Gewalten] enthalten das Verhältnis eines allgemeinen Oberhaupts (der, nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein anderer als das vereinigte Volk selbst sein kann) zu der vereinzelten Menge ebendesselben als Untertans . . .“ (§ 47, S. 434)

Indem Kant im obigen ersten Zitat betont, daß das Volk nur im republikanischen, repräsentativen System als vereinigtes agiert, impliziert er gleichzeitig, daß es in der direkten Demokratie eine bloße vereinzelte Menge bleibt, aus der 19 Anders als noch im Gemeinspruch, in dem er tatsächlich die normative und die empirische Ebene vermischt und biologische und ökonomische Kriterien zur Bestimmung der Selbständigkeit ansetzt, s. dazu oben D. I. 3. c) (2). 20 s. Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 161. 21 Völlig unzutreffend ist daher die Behauptung Mandts, „daß in dem Bild des Kantischen Republikanismus nicht die Züge des westeuropäischen (parlamentarischen) Repräsentativsystems, sondern diejenigen der ,konstitutionellen Monarchie‘ . . . hervortreten“ und Kants Ansichten „als positives Verfassungsideal das Modell der konstitutionellen Monarchie zugrunde liegt“, s. Mandt, H., Traditionselemente (1976), S. 297 f.

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nicht der allgemein vereinigte Wille, sondern der bloß partikulare Mehrheitswille spricht.22 Daher ist das den Staatsbürgern zustehende Stimmrecht zunächst das aktive Wahlrecht zur repräsentativen Gesetzgebungskörperschaft.23 Daneben müssen sie aber auch das passive Wahlrecht haben, d. h. das Recht, in diese Körperschaft gewählt zu werden. Denn Kant fordert ein „repräsentatives System des Volks“ (§ 52, S. 464), dieses muß also durch seinesgleichen vertreten werden. Zudem lehnt Kant eine ständische Differenzierung der Gesellschaft und die Existenz einer allein aufgrund ihrer Herkunft privilegierten Schicht ab,24 da dies gegen die jedem Menschen zukommende natürliche Gleichheit verstößt.25 Damit stehen für die Besetzung der politischen Ämter nur Menschen aus dem Volk zur Verfügung; eine besondere Herrschaftsschicht darf es nach Kants Prinzipien nicht geben. Die Gewährung des passiven Wahlrechts deutet sich auch darin an, daß Kant den Staatsbürgern das Recht zuschreibt, „als aktive Glieder den Staat selbst zu behandeln, zu organisieren oder zu Einführung gewisser Gesetze mitzuwirken . . .“ (§ 46, S. 433 f.). Hier scheint sich vor allem der letzte Punkt, die (bloße) Mitwirkung bei der Einführung von Gesetzen, auf das aktive Wahlrecht zu beziehen, während Kant den Menschen mit den ersten beiden Punkten offensichtlich eine aktivere Rolle zuschreibt. Die Behandlung und Organisation des Staates bezeichnet eine unmittelbarere Teilnahme am und gestaltendere Einflußnahme auf den politischen Prozeß, als durch die bloße Wahl von Abgeordneten erreicht wird. Damit ist die Legislative nach Kants Vorstellungen ein repräsentatives Gremium, das vom und aus dem Volk gewählt wird. (2) Exekutive Das zweite Hauptstück des Privatrechts widmet sich dem Problem der Erwerbung äußerer Gegenstände. Die Lösung und Regelung dieser Frage obliegt der zweiten Gewalt, der Exekutive, deren Funktion Kant wie folgt beschreibt: „Der Regent des Staats (rex, princeps) ist diejenige (moralische oder physische) Person, welcher die ausübende Gewalt (potestas executoria) zukommt: der Agent des Staats, der die Magisträte einsetzt, dem Volk die Regeln vorschreibt, nach denen ein jeder in demselben dem Gesetze gemäß (durch Subsumtion eines Falles unter demselben) etwas erwerben, oder das Seine erhalten kann. Als moralische Person betrachtet heißt er das Direktorium, die Regierung. Seine Befehle an das 22 Warum der allgemeine Wille nur durch Repräsentation erzeugt werden kann, wird unten dargelegt werden, s. unten II. 1. b). 23 Westphal, K. R., Inadequacy (JRE 1, 1993), S. 267, betont, daß Kant dies nirgendwo explizit ausführt; es ergibt sich aber eindeutig aus den obigen Überlegungen und Kants expliziter Forderung nach einem repräsentativen System. 24 s. dazu etwa AA D, S. 449–451. 25 s. hierzu oben D. I. 3. b) (1).

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Volk und die Magisträte, und ihre Obere (Minister), welchen die Staatsverwaltung (gubernatio) obliegt, sind Verordnungen, Dekrete (nicht Gesetze); denn sie gehen auf Entscheidung in einem besonderen Fall, und werden als abänderlich gegeben.“ (§ 49, S. 435)

Der Zusammenhang zwischen Problemstellung des Privatrechts und Lösung durch das Staatsrecht ist auch hier bereits in den von Kant gewählten Formulierungen unübersehbar. Die ausführende Gewalt liegt in den Händen des Regenten; indem Kant ihn als „Agent des Staats“ bezeichnet, bringt er zum Ausdruck, daß der Staat durch ihn handelt. Die Exekutive ist für die Anwendung und Durchsetzung der Gesetze zuständig; zu diesem Zweck kann sie Verordnungen erlassen, die anders als die von der Legislative erlassenen Gesetze keine allgemeingültigen Vorschriften sind, sondern lediglich Einzelfälle regeln. Entsprechend trifft die Legislative bezüglich des äußeren Mein und Dein die grundsätzlichen und allgemeinen Regelungen für die Innehabung äußerer Gegenstände, während die Exekutive – auf der Basis dieser Normen – die Details der Erwerbung im speziellen Fall regelt. Zudem hat sie das Recht zur zwangsweisen Durchsetzung der Gesetze: es ist die ausübende Gewalt, „der zu oberst das Vermögen, dem Gesetze gemäß zu zwingen, zusteht.“ (§ 49, S. 436) Die Spitze der Exekutive stellt der Regent dar, der als Untereinheiten Magisträte einsetzt. Diesen Gremien und ihren Vorstehern, den Ministern, obliegt die Verwaltung des Staates. Der Regent ist gegenüber den Magisträten und Ministern weisungsbefugt: er kann ihnen – wie dem Volk – Befehle erteilen. Damit ist er der Leiter der Verwaltungsbehörden, ihm kommt die Aufsicht über die administrative Tätigkeit des Staates zu. Über diese sehr generellen Angaben hinaus läßt sich Kants Aussagen nicht viel mehr zur Exekutive entnehmen. In den Anmerkungen nennt er als Aufgaben der Regierung die Staatswirtschaft, das Finanzwesen und die Polizei;26 allerdings sind dies laut Kants explizitem Hinweis zu Beginn der Metaphysik lediglich empirische Beispiele,27 die die Verhältnisse seiner Zeit widerspiegeln und keinen normativen Charakter haben. Obwohl Kant keine näheren Ausführungen zur Art der Einsetzung des Regenten macht, ist anzunehmen, daß er seine Bestimmung durch Wahl fordern würde, denn die Alternative wäre eine erbliche Besetzung wie bei der (erblichen) Monarchie oder Aristokratie. Eine solche Verleihung von Würden allein aufgrund der Geburt lehnt Kant jedoch – wie oben bereits gesehen – ab, weil dies gegen das Kriterium der Gleichheit der Menschen verstoßen würde.28 Die Wahl müßte dabei direkt oder indirekt durch das Volk erfolgen, da auch die Exekutive auf dem allgemein vereinigten Willen beruhen muß. So betont Kant, 26 27 28

s. AA B, S. 445. s. Metaphysik S. 309. s. hierzu oben und D. I. 3. b) (1).

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daß die drei Gewalten „den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person“ darstellen (§ 45, S. 431) und daß die drei Gewalten „nur so viel Verhältnisse des vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden, Volkswillens“ sind (§ 51, S. 461). Neben der unmittelbaren Wahl durch das Volk käme auch die Wahl durch das – seinerseits durch die Zustimmung des Volkes legitimierte – Parlament oder durch ein anderes vom Volk gewähltes Gremium in Betracht, etwa ein Wahlmännerkollegium nach amerikanischem Vorbild. Dafür, daß das Parlament die Regierung einsetzt,29 könnte sprechen, daß es sie auch absetzen kann, wie Kant in § 49 darlegt (s. S. 436). Allerdings ist diese Schlußfolgerung nicht zwingend. Auch zur Ausgestaltung und personellen Besetzung der Exekutivspitze äußert Kant sich nicht näher, er scheint jedoch von einem monokratischen System auszugehen. Angesichts von Kants Ablehnung einer ständischen Differenzierung der Gesellschaft steht zudem fest, daß der (oder die) Regent(en) dem Volk entstammen müssen.30 Ob die Wahl der Exekutivspitze zeitlich begrenzt sein muß oder auch auf Lebenszeit denkbar wäre, wird von Kant ebenfalls nicht angesprochen. Daß Kant diese Fragen offenläßt, könnte darauf hindeuten, daß er diese Details nicht für Bestandteile einer apriorischen Rechtslehre hält und ihre Regelung in den Handlungsspielraum der phaenomenalen Staaten fällt (s. dazu § 45, S. 431).31 (3) Judikative Die Funktion der dritten Gewalt, der Judikative, beschreibt Kant wie folgt: „. . . die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz) . . .“ (§ 45, S. 431).32 Auch hier ist die Parallele zum Privatrecht, und zwar zu seinem dritten Hauptstück, dem Problem der subjektiv-bedingten Erwerbung durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit, offensichtlich. Im einzelnen äußert Kant sich wie folgt zur rechtsprechenden Gewalt: „Endlich kann, weder der Staatsherrscher noch der Regierer, richten, sondern nur Richter, als Magisträte, einsetzen. Das Volk richtet sich selbst durch diejenigen ihrer Mitbürger, welche durch freie Wahl, als Repräsentanten desselben, und zwar für jeden Akt besonders, dazu ernannt werden. Denn der Rechtsspruch . . . ist ein einzelner Akt der öffentlichen Gerechtigkeit . . . durch einen Staatsverwalter (Richter oder Gerichtshof) auf den Untertan, d. i. einen, der zum Volk gehört, mithin mit keiner Gewalt bekleidet ist, ihm das Seine zuzuerkennen (zu erteilen). Da nun ein

29 30 31 32

So auch Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 166. s. dazu auch die obigen Ausführungen zur Legislative. s. auch Kersting, W., Freiheit (1993), S. 406. s. hierzu Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 160, insb. Fn. 129.

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jeder im Volk diesem Verhältnisse nach (zur Obrigkeit) bloß passiv ist, so würde eine jede jener beiden Gewalten in dem, was sie über den Untertan, im streitigen Falle des Seinen eines jeden, beschließen, ihm unrecht tun können; weil es nicht das Volk selbst täte, und, ob schuldig oder nichtschuldig, über seine Mitbürger ausspräche; auf welche Ausmittelung der Tat in der Klagsache nun der Gerichtshof das Gesetz anzuwenden, und, vermittelst der ausführenden Gewalt, einem jeden das Seine zu Teil werden zu lassen die richterliche Gewalt hat. Also kann nur das Volk, durch seine von ihm selbst abgeordnete Stellvertreter (die Jury), über jeden in demselben, obwohl nur mittelbar, richten.“ (§ 49, S. 436 f.)

Die Organe der Judikative setzen sich aus zwei Komponenten zusammen: zum einen aus den staatlichen Amtsträgern, dem Richter oder Gerichtshof, die von der Legislative oder Exekutive eingesetzt werden,33 und zum anderen aus den Geschworenen als Vertretern des Volkes, die von diesem gewählt werden. Daß Kant zwischen Richter und Gerichtshof unterscheidet, könnte ein Hinweis darauf sein, daß die Repräsentanten des Staates sowohl als Einzelrichter als auch als Kammer zu Gericht sitzen können. Der vom Volk gewählten Jury obliegt die Tatsachenfeststellung und Klärung der Schuldfrage, während die Aufgabe der Repräsentanten des Staates in der Rechtsanwendung und Strafzumessung und der Überwachung der Vollstreckung des Urteils durch die Exekutive besteht. Die Beteiligung von Repräsentanten des Volkes ist nötig, um sicherzustellen, daß auch die dritte Gewalt letztlich auf dem allgemein vereinigten Willen des Volkes beruht. Wie oben bereits dargelegt, betont Kant, daß die drei Gewalten „den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person“ darstellen (§ 45, S. 431) und daß sie „nur so viel Verhältnisse des vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden, Volkswillens“ sind (§ 51, S. 461). Zwar werden die Berufsrichter von der Legislative oder Exekutive eingesetzt und sind damit mittelbar durch die Zustimmung des Volkes legitimiert, da die beiden anderen Gewalten direkt oder – im Fall der Exekutive wohl – indirekt vom Volk gewählt sind. Dies reicht nach Kants Verständnis aber offensichtlich nicht aus, denn in ihrer Funktion als staatliche Amtsträger sind die Richter kein Teil des Volkes (auch wenn sie diesem als Personen angehören), sondern treten als Repräsentanten des Staates, der Obrigkeit, auf. Zwischen ihnen und dem Volk besteht kein reziprokes Verhältnis, da sie im Urteilsspruch über die Rechte der Bürger entscheiden können, während das Volk diese Möglichkeit umgekehrt nicht hat. Damit würde in einem reinen Berufsgericht das Volk nicht über sich selbst beschließen; Grundlage der Entscheidung wäre nicht der allgemein vereinigte 33 Insofern trifft Fetschers Ansicht nicht zu, daß die „dritte Gewalt . . . bei Kant weder aus der ersten, noch aus der zweiten hervor[geht], sondern . . . unmittelbar aus dem Volk selbst abgeleitet“ wird, s. Fetscher, I., Revolution (1976), S. 280. Zutreffend ist vielmehr beides: eine Komponente der Judikative wird von der Legislative oder Exekutive eingesetzt, die andere unmittelbar vom Volk.

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Wille, sondern der bloß partikulare Wille der Richter. Auch wäre der Grundsatz des „volenti non fit iniuria“, den Kant im Rahmen seiner Erörterung der Legislative anführt, nicht gegeben (s. § 46, S. 432); der vor Gericht stehende Beklagte oder Angeklagte wäre einem fremden Willen unterworfen, so daß die grundsätzliche Möglichkeit der Unrechtszufügung ihm gegenüber bestünde. Die Beteiligung von Geschworenen am Gerichtsverfahren dient also demselben Ziel wie das Erfordernis der Rechtssetzung durch den allgemein vereinigten Willen des Volkes: der Wahrung der „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“, d. h. der Freiheit des einzelnen. Das von Kant vorgesehene System bietet zwar keine Sicherheit vor Fehlurteilen, aber es verhindert willkürliche gerichtliche Entscheidungen.34 Kants Vorstellung der Judikative ähnelt Montesquieus Entwurf derselben:35 beide sprechen dem Volk die Entscheidungsmacht zu und fordern die Wahl jeweils neuer Geschworener. Allerdings sind nach Montesquieus Vorstellung überhaupt keine staatlichen Organe beteiligt, das Gericht löst sich daher zwischenzeitlich vollkommen auf.36 Bei Kant ist es demgegenüber eine feste Größe, eine dauernde Einrichtung mit ständigen Richtern, der nur für jeden Fall neue Geschworene zur Seite gestellt werden. b) Verhältnis der Gewalten zueinander Kant beschreibt das Verhältnis der drei Gewalten zueinander wie folgt: „Die drei Gewalten im Staate sind also erstlich einander, als so viel moralische Personen, beigeordnet . . ., d. i. die eine ist das Ergänzungsstück der anderen zur Vollständigkeit . . . der Staatsverfassung; aber, zweitens, auch einander untergeordnet . . ., so, daß eine nicht zugleich die Funktion der anderen, der sie zur Hand geht, usurpieren kann, sondern ihr eigenes Prinzip hat, d. i. zwar in der Qualität einer besonderen Person, aber doch unter der Bedingung des Willens einer oberen gebietet; drittens, durch Vereinigung beider jedem Untertanen sein Recht erteilend . . .“ (§ 48, S. 434 f.) 34

Kersting, W., Freiheit (1993), S. 406. s. Kersting, W., Freiheit (1993), S. 407; Montesquieu, C.-L. de, Geist (1748), Buch XI, Kap. 6, S. 217 f. und 220. 36 s. Montesquieu, C.-L. de, Geist (1748), Buch XI, Kap. 6, S. 217: „Die richterliche Gewalt darf nicht an einen dauernden Senat gegeben, sondern muß von Personen ausgeübt werden, die zu bestimmten Zeiten des Jahres in gesetzlich vorgeschriebener Weise aus der Mitte des Volkes entnommen werden, um einen Gerichtshof zu bilden, der nur so lange besteht, wie die Notwendigkeit es erfordert. Auf diese Weise wird die unter den Menschen so schreckliche richterliche Gewalt, losgelöst von der Bindung an einen bestimmten Stand oder einen bestimmten Beruf, sozusagen unsichtbar und zu einem Nichts. Man hat nicht ständig Richter vor Augen und man fürchtet das Amt, aber nicht die Beamten . . . Die beiden anderen Gewalten können eher an obrigkeitliche Ämter oder dauernde Körperschaften vergeben werden, weil sich ihre Ausübung nicht gegen irgendeinen Einzelnen richtet; denn die eine ist lediglich der allgemeine Wille des Staates, die andere nur die Vollstreckung dieses allgemeinen Willens.“ 35

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Die Notwendigkeit der gesetzgebenden, ausführenden und rechtsprechenden Gewalt zur Konstituierung der Staatsgewalt ist a priori vorgegeben; erst die Existenz aller drei Gewalten schafft einen funktionsfähigen Staat. Diesen Zusammenhang zwischen ihnen bezeichnet Kant mit dem Terminus der Beiordnung. Zugleich weist er jedoch darauf hin, daß die Gewalten einander untergeordnet sein müssen und eine Gewalt nicht die Funktion der anderen übernehmen darf. (1) Funktionelle Trennung Mit dem Hinweis auf ihre Unterordnung nimmt Kant also keine Gewichtung der einzelnen Gewalten vor und stellt keine Rangfolge auf, sondern fordert ihre funktionelle Trennung: trotz ihres notwendigen Zusammenwirkens müssen ihre Aufgabenbereiche voneinander getrennt sein und die entsprechenden Grenzen von allen Gewalten beachtet werden. Jede Gewalt hat in ihrem Funktionsbereich die letztinstanzliche Entscheidungsbefugnis, wie Kant im folgenden betont: „. . . der Wille des Gesetzgebers . . . in Ansehung dessen, was das äußere Mein und Dein betrifft, ist untadelig . . ., das Ausführungs-Vermögen des Oberbefehlshabers . . . unwiderstehlich . . . und der Rechtsspruch des obersten Richters . . . unabänderlich . . .“ (§ 48, S. 435)

Eine über die funktionelle Trennung hinausgehende Teilung der Gewalten, d. h. die herkömmlicherweise unter dem Topos der Gewaltenteilung oder -trennung37 behandelte Verteilung der drei staatlichen Funktionen auf verschiedene Träger,38 fordert Kant im obigen Zitat aus § 48 nicht. Zwar betont er, jede Gewalt müsse „in der Qualität einer besonderen Person“ gebieten; aber er spricht hier nicht von der physischen Person, dem Träger der jeweiligen Gewalt, sondern lediglich von der moralischen Person39 als Funktion, da er die drei Gewalten zu Beginn des Satzes als „so viel moralische Personen“ bezeichnet (s. § 48, S. 434). Diese unterscheidet er an anderer Stelle explizit von der physischen, phaenomenalen Person: „Der Regent des Staats . . . ist diejenige (moralische oder physische) Person . . .“ (§ 49, S. 435), und an späterer Stelle weist er darauf hin, daß die moralischen Personen in der Welt der Erscheinungen noch repräsentiert werden müssen,40 also keine phaenomenalen, physischen Personen sind. Dafür, daß Kant in seiner Beschreibung des Verhältnisses der Gewalten 37 Zur Terminologie der „Teilung“ oder „Trennung“ s. Lange, U., Montesquieu (Staat 19, 1980), S. 213 f. 38 Zum Topos der Gewaltentrennung und zu heutigen Problemen s. den Sammelband von Rausch, H, Gewaltentrennung (1969). 39 So auch Westphal, K. R., Inadequacy (JRE 1, 1993), S. 265. 40 s. § 52, S. 464: „. . . daß, so lange jene Staatsformen dem Buchstaben nach eben so viel verschiedene . . . moralische Personen vorstellen sollen . . .“ s. dazu auch sogleich unten.

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keine Verteilung auf unterschiedliche physische Personen, sondern lediglich die funktionelle Trennung fordert, spricht auch die von ihm gewählte Formulierung, die Gewalten müßten „in der Qualität einer besonderen Person“ gebieten; auch dies weist darauf hin, daß es hier lediglich der Qualität, d. h. der Art und Weise nach darum geht, als besondere Person zu entscheiden, nicht dagegen der Substanz nach. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß Kant auch in seiner Einführung der trias politica in § 45 lediglich die staatlichen Funktionsbereiche vorstellt und nicht – wie teilweise angenommen wird41 – die personell-institutionelle Separierung dieser Bereiche fordert, wenn er schreibt: „Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): die Herrschergewalt (Souveränität) in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt, in der des Regierers . . . und die rechtsprechende Gewalt . . ., in der Person des Richters . . .“ (§ 45, S. 431)

Daß Kant auch hier die moralische und nicht die physische Person anspricht, zeigt sich in § 51: „Die drei Gewalten im Staat, die aus dem Begriff eines gemeinen Wesens überhaupt . . . hervorgehen, sind nur so viel Verhältnisse des vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden Volkswillens und eine reine Idee von einem Staatsoberhaupt, welche objektive praktische Realität hat. Dieses Oberhaupt . . . aber ist so fern nur ein . . . Gedankending, als es noch an einer physischen Person mangelt, welche die höchste Staatsgewalt vorstellt, und dieser Idee Wirksamkeit auf den Volkswillen verschafft.“ (§ 51, S. 461)

Die trias politica ist nur die Idee des Staatsoberhaupts an sich, sie bildet das intelligible Staatsoberhaupt der respublica noumenon. Diese Idee muß in der sinnlichen Welt durch eine physische Person repräsentiert werden; eine Aufgabe, die entweder von einem einzigen, einigen oder allen wahrgenommen werden kann und zur entsprechenden Unterscheidung der verschiedenen Staatsformen führt.42 Die Staatsform beschreibt damit den Modus der Repräsentation der trias politica; im folgenden Paragraphen bringt Kant dann explizit zum Aus41 s. etwa Fetscher, I., Reformismus (1976), S. 187; ders., Revolution (1976), S. 278; Kersting, W., Freiheit (1993), S. 393 f., der sich zusätzlich auf eine Reflexion (Nr. 7971) stützt, s. S. 399; Unruh, P., Vernunft (1993), S. 162. 42 s. § 51, S. 461: „Das Verhältnis der ersteren zum letzteren ist nun auf dreierlei verschiedene Art denkbar: entweder daß einer im Staate über alle, oder daß einige, die einander gleich sind, vereinigt, über alle andere, oder daß alle zusammen über einen jeden . . . gebieten, d. i. die Staatsform ist entweder autokratisch, oder aristokratisch, oder demokratisch.“ Westphal, K. R., Inadequacy (JRE 1, 1993), S. 269, kritisiert, daß Kant die Repräsentation der drei Gewalten auch durch eine Person zuläßt und wirft ihm vor, dies unterminiere sein republikanisches Konzept. Er scheint aber zu übersehen, daß dieses Zugeständnis im Zusammenhang mit dem Postulat des öffentlichen Rechts und Kants Forderung nach einer evolutionären Verrechtlichung der staatlichen Verhältnisse steht und lediglich eine zu überwindende Zwischenstufe auf dem Weg zur ,wahren Republik‘ ist, s. dazu sogleich unten.

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druck, daß die Staatsformen moralische Personen repräsentieren: „. . . daß, so lange jene Staatsformen dem Buchstaben nach eben so viel verschiedene, mit der obersten Gewalt bekleidete, moralische Personen vorstellen sollen . . .“ (§ 52, S. 464). Dies zeigt deutlich, daß die in § 45 vorgestellten Gewalten der trias politica keine physischen, sondern moralische Personen sind. Damit enthält Kants Hinweis auf die notwendige triadische Differenzierung der staatlichen Macht ebensowenig wie seine Beschreibung des Verhältnisses der drei Gewalten ein Postulat der Gewaltenteilung oder -trennung, d. h. eine Forderung nach Gewaltentrennung im personell-institutionellen Sinne, sondern lediglich die Forderung nach funktioneller Differenzierung und Separierung. Diese funktionelle Separierung ist auch bei einer Vereinigung der Gewalten in einer Hand gegeben, wenn und solange sich die entsprechende Person oder Körperschaft bei ihren Entscheidungen bewußt macht, in welcher Funktion sie jeweils handelt, und ihre entsprechenden Kompetenzen nicht überschreitet. Dies dient der Sicherung der Prinzipien des Gesellschaftsvertrages, d. h. der Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit der Menschen im Staat: „Eine Regierung, die zugleich gesetzgebend wäre, würde despotisch zu nennen sein, im Gegensatz mit der patriotischen, unter welcher aber nicht eine väterliche . . ., als die am meisten despotische unter allen (Bürger als Kinder zu behandeln), sondern vaterländische . . . verstanden wird, wo der Staat selbst . . . seine Untertanen zwar gleichsam als Glieder einer Familie, doch zugleich als Staatsbürger, d. i. nach Gesetzen ihrer eigenen Selbständigkeit behandelt, jeder sich selbst besitzt, und nicht vom absoluten Willen eines anderen neben oder über ihm abhängt.“ (§ 49, S. 435 f.)

Auch diese Aussagen beziehen sich auf die funktionale und nicht personell-institutionelle Trennung von Legislative und Exekutive, da Kant kurz zuvor über den Regenten schreibt: „Als moralische Person betrachtet heißt er das Direktorium, die Regierung.“ (§ 49, S. 435). Diesen Terminus verwendet er – im Gegensatz zu jenem des Regenten – im obigen Zitat.43 Kant betont, daß in einem Staat, in dem Legislative und Exekutive nicht funktional unterschieden sind, despotisch geherrscht wird, und kontrastiert eine solche Regierung zur patriotischen, vaterländischen. Während die Untertanen unter der letzteren als Staatsbürger behandelt werden, d. h. nach den Prinzipien des Gesellschaftsvertrages und damit als freie, gleiche und selbständige Menschen, ist dies unter einer despotischen Regierung nicht der Fall. Vielmehr leben die Menschen in einem solchen Staat fremdbestimmt und dem Willen eines anderen unterworfen. Warum die Gewaltentrennung der Despotie vorbeugt, erläutert Kant im Frieden:44 43 Auf diese sprachliche Differenzierung weist Westphal, K. R., Inadequacy (JRE 1, 1993), S. 266, hin. 44 Hier bezieht er die Überlegung allerdings nicht auf die funktionelle Gewaltentrennung, d. h. auf die Regierungsart, sondern auf die personell-institutionelle und da-

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„Der Republikanism ist das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden; der Despotism ist das der eigenmächtigen Vollziehung des Staats von Gesetzen, die er selbst gegeben hat, mithin der öffentliche Wille, sofern er von dem Regenten als sein Privatwille gehandhabt wird.“ (Frieden S. 206 f.)

Die – nach Kants Auffassung in der Metaphysik auch nur funktionelle – Trennung von Legislative und Exekutive verhindert, daß der Privatwille des Regenten zur Grundlage des staatlichen Handelns werden kann45 und die Untertanen so einem fremden Willen unterworfen werden und Entscheidungen unterliegen, denen sie nicht selbst zugestimmt haben oder auch nur zustimmen könnten. Die Separierung der Gewalten beugt damit staatlicher Willkürherrschaft vor und dient der Sicherung der (negativen) Freiheit der Menschen. Auch in seiner oben zitierten Beschreibung des Verhältnisses der Gewalten zueinander (§ 48) betont Kant, daß die funktionale Gewaltentrennung der Freiheits- und Rechtssicherung – und damit der Verwirklichung des Zwecks des Staates – dient, denn er weist darauf hin, daß zwar schon die Beiordnung der drei Gewalten „zur Vollständigkeit . . . der Staatsverfassung“ führt (§ 48, S. 435), daß aber erst durch das Zusammenkommen von Beiordnung und Unterordnung der Gewalten (die „Vereinigung beider“) „jedem Untertanen sein Recht“ erteilt wird. Während bereits die Existenz einer gesetzgebenden, ausführenden und rechtsprechenden Instanz einen funktionsfähigen Staat schafft, führt erst die Beachtung der funktionalen Trennung dieser Aufgaben zu einem Staat, der das Recht und die Rechte der Menschen sichert und damit seinen eigentlichen Zweck erfüllt. Da die funktionelle Trennung aber mit der Vereinigung der Gewalten in einer Hand vereinbar ist, so lange die entsprechend Person oder Körperschaft bei ihrem Handeln hinterfragt, in welcher Funktion sie tätig wird, und die Grenzen des jeweiligen Aufgabenbereiches beachtet, ist die Separierung der Gewalten – und zugleich das mit ihr verfolgte Ziel, die Sicherung der Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit der Menschen – allein in das Belieben des Inhabers der Gewalten gestellt und von seinem Gutdünken abhängig, ohne in irgendeiner mit auf die Staatsform: nach Kants Auffassung im Frieden reicht allein die funktionale Trennung nicht aus, vielmehr ist die Institutionalisierung der Gewaltentrennung im personellen Sinne notwendig. s. dazu oben D. I. 4. d); s. auch sogleich unten. 45 Auch dieser Gedanke ergibt sich aus der Analogie zum praktischen Vernunftschluß, wie Joerden, J. C., Gewaltenteilung (JRE 1, 1993), S. 218 f., betont: „Erst dann, wenn auch das staatliche Handeln sich in der Form eines praktischen Vernunftschlusses vollzieht, kann die Allgemeinheit des Gesetzes sich gegen den Einzelfall durchsetzen und damit der ,allgemeine Wille‘ gegen den partikularen . . . Gewährleistet ist – zumindest der Idee nach –, daß gleiche Fälle prinzipiell gleich und ungleiche Fälle prinzipiell ungleich behandelt werden. Zum anderen ist . . . mit der Durchsetzung der Gesetzesförmigkeit staatlichen Verhaltens der Willkür ein Riegel vorgeschoben. Für beides bestünde keine Gewähr, wenn auch nur zwei der in Rede stehenden Gewalten im Staat in ein und derselben Hand zusammengefaßt wären.“

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Weise abgesichert oder erzwingbar zu sein. Dies erscheint zunächst verwunderlich, ist jedoch – wie Kants gesamtes Staats- und öffentliches Recht – im Kontext seiner Forderung nach einer evolutionären Verrechtlichung der Verhältnisse zu sehen:46 wie sein gesamtes Staatsrecht steht auch sein Gewaltenteilungskonzept unter dem Postulat des öffentlichen Rechts. Die funktionale Gewaltenteilung ist dabei ein erster Schritt auf dem Weg zur umfassenden Verrechtlichung; sie trägt zur Republikanisierung der Regierungsart bei, da sie die Behandlung der Untertanen als freie, gleiche und selbständige Menschen gewährleistet. Letztlich reicht dieser Zustand des „als ob“ jedoch nicht aus, da so die gesellschaftsvertraglichen Prinzipien nur simuliert werden. Zur umfassenden Republikanisierung des Staates ist vielmehr die Institutionalisierung der Gewaltentrennung, d. h. ihre Verteilung auf unterschiedliche personelle und institutionelle Träger, notwendig. (2) Personell-institutionelle Trennung Entsprechend fordert Kant letztlich auch die Verteilung der drei Gewalten auf unterschiedliche Träger,47 auf unterschiedliche physische und nicht nur moralische Personen, und zwar im Rahmen seiner Beschreibung der einzelnen Gewalten und ihres Verhältnisses zueinander.48 (a) Verhältnis „Legislative – Exekutive“ Zum Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive äußert Kant sich wie folgt: „Der Beherrscher des Volks (der Gesetzgeber) kann also nicht zugleich der Regent sein, denn dieser steht unter dem Gesetz, und wird durch dasselbe, folglich von einem anderen, dem Souverän, verpflichtet.“ (§ 49, S. 436)

Der Regent des Staates ist „diejenige (moralische oder physische) Person, welcher die ausübende Gewalt . . . zukommt . . . Als moralische Person betrachtet heißt er das Direktorium, die Regierung.“ (§ 49, S. 435) Dies läßt den Umkehrschluß zu, daß Kant den Begriff des Regenten hier für die physische Person verwendet, insbesondere, da er im Anschluß an das erste Zitat den Begriff der Regierung gebraucht, im späteren zweiten Zitat aber wieder auf den Oberbegriff des Regenten zurückkommt. Damit geht es ihm hier nicht mehr (nur) um die moralische Person als Funktion, sondern (auch) um die physische Person als Träger der staatlichen Gewalt.49 Kant bringt hiermit explizit zum Ausdruck, 46

s. hierzu auch Luf, G., Freiheit (1978), S. 173–178. Anderer Ansicht Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 441 f., insb. S. 441, Fn. 42; Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 164, Fn. 138. 48 So auch Westphal, K. R., Inadequacy (JRE 1, 1993), S. 265 f. 49 So auch Westphal, K. R., Inadequacy (JRE 1, 1993), S. 266. 47

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daß Gesetzgeber und Regent unterschiedliche Personen oder Körperschaften sein müssen und beide Funktionen nicht vom gleichen Gremium wahrgenommen werden dürfen, also nicht nur eine funktionale, sondern auch eine personell-institutionelle Unterscheidung zwischen den Gewalten bestehen muß. Als Begründung führt Kant eine Überlegung an, die zunächst formalistisch erscheint, hinter der jedoch die gleichen Überlegungen stehen wie hinter seiner Forderung nach funktionaler Gewaltentrennung. Die legislative und exekutive Funktion müssen deshalb auch personell unterschieden sein, weil die Exekutive „unter dem Gesetz“ steht, d. h. auf der Basis der von der Legislative erlassenen Gesetze handelt und diese ausführt. Da der Regent an das Gesetz gebunden ist, wird er durch dieses und damit vom Urheber des Gesetzes verpflichtet. Dieser muß nun ein anderer als er selbst sein, da die Verpflichtung durch sich selbst widersprüchlich wäre. Kant formuliert diesen Widerspruch (im Hinblick auf die Tugendpflichten) wie folgt: „Man kann diesen Widerspruch auch dadurch ins Licht stellen: daß man zeigt, der Verbindende . . . könne den Verbundenen . . . jederzeit von der Verbindlichkeit . . . lossprechen; mithin (wenn beide ein und dasselbe Subjekt sind), er sei an eine Pflicht, die er sich auferlegt, gar nicht gebunden: welches einen Widerspruch enthält.“ (Tugendlehre § 1, S. 549)

Der Verpflichtete kann die Verbindlichkeit als zugleich Verpflichtender selbst jederzeit wieder aufheben, so daß der dem Pflichtbegriff immanente Gesichtspunkt der Nötigung50 und damit der Pflichtbegriff selbst obsolet würde.51 Die Vereinigung von Legislative und Exekutive in einer Hand würde so zu einer Aufhebung der Verbindlichkeit der Gesetze für die Exekutive führen und damit ihre Willkürherrschaft ermöglichen.52 Durch die Gewaltenteilung dagegen wird derjenige, der die Befugnis zur zwangsweisen Durchsetzung der Gesetze hat, an und durch diese gebunden und so in seiner Macht beschränkt. Daß letztlich die gleichen Überlegungen hinter den Ausführungen zur funktionalen und personell-institutionellen Gewaltentrennung stehen, nämlich die Sicherung der Freiheit im Staat, zeigt sich auch an 50 s. Tugendlehre S. 508: „Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer Nötigung (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz.“ s. auch Rechtslehre S. 328: „Pflicht ist diejenige Handlung, zu welcher jemand verbunden ist.“ 51 Bezüglich der Tugendpflichten entpuppt sich dieser Widerspruch allerdings als nur scheinbarer; Kant geht davon aus, daß in der Tugendlehre Pflichten gegen sich selbst möglich sind, da der Mensch zwar einerseits als homo phaenomenon ein Sinnenwesen, andererseits aber als homo noumenon ein freiheitsbegabtes Vernunftwesen ist, s. Tugendlehre § 1–3, S. 549 f. und Joerden, J. C., Gewaltenteilung (JRE 1, 1993), S. 209 f., 213 f., der insgesamt Parallelen zwischen Kants diesbezüglichen Überlegungen und seiner Gewaltenteilungslehre aufweist. 52 s. hierzu auch Kants oben zitierte Ausführungen im Frieden (Frieden S. 206 f.), die er dort – anders als zunächst in der Metaphysik – auf die institutionelle und nicht funktionale Gewaltenteilung bezieht.

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Kants Formulierung „Der . . . Gesetzgeber . . . kann also nicht zugleich der Regent sein“ (§ 49, S. 436): mit dem „also“ greift er auf die vorangegangene Erörterung zur funktionalen Separierung zurück und zieht sie mit zur Begründung der personell-institutionellen Teilung heran. Die institutionelle Trennung von gesetzgebender und ausführender Gewalt bedeutet aber nicht, daß keinerlei Berührungspunkte zwischen beiden bestehen, vielmehr geht Kant von der Souveränität der Legislative aus53 und spricht ihr deshalb weitreichende Einflußmöglichkeiten auf die Exekutive zu:54 „Jener [der Gesetzgeber] kann diesem [dem Regenten] auch seine Gewalt nehmen, ihn absetzen, oder seine Verwaltung reformieren, aber ihn nicht strafen (und das bedeutet allein der in England gebräuchliche Ausdruck: der König, d. i. die oberste ausübende Gewalt, kann nicht unrecht tun); denn das wäre wiederum ein Akt der ausübenden Gewalt, der zu oberst das Vermögen, dem Gesetze gemäß zu zwingen, zusteht, die aber doch selbst einem Zwange unterworfen wäre; welches sich widerspricht.“ (§ 49, S. 436)

Die Legislative kann den Regenten, die Spitze der Exekutive, in der Republik absetzen und sogar „seine Verwaltung reformieren“, d. h. in seine ureigenste Sphäre eingreifen,55 da sie hier die oberste Gewalt ist und die Exekutive unter den von ihr erlassenen Gesetzen steht. Anders ist es dagegen im vorrepublikanischen monarchischen Staat, in dem die Souveränität dem Monarchen als Inhaber der Exekutive zukommt.56 Hier besteht ein absolutes Verbot von Eingriffen des Gesetzgebers in den exekutiven Bereich; die Beurteilung der Amtsführung des Regenten steht der Legislative nicht zu, und ein aktives Vorgehen dagegen oder seine Absetzung57 wäre aktiver Widerstand, den Kant für illegitim hält.58 In der Republik ist die Bewertung des Verhaltens der ausführenden durch die gesetzgebende Gewalt und die Absetzung der ersteren dagegen keine Frage des

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s. dazu unten (3). Insofern ist die Annahme Mandts völlig unzutreffend, eine Kontrollfunktion der Legislative gegenüber der Exekutive finde bei Kant keine Erwähnung und das Parlament sei ohne politischen Einfluß auf die Regierung, s. Mandt, H., Traditionselemente (1976), S. 296. 55 Insofern trifft Westphals obige Kritik nicht zu, daß Kants Gewaltenteilungskonzeption der Exekutive den Vorrang gebe, s. Westphal, K. R., Gehorsamspflicht (1998), S. 187 f. und ders., Inadequacy (JRE 1, 1993), S. 271. Dies gilt zwar für den Anmerkungsteil, in dem Kant sich aber mit den bestehenden Verhältnissen auseinandersetzt, nicht dagegen für den Textteil, in dem er das Vorbild darstellt, dem diese Verhältnisse anzupassen sind. Kant postuliert damit nicht den „Despotismus der Exekutive“, sondern vielmehr den Vorrang der Legislative und die Souveränität des Volkes. 56 s. hierzu Kants Ausführungen in den Anmerkungen, etwa § 52, S. 465: „. . . mithin die Herrschergewalt des Monarchen gänzlich verschwand . . .“. s. insbesondere auch AA A, S. 438 f. 57 s. hierzu AA A, S. 440, Fn., in der Kant sie als „Verbrechen des Volks“ bezeichnet. 58 s. hierzu oben D. I. 5. 54

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Widerstandsrechtes, sondern Ausfluß der Souveränität der Legislative59 und Wahrnehmung der ihr rechtlich zustehenden Befugnisse.60 Die Legislative hat aber trotz ihrer Stellung als Souverän kein Recht, die Exekutive für ihre Amtsführung zu bestrafen, da dies die Ausübung von Zwang gegenüber der letzteren bedeuten würde. Diese Funktion obliegt jedoch allein der Exekutive; sie kann als höchste Zwangsgewalt im Staat nicht ihrerseits einem Zwange unterworfen sein, da dies zu einem Widerspruch führen würde. Die Legislative darf also bezüglich der Organisation der Exekutive in ihren Bereich eingreifen, nicht aber bezüglich ihrer Funktion; in diesem Kernbereich muß es bei der Trennung der Sphären bleiben. (b) Stellung der Judikative Auch die Judikative muß von den beiden anderen Gewalten personell-institutionell getrennt sein: „Endlich kann, weder der Staatsherrscher noch der Regierer, richten, sondern nur Richter, als Magisträte, einsetzen.“ (§ 49, S. 436)

Weder Legislative noch Exekutive dürfen die Funktion der Gesetzgebung wahrnehmen; sie dürfen lediglich für die personelle Besetzung sorgen. Damit muß die Funktion der Judikative von einer dritten, von der ersten und zweiten Gewalt unterschiedenen Körperschaft wahrgenommen werden. Kant führt hierfür zwei Begründungen an; zunächst weist er auf folgendes hin: „Da nun ein jeder im Volk diesem Verhältnisse nach (zur Obrigkeit) bloß passiv ist, so würde eine jede jener beiden Gewalten in dem, was sie über den Untertan, im streitigen Falle des Seinen eines jeden, beschließen, ihm unrecht tun können; weil es nicht das Volk selbst täte . . .“ (§ 49, S. 436)

Mit einem ähnlichen Argument begründet Kant auch die Notwendigkeit der Beteiligung einer vom Volk gewählten Jury am Rechtsprechungsprozeß.61 Die Existenz eigener, von der ersten und zweiten Gewalt unabhängiger Rechtsprechungsorgane ist notwendig, da die Mitglieder sowohl der Legislative als auch 59 Angesichts dieser Vormachtstellung der Legislative vermag die folgende Auffassung Jus nicht zu überzeugen: „Durch diese Kontrolle und dieses Gleichgewicht (checks and balances) der Gewalten kann nun dem Mißbrauch der öffentlichen Macht wirksam vorgebeugt werden.“ (s. Ju, G.-J., Menschenrecht (1990), S. 146). Nach Kant besteht zwischen den Gewalten aufgrund des Vorrangs der Legislative weder ein Gleichgewicht, noch können die Exekutive und Judikative die gesetzgebende Gewalt kontrollieren. 60 Insofern kommt der Frage nach dem Widerstandsrecht in einer Republik – wie oben bereits festgestellt – eine viel geringere Bedeutung zu, s. dazu oben D. I. 5. b) (4). 61 s. dazu oben 1. a) (3).

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Exekutive in ihrer amtlichen Funktion kein Teil des Volkes sind – obwohl sie diesem entstammen –, sondern Vertreter der Obrigkeit, des Staates. Damit würde bei der Rechtsprechung durch diese Organe nicht das Volk selbst über die Rechte seiner Mitglieder entscheiden, sondern einem fremden Willen unterworfen werden; Entscheidungsgrundlage wäre nicht der allgemein vereinigte Wille, sondern der Wille der Legislative oder Exekutive, der insofern ein bloß partikularer Wille ist. Dies gilt selbst für die Legislative, die im Gesetzgebungsverfahren Sitz des allgemein vereinigten Willens ist und daher durch ihre Gesetze niemandem Unrecht tun kann (denn „volenti non fit iniuria“, s. § 46, S. 432). Diese Argumentation gilt aber nur für die generellen, für alle geltenden Beschlüsse, d. h. die Gesetze, da hier (in der Idee) ein jeder über alle entscheidet und umgekehrt, der vereinigte Wille also alle Betroffenen einschließt. In den Urteilen als Einzelfallbeschlüssen dagegen stimmt derjenige, über den beschlossen wird, nicht ein, da es sonst kein (streitiges) gerichtliches Verfahren gäbe, so daß ein diesbezüglich von der Legislative artikulierter Wille kein allgemeiner Wille mehr wäre, sondern nur noch ein partikularer. Daher würde die Rechtsprechung sowohl durch die Legislative als auch die Exekutive die Betroffenen einem fremden Willen unterwerfen und sie damit potentiell ihrer Freiheit als „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“ berauben. Die Wahrnehmung dieser staatlichen Funktion durch eine separate Körperschaft – unter Beteiligung der vom Volk gewählten Geschworenen – dient also wie die Separierung der beiden anderen Gewalten der Wahrung der Freiheit der Menschen im Staat. Der Legislative ist die Wahrnehmung der rechtsprechenden Funktion, in der sie nicht allgemein freiheitskompatibel und damit nicht rechtmäßig handeln würde,62 zudem aufgrund ihrer Stellung als Souverän verwehrt: „Es wäre auch unter der Würde des Staatsoberhaupts, den Richter zu spielen, d. i. sich in die Möglichkeit zu versetzen, Unrecht zu tun, und so in den Fall der Appellation . . . zu geraten.“ (§ 49, S. 437)

Kant spricht der Legislative die Souveränität zu, da sie die Gesetze gibt, nach denen die anderen Gewalten sich richten müssen.63 Nur derjenige kann aber für sich beanspruchen, die oberste Gewalt im Staate innezuhaben, dessen Herr-

62 s. § C, S. 337: „Eine jede Handlung ist recht, die . . . mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann . . .“ 63 s. § 45, S. 431: „Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich . . .: die Herrschergewalt (Souveränität), in der [Person] des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt, in der des Regierers (zu Folge dem Gesetz) und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz) . . .“, und § 49, S. 436: „Der Beherrscher des Volks (der Gesetzgeber) kann also nicht zugleich der Regent sein, denn dieser steht unter dem Gesetz, und wird durch dasselbe, folglich von einem anderen, dem Souverän, verpflichtet.“ s. hierzu auch sogleich unten.

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E. Aufbau des Staates

schaft mit jedermanns Freiheit vereinbar, d. h. rechtmäßig ist, da nur eine solche Herrschaft mit Vernunftprinzipien vereinbar ist. So betont Kant: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn, da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht tun können.“ (§ 46, S. 432)

Kant leitet also die Souveränität wie Rousseau64 aus der Unfehlbarkeit des Herrschers ab und nicht umgekehrt – wie Hobbes65 – die Unfehlbarkeit des Herrschers aus der Souveränität.66 Würde die Legislative nun auch die rechtsprechende Funktion übernehmen und damit prinzipiell unrecht handeln, stünde dies im Widerspruch zu ihrer als Staatsoberhaupt erforderlichen Unfehlbarkeit, die ihr in ihrer gesetzgebenden Rolle zukommt.67 Aus dem gleichen Grund wäre auch eine Kontrollfunktion der Judikative gegenüber Akten der Legislative nach Kants Prinzipien unzulässig68 (auch wenn er sich zu dieser Frage nicht explizit äußert), denn damit würde die Rechtsprechung in die Funktion der Legislative eingreifen, der allein es obliegt, Gesetze zu erlassen oder (durch weitere Gesetze) zu ändern oder aufzuheben. Zudem hätte so nicht die Legislative als vermeintlicher Souverän die höchste Gewalt im Staate inne, vielmehr wäre sie den Entscheidungen der Judikative unterworfen, der damit die eigentliche Oberherrschaft zukäme – ein Widerspruch, den

64 s. Rousseau, J. J., Gesellschaft (1762), 1. Buch, Kap. VII, S. 20: „Doch der Staatskörper oder das Souverän kann sich – da es sein Wesen nur aus der Heiligkeit des Vertrags herleitet – niemals, selbst anderen gegenüber, zu etwas verpflichten, was diesen ersten Akt beeinträchtigt, wie etwa einen Teil von sich selbst übereignen oder sich einem anderen Souverän unterwerfen. Die Verletzung des Aktes, durch den es existiert, wäre Selbstvernichtung; und was nichts ist, bringt nichts hervor.“ s. auch 3. Buch, Kap. XV, S. 81: „Die Souveränität . . . besteht wesensmäßig in dem Gemeinwillen . . .“, und 2. Buch, Kap. III, S. 28: „Aus dem Vorhergehenden folgt, daß der Gemeinwille jederzeit recht hat und jederzeit nach dem Gemeinwohl strebt.“ 65 s. Hobbes, Th., Leviathan (1651), Kap. XVIII, S. 140 f.: „Zum vierten kann die Handlung des Herrschers einem Untertan gegenüber kein Unrecht sein, und er kann keines Vergehens beschuldigt werden, denn durch die Staatsgründung ist ein jeder der Urheber aller herrscherlichen Taten und Beschlüsse. Wer aber im Namen eines anderen handelt, kann diesem kein Unrecht zufügen: Wenn durch die Errichtung des Staates ein jeder Urheber aller herrscherlichen Handlungen ist, beklagt man sich folglich über seine eigene Tat, wenn man sich über ein Unrecht seines Herrschers beklagt. Ein jeder kann sich deshalb nur selbst anklagen . . . Zwar mag ein souveräner Herrscher einmal unbillig handeln, von einem Unrecht im eigentlichen Sinne des Wortes kann jedoch nicht gesprochen werden.“ 66 s. Kersting, W., Freiheit (1993), S. 401; Unruh, P., Vernunft (1993), S. 161. 67 Ähnlich auch Kersting, W., Freiheit (1993), S. 409 f., der allerdings stärker auf den rein formalen, hobbesianischen Aspekt abstellt, daß erst der Gesetzgeber definiert, was Recht und Unrecht ist, und daher als Schöpfer des entsprechenden Maßstabs selbst kein Unrecht tun kann. 68 s. auch Kersting, W., Freiheit (1993), S. 407 f., Fn. 130 und Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 166.

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Kant auch im Zusammenhang mit dem Widerstandsrecht moniert.69 Ein Normenkontrollrecht der Judikative ist daher – zumindest bezüglich der von der Legislative erlassenen Akte – mit Kants Konzept nicht vereinbar. (c) Ergebnis Kant geht von einer gewaltenteiligen Struktur des Staates im herkömmlichen Sinne aus, d. h. fordert die personell-institutionelle und nicht nur funktionale Trennung der Gewalten, auch wenn er den Begriff der Gewaltenteilung in seinen veröffentlichten Schriften nicht verwendet.70 Allerdings fordert er keine vollständige Separierung der Gewalten, sondern läßt wie gesehen Eingriffe der souveränen Legislative in den Bereich der Exekutive zu. Seine Postulierung der (personell-institutionellen) Gewaltenteilung findet sich am Ende seiner Erörterung des Verhältnisses der Gewalten zueinander: „Also sind es drei verschiedene Gewalten (potestas legislatoria, executoria, iudiciaria), wodurch der Staat . . . seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält. – In ihrer Vereinigung besteht das Heil des Staats . . .; worunter man nicht das Wohl der Staatsbürger und ihre Glückseligkeit verstehen muß . . .: sondern den Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien versteht, als nach welchem zu streben uns die Vernunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich macht.“ (§ 49, S. 437)

Kant zieht hier die Schlußfolgerung aus seinen Äußerungen zur Notwendigkeit der personell-institutionellen Trennung der Gewalten, da er diese Aussage direkt im Anschluß daran mit der Verbindung „also“ anfügt; damit fordert er hier nicht nur die funktionale Trennung der Gewalten, sondern auch die Verteilung der drei Funktionen auf unterschiedliche Träger.71 Erst durch die Existenz dreier solchermaßen getrennter Gewalten entsteht und perpetuiert sich ein Staat „nach Freiheitsgesetzen“; die Teilung der Gewalten ist nötig zur größtmöglichen Verrechtlichung der innerstaatlichen Verhältnisse, zur weitestgehenden Annäherung an die respublica noumenon. Im Blickpunkt steht dabei nicht nur die Freiheit der Menschen im Staat, sondern auch die des Staates selbst; die Teilung der Gewalten schützt den Staat und seine Organe vor Usurpationen durch die Amtsträger.

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s. dazu oben D. I. 5. b) (2). s. Ludwig, B., Rechtslehre (1988), S. 160, Fn. 127. 71 Wenn Kant im zweiten Teil des Zitates die Vereinigung der drei Gewalten fordert, kann er nach allem bisher Gesagten nicht ihre funktionale oder personelle Vereinigung in einer Hand meinen, sondern nur ihr Zusammenspiel, das er in seiner Erörterung ihres Verhältnisses zueinander in § 48 als Beiordnung bezeichnet. Auch dort betont Kant, daß nur das Zusammenwirken der drei Gewalten unter Beachtung ihrer (dort noch funktionalen) Trennung „jedem Untertan sein Recht“ erteilt (§ 48, S. 435), d. h. zur Existenz eines rechtmäßigen und nicht nur effektiven Staates führt. 70

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(3) Verortung der Souveränität Kants Aussagen zum Sitz der Souveränität, mit denen er gleichzeitig das Verhältnis der Gewalten zueinander näher bestimmt, scheinen sich auf den ersten Blick zu widersprechen. Einerseits geht er von der Gleichwertigkeit der drei Gewalten aus: „Die drei Gewalten im Staat, die aus dem Begriff eines gemeinen Wesens überhaupt . . . hervorgehen, sind nur so viel Verhältnisse des vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden, Volkswillens und eine reine Idee von einem Staatsoberhaupt . . .“ (§ 51, S. 461)

Nach dieser Aussage machen die Gewalten zusammen das (noumenale) Staatsoberhaupt aus, da sich in jeder von ihnen der allgemein vereinigte Wille des Volkes äußert; sie sind also gemeinsam souverän. Entsprechend bestimmt Kant sie als „einander . . . beigeordnet“ (§ 48, S. 434). Ähnlich äußert er sich auch an anderer Stelle: „Alle jene drei Gewalten im Staate . . . enthalten das Verhältnis eines allgemeinen Oberhaupts (der, nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein anderer als das vereinigte Volk selbst sein kann) zu der vereinzelten Menge ebendesselben als Untertans . . .“ (§ 47, S. 434)

Auch hier geht Kant davon aus, daß das Herrschaftsverhältnis „Staatsoberhaupt – Volk“ in allen drei Gewalten zum Ausdruck kommt, sie also alle an der Souveränität teilhaben. Im Gegensatz dazu bestimmt er jedoch an anderer Stelle nur eine der Gewalten, nämlich die Legislative, als souverän: „Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): die Herrschergewalt (Souveränität), in der des Gesetzgebers, . . .“ (§ 45, S. 431)

Zwar geht er hier – wie in den obigen Zitaten – davon aus, daß sich in allen drei Gewalten der allgemein vereinigte Volkswille äußert, dennoch weist er der Gesetzgebung eine gegenüber den anderen Gewalten herausgehobene Stellung zu und bestimmt allein sie zum Staatsoberhaupt.72 Auch an anderer Stelle betont er diese übergeordnete Stellung der Legislative: „Der Beherrscher des Volks (der Gesetzgeber) . . .“ (§ 49, S. 436) und nimmt so eine Gewichtung der Gewalten vor.

72 s. hierzu auch Luf, G., Freiheit (1978), S. 171 f. Insofern trifft es nicht zu, wenn Aufricht unter Berufung auf Hatschek davon ausgeht, daß Kant die drei Gewalten „als einander vollkommen gleichwertig behandelt“, s. Aufricht, H., Gewalten (ZöR 9, 1930), S. 189. Auch Hallers Annahme, daß Kant die „Souveränität aber nur dem durch das Recht vereinigten Ganzen zuspricht, welches aber in keinem seiner handelnden Teile souverän auftreten kann“, vermag daher nicht zu überzeugen, s. Haller, B., Repräsentation (1987), S. 208 f.

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Diese gegenläufigen Aussagen sind aber trotz ihrer scheinbaren Widersprüchlichkeit miteinander vereinbar; ihre fehlende Kongruenz läßt sich mit einem Perspektivenwechsel erklären, hinter dem als verbindendes Glied Kants Kriterium für die Zuweisung der Souveränität steht. Kant geht davon aus, daß nur die Instanz souverän sein kann, deren Herrschaft mit jedermanns Freiheit vereinbar ist, da die Herrschaft nur unter dieser Bedingung rechtmäßig und damit vernunftgemäß ist. Diese Qualifikation der allseitigen Freiheitskompatibilität kommt nur dem allgemein vereinigten Willen des Volkes zu, da nur in diesem jeder Betroffene der Herrschaft zustimmt und damit (auch) seinem eigenen und nicht einem fremden Willen unterworfen ist. Daher betont Kant im obigen Zitat aus § 47, daß „nach Freiheitsgesetzen“ nur das vereinigte Volk souverän sein kann. Da nun jegliches staatliches Handeln rechtmäßig sein muß, muß sich der Wille des vereinigten Volkes in allen staatlichen Akten und damit auch in allen drei Gewalten äußern. Insofern haben im Verhältnis „Staat – Bürger“ alle Gewalten an der dem allgemein vereinigten Willen innewohnenden Souveränität teil; in dieser vertikalen Perspektive kommt dem Staat in seiner Gesamtheit die Herrschergewalt zu. Die eine staatliche Obergewalt tritt dem Bürger in jeder der drei Gewalten gegenüber.73 In horizontaler Hinsicht dagegen, im Verhältnis der drei Gewalten zueinander, kommt der Legislative nach Kants Verständnis die höchste Gewalt zu, da sie die Quelle allen Rechts ist; sie legt fest, was Recht und Unrecht ist und gibt so die Parameter des gesamten staatlichen Lebens vor: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn, da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht tun können.“ (§ 46, S. 432)

Aufgrund dieser Stellung als Kreationsorgan des Rechts müssen die Akte der Legislative eo ipso rechtmäßig sein. Daher muß sich der allgemein vereinigte Wille unmittelbar in ihr und ihnen äußern, die gesetzgebende Gewalt muß – wie oben gesehen – direkt durch die Zustimmung des Volkes legitimiert sein, d. h. unmittelbar von diesem gewählt werden. Die beiden anderen Gewalten üben ihre Funktion dagegen auf der Basis der von der Legislative erlassenen Gesetze aus; die Exekutive handelt „zu Folge dem Gesetz“, und der Rechtsprechung obliegt die „Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz“ (§ 45, S. 431). Die zweite und dritte Gewalt sind also den Gesetzen und damit auch dem Gesetzgeber unterstellt, da sie nach seinen Maßgaben handeln müssen.74 Zwar müssen auch sie auf dem allgemein vereinigten Volkswillen basieren, aber wegen ihrer den Gesetzen untergeordne73

s. auch Kersting, W., Freiheit (1993), S. 395. s. auch § 49, S. 436: „Der Beherrscher des Volks (der Gesetzgeber) kann also nicht zugleich der Regent sein, denn dieser steht unter dem Gesetz, und wird durch dasselbe, folglich von einem anderen, dem Souverän, verpflichtet.“ 74

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ten Stellung reicht die indirekte Fundierung, d. h. die mittelbare Wahl durch das Volk aus; sie können durch eine der anderen Gewalten eingesetzt werden. Die Exekutive und Judikative sind im Vergleich mit der gesetzgebenden Gewalt also in zweifacher Hinsicht nachrangig: zum einen handeln sie nach den Vorgaben der letzteren, zum anderen sind sie (als Folge daraus) weniger direkt legitimiert als die Legislative. Der (scheinbare) Widerspruch in Kants Ausführungen zum Verhältnis der drei Gewalten zueinander und zum Sitz der Souveränität ergibt sich damit daraus, daß in horizontaler Perspektive der Legislative eine gegenüber den anderen Gewalten herausgehobene Stellung zukommt, während sich in vertikaler Hinsicht, aus Sicht der Bürger, in allen drei Gewalten die eine Staatsgewalt äußert. 2. Im Federalist Die Autoren des Federalist gehen wie die von ihnen verteidigte Verfassung der Vereinigten Staaten von einer funktionalen Untergliederung der staatlichen Macht in einen gesetzgebenden, ausführenden und rechtsprechenden Zweig und von einer Verteilung dieser Funktionen auf drei unterschiedliche Organe aus. So verleiht Art. 1 Abschn. 1 der Verfassung die legislative Kompetenz dem Kongreß, der aus dem Senat und dem Repräsentantenhaus besteht, während Art. 2 Abschn. 1 Abs. 1 die exekutive Gewalt dem Präsidenten überträgt und Art. 3 Abschn. 1 die judikative Gewalt den Bundesgerichten zuspricht. Bei dieser scheinbar herkömmlichen Aufteilung handelt es sich jedoch angesichts der historischen Situation keineswegs um eine Selbstverständlichkeit, vielmehr war dieser Aufbau höchst umstritten. Denn unter den zur Zeit der Verfassungsdebatte geltenden Konföderationsartikeln bildeten die Vereinigten Staaten lediglich einen Staatenbund (s. vor allem Art. II und III der Konföderationsartikel), d. h. ein bloßes Bündnis der Einzelstaaten ohne Staatscharakter, in dem der Zentralregierung nur wenige enumerierte Aufgaben übertragen wurden; die große Mehrheit der staatlichen Kompetenzen verblieb gemäß Art. II bei den Einzelstaaten. Die wenigen der Zentralgewalt zustehenden Aufgaben wurden von einem einzigen Organ, dem Konföderationskongreß, wahrgenommen, der damit sowohl legislative als auch exekutive und judikative Befugnisse hatte.75 Im Gegensatz dazu schuf die neue Verfassung einen Bundesstaat76, in dem der Union weitaus umfangreichere Kompetenzen und mehr Macht zustanden, die von den oben genannten drei Gewalten wahrgenommen wurden.

75 Diese mußte er jedoch aus Effizienzgründen delegieren; s. hierzu und zur entsprechenden Entwicklung exekutiver Ämter und der Einsetzung von Marinegerichten unter den Konföderationsartikeln Fisher, L., Allocation (1989), S. 19 f. 76 Zur damaligen und heutigen Terminologie s. unten III. 2. c).

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Sowohl die Erweiterung der Befugnisse als auch ihre Wahrnehmung durch drei verschiedene Organe sahen sich im Verfassungskonvent und in der nachfolgenden öffentlichen Debatte scharfer Kritik ausgesetzt. Während im Konvent zwar ein Konsens über die Notwendigkeit einer gewissen Stärkung des Bundes bestand, hatte sich ein Teil der Delegierten anfangs vehement gegen die Übertragung so weitreichender Kompetenzen und die Einrichtung dreier Bundesorgane ausgesprochen und dafür plädiert, lediglich die Befugnisse des bestehenden Kongresses in weit moderaterem Maße zu erweitern. Noch stärker wurde der Entwurf in der Öffentlichkeit kritisiert, da hier nicht einmal ein Grundkonsens über die Notwendigkeit von Reformen bestand, sondern manche Anti-Federalists jegliche Änderungen der bestehenden Machtverhältnisse ablehnten und eine Beibehaltung des status quo forderten.77 Die Befürworter der Verfassung dagegen gingen davon aus, daß nur eine starke, mit staatlicher Gewalt ausgestattete und durch drei Gewalten agierende Union die Erfüllung der Staatszwecke sichern könne.78 a) Machtkonstituierende Funktion der drei Gewalten Denn die Erfahrungen unter den Konföderationsartikeln hatten gezeigt, daß der Kongreß zu schwach war, diese Aufgaben wahrzunehmen. So standen die zur Rechtssicherung und Gemeinwohlförderung nötigen Kompetenzen nicht ihm, sondern den Einzelstaaten zu, und mangels eines Kontrollmittels konnte er sie nicht davon abhalten, faktiöse, ungerechte Gesetze zu erlassen oder sich durch handelsrechtliche Bestimmungen gegenseitig Schaden zuzufügen.79 Zudem konnte er nicht einmal in seinem Kompetenzbereich die von ihm erlassenen Gesetze zwangsweise durchsetzen. Diese Schwäche der Union80 sollte durch die Einführung des neuen politischen Systems behoben werden; die Etablierung der drei Gewalten sollte nach dem Willen der Verfassungsbefürworter der Schaffung eines effektiven und durchsetzungsfähigen Staates anstelle des bisherigen Bündnisses ohne Staatscharakter dienen.81 Auch die Autoren des Federalist betonen, daß nur ein star77

s. oben B. II. 4. c). Dabei erwarteten die Verfassungsväter nicht die unmittelbare Erfüllung aller staatlichen Aufgaben von den Vereinigten Staaten, vielmehr sahen sie die Einzelstaaten primär für die Sicherung der Privatrechte und der Gerechtigkeit verantwortlich. Dem Bund sollte aber eine Kontrollfunktion zukommen für den Fall, daß die Einzelstaaten ihre Aufgabe nicht ordnungsgemäß erfüllten. s. dazu unten III. 2., Fn. 478. 79 Die Bedeutung, die die Befugnis der Union zur Regulierung des zwischenstaatlichen und internationalen Handels für das Gemeinwohl hat, legt Epstein, D. F., Theory (1984), S. 164 f., dar. 80 s. dazu oben B. II. 4. a) (1). 81 s. hierzu Diamond, M., Separation (1978), S. 66 f.; Wills, G., Explaining (1981), S. 109 f., der den Gesichtspunkt der effizienten Ausgestaltung der Staatsgewalt als 78

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E. Aufbau des Staates

ker, mächtiger Staat in der Lage ist, die ihm obliegenden Aufgaben zu erfüllen. So weist Hamilton bereits im ersten Artikel darauf hin, „daß die Stärke eines politischen Systems für die Sicherung der Freiheit unerläßlich ist, . . . daß beider Interessen nie auseinander dividiert werden können und ein gefährliches Machtstreben sich eher hinter der falschen Maske besonderen Eifers für die Rechte des Volkes verbirgt, als hinter dem eher abschreckenden Erscheinungsbild des Eifers für Festigkeit und Effizienz des politischen Systems. Die Geschichte lehrt uns, daß ersterer sich als der leichtere Weg zur Einführung des Despotismus erwiesen hat als letzterer . . .“ (Nr. 1, S. 3)

Auch für den zweiten Staatszweck, die Förderung des Gemeinwohls, gilt, „daß für Wohl und Wohlstand in der Gemeinschaft ein Mehr an Kraft im Regierungssystem entscheidend ist.“ (Nr. 26, S. 150). Die Stärke (energy) des Regierungssystems ist dabei in einem aus mehreren Staaten gebildeten System von besonderer Bedeutung, da ein solches Regierungssystem eher zum Ungehorsam der Mitgliedstaaten als zur Tyrannei der Zentralmacht neigt, wie die Autoren in Nr. 17 bis 20 ausführlich und anhand zahlreicher historischer Beispiele darlegen.82 Den Verfassungsvätern stand die machtkonstituierende Wirkung der staatlichen Gewalten deutlich vor Augen; ihnen war bewußt, daß sie mit ihrem Entwurf nicht lediglich die Konföderationsartikel reformiert, sondern ein gänzlich neues politisches System geschaffen hatten. Auch die Verfasser des Federalist betonen die Notwendigkeit der Erzeugung der staatlichen Macht: „Die mühsamste Aufgabe wird die richtige Konstituierung aller Teile des Regierungssystems sein . . .“ (Nr. 53, S. 327). Die richtige Ausgestaltung der drei Gewalten sollte dabei nach dem Willen der Verfassungsväter nicht nur für Stärke sorgen, sondern zugleich auch ein stabiles Regierungssystem mit einer verläßlichen und beständigen Gesetzgebung schaffen, die in den Einzelstaaten während der Kritischen Periode nicht gewährleistet gewesen war. Die Verfasser der Essays betonen, daß sowohl Stärke als auch Stabilität unabdingbare Komponenten der „guten“ staatlichen Herrschaft (good government) sind: „Eine der großen Schwierigkeiten, denen sich der Konvent gegenübersah, lag gewiß darin, die notwendige Stabilität und Stärke des Regierungssystems mit der unantastbaren Achtung, wie sie Freiheit und republikanischer Regierungsform gebühren, in Einklang zu bringen . . . [Die Stärke eines Regierungssystems ist unabdingbar für die Sicherheit vor Bedrohungen von außen und innen und für den schnellen und erfolgreichen Vollzug der Gesetze, die zur Definition eines guten Regierungssy-

efficiency theory bezeichnet und von der checking theory unterscheidet, die sich mit der Einschränkung der staatlichen Gewalt beschäftigt. 82 s. vor allem Madisons Kernaussage, „daß föderative Körperschaften eher zur Anarchie ihrer Mitglieder als zur Tyrannei ihrer Spitze neigen.“ (Nr. 18, S. 105)

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stems dazugehören.83] Die Stabilität des Regierungssystems ist ausschlaggebend für den Rang als Nation und für die damit verbundenen Vorteile, ebenso wie für die Zufriedenheit und Zuversicht der Menschen, die zu den Hauptwohltaten einer Bürgergesellschaft [civil society] zählen. Eine uneinheitliche und unbeständige Gesetzgebung ist nicht nur ein Übel an sich, sondern vor allem dem Volk verhaßt.“ (Nr. 37, S. 209 f.)84

Welche Verfassungsbestimmungen zu einer Stärkung der Vereinigten Staaten führen werden, erörtern die Autoren des Federalist unter zwei Aspekten. Im ersten Teil der Essays (Nr. 1 bis 46) befassen sie sich mit dem Verhältnis der Union zu den Einzelstaaten und den dem Bund in seiner Gesamtheit übertragenen Kompetenzen, ohne zwischen den drei Gewalten zu differenzieren; 85 sie sehen die Frage der Machtverteilung hier in vertikaler Hinsicht. Im zweiten Teil (Nr. 42 bis 83) gehen sie auf die innere Struktur des Bundes und das Verhältnis der drei Gewalten zueinander ein und betrachten die Frage damit in horizontaler Perspektive.86 Hier legen die Verfasser detailliert dar, welche Merkmale der einzelnen Gewalten zur Stärke und Stabilität des Regierungssystems beitragen werden. (1) Legislative Der Legislative kommt vor allem durch den Umfang ihrer Befugnisse eine größere Machtfülle zu, während ihre strukturelle Ausgestaltung zu einer Stabilisierung dieser Gewalt und damit des politischen Prozesses insgesamt führt.

83 Adams übersetzt diesen Satz wie folgt: „Auf die Stärke eines Regierungssystems kommt es wesentlich bei einer Bedrohung von innen und außen an, sowie auf den schnellen und erfolgreichen Vollzug der Gesetze, die seine Güte im Kern geradezu definieren.“ s. aber den Originaltext: „Energy in government is essential to that security against external and internal danger and to that prompt and salutary execution of the laws which enter into the very definition of good government.“ (Nr. 37, S. 194) 84 An anderer Stelle fassen die Autoren den Gesichtspunkt der Stabilität mit unter den Aspekt der Kraft (energy): „Die Amtsdauer ist als zweite Voraussetzung für die Stärke [energy] der Exekutivgewalt genannt worden. Das gilt in bezug auf zwei Dinge: auf die persönliche Standfestigkeit des höchsten Amtsinhabers . . . und auf die Stabilität des Regierungs- und Verwaltungssystems, das unter seiner Leitung eingeführt worden ist.“ (Nr. 71, S. 433) Auch hier zeigt sich die enge Verknüpfung beider Faktoren. 85 Eine Zuordnung der Befugnisse zu einer der Gewalten geschieht allenfalls am Rande, s. etwa Nr. 24, S. 138: „Vielmehr soll die alleinige Vollmacht, Truppen auszuheben, bei der Legislative, nicht bei der Exekutive liegen . . .“ 86 s. auch Madisons Hinweis in Nr. 47, S. 291: „Nachdem wir den allgemeinen Rahmen des vorgeschlagenen Regierungssystems und die Gesamtheit der seinen Verfassungsorganen zugedachten Kompetenzen behandelt haben, gehe ich nun dazu über, seine spezifische Struktur und die Verteilung der Gesamtheit der Macht auf seine konstitutiven Teile zu analysieren.“

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E. Aufbau des Staates

(a) Funktionale Stärkung Die Verfassung erweitert den Handlungsspielraum der Legislative gegenüber dem des Konföderationskongresses in erheblichem Maße. Letzterem wurden in Art. IX der Konföderationsartikel vor allem außenpolitische und militärische Befugnisse87 und das Recht zur abschließenden Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Einzelstaaten übertragen; alle anderen Befugnisse verblieben gemäß Art. II bei den Staaten. Insbesondere hatte der Kongreß – obwohl er über Krieg und Frieden entscheiden konnte – kein Recht, selbst Truppen auszuheben oder Steuern zu militärischen (oder sonstigen) Zwecken einzuziehen; er konnte gemäß Art. VII und VIII lediglich Soldaten und Gelder von den Einzelstaaten anfordern. (aa) Geltungsbereich der Gesetze Den hinter diesen Regelungen stehenden Grundsatz stellen die Autoren des Federalist als den wichtigsten und grundlegendsten Mangel der Konföderationsartikel heraus:88 „Der große und grundsätzliche Fehler in der Konstruktion der bestehenden Konföderation ist das Prinzip der Gesetzgebung für Staaten oder politische Systeme in ihrer korporativen oder kollektiven Eigenschaft und nicht für Individuen, aus denen sie sich zusammensetzen. . . . Mit Ausnahme des Schlüssels für die Finanzumlage unter den Staaten haben die Vereinigten Staaten [im Konföderationskongreß] unbegrenzte Entscheidungsfreiheit, Soldaten und Geld bei den Staaten anzufordern. Aber sie sind nicht befugt, per Gesetz Geld oder Militärdienst direkt von den einzelnen Bürgern Amerikas einzufordern. Die Folge davon ist, daß ihre Beschlüsse in diesen Bereichen zwar verfassungsrechtlich bindende Gesetze für die Mitgliedsstaaten der Union sind, praktisch jedoch als bloße Empfehlungen von den Staaten nach Belieben befolgt oder ignoriert werden.“ (Nr. 15, S. 83 f.)

Die vom Konföderationskongreß erlassenen Gesetze galten nicht direkt für die Bürger der einzelnen Staaten, sondern lediglich für die Staaten als politische Körperschaften, bedurften zur Wirksamkeit also noch der Umsetzung durch die letzteren. Damit konnten die Staaten die vom Konföderationskongreß geplanten Maßnahmen aber durch bloßes Unterlassen torpedieren: „Wenn es der Zwischenschaltung der Einzelstaatslegislativen bedarf, um eine Maßnahme der Union in Kraft zu setzen, dann brauchen diese entweder nicht zu handeln, oder ausweichend zu handeln, und die Maßnahme ist zu Fall gebracht.“ (Nr. 16, S. 93)89 87 So das Recht, über Krieg und Frieden zu entscheiden, Gesandte zu entsenden und zu empfangen, Verträge abzuschließen, das Prisenrecht zu regeln, Kaperbriefe auszustellen und in Fragen der Seegerichtsbarkeit Gerichte einzurichten. 88 Die Bedeutung, die sie diesem Thema zumessen, zeigt sich auch daran, daß sie ihm sechs Essays widmen (Nr. 15 bis 20).

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Die Gefahr eines solchen gemeinschaftsschädlichen Verhaltens der Mitgliedsstaaten ist nach Ansicht der Autoren des Federalist wegen der egoistischen Grunddisposition der Menschen stets zu befürchten. Die eigensüchtige Neigung potenziert sich in Menschenmengen noch, weil der einzelne hier weniger stark in der Verantwortung steht und diese der Gruppe anlasten kann,90 und dieser gruppendynamische Effekt zeigt auch in staatlichen Institutionen und selbst Staaten seine Wirkung, so daß diese in einem Bündnis dazu tendieren, das eigene Interesse über das des Bündnisses zu stellen.91 Daher müssen Staatenverbindungen aus dem gleichen Grund, aus dem ein Einzelstaat dazu befugt ist, zur zwangsweisen Durchsetzung ihrer Gesetze imstande sein. Allerdings ist die Verleihung von Zwangsmitteln an einen Staatenbund problematisch, da seine Gesetze gegenüber den Einzelstaaten nur mit militärischer Gewalt durchgesetzt werden können: „Eine solche Strafe, ganz gleich wie sie aussieht, kann nur auf zwei Arten vollzogen werden: durch Einschaltung von Gerichten und Justizbehörden oder durch militärische Gewalt; durch staatlichen Zwang oder Waffengewalt. Ersterer kann offenkundig nur gegen Menschen eingesetzt werden, letztere richtet sich notwendigerweise gegen politische Körperschaften, Gemeinwesen oder Staaten.“ (Nr. 15, S. 85)

Während der Staat seine Gesetze gegenüber unwilligen Bürgern auf dem Verwaltungswege durchsetzen und Verstöße auf dem gerichtlichen Wege sanktionieren kann, bleibt einem Staatenbund beim Widerstand der Mitgliedsstaaten letztlich nur der Rückgriff auf die Waffen. Ein solcher militärischer Einsatz würde jedoch einem Krieg gleichkommen:

89 Diese Möglichkeit der passiven Vereitelung von Maßnahmen ist hinsichtlich der Truppenaufstellung und Steuereinziehung besonders bedenklich, da es sich bei der Landesverteidigung um eine der Hauptaufgaben des Staates handelt (s. hierzu Nr. 41, S. 242), die ohne die Einziehung von Soldaten und die zur Unterhaltung des Militärs nötigen Geldmittel nicht erfüllt werden kann (s. Nr. 41, S. 248). 90 „Warum werden denn überhaupt Regierungssysteme errichtet? Weil sich die Menschen mit ihren Leidenschaften den Geboten von Vernunft und Gerechtigkeit nicht ohne Zwang beugen. Hat man feststellen können, daß menschliche Institutionen rechtschaffener und weniger egoistisch handeln als Individuen? Genau das Gegenteil haben gute Beobachter des menschlichen Verhaltens immer wieder festgestellt . . . Man muß um den guten Ruf weniger besorgt sein, wenn die Infamie der bösen Tat auf mehrere Menschen verteilt werden kann und nicht ein einzelner dafür verantwortlich ist. Der Geist der Faktion, dessen Gift die Beratungen jeder Institution oder Gruppe von Menschen bedroht, wird die Beteiligten häufig zu unerlaubten Handlungen und Auswüchsen veranlassen, über die sie als Privatpersonen vor Scham erröten würden.“ (Nr. 15, S. 86) 91 s. hierzu Epstein, D. F., Theory (1984), S. 36 f. Dies hatten auch die Erfahrungen unter den Konföderationsartikeln belegt; wie oben dargelegt, sank während der wirtschaftlichen Krise nach Kriegsende die Bereitschaft und Fähigkeit der Staaten zur Steuererhebung, und einige Staaten stellten ihre Zahlungen an den Kongreß schließlich ganz ein, s. oben B. II. 4. a) (1).

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„In einem Bündnis, in dem die allen gemeinsame Machtbefugnis auf die kollektiven Körperschaften der Gemeinwesen, aus denen es sich zusammensetzt, beschränkt ist, muß jeder Gesetzesbruch zum Kriegszustand führen. Der Vollzug durch das Militär wird zwangsläufig zum einzigen Instrument, den zivilen Gehorsam herzustellen. Ein derartiger Zustand verdient mit Sicherheit nicht den Namen Regierungssystem [government], und kein kluger Mann würde ihm freiwillig sein Glück anvertrauen.“ (Nr. 15, S. 86)

Ein derart konstituiertes System schafft entgegen der mit dem Zusammenschluß verbundenen Absicht keinen rechtlichen Zustand zwischen den Staaten, sondern vielmehr einen latenten Kriegszustand;92 statt den Frieden zu fördern, institutionalisiert es die potentielle Anwendung von Gewalt zwischen den Staaten. Der tatsächliche Ausbruch von Feindseligkeiten aber würde voraussichtlich zum Zerfall des Bündnisses führen: „Ist das Schwert erst gezogen, dann gelten für die Leidenschaften der Menschen keine Schranken der Mäßigung mehr. Die Einflüsterungen verletzten Stolzes, die Aufwiegelung des einmal gereizten Zorns würden die Staaten, gegen die die Waffen der Union gerichtet wären, zu jedem denkbaren Extrem verleiten, nur um die Beleidigung zu rächen oder die Schmach der Unterwerfung zu vermeiden. Schon der erste Krieg dieser Art würde sehr wahrscheinlich mit der Auflösung der Union enden.“ (Nr. 16, S. 90 f.)93

Damit steht ein Staatenbund vor einem grundsätzlichen Dilemma: einerseits müssen seine Gesetze zwangsweise durchsetzbar sein, andererseits zerstört er sich mit ihrer tatsächlichen Erzwingung aber selbst. Eine solche Staatenverbindung trägt den Keim ihrer Auflösung schon in sich. Um dieses Problem für die Vereinigten Staaten zu lösen, war es notwendig, den Staatenbund in einen Bundesstaat umzuwandeln und die Gesetze nicht mehr auf die Einzelstaaten, sondern direkt auf die Bürger zu beziehen: „Sind wir jedoch nicht bereit, uns in diese gefährliche Lage zu begeben, . . . dann müssen wir in unseren Entwurf die Bestandteile einbauen, die den charakteristischen Unterschied zwischen einem Bündnis und einem Regierungssystem ausmachen: Wir müssen die Machtbefugnis der Union auf die Personen der Bürger ausdehnen – die die einzigen geeigneten Adressaten von Regierung sind.“ (Nr. 15, S. 85)

Dieser Weg wurde mit der neuen Verfassung beschritten.94 92

s. Epstein, D. F., Theory (1984), S. 39. s. auch Nr. 16, S. 89: „Dieses außergewöhnliche Prinzip [der Gesetzgebung für Staaten] kann man mit Fug und Recht den Vater der Anarchie nennen: es hat natürlich und zwangsläufig zu Gesetzesverletzungen der Mitglieder der Union geführt. Wann immer es aber dazu kommt, ist das einzige verfassungsmäßige Gegenmittel Gewalt und die unmittelbare Folge von Gewalt ist der Bürgerkrieg.“ 94 Sie spricht dem Kongreß etwa in Art. 1 Abschn. 8 Abs. 1 das Recht zu, „Steuern, Zölle, Abgaben und Akzisen aufzuerlegen und einzuziehen, um für die Erfüllung der Zahlungsverpflichtungen, für die Landesverteidigung und die allgemeine Wohlfahrt der Vereinigten Staaten zu sorgen“, und Abs. 12 und 13 der Vorschrift verleihen dem 93

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(bb) Supreme law of the land-Klausel Da sich die Gesetze des Kongresses unter der Verfassung direkt auf die Bürger beziehen und keiner einzelstaatlichen Umsetzung bedürfen, kann es zu Konflikten mit der Gesetzgebung der Staaten kommen. Die Frage, in welchem Verhältnis das Bundesrecht zum Landesrecht steht und was im Fall voneinander abweichender Regelungen gilt, klärt Art. 6 Abs. 2 der Verfassung, der die Vorrangstellung der vom Bund erlassenen Gesetze statuiert95 (sogenannte supreme law of the land- oder supremacy-Klausel). Die Autoren des Federalist halten diese Bestimmung für unerläßlich, da die Alternative, die Suprematie der Einzelstaaten, alle gegenüber den Konföderationsartikeln vorgesehenen Stärkungen der Bundeslegislative zunichte machen würde. So verweist Madison in Nr. 44 auf „diesen Abschnitt . . ., ohne den die Verfassung einen offensichtlichen und fundamentalen Fehler aufweisen würde. Um dies voll und ganz nachvollziehen zu können, brauchen wir nur einen Augenblick lang anzunehmen, die Suprematie der Einzelstaatsverfassungen sei durch eine Schutzklausel zu ihren Gunsten vollständig erhalten geblieben. Erstens wären damit alle im vorliegenden Verfassungsentwurf enthaltenen Vollmachten, soweit sie über die in den Konföderationsartikeln aufgezählten hinausgehen, annulliert gewesen, da diese Verfassungen den Einzelstaatslegislativen die absolute Souveränität in allen Fällen übertragen, die nicht durch die bestehenden Konföderationsartikel ausgenommen sind. Damit wäre der neue Kongreß auf denselben ohnmächtigen Zustand reduziert worden wie sein Vorgänger.“ (Nr. 44, S. 276)

Bei einer Höherrangigkeit des einzelstaatlichen Rechts würden die Bundesgesetze im Kollisionsfall nur Wirksamkeit erlangen, wenn die Einzelstaaten ihre Gesetze entsprechend ändern würden; ihre Geltung wäre also wiederum vom Tätigwerden der Staaten und einer Adaption ins Landesrecht abhängig. Allerdings wären die Staaten unter diesen Umständen rechtlich nicht zur Umsetzung verpflichtet, wie sie es unter den Articles of Confederation waren, vielmehr stünde ihnen die Adaption oder Ignorierung der Bundesgesetze völlig frei. Damit würde den Bundesgesetzen der Verpflichtungscharakter ganz fehlen. Sie wären nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich keine Gesetze, sondern bloße Empfehlungen an die Staaten, wie Hamilton in seiner Verteidigung von Art. 6 Abs. 2 betont:

Kongreß die Befugnis, Armeen und eine Marine zu bilden und zu unterhalten. Art. VIII der Konföderationsartikel bestimmte demgegenüber: „The taxes for paying that proportion shall be laid and levied by the authority and direction of the legislatures of the several States . . .“ (meine Hervorhebungen), und Art. VII traf folgende Regelung: „When land forces are raised by any State for the common defence, . . .“ (meine Hervorhebungen). 95 Er entspricht Art. 31 GG, der festlegt, daß Bundesrecht Landesrecht bricht, s. Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 111.

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„Wenn mehrere politische Vereinigungen einer größeren politischen Gemeinschaft beitreten, müssen die von letzterer verabschiedeten Gesetze . . . zwangsläufig den höchsten Rang für die einzelnen Gemeinschaften und die Individuen haben, aus denen sie sich zusammensetzt. Wäre es anders, so handelte es sich um einen bloßen Vertrag, der vom guten Glauben der Partner abhinge, nicht um ein Regierungssystem, was nur ein anderes Wort für politische Gewalt und Suprematie ist.“ (Nr. 33, S. 186 f.)

Aus diesen Gründen wäre die Alternative zur supremacy-Klausel, die Vorrangstellung der Einzelstaaten, mit allen politischen Grundsätzen unvereinbar: „Und zu guter Letzt, die Welt bekäme zum ersten Mal ein politisches System geboten, das auf der Umkehrung der fundamentalen Grundsätze allen Regierens begründet wäre: Sie sähe die Machtbefugnis der Gesamtgesellschaft überall der Machtbefugnis ihrer Teile untergeordnet; sie sähe ein Monstrum, dessen Kopf den Befehlen der Glieder folgte.“ (Nr. 44, S. 277)

(cc) Enumerierte Kompetenzen Neben den beiden wichtigen Rechten zur Steuererhebung und Aufstellung des Militärs96 spricht die Verfassung dem Kongreß in Art. 1 Abschn. 8 verschiedene weitere Befugnisse zu, die zum Teil der Ergänzung und Vervollständigung dieser beiden Rechte dienen. So wird die Steuerkompetenz durch weitere fiskalische Befugnisse ergänzt,97 etwa das Recht, auf Rechnung der Vereinigten Staaten Kredit aufzunehmen (Abs. 2), Münzen zu prägen und ihren Wert festzusetzen (Abs. 5) und Strafbestimmungen für Geldfälschung zu erlassen (Abs. 6). Als weitere militärische Befugnisse finden sich unter anderem das Recht des Kongresses, Krieg zu erklären (Abs. 11), Bestimmungen für die Leitung der Streitkräfte zu erlassen (Abs. 14), und bestimmte Befugnisse bezüglich der Miliz der Einzelstaaten (Abs. 15 und 16).98 Ein dritter wichtiger Komplex betrifft die Befugnis des Kongresses zur Regulierung des zwischenstaatlichen und internationalen Handels.99 Die mangelnde Übertragung dieser Kompetenz auf den Konföderationskongreß hatte zur Wirtschaftskrise beigetragen, die nach dem Ende des Unabhängigkeitskrieges ein96 Diesen Befugnissen widmen die Autoren des Federalist im ersten Teil der Essays jeweils sieben Aufsätze (dem Heereswesen und der Miliz Nr. 23 bis 29; der Steuerkompetenz Nr. 30 bis 36) und damit beiden Kompetenzen zusammen fast ein Sechstel der gesamten Aufsatzserie. 97 s. Corwin, E. S., Constitution (1948), S. 30. 98 Daneben hat gemäß Art. 2 Abschn. 2 Abs. 1 Hs. 1 der Verfassung auch der Präsident militärische Kompetenzen: er ist Oberbefehlshaber der Armee und Flotte der Vereinigten Staaten und der Miliz der Einzelstaaten, wenn diese zum aktiven Dienst für die Vereinigten Staaten angefordert wird. s. hierzu Corwin, E. S., Constitution (1948), S. 56; s. auch unten (2) (b). 99 s. hierzu Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 121 ff.

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setzte;100 dieser Erfahrung wird in Art. 1 Abschn. 8 Abs. 3 Rechnung getragen, der dem Kongreß die Befugnis zuspricht, den Handel mit fremden Nationen, zwischen den Einzelstaaten und mit den Indianerstämmen zu regeln. Diese Befugnis wird ebenfalls durch weitere Rechte ergänzt, etwa die Kompetenz, das Konkursrecht einheitlich zu regeln (Abs. 4), Maß- und Gewichtseinheiten festzusetzen (Abs. 5), Postämter und Poststraßen einzurichten (Abs. 7) und Patente zu verleihen und Urheberrechte zu schützen (Abs. 8).101 Daneben finden sich auch an anderen Stellen der Verfassung ausdrücklich der Legislative übertragene Rechte, bei denen es sich teilweise um Befugnisse handelt, die nicht dem gesamten Kongreß, sondern lediglich einer Kammer zustehen.102 Zu diesen gehört beispielsweise die Außenpolitik und die Personalhoheit,103 deren Wahrnehmung nicht dem gesamten Kongreß obliegt, sondern gemäß Art. 2 Abschn. 2 Abs. 2 dem Senat in Zusammenarbeit mit dem Präsidenten. (dd) Necessary and proper-Klausel Zusätzlich zu den enumerierten Kompetenzen enthält Art. 1 Abschn. 8 in Abs. 18 eine Generalklausel, die bestimmt, daß der Kongreß alle zur Wahrnehmung der Befugnisse des Bundes notwendigen und angemessenen Gesetze erlassen darf (necessary and proper-Klausel). Damit zählt die Verfassung – dem Gedanken der treuhänderischen Gebundenheit des Staates und seiner Organe entsprechend – zwar die Zwecke auf, zu deren Förderung der Bund tätig werden darf, nicht aber die Mittel, die er zum Erreichen dieser Ziele einsetzen kann.104 Im Gegensatz dazu standen dem Bund nach den Konföderationsartikeln nur die ihm explizit übertragenen Befugnisse zu, alle anderen Rechte verblieben gemäß Art. II den Einzelstaaten.

100

s. hierzu oben B. II. 4. a) (1). Diamond, M., Founding (1981), S. 120. 102 s. etwa Art. 1 Abschn. 2 Abs. 5 S. 2: das Repräsentantenhaus hat das Recht zur Anklageerhebung im Amtsenthebungsverfahren; Art. 1 Abschn. 3 Abs. 6: der Senat hat das Recht, in diesen Verfahren zu entscheiden. Anders allerdings Art. 4 Abschn. 1 S. 2 und Abschn. 3 sowie Art. 5. 103 Umstritten war bezüglich der Personalhoheit insbesondere, ob das Recht zur Entlassung von Beamten (power of removal) dem Präsidenten allein zusteht oder er auch hier der Zustimmung des Senates bedarf. Hamilton behauptet in Nr. 77 letzteres (s. S. 463), ohne sich jedoch auf eine Bestimmung der Verfassung stützen zu können. Der erste Kongreß schloß sich dieser Ansicht nicht an: wie oben unter B. II. 4. f) dargelegt, verabschiedete er mit knapper Mehrheit das Gesetz über das Department of Foreign Affairs, in dem festgelegt war, daß der Präsident den zuständigen Minister allein entlassen konnte. s. hierzu auch Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 233. 104 s. auch Epstein, D. F., Theory (1984), S. 44; Wills, G., Explaining (1981), S. 173. 101

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Die necessary and proper-Klausel wurde heftig von den Anti-Federalists kritisiert, die fürchteten, sie könne zu einer Usurpation der Einzelstaatsbefugnisse durch die Bundeslegislative führen und eine Auflösung der Einzelstaaten nach sich ziehen.105 Die Autoren des Federalist dagegen halten es für ein politisches Grundprinzip, daß die Mittel dem Zweck angemessen sein müssen,106 und ziehen daraus die Schlußfolgerung, daß bei Zwecken, die nicht exakt umschrieben werden können, auch die Mittel zu ihrer Verfolgung nicht im einzelnen festgelegt und begrenzt werden können. Hamilton führt dies in Nr. 23 in bezug auf die militärischen Befugnisse aus: „Diese Kompetenzen sollten ohne Einschränkung sein, weil es unmöglich ist, das Ausmaß und die Vielfalt nationaler Krisen und demgemäß den Umfang und die Vielfalt der notwendigen Mittel zu ihrer Bewältigung vorauszusehen und einzugrenzen. Die Umstände, die die Sicherheit von Nationen gefährden können, sind unzählig, und deshalb können der Gewalt, die mit dieser Aufgabe betraut ist, vernünftigerweise keine verfassungsmäßigen Fesseln angelegt werden.“ (Nr. 23, S. 133)107

Daher kann sich die Debatte nur darauf richten, welche Aufgaben dem Bund übertragen werden sollen; ist die Frage des Ob aber bejaht, so kann es bezüglich des Wie keine Einschränkung geben: „Ob man dem Bund die Sorge für die gemeinsame Verteidigung übertragen soll, ist zunächst einmal eine Frage, die man diskutieren kann; in dem Augenblick jedoch, da man sie positiv entschieden hat, folgt daraus, daß die Regierung mit all den Vollmachten ausgestattet werden muß, die zur vollständigen Durchführung dieser ihr übertragenen Pflicht erforderlich sind.“ (Nr. 23, S. 133 f.)

Die Verfasser der Essays gehen davon aus, daß die Bundeslegislative im ihr übertragenen Aufgabenkreis alle (verfassungsmäßigen) Mittel einsetzen darf; sie vertreten das Prinzip der „implied powers“, der implizierten Kompetenzen.108 105

Adams, A. und W. P., Federalist (1994), S. 273, Fn. 3. s. Nr. 23, S. 133: „Dies ist eine der Wahrheiten, die für den klarsichtigen und vorurteilsfreien Beobachter ihren Beweis in sich selbst trägt, die man zwar verschleiern, aber durch Argumente und Beweise nicht weiter klären kann. Sie beruht auf Axiomen, die so einfach wie allgemeingültig sind; die Mittel sollten dem Zweck angemessen sein; die Personen, von deren Handlungen die Erfüllung eines bestimmten Zwecks erwartet wird, sollten auch die Mittel besitzen, mit denen er erfüllt werden kann.“ An anderer Stelle bezeichnet Hamilton dieses Prinzip als ,Grundwahrheit‘: „In Diskursen jeder Art gibt es bestimmte Grundwahrheiten oder ursprüngliche Prinzipien, von denen alle folgenden Überlegungen abhängen. Sie enthalten eine inhärente Überzeugungskraft, die aller Überlegung oder Logik vorausgeht und die Zustimmung des Verstandes gebietet. . . . Zu dieser Kategorie gehören die Axiome der Geometrie . . . Gleicher Art sind folgende Maximen der Ethik und Politik: daß es keine Wirkung ohne Ursache geben kann, daß die Mittel dem Zweck entsprechen müssen, daß jede Vollmacht ihrer Aufgabe angemessen sein muß, daß man eine Vollmacht nicht begrenzen darf, wenn sie eine Wirkung erzielen soll, die selbst nicht begrenzbar ist.“ (Nr. 31, S. 174 f.) 107 s. hierzu Carey, G. W., Design (1989), S. 102–104. 108 s. Diamond, M., Founding (1981), S. 123; Epstein, D. F., Theory (1984), S. 44 f. 106

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Ihrem Verständnis nach drückt die necessary and proper-Klausel nichts anderes aus als das Axiom der angemessenen Zweck-Mittel-Relation, wie Hamilton in bezug auf die Steuerkompetenz darlegt: „Dieser einfache Weg der Analyse . . . führt uns zu der augenfälligen Wahrheit, daß die Kompetenz, Steuern zu erheben und einzuziehen, auch die Kompetenz beinhalten muß, alle notwendigen und angemessenen Gesetze zum Vollzug dieser Kompetenz zu verabschieden. Was aber erklärt die in Frage stehende unglückselige und verleumdete Bestimmung mehr als diese selbe Wahrheit, daß nämlich die Bundeslegislative, der die Kompetenz zur Erhebung und Einziehung von Steuern zuvor übertragen worden ist, beim Vollzug dieser Kompetenz alle notwendigen und angemessenen Gesetze verabschieden kann, um sie vollziehen zu können?“ (Nr. 33, S. 184 f.)

Damit hat die Klausel für Hamilton nur deklaratorischen Charakter: „Die Erklärung selbst, auch wenn man sie der Tautologie oder Überflüssigkeit zeihen kann, ist zumindest völlig harmlos.“ (Nr. 33, S. 185)

Diese Auffassung vertritt auch Madison: „Hätte die Verfassung zu diesem Thema geschwiegen, so kann kein Zweifel daran bestehen, daß alle spezifischen, als Mittel zur Ausführung der allgemeinen Kompetenzen notwendigen Kompetenzen dem Bund qua unausweichlicher Implikation zugefallen wären. Kein Axiom ist eindeutiger im Recht oder in der Logik etabliert als der Satz, daß, wann immer das Ziel notwendig ist, die Mittel dazu erlaubt sind. Wo immer eine allgemeine Kompetenz, etwas zu tun, erteilt wurde, ist jede spezifische zu ihrer Durchführung nötige Kompetenz mit eingeschlossen.“ (Nr. 44, S. 275)

Die Einfügung der Bestimmung dient damit nach Ansicht der Verfasser des Federalist lediglich der Klarstellung und der Prävention falscher Interpretationen: „Doch eine mißtrauische Natur fragt vielleicht, warum sie dann überhaupt eingeführt worden ist? Worauf die Antwort lautet, daß es nur aus Vorsicht getan worden sein kann, um so allen nörglerischen Spitzfindigkeiten derjenigen vorzubeugen, die später einmal geneigt sein könnten, die legitimen Befugnisse der Union zu beschneiden und zu umgehen.“ (Nr. 33, S. 185)

Während also der Zusatz des Art. 1 Abschn. 8 Abs. 18 formal nicht unbedingt nötig gewesen wäre, ist die ihm korrelierende extensive Auslegung der Kompetenzen des Bundes nach Ansicht der Autoren inhaltlich unerläßlich, denn ohne sie wäre die Zentralregierung unter der Verfassung ebenso machtlos wie unter den Konföderationsartikeln: „Ohne den Gehalt dieser Kompetenz wäre die gesamte Verfassung toter Buchstabe.“ (Nr. 44, S. 273)109 109 Die Autoren des Federalist legen die necessary and proper-Klausel zudem weit aus; s. dazu von Bose, H., Mischverfassung (1989), S. 211 und 220; Carey, G. W., Design (1989), S. 101; Epstein, D. F., Theory (1984), S. 44 f. Im Fall McCulloch vs. Maryland von 1819, in dem es um die Frage ging, ob der Bund berechtigt sei, eine

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(b) Strukturelle Stabilisierung Während die der Legislative übertragenen Kompetenzen für eine Stärkung des Staates sorgen, hat die Struktur der gesetzgebenden Gewalt einen stabilisierenden Einfluß auf den politischen Prozeß. Dieser wird maßgeblich durch das Zweikammersystem erreicht, das Art. 1 Abschn. 1 der Verfassung vorsieht; im Gegensatz zum unikameralen Konföderationskongreß besteht der neue Kongreß aus Repräsentantenhaus und Senat. Die Einführung einer zweiten Kammer ist deshalb notwendig, weil sich der Einfluß der Leidenschaften in Menschenmengen potenziert und die Legislative als größtes staatliches Organ daher am stärksten zu emotionalen Entscheidungen neigt, die nicht von der Vernunft getragen sind: „Die Notwendigkeit eines Senates ist auch dadurch angezeigt, daß alle aus nur einer Kammer bestehenden und großen gesetzgebenden Versammlungen dazu neigen, Impulsen plötzlicher und heftiger Emotionen nachzugeben und sich von politischen Faktionsführern zu maßlosen und bösartigen Beschlüssen verführen zu lassen.“ (Nr. 62, S. 376)

Der als Korrektiv gedachte Senat muß daher kleiner sein: „. . . daß das Gremium, das diese Schwäche korrigieren soll, selbst frei davon und folglich kleiner sein sollte.“ (Nr. 62, S. 376)

Die Entscheidungen der kleineren Kammer sind in stärkerem Maße vernunftgeprägt, und da jedes Gesetz gemäß Art. 1 Abschn. 7 Abs. 2 S. 1 der Zustimmung von Repräsentantenhaus und Senat bedarf,110 kann der letztere unvernünftige, überstürzte Entscheidungen des ersten blockieren und ihre Durchsetzung verhindern. Damit dämmt der Senat den Einfluß der Leidenschaften im politischen Deliberationsprozeß ein und führt so zu einer stärker vernunftgeprägten Politik.111 Die geringere Größe der zweiten Kammer wird dadurch sichergestellt, daß jeder Einzelstaat gemäß Art. 1 Abschn. 3 Abs. 1 in den Senat unabhängig von Bundesbank einzurichten, legte Chief Justice John Marshall die Klausel ähnlich aus; er bejahte die Frage. s. hierzu Epstein, D. F., Theory (1984), S. 205, Fn. 13; Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 120. 110 Gesetzesinitiativen können sowohl vom Repräsentantenhaus als auch vom Senat ausgehen; eine Ausnahme besteht gemäß Art. 1 Abschn. 7 Abs. 1 Hs. 1 nur für Gesetzesvorlagen zur Aufbringung von Haushaltsmitteln, die vom Repräsentantenhaus eingebracht werden müssen. Diese Einschränkung ist jedoch ohne große praktische Bedeutung, da der Senat nicht auf die bloße Annahme oder Ablehnung dieser Entwürfe verwiesen ist, sondern laut Hs. 2 der Vorschrift Änderungen vorschlagen und unter dem Vorbehalt der Vornahme von Ergänzungen zustimmen kann. s. hierzu Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 287 f. 111 Der Senat kann auch unrechte Vorhaben des Präsidenten in außenpolitischer Hinsicht blockieren, da er dem Abschluß internationaler Verträge zustimmen muß, s. dazu unten (2) (b).

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seiner Größe zwei Senatoren entsendet, während die Sitze im Repräsentantenhaus gemäß Art. 1 Abschn. 2 Abs. 3 proportional zur Einwohnerzahl der Einzelstaaten auf diese verteilt werden. Dabei vertritt ein Abgeordneter grundsätzlich mindestens 30.000 Einwohner, aber jeder Staat soll wenigsten einen Repräsentanten entsenden.112 Der Senat hatte zunächst 26 Mitglieder, während die Größe des ersten Repräsentantenhauses von der Verfassung in Art. 1 Abschn. 2 Abs. 3 S. 3 Hs. 2 auf 65 Mitglieder festgelegt wurde. Diese Zahl wird gemäß Art. 1 Abschn. 2 Abs. 3 S. 2 durch regelmäßige Volkszählungen überprüft und angepaßt; entsprechend hat sich das Repräsentantenhaus mittlerweile auf 435 Mitglieder im Jahre 2008 vergrößert, während die zweite Kammer heute aus 100 Senatoren besteht.113 Das zweite Charakteristikum des Senates, das für mehr Stabilität im politischen Prozeß sorgt, ist die längere Amtszeit seiner Mitglieder: „Darüberhinaus sollte es großes Stehvermögen besitzen und folglich seine Machtbefugnis für eine beträchtliche Dauer innehaben.“ (Nr. 62, S. 376)

Dementsprechend werden die Senatoren auf sechs Jahre gewählt (s. Art. 1 Abschn. 3 Abs. 1), während die Legislaturperiode des Repräsentantenhauses gemäß Art. 1 Abschn. 2 Abs. 1 zwei Jahre beträgt. Die längere Amtsdauer der Senatoren verleiht ihrer Stellung zum einen mehr Gewicht und ihnen damit größere Souveränität im Amt; dies stärkt sie in subjektiver Hinsicht und sorgt dafür, daß sie unangemessene oder überstürzte Vorhaben des Repräsentantenhauses auch tatsächlich blockieren.114 Daneben wirkt die Länge der Amtszeit insbesondere durch die Sicherung personeller Kontinuität stabilisierend: „Die Unbeständigkeit der öffentlichen Gremien, die sich aus der raschen Abfolge neuer Mitglieder ergibt, wie qualifiziert diese auch sein mögen, verweist in stärkstem Maße auf die Notwendigkeit zumindest einer stabilen Institution in einem Re112 s. Art. 1 Abschn. 2 Abs. 3 S. 3 Hs. 1. Die Bemessungsgrundlage hat sich durch den 14. Zusatzartikel von 1868 geändert, s. Zusatzart. 14, Abschn. 2. 113 s. etwa das Profil des Kongresses (Congressional Profile) auf der Website des Repräsentantenhauses unter www.clerk.house.gov/member_info/cong.html (zuletzt eingesehen am 22. Oktober 2008). s. auch Madisons Prognose in Nr. 55: „Bei der Einführung dieses Regierungssystems soll diese Kammer der Legislative aus fünfundsechzig Abgeordneten bestehen. Innerhalb von drei Jahren soll eine Volkszählung durchgeführt werden, auf deren Grundlage die Zahl der Mandate im Verhältnis von eins zu dreißigtausend Einwohnern erhöht werden kann. Alle zehn Jahre soll die Volkszählung wiederholt werden, und unter Einhaltung des obigen Grenzwerts kann die Zahl weiter steigen. Niemand wird es für übertrieben halten, daß die erste Volkszählung . . . die Zahl der Abgeordneten auf wenigsten einhundert erhöhen wird . . . Nach Ablauf von fünfundzwanzig Jahren wird aufgrund der geschätzten Wachstumsrate die Zahl der Abgeordneten zweihundert betragen, nach fünfzig Jahren werden es vierhundert sein.“ (Nr. 55, S. 337 f.) 114 s. hierzu b) (3) (d) (cc).

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gierungssystem. Bei jeder Neuwahl in den Einzelstaaten wird etwa die Hälfte der Abgeordneten ausgetauscht. Aus diesem Austausch der Personen ergibt sich zwangsläufig ein Meinungswandel, aus dem Meinungswandel eine Veränderung praktischer Maßnahmen. Doch permanente Veränderungen selbst gelungener Maßnahmen sind unvereinbar mit jeglicher Regel der Klugheit und Aussicht auf Erfolg.“ (Nr. 62, S. 377)

Zwar sind Veränderungen und Neuerungen in gewissem Maße notwendig und wünschenswert, bei einer zu hohen Frequenz führen sie jedoch zu Instabilität und Chaos.115 Diesem unerwünschten Effekt beugt der Senat noch in weiterer Hinsicht vor: Seine Mitglieder sind – wie die des Repräsentantenhauses – unbegrenzt wiederwählbar, so daß sich die Wähler116 für eine Weiterführung der bisherigen Politik entscheiden können. Zudem stellt der Senat im Gegensatz zum Repräsentantenhaus ein ständiges Organ dar: gemäß Art. 1 Abschn. 3 Abs. 2 S. 1 wird nach dem Rotationsprinzip alle zwei Jahre ein Drittel der Senatoren neu gewählt, so daß sich die zweite Kammer nie auflöst und bei jeder Wahl mindestens zwei Drittel ihrer Mitglieder im Amt bleiben. Die Bedeutung dieser Regelung stellt Jay im Zusammenhang mit den außenpolitischen Kompetenzen des Senates heraus: „Ebenso viel Klugheit hat der Konvent dabei bewiesen, die häufige Wahl der Senatoren in der Art und Weise zu regeln, daß das Problem einer periodischen Übertragung dieser wichtigen Entscheidungen an völlig neue Männer vermieden wurde. Da ein beträchtlicher Rest der bisherigen Senatoren ihr Amt behält, sind Einheitlichkeit und Ordnung ebenso wie eine gewisse Kontinuität des amtlichen Kenntnisstandes gewahrt.“ (Nr. 64, S. 390)

Dadurch wirkt der Senat auch dem Problem der Unerfahrenheit neuer Abgeordneter entgegen, das in den Einzelstaaten zu einer unsteten Gesetzgebungspraxis mit häufigen Änderungen der Rechtslage geführt hatte:117 „Eine weitere Schwäche, die durch den Senat behoben werden soll, ist die mangelnde Vertrautheit mit den Zielen und Grundsätzen der Gesetzgebung. . . . Man kann mit gutem Grund behaupten, daß man einen wesentlichen Anteil an den derzeitigen Schwierigkeiten Amerikas auf grobe Fehlentscheidungen unserer [Einzelstaats-]Regierungen zurückführen kann, und die Fehler ihren Ursprung in den Köpfen, nicht in den Herzen der meisten Gesetzgeber haben. Was sind denn all die Gesetze, die frühere Gesetze aufheben, erläutern, ergänzen und unsere umfangreichen Gesetzesbücher füllen und verschandeln, anderes als zahllose Denkmäler mangelnder Weisheit; als so viele Anklagen der Vorgänger wegen Unfähigkeit im Amt; 115 Auf die Nachteile einer unbeständigen und unberechenbaren Politik geht Madison in Nr. 62 ein (s. S. 378 f.); s. hierzu Epstein, D. F., Theory (1984), S. 167–170. 116 Allerdings wurde der Senat zunächst nicht direkt vom Volk, sondern gemäß Art. 1 Abschn. 3 Abs. 1 S. 1 von den Einzelstaatslegislativen gewählt. Erst seit Erlaß des 17. Zusatzartikels von 1913 werden die Senatoren direkt vom Volk gewählt. 117 s. oben B. II. 4. a) (3).

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als so viele Mahnungen an das Volk, wie wertvoll die Hilfe ist, die man von einem gut konstruierten Senat erwarten kann?“ (Nr. 62, S. 376 f.)

Auch bezüglich des Repräsentantenhauses trifft die Verfassung stabilisierende Maßnahmen. Zum einen sind seine Mitglieder unbegrenzt wiederwählbar, so daß sich die Wähler für personelle Kontinuität entscheiden können, und zum anderen beträgt die Legislaturperiode der ersten Kammer zwei Jahre118 statt – wie in den meisten Einzelstaaten – ein Jahr.119 Dadurch sollen die Probleme der hohen Rotation von Abgeordneten und der damit verbundenen Unerfahrenheit und Unbeständigkeit, die in den Einzelstaatslegislativen aufgetreten waren, verringert werden: „Niemand kann ein kompetenter Gesetzgeber sein, der nicht . . . auch ein gewisses Maß an Kenntnissen in den Aufgabenbereichen besitzt, für die er Gesetze macht. Einen Teil dieser Kenntnisse kann man sicher durch Informationen erwerben, die jedermann privat oder öffentlich zugänglich sind. Einen anderen Teil kann man sich jedoch gründlich nur durch eigene Erfahrung in der Rolle erwerben, in der man sie auch anwenden muß. Deshalb sollte die Amtszeit von Abgeordneten jedenfalls in einer gewissen Relation zu dem Maß an praktischen Kenntnissen stehen, die für die gute Ausübung des Amtes erforderlich sind. In den meisten Einzelstaaten ist, wie wir oben gesehen haben, die Legislaturperiode der größeren Kammer auf ein Jahr begrenzt.“ (Nr. 53, S. 326)

(2) Exekutive Als weiteren entscheidenden Punkt zur Bildung eines mächtigen und stabilen Staates sieht die Verfassung in Art. 2 die Schaffung einer eigenständigen Exekutive vor. Unter den Konföderationsartikeln fehlte eine solche; die vom Kongreß beschlossenen Gesetze wurden zunächst von Kongreßkomitees ausgeführt, die mit Mitgliedern der legislativen Körperschaft besetzt waren. Dies erwies sich aber als so ineffektiv, daß bald Amtsträger in die Gremien berufen wurden, die nicht dem Kongreß angehörten. Auch diese neu besetzten Komitees stellten sich jedoch als nicht geeignet dar, so daß die Leitung der ausführenden Ressorts 1781 an Einzelpersonen übertragen wurde.120 Die Verfassung dagegen überträgt die vollziehende Gewalt dem Präsidenten, der von einem Wahlmännergremium auf jeweils vier Jahre gewählt wird (s. Art. 2 Abschn. 1 Abs. 1 und 2). Die Wahlmänner werden von den Einzelstaaten in der von ihren Legislativen vorgeschriebenen Weise bestimmt; jeder Staat er118

s. Art. 1 Abschn. 2 Abs. 1 S. 1. Auch die Amtszeit der Mitglieder des Konföderationskongresses betrug gemäß Art. V der Konföderationsartikel ein Jahr. Allerdings wurden die Kongreßmitglieder nicht vom Volk gewählt, vielmehr entschieden die Einzelstaatslegislativen über ihren Entsendungmodus, und die Einzelstaaten konnten die Delegierten während ihrer Amtszeit jederzeit abberufen und durch andere ersetzen (s. Art. V). 120 s. hierzu Fisher, L., Allocation (1989), S. 19. 119

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nennt dabei so viele Wahlmänner, wie er Senatoren und Mitglieder des Repräsentantenhauses in den Kongreß des Bundes entsendet. Den Einzelstaatslegislativen steht die Regelung des Wahlmodus frei; in den Anfangsjahren der Republik ernannten sie die Wahlmänner selbst, gingen jedoch später, nach der Jacksonian Revolution121, zur direkten Volkswahl über.122 Neben dem Präsidentenamt erwähnt die Verfassung an anderer Stelle lediglich die „einzelnen Abteilungen der Exekutive“ (Art. 2 Abschn. 2 Abs. 1 Hs. 2), nicht aber die Art und Zahl der Ministerien. Ihre Einrichtung obliegt dem Kongreß, dem grundsätzlich die Organisationshoheit zukommt;123 entsprechend schuf der erste Kongreß zunächst drei Ministerien: die Ministerien für Auswärtige Angelegenheiten, für Finanzen und für Krieg.124 Auch die Autoren des Federalist halten eine starke Exekutive für eine unabdingbare Voraussetzung eines Staates, der seinem Zweck gerecht wird: „Die Stärke der Exekutive ist ein bestimmendes Merkmal bei der Definition eines guten Regierungssystems. Sie ist entscheidend für den Schutz der Gemeinschaft gegen Angriffe aus dem Ausland; sie ist nicht weniger fundamental für den regelmäßigen Vollzug der Gesetze; für den Schutz des Eigentums gegen solche irregulären und selbstherrlichen Interessengemeinschaften, die gelegentlich den normalen Lauf der Gerechtigkeit unterbrechen; für den Schutz der Freiheit gegenüber Unternehmungen und Attacken von Machtstreben, von Faktionen und von Anarchie.“ (Nr. 70, S. 424)

Hamilton greift hier die in der Präambel der Verfassung genannten Ziele auf125 und weist damit darauf hin, daß eine starke ausführende Gewalt zur Wahrnehmung der grundlegenden Aufgaben des Staates notwendig ist. Die Schwäche der ausführenden Gewalt führt zwangsläufig zur Schwäche des Staates insgesamt: „Ein schwache Exekutive bedeutet soviel wie schwache Regierung schlechthin. Ein schwache Ausführung ist nur ein anderer Ausdruck für eine schlechte Ausführung, und ein schlecht ausgeführtes Regierungssystem ist unweigerlich, ganz gleich, was es in der Theorie ist, in der Praxis ein schlechtes Regierungssystem.“ (Nr. 70, S. 424)126 121 Zur Demokratisierung der USA unter Präsident Andrew Jackson (1827–1837) s. etwa Heideking, J., Geschichte (1996), S. 134–142. 122 Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 144. 123 Anders etwa Art. 86 S. 2 GG, der bezüglich der bundeseigenen Verwaltung vorschreibt, daß die Bundesregierung die Einrichtung der Behörden regelt, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt; s. hierzu Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 232. 124 s. hierzu oben B. II. 4. f). 125 s. dazu oben C. II. 3. 126 Mit seinem Hinweis auf den Unterschied zwischen Theorie und Praxis wendet sich Hamilton gegen die Vertreter des „klassischen“ Republikanismus; s. hierzu Mansfield, H. C., Executive (1987), S. 172 f. Deren Auffassung paraphrasiert Madison wie folgt: „Der Geist republikanischer Freiheit scheint einerseits zu verlangen, daß alle

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Die Macht der Exekutive ist deshalb von überragender Bedeutung, weil die besten Gesetze nichts nützen, wenn sie nicht effektiv durchgesetzt werden; diese Macht ergibt sich aus mehreren Faktoren: „Die Bestandteile, die die Stärke einer Exekutive ausmachen, sind Geschlossenheit, Dauer, eine angemessene Vorsorge für ihren Unterhalt und ausreichende Kompetenzen.“ (Nr. 70, S. 425)

(a) Strukturelle Komponente Unter Geschlossenheit versteht Hamilton die monokratische Ausgestaltung der Exekutivspitze, d. h. ihre Besetzung mit einer Person: „Niemand wird bestreiten, daß Geschlossenheit der Stärke zuträglich ist. Entschlußkraft, Aktivität, Verschwiegenheit und Schnelligkeit charakterisieren die Vorgehensweise eines einzelnen Mannes im allgemeinen in weit höherem Maße als die Vorgehensweise einer größeren Gruppe: im gleichen Verhältnis, in dem die Zahl wächst, schwinden diese Eigenschaften.“ (Nr. 70, S. 425)

Die Exekutive muß als ausführende Gewalt schnell reagieren können, um eine effiziente und zügige Durchführung der Gesetze zu gewährleisten; schnelle Entscheidungen können jedoch leichter von einer einzelnen Person als einer Gruppe getroffen werden.127 Denn mehrere Personen müssen sich zunächst über ihr Vorgehen einigen, und diese Abstimmung kostet einerseits Zeit und birgt andererseits die Gefahr eines Dissenses, der die Entschlußkraft und die Position der Exekutive insgesamt schwächen würde: „Wann immer zwei oder mehr Personen mit einem gemeinsamen Unternehmen oder Projekt beschäftigt sind, besteht die Gefahr von Meinungsverschiedenheiten. . . . Kommt es dazu, so verringern sie das Ansehen, schwächen die Autorität und lenken von Plänen und Vorhaben derjenigen ab, die untereinander gespalten sind. Sollten sie unglücklicherweise die höchsten Amtsträger der Exekutive, die aus mehreren Personen besteht, eines Landes befallen, so können sie wichtigste Maßnahmen der Regierung selbst in einem kritischen Staatsnotstand behindern oder zunichte machen.“ (Nr. 70, S. 427)

Uneinigkeit in der ausführenden Gewalt würde zu einer Verzögerung der notwendigen Maßnahmen führen und wäre besonders in Krisenzeiten nachteilig: „Sie [die Meinungsverschiedenheiten] bewirken, daß die Durchführung eines Plans oder einer Maßnahme, auf die sie sich beziehen, vom ersten Schritt bis zum endgültigen Abschluß gestört und geschwächt werden. Sie konterkarieren permanent Macht vom Volk ausgeht und diejenigen, die damit in Treuhänderschaft betraut worden sind, durch die kurze Dauer ihrer Ernennung vom Volk abhängig bleiben und die Verantwortung selbst während dieser kurzen Zeit nicht einigen wenigen, sondern vielen Händen übertragen wird.“ (Nr. 37, S. 210) Danach müßte auch die ausführende Gewalt mehreren Personen für eine kurze Zeit übertragen werden. Die Autoren des Federalist lehnen dies jedoch ab; s. dazu im folgenden. 127 Zur Notwendigkeit von Verschwiegenheit in der Exekutive s. unten.

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gerade die Eigenschaften der Exekutive, die die wichtigsten Bestandteile ihrer Struktur ausmachen – Kraft und Schnelligkeit, und das ohne jeden ausgleichenden Nutzen. In der Kriegführung, in der die Stärke der Exekutive ein Bollwerk der nationalen Sicherheit ist, hätte man das Schlimmste von dieser Pluralität zu befürchten.“ (Nr. 70, S. 428)

Dieses Problem bestünde sowohl bei einer mehrköpfigen Exekutivspitze, über die im Verfassungskonvent zunächst nachgedacht worden war,128 als auch bei der Schaffung einer nominellen Einpersonenexekutive, der jedoch ein Exekutivrat beigeordnet wäre: „Diese Geschlossenheit kann auf zwei Arten zunichte gemacht werden: entweder, indem man die Macht zwei oder mehr Amtsträgern der Exekutive gleichen Ranges und gleicher Machtbefugnis überantwortet, oder indem man sie oberflächlich einem einzelnen überträgt, der jedoch ganz oder teilweise der Kontrolle und Kooperation anderer in ihrer Eigenschaft als Ratgeber unterliegt.“ (Nr. 70, S. 425)

Aufgrund der hiermit verbundenen Nachteile lehnen die Autoren des Federalist beide Methoden ab, und auch im Konvent hatte sich der Vorschlag einer mehrköpfigen Exekutive nicht durchsetzen können. Vielmehr überträgt Art. 2 Abschn. 1 Abs. 1 S. 1 der Verfassung die vollziehende Gewalt einem einzelnen Amtsträger („a President of the United States of America“), der als alleiniges Haupt der Exekutive in seinem Kompetenzbereich ungehindert entscheiden und die nötigen Maßnahmen unverzüglich ergreifen kann. Auch die Länge der Amtszeit trägt nach Hamilton zur Stärkung der Position des Präsidenten bei: „Die Amtsdauer ist als zweite Voraussetzung für die Stärke der Exekutivgewalt genannt worden. Das gilt in bezug auf zwei Dinge: auf die persönliche Standfestigkeit des höchsten Amtsinhabers bei der Ausführung seiner verfassungsmäßigen Kompetenzen und auf die Stabilität des Regierungs- und Verwaltungssystems, das unter seiner Leitung eingeführt worden ist.“ (Nr. 71, S. 433)

Wie beim Senat bewirkt die längerfristige Übertragung des Amtes auch beim Präsidenten eine subjektive Stärkung und sorgt dafür, daß er die ihm zustehenden Befugnisse auch tatsächlich wahrnimmt.129 Zudem führt eine längerfristige Machtübertragung zu mehr Stabilität, da ein personeller Wechsel in politischen Ämtern eine Veränderung der politischen Anschauungen und entsprechenden Maßnahmen nach sich zieht: „Diese Sicht der Dinge macht sofort die enge Verbindung zwischen der Amtsdauer des höchsten Amtsinhabers der Exekutive und der Stabilität des gesamten Regierungs- und Verwaltungssystems klar. Als der beste Beweis für die eigenen Fähigkeiten und Verdienste gilt es leider häufig, das genaue Gegenteil des Vorgängers zu 128

Heideking, J., Geschichte (1996), S. 67 f. Auch die angemessene Entlohnung des Präsidenten trägt hierzu bei, s. unten b) (3) (d) (aa). 129

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machen und das von ihm Geleistete zunichte zu machen. Zusätzlich zu dieser Neigung kann eine neugewählte Person zu Recht annehmen, daß die Ablösung des Vorgängers auf einer Ablehnung von dessen Politik beruhte, und je weniger sie ihm gleicht, sie sich seinen Wählern umso stärker empfehlen wird. Diese Überlegungen und der Einfluß persönlicher Überzeugungen und Bindungen werden jeden neuen Präsidenten wahrscheinlich dazu veranlassen, einen Austausch der Männer in den nachgeordneten Positionen in Gang zu setzen. Alles zusammen genommen müßten diese Tatsachen zwangsläufig zu einer schändlichen und ruinösen Unbeständigkeit von Regierung und Verwaltung führen.“ (Nr. 72, S. 438 f.)

Die durch die Amtszeit der Exekutive erzeugte Stabilität wäre danach bei einer Wahl des Präsidenten auf Lebenszeit am größten, und für eine solche hatte sich Hamilton auch im Verfassungskonvent eingesetzt.130 Er konnte seinen Vorschlag aber nicht durchsetzen; vielmehr sieht die Verfassung in Art. 2 Abschn. 1 Abs. 1 S. 2 eine Amtsdauer von vier Jahren vor. Hamilton läßt seine Präferenz zwar im Federalist durchblicken,131 stellt aber auch die von der Verfassung getroffene Regelung als ausreichend zur Stärkung der Exekutive dar: „Eine Amtszeit von vier Jahren trägt also . . . zur Festigkeit der Exekutive in ausreichendem Maß bei, um sie zu einem wertvollen Bestandteil der Gesamtstruktur zu machen . . .“ (Nr. 71, S. 436 f.)

Allerdings sollte die vierjährige Amtszeit nach Ansicht der Autoren des Federalist durch die unbegrenzte Wiederwählbarkeit des Präsidenten ergänzt werden:132 „Mit einer feststehenden Amtsdauer von erheblicher Länge verbinde ich die Möglichkeit einer Wiederwahl.“ (Nr. 72, S. 439)

Auch diese dient der Stabilität des politischen Prozesses, denn die Wähler können sich so für eine Verlängerung des Mandates und die damit verbundene Kontinuität entscheiden: „Letzteres [die Möglichkeit der Wiederwahl] ist nötig, um dem Volk die Möglichkeit zu geben, wenn es Grund hat, seine Amtsführung zu befürworten und ihn in seinem Amt zu verlängern, um den Nutzen seiner Fähigkeiten und seiner Tugend weiter zu genießen und den Vorteil der Permanenz eines klugen Regierungs- und Verwaltungssystems zu sichern.“ (Nr. 72, S. 439)

130 Bailyn, B., Debate (1993), Bd. 2, S. 1051; Beloff, M., Introduction (1948), S. XXV f. 131 „Man kann letztlich nicht zusichern, daß eine Dauer von vier Jahren oder irgendeine andere begrenzte Amtsdauer das gewünschte Ziel vollkommen erreichen wird.“ (Nr. 71, S. 436) 132 Die Möglichkeit der unbegrenzten Wiederwahl wurde im Jahre 1951 durch das 22. Amendment abgeschafft, das bestimmt, daß niemand „mehr als zweimal in das Amt des Präsidenten gewählt werden“ darf. Allerdings war es auch schon vorher ein durch Washington eingeführter Usus, höchstens zwei Amtszeiten abzuleisten; die einzige Ausnahme stellt Franklin D. Roosevelt dar, der dreimal wiedergewählt wurde und von 1933 bis 1945 Präsident war, s. Junker, D., Roosevelt (1995), insb. S. 315.

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Die nur einmalige Wählbarkeit des Präsidenten würde dagegen einer Institutionalisierung von Instabilität gleichkommen: „Eine fünfte negative Folge des Ausschlusses von der Wiederwahl wäre, daß er wie ein verfassungsmäßiges Verbot von Stabilität einer Regierung wirken würde. Da sie im höchsten Amt der Nation einen Wechsel erzwänge, würde sie auch eine Veränderung der Politik erzwingen.“ (Nr. 72, S. 442)

Ein personeller Austausch würde nicht nur aller Voraussicht nach zu einem Politikwechsel führen, sondern auch die im Amt gesammelten Erfahrungen dem politischen Prozeß vorenthalten: „Eine dritte negative Folge des Ausschlusses von der Wiederwahl würde darin bestehen, daß man der Gemeinschaft den Nutzen vorenthalten würde, den die in Ausübung des Amtes gewonnene Erfahrung für den höchsten Amtsinhaber bedeutet.“ (Nr. 72, S. 441)

Die Ablösung erfahrener Amtsträger wäre insbesondere in Krisenzeiten gefährlich: „Eine vierte negative Folge des Ausschlusses von der Wiederwahl bestünde darin, daß man Männer aus Positionen verbannte, deren Präsenz dort in Zeiten eines Notstandes des Staates für das öffentliche Interesse oder die öffentliche Sicherheit ausschlaggebend sein könnte. . . . Ohne davon auszugehen, daß ein einzelner Mann persönlich entscheidend ist, so ist doch offenkundig, daß ein Wechsel im höchsten Amt der Exekutive bei Ausbruch eines Krieges oder in einer ähnlichen Krise, auch wenn ein ebenso verdienter Nachfolger an die Stelle tritt, der Gemeinschaft immer schaden würde, denn damit würde Erfahrungslosigkeit an die Stelle von Erfahrung gesetzt werden, was potentiell den bereits organisierten Troß der Regierung durcheinanderbringen und neu in Gang setzen würde.“ (Nr. 72, S. 441 f.)

(b) Funktionale Komponente Die dem Präsidenten übertragenen Befugnisse tragen sowohl zur Stärkung als auch zur Stabilisierung des politischen Prozesses und des Staates insgesamt bei. Für mehr Energie sorgen vor allem seine militärischen und außenpolitischen Kompetenzen als Oberbefehlshaber der Armee und Marine133 und als Verhandlungsführer mit dem Ausland134, da sowohl im Krieg als auch auf der außenpolitischen Bühne ein schnelles Reaktionsvermögen erforderlich ist. So betont Jay in Nr. 64, „. . . daß es nicht selten Situationen gibt, in denen Tage, wenn nicht Stunden unbezahlbar sind. Die Niederlage in einer Schlacht, der Tod eines Herrschers, das Abdanken eines Ministers und andere Umstände können eine entscheidende Verände133

s. Art. 2 Abschn. 2 Abs. 1 Hs. 1. Gemäß Art. 2 Abschn. 2 Abs. 2 S. 2 hat der Präsident das Recht, mit Rat und Zustimmung des Senates außenpolitische Verträge abzuschließen; zudem empfängt er Botschafter und Gesandte, s. Art. 2 Abschn. 3 S. 3. 134

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rung in der bestehenden Lage und Perspektive der Politik herbeiführen und aus einer überaus günstigen Strömung entgegen unseren Wünschen das genaue Gegenteil werden lassen. Wie auf dem Schlachtfeld gibt es auch im Verhandlungszimmer Augenblicke, die man ergreifen muß, wenn sie sich bieten. Wer hier wie dort an der Spitze steht, muß die Möglichkeit haben, eine solche Chance zu nutzen.“ (Nr. 64, S. 391)

Über die Übertragung zumindest der militärischen Oberhoheit allein an den Präsidenten bestand angesichts dieser Erfahrungen auch weitgehende Einigkeit: „Selbst diejenigen, die dem Präsidenten für andere Bereiche einen Exekutivbeirat zur Seite stellen wollen, wollen das militärische Oberkommando in ihrer Mehrheit ihm allein übertragen. Von allen Aufgaben und Sorgen des Regierens erfordert die organisatorische Leitung eines Krieges in ganz besonderer Weise Eigenschaften, die sich bei der Ausübung der Macht durch einen einzelnen hervorragend finden.“ (Nr. 74, S. 450)

Für die Wahrnehmung der Außenpolitik durch eine Person spricht neben der Notwendigkeit schneller Entscheidungen auch die Bedeutung von Diskretion in diesem Bereich: „Bei Vertragsverhandlungen gleich welcher Art kommt es selten vor, daß nicht zumeist vollkommene Geheimhaltung und sofortiger Vollzug nötig sind. . . . es gibt zweifellos viele [Personen] . . ., die sich auf die Geheimhaltung des Präsidenten verlassen, sich jedoch weder dem Senat und noch weniger einer noch größeren, volksnäheren [popular] Kammer der Legislative anvertrauen würden. Der Konvent hat deshalb gut daran getan, die Vertragskompetenz so zu regeln, daß der Präsident zwar bei den Verhandlungen Rat und Zustimmung des Senates braucht, die Frage vertraulicher Informationen und ihrer Geheimhaltung jedoch so handhaben kann, wie es ihm klug erscheint.“ (Nr. 64, S. 391)

Die in Art. 2 Abschn. 2 Abs. 2 S. 1 der Verfassung vorgesehene Beteiligung des Senates ist deshalb angeraten, weil aufgrund der egoistischen Grunddisposition des Menschen die Gefahr besteht, daß der Präsident sich von ausländischen Mächten bestechen läßt und die Interessen seines Landes verrät: „. . . es wäre völlig verkehrt und nicht ungefährlich, diese Machtbefugnis einem auf vier Jahre gewählten Amtsinhaber anzuvertrauen . . . [E]in Mann, der vom einfachen Bürger zum höchsten Amtsträger der Exekutive aufgestiegen ist, nur ein mäßiges oder geringes Vermögen besitzt und einen nicht allzu weit entfernten Zeitpunkt absehen kann, da er wahrscheinlich in die soziale Stellung zurückkehren muß, aus der er stammt, könnte manchmal in eine so große Versuchung geraten, die Pflicht dem Eigennutz zu opfern, daß es übermenschliche Tugend erfordern würde, ihr zu widerstehen. Ein habgieriger Mann könnte versucht sein, die Interessen des Staates der Aneignung von Reichtum zu opfern. Ein machthungriger Mann könnte seinen persönlichen Aufstieg mit Hilfe einer ausländischen Macht zum Preis für den Verrat an seinen Wählern machen.“ (Nr. 75, S. 454 f.)

Dieser Gefahr wird dadurch vorgebeugt, daß der Präsident beim Abschluß von internationalen Verträgen des Rates und der Zustimmung des Senates bedarf, der damit nicht nur in innenpolitischer Hinsicht, gegenüber dem Repräsentan-

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tenhaus, sondern auch in außenpolitischer Beziehung schädliche, unlautere Vorhaben blockieren kann. In auswärtigen Angelegenheiten sorgt der Senat für Stabilität, während der Präsident die nötige Energie einbringt. In innenpolitischer Hinsicht dagegen kommt dem Präsidenten aufgrund des ihm von der Verfassung verliehenen Vetorechts eine stabilisierende Funktion zu. Gemäß Art. 1 Abschn. 7 Abs. 2 hat der Präsident ein qualifiziertes Gesetzgebungsveto: jede Gesetzesvorlage bedarf nach ihrer Verabschiedung durch Repräsentantenhaus und Senat der Billigung des Präsidenten. Verweigert er seine Zustimmung, kann der Kongreß seinen Einspruch zwar überstimmen; hierzu sind jedoch erneute Beratungen und eine Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern nötig. Der Präsident kann die Legislative damit durch sein Veto zu einem Überdenken ihrer Position zwingen; eine solche Verzögerung kann zu einer besonneneren Betrachtung führen und den Einfluß der Vernunft bei der Entscheidungsfindung stärken. Das Veto „errichtet eine heilsame Einschränkung der Legislative, die dazu bestimmt ist, die Gemeinschaft vor den Folgen von Faktionsbildung, übereilter Hast oder jeglicher für das Gemeinwohl ungünstiger Eingebung zu bewahren, die vielleicht einmal die Mehrheit dieser Körperschaft beeinflussen können.“ (Nr. 73, S. 445)

Daß die Retardation von Maßnahmen in der Legislative nützlich sein und vor unüberlegten Schritten bewahren kann,135 betont Madison bezüglich der vergleichbaren Funktion des Senates: „In solchen kritischen Augenblicken wird sich die Intervention eines gemäßigten und angesehenen Gremiums von Mitbürgern als segensreich erweisen, um den Weg in die Irre zu versperren und den Schlag, den das Volk gegen sich selbst führen will, so lange aufzuschieben, bis Vernunft, Gerechtigkeit und Wahrheit wieder Herr über die öffentliche Meinung geworden sind.“ (Nr. 63, S. 382)

Allerdings ist die Stellung des Senates insoweit stärker, da er Gesetzesvorhaben des Repräsentantenhauses gänzlich blockieren kann.136 Das qualifizierte Veto des Präsidenten tritt jedoch zum mäßigenden Einfluß des Senates hinzu; dieser zweistufige, abgestufte Kontrollmechanismus verdoppelt den Schutz vor einer schädlichen, destabilisierenden Gesetzgebungspraxis. 135 Dies gilt allerdings nur für die Legislative, nicht auch die Exekutive, in der – wie oben gesehen – gerade schnelles Handeln und Entschlußfreudigkeit notwendig sind: „In der Legislative ist das schnelle Tempo von Entscheidungen häufiger ein Übel als ein Gewinn. Meinungsverschiedenheiten und Parteienstreit in diesem Zweig des Regierungssystems, auch wenn sie manchmal nützliche Planungen behindern, fördern doch häufig Diskussion und Besonnenheit und dienen dazu, Exzesse der Mehrheit in Schach zu halten. . . . Dagegen werden die Nachteile des Meinungsstreits in der Exekutivgewalt nicht durch positive Umstände abgeschwächt oder aufgewogen.“ (Nr. 70, S. 428) 136 Für eine absolute Blockademöglichkeit auch des Präsidenten hatte sich Madison im Verfassungskonvent eingesetzt, und zwar für ein absolutes Veto der Exekutive unter Beteiligung der Judikative; dieser Vorschlag wurde aber nicht angenommen. s. hierzu Wills, G., Explaining (1981), S. 123.

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Zudem sehen die Autoren vom exekutiven Veto bereits eine präventive Wirkung ausgehen, da allein schon die Aussicht auf eine externe Kontrolle eine abschreckende Wirkung auf die Durchführung unangemessener Vorhaben seitens des Kongresses haben wird: „Eine Kompetenz dieser Art in Händen der Exekutive wird häufig eine schweigende und kaum wahrgenommene, aber dennoch kraftvolle Wirkung zeitigen. Wenn Männer, die nicht zu rechtfertigende Projekte betreiben, sich der Tatsache bewußt sind, daß es Hindernisse von einer Seite geben könnte, die sich ihrer Kontrolle entziehen, so werden sie oft schon aus bloßer Vorwegnahme des Widerstandes vor etwas zurückschrecken, das sie begierig verfolgen würden, wenn sie keine solchen äußeren Hindernisse befürchten müßten.“ (Nr. 73, S. 448 f.)137

(3) Judikative Zur Schaffung eines starken und stabilen Staates trägt zudem die in Art. 3 der Verfassung vorgesehene Einrichtung einer eigenständigen Judikative des Bundes bei, die unter den Konföderationsartikeln ebensowenig wie eine selbständige Exekutive bestand.138 Die Autoren des Federalist kritisieren ihr Fehlen unter den Konföderationsartikeln als eklatanten Mangel des Staatenbundes: „Ein weiterer Umstand, der krönende Gipfel aller Mängel der Konföderation, muß noch erwähnt werden – das Fehlen der richterlichen Gewalt.“ (Nr. 22, S. 130)

Die Verfassung schafft demgegenüber in Art. 3 Abschn. 1 einen Obersten Bundesgerichtshof (Supreme Court) und überträgt dem Kongreß das Recht, nachgeordnete Gerichte des Bundes einzurichten. Dieses nahm der erste Kongreß im Judiciary Act von 1789 wahr, der dreizehn Distriktsgerichte (Federal District Courts) und drei Bezirksgerichte (Federal Circuit Courts of Appeal) des Bundes schuf139 und die Größe und nähere Organisation des Supreme Court regelte.140 Damit gibt es in den USA – anders als beispielsweise in der Bundes-

137 Zum Zusammenhang zwischen der Rechtmäßigkeit von Vorhaben und ihrer möglichen Publizität, den auch die Autoren des Federalist sehen, s. oben D. II. 3. c). s. auch Madisons Darlegungen in Nr. 10: „Wo Menschen sich des Unrechts und der Unehrenhaftigkeit bestimmter Ziele bewußt werden, wird ihre Verständigung über diese Ziele immer durch ein gewisses Mißtrauen gebremst und zwar genau im Verhältnis zur Zahl derer, deren Zustimmung nötig ist.“ (Nr. 10, S. 57) 138 Allerdings schuf der Konföderationskongreß gemäß der ihm in Art. IX übertragenen Befugnis Seegerichtshöfe, die als Vorläufer der nationalen Judikative gelten können. s. hierzu Fisher, L., Allocation (1989), S. 19 f. 139 Heute existieren 94 District Courts und 13 Courts of Appeal des Bundes; s. www.uscourts.gov/courtsofappeals.html und www.uscourts.gov/districtcourts.html (zuletzt eingesehen am 22. Oktober 2008). 140 s. hierzu oben B. II. 4. f). Der Supreme Court war zunächst mit sechs Richtern besetzt, heute sind es neun; s. www.uscourts.gov/supremecourt.html (zuletzt eingesehen am 22. Oktober 2008).

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republik Deutschland141 – auch Bundesgerichte der ersten und zweiten Instanz. Dies führt zu zwei parallelen dreizügigen Rechtssystemen: es gibt erstinstanzliche Gerichte, Berufungsgerichte und einen Obersten Gerichtshof jeweils der Einzelstaaten und des Bundes.142 Die Bundesrichter bekleiden ihr Amt gemäß Art. 3 Abschn. 1 S. 2 „während guter Amtsführung“, d. h. auf Lebenszeit. Die Zuständigkeit der Bundes- bzw. Einzelstaatsgerichte bestimmt sich zum einen nach dem anzuwendenden Recht, zum anderen nach den Parteien des Rechtsstreits. Die rechtsprechende Kompetenz des Bundes erstreckt sich zunächst auf alle Fälle, die auf Bundesrecht basieren, und zwar sowohl auf einfachen Gesetzen als auch der Verfassung und völkerrechtlichen Verträgen (Art. 3 Abschn. 2 Abs. 1 Alt 1). Zudem sind die Bundesgerichte unabhängig vom anzuwendenden Recht in bestimmten Parteikonstellationen zuständig, und zwar dann, wenn die Vereinigten Staaten selbst Prozeßpartei sind (Alt. 4) oder ein zwischenstaatlicher oder internationaler Bezug besteht.143 Gemäß Art. 3 Abschn. 2 Abs. 2 hat der Supreme Court die erstinstanzliche Zuständigkeit in allen Fällen, die Botschafter, Gesandte und Konsuln betreffen oder in denen ein Einzelstaat Partei ist (S. 1). In allen anderen Fällen ist es Berufungsinstanz in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht, allerdings kann der Kongreß hiervon abweichende Regelungen treffen (S. 2). (a) Zuständigkeit in Fällen des Bundesrechts Die Zuständigkeit der Bundesgerichte in bundesrechtlichen Streitigkeiten sorgt zunächst für eine Stärkung der Vereinigten Staaten, da sie die (letztinstanzliche144) Auslegung der Bundesverfassung, der vom Kongreß erlassenen

141 s. Art. 92 GG, der vorsieht, daß die rechtsprechende Gewalt durch das Bundesverfassungsgericht, die im Grundgesetz vorgesehenen Bundesgerichte und die Gerichte der Länder ausgeübt wird. Das Grundgesetz schafft das Bundesverfassungsgericht (s. Art. 93 f. GG) und sieht die Errichtung von fünf obersten Gerichtshöfen des Bundes durch diesen vor (für die Gebiete der ordentlichen Gerichtsbarkeit sowie der Verwaltungs-, Finanz-, Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit, s. Art. 95 GG). Zudem überträgt es dem Bund in Art. 96 die Befugnis, ein Bundesgericht für Angelegenheiten des gewerblichen Rechtsschutzes (Abs. 1) und Wehrstrafgerichte für die Streitkräfte (Abs. 2) sowie Disziplinargerichte für Beamte und Soldaten zu errichten (Abs. 4). 142 Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 135. 143 Ersteren haben Streitigkeiten zwischen verschiedenen Einzelstaaten (Alt. 5), zwischen einem Einzelstaat und den Bürgern eines anderen Einzelstaates (Alt. 6) oder zwischen Bürgern verschiedener Einzelstaaten (Alt. 7). Hierzu gehören auch die in Alt. 8 genannten Fälle zwischen Bürgern desselben Einzelstaates, die aufgrund von Übereignungstiteln verschiedener Einzelstaaten Eigentumsansprüche auf Land erheben; s. dazu Hamiltons Ausführungen in Nr. 80, S. 484 f. und 487. Auslandsbezug besteht in den Fällen, die Botschafter, Gesandte und Konsuln betreffen (Alt. 2), in Fällen der Admiralitäts- und Seegerichtsbarkeit (Alt. 3) und in Streitigkeiten zwischen einem Einzelstaat oder seinen Bürgern und fremden Staaten oder Bürgern (Alt. 9).

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Gesetze und internationaler Verträge Organen des Bundes überläßt.145 Dieses Recht ist vor allem im US-amerikanischen Staat mit seinem common law-System von eminenter Bedeutung, dessen Rechtsfortbildung zu einem erheblichen Teil auf bindenden Präzedenzfällen (precedents) beruht. Stärker noch als in civil law-Systemen legt hier die richterliche Auslegung der Gesetze ihre Bedeutung fest.146 Würde dieses Recht den Gerichten der Einzelstaaten übertragen, hätten die letzteren die Macht, den Willen des Bundesgesetzgebers abschließend zu interpretieren und festzulegen. Damit aber wäre der Bund insoweit den Einzelstaaten untergeordnet; eine Tatsache, die Madison bezüglich der gesetzgebenden Funktion als „Umkehrung der fundamentalen Grundsätze allen Regierens“ bezeichnet, weil sie ein „Monstrum“ schafft, „dessen Kopf den Befehlen der Glieder folgte.“ (Nr. 44, S. 277). Um eine Entscheidungsbefugnis der Einzelstaaten über den Bund zu vermeiden, müssen die Bundesgerichte auch in den Fällen zuständig sein, in denen die Vereinigten Staaten Prozeßpartei sind (s. Art. 3 Abschn. 2 Abs. 1 Alt. 4): „Rechtsstreite zwischen der Nation und ihren Mitgliedern oder Bürgern können richtigerweise nur den Gerichten des Bundes übertragen werden. Jeder andere Vorschlag widerspräche Vernunft, Präzedenzfällen und Moral.“ (Nr. 80, S. 482)

Einer Stärkung der Union dient vor allem die Rechtsprechungskompetenz in Fällen, die sich aus der Bundesverfassung ergeben, da sie den Vereinigten Staaten ein Mittel an die Hand gibt, die Verfassungsbestimmungen gegenüber den Einzelstaaten durchzusetzen: „Was . . . würden Beschränkungen der Kompetenzen der Einzelstaatslegislativen nützen, ohne ein Verfahren, das deren Beachtung auch durchsetzt? Den Einzelstaaten sind laut Verfassungsentwurf etliche Dinge untersagt, von denen einige mit den Interessen der Union unvereinbar sind, andere mit den Grundsätzen eines guten Regierungssystems. . . . Niemand mit Verstand kann glauben, daß solche Verbote genauestens beachtet würden, ohne eine wirksame Kompetenz der Regierung, Verbotsverletzungen zu verhindern oder zu korrigieren. Diese Kompetenz muß entweder ein direktes Veto [des Bundes] gegen Einzelstaatsgesetze sein oder eine Vollmacht der Bundesgerichte, solche Gesetze aufzuheben, die offenkundig gegen die Artikel der Union verstoßen.“ (Nr. 80, S. 481 f.)

Madison hatte im Verfassungskonvent die erste Alternative propagiert, ein Veto des Bundes über Einzelstaatsgesetze; dieser Vorschlag wurde jedoch von der Mehrheit der Delegierten abgelehnt, da er als zu starker Eingriff in die Kompetenzen der Einzelstaaten empfunden wurde, und fand keinen Eingang in 144 In erster Instanz können dagegen parallel zu den Bundesgerichten auch die Einzelstaatsgerichte zuständig sein, falls der Kongreß ihre gleichzeitige Zuständigkeit nicht per Gesetz ausschließt, s. dazu unten III. 2. b) (2). 145 Sie kann insofern als logische Schlußfolgerung aus der supremacy-Klausel (Art. 6 Abs. 2) angesehen werden, s. Marcus, M., Review (1996), S. 26. 146 Zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen civil und common lawSystemen s. Sauveplanne, J. G., Law (1982), insb. S. 3 f. und 22–28.

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die Verfassung.147 Als Alternative spricht der Federalist dem Bund das Recht zu, die Gesetze der Einzelstaaten auf ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung zu überprüfen und gegebenenfalls für nichtig zu erklären,148 sie also einer Normenkontrolle (judicial review) zu unterziehen.149 Zudem hat die (letztinstanzliche) Zuständigkeit des Bundes in bundesrechtlichen Fällen auch stabilisierende Wirkung, da sie die Einheitlichkeit der Rechtsprechung wahrt.150 Bei einer abschließenden Judizierung bundesrechtlicher Fälle durch die Einzelstaatsgerichte wären aufgrund der Möglichkeit der unterschiedlichen Gesetzesauslegung und der Gefahr einer lokalen Voreingenommenheit der Richter151 divergierende letztinstanzliche Entscheidungen wahrscheinlich: „Wenn es in jedem Staat ein Gericht mit höchster Rechtsprechung gibt, dann gäbe es soviele letztinstanzliche Entscheidungen zu ein- und derselben Frage, wie es Gerichte gibt. Es gibt endlose Meinungsunterschiede unter den Menschen. Wir erleben häufig nicht nur unterschiedliche Auffassungen zwischen Gerichten, sondern zwischen Richtern desselben Gerichts. Um die Verwirrung zu vermeiden, die unweigerlich aus widersprüchlichen Entscheidungen einer Vielzahl unabhängiger Gerichtssysteme entstehen würde, haben alle Länder es nötig gefunden, ein Gericht einzurichten, das über allen anderen steht, das die allgemeine Oberaufsicht besitzt und die Kompetenz, in letzter Instanz einheitliche Regeln staatlicher Rechtsprechung [civil justice] festzusetzen und zu verkünden.“ (Nr. 22, S. 130)152 147 s. hierzu Farrand, M., Records (1966), Bd. 1, S. 21; Hobson, Ch. F., Negative (WMQ 36, 1979), S. 215–235; Huntington, S. P. Division (1959), S. 192; Wills, G., Explaining (1981), S. 167. 148 Zur Frage, ob der Bund dabei als Richter in eigener Sache tätig wird, s. Carey, G. W., Design (1989), S. 112 f. und unten III. 2. b) (3). 149 Die Autoren des Federalist gehen davon aus, daß die rechtsprechende Gewalt auch Akte der Bundeslegislative und -exekutive auf ihre Vereinbarkeit mit der Bundesverfassung prüfen und gegebenenfalls für nichtig erklären kann, s. dazu unten b) (3) (c) (bb). Das judikative Normenkontrollrecht (judicial review) ist damit zweigleisig, es besteht sowohl in vertikaler als auch in horizontaler Hinsicht. s. hierzu Marcus, M., Review (1996), S. 26–29. 150 Dies gilt aber nur bezüglich des Bundesrechts, nicht auch für das Recht der Einzelstaaten; bezüglich des letzteren sind die Bundesrichter an die Auslegung und Entscheidung der obersten Einzelstaatsgerichte gebunden. s. hierzu Fraenkel, E., Regierungssystems (1981), S. 136 f. 151 s. hierzu Hamiltons Ausführungen in Nr. 22: „Wenn in einem solchen Fall die einzelnen Gerichte die Kompetenz letztinstanzlicher Rechtsprechung erhielten, müßte man . . . Angst vor einer gewissen Befangenheit aufgrund lokaler Ansichten und Vorurteile und vor der Kollision mit örtlichen Bestimmungen haben. Sooft eine solche Kollision stattfinden würde, wäre zu befürchten, daß die örtlichen Gesetze der allgemeinen Gesetzgebung vorgezogen würden. Denn Inhaber öffentlicher Ämter blicken natürlicherweise besonders unterwürfig zu der Autorität auf, der sie ihr Dasein im Amt verdanken.“ (Nr. 22, S. 130) 152 Ähnlich argumentiert Hamilton auch an späterer Stelle: „Die klare Notwendigkeit einheitlicher Interpretation der nationalen Gesetze entscheidet diese Frage. Dreizehn voneinander unabhängige Gericht mit letztinstanzlicher Rechtsprechung für die-

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Die Entscheidungen des Obersten Bundesgerichtshofes sind im amerikanischen Rechtssystem als Präzedenzfälle (precedents) sowohl für die Bundes- als auch die Einzelstaatsgerichte verbindlich.153 Auch die judikative Zuständigkeit des Bundes bezüglich der von den Vereinigten Staaten geschlossenen internationalen Verträge dient vor allem der Stabilität des Staates. Denn hätten die Einzelstaaten hier die Entscheidungskompetenz, würden die Vereinigten Staaten in internationaler Perspektive für die von den Einzelstaatsgerichten getroffenen Entscheidungen über völkerrechtliche Verträge haftbar gemacht werden: „Der vierte Punkt beruht auf der Behauptung, daß der Frieden des Ganzen nicht der Verfügung eines Teils überlassen werden sollte. Die Union wird fraglos gegenüber ausländischen Mächten für das Verhalten ihrer Mitglieder verantwortlich gehalten werden. Die Verantwortung für einen Schaden sollte aber immer mit der Fähigkeit verbunden sein, ihn zu verhindern. Da die Verweigerung oder Beugung von Recht durch Gerichtsurteile . . . zu Recht als einer der gerechten Gründe für einen Krieg gilt, folgt daraus, daß den Bundesgerichten alle Rechtsstreite unterbreitet werden sollten, in die Bürger anderer Länder verwickelt sind. Das ist weniger entscheidend für die öffentliche Glaubwürdigkeit als für die Sicherung des öffentlichen Friedens.“ (Nr. 80, S. 482)

In allen Fällen mit Auslandsbezug wären eine eventuelle Parteilichkeit der Richter und entsprechend tendenziöse Urteile besonders gravierend, da sie die Gefahr eines Krieges heraufbeschwören könnten, und zwar nicht nur für den betreffenden Einzelstaat, sondern für die gesamte Union.154 Selbst wenn die Sanktionierung eines solchen Verhaltens durch die Einzelstaatsgerichte kein direkter Anlaß für einen Krieg wäre, würde es dem Ansehen der Vereinigten Staaten im Ausland doch erheblich schaden: „Die Verträge der Vereinigten Staaten im derzeitigen Verfassungssystem sind dem Bruch durch dreizehn unterschiedliche Legislativen und ebensoviele unterschiedliche Gerichtshöfe letzter Instanz ausgesetzt, die unter der Oberhoheit dieser Legislativen tätig sind. Vertrauen, Ansehen und Frieden der ganzen Union sind damit permanent den Vorurteilen, Leidenschaften und Interessen jedes einzelnen Mitglieds selben Anlässe, die sich aus denselben Gesetzen ergeben, das ist eine Hydra von politischem System, die nur zu Widerspruch und Verwirrung führen kann.“ (Nr. 80, S. 482) 153 s. Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 137. 154 s. auch Jays Ausführungen in Nr. 3, S. 12 f. Daß sich die Einzelstaaten auch angesichts dieser Gefahr nicht von einem eigenmächtigen Vorgehen abhalten ließen, hatten die Erfahrungen unter den Konföderationsartikeln gezeigt. Wie oben unter B. dargelegt, hatten sich nach Kriegsende einige Mitgliedsstaaten der Union nicht an die von den Vereinigten Staaten mit den ehemaligen Kriegsgegnern geschlossenen Verträge gehalten und Gesetze erlassen, die gegen Vertragsbestimmungen verstießen. Hierzu gehörten beispielsweise Gesetze, die die Eintreibung von Schulden durch britische Gläubiger und die Rückgabe konfiszierten Besitzes an Loyalisten untersagten. Der Kongreß konnte nichts dagegen unternehmen und mußte dem Bruch des Friedensvertrages ohnmächtig zusehen, s. oben B. II. 4. a) (1).

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der Legislative auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Können ausländische Mächte denn eine solche Regierung respektieren oder ihr vertrauen? Kann die Bevölkerung Amerikas noch länger bereit sein, ihre Ehre, ihr Glück und ihre Sicherheit einem Bauwerk auf so unsicherem Fundament anzuvertrauen?“ (Nr. 22, S. 131)

Ein schwacher Staat, der Rechtsbrüche seiner Mitglieder nicht verhindern oder sanktionieren kann, würde im Ausland keine Achtung genießen, und dies würde wiederum indirekt die Gefahr erhöhen, in einen Krieg hineingezogen zu werden, wie Jay zu Beginn der Aufsatzserie betont: „Man muß wohl nicht betonen, daß es neben gerechten Anlässen zum Krieg auch vorgetäuschte gibt. Nur allzu wahr ist . . ., daß Nationen immer dann Krieg führen werden, wenn sie Aussicht haben, ungestraft davonzukommen . . .“ (Nr. 4, S. 15)

Die Zuständigkeit des Bundes in völkerrechtlichen Fällen vermeidet potentielle Kriege mit dem Ausland und sorgt so für Frieden und Stabilität. (b) Parteienbezogene Zuständigkeit Der Friedenssicherung dienen auch die übrigen in der Verfassung geregelten rechtsprechenden Kompetenzen des Bundes, die an die Parteien anknüpfen. Dies gilt zunächst für alle Fälle mit Auslandsbezug, denn Streitigkeiten mit fremden Mächten oder Bürgern bergen stets die Gefahr einer Eskalation bis hin zum Krieg, unabhängig davon, ob sie auf völkerrechtlichen Verträgen oder einzelstaatlichem Recht beruhen: „Man kann sich vielleicht einen Unterschied vorstellen zwischen solchen Rechtsstreiten, die auf Verträge und auf das Völkerrecht zurückgehen und anderen, die nur im örtlichen Recht ihren Ursprung haben. Bei ersteren könnte man dann die Bundesgerichtsbarkeit, bei letzterem die der Staaten für angemessen halten. Doch bleibt es zumindest eine offene Frage, ob ein nicht korrigierbarer ungerechter Spruch gegen einen Ausländer als Aggression gegen dessen Souverän betrachtet würde . . .“ (Nr. 80, S. 482)

Auch die Fälle mit zwischenstaatlichem Bezug bedürfen der abschließenden Entscheidung durch Bundesgerichte, da auch hier umstrittene Urteile zum Krieg führen könnten:155 „Die Kompetenz, Rechtsstreite zwischen zwei Einzelstaaten, zwischen einem Einzelstaat und Bürgern eines anderen und zwischen Bürgern verschiedener Einzelstaaten zu entscheiden, ist wohl nicht weniger entscheidend für den Frieden der Union als die bereits diskutierte. Die Geschichte liefert uns ein schreckliches Panorama der Streitigkeiten und Privatkriege, durch die Deutschland vor Einrichtung des Reichskammergerichts durch [Kaiser] Maximilian gegen Ende des 15. Jahrhunderts in Wirren gestürzt und verwüstet wurde. Sie lehrt uns gleichzeitig, wie groß der Einfluß dieser Institution war, die zur Besänftigung der Unruhen beitrug und den 155 Zur Kriegsgefahr zwischen den Einzelstaaten s. auch Hamiltons Ausführungen in Nr. 6 und 7, S. 24 ff.

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inneren Frieden im Reich herstellte. Es war ein Gericht, das in letzter Instanz alle Zwiste zwischen den Mitgliedern des Reichstags entscheiden konnte.“ (Nr. 80, S. 483)

Auch die letztinstanzliche Zuständigkeit der Bundesgerichte für Streitigkeiten zwischen verschiedenen Einzelstaaten und ihren Bürgern sorgt für Frieden in den Vereinigten Staaten und damit für Stabilität. b) Machtbegrenzende Funktion der drei Gewalten Die Stärke des von der Verfassung geschaffenen Regierungssystems steht in einem ambivalenten Verhältnis zum Staatszweck der Freiheitssicherung: ein starker Staat ist einerseits zum Schutz der Freiheit im Staat nötig, gefährdet diese jedoch andererseits auch, da seine Machtfülle die Gefahr einer Unterdrükkung der Bürger birgt: „Vergleichen wir diese wertvollen Eigenschaften [der Stärke und Stabilität des Regierungssystems] jedoch mit den lebenswichtigen Grundsätzen der Freiheit, so erkennen wir sofort die Schwierigkeit, beides im richtigen Verhältnis miteinander zu verbinden.“ (Nr. 37, S. 210)

Um die Gefahr des Machtmißbrauchs zu verringern und die Stärke des Staates mit der Freiheit der Bürger in Einklang zu bringen, muß der Staat nach Ansicht der Autoren des Federalist gewaltenteilig organisiert sein; die Existenz dreier verschiedener, eigenständiger Gewalten hat nicht nur eine machtkonstituierende, sondern auch machtbegrenzende Funktion. Auf diese geht Publius in Nr. 47 bis 51 im Anschluß an die Begründung der notwendigen Veränderungen im Verhältnis zwischen Bund und Einzelstaaten (Nr. 1 bis 46) ein, bevor er in Nr. 52 bis 83 die Ausgestaltung und das Verhältnis der drei Gewalten zueinander näher untersucht. Die Verfasser der Essays schreiben der Gewaltenteilung dabei in doppelter Hinsicht eine freiheitssichernde Funktion zu: sie sehen sie als Instrument zur Verhinderung sowohl tyrannischer als auch faktiöser Herrschaft. (1) Verhinderung tyrannischer Herrschaft Die Autoren des Federalist betonen, daß die erweiterten Kompetenzen des Bundes nicht mehr von einem einzigen Organ wahrgenommen werden können, da dies entweder zum Zerfall der Union führen oder zur Usurpation weiterer Kompetenzen verleiten und damit eine Tyrannei schaffen würde: „Eine einzige Kammer mag ein geeigneter Empfänger für die dürftigen oder genau abgezirkelten Vollmachten sein, die bisher der Spitze des Bundes übertragen waren. Doch wäre es unvereinbar mit allen Grundsätzen guten Regierens, ihr die zusätzlichen Kompetenzen zu übertragen . . . Sollte dieser Entwurf nicht angenommen werden . . ., so würden wir aller Wahrscheinlichkeit darauf verfallen, dem Kongreß,

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so wie er jetzt konstituiert ist, zusätzliche Kompetenzen zu übertragen. Entweder die Maschine zerfällt dann aufgrund ihrer strukturellen Schwäche in Einzelteile . . ., oder wir werden durch kontinuierliche Vermehrung ihrer Kraft und Energie von Fall zu Fall schließlich in einem einzigen Verfassungsorgan die wichtigsten Prärogativen der Souveränität vereint haben und unserer Nachwelt eine der fürchterlichsten Regierungsformen vermachen, die sich menschliche Einbildung je ausgedacht hat. So würden wir in Wirklichkeit gerade die Tyrannei schaffen, die die Gegner der neuen Verfassung vorgeblich vermeiden wollen.“ (Nr. 22, S. 131 f.)

Ein Machtmißbrauch hätte aufgrund der größeren Machtfülle viel weitreichendere Folgen und wäre stärker zu fürchten als unter den Konföderationsartikeln.156 Über diese Funktion der Gewaltenteilung bestand grundsätzlich Einigkeit; sowohl die Verfassungsbefürworter als auch -gegner gingen davon aus, daß die Teilung der Gewalten zum Schutz vor staatlicher Unterdrückung notwendig sei.157 Angesichts der Unbestrittenheit dieser Ansicht liefern die Autoren des Federalist keine ausführliche und eigene Begründung der Gewaltenteilung,158 vielmehr greift Madison auf die entsprechenden Ausführungen Montesquieus zurück, den er als „Orakel . . . zu diesem Thema“ bezeichnet (Nr. 47, S. 292). Madison äußert sich hierzu wie folgt: „Die Gründe, die Montesquieu für seine Maxime angibt, illustrieren sein Verständnis noch genauer. ,Wenn die gesetzgebende und die vollziehende Gewalt in einer Person oder in einem Gremium vereinigt sind‘, erklärt er, ,kann es keine Freiheit geben, weil Befürchtungen wach werden können, daß derselbe Monarch oder Senat tyrannische Gesetze verabschieden kann, um sie dann in tyrannischer Weise auszuführen.‘ Und wiederum: ,Wäre die Kompetenz der Rechtsprechung mit der der Gesetzgebung vereinigt, so wären Leben und Freiheit eines Untertanen der Willkür ausgeliefert, denn der Richter wäre auch der Gesetzgeber. Wäre sie mit der vollziehenden Gewalt vereint, so könnte sich der Richter so gewalttätig wie ein Unterdrükker verhalten.‘ “ (Nr. 47, S. 294)

Nicht nur die Ballung aller drei, sondern bereits die Vereinigung von zwei Gewalten in einer Hand ist gefährlich, weil sie die Gefahr des Machtmißbrauchs in sich birgt. Bei einer Vereinigung von Legislative und Exekutive 156

s. Millican, E., People (1990), S. 146 f. s. auch Madisons Hinweis in Nr. 51: „Um ein gutes Fundament für die getrennte und voneinander unabhängige Ausübung der verschiedenen Regierungsgewalten [powers of government] zu schaffen, wie es bis zu einem gewissen Grad von allen Seiten als wesentlich zur Erhaltung der Freiheit anerkannt wird . . .“ (Nr. 51, S. 313) 158 Dies bedeutet meines Erachtens nicht, daß der Grund für die Notwendigkeit von Gewaltenteilung im Federalist im Dunkeln bleibt, wie Kristol, W., Separation (1987), meint (s. insb. S. 101, 107, 119). Vielmehr ist anzunehmen, daß die Autoren aufgrund des allgemeinen Konsenses über die freiheitssichernde Funktion der Gewaltenteilung keinen Anlaß zu einer eingehenderen Erörterung sahen, sondern sich angesichts des Zwecks ihrer Essays und der Eile, in der sie geschrieben wurden, lieber den strittigen Punkten zuwandten. s. auch Epstein, D. F., Theory (1984), S. 127. 157

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könnte die entsprechende Körperschaft oder Person unterdrückerische Gesetze geben und ungehindert durchsetzen, und bei einer Vereinigung von Legislative oder Exekutive mit der Judikative müßte die gesetzgebende oder ausführende Gewalt keine externe Überprüfung ihrer Handlungen befürchten. Die Existenz dreier funktional und personell-institutionell hinreichend getrennter Gewalten gewährleistet demgegenüber ihre gegenseitige Kontrolle und damit eine Kontrolle der staatlichen Macht insgesamt. Die Übertragung der staatlichen Grundfunktionen an unterschiedliche Träger verhindert, daß die staatlichen Funktionsträger sich von den Auswirkungen ihrer Entscheidungen ausnehmen können, und bewirkt, daß die staatlichen Maßnahmen alle gleichermaßen treffen. Damit sorgt die Teilung der Gewalten für die Rechtsförmigkeit des staatlichen Handelns, sie verhindert eine partikulare Herrschaft und ersetzt diese Herrschaft von Menschen durch die Herrschaft der Gesetze, die allgemein und gleich sind und für jedermann gelten.159 Diese kontrollierende Wirkung ist in allen Staaten nötig; Madison betont, daß weder die Staatsform noch die Art der Bestimmung der Machthaber vor unterdrückerischer Herrschaft schützt: „Die Ballung aller Gewalten, der gesetzgebenden, vollziehenden und rechtsprechenden in einer Hand, sei es einer einzigen Person, mehrerer oder vieler Menschen, sei es durch Erbe, Selbsternennung oder Wahl, kann man zu Recht als die eigentliche Definition von Tyrannei bezeichnen.“ (Nr. 47, S. 291 f.)

Ebenso wie hereditäre oder selbsternannte Machthaber können auch gewählte Herrscher ihre Autorität in unterdrückerischer Weise ausüben. Madison bezeichnet alle nicht gewaltenteilig organisierten Staaten als Tyranneien und stellt damit klar, daß für ihn allein diese strukturelle Frage und nicht – wie für die herkömmliche, an Aristoteles angelehnte Auffassung – die Qualität der Herrschaftsausübung160 entscheidend ist.161 Denn auch wenn in einem gewaltenmonistischen Staat gemeinnützig geherrscht wird, kann sich dies wegen 159 s. hierzu Carey, G. W., Design (1989), S. 54 f.; Epstein, D. F., Theory (1984), S. 128 f. 160 Üblicherweise wurden im Anschluß an Aristoteles die Staaten als despotisch oder tyrannisch angesehen, in denen die Herrscher ihre Macht zu ihrem eigenen und nicht zum Nutzen der Gemeinschaft ausübten; s. Aristoteles, Politik, III 6, 1279 a 17– 21: „Soweit also die Verfassungen das Gemeinwohl berücksichtigen, sind sie im Hinblick auf das schlechthin Gerechte richtig; diejenigen aber, die nur das Wohl der Regierenden im Auge haben, sind allesamt verfehlt und weichen von den richtigen Verfassungen ab. Denn dann sind sie despotisch; der Staat ist aber eine Gemeinschaft von Freien.“ s. beispielsweise auch Lockes Definition von Tyrannei: „. . . so ist Tyrannei die Ausübung der Gewalt außerhalb allen Rechtes, wozu niemand berechtigt sein kann. Das geschieht, wenn jemand die Macht, die er in den Händen hat, nicht zum Wohl derer, die ihr unterstehen, gebraucht, sondern zu seinem eigenen, privaten, besonderen Vorteil; wenn der Regierende, welchen Titel er auch haben mag, nicht das Gesetz, sondern seinen Willen zur Norm erhebt . . .“ (Locke, J., Abhandlungen (1690), II, § 199, S. 325)

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der fehlenden institutionellen Kontrolle stets ändern; ein Mißbrauch der staatlichen Macht ist wegen der menschlichen Natur und der ihr immanenten Präponderanz der egoistischen Triebfedern stets zu befürchten. Die Teilung der Gewalten stellt dieser Prädisposition eine institutionelle Barriere entgegen. (2) Notwendiger Grad der Trennung Während über die grundsätzliche Notwendigkeit eines gewaltenteiligen Staates Einigkeit bestand, gingen die Ansichten über die Verwirklichung dieser Vorgabe im Verfassungsentwurf auseinander. Seine Gegner lehnten ihn unter anderem aufgrund einer zu weitgehenden Verschränkung der Gewalten ab: „Einer der Haupteinwände, der von den renommierteren Gegnern der Verfassung vorgebracht wird, liegt in der von ihnen unterstellten Verletzung der politischen Maxime, nach der Legislative, Exekutive und Judikative getrennt und unabhängig voneinander sein sollten. Die Struktur des föderalen Regierungssystems mißachte, so behaupten sie, diese entscheidende Vorkehrung für die Sicherung der Freiheit. Die unterschiedlichen Gewalten seien derart aufgeteilt und vermengt, daß gleichzeitig jede Symmetrie und Schönheit der Form zerstört worden und damit einige entscheidende Teile des Gebäudes der Gefahr ausgesetzt seien, durch das unverhältnismäßige Gewicht anderer Teile erdrückt zu werden.“ (Nr. 47, S. 291)

Die Autoren des Federalist dagegen halten eine teilweise Verschränkung der Gewalten für zulässig; sie schreiben die Kritik der Anti-Federalists einem falschen Gewaltenteilungsverständnis zu: „Könnte man der Bundesverfassung also wirklich eine solche Ballung der Macht vorwerfen . . ., so bedürfte es keiner weiteren Argumente, um eine allseitige Ablehnung des Systems auszulösen. Ich bin jedoch überzeugt davon, daß jedermann deutlich werden wird, daß dieser Vorwurf nicht aufrechterhalten werden kann und die Maxime, auf der er beruht, völlig falsch interpretiert und angewandt worden ist.“ (Nr. 47, S. 292)

Die Verfasser der Essays widerlegen die Ansicht der Verfassungskritiker mit zwei verschiedenen Argumentationen. Zunächst entkräften sie die Annahme, das Gewaltenteilungsprinzip postuliere eine strikte Separierung der Gewalten, und verweisen hierzu zunächst auf Montesquieu, auf den sich auch die Opponenten der neuen Verfassung berufen: „Das Orakel, das man zu diesem Thema immer befragt und zitiert, ist der gefeierte Montesquieu. Wenn er denn nicht der Urheber dieser unschätzbaren Maxime der Wissenschaft von der Politik ist, so hat er doch das Verdienst, sie zumindest höchst wirkungsvoll der Aufmerksamkeit der Menschheit dargelegt und empfohlen zu haben. Versuchen wir deshalb zuerst, seine Interpretation dieses Sachverhalts zu klären.“ (Nr. 47, S. 292)

161 s. hierzu Carey, G. W., Design (1989), S. 52 f.; Kristol, W., Separation (1987), S. 103.

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Montesquieu beschäftigt sich mit der Gewaltenteilung in seinem Werk Vom Geist der Gesetze, und zwar vor allem im sechsten Kapitel des elften Buches, das Von der Verfassung Englands handelt und in dem er ausgehend von dieser das Muster einer Verfassung entwickelt, die die Freiheit der Bürger gewährleistet.162 Inhaltlich setzt sich Madison im folgenden allerdings nicht mit Montesquieus Ausführungen selbst auseinander, sondern mit deren Vorbild, der britischen Verfassung.163 Anhand verschiedener Beispiele weist er nach, daß in Großbritannien Verschränkungen zwischen den Gewalten bestehen,164 und folgert daraus, daß auch Montesquieu, der sich auf diese Verhältnisse bezieht, keine rigorose Trennung der Gewalten postuliert: „Aus diesem Vorbild Montesquieus läßt sich ableiten, daß er nicht meinte, daß diese Gewalten keine teilweise Handlungsbefugnis oder Kontrolle über Handlungen der jeweils anderen haben sollten . . . Seine eigenen Worte und noch zwingender das Beispiel, das er vor Augen hat, besagen lediglich: Wo alle Macht einer der drei Gewalten durch dieselben Personen ausgeübt wird, die auch alle Macht einer der drei anderen Gewalten innehaben, sind die grundlegenden Prinzipien einer freien Verfassung untergraben.“ (Nr. 47, S. 293)

Diese Interpretation wird durch Montesquieus Aussagen in seinem Werk Vom Geist der Gesetze gestützt, auf die Madison allerdings nicht weiter eingeht. Denn eine Trennung der Gewalten nimmt Montesquieu nur im Rahmen ihrer funktionellen Differenzierung vor;165 im Anschluß daran ordnet er die Funktionen jedoch verschiedenen Trägern zu166 und sieht dabei eine Reihe von Ver162

s. etwa Drath, M., Gewaltenteilung (1952), S. 21, Fn. 1. „. . . so scheint der große politische Kritiker die Verfassung Englands als Maß oder, um seinen eigenen Begriff zu benutzen, als Spiegel politischer Freiheit betrachtet zu haben, die in Form grundlegender Wahrheiten die charakteristischen Grundsätze dieses besonderen Systems überliefert habe. Um sicher zu gehen, daß wir seine Interpretation dieses Sachverhalts nicht mißverstehen, gehen wir an die Quelle zurück, aus der die Maxime hergeleitet wurde.“ (Nr. 47, S. 292) 164 „Auch bei oberflächlichster Betrachtung der britischen Verfassung erkennen wir, daß gesetzgebende, vollziehende und rechtsprechende Gewalt keineswegs völlig getrennt und unabhängig voneinander sind. Der höchste Amtsinhaber der vollziehenden Gewalt bildet einen integralen Bestandteil der Machtbefugnis der gesetzgebenden Gewalt . . . Eine Kammer der gesetzgebenden Gewalt [das Oberhaus] bildet ebenfalls ein wichtiges verfassungsmäßiges Beratungsgremium für den Inhaber der Exekutivgewalt . . . Die Richter ihrerseits sind insoweit mit der gesetzgebenden Gewalt verbunden, als sie häufig deren Beratungen beiwohnen und daran teilnehmen, auch wenn sie an den Abstimmungen der Legislative nicht beteiligt sind.“ (Nr. 47, S. 292 f.) 165 Er unterscheidet die gesetzgebende, die vollziehende und die richterliche Gewalt, s. Montesquieu, C.-L. de, Geist (1748), Buch XI, Kap. 6, S. 214 f. 166 Dabei überträgt er allen bestimmenden sozialen Elementen seiner Zeit politische Verantwortung, nämlich dem Volk, Adel und König; s. hierzu Drath, M., Gewaltenteilung (1952), S. 23, 25. Die gesetzgebende Gewalt spricht er vorwiegend dem Volk und Adel zu, während die Funktion der Exekutive vorwiegend vom König wahrgenommen wird, s. Montesquieu, C.-L. de, Geist (1748), Buch XI, Kap. 6, S. 218 ff.; 163

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E. Aufbau des Staates

flechtungen vor.167 Montesquieu fordert also keineswegs die strikte Separierung der staatlichen Gewalten, die ihm oft zugeschrieben wird; der vermeintliche Gewaltentrennungs-„Grundsatz“, als dessen Urheber er oft angeführt wird, ist ein aus dem Zusammenhang herausgelöster Teil seiner Ausführungen, der sich verselbständigt hat und dogmatisiert wurde.168 Als weiteres Argument für die Zulässigkeit gewisser Verschränkungen im gewaltenteiligen Staat berufen sich die Autoren des Federalist auf das Beispiel der Einzelstaaten; obwohl ihre Verfassungen die Notwendigkeit der Gewaltentrennung teilweise apodiktisch postulierten, bestanden in allen Staaten gewisse Verflechtungen zwischen den einzelnen Gewalten: „Betrachten wir die Verfassung der einzelnen Staaten, so erkennen wir, daß ungeachtet der nachdrücklichen und in einigen Fällen uneingeschränkten Art und Weise, in der dieses Axiom formuliert worden ist, es nicht einen einzigen Fall gibt, in dem die verschiedenen Gewalten absolut getrennt und unabhängig voneinander sind.“ (Nr. 47, S. 294)

Im Anschluß weist Madison dies detailliert anhand einer Analyse von elf der dreizehn Einzelstaatsverfassungen nach169 und zieht die Schlußfolgerung, daß in einigen Einzelstaaten sogar stärkere Verknüpfungen zwischen den Gewalten bestehen als nach dem Verfassungsentwurf: „Es ist nur allzu offensichtlich, daß in einigen Fällen das hier behandelte grundlegende Prinzip durch eine zu große Vermengung, ja sogar durch eine tatsächliche Vereinigung [consolidation] der verschiedenen Gewalten verletzt worden ist und in keinem Fall eine angemessene Bestimmung eingefügt wurde, um in der Praxis die Trennung aufrechtzuerhalten, die auf dem Papier entworfen wurde.“ (Nr. 47, S. 298)170 221. Die rechtsprechende Gewalt dagegen will er zur Sicherung der Freiheit im Staat vorab separieren und quasi zu einem Nullum machen; die Gerichtshöfe sollen nicht ständig bestehen, sondern von Fall zu Fall aus jeweils neu zu bestimmenden Bürgern gebildet werden, s. a. a. O., S. 217 f. s. dazu auch Lange, U., Montesquieu (Staat 19, 1980), S. 219 f. Allein in diesem Zusammenhang verwendet Montesquieu im Hinblick auf die drei Gewalten den Begriff der Trennung; s. Drath, a. a. O., S. 30; Steffani, W., Gewaltenteilung (1962), S. 323. 167 So überprüft die Legislative den Vollzug der Gesetze durch die Exekutive und kann diese strafrechtlich zur Verantwortung ziehen (allerdings nicht den Monarchen, sondern nur seine Minister); s. Montesquieu, C.-L. de, Geist (1748), Buch XI, Kap. 6, S. 223 f. Der König entscheidet seinerseits über die Zusammenkunft der Legislative, beruft sie also zur Versammlung ein und löst diese auf, und ist bezüglich ihrer Beschlüsse mit einem Vetorecht ausgestattet, a. a. O., S. 222 f., 225 f. Zudem kommt der adligen Kammer in drei Fällen die rechtsprechende Gewalt zu, und zwar bezüglich des Adelsstandes sowie in Begnadigungsfällen und bei Amtsanklagen, s. a. a. O., S. 224 f. 168 s. hierzu Drath, M., Gewaltenteilung (1952), S. 29; Kägi, W., Dreiteilung (1961), S. 157–161. 169 s. Nr. 47, S. 294–298. Die Verfassungen von Rhode Island und Connecticut läßt er außer acht, da sie in ihren Grundzügen noch aus vorrevolutionären Zeiten stammen, s. Nr. 47, S. 296.

I. Die drei Gewalten

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Die Grenze der zulässigen Verschränkung ist nach Ansicht der Autoren des Federalist dann überschritten, wenn eine Gewalt die gesamten Befugnisse einer der anderen Gewalten wahrnimmt oder ihr Handeln steuern kann: „. . . es sei denn diese Gewalten sind so weitgehend miteinander verbunden und vermengt, daß sie eine verfassungsmäßige Kontrolle über eine der anderen besitzen. Es herrscht allseitige Übereinstimmung, daß die Kompetenzen, die einer der Gewalten zu Recht zustehen, nicht direkt und vollständig von einer der anderen Gewalten ausgeübt werden sollten. Ebenso offensichtlich ist, daß keine von ihnen direkt oder indirekt einen bestimmenden Einfluß auf die anderen bei deren Ausübung ihrer Kompetenzen besitzen sollte.“ (Nr. 48, S. 299)

(3) Mittel zur Durchsetzung der Gewaltenteilung Als zweites Argument gegen die Kritik der Verfassungsgegner führen die Autoren des Federalist an, daß die Teilung der Gewalten in der Praxis nur aufrechtzuerhalten ist, wenn zwischen ihnen gewisse Verflechtungen bestehen; diese stellen nach Ansicht Publius’ keine Abweichungen vom Gewaltenteilungsprinzip dar, sondern verschaffen ihm erst Geltung. Allein die verfassungsrechtliche Fixierung der Kompetenzen jeder Gewalt reicht zur Gewährleistung ihrer Teilung nicht aus, da sie auf eine Ausdehnung ihrer Machtbereiche drängen und bloße schriftliche Abgrenzungen kein Hindernis für Übergriffe der einen Gewalt in die Bereiche der anderen darstellen: „Wird es ausreichen, die Grenzen zwischen diesen Gewalten in der Verfassung eines Regierungssystems sehr genau zu bestimmen und auf diese papiernen Schranken gegen den expansiven Drang der Macht zu vertrauen? Das ist der Schutz, auf den sich die Verfasser der meisten amerikanischen [Einzelstaats-]Verfassungen anscheinend verlassen haben. Doch die Erfahrung lehrt uns gewiß, daß die Wirksamkeit dieser Bestimmung sehr überschätzt worden ist und ein angemesseneres Bollwerk für die schwächeren gegenüber den mächtigeren Teilen des Regierungssystems unbedingt nötig ist.“ (Nr. 48, S. 299 f.)

Das Expansionsstreben geht im republikanischen Staat am stärksten von der Legislative aus171 und führt bei ungehindertem Fortgang zur Usurpation aller staatlichen Funktionen durch die Gesetzgebung: „Die gesetzgebende Gewalt weitet überall ihre Handlungssphäre aus und zieht alle Macht in ihren ungestümen Strudel hinein.“ (Nr. 48, S. 300)

170 Dieses Argumentationsmuster bezeichnet Carey als Glashaus-Argument; er beschreibt damit die Taktik des Federalist, nachzuweisen, daß die an der Verfassung geäußerte Kritik in viel höherem Maße auf die Einzelstaaten zutrifft, und die Anti-Federalists als Verfechter der Rechte der Einzelstaaten so mit den sprichwörtlichen Personen gleichzusetzen, die im Glashaus sitzen und dennoch mit Steinen werfen. s. Carey, G. W., Design (1989), S. 56; s. auch S. 92, Fn. 5. 171 Dagegen stellt in der Monarchie und unter Umständen auch der direkten Demokratie die Exekutive die größte Gefahr dar, s. Nr. 48, S. 300.

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E. Aufbau des Staates

Denn diese Körperschaft ist dem Volk am stärksten verbunden und unterliegt als größtes staatliches Organ eher den Leidenschaften als die beiden anderen Gewalten; zudem sind ihre Befugnisse umfangreicher und weniger eng umschrieben, so daß sie Usurpationsversuche leichter verschleiern kann. Auch legt sie die Steuern fest und entscheidet in einigen Staaten sogar über die Bezahlung der Träger der anderen Gewalten; diese sind also insoweit von ihr abhängig.172 Die Dominanz der Legislative im republikanischen Staat wurde auch durch die in den Einzelstaaten nach der Revolution gemachten Erfahrungen belegt, auf die Madison in Nr. 48 verweist.173 Die Konzentration der Macht in den Händen einer Gewalt würde jedoch zur Tyrannei führen. Um diese Entwicklung zu verhindern und die den Gewalten verfassungsrechtlich gezogenen Grenzen durchzusetzen, bedarf es einer Einschränkung des hegemonialen Strebens, die nicht von außen kommen kann,174 sondern von den Gewalten selbst ausgehen muß; diese müssen sich gegenseitig kontrollieren und in ihre Grenzen verweisen: „Da all diese äußeren Vorkehrungen sich als unzureichend erwiesen haben, muß der Mangel behoben werden, indem die innere Struktur des Regierungssystems so gestaltet wird, daß dessen verschiedene konstitutive Teile durch ihre wechselseitigen Beziehungen selbst zum Mittel werden, den jeweils anderen Teil in seine Schranken zu verweisen.“ (Nr. 51, S. 313)

(a) Strukturelle Maßnahmen zur Separierung Dies setzt die hinreichende Stärke und Unabhängigkeit der einzelnen Gewalten voraus: „Um ein gutes Fundament für die getrennte und voneinander unabhängige Ausübung der verschiedenen Regierungsgewalten [powers of government] zu schaffen, wie es bis zu einem gewissen Grad von allen Seiten als wesentlich zur Erhaltung 172 s. Madisons Ausführungen in Nr. 48, S. 300 f., und Hamiltons Darlegungen in Nr. 71, S. 435. 173 Stellvertretend nennt er zwei der Staaten; zunächst zitiert er aus Jeffersons Notes on the State of Virginia, in denen dieser moniert, daß trotz der Postulierung des Gewaltenteilungsgrundsatzes in der Verfassung dieses Staates alle Gewalten in der Legislative zusammenlaufen, da „keine Schranke zwischen diesen verschiedenen Gewalten errichtet“ wurde (s. Nr. 48, S. 302). Zum anderen verweist Madison auf Pennsylvania, das periodische Überprüfungen von Verfassungsbrüchen durch einen Rat der Zensoren vorsah. Dieser stellte fest, daß sich vor allem die Legislative in zahlreichen Fällen Kompetenzen der anderen Gewalten angemaßt hatte (s. Nr. 48, S. 303 f.). Zur Vorherrschaft der Legislative in den Einzelstaaten s. auch oben B. II. 4. a) (3). 174 Entsprechend verwirft Madison den von Jefferson in seinen Notes on the State of Virginia gemachten Vorschlag, bei Verfassungsbrüchen auf Antrag von zwei Gewalten das Volk anzurufen, d. h. einen Konvent zur Korrektur der Verfassungsbrüche einzuberufen; s. Nr. 49, S. 306–309. s. hierzu auch Epstein, D. F., Theory (1984), S. 133– 136. Auch die regelmäßige statt nur sporadische Versammlung eines solchen Konventes lehnt Madison aus den gleichen Gründen ab, s. Nr. 50, S. 310.

I. Die drei Gewalten

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der Freiheit anerkannt wird, muß offensichtlich jede Gewalt über sich selbst bestimmen können . . .“ (Nr. 51, S. 313)

Jede der drei Gewalten muß in ihren Entscheidungen autonom sein und einen eigenen Willen haben („each department should have a will of its own“, Nr. 51, S. 289).175 Um dies sicherzustellen, sieht die Verfassung zunächst in struktureller Hinsicht verschiedene Vorkehrungen vor, die der Separierung der Gewalten dienen, insbesondere ihre weitgehende Unabhängigkeit voneinander bezüglich des Wahlmodus und in finanzieller Hinsicht. Die Bedeutung dieser Bestimmungen betont Madison in Nr. 51; er verweist darauf, daß jede Gewalt so konstituiert sein muß, „. . . daß die Mitglieder der einen Gewalt so wenig wie möglich mit der Ernennung oder Wahl der Mitglieder der anderen zu tun haben. . . . Ebenso offenkundig ist, daß die Mitglieder der verschiedenen Gewalten für die mit ihrem Amt verbundenen Vergütungen so wenig wie möglich von den anderen abhängig sein sollten. Wären die Mitglieder der Exekutive oder die Richter in diesem Punkt nicht unabhängig von der Legislative, dann bestünde auch in jeder anderen Hinsicht ihre Unabhängigkeit nur dem Namen nach.“ (Nr. 51, S. 313 f.)

(aa) Exekutive Aufgrund dieser Überlegungen wird der Präsident als Chef der Exekutive gemäß Art. 2 Abschn. 1 Abs. 2 S. 1 der Verfassung nicht vom Parlament, sondern von Wahlmännern gewählt, die zunächst von den Einzelstaatslegislativen ernannt, später jedoch direkt vom Volk gewählt wurden.176 Die (zumindest indirekte) Wahl der Exekutivspitze durch das Volk ist charakteristisch für ein präsidentielles Regierungssystem, während im parlamentarischen Regierungssystem die Regierung oder ihr Chef von der Legislative gewählt wird,177 von dessen Vertrauen sie in der Folgezeit abhängig ist und von dem sie entsprechend auch

175 Mit dieser Postulierung der Entscheidungsautonomie der drei Gewalten weist er zum einen in horizontaler Perspektive auf ihre Abgrenzung voneinander hin; zum anderen impliziert er damit aber zugleich, daß die staatlichen Organe auch in vertikaler Hinsicht ihre eigenen Beschlüsse treffen müssen und nicht nur den Willen des Volkes unmittelbar umsetzen dürfen; s. Epstein, D. F., Theory (1984), S. 137. Diese Differenz zwischen dem unmittelbaren Willen des Volkes und dem von den staatlichen Gewalten artikulierten, mittelbaren Volkswillen spielt insbesondere in der Legislative eine große Rolle, da sie hier den qualitativen Unterschied zwischen der volonté de tous und der volonté générale ausmacht. s. hierzu das Repräsentationsverständnis des Federalist, unten II. 2. b) (1). 176 s. hierzu oben a) (2). 177 Zudem ist der Regierungschef im präsidentiellen Regierungssystem zugleich Staatsoberhaupt, während die beiden Ämter im parlamentarischen System getrennt und unterschiedlich besetzt sind.

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E. Aufbau des Staates

gestürzt werden kann.178 Der Präsident der USA dagegen kann vom Kongreß nur durch ein Amtsenthebungsverfahren abgesetzt werden (s. Art. 1 Abschn. 3 Abs. 7 S. 1), das aber gemäß Art. 2 Abschn. 4 der Verfassung Verrat, Bestechung oder andere schwerwiegende Verbrechen oder Vergehen voraussetzt, also ein strafrechtlich relevantes Verhalten. Eine Entfernung aus rein politischen Gründen, wegen mangelnden Vertrauens des Kongresses, ist nicht möglich. Umgekehrt kann der Präsident die Legislative jedoch – anders als beispielsweise der deutsche Bundeskanzler – auch nicht auflösen (lassen);179 er kann die Kammern gemäß Art. 2 Abschn. 3 S. 2 bei außerordentlichen Anlässen lediglich einberufen oder vertagen.180 Das präsidentielle Regierungssystem ist damit durch eine größere Unabhängigkeit der Exekutive von der Legislative gekennzeichnet, die die Position des Präsidenten dem Kongreß gegenüber entscheidend stärkt.181 Die Unabhängigkeit der Exekutive wird daneben auch in finanzieller Hinsicht weitgehend gewährleistet. Zwar ist nach der Verfassung die Bewilligung aller 178 So wird etwa der deutsche Bundeskanzler gemäß Art. 63 GG vom Bundestag gewählt und ist gemäß Art. 67 f. GG von dessen Vertrauen abhängig; gemäß Art. 67 Abs. 1 GG kann der Bundestag den Bundeskanzler durch ein konstruktives Mißtrauensvotum stürzen. 179 Gemäß Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG kann der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten den Vorschlag machen, den Bundestag aufzulösen. 180 Die engere personelle und funktionelle Verflechtung von Legislative und Exekutive im parlamentarischen Regierungssystem zeigt sich auch darin, daß die gleichzeitige Ausübung von Abgeordnetenmandat und Regierungsamt hier statthaft, in der präsidentiellen Demokratie dagegen unzulässig ist, s. Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 284. So wird die gleichzeitige Wahrnehmung einer legislativen und exekutiven Funktion durch die Inkompatibilitätsregelung des Art. 1 Abschn. 6 Abs. 2 ausdrücklich untersagt [s. hierzu auch a. a. O., S. 227 und unten (b)], während in der Bundesrepublik Deutschland durch Art. 66 GG lediglich die Bekleidung anderer besoldeter Ämter verboten wird. Weitere Unterschiede zwischen dem bundesrepublikanischen, parlamentarischen System und der US-amerikanischen präsidentiellen Demokratie bestehen darin, daß die deutsche Bundesregierung gemäß Art. 76 Abs. 1 Alt. 1 GG ein Gesetzesinitiativrecht hat, das dem amerikanischen Präsidenten nicht zusteht; er kann lediglich gemäß Art. 2 Abschn. 3 S. 1 Hs. 2 Maßnahmen zur Beratung empfehlen, die er für notwendig und nützlich hält. Allerdings hat sich dieses Recht in der Praxis mittlerweile zu einem Initiativrecht entwickelt, s. Fraenkel, E., a. a. O., S. 226 f. und 252. Zudem können die Mitglieder der deutschen Bundesregierung gemäß Art. 43 Abs. 2 GG an Sitzungen des Bundestages teilnehmen und müssen jederzeit gehört werden, während dies in den USA nicht vorgesehen ist; der Präsident hat lediglich gemäß Art. 2 Abschn. 3 S. 1 das Recht und die Pflicht, dem Kongreß von Zeit zu Zeit über die Lage der Union Bericht zu erstatten. Abgesehen von diesen besonderen Anlässen steht aber weder ihm noch anderen Mitgliedern der Exekutive ein Recht zur Teilnahme an den Sitzungen des Kongresses zu, s. ebd., S. 286–288. 181 Allerdings bedeutet dies nicht, daß dem Präsidenten automatisch die Vormachtstellung im politischen Prozeß zukommt; vielmehr ist die Verfassung so flexibel, daß auch der Kongreß diese Position erringen kann. s. hierzu Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 279 f.

I. Die drei Gewalten

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öffentlichen Ausgaben durch den Kongreß nötig,182 aber die dadurch bedingte Abhängigkeit der Exekutive von der Legislative wird durch Art. 2 Abschn. 1 Abs. 6 S. 1 gemildert, der bestimmt, daß der Präsident „zu festgesetzten Zeiten für seine Dienste eine Vergütung [erhält], die während des Zeitraums, für den er gewählt ist, weder erhöht noch gekürzt werden darf.“ Hamilton legt die Bedeutung dieser Bestimmung in Nr. 73 dar: „Die Legislative muß bei der Wahl des Präsidenten ein für alle Mal die Höhe der Vergütung für seine Dienste während seiner gesamten Amtszeit festlegen. Ist das einmal unwiderruflich geschehen, so kann sie den Betrag legal weder erhöhen noch kürzen, bis durch eine Neuwahl eine neue Amtszeit [des Präsidenten] beginnt. Sie kann seine Festigkeit weder durch Manipulationen an seinem Lebensunterhalt schwächen noch seine Integrität durch Appelle an seine Habgier korrumpieren.“ (Nr. 73, S. 444)

(bb) Judikative Auch die Stellung der Judikative, die die Autoren des Federalist als schwächste Gewalt ansehen,183 wird in struktureller Hinsicht durch die Regelung ihrer Wahl und Besoldung gestärkt. Zwar werden die Richter gemäß Art. 2 Abschn. 2 Abs. 2 S. 2 vom Präsidenten nominiert und mit Zustimmung des Senates ernannt,184 so daß insofern der von Madison propagierte Grundsatz der Unabhängigkeit durchbrochen wird.185 Bezüglich der Judikative ist jedoch eine Ausnahme gerechtfertigt, da ihre Amtsträger – anders als die der beiden anderen 182

s. Art. 1 Abschn. 9 Abs. 7 Hs. 1. „Wer die unterschiedlichen Gewalten aufmerksam betrachtet, muß zwangsläufig erkennen, daß in einem Regierungssystem, in dem sie voneinander getrennt sind, die Judikative aufgrund der Natur ihrer Funktionen immer die am wenigsten gefährliche für die politischen Rechte der Verfassung sein wird, weil ihre Fähigkeit, diese zu verletzen oder zu beeinträchtigen, am schwächsten sein wird. Die Exekutive vergibt nicht nur Ämter, sondern führt das Schwert der Gemeinschaft. Die Legislative verfügt nicht allein über die Staatskasse, sondern legt die Normen fest, nach denen Pflichten und Rechte jedes Bürgers zu bestimmen sind. Im Gegensatz dazu hat die Judikative weder Zugriff auf das Schwert noch auf das Staatssäckel, sie verfügt weder über die Stärke noch den Reichtum der Gesellschaft und kann keinerlei aktive Beschlüsse fassen. Man kann wahrhaft sagen, sie besitzt weder die Machtmittel zu handeln [force] noch den Willen [will], sondern allein Urteilsvermögen und ist letztlich von der Unterstützung der Exekutive für den Vollzug ihrer Urteile abhängig. Diese einfache Sicht der Dinge legt einige wichtige Schlußfolgerungen nahe. Sie beweist unwiderlegbar, daß die Judikative bei weitem die schwächste der drei Gewalten ist, daß sie nie erfolgreich eine der anderen angreifen kann und jede erdenkliche Sorgfalt erforderlich ist, um sie in die Lage zu versetzen, sich gegen deren Angriffe zu verteidigen.“ (Nr. 78, S. 470 f.) 184 s. hierzu Hamiltons Ausführungen in Nr. 76 und 77, S. 458–467. 185 s. hierzu auch Nr. 51, S. 313: „Wollte man diesen Grundsatz strikt durchhalten, so müßten alle Ernennungen und Wahlen von höchsten Amtsinhabern der Exekutive, Legislative und Judikative aus der gleichen Quelle von Autorität hergeleitet werden, dem Volk, und zwar auf völlig unabhängigen Wegen, zwischen denen keinerlei Verbindung besteht.“ 183

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E. Aufbau des Staates

Gewalten – besondere fachliche Qualifikationen vorweisen müssen und die Auswahl geeigneter Bewerber insoweit Vorrang hat:186 „Insbesondere bei der Konstituierung der rechtsprechenden Gewalt könnte es unzweckmäßig sein, starr an diesem Grundsatz festzuhalten: zum einen, weil spezifische rechtliche Qualifikationen für deren Mitglieder ganz unerläßlich sind, und also vorrangig der Auswahlmodus gefunden werden muß, der diese rechtlichen Qualifikationen am besten gewährleistet . . .“ (Nr. 51, S. 313 f.)

Die Mitwirkung der anderen Gewalten wird zudem durch zwei Umstände gemildert. Zunächst ist die Wahl den weniger stark zu Übergriffen neigenden Organen übertragen, denn aktive Versuche der Einflußnahme sind vor allem vom Repräsentantenhaus als größter Kammer der Legislative zu befürchten, und diesem räumt die Verfassung bewußt kein Mitspracherecht bei der personellen Besetzung der Judikative ein. Zum anderen wird die Beteiligung des Präsidenten und Senates durch die Ernennung der Richter auf Lebenszeit bzw. „während guter Amtsführung“ ausgeglichen, die Art. 3 Abschn. 1 S. 2 der Verfassung vorsieht und die bewirkt, daß die Richter nach der Einsetzung ins Amt von der sie berufenden Instanz unabhängig sind.187 Zudem sind auch die Mitglieder der Judikative trotz ihrer Angewiesenheit auf die Bewilligung ihrer Vergütung durch die Legislative188 vor einer Einflußnahme des Kongresses weitgehend durch Art. 3 Abschn. 1 S. 2 der Verfassung geschützt, der bestimmt, daß die Richter zu festgelegten Zeiten für ihre Dienste eine Vergütung erhalten, die während ihrer Amtsdauer nicht gekürzt, aber jederzeit erhöht werden darf. Der Grund für den Unterschied zur Besoldung des Präsidenten liegt in der längeren Amtszeit der Richter: beim Präsidenten ermöglicht die einmalige Festsetzung der Bezüge zu Beginn der Amtsperiode eine Anpassung in vierjährigem Abstand, während sie bezüglich der Judikative eine Fixierung der Gehälter der Richter auf Lebenszeit bedeuten würde. Damit aber wäre die Möglichkeit ausgeschlossen, auf veränderte ökonomische Rahmenbedingungen zu reagieren und die Bezüge der Amtsträger der wirtschaftlichen Entwicklung anzupassen.189 186

s. hierzu auch Kristol, W., Separation (1987), S. 121. Im einzelnen s. hierzu unten (d) (bb). Diesen Punkt nennt Hamilton auch in Nr. 9 unter den „Methoden . . ., mit deren Hilfe die vortrefflichen Seiten der republikanischen Regierungsform erhalten und ihre Mängel verringert oder ausgeschaltet werden können“, nämlich „die Schaffung von Gerichten mit Richtern, die ihr Amt während guter Amtsführung bekleiden.“ (Nr. 9, S. 45) 188 s. Art. 1 Abschn. 9 Abs. 7 Hs. 1 der Verfassung. 189 s. hierzu Hamiltons Ausführungen in Nr. 79: „Es ist deutlich, daß der Konvent einen Unterschied zwischen der Vergütung des Präsidenten und der Richter gemacht hat. Für ersteren kann sie weder erhöht noch gekürzt werden, für letztere kann sie nur nicht gekürzt werden. Das hängt wahrscheinlich mit ihrer unterschiedlichen Amtsdauer zusammen. Da der Präsident für nicht mehr als vier Jahre gewählt wird, kann es kaum je vorkommen, daß ein angemessenes Gehalt, das zu Beginn dieser Periode festgesetzt wurde, nicht auch an deren Ende noch ausreichend ist. Bei den Richtern, die ihr Amt 187

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(cc) Legislative Die Verfassung sucht die Legislative als stärkste Gewalt in struktureller Hinsicht vor allem zu schwächen; zur Verringerung des zwischen den Gewalten bestehenden Machtgefälles190 sieht sie ein bikamerales System vor: „Eine mögliche Abhilfe für dieses Problem ist es, die Legislative in unterschiedliche Kammern aufzuteilen und deren Gemeinsamkeiten durch einen unterschiedlichen Wahlmodus und unterschiedliche Grundsätze für ihre Tätigkeit so weit zu reduzieren, wie es das Wesen ihrer gemeinsamen Abhängigkeit von der Gesellschaft zuläßt.“ (Nr. 51, S. 315)

Entsprechend teilt die Verfassung den Kongreß in Art. 1 Abschn. 1 in Repräsentantenhaus und Senat. Die Verschiedenheit der beiden Kammern findet ihre Grenze jedoch im republikanischen Prinzip: beide Häuser müssen letztlich vom Volk gewählt werden und dieses repräsentieren.191 Darauf weist Madison auch in seiner späteren Erörterung des Senates hin, wenn er dessen schützende Wirkung für das Volk darstellt: „Da finstere Intrigen umso unwahrscheinlicher sein werden, je unähnlicher die beiden Kammern ihrem Wesen nach sind, ist es politisch klug, beide in jeder Hinsicht so sehr voneinander zu unterscheiden, wie es mit den genuinen Grundsätzen eines republikanischen Regierungssystems vereinbar ist.“ (Nr. 62, S. 376)

Der Senat darf keine vom Volk abgesonderte Schicht und keine separaten Interessen vertreten; ein Oberhaus nach englischem Vorbild, d. h. eine adelige Kammer, wäre mit dem republikanischen Charakter der Verfassung nicht vereinbar.192 bei untadeligem Verhalten auf Lebenszeit innehaben, kann es sehr wohl vorkommen, insbesondere in der Anfangsphase dieses Regierungssystems, daß eine Summe, die bei ihrer Ernennung ausreicht, im Verlauf ihrer Dienstzeit zu niedrig sein wird.“ (Nr. 79, S. 479) 190 Ein Ausgleich, eine Nivellierung dagegen ist nach Ansicht des Federalist weder möglich noch erwünscht, s. dazu unten (4). 191 Um trotzdem einen unterschiedlichen Wahlmodus zu gewährleisten, wurden die Senatoren ursprünglich von den Einzelstaatslegislativen und damit nur indirekt vom Volk ernannt, während das Repräsentantenhaus – wie heute beide Kammern – direkt vom Volk gewählt wurde; s. Art. 1 Abschn. 2 Abs. 1 und Abschn. 3 Abs. 1. Der unterschiedliche Wahlmodus von Repräsentantenhaus und Senat wurde durch das 17. amendment von 1913 abgeschafft. Die Senatoren waren aber auch nach der ursprünglichen Regelung Vertreter des Volkes; dadurch unterscheidet sich der Senat der Vereinigten Staaten beispielsweise vom deutschen Bundesrat, der sich gemäß Art. 51 GG aus Mitgliedern der Regierungen der Länder zusammensetzt, die von den Regierungen bestellt und abberufen werden und durch andere Regierungsmitglieder vertreten werden können. Die Mitglieder des Bundesrates sind zudem mit einem imperativen Mandat ausgestattet, während die US-amerikanischen Senatoren keinerlei Instruktion unterliegen, sondern ein freies Mandat haben. Zum Vergleich Senat – Bundesrat s. Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 130. 192 Da alle von der neuen Verfassung geschaffenen staatlichen Institutionen direkt oder indirekt auf dem Volk basieren und es in der amerikanischen Gesellschaft nach

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E. Aufbau des Staates

Da zur Verabschiedung von Gesetzen gemäß Art. 1 Abschn. 7 Abs. 2 S. 1 der Verfassung die Zustimmung beider Kammern nötig ist,193 herrscht im Gesetzgebungsprozeß ein Machtgleichgewicht zwischen beiden Häusern, aufgrund dessen sie sich wechselseitig blockieren können; diesen Effekt beschreibt Hamilton in Nr. 9 als „legislative balances and checks“ (s. Nr. 9, S. 40).194 Die Autoren des Federalist erwarten dabei vor allem vom Senat einen mäßigenden Einfluß auf das Repräsentantenhaus, das als größere Kammer stärker dem Einfluß der Leidenschaften unterworfen ist: „In dieser Hinsicht bildet ein Senat als zweite, selbständige Kammer der Legislative, die mit der ersten Kammer die Macht teilt, in jedem Fall eine heilsame Einschränkung der Regierungsgewalt. Er verdoppelt den Schutz für das Volk, indem für Usurpationspläne oder Verrat die Übereinstimmung zweier getrennter Körperschaften erforderlich ist, wo ansonsten Machtstreben oder Korruption von nur einer ausreichten.“ (Nr. 62, S. 376)

Der Senat schützt durch seinen mäßigenden Einfluß jedoch nicht nur das Volk, sondern auch die anderen Gewalten: auch bei Usurpationsplänen des Repräsentantenhauses zu ihren Lasten kann er einschreiten und die Stimme der Vernunft sprechen lassen.195 Durch die Einführung einer zweiten, kleineren Kammer mit länger im Amt befindlichen Mitgliedern wird also der Einfluß des Repräsentantenhauses im politischen Prozeß und damit die von der Legislative ausgehende Gefahr für die anderen Gewalten verringert.

der Unabhängigkeit von England keine ständischen Differenzierungen mit der Institution des Adels mehr gab, handelt es sich beim Verfassungsentwurf nicht um eine gemischte Verfassung. Vielmehr wurde die triadische Differenzierung des Einen, der Wenigen und der Vielen, die sich in England in der Gliederung König – Adel (Oberhaus) – Volk (Unterhaus) widerspiegelte, auf eine rein demokratische Ebene transponiert, auf der sowohl das Amt des Präsidenten als auch die Institutionen des Senats und des Repräsentantenhauses angesiedelt sind. Zur Entwicklung des Mischverfassungsgedankens und zum Unterschied zwischen Mischverfassung und amerikanischer Bundesverfassung s. etwa von Bose, H., Mischverfassung (1989), S. 125–149; Diamond, M., Separation (1978); Knight, B. B., Introduction (1989); Wills, G., Explaining (1981), S. 97–107. 193 Für die Beschlußfähigkeit sowohl des Senates als auch des Repräsentantenhauses ist gemäß Art. 1 Abschn. 5 Abs. 1 S. 2 die Anwesenheit der Mehrheit der Mitglieder nötig. 194 Madison hält diese Wirkung für so offensichtlich, daß er sie in Nr. 51 nicht weiter erläutert, s. Wills, G., Explaining (1981), S. 124. Den Ausdruck checks and balances, mit dem das von der Verfassung vorgesehene und vom Federalist verteidigte System allgemein beschrieben wird, verwenden die Autoren der Essays demgegenüber nicht; zudem beschränken sie den Mechanismus der „balances and checks“ ausdrücklich auf die Legislative; s. dazu unten (4). 195 Die subjektive Motivation der Senatoren, sich dem Repräsentantenhaus auch tatsächlich entgegenzustellen und es nicht in etwaigen usurpatorischen Vorhaben zu unterstützen, wird auch hier durch den von Madison propagierten Grundsatz des „Machtstreben muß Machtstreben entgegenwirken“ bewirkt (s. Nr. 51, S. 314). s. hierzu im einzelnen unten (d) (cc); s. auch Wills, G., Explaining (1981), S. 124.

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Jedoch sieht die Verfassung auch Maßnahmen zur Sicherstellung der Unabhängigkeit der Legislative vor; so werden ihre Mitglieder nicht von den anderen Gewalten, sondern gemäß Art. 1 Abschn. 2 Abs. 1 und Abschn. 3 Abs. 1 vom Volk gewählt,196 und gemäß Art. 1 Abschn. 6 S. 1 erhalten die Repräsentanten und Senatoren für ihre Tätigkeit eine Entschädigung, die durch Gesetz bestimmt ist und aus der Kasse der Vereinigten Staaten gezahlt wird; sie können ihre Diäten also – unter dem Vorbehalt des Vetos des Präsidenten – selbst festlegen. (b) Personelle Separierung der Gewalten Neben den strukturellen Maßnahmen zur Trennung der Gewalten sorgt in personeller Hinsicht die Inkompatibilitätsregelung des Art. 1 Abschn. 6 Abs. 2 Hs. 2 für ihre Separierung. Die Vorschrift bestimmt, daß niemand, der ein Amt im Dienste der Vereinigten Staaten bekleidet, gleichzeitig Mitglied der Legislative sein darf. Damit ist die gleichzeitige Zugehörigkeit zur gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt kategorisch verboten;197 die parallele Ausübung von Regierungsamt und Abgeordnetenmandat, die etwa in Deutschland zulässig ist,198 ist in den USA ausgeschlossen.199 (c) Funktionale Verschränkungen Allein diese Maßnahmen zur Separierung der Gewalten halten die Autoren des Federalist jedoch zur dauerhaften Sicherung der Gewaltenteilung nicht für ausreichend: „Dabei kann es sogar notwendig werden, gefährliche Übergriffe durch zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen abzuwehren.“ (Nr. 51, S. 315)

Als entscheidendes Mittel zur Gewährleistung eines selbstbestimmten Handlungsspielraums der staatlichen Organe stellt Madison folgendes Vorgehen vor:

196 Zwar wurden die Senatoren ursprünglich von den Einzelstaatslegislativen gewählt, aber auch dies stellt eine indirekte Volkswahl dar. Mittlerweile werden die Mitglieder des Senats gemäß dem 17. Zusatzartikel direkt vom Volk gewählt. 197 Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 227. 198 s. dazu oben Fn. 180. 199 Diesem Verständnis entsprechend haben weder der Präsident noch sonstige Mitglieder der Exekutive ein Recht zur Teilnahme an Sitzungen des Kongresses; der Präsident kann lediglich ausnahmsweise vor ihm sprechen, um ihm gemäß Art. 2 Abschn. 3 S. 1 über die Lage der Union Bericht zu erstatten. Im Gegensatz dazu können beispielsweise die Mitglieder der deutschen Bundesregierung gemäß Art. 43 Abs. 2 GG an Sitzungen des Bundestages teilnehmen und müssen jederzeit gehört werden. Auch hat der Präsident kein Gesetzesinitiativrecht, wie es etwa der deutschen Bundesregierung gemäß Art. 76 Abs. 1 Alt. 1 GG zukommt. Zu diesen Unterschieden s. auch Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 286–288, 226 f. und 252.

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E. Aufbau des Staates

„Der beste Schutz vor einer allmählichen Konzentration der verschiedenen Kompetenzen bei derselben Gewalt besteht aber darin, den Amtsinhabern jeder der Gewalten die notwendigen verfassungsmäßigen Mittel und persönlichen Motive zu geben, Übergriffe der anderen abzuwehren. Dabei müssen, wie in anderen Fällen auch, die Vorkehrungen zur Verteidigung der voraussichtlichen Stärke eines möglichen Angriffs entsprechen. Machtstreben muß Machtstreben entgegenwirken. Zwischen dem persönlichen Interesse des Amtsinhabers und den Verfassungsrechten des Amtes muß ein innerer Zusammenhang bestehen.“ (Nr. 51, S. 314)

Diese Maßnahme verbindet zwei Komponenten; zum einen stellt sie den Trägern der Gewalten in objektiver, funktionaler Hinsicht Abwehrmechanismen gegen Übergriffe in ihren Kompetenzbereich zur Verfügung; zum anderen motiviert sie sie in subjektiver Hinsicht, diese Mittel auch einzusetzen. (aa) Exekutive: Gesetzgebungsveto Als Verteidigungsmittel der Exekutive nennt Madison in Nr. 51 das Veto des Präsidenten gegenüber den Gesetzgebungsvorhaben der Legislative: „Ebenso wie das große Gewicht der Legislative deren Teilung erfordert, kann sich aus der relativen Schwäche der Exekutive die Notwendigkeit ergeben, diese zu stärken. Ein absolutes Vetorecht gegenüber der Legislative erscheint auf den ersten Blick als die logische Waffe, mit der die Exekutive ausgestattet werden müßte.“ (Nr. 51, S. 315)

Für ein solches absolutes Veto der Exekutive unter Beteiligung der Judikative hatte sich Madison im Verfassungskonvent ausgesprochen, dies aber nicht durchsetzen können;200 vielmehr sieht Art. 1 Abschn. 7 Abs. 2 der Verfassung lediglich ein qualifiziertes Veto vor, bei dem der Einspruch des Präsidenten mit einer Zweidrittelmehrheit beider Kammern der Legislative überstimmt werden kann.201 Die Autoren des Federalist halten einen Abwehrmechanismus auf seiten der Exekutive für unverzichtbar, da die Legislative dem Präsidenten sonst per Gesetz nach und nach seine Kompetenzen entziehen und sich selbst anmaßen oder sein Amt ganz abschaffen könnte:202 „Der Präsident würde durch einen Beschluß nach dem anderen allmählich all seiner Kompetenzen verlustig gehen oder mit einer Stimme Mehrheit ausgelöscht werden. Auf die eine oder andere Art würden sich dann gesetzgebende und vollziehende Gewalt schnell vermengt in einer Hand befinden. Selbst wenn noch nie zuvor eine Neigung der Legislative bemerkt worden wäre, Rechte der Exekutive zu verletzen, 200

s. Wills, G., Explaining (1981), S. 123. s. hierzu oben a) (2) (b) und Nr. 73, S. 445–449. 202 Hamilton läßt hier andere Schutzmechanismen, insbesondere die Rolle der Judikative und ihres Normenkontrollrechtes, außer acht und stellt allein auf das Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive ab. 201

I. Die drei Gewalten

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so lehren uns die Regeln von Vernunft und Logik, daß die eine Gewalt nicht der Gnade der anderen ausgeliefert sein darf, sondern eine verfassungsmäßige und wirksame Kompetenz zur Selbstverteidigung besitzen muß.“ (Nr. 73, S. 445)

Zwar kann der Kongreß den Einspruch des Präsidenten überstimmen, aber die Verfasser der Essays gehen davon aus, daß die erneuten Beratungen in beiden Kammern und die erforderliche Zustimmung einer Zweidrittel- statt einer einfachen Mehrheit203 zu einer vernünftigeren Entscheidung führen und eklatante Rechtsbrüche vermeiden werden. Neben dieser Funktion als reaktives Verteidigungsmittel schützt das Vetorecht den Präsidenten auch schon vorbeugend, da der Kongreß angesichts der externen Kontrolle und der damit verbundenen Publizität aller Voraussicht nach zumindest von eklatanten Verfassungsbrüchen Abstand nehmen wird. (bb) Judikative: Normenkontrollrecht Der Judikative spricht der Federalist als Verteidigungsmittel ein Recht zur Normenkontrolle (judicial review) zu, d. h. die Befugnis, Akte der Legislative und Exekutive im Rahmen laufender Gerichtsverfahren204 auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen und gegebenenfalls für nichtig zu erklären. Dieses Recht wird in der Verfassung nicht explizit erwähnt,205 ist ihr nach Hamiltons Ansicht jedoch immanent,206 da sie der Legislative gewisse Einschränkungen auferlegt, d. h. eine Verfassung mit eingeschränkter Regierungsgewalt (limited constitution) darstellt: 203

s. Art. 1 Abschn. 7 Abs. 2 der Verfassung. Eine separate Verfassungsgerichtsbarkeit und spezielle Verfahren zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit staatlicher Akte – wie etwa abstrakte Normenkontrollen oder Verfassungsbeschwerden – sehen weder der Federalist noch die Verfassung vor, s. Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 195 f. Zur Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland s. Robbers, G., Verfassungsgerichtsbarkeit (JuS 30, 1990), S. 257 ff. Siehe S. 259 zur Entwicklung in Nordamerika. 205 Zum Streit, ob das Normenkontrollrecht aus Formulierungen der Verfassung abgeleitet werden kann s. Wills, G., Explaining (1981), S. 139–142. In Betracht kommen dabei vor allem Art. 3 Abschn. 2 Abs. 1 Alt. 1 („Die rechtsprechende Gewalt erstreckt sich auf alle Fälle . . . die sich aus dieser Verfassung . . . ergeben . . .“, „all Cases . . . arising under this Constitution“) oder Art. 6 Abschn. 2 („Diese Verfassung und alle auf ihrer Grundlage erlassenen Gesetze . . . sind das höchste Recht des Landes . . .“, „This Constitution, and the Laws of the United States which shall be made in Pursuance thereof . . . shall be the supreme Law of the Land“). Wills selbst geht davon aus, daß die Verfassung ein Normenkontrollrecht der Judikative in Art. 3 Abschn. 2 Abs. 1 Alt. 4 impliziert („Die rechtsprechende Gewalt erstreckt sich . . . auf Streitigkeiten, in denen die Vereinigten Staaten Prozeßpartei sind“), s. ebd., S. 148–150. 206 Madison äußert sich zu diesem Thema zwar nicht, aber auch er würde zumindest ein nachträgliches Normenkontrollrecht der Judikative unterstützen, da er sich für eine viel weitgehendere Beteiligung der Judikative am Gesetzgebungsprozeß eingesetzt hatte, nämlich für ihr Recht, zusammen mit dem Präsidenten ein absolutes Veto gegen Gesetze einzulegen [s. dazu oben (aa)]; s. Wills, G., Explaining (1981), S. 151–155. 204

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E. Aufbau des Staates

„Zwar kann man diese Doktrin aus keinem Umstand herleiten, der für den Entwurf des Konvents spezifisch wäre, wohl aber aus der allgemeinen Theorie einer Verfassung mit eingeschränkter Regierungsgewalt . . .“ (Nr. 81, S. 489)

Diese definiert Hamilton wie folgt: „Unter einer Verfassung mit eingeschränkter Regierungsgewalt verstehe ich eine mit bestimmten, genau benannten Einschränkungen der Kompetenz der Legislative, so zum Beispiel dem Verbot von Ausnahmegesetzen, die eine Verurteilung ohne Gerichtsverfahren beinhalten [bills of attainder], von rückwirkenden Gesetzen und ähnlichem.“ (Nr. 78, S. 471)

Beim Vorliegen einer limited constitution ergibt sich ein Normenkontrollrecht der Gerichte nach Hamiltons Überzeugung daraus, daß die Verfassung gegenüber den einfachen Gesetzen höherrangig ist. Denn in ihr erteilt das Volk dem Staat den Auftrag zur treuhänderischen Wahrnehmung seiner Rechte und legt den entsprechenden Handlungsspielraum des Staates dem Umfang nach fest. Verstoßen seine Organe gegen diese Bedingungen, ist ihr Handeln unwirksam: „Es gibt keinen Lehrsatz, der auf eindeutigeren Grundsätzen beruht, als den, daß jede Handlung einer delegierten Autorität nichtig ist, die dem Sinn der ursprünglichen Vollmacht widerspricht. Kein Gesetz der Legislative, das im Widerspruch zur Verfassung steht, kann deshalb gültig sein. Dies zu bestreiten, hieße behaupten, daß der Vertreter höherrangig als sein Vorgesetzter ist, daß der Bedienstete über seinem Herrn steht und die Vertreter des Volkes höherstehend als das Volk selbst sind, daß Männer, die aufgrund von Vollmachten handeln, nicht nur das tun dürfen, wozu ihre Vollmacht sie autorisiert, sondern auch das, was sie verbietet.“ (Nr. 78, S. 472)

Die den staatlichen Organen in der Verfassung auferlegten Einschränkungen müssen justiziabel und durchsetzbar sein, da sie sonst tote Buchstaben ohne jegliche praktische Relevanz wären und eine Verletzung des Treuhandverhältnisses ohne Konsequenzen bliebe: „Einschränkungen dieser Art können in der Praxis auf keinem anderen Weg als durch Gerichte durchgesetzt werden, deren Pflicht es ist, alle Gesetze, die gegen den manifesten Sinn der Verfassung verstoßen, für nichtig zu erklären. Ohne dies wären alle Vorbehalte zur Sicherung spezifischer Rechte oder Vorrechte bedeutungslos.“ (Nr. 78, S. 471 f.)

Die Entscheidung über eine Verletzung der Verfassung kann dabei nur den Gerichten zustehen, da die Auslegung der Gesetze, zu denen auch die Verfassung als Grundgesetz zählt, eine originär judikative Funktion darstellt: „Die Interpretation der Gesetze ist die richtige und eigentliche Domäne der Gerichte. Eine Verfassung ist tatsächlich – und muß von den Richtern so angesehen werden – ein grundlegendes Gesetz [a fundamental law]. Deshalb gehört es zu ihren Aufgaben, deren Bedeutung ebenso wie die Bedeutung jedes einzelnen von der Legislative verabschiedeten Gesetzes zu ermitteln.“ (Nr. 78, S. 472 f.)

Damit weist Hamilton die teilweise von den Verfassungskritikern vorgebrachte Forderung zurück, nicht die Judikative, sondern die Legislative oder eine ihrer

I. Die drei Gewalten

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Kammern müsse zuständig sein,207 da sonst die rechtsprechende über die gesetzgebende Gewalt gestellt werde und die Entscheidung der nicht vom Volk gewählten Richter an die Stelle der direkt gewählten Repräsentanten des Volkes trete, was unrepublikanisch sei:208 „Eine gewisse Verwirrung über das Recht von Gerichten, Gesetze der Legislative für nichtig zu erklären, weil sie der Verfassung widersprechen, hat sich aus der Vorstellung ergeben, daß diese Doktrin die Höherrangigkeit der rechtsprechenden gegenüber der gesetzgebenden Gewalt impliziert. Man behauptet, daß die Gewalt, die die Beschlüsse einer anderen für nichtig erklären kann, zwangsläufig höherrangig als diejenige sein muß, deren Beschlüsse für nichtig erklärt werden können.“ (Nr. 78, S. 472)209

Hamilton hält dem entgegen, daß die Entscheidungsbefugnis der Gerichte nicht zur Souveränität der Judikative führt, sondern das Volk als Souverän über beide Gewalten stellt210 und dem in der Verfassung verkörperten Willen des Volkes gegenüber dem seiner Repräsentanten zum Durchbruch verhilft: 207 Dies forderte vor allem der Anti-Federalist Brutus in seinen Aufsätzen, die erschienen, kurz bevor Hamilton seine Essays über die Judikative schrieb; s. hierzu Stoner, J., Constitutionalism (1987), S. 214. Hamilton tritt dem wie folgt entgegen: „Wenn man behauptet, daß die Mitglieder der Legislative selbst die Verfassungsrichter über ihre eigenen Kompetenzen sind und daß die Auslegung, für die sie sich entscheiden, auch für die anderen Verfassungsorgane bindend ist, so kann man darauf antworten, daß diese Annahme sich nicht natürlich ergibt, da sie nicht aus einer bestimmten Verfassungsbestimmung gefolgert werden kann. Man kann im Gegenteil nicht davon ausgehen, daß die Verfassung beabsichtigt, die Vertreter des Volkes zu befähigen, ihren Willen an die Stelle des Willens ihrer Wähler zu setzen. Es ist viel rationaler anzunehmen, daß die Gerichte als eine intermediäre Körperschaft zwischen Volk und Legislative die Aufgabe haben sollen, auch letztere in den ihrer Vollmacht gesetzten Grenzen zu halten.“ (Nr. 78, S. 472). s. hierzu Wills, G., Explaining (1981), S. 130 ff. Zudem sprechen verschiedene weitere Punkte gegen eine Verleihung des Revisionsrechtes an die Legislative, die Hamilton in Nr. 81 erörtert, s. S. 489 ff. 208 s. hierzu Stoner, J., Constitutionalism (1987), S. 214. Diese Ansicht der Verfassungsgegner teilen Diamond, A. S., Zenith (Publius 8, Nr. 3, 1978), S. 34, und Mansfield, H. C., Separation (1994), S. 14, der aber betont, daß diese Souveränität der Judikative nicht unrepublikanisch ist, weil sie den Willen des Volkes über den Willen seiner Vertreter stellt (ebd.). 209 s. auch Hamiltons Paraphrasierung der Gegenansicht in Nr. 81: „Die Argumente, oder genauer gesagt Unterstellungen, auf denen dieser Vorwurf basiert, lauten folgendermaßen: ,Die Machtbefugnis des vorgeschlagenen Obersten Gerichts der Vereinigten Staaten, das eine getrennte und unabhängige Körperschaft sein wird, wird höherrangig als die der Legislative sein. Die Kompetenz zur Auslegung der Gesetze wird dieses Gericht gemäß dem Geist der Verfassung in die Lage versetzen, ihnen jede Gestalt zu geben, die ihm richtig erscheint, insbesondere weil seine Entscheidungen in keiner Weise der Revision oder Korrektur der gesetzgebenden Körperschaft unterliegen werden . . .‘“ (Nr. 81, S. 488 f.) 210 Die Autoren des Federalist propagieren also weder die Souveränität der Judikative noch der Legislative; für letzteres jedoch Diamond, A. S., Zenith (Publius 8, Nr. 3, 1978), S. 54, 56 f., 60, 62, 70. Dagegen auch Wilson, B. P., Separation (1994), S. 73, Fn. 32, der von der Souveränität der Verfassung oder des „government“ spricht, s. S. 73. Wills, G., Explaining (1981), S. 135, betont zwar, daß das Normenkontrollrecht

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E. Aufbau des Staates

„Diese Schlußfolgerung setzt jedoch keineswegs eine Höherrangigkeit der rechtsprechenden gegenüber der gesetzgebenden Gewalt voraus. Sie setzt lediglich voraus, daß die Macht des Volkes höherrangig ist als beide, und wann immer der Wille der Legislative, so wie er in Gesetzen verkündet wird, im Widerspruch zum Willen des Volkes steht, so wie er in der Verfassung verkündet worden ist, sollten die Richter sich von letzterem und nicht von ersterem leiten lassen. Sie sollten ihre Entscheidungen von den grundlegenden Gesetzen und nicht von Gesetzen, die nicht grundlegend sind, bestimmen lassen.“ (Nr. 78, S. 473)

Die Zuständigkeit der Legislative dagegen würde den Willen der vom Volk beauftragten Repräsentanten über den Willen des Auftraggebers stellen und so das Treuhandverhältnis pervertieren. Teilweise wird angenommen, daß Hamilton lediglich ein eingeschränktes Normenkontrollrecht vorsieht, das den Gerichten nur die Prüfung erlaubt, ob sich die Legislative an die ihr ausdrücklich auferlegten Verbote gehalten hat, mit denen die Verfassung in Art. 1 Abschn. 9 unter anderem den Erlaß von bills of attainder und rückwirkenden Gesetzen untersagt.211 Wäre dies der Fall, so würde das Normenkontrollrecht der Judikative kein Mittel zur Selbstverteidigung zur Verfügung stellen, da die expliziten Beschränkungen vor allem dem Schutz des Volkes und der Einzelstaaten, nicht aber dem der anderen Gewalten dienen. Die der Legislative zu Gunsten der anderen Gewalten gesetzten Schranken sind nicht explizit als „papierne Schranken“ in der Verfassung aufgeführt, sondern lassen sich lediglich implizit der Gesamtheit der den einzelnen Gewalten übertragenen Befugnisse entnehmen. Die Annahme eines eingeschränkten Prüfungsrechts vermag aber nicht zu überzeugen, denn Hamilton sieht die expliziten Verbote nur als Indikatoren dafür, daß eine limited constitution als Basis für das Normenkontrollrecht vorliegt; er bezieht sich auf die genannten Beispiele nur in seiner Definition dieses Begriffs.212 Im folgenden spricht er stets von der Vereinbarkeit der Gesetze mit „legislative supremacy“ voraussetzt, aber es ist eine besondere Form der legislativen Souveränität, nämlich „legislative supremacy – in the constitution-making act“ (ebd.). s. hierzu auch Gebhardt, J., Federalist (1987), S. 72; Rothman, R., Ambiguity (Publius 8, Nr. 3, 1978), S. 105 f. Keines der staatlichen Organe kann die alleinige Souveränität für sich beanspruchen, vielmehr haben sie alle an der von der Verfassung dem gesamten government verliehenen Souveränität teil; s. auch Haller, B., Repräsentation (1987), S. 115 ff.; Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 230, und unten III. 2. a) im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Bund und Einzelstaaten. 211 Diese Ansicht vertreten etwa Diamond, A. S., Zenith (Publius 8, Nr. 3, 1978), S. 64 f.; Carey, G. W., Design (1989), S. 140; Epstein, D. F., Theory (1984), S. 188 f., der diese Position allerdings etwas abschwächt und darauf hinweist, daß „the role of judicial review may be limited by Hamilton’s stress on ,specified exceptions‘ to the legislative authority“, s. S. 189. 212 s. Nr. 78, S. 471. Zwar schreibt er im Anschluß an seine Definition, daß das Recht zum judicial review der praktischen Durchsetzung „Einschränkungen dieser Art“ diene (Nr. 78, S. 471), aber damit meint er alle der Legislative auferlegten Beschränkungen, seien sie explizit oder implizit. Dies zeigt sich, wenn man das Zitat in

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der (sprich: der gesamten) Verfassung und nicht nur mit den Bestimmungen, die explizite Verbote enthalten. Besonders deutlich wird dies in folgender Formulierung: „Es gibt keinen Lehrsatz, der auf eindeutigeren Grundsätzen beruht, als den, daß jede [!] Handlung einer delegierten Autorität nichtig ist, die dem Sinn der ursprünglichen Vollmacht widerspricht. Kein Gesetz der Legislative, das im Widerspruch zur Verfassung steht, kann deshalb gültig sein.“ (Nr. 78, S. 472)213

Nach der Theorie des government als trust ist eine das Treuhandverhältnis verletzende Maßnahme immer ungültig, unabhängig davon, welcher Teil des trust betroffen ist. Gegen die Annahme einer eingeschränkten Prüfungsbefugnis spricht auch, daß Hamilton nicht nur ein Recht der Judikative vorsieht, verfassungswidrige Gesetze für nichtig zu erklären, sondern sogar das Recht, Gesetze, die zwar verfassungskonform sind, aber Minderheitenrechte verletzen, einschränkend auszulegen.214 Wenn die Judikative aber selbst ohne eine Verletzung der Verfassung in Akte der Legislative eingreifen darf,215 muß ihr dies erst recht bei einem Verstoß gegen das Grundgesetz erlaubt sein, unabhängig davon, welche Bestimmung verletzt ist. Aufgrund dieses umfassenden Prüfungsmaßstabes darf die Judikative Gesetze (und Akte der Exekutive) auch auf Verstöße gegen die in der Verfassung verankerten Kompetenzverteilungen prüfen und etwaige Übergriffe für nichtig erklären. Zudem sieht Hamilton vom Normenkontrollrecht – wie vom präsidentiellen Veto – bereits eine präventive Wirkung ausgehen, da die hierdurch erzeugte Öfseinem Zusammenhang liest: „Einschränkungen dieser Art können in der Praxis auf keinem anderen Weg als durch Gerichte durchgesetzt werden, deren Pflicht es ist, alle Gesetze, die gegen den manifesten Sinn der Verfassung verstoßen, für nichtig zu erklären.“ (Nr. 78, S. 471 f.) Der manifeste, offenkundige Sinn der Verfassung ergibt sich aber nicht nur aus einzelnen Bestimmungen und expliziten Verboten, sondern gerade aus der Gesamtschau der Verfassungsbestimmungen. 213 s. auch die folgenden Formulierungen: „weil sie der Verfassung widersprechen“ (Nr. 78, S. 472); „und wann immer der Wille der Legislative, so wie er in Gesetzen verkündet wird, im Widerspruch zum Willen des Volkes steht, so wie er in der Verfassung verkündet worden ist“ (Nr. 78, S. 473); „Allerdings gebe ich zu, daß die Verfassung das Maß für die Interpretation der Gesetze sein sollte.“ (Nr. 81, S. 489) 214 „Doch ist die Unabhängigkeit der Richter nicht allein mit Blick auf Verfassungsbrüche ein wesentlicher Schutz gegen die Folgen gelegentlicher Launen der Gesellschaft. Die beinhalten manchmal nicht mehr als die Verletzung der Individualrechte bestimmter Gruppierungen der Mitbürger durch ungerechte und einseitige Gesetze. Doch gerade hierbei ist die Standfestigkeit der Richter von enormer Bedeutung, um die Schwere solcher Gesetze zu mildern und ihre Wirksamkeit zu begrenzen.“ (Nr. 78, S. 475) Auf diesen Gesichtspunkt weist auch Epstein, D. F., Theory (1984), S. 189, hin. 215 Zu beachten ist jedoch, daß Hamilton hier nur ein schwächeres Eingriffsrecht vorsieht: die Richter können diese Gesetze nur abmildern, während sie verfassungswidrige Gesetze im Ganzen für nichtig erklären können (und müssen).

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E. Aufbau des Staates

fentlichkeit und externe Kontrolle die anderen Gewalten von offensichtlich unrechten Maßnahmen abhalten wird: „Das schwächt nicht nur unmittelbar den Schaden der bereits verabschiedeten Gesetze ab, sondern wirkt auch als Bremse auf die Legislative, sie überhaupt zu verabschieden. Denn wenn diese erwarten kann, daß der Erfolg ihrer frevelhaften Absicht aufgrund der Bedenken der Gerichte gefährdet ist, so ist sie in gewisser Weise genau durch die Motive, die sie zu einer Ungerechtigkeit veranlassen, gezwungen, ihre Versuche zu modifizieren.“ (Nr. 78, S. 475 f.)

Damit bietet das Normenkontrollrecht der Judikative als der schwächsten Gewalt doppelten Schutz: zum einen gibt es ihr ein wirksames Verteidigungsmittel gegen Eingriffe in ihren Machtbereich an die Hand, und zum anderen bietet es bereits präventiven Schutz vor Übergriffen der anderen Gewalten. Seine faktische Anerkennung hat es im Jahre 1803 erfahren, als das Oberste Bundesgericht unter dem Vorsitz von Chief Justice John Marshall im Fall Marbury vs. Madison erstmals ein Bundesgesetz für verfassungswidrig und nichtig erklärte.216 (cc) Legislative: Amtsenthebungsverfahren Während in struktureller Hinsicht eine Schwächung der Legislative erwünscht ist, sieht die Verfassung in funktionaler Hinsicht eine Kompetenz der gesetzgebenden Gewalt vor, die ihrer Stärkung und ihrem Schutz vor Usurpationen der anderen Gewalten dient: das Recht zur Amtsenthebung (impeachment) von Mitgliedern der Exekutive und Judikative.217 Gemäß Art. 2 Abschn. 4 der Verfassung können der Präsident, der Vizepräsident und alle zivilen Amtsträger der Vereinigten Staaten wegen Verrats, Bestechung oder anderer schwerwiegender Verbrechen oder Vergehen einem Amtsenthebungsverfahren unterzogen werden, und gemäß Art. 3 Abschn. 1 S. 2 bekleiden die Richter ihr Amt (nur) während guter Amtsführung.218 Das Repräsentantenhaus hat dabei das Recht zur Anklageerhebung,219 während der Senat darüber entscheidet und mit Zustimmung von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder eine Verurteilung aussprechen kann.220

216 Allerdings hatte bereits zuvor der Circuit Court für den Distrikt Pennsylvania im Jahre 1792 im als Hayburn’s Case bezeichneten Fall ein Gesetz des Kongresses für verfassungswidrig und nichtig erklärt, s. hierzu Marcus, M., Review (1996), S. 36–41. 217 Zum impeachment s. auch Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 226 und 244 ff. 218 s. hierzu auch Hamiltons Ausführungen in Nr. 79: „Richter unterliegen der Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens wegen Amtsmißbrauchs durch das Repräsentantenhaus und einem Verfahren vor dem Senat. Werden sie verurteilt, so verlieren sie ihr Amt und sind disqualifiziert für jedes andere öffentliche Amt.“ (Nr. 79, S. 479) 219 s. Art. 1 Abschn. 2 Abs. 5 S. 2 der Verfassung. 220 s. Art. 1 Abschn. 3 Abs. 6 S. 1 und S. 4.

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Im Fall der Präsidentenanklage ist auch die Judikative beteiligt; in diesen Fällen führt der Oberste Bundesrichter den Vorsitz über das Verfahren.221 Hamilton betont, daß auch die Legislative eines Verteidigungsmittels gegen Usurpationen der Exekutive bedarf und ihr das Recht zur Amtsenthebung ein solches an die Hand gibt;222 er vergleicht es mit dem exekutiven Veto, das die umgekehrte Wirkung hat: „Das absolute oder qualifizierte Veto der Exekutive gegenüber der Legislative wird von den fähigsten Experten der politischen Wissenschaft als unabdingbare Barriere gegen Übergriffe von letzterer gegenüber ersterer angesehen. Und man kann wahrscheinlich mit nicht weniger Recht behaupten, daß die Amtsenthebung, wie oben angedeutet, ein wesentliches Kontrollmittel in der Hand dieser Körperschaft gegen Übergriffe der Exekutive ist.“ (Nr. 66, S. 400)

Die Legislative soll zur Aufrechterhaltung der Gewaltenteilung also nicht nur passiv durch ihre Teilung in zwei Kammern beitragen, sondern auch eine aktive Rolle spielen. Gleichzeitig dient die Möglichkeit des impeachment auch dem Schutz der gesetzgebenden Gewalt vor der Judikative, von der Übergriffe jedoch wegen ihrer relativen Schwäche kaum zu erwarten sind:223 „Und dieser Schluß wird noch erheblich verstärkt durch die Überlegung, wie wichtig die Kompetenz zur Einleitung von Amtsenthebungsverfahren durch eine Kammer der Legislative und ihrer Entscheidung durch die andere für Mitglieder der Judikative ist. Das allein ist bereits ein völliger Schutz. Es kann niemals die Gefahr bestehen, daß Richter es wagen würden, durch eine Reihe bewußter Übergriffe auf die Vollmacht der Legislative den vereinigten Unwillen dieser Körperschaft heraus-

221

s. Art. 1 Abschn. 3 Abs. 6 S. 3. „In Großbritannien ist es Aufgabe des Unterhauses, die Anklage wegen Amtsmißbrauchs zu erheben und Aufgabe des Oberhauses, darüber zu entscheiden. Zahlreiche Einzelstaatsverfassungen haben dieses Beispiel übernommen. Letztere wie erstere scheinen die Praxis eines Amtsenthebungsverfahrens als Zügel in der Hand der Legislative über die Bediensteten der Exekutive betrachtet zu haben. Ist das nicht das wahre Licht, in dem wir das Verfahren betrachten sollten?“ (Nr. 65, S. 396) Allerdings kann in Großbritannien nicht der König angeklagt werden (The king can do no wrong), sondern nur seine Minister; s. hierzu auch Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 244 f. Diesen Unterschied zu den USA erläutert Hamilton in Nr. 70, S. 430. 223 „Und schließlich kann man dazu sagen, daß die vorgebliche Gefahr richterlicher Übergriffe auf die Kompetenzen der gesetzgebenden Gewalt, die vielerorts und immer wieder betont wurde, in Wahrheit ein Hirngespinst ist. Besondere Fehlinterpretationen und Umgehungen des Willens der Legislative können dann und wann vorkommen; aber sie können niemals ein solches Ausmaß annehmen, daß sie ein wirkliches Problem darstellen oder die Gesamtordnung des politischen Systems empfindlich beeinträchtigen würden. Das kann man mit Sicherheit aus der allgemeinen Natur der rechtsprechenden Gewalt herleiten, aus den Gegenständen, mit denen sie sich befaßt, aus der Art und Weise, in der sie ausgeübt wird, aus ihrer relativen Schwäche und ihrem völligen Unvermögen, Machtübergriffe mit Gewaltmitteln unterstützen zu können.“ (Nr. 81, S. 491 f.) 222

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E. Aufbau des Staates

zufordern, solange diese die Mittel besitzt, richterliche Anmaßung durch eine Amtsenthebung zu bestrafen.“ (Nr. 81, S. 492)

Das Recht des Kongresses zum impeachment hat dabei – wie die funktionalen Verteidigungsmittel der anderen Gewalten – bereits präventive Wirkung; allein schon die Aussicht, des Amtes enthoben zu werden, wird die Amtsträger der Judikative – und Exekutive – von Usurpationen zu Lasten der anderen Gewalten abhalten. (d) Voluntative Komponente Allerdings sind die funktionalen Verteidigungsmittel der drei Gewalten keine Automatismen, sondern nur dann von praktischer Bedeutung, wenn sie von den Amtsinhabern im Bedarfsfall auch genutzt und eingesetzt werden. Zur effektiven Sicherung der Autonomie der Gewalten bedarf es daher auch der Gewährleistung der subjektiven Verteidigungsbereitschaft ihrer Amtsinhaber. Um den Effekt des konfligierenden Machtstrebens224 zu erzeugen und sicherzustellen, daß die staatlichen Funktionäre sich gegen Übergriffe der anderen Gewalten auch tatsächlich zur Wehr setzen, muß berücksichtigt werden, daß die Privatinteressen der staatlichen Funktionäre von denen des Amtes abweichen und die entsprechenden Motivationslagen sich widersprechen können. Da die egoistischen Impulse im allgemeinen stärker sind als altruistische Triebfedern, werden die meisten Menschen in einem solchen Fall ihre persönlichen über die institutionellen Interessen stellen.225 Dieser Grundzug der menschlichen Natur muß einkalkuliert und für den politischen Prozeß nutzbar gemacht werden; das politische System muß so konstruiert sein, daß auch ein rein eigennütziges Handeln des Inhabers den Interessen des Amtes dient:

224

s. Nr. 51, S. 314. Die Autoren des Federalist betonen allerdings, daß es auch hinreichend tugendhafte, pflichtbewußte Menschen gibt, die ihre eigenen Interessen nicht über die der Gemeinschaft stellen: „Es gibt Männer, die man weder durch Elend noch durch die Aussicht auf Gewinn dazu bringen kann, ihre Pflicht zu verletzen. . . . solch eiserne Tugend . . .“ (Nr. 73, S. 444) Sie gehen davon aus, daß unter der neuen Verfassung verschiedene Faktoren wie etwa die vorgesehenen Wahlverfahren und die Größe des Landes dazu beitragen werden, daß solche integren Personen die politischen Ämter besetzen; s. etwa Nr. 68, S. 413 f. bezüglich des Präsidenten und Nr. 10, S. 56 hinsichtlich der Mitglieder der Legislative. Eine Garantie hierfür besteht jedoch nicht; so schränkt Hamilton seine obige Aussage im Anschluß ein: „Doch solch eiserne Tugend ist ein seltenes Gewächs, und zumeist wird man feststellen, daß Macht über den Unterhalt eines Mannes auch Macht über seinen Willen bedeutet.“ (Nr. 73, S. 444) Auch seine Annahme, daß nur „hervorragende Persönlichkeiten“ zum Präsidenten gewählt werden, nimmt er im folgenden implizit zurück, s. Nr. 73, S. 448. Die Hoffnung auf hinreichend tugendhafte Personen kann nicht zur Basis eines stabilen politischen Systems gemacht werden, wie auch Madison betont: „Es werden nicht immer aufgeklärte Staatsmänner am Ruder sein.“ (Nr. 10, S. 53) 225

I. Die drei Gewalten

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„Zwischen dem persönlichen Interesse des Amtsinhabers und den Verfassungsrechten des Amtes muß ein innerer Zusammenhang bestehen . . . Diese Strategie, das Fehlen edlerer Motive durch ein Gegeneinander rivalisierender Interessen zu ersetzen, kann man in allen menschlichen Angelegenheiten, seien sie privater oder öffentlicher Natur, verfolgen. Das wird besonders bei der Verteilung der Macht an untergeordneter Stelle deutlich, wo es permanentes Ziel sein muß, die verschiedenen Funktionen so aufzuteilen und zu organisieren, daß ihre Träger sich gegenseitig in Schach halten und somit das persönliche Interesse jedes einzelnen als Wächter für die Rechte der Gesamtheit fungiert. Dieses von der Vernunft ausgeklügelte Vorgehen ist für die Sicherung der höchsten Gewalt im Staat nicht weniger erforderlich.“ (Nr. 51, S. 314 f.)

Durch eine Koppelung der privaten an die institutionellen Interessen soll bewirkt werden, daß die Amtsträger der drei Gewalten ihre Positionen, wenn nicht aus edlen Beweggründen, so doch zumindest um ihres eigenen Vorteils willen verteidigen und so auch bei einer rein eigennützigen Motivation den Interessen des Amtes und der Allgemeinheit dienen.226 Die Verbindung der privaten Interessen mit denen des Amtes wird dabei durch dessen jeweilige konkrete Ausgestaltung erreicht. (aa) Motivation der Exekutive So trägt bezüglich der Exekutive die starke Stellung des Präsidenten zu seiner Verteidigungsbereitschaft bei, da eine einflußreiche Position mit weitreichenden Befugnissen ehrgeizige und ambitionierte Kandidaten anzieht, die schon um ihres eigenen Prestiges willen einer Beschneidung der Befugnisse des Präsidentenamtes Widerstand entgegensetzen werden. Neben den umfangreichen Kompetenzen des Präsidenten spielt dabei die monokratische Ausgestaltung der Exekutivspitze eine Rolle: Würden sich mehrere Personen das höchste Exekutivamt teilen oder bedürfte der Präsident der Zustimmung eines Exekutivbeirates, wäre seine Macht und sein Ansehen geringer, so daß er eher in Versuchung geraten könnte, den persönlichen Vorteil über den des Amtes zu stellen; er wäre leichter zu korrumpieren, da er weniger zu verlieren hätte. Zum anderen wäre es ihm in objektiver Hinsicht mangels eindeutiger Verantwortlichkeit leichter möglich, ein etwaiges Fehlverhalten zu vertuschen oder jemandem anders zuzuschreiben: „Häufig wird es angesichts gegenseitiger Beschuldigungen unmöglich sein festzustellen, wer für eine schädliche Maßnahme oder eine Reihe schädlicher Maßnahmen wirklich zur Verantwortung gezogen oder bestraft werden sollte.“ (Nr. 70, S. 429)

Auch dies könnte seine Bereitschaft verstärken, die Amtspflichten zu Gunsten seiner Privatinteressen zu vernachlässigen.

226

s. auch Diamond, M., Separation (1978), S. 67.

398

E. Aufbau des Staates

Auch eine lange Amtszeit stärkt das Selbstbewußtsein des Präsidenten gegenüber der Legislative, da die größere Beständigkeit seiner Machtposition die Bereitschaft stärkt, sich für seine Privilegien und damit für die Interessen des Amtes einzusetzen: „. . . je länger die Amtsdauer, mit desto größerer Wahrscheinlichkeit wird dieser wichtige Vorteil erhalten. Es ist ein allgemeiner menschlicher Grundzug, daß man ein stärkeres Interesse an dem hat, was man fest besitzt. Ein Mensch fühlt sich stärker dem verbunden, was er mit permanentem oder sicherem Besitztitel innehat, als einer Sache mit vorläufigem oder unsicherem Titel, und natürlich wird er bereit sein, für das eine mehr zu riskieren als für das andere. Diese Beobachtung gilt für ein politisches Privileg, ein Ehrenamt oder ein öffentliches Amt genauso wie für jeden Gegenstand gewöhnlichen Eigentums. Die Schlußfolgerung daraus lautet, daß ein Mann in seiner Eigenschaft als höchster Amtsinhaber, wenn er in dem Bewußtsein handelt, daß er sein Amt schon in sehr kurzer Zeit niederlegen muß, geringe Neigung verspüren wird, sich so sehr dafür einzusetzen, daß er auch wesentliche Kritik oder Unannehmlichkeiten wegen der selbständigen Ausübung seiner Kompetenzen riskieren würde.“ (Nr. 71, S. 433)

Als Konsequenz dieses Gedankenganges ließe sich die Schlußfolgerung ziehen, daß die größte Bereitschaft zum Einsatz für die Interessen des Amtes bei einer Verleihung auf Lebenszeit bestünde, und diese hatte Hamilton im Verfassungskonvent auch propagiert.227 Allerdings besteht bei einer zu langen, insbesondere einer lebenslangen Amtszeit die Gefahr, daß sich der Präsident der mit dem Amt verbundene Vorrechte zu sicher wird und sie als selbstverständlich ansieht, was ihn dazu verleiten könnte, sich weitere Privilegien zu sichern – entweder durch Usurpation fremder Kompetenzen oder durch Annahme von Vorteilen, die ihm die anderen Gewalten für Gefälligkeiten in Aussicht stellen. Daher bietet die in der Verfassung gefundene Lösung bessere Gewähr für eine gewissenhafte Wahrnehmung der Amtspflichten, nämlich die Begrenzung der Amtsdauer auf vier Jahre, verbunden mit der Möglichkeit der Wiederwahl,228 die einen weiteren Anreiz hierfür bietet: „Es gibt wenige Männer, die nicht einen weit geringeren Eifer verspürten, ihre Pflicht zu tun, wenn sie sich der Tatsache bewußt wären, daß sie ihre vorteilhafte Stellung zu einem festgesetzten Zeitpunkt aufgeben müssen, als wenn sie die Hoffnung hegen können, daß sie diesen Zustand durch ihr Verdienst verlängern können.“ (Nr. 72, S. 439)

Verstärkt wird dieser Effekt durch die Tatsache, daß der Präsident nicht wie im parlamentarischen Regierungssystem von der Legislative gewählt wird, was 227 s. dazu oben a) (2) (a). Seine diesbezügliche Präferenz bringt er auch im Federalist zum Ausdruck; neben dem expliziten Hinweis darauf (s. Nr. 71, S. 433 f.) läßt er sie auch in seiner Verteidigung der in der Verfassung vorgesehenen Regelung durchblicken (s. Nr. 71, S. 436 f.). 228 Zur Beschränkung der Wiederwahlmöglichkeit durch den 22. Zusatzartikel s. oben Fn. 132.

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die Gefahr einer Servilität ihr gegenüber bergen könnte, sondern sich in den Augen eines unabhängigen Gremiums, des Wahlmännerkollegs und damit letztlich des Volkes, behaupten muß, das eine Vernachlässigung seiner Amtspflichten negativ beurteilen würde:229 „Ein weiterer . . . Wunsch war es, den Präsidenten für seinen Verbleib im Amt allein vom Volk abhängig zu machen. Denn sonst könnte er versucht sein, seine Pflicht Gefälligkeiten denjenigen gegenüber unterzuordnen, deren Gunst für die Fortsetzung seiner offiziellen Würde erforderlich wäre.“ (Nr. 68, S. 413)

Schließlich beugt auch die von der Verfassung vorgesehene finanzielle Unabhängigkeit des Präsidenten der Gefahr vor, daß die Legislative ihn durch die Versprechung oder Vorenthaltung von Mitteln zu einem von ihr gewünschten Verhalten bewegen kann: „Der dritte Bestandteil zur Herstellung einer starken Exekutivgewalt ist eine angemessene Verfassungsbestimmung, die ihre finanzielle Grundlage sichert. Es ist offenkundig, daß ohne angemessene Beachtung dieses Artikels die Trennung der Exekutive von der gesetzgebenden Gewalt nur nominell und damit nichtig sein würde. Besäße die Legislative die Entscheidungsgewalt über Gehalt und Vergünstigungen des höchsten Exekutivamtes, so könnte sie den Amtsinhaber ihrem Willen so willfährig machen, wie sie das für richtig hielte. In den meisten Fällen könnte sie ihn entweder durch Knappheit schwächen oder durch Freigiebigkeit in Versuchung führen und sein Urteil beliebig ihren Wünschen unterwerfen.“ (Nr. 73, S. 443 f.)

Insgesamt rufen damit die Maßnahmen, die zur objektiven Stärkung des Präsidentenamtes beitragen, gleichzeitig auch die gewünschte subjektive Motivation seines Inhabers zum Einsatz für das Amt hervor: Ein starkes Präsidentenamt zieht bereits Kandidaten mit einer adäquaten subjektiven Prädisposition an und verstärkt diese dann noch.230 (bb) Motivation der Judikative Da die Judikative nach Ansicht der Autoren des Federalist die schwächste Gewalt ist, ist ihre subjektive Motivation, sich vor Übergriffen zu schützen, von besonderer Bedeutung. Diese Motivation wird vor allem durch die Ernennung ihrer Amtsträger auf Lebenszeit („während guter Amtsführung“) gestärkt: „Weil also die Judikative aufgrund ihrer natürlichen Schwäche ständig in Gefahr ist, von den gleichgeordneten Gewalten überwältigt, eingeschüchtert oder beeinflußt zu werden, und weil nichts so sehr zu ihrer Standhaftigkeit und Unabhängigkeit beiträgt wie die Permanenz ihres Amtes, muß diese Eigenschaft zu Recht als unverzichtbarer Bestandteil ihrer Verfassung betrachtet werden; sie ist insgesamt die Zitadelle öffentlicher Gerechtigkeit und öffentlicher Sicherheit.“ (Nr. 78, S. 471)

229 230

s. auch Diamond, M., Separation (1978), S. 67. s. Epstein, D. F., Theory (1984), S. 138.

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Durch die Ernennung auf Lebenszeit wird der Einfluß des hierfür zuständigen Präsidenten und Senates231 ausgeglichen, denn selbst wenn in der Anfangszeit eine gewisse Voreingenommenheit zu Gunsten der Wahlorgane zu befürchten sein könnte, wird diese sich schnell auflösen; Madison betont in Nr. 51, daß „die langfristige Ernennung bei den Mitgliedern dieser Gewalt schon bald jegliches Gefühl der Abhängigkeit von der Autorität, von der das Amt verliehen wurde, erlöschen läßt.“ (Nr. 51, S. 314)

Die dauerhafte Amtsübertragung bewahrt die Richter vor Wiederwahlen und damit vor regelmäßigen Beurteilungen durch die ernennende Körperschaft, die die Richter dazu verleiten könnte, sich deren Gunst durch Zugeständnisse zu erschleichen: „Ernennungen in regelmäßigen Zeitabständen, ganz gleich, wie sie im einzelnen geregelt sind, wären tödlich für ihre notwendige Unabhängigkeit. Läge die Kompetenz der Ernennung bei Exekutive oder Legislative, so bestünde die Gefahr einer unangebrachten Fügsamkeit gegenüber der Gewalt, die sie ausübte; wäre sie beiden Gewalten übertragen, so bestünde eine gewisse Hemmung, den Unwillen der einen wie der anderen zu riskieren . . .“ (Nr. 78, S. 476)

Zudem macht die Permanenz des Amtes dieses ökonomisch interessanter und prestigeträchtiger und zieht damit nicht nur fachlich geeignetere, sondern auch ehrgeizigere Juristen an, die ihre Position schon um ihrer eigenen Interessen willen verteidigen werden:232 „Eine vorübergehende Amtszeit würde natürlich gerade solche [geeigneten] Persönlichkeiten entmutigen, eine lukrative Beschäftigung um eines Richteramtes willen aufzugeben. Damit würde die Rechtsprechung tendenziell in die Hand derjenigen gelegt, die weniger fähig und qualifiziert wären und sie nicht sachkundig und würdevoll ausüben könnten.“ (Nr. 78, S. 477)

Auch die finanzielle Unabhängigkeit der Richter trägt zu ihrer Selbständigkeit bei, da auch bezüglich der Judikative andernfalls die Gefahr bestünde, daß die Legislative sich über willkürliche Kürzungen von Geldern Einfluß auf Entscheidungen der Richter zu verschaffen suchen würde: „Gleich nach der Permanenz im Amt trägt nichts so sehr zur Unabhängigkeit der Richter bei wie eine festgesetzte Vorsorge ihres Unterhalts. Hier findet die in bezug auf den Präsidenten gemachte Beobachtung gleichermaßen Anwendung. Im normalen menschlichen Umgang bedeutet die Macht über den Unterhalt eines Menschen auch die Macht über seinen Willen. Wir können niemals darauf hoffen, die vollständige Trennung der rechtsprechenden von der gesetzgebenden Gewalt zu erleben, solange wir ein System haben, das erstere für ihre Finanzmittel von gelegentlichen Zuweisungen der letzteren abhängig macht.“ (Nr. 79, S. 478)

231 s. Art. 2 Abschn. 2 Abs. 2; s. hierzu Hamiltons Ausführungen in Nr. 76 und 77, S. 458–467. 232 s. Diamond, M., Separation (1978), S. 67.

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(cc) Motivation der Legislative Die Mitglieder der Legislative werden zunächst durch die in Art. 1 Abschn. 6 der Verfassung enthaltene Immunitäts- und Indemnitätsregelung vor einer Beeinflussung durch die anderen Gewalten geschützt. Abs. 1 S. 2 Hs. 1 der Vorschrift bestimmt, daß sie „außer bei Hochverrat, schweren Verbrechen und Friedensbruch vor Verhaftungen geschützt [sind], solange sie an einer Sitzung ihrer jeweiligen Kammer teilnehmen oder sich auf dem Weg dorthin oder zurück befinden“, insoweit also Immunität genießen. Der zweite Halbsatz der Vorschrift gewährt den Repräsentanten und Senatoren Indemnität, indem er vorsieht, daß „kein Mitglied . . . wegen seiner Reden oder Äußerungen in einer der Kammern andernorts zur Rechenschaft gezogen werden“ darf. Diese Rechte entziehen die Mitglieder des Kongresses im dargelegten Umfang dem Zugriff der Exekutive und Judikative; sie dienen aber in erster Linie nicht ihrem Schutz als Privatpersonen, sondern dem Schutz ihrer Funktion und damit des legislativen Prozesses insgesamt.233 Auch die in Art. 1 Abschn. 6 Abs. 2 Hs. 1 enthaltene Inkompatibilitätsregelung dient dem Schutz der subjektiven Unabhängigkeit der Kongreßmitglieder; sie legt fest, daß die Mitglieder der Legislative während ihrer Amtszeit nicht in ein ziviles Amt des Bundes ernannt werden dürfen, das während dieser Zeit geschaffen wurde oder dessen Bezüge in diesem Zeitraum erhöht wurden. Diese Regelung wird auch als Ineligibility Clause oder Emoluments Clause bezeichnet;234 sie dient der Verhinderung von Korruption durch Ämterpatronage, indem sie es dem Präsidenten unmöglich macht, durch die Vergabe von Ämtern Einfluß auf Mitglieder des Kongresses zu nehmen.235 Zudem trägt auch die konkrete Ausgestaltung der legislativen Ämter dazu bei, daß die Kongreßmitglieder ihre Amtspflichten getreulich wahrnehmen. Bezüglich des Repräsentantenhauses, das als größte Kammer am stärksten nach einer Ausdehnung seiner Macht strebt und zu Übergriffen neigt, betonen die Autoren des Federalist in erster Linie, wodurch die Abgeordneten davon abgehalten werden, ihre Kompetenzen zu überschreiten.236 Hierfür sorgen zum einen die mit dem Amt verbundenen Privilegien, da die Abgeordneten, um diese zu behalten, das bestehende System schützen müssen: 233

s. Fisher, L., Allocation (1989), S. 22. Fisher, L., Allocation (1989), S. 21; d. h. als Unwählbarkeits- oder Vergütungsklausel. 235 s. hierzu Corwin, E. S., Constitution (1948), S. 19; Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 284. 236 Allerdings erörtern sie auch, wie die Verfassung dafür sorgt, daß die Mitglieder der Exekutive und Judikative und des Senates ihre Macht nicht mißbrauchen und sich an die Grenzen des ihnen erteilten Auftrages halten, s. bezüglich des Präsidenten Nr. 70, S. 429 f.; Nr. 72, S. 440; Nr. 75, S. 454 f.; Nr. 77, S. 468; bezüglich der Judikative Nr. 81, S. 491 f.; bezüglich des Senates Nr. 63, S. 385–388. 234

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„Drittens werden die Bande des Abgeordneten zu seinen Wählern durch ihrem Wesen nach egoistischere Motive noch verstärkt. Sein Stolz und seine Eitelkeit schaffen eine Bindung an ein Regierungssystem, das seinen Ambitionen förderlich ist und ihn an Ehren und Auszeichnungen teilhaben läßt. Ganz gleich, welche Hoffnungen und Pläne einige wenige ehrgeizige Persönlichkeiten haben mögen, im allgemeinen wird ein bedeutender Teil der Männer, die ihr Fortkommen ihrem Einfluß im Volk verdanken, mehr vom Erhalt der Gunst des Volkes zu erwarten haben als von Neuerungen im Regierungssystem, die die Autorität des Volkes untergraben.“ (Nr. 57, S. 347 f.)

Entscheidender ist jedoch der zweijährige Wahlrhythmus, der mit der Möglichkeit der Wiederwahl verbunden ist, da er den Repräsentanten die Abhängigkeit ihrer Stellung vom Volk vor Augen führt. Um sich ihre herausgehobene Position und die damit verbundenen Vorteile weiter zu sichern, müssen sich die Abgeordneten des ihnen von den Wählern entgegengebrachten Vertrauens würdig erweisen und ihr Amt gewissenhaft wahrnehmen: „All diese Schutzvorkehrungen würden sich jedoch ohne die Zügelung durch häufige Wahlen als völlig unzureichend erweisen. Deshalb ist, viertens, das Repräsentantenhaus so konstituiert, daß den Abgeordneten in regelmäßigen Abständen ihre Abhängigkeit vom Volk ins Gedächtnis gerufen wird. Bevor das Bewußtsein davon, wie sie an die Macht gekommen sind, durch die Ausübung der Macht ausgelöscht werden kann, werden sie gezwungen sein, den Augenblick zu antizipieren, an dem ihre Macht endet, an dem überprüft wird, wie sie damit umgegangen sind und sie auf das Niveau zurückkehren müssen, von dem sie aufgestiegen sind, um dort zu verbleiben; es sei denn, sie haben das ihnen übertragene Amt getreulich ausgeübt und so ein Anrecht auf ihre erneute Wahl begründet.“ (Nr. 57, S. 348)

Auch die Konzeption des Senates stärkt seine Mitglieder in subjektiver Hinsicht und trägt dazu bei, daß sie sich Usurpationsversuchen sowohl der anderen Gewalten als auch des Repräsentantenhauses entgegenstellen werden. Motivierend wirkt insofern zunächst die Amtsdauer, die die der Abgeordneten um das Dreifache übersteigt und den Senatoren eine entsprechend längerfristige Privilegierung einräumt.237 Zudem müssen die Senatoren sich, um wiedergewählt zu werden, in den Augen unabhängiger Gremien238 profilieren, die eine Willfährigkeit gegenüber der ersten Kammer und gegenüber den anderen Gewalten negativ beurteilen würden. Schließlich sind die Senatoren auch aufgrund der geringeren Größe des Senates bekannter und stehen stärker im Rampenlicht; ein etwaiges Fehlverhalten kann dem einzelnen hier leichter zugerechnet werden als in der größeren ersten Kammer.

237 s. Madisons Hinweis in Nr. 62: „Darüber hinaus sollte es [das Gremium, das dem Repräsentantenhaus zur Seite gestellt wird] großes Stehvermögen besitzen und folglich seine Machtbefugnis für eine beträchtliche Dauer innehaben.“ (Nr. 62, S. 376) 238 Zunächst waren dies gemäß Art. 1 Abschn. 3 Abs. 1 S. 1 der Verfassung die Einzelstaatslegislativen; seit 1913 werden die Senatoren gemäß dem 17. amendment von der Bevölkerung der Einzelstaaten gewählt.

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Die Mitglieder des Senates werden sich daher schon aus Sorge um ihren eigenen Ruf um ein eigenständiges Profil des Senates bemühen und sowohl Übergriffe der anderen Gewalten abwehren als auch gemeinwohlschädliche, unrechte Vorhaben des Repräsentantenhauses blockieren:239 „. . . es ist offenkundig, daß eine große und sich verändernde Körperschaft nie genügend Ansehen besitzen kann. Man wird es immer nur bei einer so kleinen Zahl finden, daß ein vernünftiges Maß an Lob und Tadel staatlicher Maßnahmen jedem einzelnen anteilmäßig zufällt, oder einer gesetzgebenden Versammlung, der man die politische Verantwortung so dauerhaft übertragen hat, daß der Stolz und das Ansehen der Abgeordneten mit der Reputation und dem Wohlstand der Gemeinschaft spürbar verknüpft sind.“ (Nr. 63, S. 380 f.)

(e) Ergebnis Die zur umfassenden Freiheitssicherung im Staat notwendige Teilung der Gewalten muß nach Ansicht der Autoren des Federalist durch ein komplexes politisches System aufrechterhalten werden, das Maßnahmen zur Separierung der Gewalten mit gezielten Verschränkungen zwischen ihnen verbindet. In struktureller Hinsicht strebt die Verfassung zunächst eine weitgehende Trennung und Unabhängigkeit der Gewalten voneinander an; dies betrifft insbesondere ihren finanziellen Status und den Wahlmodus. Die durch diese weitgehende Autonomie erreichte Stärkung der Exekutive und Judikative dient der Verringerung der zwischen den Gewalten bestehenden Machtdifferenz, zu deren Minimierung auch die Teilung der gesetzgebenden Gewalt in Repräsentantenhaus und Senat und die Möglichkeit der gegenseitigen Blockade beider Kammern im Gesetzgebungsprozeß beitragen soll. Der Separierung der Gewalten in personeller Hinsicht dient daneben die Inkompatibilitätsregelung des Art. 1 Abschn. 6 Abs. 2 Hs. 2 der Verfassung. Im Gegensatz zu diesen strukturellen und personellen Vorkehrungen schafft die funktionale Ausgestaltung der Gewalten eine teilweise Verschränkung zwischen ihnen. Die Verfassung stellt jeder der Gewalten einen Abwehrmechanismus zur Verfügung, mit dem sie sich gegen Usurpationsversuche der anderen staatlichen Organe zur Wehr setzen kann, indem sie in ihre Sphäre eingreift und so die angegriffene Maßnahme behindern oder aufheben kann.240 So kann der Präsident mit seinem Gesetzgebungsveto den legislativen Prozeß behindern, und die Judikative tangiert mit ihrem Normenkontrollrecht den legislativen und exekutiven Funktionsbereich, wenn sie Akte dieser Gewalten für verfassungswidrig 239 Zur Motivation der Senatoren, sich dem Repräsentantenhaus zu widersetzen, s. auch Wills, G., Explaining (1981), S. 124. 240 s. Diamond, A. S., Zenith (Publius 8, Nr. 3, 1978), S. 63 f., die allerdings davon ausgeht, daß die Verfassungsväter der Judikative kein generelles Normenkontrollrecht zusprechen wollten. s. dazu bereits oben (c) (bb), Fn. 211.

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und nichtig erklärt. Dem Kongreß ist mit dem Recht zur Durchführung des Amtsenthebungsverfahrens eine rechtsprechende Funktion übertragen,241 mit dem er in personeller Hinsicht in die Sphäre der Exekutive und Judikative eingreifen kann. Das Verteidigungsmittel der Exekutive unterscheidet sich von den Abwehrmechanismen der anderen Gewalten durch den Eingriffszeitpunkt und seine Reversibilität: der Präsident kann mit seinem Veto bereits in den laufenden Gesetzgebungsprozeß eingreifen, allerdings kann dieses Hindernis von der Legislative überwunden werden. Die Nichtigerklärung von Gesetzen oder exekutiven Maßnahmen und die Amtsenthebung dagegen sind unangreifbar und unabänderlich, kommen jedoch erst nach Erlaß oder Vollzug der beanstandeten Maßnahme zum Einsatz. Von allen drei Schutzmechanismen geht jedoch eine präventive Wirkung aus, da allein schon die Möglichkeit ihrer Anwendung und die damit verbundene Aussicht auf eine externe Kontrolle von den gröbsten Machtmißbräuchen abschreckt. Allerdings tritt dieser Effekt nur dann ein, wenn der Einsatz der Verteidigungsmittel bei Übergriffen auch tatsächlich zu befürchten ist; die Wirksamkeit der objektiv zur Verfügung stehenden Abwehrmaßnahmen hängt damit von der Bereitschaft der Amtsträger zu ihrer Anwendung ab, die durch die konkrete Ausgestaltung der Ämter gewährleistet wird. Die funktionale und voluntative Komponente erzeugen zusammen den Mechanismus des konfligierenden Machtstrebens („Ambition must be made to counteract ambition“), den Madison in Nr. 51 als wichtigstes Mittel zur Sicherung der Gewaltenteilung propagiert. (4) Verhinderung faktiöser Herrschaft Der Ursprung unterdrückerischer Herrschaft, deren Verhinderung die Teilung der Gewalten dient, kann jedoch nicht nur in den staatlichen Organen liegen, sondern auch vom Volk selbst ausgehen, wenn die Mehrheit ihre Interessen zu Lasten der Rechte der Minderheit durchsetzen will. Auch vor einer solchen „Tyrannei des Volkes“, d. h. der Herrschaft einer faktiösen Mehrheit, schützt die Gewaltenteilung nach Ansicht der Autoren des Federalist durch die oben dargelegte Kontrollwirkung.242 241 Daß es sich beim Amtsenthebungsverfahren um einen Teil der Strafgerichtsbarkeit handelt, zeigt Art. 3 Abschn. 2 Abs. 3, der bestimmt: „Alle Strafverfahren mit Ausnahme von Amtsenthebungsverfahren werden von Geschworenen entschieden . . .“ 242 s. Diamond, M., Founding (1981), S. 87–90. Dies verkennt Carey, G. W., Model (APSR 72, 1978), der davon ausgeht, daß das Gewaltenteilungskonzept des Federalist allein dem Schutz vor staatlicher Unterdrückung dient. Kritisch dazu Epstein, D. F., Theory (1984), S. 176 und 220, Fn. 10. Auch Wills, G., Explaining (1981), S. 115, kritisiert Careys Ausführungen. Die minderheitsschützende Wirkung der Gewaltenteilung war auch schon im Rahmen der Machtkonstitution angeklungen, denn wie dort erörtert, dient die Einrichtung der drei Gewalten nicht nur der Schaffung eines star-

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Die Exekutive kann gegen faktiöse Vorhaben vor allem durch das Vetorecht des Präsidenten vorgehen: „Doch die fragliche Kompetenz [das qualifizierte Veto des Präsidenten gegenüber Gesetzesvorlagen] hat noch einen weiteren Nutzen. Sie dient nicht nur der Exekutive als Schutzschild, sondern liefert auch einen zusätzlichen Schutz gegen die Verabschiedung ungeeigneter Gesetze. Sie errichtet eine heilsame Einschränkung der Legislative, die dazu bestimmt ist, die Gemeinschaft vor den Folgen von Faktionsbildung, übereilter Hast oder jeglicher für das Gemeinwohl ungünstiger Eingebung zu bewahren, die vielleicht einmal die Mehrheit dieser Körperschaft beeinflussen könnten.“ (Nr. 73, S. 445)

Auch die Judikative kann durch ihr Normenkontrollrecht Rechtsverletzungen verhindern, die auf Launen des Volkes zurückgehen: „Doch ist die Unabhängigkeit der Richter nicht allein mit Blick auf Verfassungsbrüche ein wesentlicher Schutz gegen die Folgen gelegentlicher Launen der Gesellschaft. Die beinhalten manchmal nicht mehr als die Verletzung der Individualrechte bestimmter Gruppierungen der Mitbürger durch ungerechte und einseitige Gesetze. Doch gerade hierbei ist die Standfestigkeit der Richter von enormer Bedeutung, um die Schwere solcher Gesetze zu mildern und ihre Wirksamkeit zu begrenzen. Das schwächt nicht nur unmittelbar den Schaden der bereits verabschiedeten Gesetze ab, sondern wirkt auch als Bremse auf die Legislative, sie überhaupt zu verabschieden.“ (Nr. 78, S. 475 f.)

Die Judikative hat nach Ansicht der Autoren des Federalist in diesen Fällen der zwar nicht verfassungswidrigen, aber faktiösen Gesetze das Recht zur geltungserhaltenden Reduktion und kann die gemeinwohl- oder individualrechtsschädliche Wirkung so aufheben.243 Im Rahmen der Legislative kommt vor allem dem Senat eine schützende Wirkung vor Faktionen zu: „Gegenüber einem Volk, das so wenig durch Vorurteile verblendet oder durch Schmeicheleien korrumpiert ist wie das, an das ich mich hier wende, habe ich keine Skrupel noch hinzuzufügen, daß eine derartige Institution zuweilen auch ein Schutz des Volkes vor eigenen vorübergehenden Irrtümern und Täuschungen sein kann. . . . so gibt es doch bestimmte Augenblicke in der Politik, in denen das Volk, aufgeputscht durch eine momentane Leidenschaft oder eine verbotene Vorteilsnahme oder irregeführt durch geschickte Fehlinformationen selbstsüchtiger Männer, nach Maßnahmen ruft, die es selbst später am stärksten bedauern und verdammen wird. In solchen kritischen Augenblicken wird sich die Intervention eines gemäßigten und angesehenen Gremiums von Mitbürgern als segensreich erweisen, um den Weg in die Irre zu versperren und den Schlag, den das Volk gegen sich selbst führen will, so lange aufzuschieben, bis Vernunft, Gerechtigkeit und Wahrheit wieder Herr über die öffentliche Meinung geworden sind.“ (Nr. 63, S. 382) ken, sondern auch stabilen Staates, der ungerechte und gemeinschaftsschädliche, d. h. faktiöse, Gesetze verhindert. 243 s. oben und Nr. 78, S. 475.

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Wegen dieser zweiten Funktion, die die Autoren des Federalist der Gewaltenteilung zuschreiben, ist ihnen – vor allem von modernen Kommentatoren – der Vorwurf gemacht worden, ihr Konzept sei undemokratisch, da es die Herrschaft der Mehrheit zu Gunsten der ökonomisch privilegierten Minderheit zu verhindern suche.244 Um dies zu erreichen, sei ein System der checks and balances, d. h. der gegenseitigen Hemmung der Gewalten und des Machtausgleichs zwischen ihnen entworfen worden, das auf eine Verlangsamung der staatlichen Funktionen bis hin zum Stillstand und zur Blockade (deadlock) ziele.245 Nach Ansicht dieser Kritiker ist die Gewaltenteilung als konstitutionelles Mittel zur Freiheitssicherung im Staat überflüssig; sie gehen davon aus, daß bereits der gesellschaftliche Pluralismus diese Funktion hinreichend erfüllt.246 Diese Kritik trifft jedoch nicht zu, denn die Verfasser des Federalist wollen nicht grundsätzlich die Herrschaft der Mehrheit verhindern, sondern lediglich die Herrschaft einer faktiösen Mehrheit, die die Rechte von Minderheiten mißachtet oder dem Gemeinwohl schadet.247 Wie oben bereits dargelegt, ist die Verfassung kein undemokratisches Dokument; die Verfassungsväter wollten mit ihr nicht weniger, sondern eine bessere Demokratie schaffen, um die Probleme zu vermeiden, die oft zum Untergang von Staaten geführt hatten.248 Die obige Auffassung verkennt, daß das Bemühen der Verfassungsväter und der Autoren des Federalist, die Mängel der Demokratie zu vermeiden, mit einem grundsätzlichen Bekenntnis zu dieser Staatsform einhergeht und nicht ihre Ablehnung bedeutet.249 Zudem entwerfen die Verfasser der Essays kein System der checks and balances zwischen den Gewalten. Ein solches System besteht nur innerhalb der Legislative zwischen ihren beiden Kammern, und nur in diesem Zusammenhang verwenden die Autoren den Begriff der „legislative balances and checks“ (Nr. 9, S. 40).250 Zwischen den einzelnen Gewalten dagegen gibt es zwar checks, nämlich die funktionalen Verteidigungsmittel, diese zielen aber weder auf eine Ausbalancierung der Gewalten und ein Machtgleichgewicht noch auf eine gegenseitige Blockierung ab.251 244 So vor allem Dahl, R. A., Preface (1962), S. 31; Burns, J. M., Deadlock (1964), S. 6 f., 16. Dahl nimmt sogar an, daß Madison bei einer konsequenten Weiterführung seines Gedankenganges in eine Reihe mit anti-demokratischen Denkern wie Lenin zu stellen wäre, s. a. a. O., S. 31 f. Zum Vorwurf, die Verfassung sei ein undemokratisches Dokument, s. auch oben D. II. 2. d); zur Ökonomischen Interpretation der Verfassung und des zehnten Federalist-Essay s. unten II. 2. a) (1). 245 Burns, J. M., Deadlock (1964), S. 6 f., 16. 246 s. Burns, J. M., Deadlock (1964), S. 21; Dahl, R. A., Preface (1962), insb. S. 11 ff., 22 und 104. 247 s. auch Epstein, D. F., Theory (1984), S. 132. 248 s. Diamond, M., Democracy (APSR 53, 1959), S. 56, und oben D. II. 2. d). 249 s. auch Diamond, A. S., Zenith (Publius 8, Nr. 3, 1978), S. 62. 250 s. auch Adams, A. und W. P., Einleitung (1994), S. LXV.

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Die Autoren des Federalist gehen vielmehr von der Vorherrschaft der Legislative aus, die sich auch durch die in der Verfassung vorgesehenen strukturellen und funktionalen Maßnahmen zur Verringerung des Machtgefälles nicht eliminieren läßt,252 da sie sich aus der grundlegenden Struktur des republikanischen Regierungssystems ergibt.253 Mit ihrer Entscheidung für einen republikanischen Staat bekennen sich die Verfassungsväter vielmehr zur Hegemonie der gesetzgebenden Gewalt.254 Daß sie ihr die primäre Stellung im politischen System zuweisen, zeigt sich auch daran, daß sowohl die Verfassung als auch der Federalist zuerst auf sie eingehen, und zwar auf die volksnähere Kammer, das Repräsentantenhaus,255 vor dem indirekt gewählten Senat.256 Erst im Anschluß daran widmen sie sich der Exekutive und Judikative.257 Zudem behandeln die Autoren des Federalist die Legislative am ausführlichsten: sie widmen ihr insgesamt 15 Essays, während sie die Exekutive in elf und die Judikative in sechs Aufsätzen erörtern.258 Auch können sich die drei Gewalten – anders als die beiden Kammern der Legislative – nicht gegenseitig blockieren und so für einen Stillstand der staatlichen Funktionen sorgen. Zwar kann die Exekutive durch ihr Veto in den Gesetzgebungsprozeß eingreifen und diesen verzögern, aber der Einspruch des Präsidenten kann durch die Legislative überstimmt werden. Ebenso kann die Judikative durch ihr Normenkontrollrecht eine spezifische Maßnahme der Legislative oder Exekutive zu Fall bringen, aber nicht verhindern, daß die anderen Gewalten zur Regelung des Problemkreises erneut tätig werden und unter Beachtung der Kritik der Gerichte eine neue Lösung für die Zukunft finden.259 Auch die Legislative kann den politischen Prozeß mit einem Amtsenthebungsverfahren nicht stillegen, da dieses nur bei schwerwiegenden Verbrechen und 251 So auch Carey, G. W., Design (1989), S. 73–75; Wills, G., Explaining (1981), S. 126 f. 252 So auch Carey, G. W., Design (1989), S. 75. 253 Zwar stellt Hamilton in Nr. 9 die „symmetrische Verteilung der Macht in getrennte Gewalten“ als Methode zur Verbesserung demokratischer Herrschaft vor (s. S. 45), aber aus den obigen Darlegungen ergibt sich, daß diese Verteilung „von Natur aus“ nicht symmetrisch ist und auch nicht ganz symmetrisch werden kann oder soll. 254 Die Schaffung eines Machtgleichgewichts ist im republikanischen Staat auch deshalb nicht möglich, weil dies die Gleichartigkeit der entsprechenden Funktionen bzw. eine gleichwertige Beteiligung daran voraussetzen würde. Die legislative, exekutive und judikative Funktion sind jedoch unterschiedlich und nicht gleichmäßig auf zwei oder alle Gewalten verteilt, s. Carey, G. W., Design (1989), S. 74. 255 s. Art. 1 Abschn. 2 und Nr. 52 bis 61. 256 s. Art. 1 Abschn. 3 und Nr. 62 bis 66. 257 In Art. 2 und Nr. 67 bis 77 bzw. Art. 3 und Nr. 78 bis 83. 258 s. hierzu auch Wills, G., Explaining (1981), S. 129. 259 Hierauf weist Hamilton in Nr. 81 hin: „Eine gesetzgebende Versammlung kann ohne Überschreiten ihres Zuständigkeitsbereichs keine Entscheidung revidieren, die in einem bestimmten Rechtsstreit getroffen wurde. Sie kann jedoch sehr wohl eine neue Regelung für zukünftige Fälle treffen.“ (Nr. 81, S. 491)

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Vergehen und damit nicht aus rein politischen Gründen eingeleitet werden kann. Ein Blockade des politischen Prozesses wäre vielmehr im Fall der strikten Gewaltentrennung zu befürchten, da die staatlichen Organe beanstandete Maßnahmen der anderen Gewalten dann nur zu Fall bringen könnten, indem sie die Wahrnehmung der eigenen Funktion verweigern würden. Die Existenz der funktionalen Verteidigungsmittel dagegen gewährleistet, daß die Gewalten in Konfliktfällen ihre Funktionen weiter ausüben und sich konstruktiv auseinandersetzen.260 Die Teilung und konkrete Ausgestaltung der Gewalten hat nicht die Lähmung, sondern die Stärkung und Vitalisierung des Staates zum Ziel.261 Den Kritikern des Gewaltenteilungskonzepts im Federalist ist auch darin nicht zuzustimmen, daß die Teilung der Gewalten zur Sicherung der Freiheit im Staat überflüssig sei, da diese allein durch den gesellschaftlichen Pluralismus gewährleistet werde. Zwar spielt dieser bei der Bekämpfung von Faktionen eine bedeutende Rolle, aber er bedarf zusätzlicher Sicherheitsvorkehrungen262 und schützt zudem nicht vor unterdrückerischer Herrschaft, die ihren Ursprung nicht im Volk, sondern in den staatlichen Organen hat.263 Daß es sich hier um zwei verschiedene Problemkreise handelt, betont Madison in Nr. 51: „Es ist in einer Republik von großer Bedeutung, nicht nur die Gemeinschaft vor der Unterdrückung durch die Herrschenden zu schützen, sondern auch den einen Teil der Gemeinschaft vor der Ungerechtigkeit des anderen Teils zu bewahren.“ (Nr. 51, S. 316)

In den Fällen vertikaler statt horizontaler Tyrannei führt der Pluralismus zu einer zusätzlichen Schwächung des Volkes, da die Zersplitterung der Gesellschaft und die entsprechend größere Vielfalt der Interessen in solchen Situationen ein einheitliches, geschlossenes Vorgehen erschweren. Zur umfassenden Sicherung der Freiheit im Staat bedarf es daher sowohl der Gewaltenteilung als auch der Diversifizierung der Gesellschaft. 3. Vergleich und Ergebnis Sowohl Kant als auch die Autoren des Federalist sehen die staatlichen Gewalten nicht nur unter dem Aspekt ihrer Teilung und der damit verbundenen Begrenzung der staatlichen Macht, sondern weisen zunächst darauf hin, daß diese Macht erst einmal geschaffen werden muß, betonen also die machtkonstituierende Funktion der Gewalten. 260

s. hierzu Diamond, A. S., Zenith (Publius 8, Nr. 3, 1978), S. 63 f. So auch Diamond, A. S., Zenith (Publius 8, Nr. 3, 1978), S. 46, 49 f., 61–64; Diamond, M., Founding (1981), S. 90; Epstein, D. F., Theory (1984), S. 127; Fisher, L., Allocation (1989), S. 19. 262 s. dazu unten II. 2. 263 s. hierzu Carey, G. W., Design (1989), S. 50 und 53; ders., Model (APSR 72, 1978), S. 154 f. s. auch Banning, L., Sphere (1987), S. 184. 261

I. Die drei Gewalten

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Kant hält die Existenz dreier Gewalten im Staat für vernunftgeboten, da dieser sich aus der Verpflichtung zur umfassenden Legitimierung und Sicherung des äußeren Mein und Dein ableitet und dieses in dreifacher Hinsicht bestimmungsbedürftig ist. Damit ist die triadische Gliederung der staatlichen Funktionen a priori vorgegeben. Diese Ableitung aus dem Privatrecht findet sich im Federalist angesichts des unterschiedlichen Ansatzes der Staatsbegründung nicht, aber auch die Autoren der Essays gehen davon aus, daß nur der in Legislative, Exekutive und Judikative gegliederte Staat seinen Zweck erfüllen kann. Allerdings beruht diese Annahme auf Effizienzerwägungen und damit auf pragmatischen Gründen. Erst im Anschluß an die Erörterungen zur Machtkonstitution widmen sich sowohl Kant als auch die Verfasser des Federalist dem Aspekt der Gewaltenteilung: die zweite Funktion der drei Gewalten sehen sie in der Zernierung der staatlichen Macht zum Zweck der Freiheitssicherung. Nach Ansicht beider Autoren beugt die Teilung der Gewalten der Herrschaft eines partikularen Willens vor und sorgt für die allgemeine und gleiche Geltung der Gesetze und die Rechtsförmigkeit des staatlichen Handelns. Damit ist sie unabdingbar zur Verhinderung obrigkeitlicher Tyrannei. Die Autoren des Federalist schreiben der Gewaltenteilung daneben noch in zweiter Hinsicht eine freiheitssichernde Funktion zu; sie gehen davon aus, daß die Teilung der Gewalten die Minderheit im Staat vor einer Unterdrückung durch die Mehrheit schützt, d. h. Schutz bietet vor der Herrschaft faktiöser Mehrheiten. Dieser zweite Aspekt der Machtbegrenzung findet sich in Kants Ausführungen nicht. Kant geht davon aus, daß die Implementierung der Gewaltenteilung schrittweise erfolgen kann; zunächst bedarf es (lediglich) der funktionellen Trennung. Letztlich fordert Kant jedoch auch die personell-institutionelle Trennung, d. h. die Übertragung der verschiedenen Funktionen auf unterschiedliche Träger. Der Gedanke der stufenweisen Verwirklichung der Gewaltenteilung, der sich aus Kants Forderung nach einer evolutionären Verrechtlichung des Staates ergibt, findet sich im Federalist aufgrund seines anderen, pragmatischen Ansatzes der Staatsbegründung nicht; in faktischer Hinsicht hat sich in den USA jedoch ein ähnlicher Prozeß vollzogen, wie Kant ihn schildert. Denn unter den Konföderationsartikeln bestand eine gewisse Ballung der Gewalten beim Kongreß, die dann von der neuen Verfassung aufgehoben und in ein gewaltenteiliges System umgeändert wurde. Allerdings entspricht dies nur teilweise Kants Darstellung, da der unter den Konföderationsartikeln bestehende Staatenbund weder vollumfängliche legislative noch exekutive oder judikative Kompetenzen hatte. Während Kant und die Autoren des Federalist die Existenz der drei Gewalten aus ähnlichen Gründen für nötig halten, nämlich zur Schaffung und zur Begrenzung der staatlichen Macht, differieren sie bezüglich der Frage, wie die Exi-

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E. Aufbau des Staates

stenz aller drei Gewalten gesichert, d. h. ihre Teilung aufrechterhalten werden kann. Die Autoren des Federalist gehen von einem dynamischen Verhältnis der Gewalten zueinander aus; sie fürchten, daß diese nach einer Ausdehnung ihrer Machtsphären zu Lasten der anderen staatlichen Organe streben, wobei die größte Gefahr von der Legislative als stärkster Gewalt ausgeht. Zur Eindämmung dieses Expansionsdranges setzen die Verfasser der Essays mit der Verfassung auf die weitgehende strukturelle Unabhängigkeit der Gewalten, während sie in funktionaler Hinsicht gewisse Verschränkungen fordern. Diese sind nach Ansicht des Federalist nötig, weil allein „papierne Schranken“, d. h. die bloße Festlegung der Zuständigkeitsbereiche, zur Aufrechterhaltung der Gewaltenteilung nicht ausreichen. Bei Kant findet sich der Gedanke eines hegemonialen Strebens der Gewalten nicht, vielmehr geht er von einem statischen Verhältnis der Gewalten zueinander aus. Kant ist der Ansicht, daß bereits die Differenzierung der staatlichen Funktionen Übergriffe in den Bereich der je anderen Gewalten verhindert; aus diesem Grund schlägt er im Vergleich zum Federalist den umgekehrten Weg zur Sicherung der Gewaltenteilung ein: Er fordert eine strikte funktionale Separierung, während er in struktureller Hinsicht aufgrund der von ihm postulierten Souveränität der Legislative gewisse Verschränkungen zuläßt. Funktionelle Eingriffe der einen Gewalt in den Bereich der anderen, wie sie die amerikanische Verfassung mit dem Amtsenthebungsverfahren, dem Vetorecht des Präsidenten und dem Normenkontrollrecht der Judikative vorsieht, würde er strikt ablehnen. Von diesem Postulat der funktionellen Separierung macht Kant auch zugunsten der souveränen Legislative keine Ausnahme. In struktureller Hinsicht dagegen läßt er aufgrund der von ihm angenommenen Vorrangstellung der gesetzgebenden Gewalt gewisse Verschränkungen der Gewalten zu und spricht etwa der Legislative das Recht zu, die Exekutivspitze zu wählen und aus politischen Gründen abzusetzen. Derartige strukturelle Verschränkungen lehnt der Federalist explizit ab; seine Autoren fordern in struktureller Hinsicht die möglichst weitgehende Unabhängigkeit der Gewalten voneinander, da ihrem dynamischen Verständnis nach andernfalls die Gefahr der Abhängigkeit und Beeinflußbarkeit und damit einer Verschiebung der Machtsphären besteht.

II. Repräsentation Sowohl Kant als auch Publius fordern ein politisches System, das grundsätzlich auf der positiven, demokratischen Freiheit der Menschen beruht. Beide Autoren lehnen aber eine direkte Demokratie ab und fordern ein repräsentatives Regierungssystem.

II. Repräsentation

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1. Bei Kant In Kants Schriften zeigt sich eine Entwicklung seines Verständnisses von Repräsentation, und zwar eine Ausweitung nicht nur der Bedeutung des Begriffes, sondern auch des Begründungsansatzes. a) Im Gemeinspruch Die geringste Bedeutung kommt der Repräsentation im Gemeinspruch von 1793 zu, in dem Kant sie im Zusammenhang mit dem Mehrheitsprinzip erwähnt: „Wenn also das erstere von einem ganzen Volk nicht erwartet werden darf, mithin nur eine Mehrheit der Stimmen und zwar nicht der Stimmenden unmittelbar (in einem großen Volke), sondern nur der dazu Delegierten, als Repräsentanten des Volks, dasjenige ist, was allein man als erreichbar voraussehen kann: so wird doch selbst der Grundsatz, sich diese Mehrheit genügen zu lassen, als mit allgemeiner Zusammenstimmung, also durch einen Kontrakt, angenommen, der oberste Grund der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung sein müssen.“ (Gemeinspruch S. 152 f.)264

Kant plädiert hier aus pragmatischen Gründen für das Mehrheitsprinzip, da der ideale Zustand, die Übereinstimmung aller, in der empirischen Welt nicht zu erreichen ist. Auch wenn nicht ganz deutlich wird, ob sich diese Überlegung zur Realisierbarkeit nur auf das Mehrheits- oder auch auf das Repräsentationsprinzip bezieht, begründet Kant auch das letztere hier mit Nützlichkeitserwägungen,265 denn er qualifiziert seine Forderung nach Repräsentation, die er hier auf die Vertretung der zur Gesetzgebung berechtigten Bürger in der Legislative bezieht, durch den Zusatz „in einem großen Volke“. Hieraus läßt sich im Gegenschluß folgern, daß in einem kleinen Volk keine Repräsentation nötig wäre, Kant hier also die direkte Abstimmung aller Aktivbürger über die zu erlassenden Gesetze für zulässig oder angemessen halten würde.266 Die von ihm im Gemeinspruch postulierte Repräsentation des Volkes in der Legislative beruht offensichtlich 264 Zur Frage der Begründbarkeit des Mehrheitsprinzips s. Scheuner, U., Mehrheitsentscheid (1970), S. 312: „Es bleibt die Feststellung, daß es keine innere materielle Rechtfertigung der Mehrheitsentscheidung gibt. Ihre Anerkennung fließt allein aus dem vorangehenden Konsens in der Verfassung, der Anwendungsbereich und Verfahren der Mehrheit festlegt. Dies ist schon von den älteren Autoren gesehen worden, die hier auf den Sozialvertrag verwiesen.“ 265 So auch Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 197. 266 s. auch Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 197, die zusätzlich darauf hinweist, daß Kant „nur das Mehrheitsprinzip, nicht aber die legislative Repräsentation in die oberste kontraktualistische Begründung der bürgerlichen Verfassung mit auf[nimmt].“ Dies trifft allerdings auf die späteren Schriften nicht mehr zu, s. dazu sogleich unten.

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E. Aufbau des Staates

auf der Erwägung, daß in einem großen Staat die Versammlung aller stimmberechtigten Bürger zur Gesetzgebung in eigener Person logistische Schwierigkeiten mit sich bringen würde bzw. unmöglich wäre. Diese herkömmliche Meinung vertraten beispielsweise auch Montesquieu267 und Rousseau268, die der Ansicht waren, daß die (direkte) Demokratie sich nur für kleine Staaten eigne.269 Damit ist Kants Forderung nach Repräsentation in der Legislative im Gemeinspruch pragmatisch und nicht apriorisch bedingt. b) Im Frieden Im zwei Jahre später erschienenen Frieden (1795) weist Kant der politischen Repräsentation eine weitaus bedeutendere Rolle zu; hier hält er sie zur Sicherung der Freiheit der Menschen für notwendig, d. h. aus apriorischen Gründen.270 Er sieht sie als notwendige Grundvoraussetzung sowohl für die Herrschaft des allgemein vereinigten Willens als auch für die Teilung der Gewalten.271

267 s. Montesquieu, C.-L. de, Geist (1748), Buch VIII, Kap. 16, S. 172: „Es gehört zum Wesen der Republik, daß sie nur ein kleines Gebiet umfaßt, sonst kann sie nicht bestehen. In einer großen Republik gibt es große Vermögen und infolgedessen wenig Sinn für Mäßigung. Den Händen des einzelnen Bürgers müssen zu große Werte anvertraut werden; dadurch werden die Interessen eigensüchtig; jemand glaubt zunächst, ohne sein Vaterland glücklich, groß und berühmt zu werden, und bald, nur auf den Trümmern seines Vaterlandes groß sein zu können. In einer großen Republik wird das Gemeinwohl tausenderlei Rücksichten geopfert, es unterliegt Ausnahmen und hängt von Zufällen ab. In einer kleinen Republik dagegen wird das Gemeinwohl stärker empfunden, besser erkannt, dem einzelnen Bürger näher gerückt; Mißbräuche sind weniger verbreitet und daher auch weniger geschützt.“ 268 s. Rousseau, J. J., Gesellschaft (1762), 3. Buch, Kap. III, S. 59: „. . . so folgt daraus, daß im allgemeinen die demokratische Regierung den kleinen Staaten entspricht, die aristokratische den mittleren und die monarchische den großen.“ s. etwa auch 3. Buch, Kap. IV, S. 60: „Im übrigen: wieviel schwer vereinbare Dinge setzt diese Regierung [in der Demokratie] nicht voraus! Erstens einen sehr kleinen Staat, in dem das Volk leicht zusammenzubringen ist, und jeder Staatsbürger mühelos alle anderen kennenlernen kann.“ 269 Zur Widerlegung dieser Ansicht s. den Federalist, Nr. 9, S. 46 ff.; Nr. 10, S. 56 ff.; Nr. 14, S. 74 f. s. dazu auch unten II. 2. b) (2). 270 Diese Weiterentwicklung des Repräsentationsverständnisses bei Kant, die sich in der Metaphysik noch fortsetzt, übersieht Unruh, der Kants Position im Gemeinspruch fälschlicherweise verabsolutiert und davon ausgeht, Kants Argument für die Notwendigkeit von Repräsentation sei insgesamt „empirisch-pragmatischer Natur“ und Kant sei „zu dieser Modifikation aus empirischen Gründen gezwungen“. s. Unruh, P., Vernunft (1993), S. 176 f. 271 Während Kant die Verwirklichung von Repräsentation und Gewaltenteilung im Frieden unter dem Topos der Regierungsart erörtert, ist dies nach der Metaphysik keine Frage der Regierungsart, sondern der umfassenden Republikanisierung; s. hierzu oben D. I. 4.

II. Repräsentation

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Zur ersten Funktion äußert Kant sich wie folgt: „Unter den drei Staatsformen ist die der Demokratie, im eigentlichen Verstande des Worts, notwendig ein Despotism, weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht mit einstimmt), mithin alle, die doch nicht alle sind, beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist.“ (Frieden S. 207)

Unter Demokratie „im eigentlichen Verstande des Worts“ versteht Kant hier nur die direkte Form, in der das Volk sowohl die legislative als auch die exekutive Funktion selbst und unmittelbar ausübt.272 Ein politisches System, in dem das Repräsentationsprinzip nicht verwirklicht ist, lehnt Kant ab, weil das Fehlen von Repräsentation zu einer Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit führt, die nicht mit der Freiheit der letzteren vereinbar ist. Kant geht davon aus, daß sich im unrepräsentativen System die partikularen Standpunkte und Willküren der einzelnen Menschen unvermittelt gegenüberstehen und die Entscheidung im politischen Prozeß nach einem rein quantitativen Kriterium gefällt, d. h. der bloße Mehrheitswille ermittelt wird. Diese lediglich quantitative Erfassung und Bilanzierung führt dazu, daß Minderheitspositionen im politischen Willensbildungsprozeß eliminiert werden und keinen Eingang in seine Ergebnisse finden; sie bleiben völlig unberücksichtigt.273 Damit ist der von der Mehrheit artikulierte Wille in einem unrepräsentativen System nicht der allgemein vereinigte Wille, der als volonté générale die Zustimmung aller Bürger in sich vereinigt, sondern die bloße Summe der partikularen Einzelwillküren, die volonté de tous. Macht man diesen – immer noch partikularen – Mehrheitswillen zur Basis des staatlichen Handelns, unterwirft man die nicht zustimmende Minderheit fremder, d. h. „eines anderen nötigender Willkür“ (S. 345) und verletzt damit ihre Freiheit. Im Gegensatz dazu werden die verschiedenen Standpunkte im repräsentativen System nicht nur gegeneinander aufgerechnet, sondern inhaltlich miteinander vermittelt und gegeneinander abgewogen. Damit werden alle Positionen gehört und in die Entscheidung miteinbezogen. Indem die legitimen Belange aller Menschen – und das heißt in erster Linie ihre Freiheit – berücksichtigt werden, kommt ein qualitatives Element in den politischen Prozeß, nämlich das Kriterium der allgemeinen Freiheitskompatibilität. Durch die Repräsentation wird somit der Vernunft Gehör in diesem Prozeß verschafft; durch sie kommt es zu einer Verallgemeinerung der zunächst nur subjektiven Standpunkte aller Beteiligten, die nunmehr auch die Existenz anderer Positionen mitbedenken.274 272

s. oben D. I. 4. d). Daß allein das Mehrheitsprinzip per se politischen Entscheidungen keine Legitimation verleihen kann, betonen beispielsweise auch Scheuner, U., Mehrheitsentscheid (1970), S. 301 f., und Schild, W., Strukturmomente (1981), S. 166 f. 274 s. hierzu Haller, B., Repräsentation (1987), S. 158–173. Kant bezeichnet diesen Prozeß in der Kritik der Urteilskraft als die ,Maxime der erweiterten Denkungsart‘, 273

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E. Aufbau des Staates

Durch diese Universalisierung werden die auf dieser Basis getroffenen Entscheidungen für alle Parteien verständlich und nachvollziehbar und können von ihnen akzeptiert und mitgetragen werden, auch wenn ihre eigenen Standpunkte sich im Ergebnis nicht durchsetzen.275 Denn in diesem Prozeß wird – in der Sprache des kategorischen Imperativs – jeder einzelne im Staat nicht nur als Mittel zum Zweck anderer Personen betrachtet, sondern als Zweck an sich selbst berücksichtigt. Warum Kant diesen Prozeß durch Repräsentation bewirkt sieht, erklärt er im Frieden nicht. Eine Antwort ergibt sich aber aus seinen Ausführungen in der Kritik der Urteilskraft von 1790, wie Benedikt Haller gezeigt hat.276 Die Repräsentanten des Volkes können im politischen Prozeß nicht nur ihre eigenen, persönlichen, sondern müssen auch die unterschiedlichen Interessen und Standpunkte der von ihnen Repräsentierten vertreten, da sie in einem republikanischen System vom Volk gewählt werden und damit von ihm abhängig sind. Damit müssen sie sich bereits im Vorfeld des eigentlichen politischen Prozesses von ihren persönlichen Sonderinteressen lösen und die Standpunkte anderer Menschen miteinbeziehen, d. h. sich – in Kants Terminologie der KU – der erweiterten Denkungsart bedienen.277 Damit äußern sich im Repräsentativorgan bereits allgemeinere, weniger partikulare Standpunkte,278 und es ist anzunehmen, daß es den Repräsentanten daher leichter fallen wird, ihren Horizont nochmals zu erweitern und weitere, von den anderen Repräsentanten artikulierte Positionen miteinzubeziehen. Durch diese Miteinbeziehung der Belange anderer Menschen findet eine qualitative Komponente Eingang in den politischen Prozeß, nämlich die Frage nach der Vereinbarkeit der eigenen Position mit der Freiheit anderer, d. h. nach ihrer Rechtmäßigkeit. Durch die Hereinnahme dieses Vernunftelementes und die Universalisierung der zunächst nur subjektiven Standpunkte werden die gefällten Entscheidungen allen Menschen ansinnbar gemacht; auch jene, deren Positionen sich im Ergebnis nicht durchsetzen konnten, können sie prinzipiell akzeptieren, da ihre Belange mitberücksichtigt wurden.

nämlich den Grundsatz, „[a]n der Stelle jedes andern [zu] denken“, s. KU § 40, S. 226. Jemand bedient sich dann der erweiterten Denkungsart, „wenn er sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils, wozwischen so viele andere wie eingeklammert sind, wegsetz[t], und aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert.“ (KU § 40, S. 227) 275 Zu dieser Funktion der Repräsentation s. Haller, B., Repräsentation (1987), S. 142; vgl. auch S. 161, 164 ff. 276 s. Haller, B., Repräsentation (1987), S. 152, 157 ff. 277 Zur erweiterten Denkungsart s. auch Arendt, H., Urteilen (1998), S. 60 ff. 278 Haller, B., Repräsentation (1987), S. 141 f.

II. Repräsentation

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Neben der Herrschaft des allgemein vereinigten Willens ermöglicht Repräsentation auch eine gewaltenteilige Organisation des Staates; ein nicht repräsentatives System dagegen verstößt nach Kants Verständnis im Frieden gegen das Gewaltenteilungsprinzip, da in der direkten Demokratie das gesamte Volk sowohl die Legislative als auch die Exekutive innehat und daher keine gegenseitige Kontrolle der staatlichen Organe erfolgt.279 Allerdings verwirklicht nicht jeder repräsentativ ausgestaltete Staat automatisch die zwei weiteren Kennzeichen der republikanischen Regierungsart, die Kant im Frieden aufführt; er stellt aber die Grundbedingung dafür zur Verfügung und ist damit der erste Schritt zu ihrer Verwirklichung: „. . . und, wenn gleich die zwei andern Staatsverfassungen [die Autokratie und die Aristokratie] so fern immer fehlerhaft sind, daß sie einer solcher Regierungsart Raum geben, so ist es bei ihnen doch wenigstens möglich, daß sie eine dem Geiste eines repräsentativen Systems gemäße Regierungsart annähmen . . ., da hingegen die demokratische es unmöglich macht, weil alles da Herr sein will.“ (Frieden S. 207)

Dieser Schritt ist immer dann getan, wenn eine personelle Trennung zwischen Volk und Herrscher besteht:280 „Man kann daher sagen: je kleiner das Personale der Staatsgewalt (die Zahl der Herrscher), je größer dagegen die Repräsentation derselben, desto mehr stimmt die Staatsverfassung zur Möglichkeit des Republikanism . . .“ (Frieden S. 207)

Anders als im Gemeinspruch ist die Repräsentantenstellung nach der Konzeption des Friedens von Wahlen unabhängig und kommt auch aristokratischen oder monarchischen Herrschern zu.281 Repräsentation bedeutet damit im Frieden die Repräsentation des Volkes durch das Staatsoberhaupt, ihre Manifestation in unterschiedlichen Körperschaften. Diese ist in der Aristokratie und Monarchie stets per definitionem verwirklicht, während die Demokratie sowohl als repräsentative als auch als nicht repräsentative, direkte denkbar ist.282 Den Gedanken, daß der Herrscher das Volk repräsentiert, greift Kant in der Metaphysik wieder auf, dort allerdings in Verbindung mit seiner erst in dieser Schrift herausgearbeiteten Unterscheidung zwischen dem noumenalen und dem phaenomenalen Staat.

279 „Alle Regierungsform nämlich, die nicht repräsentativ ist, ist eigentlich eine Unform, weil der Gesetzgeber in einer und derselben Person zugleich Vollstrecker seines Willens . . . sein kann . . .“ (Frieden S. 207) Allerdings wäre auch in der direkten Demokratie eine funktionelle Trennung der Gewalten als Simulierung der personell-institutionellen Gewaltenteilung möglich; entsprechend sieht Kant die institutionelle Implementierung von Gewaltenteilung in der Metaphysik (anders als im Frieden) auch nicht mehr als Kriterium der Regierungsart, sondern der umfassenden Republikanisierung. 280 s. Ludwig, B., Kommentar (1999), S. 181. 281 s. auch Langer, C., Prinzipien (1986), S. 121. 282 s. hierzu auch Ludwig, B., Kommentar (1999), S. 182.

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E. Aufbau des Staates

c) In der Metaphysik Sowohl im Gemeinspruch als auch im Frieden bezeichnet Kant mit dem Begriff der Repräsentation die Repräsentation des Volkes in den staatlichen Organen, bezieht sie also auf die Vorstelligmachung eines Teils des empirischen Staates durch einen anderen. Neben diese (staats-)immanente Bedeutung tritt in der Metaphysik ein zweites, transzendentes Verständnis, das Repräsentation nicht nur als innerhalb des realen, empirischen Staates zu verwirklichendes Prinzip sieht, sondern diesen Staat selbst als Repräsentanten begreift, und zwar als Repräsentanten einer außerhalb seiner selbst liegenden, gedachten Größe, der noumenalen Republik. Dieses transzendente Repräsentationsverständnis bringt den dynamischen Aspekt des kantischen Staatsrechts und als (Teil-)Analogon zum Postulat des öffentlichen Rechts die Verpflichtung zur umfassenden Verrechtlichung des Staates zum Ausdruck. Die beiden Repräsentationsbegriffe stehen dabei zueinander in einer Zweck-Mittel-Relation, wie im folgenden zu zeigen sein wird.

(1) (Staats-)Transzendente Bedeutung Die transzendente Bedeutung des Begriffs Repräsentation zeigt sich vor allem in § 51 der Metaphysik: „Die drei Gewalten im Staat . . . sind nur so viel Verhältnisse des vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden, Volkswillens und eine reine Idee von einem Staatsoberhaupt, welche objektive praktische Realität hat. Dieses Oberhaupt (der Souverän) aber ist so fern nur ein (das gesamte Volk vorstellendes) Gedankending, als es noch an einer physischen Person mangelt, welche die höchste Staatsgewalt vorstellt, und dieser Idee Wirksamkeit auf den Volkswillen verschafft. Das Verhältnis der ersteren zum letzteren ist nun auf dreierlei verschiedene Art denkbar: entweder daß einer im Staat über alle, oder daß einige . . . über alle andere, oder daß alle zusammen über einen jeden . . . gebieten, d. i. die Staatsform ist entweder autokratisch, oder aristokratisch, oder demokratisch. (Der Ausdruck monarchisch, statt autokratisch, ist nicht dem Begriffe, den man hier will, angemessen; denn Monarch ist der, welcher die höchste, Autokrator aber, oder Selbstherrscher, der, welcher alle Gewalt hat; dieser ist der Souverän, jener repräsentiert ihn bloß.)“ (§ 51, S. 461 f.)

Kant bringt hier zum Ausdruck, daß nach Vernunftgesetzen, d. h. im noumenalen Staat, der a priori vereinigte Wille des Volkes souverän ist. Dieser noumenale, gedachte Souverän kann jedoch in der Welt der Erscheinungen nicht unmittelbar herrschen, sondern bedarf hier eines phaenomenalen Repräsentanten, „einer physischen Person“, die die Souveränität repräsentiert. Diese Rolle kann von einem, von einigen oder von allen im empirischen Staat ausgeübt werden, d. h. der Repräsentant kann ein Monarch, ein aristokratisches Gremium oder das gesamte Volk sein. Kant bezieht die Einteilung der Staaten nach Staatsformen damit auf die Souveränität und nicht nur – wie etwa Rousseau283 – auf die Aus-

II. Repräsentation

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gestaltung der Exekutive.284 Dies betont er mit seinem in Klammern gesetzten Zusatz, in dem er darauf hinweist, daß die monarchische Staatsform richtigerweise als autokratische zu bezeichnen ist, da der Autokrator im Gegensatz zum Monarchen den Souverän nicht bloß repräsentiert, sondern selbst souverän ist. Indem Kant darauf hinweist, daß jeder empirische Herrscher den noumenalen Souverän repräsentiert, stellt er zugleich klar, daß auch in den vorrepublikanischen Staaten der allgemein vereinigte Volkswille der eigentliche Souverän ist und der vorgeblich souveräne Herrscher diesen bloß repräsentiert. Die Pointe dieses Repräsentationsverständnisses ist nun, daß diese unentrinnbare Rolle dem empirischen Herrscher die Verpflichtung zur Republikanisierung auferlegt. Denn der Gedanke des a priori vereinigten Volkswillens enthält wie sein Korrelat, der Gesellschaftsvertrag, die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit. Daher verpflichtet er den Herrscher dazu, zunächst die Regierungsart an dieser Idee zu orientieren, d. h. insbesondere die Gesetze auf ihre allgemeine Konsensfähigkeit zu überprüfen. Letztlich reicht diese Simulation jedoch nicht aus, vielmehr müssen die Untertanen tatsächlich zu freien, gleichen und selbständigen Menschen und damit zu Bürgern werden, d. h. letztlich muß der Staat umfassend republikanisiert und eine phaenomenale Republik geschaffen werden. In diesem transzendenten Sinne ist jeder empirische Staat als repräsentativ anzusehen: er repräsentiert die respublica noumenon in dem Maße, in dem er ihre Prinzipien, d. h. die des a priori vereinigten Willens und des Gesellschaftsvertrages, verwirklicht, nämlich Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit der Untertanen.285 Die Repräsentation durch die vorrepublikanischen Staaten ist dabei jedoch nur partiell; erst die respublica phaenomenon, in der nicht mehr nur die Regierungsart, sondern der ganze Staat republikanisch ist, repräsentiert die intelligible Republik in dem höchstmöglichen Maße. Dies zeigt sich etwa im Streit, wenn Kant schreibt:

283 s. etwa Rousseau, J. J., Gesellschaft (1762), 3. Buch, Kap. I, S. 52: „Hier sieht man, was im Staat der Sinn der Regierung ist, die untunlich mit dem Souverän verwechselt wird, dessen Diener sie bloß ist.“ Und 3. Buch, Kap. III, S. 58: „Zum ersten kann das Souverän den Regierungsauftrag in die Hände des ganzen Volkes oder des größten Teiles des Volkes legen . . . Man gibt dieser Form der Regierung den Namen Demokratie. Ebensogut kann es die Regierung in den Händen einer kleinen Zahl zusammenfassen . . . Diese Form trägt den Namen Aristokratie. Schließlich kann es die ganze Regierung in den Händen eines einzigen Beamten konzentrieren . . . Diese dritte Form ist die verbreiteste und heißt Monarchie oder königliche Regierung.“ 284 Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 458. 285 s. auch Dreier, H., Repräsentation (AöR 113, 1988), S. 472 f.; Haller, B., Repräsentation (1987), S. 206 und 214; Kersting, W., Freiheit (1993), S. 449; Ludwig, B., Kommentar (1999), S. 178 und 185.

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E. Aufbau des Staates

„Eine dieser [der respublica noumenon] gemäß organisierte bürgerliche Gesellschaft ist die Darstellung derselben nach Freiheitsgesetzen durch ein Beispiel in der Erfahrung (respublica phaenomenon) . . .“ (Streit S. 364)

Diese partielle transzendente Repräsentation hat eine zweifache Wirkung: zum einen stellt sie jeden empirischen Staat unter die dargelegte Verpflichtung zur fortschreitenden Annäherung an die respublica noumenon, d. h. zur Republikanisierung zunächst der Regierungsart und schließlich des Staates insgesamt.286 Der Begriff der Repräsentation ist in dieser Bedeutung von Kant weniger deskriptiv als vor allem präskriptiv gemeint: Repräsentation in diesem Sinne ist ein jenem des öffentlichen Rechts entsprechendes Postulat,287 das wie dieses deutlich machen soll, daß jeder Staat in der Erscheinung (auch die respublica phaenomenon) stets zur weitergehenden Verrechtlichung verpflichtet ist. In diesem Sinne ist Repräsentation also weniger die Beschreibung eines Ist-Zustandes als vielmehr eine Aufforderung an die bestehenden Staaten, die ihnen ihre Eingebundenheit in eine metaphysische, aus der Vernunft hervorgehende Ordnung vor Augen führen soll. Zum anderen läßt die partielle Repräsentation der respublica noumenon durch jeden empirischen Staat diesen, und das heißt auch den noch vorrepublikanischen, in rechtlicher Hinsicht defizienten Staat, schon an der Vernunftlegitimation der reinen Republik teilhaben, so daß er keiner weiteren, rechtsexternen Grundlage bedarf und auch trotz seiner rechtlichen Defizienz kein aktiver Widerstand gegen ihn erlaubt ist.288 (2) (Staats-)Immanente Bedeutung Während Kant mit dem oben beschriebenen, transzendenten Repräsentationsbegriff das Ziel des Staatsrechts vorgibt, nämlich die Republikanisierung des Staates, die letztlich in der phaenomenalen Republik enden muß, zeigt er mit dem zweiten, (staats-)immanenten Repräsentationsverständnis das Mittel zur Erreichung dieses Ziels auf,289 denn die Implementierung von Repräsentation in diesem zweiten Sinne – als Repräsentation des empirischen Volkes in den staatlichen Organen – transformiert den vorrepublikanischen Staat in die Republik.

286

s. dazu oben D. I. 4. Allerdings ist das Postulat des öffentlichen Rechts weitergehend als das „Repräsentationspostulat“, denn während letzteres nur die höchstmögliche Verrechtlichung im Staat fordert, treibt das erstere über diese Perspektive hinaus und fordert auch die Verwirklichung eines Völker- und Weltbürgerrechtes, s. etwa § 43, S. 429. 288 s. dazu oben D. I. 5. a). 289 Zum Verhältnis beider Konzeptionen s. auch Kersting, W., Freiheit (1993), S. 449: „Wie ersichtlich liegt dieses erweiterte Repräsentationskonzept der kantischen Lehre von der rechtlichen Notwendigkeit der Republikanisierung staatlicher Herrschaft zugrunde, wohingegen das engere zur Republik, und damit zu einer . . . demokratischen Organisation der Volksgesetzgebung führt.“ 287

II. Repräsentation

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(a) Mittel der umfassenden Republikanisierung Der Übergang zur phaenomenalen Republik vollzieht sich nach Kant wie folgt: „Sobald aber ein Staatsoberhaupt, der Person nach (es mag sein König, Adelstand, oder die ganze Volkszahl, der demokratische Verein) sich auch repräsentieren läßt, so repräsentiert das vereinigte Volk nicht bloß den Souverän, sondern es ist dieser selbst; denn in ihm (dem Volk) befindet sich ursprünglich die oberste Gewalt, von der alle Rechte der einzelnen, als bloßer Untertanen . . . abgeleitet werden müssen, und die nunmehr errichtete Republik hat nun nicht mehr nötig, die Zügel der Regierung aus den Händen zu lassen, und sie denen wieder zu übergeben, die sie vorher geführt hatten . . .“ (§ 52, S. 464)

Kant weist hier darauf hin, daß sich im Volk „ursprünglich die oberste Gewalt“ befindet, d. h. daß ursprünglich das Volk souverän ist, wobei der Begriff der Ursprünglichkeit nicht zeitlich, sondern logisch zu verstehen ist.290 Das Prinzip der Volkssouveränität postuliert Kant auch im obigen Zitat aus § 51, wenn er schreibt, daß der noumenale Souverän „ein (das gesamte Volk vorstellendes) Gedankending“ (§ 51, S. 461) ist. In dieser Passage zeigt sich zudem, daß auch der noumenale Souverän, der durch den empirischen Herrscher repräsentiert wird, seinerseits ein Repräsentant ist, nämlich Repräsentant des ursprünglichen Souveräns, des Volkes. Damit ist das empirische Staatsoberhaupt des vorrepublikanischen Staates sowohl Repräsentant des noumenalen Souveräns als „Gedankending“ als auch (mittelbarer) Repräsentant des Volkes. Wenn sich dieses Oberhaupt nun durch das vereinigte Volk repräsentieren läßt, so Kants Schlußfolgerung in § 52, dann repräsentiert dieses letztere jemanden, der es selbst repräsentiert und vorstellig macht. Damit aber wird der Zwischenschritt, die Repräsentation durch den empirischen Herrscher, unnötig. Dieser verliert durch die Übertragung der Repräsentationsfunktion an das Volk seine Existenzberechtigung, da nach apriorischen Prinzipien seine Aufgabe allein in der Repräsentation des apriorischen Staatsoberhauptes und mittelbar auch des Volkes als ursprünglichem Souverän besteht. Mit diesem Schritt erlischt die Souveränität des empirischen Oberhauptes, sie fällt an das vereinigte Volk „zurück“, dem sie – in der Idee – ursprünglich zukommt, und der vorrepublikanische Staat verwandelt sich mit dieser fakti290 Dies ergibt sich aus Kants Verwendung dieses Begriffs an anderen Stellen. So unterscheidet er in § 6 und § 13 etwa die ursprüngliche und die uranfängliche Gemeinschaft des Bodens und betont: „Diese ursprüngliche Gemeinschaft des Bodens . . . ist eine Idee, welche objektive . . . Realität hat, und ist ganz und gar von der uranfänglichen . . . unterschieden, welche eine Erdichtung ist . . .“ (§ 6, S. 359 f.) In § 13 verweist er darauf, daß der Begriff der Ursprünglichkeit „nicht empirisch und von Zeitbedingungen abhängig ist, . . . sondern ein praktischer Vernunftbegriff“ (§ 13, S. 373). Zudem geht Kant davon aus, daß die realen Staaten ihren historischen Ursprung nicht in der Herrschaft eines souveränen Volkes, sondern in Gewalt und Bemächtigung haben, s. § 52, S. 463 und Anhang erläuternder Bemerkungen, S. 497.

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E. Aufbau des Staates

schen Institutionalisierung der Volkssouveränität irreversibel in eine Republik. In diesem Staat repräsentiert der empirische Herrscher den noumenalen Souverän nicht mehr nur partiell (nach dem obigen Verständnis), sondern im höchstmöglichen Maße, da nun die physische Manifestation seiner selbst (das vereinigte Volk) herrscht. Daher wird der Begriff der Repräsentation hier im ersten, transzendenten Sinne auch in gewisser Weise obsolet, da nunmehr Identität zwischen dem ursprünglichen und dem phaenomenalen Staatsoberhaupt gegeben ist, das Wesen der Repräsentation aber gerade in der Duplizität besteht; sie beruht nicht „auf dem Gedanken der Einheit“, sondern „der Zweiheit“ (Leibholz).291 Die reine Vernunftidee von einem Souverän manifestiert sich hier in ihrer phaenomenalen Gestalt; dabei wandelt sich die Idee des allgemein vereinigten Willens vom rein gedanklichen, kriteriologischen Konzept zum prozeduralen; die demokratische bzw. republikanische Entstehung von Gesetzen wird nicht mehr nur gedanklich simuliert, sondern tatsächlich bewirkt. Damit ist der allgemein vereinigte Wille nicht mehr – nur – ein „Gedankending“, sondern – auch – ein reales Produkt. Hierfür spricht auch, daß Kant in § 51 schreibt: „Dieses Oberhaupt (der Souverän) aber ist so fern nur ein (das gesamte Volk vorstellendes) Gedankending, als es noch an einer physischen Person mangelt, welche die höchste Staatsgewalt vorstellt, und dieser Idee Wirksamkeit auf den Volkswillen verschafft.“ (§ 51, S. 461)

In der Republik aber muß der Idee von einem Staatsoberhaupt nicht mehr Wirksamkeit auf den Volkswillen verschafft werden, vielmehr ist der Volkswille selbst souverän und äußert sich hier. Dennoch behält der Begriff der Repräsentation seine Berechtigung, da auch die Republik in der Erscheinung stets nur eine unvollkommene Abbildung ihres intelligiblen Vorbildes sein kann; die Annäherung an letztere ist in der Welt der Erscheinungen nur asymptotisch möglich. Auch der demokratisch bzw. republikanisch erzeugte allgemeine Wille kann irren,292 da er nicht von reinen Vernunftwesen, sondern den phaenomenalen Menschen gebildet wird. Daher bleibt die respublica noumenon und die Idee des allgemein vereinigten Willens auch für die empirische Republik noch Vorbild, wie Kant an verschiedenen Stellen betont.293 291

Leibholz, G., Art. Repräsentation (1987), Sp. 2986. s. hierzu Dreier, H., Repräsentation (AöR 113, 1988), S. 476; Kersting, W., Freiheit (1993), S. 451 f. 293 s. etwa folgende Aussagen in der Metaphysik: „So fern diese als Gesetze a priori notwendig . . . sind, ist seine Form die Form eines Staats überhaupt, d. i. der Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll, welche jeder [!] wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen . . . zur Richtschnur . . . dient.“ (§ 45, S. 431) Und: „. . . und dieses Prinzip liegt schon a priori in der Idee einer Staatsverfassung überhaupt, d. i. in einem Begriffe der praktischen Vernunft; dem zwar adäquat kein Beispiel in der Erfahrung untergelegt werden kann, dem aber auch, als Norm keine widersprechen muß.“ (S. 499) Auch im Streit weist Kant darauf hin: „Die Idee 292

II. Repräsentation

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Als historisches Beispiel für den Übergang vom vorrepublikanischen Staat zur Republik führt Kant die Anfangsphase der Französischen Revolution an, in der Ludwig XVI. dem Volk in Gestalt der Generalstände die Tilgung der Staatsschulden auftrug: „Es war also ein großer Fehltritt der Urteilskraft eines mächtigen Beherrschers zu unserer Zeit, sich aus der Verlegenheit wegen großer Staatsschulden dadurch helfen zu wollen, daß er es dem Volk übertrug, diese Last nach dessen eigenem Gutbefinden selbst zu übernehmen und zu verteilen; da es denn natürlicherweise nicht allein die gesetzgebende Gewalt in Ansehung der Besteuerung der Untertanen, sondern auch in Ansehung der Regierung in die Hände bekam . . .; mithin die Herrschergewalt des Monarchen gänzlich verschwand (nicht bloß suspendiert wurde), und auf das Volk überging, dessen gesetzgebenden Willen nun das Mein und Dein jedes Untertans unterworfen wurde.“ (§ 52, S. 465)

Hier wird deutlich, daß Kant als zur Republik führende Repräsentation bereits die vertretungsweise Wahrnehmung der Befugnisse des empirischen Herrschers durch ein Organ des Volkes ausreichen läßt. Zwar spricht Kant davon, der Herrscher habe „dem Volk“ die entsprechende Aufgabe übertragen, aber er meint hiermit nicht das gesamte Volk als Menge, sondern die Generalstände.294 Denn der ursprüngliche Souverän ist nicht die Masse des Volkes, sondern das vereinigte Volk, wie Kant in § 47 betont: „Alle jene drei Gewalten im Staate . . . enthalten das Verhältnis eines allgemeinen Oberhaupts (der, nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein anderer als das vereinigte Volk selbst sein kann) zu der vereinzelten Menge ebendesselben als Untertans . . .“ (§ 47, S. 434)

Nach Freiheitsgesetzen kann deshalb allein das vereinigte Volk souverän sein, weil es nur in dieser vereinigten Form Träger des allgemein vereinigten Willens ist; die bloße Menge vermag lediglich die Summe ihrer partikularen Einzelwillen zu artikulieren. Im Gemeinwillen vereinigen sich die Willküren aller Betroffenen, d. h. aller Menschen im Staat, und die von ihm getroffenen Entscheidungen basieren damit auf der Zustimmung aller Menschen. Da die entsprechenden Akte so der je eigenen Willkür aller Staatsbewohner entspringen, sind sie mit jedermanns Freiheit vereinbar und damit rechtmäßig.295 einer mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Konstitution: daß nämlich die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, vereinigt, gesetzgebend sein sollen, liegt bei allen Staatsformen zum Grunde, und das gemeine Wesen, welches ihr gemäß, durch reine Vernunftbegriffe gedacht, ein platonisches Ideal heißt (respublica noumenon), ist nicht ein leeres Hirngespinst, sondern die ewige [!] Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt . . .“ (Streit S. 364) 294 s. hierzu Ludwig, B., Kommentar (1999), S. 186. 295 s. § B und C, S. 336 ff., und S. 345. Kant führt diesen Gedankengang in bezug auf die Gesetzgebung näher aus: „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn, da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht tun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht

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E. Aufbau des Staates

(b) Vereinigung des Volkes Die hierzu notwendige Vereinigung des Volkes, die Transformation der „vereinzelten Menge“ in das vereinigte Volk, geschieht durch die Repräsentation, wie sich in § 52 zeigt: „Alle wahre Republik aber ist und kann nichts anders sein, als ein repräsentatives System des Volks, um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen.“ (§ 52, S. 464)296

Nur durch seine Abgeordneten kann das Volk als vereinigtes handeln; erst in einem von Delegierten gebildeten Gremium artikuliert sich der allgemein vereinigte Wille und nicht die bloße Summe von Einzelwillen,297 wie Kant im Frieden darlegt.298 Zwar erläutert Kant die entsprechende Wirkung der Reprä-

tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, so fern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein.“ (§ 46, S. 432) Wie oben bereits angesprochen, kann damit nur derjenige die Souveränität für sich beanspruchen, dessen Herrschaft mit der Freiheit aller Menschen vereinbar ist; Kant leitet damit wie Rousseau die Souveränität aus der Unfehlbarkeit des Herrschers ab und nicht wie Hobbes die Unfehlbarkeit des Herrschers aus der Souveränität, s. oben I. 1. b) (2) (b). 296 Zwar geht Maus davon aus, daß die Ausdrücke „durch alle Staatsbürger vereinigt“ und „vermittelst ihrer Abgeordneten“ „gleichberechtigte Alternativen der Gesetzgebung“ sind und im ersteren Falle die direkte Demokratie, im letzteren die repräsentative bezeichnen, Kant hier also beide Gesetzgebungsmodi zuläßt, s. Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 199. Dieses Verständnis läßt sich jedoch nicht mit Kants Ausführungen in § 47 vereinbaren, in dem Kant – wie gesehen – gerade das vereinigte Volk von „der vereinzelten Menge ebendesselben“ unterscheidet und betont, daß nach Freiheitsgesetzen allein das erstere Oberhaupt sein kann. Daher vermag Maus’ Interpretation, die die „vereinzelte Menge“ als gleichberechtigten, alternativen Souverän neben das vereinigte Volk stellen würde, nicht zu überzeugen; Kant führt im obigen Zitat aus § 52 nicht zwei Alternativen der Gesetzgebung an, sondern stellt klar, daß die Rede vom vereinigten Volk auf das engste mit dem Konzept der Repräsentation des Volkes durch Abgeordnete verbunden ist. So auch Herb, K./Ludwig, B., Staatsrecht (JRE 2, 1994), S. 466, Fn. 143, und Ludwig, B., Kommentar (1999), S. 186 f. Zudem widerspricht Maus sich mit ihrer Interpretation selbst, denn sie weist an anderer Stelle darauf hin, daß Kant einen weiten Repräsentationsbegriff vertritt und alle drei Gewalten (Legislative, Exekutive, Judikative) als Repräsentanten des Volkes sieht, s. a. a. O., S. 192 f. Daher müßte sie auch Kants Forderung nach einem ,repräsentativen System des Volks‘ in § 52 auf alle drei Gewalten beziehen und dahingehend auslegen, daß Kant die Ausübung aller drei Gewalten durch Repräsentanten (und nicht das Volk direkt) fordert. Nach diesem Verständnis müßte zwar nicht nur, aber auch die Legislative durch Repräsentanten ausgeübt werden, was jedoch zu Maus’ oben dargestellter Interpretation im Gegensatz steht. 297 s. hierzu Ludwig, B., Kommentar (1999), S. 186. 298 s. dazu oben b).

II. Repräsentation

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sentation in der Metaphysik nicht eingehend,299 aber daß er das Resultat des politischen Willensbildungsprozesses im repräsentativen System als allgemein vereinigten Volkswillen (§ 46, s. o.) bezeichnet, zeigt, daß er von einem Universalisierungseffekt ausgeht, durch den die Belange nicht nur einer bestimmten Gruppe, sondern der Gesamtheit in Betracht gezogen werden. Der allgemein vereinigte Wille ist damit nicht von der faktischen Zustimmung aller Betroffenen abhängig; er ist nicht deshalb allgemein, weil ihm tatsächlich alle Menschen zugestimmt haben, sondern weil ihre Belange im politischen Prozeß berücksichtigt wurden. Es ist davon auszugehen, daß Kant auch in der Metaphysik das Mehrheitsprinzip als einzig praktikable Entscheidungsgrundlage in den phaenomenalen Staaten ansieht. Anders als noch im Gemeinspruch sieht er es aber unabdingbar verknüpft mit der Repräsentation; diese tritt nicht aus Praktikabilitätsgründen als ein weiteres, externes Dezisionsprinzip zum Mehrheitsprinzip hinzu, sondern ist immanent mit ihm verknüpft, da nur so das rein quantitative durch ein qualitatives Element – das der allgemeinen Freiheitskompatibilität – ergänzt wird. Mittels der durch Repräsentation bewirkten Universalisierung wird verhindert, daß sich der partikulare Wille bestimmter Personen oder Personengruppen ungehindert und ohne Berücksichtigung der Interessen anderer Gruppen zu deren Lasten durchsetzen kann und so die Freiheit – und damit auch Gleichheit und Selbständigkeit – der letzteren beschnitten wird. Allerdings ist der allgemeine Wille als vereinigter Wille phaenomenaler Menschen unrechtsanfällig und kann irren, weshalb die reine Idee dieses Willens auch für die Republik noch normativen Charakter hat und als Vorbild dient. Da Kant Repräsentation in der Metaphysik für nötig hält, um die Differenz zwischen dem Allgemeinwillen und der Summe der bloß partikularen Einzelwillen aufrechtzuerhalten und so die Freiheit und Gleichheit aller Menschen im Staat zu sichern, begründet er ihre Notwendigkeit hier – wie im Frieden – mit apriorischen und nicht – wie noch im Gemeinspruch – mit pragmatischen Erwägungen.300 299 Eine eingehende Erörterung dieses Prozesses findet sich – allerdings nicht unter dem Topos der Repräsentation, sondern der reflektierenden Urteilskraft – in der KU, wie Haller nachweist und ausführlich darlegt. S. Haller, B., Repräsentation (1987), S. 150 ff., insb. 157–173. 300 Hiergegen spricht auch nicht, daß Kant sich in dem Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (Menschenliebe), der wie die Metaphysik 1797 erschienen ist, wie folgt zum repräsentativen System äußert: „Um nun von einer Metaphysik des Rechts (welche von allen Erfahrungsbedingungen abstrahiert) zu einem Grundsatze der Politik (welcher diese Begriffe auf Erfahrungsfälle anwendet), und vermittelst dieses zur Auflösung einer Aufgabe der letzteren . . . zu gelangen: wird der Philosoph 1. ein Axiom . . ., 2. ein Postulat . . ., 3. ein Problem geben, wie es anzustellen sei, daß in einer noch so großen Gesellschaft dennoch Eintracht nach Prinzipien der Freiheit und Gleichheit erhalten werde (nämlich vermittelst eines repräsentativen Systems); welches dann ein Grundsatz der Politik sein wird, deren Veranstaltung und Anordnung nun Dekrete enthalten wird, die, aus der Erfahrungserkenntnis der Men-

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E. Aufbau des Staates

2. Im Federalist Die Autoren des Federalist erörtern das Repräsentationsprinzip im Zusammenhang mit dem Faktor, der ihrer Auffassung nach die Freiheit und das Gemeinwohl in demokratischen Staaten am stärksten bedroht, dem Problem der Faktionen. a) Das Problem der Faktionen Der Federalist widmet sich diesem Problem am ausführlichsten im zehnten Aufsatz, dem ersten von Madison verfaßten Artikel, und definiert den Begriff wie folgt: „Unter einer Faktion verstehe ich eine Gruppe von Bürgern, – das kann eine Mehrheit oder eine Minderheit der Gesamtheit sein, – die durch den gemeinsamen Impuls einer Leidenschaft oder eines Interesses vereint und zum Handeln motiviert ist, welcher im Widerspruch zu den Rechten anderer Bürger oder dem permanenten und gemeinsamen Interesse der Gemeinschaft steht.“ (Nr. 10, S. 51)

schen gezogen, nur den Mechanism der Rechtsverwaltung, und wie dieser zweckmäßig einzurichten sei, beabsichtigen.“ (Menschenliebe S. 641 f.) Zwar zieht Maus diese Passage als Argument für eine pragmatische Begründung des repräsentativen Prinzips in der Legislative heran (s. Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 198); sie geht davon aus, daß Kant nur die Repräsentation in der Exekutive normativ begründet, s. dazu oben D. I. 4. d), Fn. 141. Das Zitat scheint mir jedoch einen anderen, entgegengesetzten Sinn zu haben. Denn daß Kant das repräsentative System hier als „Grundsatz der Politik“ bezeichnet, bedeutet nicht, daß er es damit pragmatisch begründet, vielmehr werden in einem solchen Grundsatz „diese Begriffe“, und das heißt metaphysische, apriorische Begriffe, die von allen Erfahrungsbedingungen abstrahieren, auf Erfahrungsfälle angewendet. Das repräsentative System ist ein solcher apriorischer Begriff, der hier auf ein empirisches Problem angewendet wird und dadurch zu einem Grundsatz der Politik wird. Kant betont eigens, daß das repräsentative System „dann“ ein Grundsatz der Politik sein wird, nämlich erst dann, wenn es auf die Welt der Erscheinungen angewendet wird. Er hält das repräsentative System also nicht, wie Maus meint, für ein pragmatisches Prinzip, sondern im Gegenteil für ein a priori gebotenes. Die Zweckmäßigkeitserwägungen, auf die Maus verweist, kommen erst bei der Anwendung dieses Prinzips auf die Empirie ins Spiel und ergeben sich aus der Notwendigkeit, den apriorischen Begriff mit der empirischen Situation zu vermitteln; sie machen diesen Begriff aber keineswegs zu einem pragmatisch begründeten. Zudem würde Maus sich mit ihrer Auslegung in einen Widerspruch verwickeln. Denn es ist zu beachten, daß Kant im obigen Zitat allgemein vom repräsentativen System spricht und nicht etwa nur von der Repräsentation des Volkes in der Legislative. Maus selbst geht nun davon aus, daß Kant einen weiten Repräsentationsbegriff vertritt und alle Gewalten als Repräsentanten ansieht (s. a. a. O., S. 192 f.). Damit aber wäre nach ihrer Ansicht jegliche Repräsentation bei Kant pragmatisch begründet. Nicht nur die „legislative Repräsentation“ wäre ein Zweckmäßigkeitsgrundsatz, sondern auch die exekutive. Maus selbst geht aber an anderer Stelle davon aus, daß Kant „den repräsentativen Charakter nicht der Gesetzgebung, wohl aber der Regierung normativ“ begründet (s. a. a. O. S. 200; s. auch S. 195 f.)

II. Repräsentation

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Faktionen sind damit Zusammenschlüsse von Bürgern, deren Motivation entweder der Gerechtigkeit oder dem Gemeinwohl zuwiderläuft. Auf die Größe der Gruppe kommt es dabei nicht an; Madison betont, daß ein faktiöser Impuls sowohl die Mehrheit als auch eine Minderheit des Volkes vereinen kann. Im 18. Jahrhundert wurden politische Gruppierungen allgemein mit Argwohn betrachtet und als „Krankheit“ des politischen Prozesses gesehen, als nur auf den eigenen Vorteil bedachte und das Gemeinwohl gefährdende Cliquen.301 Das Verständnis von Parteien als legitimen und notwendigen Faktoren des politischen Prozesses hatte sich damals noch nicht herausgebildet; die Begriffe der Faktion und der Partei wurden überwiegend synonym verwendet.302 Dies zeigt sich auch im zehnten Essay des Federalist, in dem Madison teils von Faktionen, teils von Parteien spricht und beide Begriffe auch explizit gleichsetzt:303 „. . . und die zahlreichste Partei, oder anders ausgedrückt, die größte Faktion wird sich mit Sicherheit durchsetzen.“ (Nr. 10, S. 53)

Madison stellt die negativen Auswirkungen von Faktionen zu Beginn des Essays dar: „Unter den zahlreichen Vorteilen, die eine gut aufgebaute Union verspricht, verdient keine genauer dargelegt zu werden, als die mögliche Fähigkeit, die Gewalttätigkeit von Faktionen zu beenden und auf Dauer zu kontrollieren. Der Freund von politischen Systemen, die auf dem Willen des Volkes basieren, ist über nichts, was deren Ruf und Schicksal angeht, so besorgt wie über ihre Neigung zu diesem gefährlichen Übel . . . Instabilität, Ungerechtigkeit und Chaos in den Volksvertretungen waren in Wahrheit die tödliche Krankheit, an denen demokratische [popular] Regierungssysteme überall zugrunde gegangen sind . . .“ (Nr. 10, S. 50)

Als aktuelles Beispiel hatten die Autoren des Federalist die politischen Verhältnisse in den Einzelstaaten vor Augen, die in der sogenannten Kritischen Periode durch einseitige und ungerechte Gesetze geprägt waren, da die Mehrheit ihre Interessen in der Legislative ungehindert durchsetzen konnte, ohne auf die legitimen Interessen der Minderheit Rücksicht nehmen zu müssen.304 Hervorstechendstes Beispiel waren die in zahlreichen Einzelstaaten verabschiedeten Schuldnerschutzgesetze, die die Rechte der in der Minderheit befindlichen Gläubiger in eklatanter Weise verletzten.305 Um nachzuweisen, daß das neue politische System unter der propagierten Verfassung die Lösung für das Faktionsproblem darstellt, erwägt Madison in 301

s. hierzu bereits oben B. II. 4. g) (2). Heideking, J., Richterstuhl (1988), S. 94; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 55. 303 s. hierzu auch Beloff, M., Introduction (1948), S. XXXII; von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 55; Wills, G., Explaining (1981), S. 210. 304 s. hierzu oben B. II. 4. a) (3) und Morgan, E. S., Safety (HLQ 49, 1986), S. 100. 305 s. B. II. 4. a) (3). 302

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E. Aufbau des Staates

Nr. 10 zunächst systematisch die verschiedenen möglichen Lösungswege und stellt zwei prinzipiell denkbare Vorgehensweisen vor, nämlich die Verhinderung der Entstehung von Faktionen oder die Eindämmung ihrer Wirkungen: „Es gibt zwei Methoden, die negativen Auswirkungen solcher Faktionen abzustellen: zum einen, die Beseitigung der Ursachen, zum anderen, die Beherrschung der Konsequenzen.“ (Nr. 10, S. 51)

(1) Unvermeidbarkeit ihrer Entstehung Der erste Weg ist seinerseits wiederum auf zweierlei Art denkbar: „Und auch zur Beseitigung der Ursachen von Faktionen gibt es zwei Methoden: erstens, die Freiheit zu zerstören, die für ihre Existenz lebensnotwendig ist; zweitens, alle Bürger mit den gleichen Meinungen, den gleichen Leidenschaften und den selben Interessen zu versehen.“ (Nr. 10, S. 51)

Faktiös motivierte Gruppierungen von Bürgern können zunächst nur dort Einfluß auf den politischen Prozeß nehmen, wo dem Volk überhaupt ein politisches Mitspracherecht zusteht; in Staaten, in denen keine politische Freiheit herrscht, stellt sich das Problem nicht. Entsprechend betont Madison in Nr. 51, daß ein Weg, die Unterdrückung der Minderheit im Staat durch die Mehrheit zu verhindern, „die Schaffung eines von der Mehrheit – also von der Gemeinschaft selbst – unabhängigen Willens“ ist und dieser Weg „in allen Staaten beschritten [wird], in denen die höchste Gewalt erblich oder selbsternannt ist.“ (Nr. 51, S. 316). Die Übertragung der politischen Entscheidungsbefugnis an eine von der Gemeinschaft losgelöste, über ihr und den Gesetzen stehende Person, d. h. die Einsetzung eines absoluten Herrschers, lehnt er jedoch ab: „Das schafft bestenfalls eine äußerst prekäre Sicherheit, weil eine von der Gemeinschaft unabhängige Macht sich sowohl der unrechten Ansichten der Mehrheit als auch der gerechten Interessen der Minderheit annehmen oder sich sogar gegen beide stellen kann.“ (Nr. 51, S. 316)

Eine absolute Monarchie beseitigt die Gefahr unterdrückerischer Herrschaft nicht, sondern ändert lediglich die Richtung, aus der diese Gefahr droht; an die Stelle einer potentiellen faktiösen tritt die potentielle tyrannische Degeneration des Regimes. Zudem ist die Unterdrückung der politischen Freiheit in einem Staat, der die Freiheit der Menschen zu seinem Credo macht, inakzeptabel: „Auf nichts trifft der Satz, das Heilmittel sei schlimmer als die Krankheit, besser zu als auf die erste Methode. Freiheit ist für Faktionen, was Luft für das Feuer ist, ein Lebenselexier, ohne die sie sofort ersticken. Und doch wäre es ebenso unsinnig, die Freiheit abzuschaffen, die für das politische Leben unerläßlich ist, nur weil sie auch Faktionen fördert, wie es absurd wäre, die Luft zu vernichten, die für das tierische Leben unerläßlich ist, nur weil sie auch dem Feuer seine zerstörerische Kraft verleiht.“ (Nr. 10, S. 51)306

II. Repräsentation

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Auch die zweite Alternative zur Beseitigung der Ursachen von Faktionen lehnt Madison ab; er hält sie für unmöglich: „Der zweite Weg ist ebenso ungangbar, wie der erste unklug wäre.“ (Nr. 10, S. 52). Denn Meinungen, Leidenschaften und Interessen sind nicht nur die Ursachen von Faktionen, sondern die Triebfedern des menschlichen Handelns überhaupt307 und als solche der menschlichen Natur immanent: „Die latenten Ursachen für Faktionen sind also in der menschlichen Natur angelegt, und sie werden den jeweils unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen entsprechend unterschiedlich stark aktiviert.“ (Nr. 10, S. 52)

Die Impulse des menschlichen Handelns können weder ausgemerzt noch bei allen Menschen in die gleiche Richtung gelenkt werden,308 da bereits ihre Entstehungsgründe für eine Diversifizierung sorgen, die durch ihren gegenseitigen Einfluß noch verstärkt wird.309 Der breiten Fächerung der denkbaren menschlichen Meinungen, Leidenschaften und Interessen entsprechend sieht Madison eine Vielzahl möglicher Ursachen310 für die Entstehung von Faktionen;311 306 Daß Madison hier die positive, partizipatorische Freiheit im Blick hat, zeigt sich daran, daß er von der Freiheit des politischen Lebens spricht, s. auch Epstein, D. F., Theory (1984), S. 67. 307 s. hierzu ausführlich oben C. II. 1. und 2. 308 Madison betont, daß auch die absolute politische Gleichheit der Menschen nicht zu einer Nivellierung ihrer Handlungsimpulse führt: „Die politischen Theoretiker, die für diese Regierungsform [die reine Demokratie] eingetreten sind, sind fälschlicherweise davon ausgegangen, daß die Menschen mit der Einführung einer vollkommenen Gleichheit der politischen Rechte gleichzeitig in ihrem Eigentum, ihren Meinungen und ihren Leidenschaften vollkommen gleich und einander angeglichen würden.“ (Nr. 10, S. 55). Indem er den Weg der Angleichung der Impulse als „ungangbar“ bezeichnet (s. Nr. 10, S. 52), macht er deutlich, daß er dies nicht einmal bei einer vollkommenen Unterdrückung der negativen Freiheit der Menschen für möglich hält. 309 „Solange die menschliche Vernunft fehlbar ist, und der Mensch frei ist, sie zu benutzen, wird es unterschiedliche Meinungen geben. Solange zwischen seiner Vernunft und seinem Egoismus ein Zusammenhang besteht, werden sich seine Ansichten und seine Leidenschaften wechselseitig beeinflussen und aus seinen Meinungen Ziele erwachsen, an die sich dann die Leidenschaften heften. Die Vielfalt der menschlichen Fähigkeiten, in denen die Eigentumsrechte ihren Ursprung haben, bildet ein ebenso unüberwindliches Hindernis für die Gleichheit der Interessen. Der Schutz dieser Fähigkeiten ist die vornehmste Aufgabe von Staaten. Aus dem Schutz der unterschiedlichen und ungleichen Fähigkeiten beim Erwerb von Eigentum ergeben sich unmittelbar unterschiedliche Arten und Mengen von Eigentum; und aus dem Einfluß, den diese auf die Gefühle und Ansichten der jeweiligen Eigentümer haben, ergibt sich die Einteilung der Gesellschaft in unterschiedliche Interessen und Parteien.“ (Nr. 10, S. 52) Zur Entstehung der einzelnen Impulse und ihrem Verhältnis zueinander s. ausführlich oben C. II. 1. und 2. 310 In seiner Erörterung der Ursachen von Faktionen greift Madison auf David Humes Vorstellungen zurück, wie Adair nachgewiesen hat (s. Adair, D., Science (HLQ 20, 1957), S. 348 ff., insb. 355–360.) Zu Humes entsprechender Theorie s. White, M. G., Federalist (1987), S. 68 ff.; zum Einfluß Humes auf Madison s. auch von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 59 f.; Ketcham, R., Madison (1971), S. 32– 50 und 187 f.; Wills, G., Explaining (1981), S. 225 f. und 230, s. auch S. 211 f.

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E. Aufbau des Staates

selbst unwichtige Gründe können Auslöser für die Bildung faktiöser Gruppen sein: „So stark ist dieser Hang der Menschheit, sich feindselig gegeneinander zu stellen, daß es auch dann dazu kommt, wenn kein wirklicher inhaltlicher Anlaß besteht. Dann reichen nichtige und eingebildete Unterschiede aus, um feindliche Leidenschaften zu entfachen und gewalttätige Konflikte auszulösen.“ (Nr. 10, S. 52)

Indem Madison von den drei Handlungsimpulsen als den „latenten Ursachen von Faktionen“ (Nr. 10, S. 52) spricht, macht er deutlich, daß die unterschiedlichen Meinungen, Leidenschaften und Interessen der Menschen zur Entstehung von Faktionen führen können, es aber nicht müssen. Denn wie oben ausführlich dargelegt, können alle drei Triebfedern nicht nur eigennütziges, gemeinschaftsschädliches Handeln hervorrufen, sondern auch zu gemeinnützigem Verhalten motivieren, das weder mit den Rechten anderer Menschen noch dem Gemeinwohl unvereinbar ist.312 Zudem zeigen Madisons Ausführungen, daß er Meinungen nur als indirekte Ursache von Faktionen ansieht, denn er führt sie bei den latenten Wurzeln mit auf, nicht aber in seiner Definition des Faktionsbegriffes.313 Dort nennt er lediglich die Triebfedern der Leidenschaft und des Interesses als (unmittelbare) Entstehungsgründe.314 Damit bringt er zum Ausdruck, daß Meinungen erst dann zum – indirekten – Auslöser von Faktionen werden, wenn sie der Anknüpfungspunkt für Leidenschaften oder Interessen sind.315 Als Haupt- und dauerhafteste Ursache von Faktionen sieht Madison die unterschiedliche Eigentumsverteilung zwischen den Menschen: „Aber die vorherrschende und permanente Ursache für die Existenz unterschiedlicher Faktionen liegt in der vielfältigen und ungleichen Eigentumsverteilung. Die Besitzenden und die Besitzlosen haben schon immer getrennte gesellschaftliche Interessen gebildet. Zwischen Gläubigern und Schuldnern besteht derselbe Unterschied. Grundbesitzer, Manufakturbesitzer, Vertreter von Handel und Finanzen und 311 „Der Eifer, unterschiedliche Meinungen in Glaubensdingen, in Fragen des politischen Systems und zu vielen anderen Fragen, theoretisch wie auch praktisch zu vertreten; die Bindung an bestimmte politische Führer, die ehrgeizig um Vorrang und Macht konkurrieren; oder die Bindung an andere Personen, deren Schicksal für die Menschen emotional interessant ist, haben die Menschen in Parteien gespalten, die sich feindselig gegenüberstehen und eher dazu tendieren, die anderen zu schikanieren und zu unterdrücken, als für das Gemeinwohl zusammenzuarbeiten.“ (Nr. 10, S. 52) 312 s. oben C. II. 2. s. auch Carey, G. W., Design (1989), S. 11. 313 „Unter einer Faktion verstehe ich eine Gruppe von Bürgern . . ., die durch den gemeinsamen Impuls einer Leidenschaft oder eines Interesses vereint und zum Handeln motiviert ist . . .“ (Nr. 10, S. 51) 314 Zur Erklärung dieser Diskrepanz s. auch Epstein, D. F., Theory (1984), S. 70 f.; White, M. G., Federalist (1987), S. 72–74. 315 Dies zeigt sich auch im bereits angeführten Zitat aus Nr. 10: „Der Eifer, unterschiedliche Meinungen in Glaubensdingen, in Fragen des politischen Systems und zu vielen anderen Fragen . . . zu vertreten, . . . [hat] die Menschen in Parteien gespalten . . .“ (Nr. 10, S. 52) Nicht die Meinung an sich ist es, die Anlaß zur Faktionsbildung gibt, sondern der Eifer der Menschen im Vertreten ihrer Ansichten.

II. Repräsentation

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viele kleinere Interessengruppen entstehen in zivilisierten Nationen zwangsläufig und spalten die Gesellschaft in verschiedene Klassen, die durch unterschiedliche Gefühle und Meinungen motiviert sind.“ (Nr. 10, S. 52 f.)

Er weist hier nicht nur auf die horizontale Schichtung der Gesellschaft in Reiche und Arme hin, die auf unterschiedlichen Mengen von Eigentum beruht, sondern betont vor allem die Existenz unterschiedlicher Arten von Eigentum, die zu einer vertikalen Teilung in unterschiedliche Interessengruppen, je nach Art der Habe und des Berufs, führt. Auf diese Aussagen Madisons stützt sich die Ökonomische Interpretation des zehnten Essays, die vorwiegend von Charles Beard316 und – im Anschluß an ihn – von Vernon Parrington317 vertreten wird. Sie geht davon aus, daß politische Verhältnisse hauptsächlich durch ökonomische Faktoren bestimmt werden318 und daß auch die amerikanische Bundesverfassung im wesentlichen durch die zu Zeiten ihrer Entstehung vorherrschenden wirtschaftlichen Interessen geprägt wurde.319 Beard nimmt an, daß die Autoren des Federalist diese Auffassung teilten und insbesondere Madison in Nr. 10 den ökonomischen Determinismus des politischen Lebens analysiert,320 er bezeichnet die dortigen Aussagen Madisons als „a masterly statement of the theory of economic determinism in politics“.321 Allerdings vermag diese Einschätzung nicht zu überzeugen,322 da sie außer acht läßt, daß Madison nicht nur wirtschaftliche Interessen, sondern auch zahlreiche andere Faktoren als Triebkräfte des politischen Prozes316

Beard, Ch. A., Interpretation (1965). Parrington, V. L., Currents (1927). 318 s. Beard, Ch. A., Interpretation (1965), S. 6. 319 Beard, Ch. A., Interpretation (1965), S. 11 f. Zwar bezeichnet er die Ökonomische Interpretation zunächst als Hypothese (s. S. 6); in bezug auf die Verfassung spricht er jedoch bereits von der Tatsache der Beeinflussung durch wirtschaftliche Faktoren: „Nowhere in the commentaries is there any evidence of the fact [!] that the rules of our fundamental law are designed to protect any class in its rights, or secure the property of one group against the assaults of another.“ (S. 11 f.) 320 s. Beard, Ch. A., Interpretation (1965), S. 153: „The Federalist, on the other hand, presents in a relatively brief and systematic form an economic interpretation of the Constitution by the men best fitted, through an intimate knowledge of the ideals of the framers, to expound the political science of the new government. This wonderful piece of argumentation by Hamilton, Madison, and Jay is in fact the finest study in the economic interpretation of politics which exists in any language; and whoever would understand the Constitution as an economic document need hardly go beyond it.“ s. auch S. 156: „. . . it is important to ascertain what, in the opinion of The Federalist, is the basis of all government. The most philosophical examination of the foundations of political science is made by Madison in the tenth number. Here he lays down, in no uncertain language, the principle that the first and elemental concern of every government is economic.“ 321 s. Beard, Ch. A., Interpretation (1965), S. 15. („. . . eine meisterhafte Darstellung der Theorie des ökonomischen Determinismus in der Politik“.) 322 Zur Widerlegung dieser Ansicht s. vor allem Adair, D., Revisited (WMQ 8, 1951); s. S. 58–62 zu Beard und S. 62–67 zu Parrington. s. auch von Oppen-Rund317

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E. Aufbau des Staates

ses sieht.323 Beard kommt jedoch das Verdienst zu, die zentrale Bedeutung des vorher weitgehend unbeachteten zehnten Essays herausgestellt und ihn zu einem der bekanntesten und am meisten besprochenen Artikel der Aufsatzserie gemacht zu haben.324 Da der Entstehung von Faktionen nicht vorgebeugt werden kann, müssen sie als unvermeidbares Element des politischen Prozesses einkalkuliert werden; Madison geht davon aus, daß die moderne Gesetzgebung325 „Parteigeist und Interessengegensätze [the spirit of party and faction] 326 in die nötigen und normalen Funktionen eines Regierungssystems einbeziehen muß.“ (Nr. 10, S. 53)

(2) Eindämmung ihrer Auswirkungen Damit bleibt zur Lösung des Problems der Faktionen nur die Begrenzung ihrer Folgen: „Daraus ergibt sich, daß man die Ursachen von Faktionen nicht beseitigen kann und Abhilfe nur in den Mitteln zu finden ist, die deren Auswirkungen unter Kontrolle zu bringen trachten.“ (Nr. 10, S. 54)

Das geringere Problem stellen dabei die Faktionen dar, die nur eine Minderheit des Volkes hinter sich vereinigen, da sie durch das Mehrheitsprinzip an der Durchsetzung ihrer Vorhaben gehindert werden: „Wenn eine Faktion zahlenmäßig kleiner als die Mehrheit ist, dann schafft das republikanische Prinzip Abhilfe, da es die Mehrheit in Stand setzt, böse Absichten per Abstimmung zu Fall zu bringen.“ (Nr. 10, S. 54)

Publius geht davon aus, daß das Mehrheitsprinzip die einzige akzeptable Grundlage der Entscheidungsfindung im politischen Prozeß ist; er spricht von „der fundamentalen Maxime republikanischer Regierungssysteme, die fordert, daß die Ansicht der Mehrheit obsiegen sollte.“ (Nr. 22, S. 126) stedt, C., Interpretation (1970), S. 61 f.; White, M. G., Federalist (1987), S. 57 f. und 61–65. 323 Adair, D., Revisited (WMQ 8, 1951), S. 60. So spielen – wie oben dargelegt – auch Meinungen und Leidenschaften eine Rolle, und bezüglich der Interessen ist zu beachten, daß es auch andere als ökonomisch determinierte Interessen gibt. Madison verknüpft im obigen Zitat die Interessen nicht direkt mit den Eigentumsverhältnissen, sondern mit den Fähigkeiten der Menschen, so daß es nicht nur wirtschaftliche Fragen sind, die die Interessen der Menschen wecken und beeinflussen können. s. hierzu bereits oben C. II. 1. b), s. auch Howe, D. W., Psychology (WMQ 44, 1987), S. 490, und White, M. G., Federalist (1987), S. 109. 324 Adair, D., Revisited (WMQ 8, 1951), S. 48, 53 und 61; Kesler, Ch. R., Federalist 10 (1987), S. 16. s. Beard, Ch. A., Interpretation (1965), S. 14–16 und 153–158. 325 Zur Bedeutung des Begriffs der „modernen“ Gesetzgebung s. Epstein, D. F., Theory (1984), S. 79 f. 326 s. Nr. 10, S. 47.

II. Repräsentation

431

Er behandelt das Prinzip dabei vor allem in Abgrenzung zum Einstimmigkeitsprinzip, das unter den Konföderationsartikeln geherrscht hatte. Die Autoren des Federalist lehnen das Erfordernis einer einstimmigen Entscheidung vehement ab, da ihnen das abschreckende Beispiel des Kongresses unter den Articles of Confederation vor Augen geführt hatte, daß dieser Abstimmungsmodus der Minderheit die Macht über die Mehrheit und die Möglichkeit zur völligen Blockade des politischen Prozesses gibt: „Gibt man einer Minderheit ein Veto gegenüber der Mehrheit (was immer dann der Fall ist, wenn mehr als eine Mehrheit für eine Entscheidung notwendig ist), so bedeutet das tendenziell, die Meinung der größeren Zahl der Meinung der geringeren zu unterwerfen . . . Der Zwang zur Einstimmigkeit in öffentlichen Gremien oder etwas, das diesem nahekommt, basiert auf der Annahme, daß er zu mehr Sicherheit führt. In Wirklichkeit behindert er Regierung und Verwaltung, zerstört die Durchsetzungskraft der Regierung und setzt an die Stelle der geordneten Beratungen und Entscheidungen einer geachteten Mehrheit Gefälligkeit, Launen oder Intrigen einer unbedeutenden, turbulenten oder korrupten Clique . . . Hat eine hartnäckige Minderheit die Meinung der Mehrheit fest im Griff, was das beste weitere Vorgehen angeht, dann muß sich die Mehrheit, um überhaupt etwas tun zu können, den Ansichten der Minderheit anpassen, also wird die Meinung der geringeren Zahl die der größeren überstimmen und die Richtung der nationalen Politik bestimmen.“ (Nr. 22, S. 127)

Problematischer sind dagegen jene Faktionen, die die Mehrheit der Bürger hinter sich vereinigen, da hier der Kontrollmechanismus des Mehrheitsprinzips versagt: „Wenn die Mehrheit jedoch Teil einer Faktion ist, dann ermöglicht die Form eines demokratischen [popular] Regierungssystems es dieser Faktion, das öffentliche Wohl und die Rechte anderer Bürger ihrer Leidenschaft oder ihrem Interesse zu opfern.“ (Nr. 10, S. 54)

Um dem vorzubeugen, muß nach Ansicht des Federalist verhindert werden, daß eine faktiöse Motivation die Mehrheit des Volkes ergreift oder daß – falls dies doch geschehen sollte – die Mehrheit ihre Pläne in Taten umsetzen kann: „Entweder man muß die Entstehung gleicher Leidenschaften oder Interessen innerhalb der Mehrheit zu ein und demselben Zeitpunkt verhindern, oder man muß die Mehrheit, die von solchen parallelen Leidenschaften oder Interessen erfaßt wird, durch ihre Zahl oder geographischen Umstände daran hindern, ihre unterdrückerischen Pläne zu koordinieren und auszuführen. Wenn man es zuläßt, daß Impuls und Gelegenheit zusammenkommen, kann man sich bekanntlich weder auf moralische noch auf religiöse Motive als ausreichende Kontrollen verlassen.“ (Nr. 10, S. 54)327

327 Auch wenn es hier zunächst so scheint, als komme Madison doch auf die Entstehung von Faktionen zurück, wie etwa Dahl, R. A., Preface (1962), S. 16, und Kesler, Ch. R., Federalist 10 (1987), S. 34, meinen, will Madison nicht die Entstehung von Faktionen als solchen verhindern, sondern lediglich vermeiden, daß eine Faktion die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich vereinen kann. s. dazu im einzelnen unten.

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E. Aufbau des Staates

Als Mittel hierzu dient die Repräsentation: „Eine Republik, womit ich ein Regierungssystem meine, in dem das Konzept der Repräsentation verwirklicht ist, eröffnet ganz andere Perspektiven und bietet das Heilmittel, nach dem wir suchen.“ (Nr. 10, S. 55)

b) Wirkung der Repräsentation Das Repräsentationsprinzip bekämpft die negativen Auswirkungen von Faktionen nach Madison auf zweierlei Weise: „Die beiden entscheidenden Unterschiede zwischen einer Demokratie und einer Republik sind: erstens, die Delegierung der Herrschaftsgewalt an eine kleine Zahl von den Übrigen gewählter Bürger in letzterer; zweitens, eine größere Zahl von Bürgern und ein größeres Territorium, auf das die Republik ausgedehnt werden kann.“ (Nr. 10, S. 55)

Zwischen beiden Momenten besteht dabei ein wechselseitiger Zusammenhang. (1) Erweiterung der geistigen Sphäre Die Übertragung der politischen Entscheidungsbefugnis des Volkes an Delegierte hat folgende Wirkung: „Der erste Unterschied bewirkt einerseits eine Erweiterung des Horizonts und Differenzierung der öffentlichen Meinung [eigentlich: eine Verfeinerung und Erweiterung der öffentlichen Meinung]328, da sie das Medium eines gewählten Gremiums von Bürgern durchläuft, die aufgrund ihrer Kenntnisse und Erfahrung das wahre Interesse des Landes am besten erkennen können, und deren Patriotismus und Gerechtigkeitsliebe kaum erwarten lassen, daß sie sie momentanen oder parteilichen Überlegungen opfern werden. Eine derartige Regelung kann sehr wohl dazu führen, daß die öffentliche Meinung aus dem Munde der Volksvertreter eher dem öffentlichen Wohl entspricht als aus dem Munde des Volkes, sollte es selbst zu diesem Zweck zusammentreten.“ (Nr. 10, S. 55)

Die Delegierung der Entscheidungsgewalt verlagert den Prozeß der politischen Willensbildung aus dem Volk heraus auf eine zweite Ebene; das Volk selbst bleibt durch Wahlen indirekt an diesem Prozeß beteiligt, die eigentliche, unmittelbare Entscheidungsfindung spielt sich jedoch im Repräsentationsorgan ab. Die politischen Akteure können nun als Repräsentanten des Volkes nicht nur 328 Im Original lautet diese Passage wie folgt: „The effect of the first difference is, on the one hand, to refine and enlarge the public views by passing them through the medium of a chosen body of citizens, whose wisdom may best discern the true interest of their country and whose patriotism and love of justice will be least likely to sacrifice it to temporary or partial considerations. Under such a regulation it may well happen that the public voice, pronounced by the representatives of the people, will be more consonant to the public good than if pronounced by the people themselves, convened for the purpose.“ (Nr. 10, S. 50)

II. Repräsentation

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ihre eigenen, persönlichen Interessen vertreten und artikulieren, sondern müssen auch die Belange ihrer Wähler mit einbeziehen und wahrnehmen. Indem die Volksvertreter bereits in ihrer Person verschiedene Standpunkte miteinander vermitteln und zum Ausgleich bringen, scheiden sie die mit den anderen unvereinbaren, partikularen Interessen aus und reinigen die vertretenen Positionen so von egoistischen Zügen. Dieser Prozeß verstärkt sich noch im Repräsentationsorgan, da die Delegierten dort die von ihnen vertretenen Belange vor den anderen Volksvertretern rechtfertigen und mit den von diesen vertretenen Anliegen vermitteln müssen.329 Zusätzlich wird der Effekt noch dadurch intensiviert, daß auch die Delegierten selbst in gewisser Weise refined, nämlich kultivierter als die durchschnittlichen Bürger sind. Madison geht davon aus, daß die Repräsentanten dem Durchschnittsbürger sowohl intellektuell als auch charakterlich überlegen sind und das „wahre Interesse des Landes“, d. h. das Gemeinwohl, nicht nur besser erkennen können, sondern auch die nötige charakterliche Festigkeit besitzen, sich sowohl für dieses Ziel als auch für die Gerechtigkeit einzusetzen, statt sich wie die meisten Menschen auf ihre eigennützigen und unmittelbaren Interessen zu konzentrieren.330 Da die Volksvertreter die von ihnen vertretenen Belange nicht nur auf ihre Kompatibilität mit den übrigen im Repräsentationsorgan artikulierten Interessen prüfen, sondern mit den Interessen und Rechten des gesamten Volkes, läuft in der Volksvertretung ein Prozeß der fortschreitenden Vermittlung verschiedener, sich je erweiternder Standpunkte ab, durch den die im Repräsentationsorgan artikulierte öffentliche Meinung von bloßen Sonderinteressen gereinigt wird. Sie wird weniger egoistisch und partikular und damit – in den Worten Madisons – ,verfeinert‘. Als Substrat bleibt das in den Einzelwillen hinter den Partikularinteressen verborgene gemeinsame – und dauerhafte – Interesse übrig;331 329 Dreier, H., Repräsentation (AöR 113, 1988), S. 462; Haller, B., Repräsentation (1987), S. 141 f. (in bezug auf die Konzeption des Federalist). 330 Daß das Volk sich gerade für solchermaßen ausgezeichnete Vertreter entscheidet, liegt am zweiten Charakteristikum eines repräsentativen Staates, nämlich dem größeren Gebiet, das er umfassen kann; s. sogleich unten. s. hierzu Yarbrough, J., Thoughts (Polity 12, 1979/80), S. 69. 331 Daher vermag die Ansicht Maus’ nicht zu überzeugen, die von folgendem ausgeht: „Während die kontinentale Theorie, repräsentiert durch Rousseau und Kant, die vernünftige Allgemeinheit der Willensbildung in die ,automatistische‘ Selektivität des demokratischen Prozedere der Gesetzgebung verlegt und von hier aus die Vernunft alles Staatshandelns zu gewährleisten sucht, beruht den amerikanischen Verfassungsvätern zufolge die Vernunft der politischen Willensbildung auf der Selektivität derjenigen Institutionen, die dem Gesetzgebungsprozeß nachgeschaltet sind: Gegen die Unvernunft partikularer gesellschaftlicher Interessen, deren Wirksamkeit gerade in der Legislative vermutet wird, hält der ,Federalist‘ die einander nachgeordneten ,Filter‘ der föderativen Systemgrenzen, des präsidialen Vetos und der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle bereit . . .“ (Maus, I., Demokratietheorie (1992), S. 230 f.) Diese letz-

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E. Aufbau des Staates

es kommt zur von Madison beschriebenen ,Erweiterung‘ der öffentliche Meinung.332 Damit wirkt das Repräsentationsorgan wie ein Filter auf die öffentliche Meinung, die durch den oben beschriebenen Prozeß eine neue Qualität erreicht, und aus diesem Grunde kann eine Entscheidung durch Repräsentanten des Volkes eher dem öffentlichen Wohl entsprechen als eine Entscheidung durch das Volk selbst – wie sie in der direkten Demokratie getroffen würde. Durch diese Wirkung bekämpft das repräsentative Prinzip bereits die Bildung eines die Mehrheit erfassenden faktiösen Impulses. Allerdings wird die veredelnde Wirkung der Repräsentation durch einen gegenläufigen Einfluß gefährdet, der zusätzliche Vorkehrungen nötig macht. Denn nach Ansicht der Autoren des Federalist besteht in allen großen Versammlungen die Gefahr faktiösen Verhaltens, da die Verantwortung der einzelnen Mitglieder für bestimmte Entscheidungen hier weniger klar auszumachen ist und sie daher eher dazu neigen, ihren egoistischen Impulsen zu Lasten des Gemeinwohls und der Rechte anderer zu folgen.333 Auch die Legislative des Bundes, von der Madison im zehnten Essay spricht,334 ist hiervon nicht ausgenommen, so daß der oben beschriebene Veredelungsprozeß der öffentlichen Meinung stets durch die potentielle Dominanz faktiös motivierter Politiker gefährdet ist: tere Aussage trifft so nicht zu: Zwar sieht der Federalist in der Tat neben dem Repräsentationsprinzip noch weitere Maßnahmen vor, um des Problems der Faktionen Herr zu werden, aber die Vernünftigkeit der politischen Entscheidungen, ihre Kompatibilität mit der Gerechtigkeit und dem Gemeinwohl, beruht nicht ausschließlich auf den der Legislative nachgeschalteten Organen, wie Maus meint. Vielmehr ergibt sie sich nach Publius gerade (auch) aus der Selektivität des Gesetzgebungsprozesses, wie oben gezeigt wurde. Bereits dieser Prozeß, die Kommunikation und Deliberation in der Legislative, bewirkt eine Verallgemeinerung nach Vernunftmaßstäben, die Madison mit dem Begriff „Verfeinerung und Erweiterung“ umschreibt; bereits das Gesetzgebungsverfahren an sich ist ein Filter, der rein partikulare, unvernünftige Interessen aussondert. Ein wichtiger zusätzlicher Filter ist der Senat (s. dazu sogleich unten), der dem Gesetzgebungsprozeß jedoch nicht nachgeschaltet ist, sondern als zweite Kammer der Legislative vielmehr Teil desselben ist. Daher ist auch das folgende Fazit Maus’ nicht überzeugend: „Dies bedeutet jedoch, daß die amerikanische Institutionalisierung von Demokratie paradoxerweise auf der Ausfilterung des demokratischen Willens beruht . . .“ (a. a. O., S. 231) Der demokratische Wille wird nach der Konzeption Publius’ nicht aus-, d. h. weggefiltert, sondern lediglich gefiltert; er bleibt als Grundlage der politischen Entscheidungen erhalten, jedoch nicht in seiner urwüchsigen Form als volonté de tous. Vielmehr bekommt er erst durch die Verfeinerung und Erweiterung seine mit der Gerechtigkeit und dem Gemeinwohl kompatible, vernünftige Gestalt; durch diesen Prozeß schält sich die volonté générale heraus. 332 Mit dem Bild der Verfeinerung und Erweiterung greift Madison eine Formulierung David Humes auf; s. Adair, D., Science (HLQ 20, 1957), insb. S. 351 ff.; Haller, B., Repräsentation (1987), S. 147; Wills, G., Explaining (1981), S. 225 ff. 333 s. Nr. 15, S. 86. 334 So auch Kesler, Ch. R., Federalist 10 (1987), S. 31. Zwar weist Madison nicht explizit darauf hin, aber er spricht vom „Chaos in den Volksvertretungen“ (S. 50), von der „Aufgabe moderner Gesetzgebung“ (S. 53), von „Gesetzgebungswerke[n]“ und den „verschiedenen Gruppierungen der Gesetzgeber“ (S. 53).

II. Repräsentation

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„Diese Wirkung kann sich aber in ihr Gegenteil verkehren. Männer, die durch einen parteiischen Charakter, lokale Vorurteile oder finstere Absichten motiviert sind, können sich durch Intrigen, Korruption oder andere Mittel zuerst die Stimmen bei der Wahl sichern und anschließend die Interessen des Volkes verraten.“ (Nr. 10, S. 55 f.)

Dieser Gefahr wird jedoch durch verschiedene weitere im Verfassungsentwurf vorgesehene Momente entgegengewirkt. Ein wichtiges Element ist die Zweiteilung der Legislative, die die Gesetzgebungsbefugnis auf Repräsentantenhaus und Senat verteilt.335 Der Senat ist dem Einfluß von Faktionen zunächst deshalb weniger stark ausgesetzt als die erste Kammer, weil er kleiner und langfristiger besetzt ist. Daher stehen seine Mitglieder stärker im Licht der Öffentlichkeit und in der Verantwortung und werden sich allein schon um ihrer persönlichen Reputation willen um eine pflichtgemäße, dem Wohl der Gemeinschaft dienliche Amtsführung bemühen.336 Zum anderen kommen den Senatoren die oben beschriebenen positiven intellektuellen und charakterlichen Eigenschaften in höherem Maße zu als den Mitgliedern des Repräsentantenhauses, da sie strengere Qualifikationen erfüllen müssen. Während die Abgeordneten gemäß Art. 1 Abschn. 2 Abs. 2 mindestens 25 Jahre alt und seit sieben Jahren Bürger der Vereinigten Staaten sein müssen, müssen die Senatoren gemäß Art. 1 Abschn. 3 Abs. 3 mindestens 30 Jahre alt und seit neun Jahren Staatsbürger sein. Diese Bestimmung verteidigt Madison in Nr. 62 wie folgt: „Wegen der Natur der einem Senator übertragenen Verantwortung erscheint dieser Unterschied angemessen. Diese Aufgabe erfordert umfangreichere Informationen und eine gefestigtere Persönlichkeit. Ein Senator sollte einen Abschnitt im Leben erreicht haben, in dem er mit großer Wahrscheinlichkeit diese Voraussetzungen erfüllt.“ (Nr. 62, S. 373)

Madison geht davon aus, daß das höhere Alter der Senatoren nicht nur einen entsprechenden Wissensvorsprung, sondern auch größere Charakterfestigkeit mit sich bringt; die letztere Qualifikation sieht er jedoch mit gewährleistet durch die größere Verantwortlichkeit und Würde des Amtes.337 (2) Erweiterung der geographischen Sphäre Ein weiteres Moment, das den Verfeinerungs- und Erweiterungsprozeß unterstützt und darüber hinaus noch auf andere Weise zur Kontrolle von Faktionen beiträgt, ist die gegenüber der direkten Demokratie größere Ausdehnung, die

335 s. hierzu auch Haller, B., Repräsentation (1987), S. 143 ff.; Kesler, Ch. R., Federalist 10 (1987), S. 31. 336 s. Nr. 63, S. 380 f. 337 s. oben und Nr. 63, S. 380 f.

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E. Aufbau des Staates

eine repräsentative Republik erreichen kann.338 Indem Madison die Größe eines solchen Staates als Vorteil ansieht, stellt er sich gegen die herkömmliche Auffassung, daß Republiken nur für kleine Staaten geeignet seien, während große Staaten einer monarchischen Führung bedürften.339 Er geht dabei mit Hume konform, der sich ebenfalls abweichend von der damals gängigen Meinung für ein großes Staatsgebiet zur Lösung des Problems von Faktionen ausgesprochen hatte.340 (a) Förderung der Wahl geeigneter Repräsentanten Nach Madisons Auffassung unterstützt ein großflächiger republikanischer Staat den Veredelungsprozeß der öffentlichen Meinung, indem er die Wahl geeigneter, gemeinwohlorientierter Repräsentanten fördert: „Daraus ergibt sich die Frage, ob kleine oder große Republiken eher zur Wahl der wahren Wächter des öffentlichen Wohls beitragen, und sie wird eindeutig zugunsten der großen Republik entschieden, wenn wir zwei Überlegungen zugrundelegen.“ (Nr. 10, S. 56)

Madison weist zunächst darauf hin, daß das Repräsentationsorgan unabhängig von der Größe des Staates eine bestimmte Größe weder unter- noch überschrei338 s. Nr. 10, S. 55: „Die beiden entscheidenden Unterschiede zwischen einer Demokratie und einer Republik sind: erstens, die Delegierung der Herrschaftsgewalt an eine kleine Zahl von den Übrigen gewählter Bürger in letzterer; zweitens, eine größere Zahl von Bürgern und ein größeres Territorium, auf das die Republik ausgedehnt werden kann.“ 339 s. etwa Montesquieu, C.-L. de, Geist (1748), Buch VIII, Kap. 16, S. 172; Rousseau, J. J., Gesellschaft (1762), 3. Buch, Kap. III, S. 59 und Kap. IV, S. 60. s. dazu auch oben II. 1. a). Auch Hamilton setzt sich in Nr. 9 mit dieser überkommenen Auffassung auseinander und entkräftet sie; er beschäftigt sich mit der Größe des Staates allerdings vorwiegend in bezug auf den Bundesstaat, d. h. das föderative Prinzip, während Madison in Nr. 10 größtenteils auf den einzelnen Staat und das Repräsentationsprinzip blickt. Auch Hamilton geht jedoch kurz auf die mögliche Größe eines einzelnen Staates ein; er weist darauf hin, daß nach Montesquieus Vorstellungen, auf die sich die Verfassungsgegner berufen, bereits die existierenden Einzelstaaten zu groß wären (s. Nr. 9, S. 46 f.). Er widerlegt die Verfassungsgegner damit ausgehend von ihrer eigenen Prämisse, während Madison sich im folgenden Essay mit dieser Prämisse selbst auseinandersetzt und sie in der Sache zu entkräften sucht, indem er auf zwei entscheidende Vorteile einer großen Republik hinweist. 340 In seiner Erörterung der Ursachen von Faktionen greift Madison auf Humes Analysen zurück, wie Adair, D., Science (HLQ 20, 1957), nachgewiesen hat (s. dazu bereits oben). Überwiegend wird angenommen, daß er sich auch bezüglich der Lösung des Problems an Hume orientiert; s. etwa von Oppen-Rundstedt, C., Interpretation (1970), S. 59 f.; Ketcham, R., Madison (1971), S. 32–50 und 187 f.; Wills, G., Explaining (1981), S. 225 f. und 230, s. auch S. 211 f. Im Gegensatz dazu betonen Epstein und Morgan, daß Madison sich zwar hinsichtlich der Gründe für die Entstehung von Faktionen an Hume orientiert habe, bezüglich der Lösung des Problems jedoch eine eigene Strategie entwickelt und nicht lediglich Humes Ansatz übernommen habe, s. Epstein, D. F., Theory (1984), S. 101–103; Morgan, E. S., Safety (HLQ 49, 1986), insb. auch S. 109 f. s. auch Stourzh, G., Hamilton (1970), S. 119.

II. Repräsentation

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ten darf, um einerseits den vorherrschenden Einfluß einer kleinen Gruppe zu verhindern und andererseits dem Chaos vorzubeugen, dem eine große Versammlung schnell anheimfällt: „Zunächst muß gesagt werden, daß ganz gleich wie klein die Republik ist, die Repräsentanten doch zahlreich genug sein müssen, um den Intrigen einiger weniger vorzubeugen, und ganz gleich wie groß sie ist, ihre Zahl begrenzt genug bleiben muß, ein Durcheinander allzu vieler zu verhindern. Die Zahl der Volksvertreter würde in beiden Fällen nicht im richtigen Verhältnis zu der der Wähler stehen, sie würde aber in einer kleinen Republik relativ größer sein.“ (Nr. 10, S. 56)

Um das richtige Verhältnis zwischen Wählern und Repräsentanten zu bewahren und den für jede Staatsgröße gültigen Rahmen nicht zu sprengen, müssen die Wahlkreise mit der steigenden Größe der Staaten proportional größer werden,341 so daß es in großen Staaten weniger Abgeordnete pro Wähler gibt und damit prozentual gesehen auch weniger politische Ämter als in einer kleineren Republik. Damit herrscht ein größerer Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen Kandidaten, so daß es für die Wähler leichter ist, die geeigneten von den ungeeigneten Bewerbern zu unterscheiden: „Wenn der Anteil fähiger und integrer Persönlichkeiten in der Bevölkerung einer großen Republik nicht geringer ist als in einer kleinen, so ergibt sich aus diesen Überlegungen, daß man in ersterer eine größere Auswahl und damit auch eine bessere Chance hat, die richtige Wahl zu treffen.“ (Nr. 10, S. 56)

Daß die Wähler diese Chance auch nutzen und sich für geeignete Kandidaten entscheiden, liegt an der größeren Freiheit der Wahl; diese ist in großen Wahlkreisen weniger leicht durch unlautere Maßnahmen zu manipulieren: „Überdies wird jeder Volksvertreter in einer großen Republik von mehr Bürgern gewählt als in einer kleinen, und so wird es für charakterlose, unwürdige Kandidaten schwieriger sein, solche bösen Praktiken mit Erfolg anzuwenden, durch die so oft Wahlen entschieden werden, und da die Wahlmöglichkeiten des Volkes größer sind, ist auch die Wahrscheinlichkeit größer, daß man die Männer bevorzugt, die sich durch herausragende Verdienste und eine offene und allseits anerkannte Persönlichkeit hervorgetan haben.“ (Nr. 10, S. 56)342

Mit den „bösen Praktiken“ spricht Madison offensichtlich die zwei Absätze zuvor genannte Vorgehensweise an, sich „durch Intrigen, Korruption oder andere Mittel zuerst die Stimmen bei der Wahl [zu] sichern und anschließend die Interessen des Volkes [zu] verraten“ (Nr. 10, S. 56), d. h. die Bestechung und Täuschung der Wähler. Erstere ist in einem größeren Wahlkreis vor allem deshalb 341

s. Yarbrough, J., Representation (Publius 9, Nr. 2, 1979), S. 97. Im Original lautet diese Stelle: „In the next place, as each representative will be chosen by a greater number of citizens in the large than in the small republic, it will be more difficult for unworthy candidates to practise with success the vicious arts by which elections are too often carried; and the suffrages of the people being more free, will be more likely to center on men who possess the most attractive merit and the most diffusive and established characters.“ (Nr. 10, S. 50 f.) 342

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E. Aufbau des Staates

schwieriger, weil der Stimmenkauf hier teurer ist, und alle unlauteren Maßnahmen sind in einem größeren Forum schwerer geheimzuhalten.343 Wegen dieses besseren Schutzes vor einer unzulässigen Beeinflussung der Wähler kann sich ihre Vernunft im Wahlakt ungehinderter durchsetzen und zu einer wohlüberlegten Entscheidung für die Kandidaten führen,344 die die ansprechendsten Leistungen vorweisen können und deren guter Charakter am bekanntesten ist. Zwar können und werden auch die unbeeinflußten Ansichten über die Eignung von Kandidaten differieren, da diese Einschätzung nicht nur auf objektiven Kriterien, sondern auch subjektiven Faktoren beruht345 und da die Menschen generell dazu neigen, unterschiedliche Meinungen in den verschiedensten Fragen zu vertreten.346 Aber da es in der großen Republik eine größere Auswahl an fähigen Anwärtern gibt, finden die Menschen trotz ihrer unterschiedlichen subjektiven Disposition eher eine Person, deren Verdienst für sie attraktiv ist und die zusätzlich auch den nötigen Charakter hat, so daß sie nicht auf ungeeignetere Bewerber zurückgreifen müssen.347 Zwischen der Größe der Republik und dem Repräsentationsprinzip besteht damit ein wechselseitiger Zusammenhang, denn erst die Repräsentation ermöglicht einen großflächigen Staat, der seinerseits wiederum durch die Gewährleistung der Wahl geeigneter Repräsentanten zur Aufrechterhaltung des republikanischen Systems beiträgt. Die positiven Auswirkungen eines großen Staatsgebietes und großer Wahlkreise werden zusätzlich noch durch den bundesstaatlichen Aufbau des Staates verstärkt, den die neue Verfassung vorsieht, denn er ermöglicht eine stärkere Vergrößerung der Wahlkreise als in einem Einheitsstaat. In letzterem müssen die Repräsentanten sowohl mit den lokalen als auch den überregionalen Verhältnissen gleich gut vertraut sein; eine zu starke Vergrößerung schadet dabei der Kenntnis der ersteren, eine zu starke Verkleinerung der Kenntnis der letzteren. Im föderalen Staat dagegen gibt es mit den Einzelstaatslegislativen spe343 Epstein, D. F., Theory (1984), S. 96. Zum Zusammenhang, den die Autoren des Federalist zwischen der Publizität und der Rechtmäßigkeit von Vorhaben sehen, s. oben D. II. 3. c). 344 Wie oben gesehen, kann sich die Vernunft dann behaupten und führt zu wohlüberlegten Meinungen und Entscheidungen, wenn der Meinungsbildungsprozeß ungestört abläuft und nicht durch Leidenschaften oder Interessen abgelenkt wird, s. oben C. II. 2. a) und b). 345 Dies zeigt sich in Madisons Hinweis auf die Entscheidung für „men who possess the most attractive merit“ (Nr. 10, S. 51). Er geht davon aus, daß für die Wähler nicht unbedingt das größte Verdienst ausschlaggebend ist, sondern das attraktivste; sie nehmen also eine eigene Gewichtung vor und bestimmen, welchen Leistungen sie besondere Bedeutung beimessen. Damit fließen ihre eigenen Interessen und Kenntnisse in die Entscheidung mit ein. s. hierzu auch Epstein, D. F., Theory (1984), S. 97. 346 s. Nr. 10, S. 52; Epstein, D. F., Theory (1984), S. 97. 347 Epstein, D. F., Theory (1984), S. 97.

II. Repräsentation

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zielle Gremien, die sich mit den lokalen Fragen befassen, so daß die Wahlkreise insgesamt vergrößert werden können, ohne daß diese Interessen vernachlässigt werden:348 „Wenn man die Zahl der Wähler zu stark vergrößert, dann ist der Volksvertreter mit den örtlichen Gegebenheiten und weniger wichtigen gesellschaftlichen Interessen zu wenig vertraut; verringert man sie zu sehr, dann ist er allzu abhängig von ihnen und kaum in der Lage, wichtige nationale Interessen zu verstehen und zu verfolgen. Die Bundesverfassung stellt in dieser Hinsicht eine glückliche Kombination dar: die großen und gemeinsamen Interessen werden der nationalen Legislative, die örtlichen und besonderen Fragen den Einzelstaatslegislativen überlassen.“ (Nr. 10, S. 56)

Die Repräsentanten in einem Bundesstaat mit seinen großen Wahlkreisen sind mehr Menschen verpflichtet als in einem Einheitsstaat und damit weniger abhängig von bestimmten, partikularen Interessen;349 daher steht zu erwarten, daß auch die öffentliche Meinung im aus ihnen gebildeten Gremium stärker verfeinert und erweitert wird. (b) Diversifizierung der Gesellschaft Der zweite Vorteil einer großflächigen Republik besteht in der größeren Diversifizierung ihrer Gesellschaft, die Madison im zehnten Essay als Hauptmittel gegen Faktionen herausstellt: „Der zweite Unterschied [zwischen einer direkten Demokratie und einer Republik] besteht in der größeren Zahl von Bürgern und dem größeren Gebiet, das durch ein republikanisches im Unterschied zu einem demokratischen Regierungssystem beherrscht werden kann. Und diesem Umstand vor allem ist es zuzuschreiben, wenn man faktiöse Vereinigungen in ersterem weniger fürchten muß als in letzterem. Je kleiner ein Gemeinwesen ist, desto weniger Parteien und Sonderinteressen werden darin existieren. Je weniger Parteien und Sonderinteressen bestehen, desto häufiger kann sich eine Mehrheit aus derselben Partei bilden. Je weniger Personen eine Mehrheit bilden können, und je enger sie beieinander leben, desto leichter fällt es ihnen, ihre Pläne zur Unterdrückung anderer zu koordinieren und ins Werk zu setzen. Vergrößert man das Gebiet, so umfaßt es eine größere Vielfalt von Parteien und Interessen, damit aber wird es weniger wahrscheinlich, daß eine Mehrheit des Ganzen ein gemeinsames Motiv hat und die Rechte anderer Bürger verletzt.“ (Nr. 10, S. 57)

Ein größeres Staatsgebiet umfaßt eine größere und damit auch heterogenere Bevölkerung, die sich in mehr unterschiedliche Gruppen teilt als in kleineren Staaten. Daher ist es unwahrscheinlicher, daß ein bestimmter und damit auch ein faktiöser Beweggrund eine Mehrheit erfaßt; die Zersplitterung der Gesellschaft 348

s. hierzu auch Nr. 56, S. 341–345. Morgan, R. J., Representation (JoP 36, 1974), S. 861; kritisch hierzu allerdings Epstein, D. F., Theory (1984), S. 108 f. 349

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E. Aufbau des Staates

in viele verschiedene Einheiten macht es den einzelnen Gruppen schwerer, den überwiegenden Teil des Volkes hinter sich zu versammeln. Die pluralistische Gesellschaft in einer großen Republik beugt aber nicht nur der Verbreitung eines faktiösen Impulses in der Mehrheit vor, sondern verringert auch die Gelegenheit zur Ausführung faktiöser Pläne, falls sich ein solcher Impuls doch verbreiten sollte:350 „Sollte ein solches gemeinsames Motiv dennoch existieren, dann ist es für alle, die davon angetrieben sind, schwieriger, sich ihrer Stärke bewußt zu werden und gemeinsam zu handeln. Und auch die folgende Tatsache sollte als Hemmnis für solche Tendenzen erwähnt werden: Wo Menschen sich des Unrechts und der Unehrenhaftigkeit bestimmter Ziele bewußt werden, wird ihre Verständigung über diese Ziele immer durch ein gewisses Mißtrauen gebremst, und zwar genau im Verhältnis zur Zahl derer, deren Zustimmung nötig ist.“ (Nr. 10, S. 57)

Da in einem großen, diversifizierten Staat die Interessenlagen und Mehrheitsverhältnisse unübersichtlicher sind als in einem kleinen, homogenen, fällt es der Mehrheit schwerer, sich zunächst überhaupt als solche zu begreifen und ihr Vorgehen dann zu koordinieren.351 Zudem wirkt sich auf unlautere Vorhaben auch die Notwendigkeit der Kommunikation in einem größeren Forum lähmend aus.352 Verstärkt werden diese Vorteile noch durch die föderale Struktur der Vereinigten Staaten, die eine Vergrößerung des Staatsgebietes ermöglicht und eine stärkere Fragmentierung der Gesellschaft und des Staates bewirkt: „Der Einfluß von Faktionsführern mag in einem einzelnen Staat zum Aufruhr führen, er wird aber nicht wie ein Flächenbrand auf die übrigen Staaten übergreifen können. Eine religiöse Sekte kann in einem Teil des Staatenbundes gelegentlich zur politischen Faktion degenerieren, aber die Vielzahl der über die ganze Konföderation verstreuten Sekten sichert die überregionalen Gremien vor möglichen Gefahren aus dieser Richtung. Die wilden Forderungen nach Papiergeld, nach Annullierung der Schulden, nach gleicher Eigentumsverteilung oder jedem anderen untauglichen und schlimmen Vorhaben werden die Gesamtheit der Union weniger leicht erfassen können, als eines ihrer Glieder . . .“ (Nr. 10, S. 58)353 350 Ähnlich auch Kesler, Ch. R., Federalist 10 (1987), S. 36; s. auch Epstein, D. F., Theory (1984), S. 100. 351 Daher sieht Madison die Fragmentierung der Gesellschaft als wünschenswert an; der Staat soll die unterschiedlichen Interessen der Menschen zwar regulieren und miteinander verträglich machen, nicht jedoch angleichen. Im Gegensatz zur rechtlichen ist die soziale und ökonomische Ungleichheit im Staat nach Vorstellung der Autoren des Federalist zulässig und sogar erwünscht; s. hierzu oben D. II. 2. c) (1). 352 Zum Zusammenhang zwischen der Rechtmäßigkeit von Vorhaben und ihrer Publizität s. oben D. II. 3. c). 353 Auf diesen Aspekt weist Madison auch in Nr. 51 hin: „Für den zweiten Weg bildet die föderale Republik der Vereinigten Staaten ein Beispiel. Während alle Autorität von der Gemeinschaft ausgeht und von ihr abhängt, ist die Gemeinschaft selbst in so viele Teile, Interessen und Gruppen ihrer Bürger gespalten, daß die Rechte des ein-

II. Repräsentation

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Allerdings kann sich der Vorteil eines großen Staatsgebietes dann in sein Gegenteil verkehren, wenn es ungeeigneten, nur auf den eigenen Vorteil bedachten Politikern gelingt, an die Macht zu kommen und die Interessen des Volkes zu verraten. In diesem Fall erschweren die Größe des Staates und die Diversifizierung der Gesellschaft dem Volk ein schnelles und einmütiges Vorgehen, wie Madison in Nr. 63 warnend hervorhebt: „Ich bin weit davon entfernt zu bestreiten, daß dieser Unterschied [des großen Gebietes] von ganz besonderer Bedeutung ist, ganz im Gegenteil, ich habe in einem früheren Artikel zu zeigen versucht, daß gerade dies einer der Hauptvorteile einer föderalen Republik ist. Gleichzeitig sollte man jedoch von diesem Vorteil nicht annehmen, daß er zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen überflüssig macht. Man könnte sogar meinen, daß eben diese große Ausdehnung, die das amerikanische Volk vor einigen kleineren Republiken innewohnenden Gefahren bewahrt, es in die unangenehme Lage bringt, länger mit den Fehlinformationen leben zu müssen, die Männer, die nur den eigenen Vorteil im Auge haben, erfolgreich durch gemeinsame Bemühungen in der Bevölkerung verbreiten.“ (Nr. 63, S. 383)

Allein der gesellschaftliche Pluralismus und das freie Spiel der sozialen Kräfte reichen zur Sicherung der Freiheit und des Gemeinwohls ebensowenig aus wie das repräsentative System für sich genommen, vielmehr bedarf es nach Madisons Ansicht des Zusammenspiels einer ganzen Reihe staatsorganisatorischer Maßnahmen, um die Auswirkungen von Faktionen einzudämmen und die beiden Zwecke des Staates hinlänglich abzusichern.354 Zu diesen Vorkehrungen gehören neben dem Repräsentativsystem die Zweiteilung der Legislative in Repräsentantenhaus und Senat, im Zusammenhang mit dessen Verteidigung Mazelnen oder der Minderheit nur wenig von gezielten Interessenzusammenschlüssen der Mehrheit zu befürchten haben. In einem freien Staat müssen die Bürgerrechte ebenso gesichert sein wie die religiösen Rechte. Ihre Sicherheit besteht in dem einen Fall in der Vielzahl der Interessen, im anderen Fall in der Vielzahl der Sekten. Der Grad der Sicherheit wird in beiden Fällen von der Anzahl der Interessen bzw. Sekten abhängen, die ihrerseits vermutlich von der Größe des Landes und seiner Bevölkerungszahl innerhalb eines Herrschaftsbereichs abhängen. Diese Darlegungen werden allen ernsthaften und bedächtigen Freunden der republikanischen Regierungsform gerade das föderale System als Lösung besonders nahelegen, da sie belegen, wie genau in dem Maß, in dem das Gebiet der Union in enger begrenzte Konföderationen oder Staaten aufgeteilt wird, unterdrückerische Zusammenschlüsse der Mehrheit zur Unterdrückung der anderen leichter möglich werden.“ (Nr. 51, S. 316 f.) 354 Daher vermag die unter anderem von James MacGregor Burns und Robert A. Dahl vertretene Ansicht nicht zu überzeugen, daß bei richtigem Verständnis von Madisons Theorie die konstitutionellen Einschränkungen überflüssig sind und allein der gesellschaftliche Pluralismus, die sozialen checks and balances, zur Sicherung der Freiheit im Staat ausreichen; s. Burns, J. M., Deadlock (1964), S. 21; Dahl, R. A., Preface (1962), insb. S. 22 und 104. s. hierzu auch oben I. 2. b) (4); zur Widerlegung Dahls s. insbesondere Carey, G. W., Model (APSR 72, 1978). Gegen die Einordnung Madisons als Vertreter einer pluralistischen Theorie auch Bourke, P. F., Pluralist (PAH 9, 1975), insb. S. 272 f. und 294 f.; Kesler, Ch. R., Federalist 10 (1987), S. 29 und 39; Millican, E., People (1990), S. 13; Morgan, R. J., Representation (JoP 36, 1974), insb. S. 855 f., 867, 880–885; Wills, G., Explaining (1981), S. 202 ff.

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E. Aufbau des Staates

dison die obige Warnung äußert, und die Existenz dreier verschiedener, durchsetzungsfähiger Gewalten.355 Auch der bundesstaatliche Aufbau der Vereinigten Staaten bietet einen zusätzlichen Schutz, da er für vertikale Gewaltenteilung sorgt, im Rahmen derer sich die beiden staatlichen Ebenen gegenseitig überwachen können.356 Daher ergibt sich nach Madison eine hierarchische Ordnung der demokratischen Staaten bezüglich ihrer Fähigkeit, Faktionen entgegenzuwirken und so Gerechtigkeit und das Gemeinwohl zu sichern: auf der untersten Stufe steht die (direkte) Demokratie, darüber die Republik als repräsentatives System, deren Vorteile in einer großen und insbesondere einer föderalen Republik als der höchsten Stufe nochmals verstärkt werden.357 Die Union ist den Einzelstaaten damit aus drei Gründen überlegen, wie Madison am Ende von Nr. 10 zusammenfassend betont: erstens, „weil nunmehr Volksvertreter gewählt werden, deren aufgeklärte Ansichten und tugendhafte Einstellungen sie lokalen Vorurteilen und Komplotten gegen die Gerechtigkeit entheben“,

zweitens, „weil sie durch ein größeres Parteienspektrum mehr Sicherheit dagegen bietet, daß eine einzige Partei die Mehrheit erlangen und die übrigen unterdrücken könnte“,

und drittens „wegen der größeren Hemmnisse, die verhindern, daß die geheimen Wünsche einer ungerechten und eigennützigen Mehrheit koordiniert und in die Tat umgesetzt werden.“ (Nr. 10, S. 57 f.)

Aufgrund dieser Vorzüge bieten die Vereinigten Staaten weitgehenden Schutz für die vom Staat zu sichernden Zwecke: „In der großflächigen Republik der Vereinigten Staaten und bei der großen Vielfalt an Interessen, Parteien und Sekten, die in ihren Grenzen existieren, kann sich eine Mehrheitskoalition der ganzen Gesellschaft nur ganz selten auf der Basis anderer

355 Die Bedeutung dieser Momente stellt Hamilton in Nr. 9 heraus: „Die symmetrische Verteilung der Macht in getrennte Gewalten, die Einführung von Gleichgewicht und gegenseitiger Kontrolle in der Legislative [balances and checks], die Schaffung von Gerichten mit Richtern, die ihr Amt während guter Amtsführung bekleiden, die Vertretung des Volkes in der Legislative durch Delegierte ihrer Wahl . . . sind Methoden und zwar wirksame Methoden, mit deren Hilfe die vortrefflichen Seiten der republikanischen Regierungsform erhalten und ihre Mängel verringert oder ausgeschaltet werden können.“ (Nr. 9, S. 45) 356 s. hierzu unten III. 2. d). 357 s. Nr. 10, S. 57: „Daraus ergibt sich eindeutig, daß dieselben Vorteile für eine Beherrschung der Auswirkungen von Faktionen, die eine Republik gegenüber einer Demokratie verspricht, auch eine große gegenüber einer kleinen Republik bietet – und die Union gegenüber den Einzelstaaten, aus denen sie sich zusammensetzt.“ s. auch Wills, G., Explaining (1981), S. 218.

II. Repräsentation

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Grundsätze ergeben als denen der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls.“ (Nr. 51, S. 317 f.)

(3) Abgrenzung zur aktuellen und virtuellen Repräsentationskonzeption Mit seinem oben dargelegten Repräsentationsverständnis unterscheidet sich der Federalist sowohl von der Konzeption der virtuellen als auch der aktuellen Repräsentation. Mit der ersteren Variante hatten die Whigs, die bürgerliche Gruppierung im englischen Parlament, im 17. und 18. Jahrhundert den Anspruch des Parlamentes auf Souveränität und Vorherrschaft im Staat gegenüber dem entsprechenden überkommenen Anspruch der Krone legitimiert und erfochten. Nach diesem neueren Verständnis war es nicht mehr der König, sondern das Parlament, das die Repräsentation der gesamten politischen Gemeinschaft für sich beanspruchen konnte und dem die Wahrnehmung des Wohls der Gesamtheit treuhänderisch anvertraut war.358 Repräsentiert wurden nach dieser Auffassung, deren bedeutendster Vertreter Edmund Burke war, allerdings nicht die einzelnen Bürger, sondern wie bisher die korporativen Gliederungen wie Grafschaften und Städte; den Individuen kam als solchen kein politischer Status zu. Die Korporationen waren jedoch lediglich Untergliederungen eines organischen Ganzen; die Konzeption der virtuellen Repräsentation sah die Gesellschaft als vorgegebene Einheit an, die ein gemeinsames, übergeordnetes und damit für alle Gruppierungen identisches Interesse hatte.359 Da das Parlament mit der Wahrnehmung dieses allen gemeinsamen Wohls betraut war, repräsentierte es das gesamte Volk, und zwar unabhängig davon, ob es vom einzelnen Bürger gewählt worden war oder nicht.360 Entsprechend waren die einzelnen Abgeordneten nicht deshalb Repräsentanten des Volkes, weil sie von ihm hierzu bestellt worden waren, sondern weil sie ein allen gemeinsames Interesse mit den Repräsentierten verband und ihnen in ihrer Funktion als Mitglied des Parlamentes die treuhänderische Sorge für das Gemeinwohl, das Wohl der Gesamtheit, oblag.361 Die tatsächliche Delegation der Herrschaftsgewalt im Wahlakt hatte keine konstitutive Bedeutung für die Repräsentantenstellung;362 sie diente lediglich der Herausfilterung geeigneter Persönlichkeiten 358 s. hierzu Haller, B., Repräsentation (1987), S. 97 f.; Pole, J. R., Representation (1966), S. 29, xiii. 359 Haller, B., Repräsentation (1987), S. 99 ff. 360 Pole, J. R., Representation (1966), S. xiii. 361 s. hierzu Yarbrough, J., Representation (Publius 9, Nr. 2, 1979), S. 79 f. 362 Daher war es auch unerheblich, daß sich lediglich 10% der englischen Bevölkerung – unter komplettem Ausschluß der amerikanischen Kolonien – an den Wahlen zum Londoner Parlament beteiligen konnten und die Wahlkreiseinteilung völlig überholt war und sich nicht an der Einwohnerzahl orientierte; s. hierzu Haller, B., Repräsentation (1987), S. 98.

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E. Aufbau des Staates

und war damit – in den Worten Hallers – ein „fast nebensächliches Mittel zur Personalrekrutierung“.363 Da die einzelnen Delegierten nicht nur ihre spezifische Wählergruppe, sondern die Gesamtheit des Volkes vertraten, waren sie ihren Wählern in keiner Weise verpflichtet und daher mit einem freien Mandat ausgestattet.364 Auf der Basis der Überzeugung, daß die Repräsentation von der Interessengemeinschaft zwischen Repräsentanten und Repräsentierten und nicht von der expliziten Beauftragung durch Wahlen abhängig sei, nahm das englische Parlament auch für sich in Anspruch, die amerikanischen Kolonien zu repräsentieren, obwohl diese keine eigenen Vertreter dorthin entsandten. Allerdings wurde den Amerikanern im Laufe der Auseinandersetzungen zwischen den Kolonien und dem Mutterland immer deutlicher, daß die erforderliche gemeinsame Interessengrundlage nicht mehr bestand. Daher vermochte die Annahme, sie seien virtuell im englischen Parlament vertreten, die Kolonien bald nicht mehr zu überzeugen, wie sich im Schlagwort des No taxation without representation zeigt.365 Die dem Konzept der virtuellen Repräsentation zugrundeliegende Vorstellung einer einheitlichen, homogenen Gesellschaft und die ihr korrelierende Annahme einer möglichen Repräsentation dieser Gesamtheit bestand – bezogen auf die neu entstehenden amerikanischen Staaten – während und nach der Loslösung vom Mutterland in den Staaten teilweise fort. Daneben trat jedoch eine gegenläufige Auffassung, die im republikanischen, auf dem Willen des Volkes basierenden Staat Repräsentation nur bei enger Rückkoppelung der Delegierten an ihre Wähler für legitimierbar hielt. Nach diesem Konzept der aktuellen Repräsentation war die Gesellschaft kein homogenes Gebilde, sondern eine Vielzahl gesonderter Einheiten, und Repräsentation war nur als Vertretung dieser Partikularitäten zulässig. Daher durfte der Abgeordnete nur Repräsentant seiner Wähler sein, nicht der Gesamtheit; und um diese Rolle erfüllen zu können, mußte er dieser partikularen Gruppe möglichst ähnlich sein und ihre spezifischen Interessen und Wünsche teilen. Um die erforderliche enge Verbindung weiter zu vertiefen, konnten die Abgeordneten zudem verbindlich von ihren Wählern instruiert werden, hatten also ein imperatives Mandat inne.366 Im Laufe der Zeit zeigten sich jedoch die Schwierigkeiten und Nachteile dieses Verfahrens, so daß die Instruktion von Abgeordneten wieder aufgegeben wurde.367 363

Haller, B., Repräsentation (1987), S. 98 f. s. Haller, B., Repräsentation (1987), S. 98; Yarbrough, J., Representation (Publius 9, Nr. 2, 1979), S. 80. 365 s. hierzu Haller, B., Repräsentation (1987), S. 101 f.; Yarbrough, J., Representation (Publius 9, Nr. 2, 1979), S. 80. 366 s. hierzu Haller, B., Repräsentation (1987), S. 102 und 109; Yarbrough, J., Representation (Publius 9, Nr. 2, 1979), S. 81. 364

II. Repräsentation

445

Die Forderung nach einer Repräsentation der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und einer sozialen und ökonomischen Ähnlichkeit zwischen Wählern und Gewählten blieb aber bestehen und wurde auch im Streit um die neue Verfassung von den Verfassungsgegnern geäußert. Hamilton beschreibt die entsprechende Ansicht in Nr. 35 wie folgt: „Der häufigste, ständig wiederholte Einwand lautet, das Repräsentantenhaus sei nicht zahlreich genug, um allen unterschiedlichen Kategorien von Bürgern Platz zu bieten, Interessen und Stimmungen aller Teile der Gesellschaft in sich zu vereinigen und ein angemessenes gegenseitiges Verständnis zwischen der Volksvertretung und ihren Wählern herzustellen.“ (Nr. 35, S. 196)

und: „Manche halten es für notwendig, daß aus jeder Kategorie von Bürgern einer in der Volksvertretung sitzen müsse, damit ihre Meinungen und Interessen besser verstanden und berücksichtigt werden.“ (Nr. 35, S. 198)

Die Autoren des Federalist stimmen mit den Vertretern der aktuellen Repräsentationskonzeption insofern überein, als sie die Gesellschaft als fragmentiert und aus partikularen Gruppen bestehend ansehen, die unterschiedliche, divergente und disparate Interessen haben. Die Verfasser der Essays ziehen aus dieser Prämisse jedoch eine andere Schlußfolgerung; sie sehen den einzelnen Delegierten nicht nur als Vertreter seiner Wähler, sondern des gesamten Volkes und lehnen die Abbildung der gesellschaftlichen Partikularitäten im Parlament und eine möglichst große Ähnlichkeit zwischen Wählern und Repräsentanten ab: „Der dritte Einwand gegen das Repräsentantenhaus lautet, daß es sich aus der Schicht der Bürger rekrutieren wird, die mit der Masse des Volkes die geringste innere Übereinstimmung aufweisen und sehr wahrscheinlich danach streben wird, aus Ehrgeiz die Interessen der Vielen der Vergrößerung von Macht und Ruhm der Wenigen zu opfern. Von allen Beschuldigungen, die gegen die Bundesverfassung erhoben worden sind, ist diese wahrscheinlich die außergewöhnlichste. Denn während der Einwand selbst gegen eine vorgebliche Oligarchie gerichtet ist, zielt das Prinzip auf den Kern des republikanischen Regierungssystems. Ziel jeder politischen Verfassung ist es, oder sollte es sein, erstens, als Herrscher solche Männer zu gewinnen, die den schärfsten Blick haben, das Gemeinwohl ihrer Gesellschaft zu erkennen und die größte [politische] Tugend, es tatkräftig zu verfolgen. Als nächstes sind die wirksamsten Vorkehrungen zu treffen, deren Tugendhaftigkeit zu bewahren, solange sie das ihnen übertragene öffentliche Amt in Treuhänderschaft ausüben. Herrscher durch Wahlen zu gewinnen, ist die für das republikanische Regierungssystem charakteristische Methode.“ (Nr. 57, S. 346)368 367

Yarbrough, J., Representation (Publius 9, Nr. 2, 1979), S. 82. Hamilton weist die Forderung nach einer möglichst genauen Widerspiegelung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Parlament ebenfalls zurück, aber er bleibt der Vorstellung einer Interessengemeinschaft der Gesellschaft noch in gewisser Weise verhaftet und verwirft die Legitimität der Repräsentation partikularer Gruppeninteressen nicht prinzipiell. Er lehnt die Notwendigkeit der Repräsentation aller gesellschaftlichen Gruppen vor allem mit dem Argument ab, daß die verschiedenen Gruppierungen 368

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E. Aufbau des Staates

Nicht jede Schicht oder Gruppierung im Volk soll einen eigenen, ihr möglichst ähnlichen Vertreter in die politischen Gremien entsenden, vielmehr sollten unabhängig von ihrem sozialen und wirtschaftlichen Status die Männer gewählt werden, die die oben angesprochenen herausragenden intellektuellen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften haben, die nämlich das Gemeinwohl besser erkennen können und zuverlässiger verfolgen werden als der Durchschnittsbürger. Diese unterschiedliche Auffassung ergibt sich aus einer unterschiedlichen Beurteilung des Zwecks der Repräsentation: Nach dem von den Antifederalists aufgegriffenen Verständnis ist die repräsentative Demokratie in großflächigen Staaten ein aus pragmatischen Gründen notwendiges, unvermeidliches Surrogat für das Ideal der direkten Demokratie. Der Federalist dagegen sieht die letztere nicht als ideale, sondern als defiziente Form, da sie das Problem der Faktionen nicht zu lösen vermag. Ein repräsentatives System bietet demgegenüber das Heilmittel und ist damit eine vorzugswürdige Verbesserung.369 Nach Publius’ Verständnis soll Repräsentation zu einer Vermittlung der unterschiedlichen Interessen und dadurch zur Artikulierung des Gemeinwohls führen und nicht zur bloßen Konfrontation von und dem Beharren auf Partikularitäten. Mit diesem Verständnis vom Zweck der Repräsentation schließt sich der Federalist dem virtuellen Repräsentationsverständnis an, nach dem Repräsentation der Durchsetzung des Gemeinwohls dient, indem sie die hierfür am besten geeigneten Männer herausfiltert.370 Allerdings besteht zwischen beiden Positionen ein gravierender Unterschied in der Wahl des Mittels zur Verwirklichung dieses Zwecks: während nach der virtuellen Repräsentationskonzeption Wahlen für die Repräsentantenstellung der Abgeordneten unerheblich sind, weil diese dem Volk ohnehin über die allen gemeinsame, homogene Interessengrundlage verbunden sind, wird nach dem Verfassungsentwurf und dem Verständnis des Federalist mangels einer solchen vorgegebenen Interessengemeinschaft der Wahlakt zum konstitutiven Element.371 Allein, weil er von einer Mehrheit gewählt worden ist, kann der Delegierte beanspruchen, das gesamte Volk zu vertreten. Der Federalist sieht also im Gegensatz zur aktuellen Repräsentation die Repräsentanten als Vertreter der Gesamtheit und nicht nur bestimmter Interessenohnehin hauptsächlich Grundbesitzer, Kaufleute und Akademiker als ihre Repräsentanten wählen würden, da diese ihre Interessen teilen und besser wahrnehmen können als sie selbst (s. Nr. 35, S. 197 f. und Nr. 36, S. 200). s. hierzu auch Haller, B., Repräsentation (1987), S. 137; Yarbrough, J., Representation (Publius 9, Nr. 2, 1979), S. 92–94. 369 s. auch Yarbrough, J., Thoughts (Polity 12, 1979/80), S. 67. 370 s. Yarbrough, J., Representation (Publius 9, Nr. 2, 1979), S. 80. Allerdings sah die virtuelle Repräsentationsvorstellung das Gemeinwohl als inhaltlich bestimmbar und vorgegeben an, während der Federalist eine materielle Festlegung ablehnt und darunter das Recht zur Verfolgung der eigenen Ziele versteht. 371 s. Yarbrough, J., Representation (Publius 9, Nr. 2, 1979), S. 83, 89, 97.

II. Repräsentation

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gruppen und folgt insoweit der Konzeption der virtuellen Repräsentation, anders als nach dieser ist die Repräsentantenstellung nach seiner Ansicht aber nicht „virtuell“, sondern von der expliziten Beauftragung durch die Wähler abhängig. 3. Vergleich und Ergebnis Sowohl nach der Auffassung Kants als auch des Federalist dient Repräsentation der Sicherung der menschlichen Freiheit im Staat; ein repräsentatives politisches System verhindert insbesondere die Unterdrückung von Minderheiten durch die Mehrheit des Volkes. Bezüglich dieser Wirkung der politischen Repräsentation besteht eine frappierende Übereinstimmung der Gedankengänge Kants in der Kritik der Urteilskraft und Madisons im zehnten Essay des Federalist, auf die Haller aufmerksam gemacht hat. Sowohl Kant als auch Madison sehen durch Repräsentation eine Erweiterung und Universalisierung der von den Repräsentanten vertretenen Positionen bewirkt, die dazu führt, daß sich im Repräsentationsorgan nicht ein rein numerischer Mehrheitswille äußert, sondern ein erweiterter, allgemeiner Wille, der die Belange aller Menschen einbezieht und auch Minderheitspositionen berücksichtigt. Nach dem Verständnis beider Autoren bringt die durch Repräsentation erzeugte Erweiterung des Gesichtskreises eine qualitative Komponente in den politischen Willensbildungsprozeß. Madison beschreibt diesen Effekt als „to refine and enlarge the public views“ (Nr. 10, S. 50), d. h. als Verfeinerung und Erweiterung der öffentlichen Ansichten bzw. öffentlichen Meinung. In einer erstaunlich parallelen Formulierung spricht Kant in der KU von der „erweiterten Denkungsart“ und von der „Erweiterung und Verfeinerung“ der Ideen des Volkes (KU S. 226 f. und 300). Die Autoren des Federalist erörtern das Problem der unterdrückerischen Herrschaft eines Teils des Volkes unter dem Topos der Faktionen, die sie als Hauptproblem demokratischer Regierungssysteme sehen. Kant verwendet diesen Begriff im Zusammenhang mit der Repräsentation nicht, aber auch er sieht Faktionen – dem allgemeinen Verständnis der Zeit gemäß – als die Stabilität des Staates gefährdende und zur Anarchie tendierende Bestrebungen.372

372 So schreibt er im Streit der Fakultäten in einer Fußnote: „. . . da dann jener Zustand des gesetzwidrigen Streits, wovon oben Erwähnung geschehen, eintritt, wo Lehren, den Neigungen des Volks angemessen vorgetragen werden und der Same des Aufruhrs und der Faktionen ausgestreut, die Regierung aber dadurch in Gefahr gebracht wird . . . Dagegen diejenige eigentlich damit gebrandmarkt zu werden verdienen, welche eine ganz andere Regierungsform oder vielmehr eine Regierungslosigkeit (Anarchie) einführen, indem sie das, was eine Sache der Gelehrsamkeit ist, der Stimme des Volks zur Entscheidung übergeben, dessen Urteil sie durch Einfluß auf seine Gewohnheiten, Gefühle und Neigungen nach Belieben lenken und so einer gesetzmäßigen Regierung den Einfluß abgewinnen können.“ (Streit S. 298 f.)

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E. Aufbau des Staates

Neben dieses staatsimmanente Repräsentationsverständnis, das Repräsentation als Übertragung der politischen Entscheidungsbefugnis vom Volk an Stellvertreter sieht, tritt bei Kant in der Metaphysik noch ein zweites, (staats-)transzendentes Verständnis. Danach ist der phaenomenale Staat selbst Repräsentant, und zwar Repräsentant eines gedachten, intelligiblen Gebildes, der noumenalen Republik. Dieser zweite Repräsentationsbegriff gibt das Ziel vor, dessen Verwirklichung die staatsimmanente Repräsentation dient: durch die Repräsentation des empirischen Volkes in den staatlichen Organen wandelt sich der phaenomenale Staat zur Republik. Diese Unterscheidung zwischen intelligibler und physischer Ebene findet sich im Federalist nicht. Auch halten seine Autoren den Verfeinerungs- und Erweiterungseffekt der Repräsentation anders als Kant nicht für sicher; sie gehen davon aus, daß er vor allem in einem großen Entscheidungsgremium durch faktiöse Einflüsse konterkariert werden kann. Das repräsentative System bedarf nach Ansicht Publius’ der Ergänzung durch ein großes Staatsgebiet und idealerweise einen föderalen Staat. Dieser Zusammenhang zwischen Repräsentation und der Größe des Staates findet sich bei Kant nicht; im Gemeinspruch äußert er lediglich den gegenläufigen Gedanken, daß ein großer Staat aus praktischen Gründen repräsentativ ausgestaltet sein muß. Den umgekehrten Blickwinkel, aus dem sich ein großes Gebiet aufgrund der größeren Diversifizierung der Gesellschaft als Vorteil entpuppt, nimmt Kant – anders als der Federalist – nicht ein.

III. „Föderalismus“ Während die Frage des Verhältnisses der Einzelstaaten zueinander im Federalist aufs engste mit dem Aufbau des von ihnen propagierten Staates verknüpft ist, ist sie bei Kant nicht direkt von Bedeutung für die innerstaatliche Organisation. Dennoch besteht auch in seinen Ausführungen ein Zusammenhang zwischen der innerstaatlichen Verrechtlichung und den zwischenstaatlichen Verhältnissen; Kant betont, „. . . daß, wenn unter diesen drei möglichen Formen des rechtlichen Zustandes [Staatsrecht, Völkerrecht und Völkerstaats- oder Weltbürgerrecht] es nur einer an dem die äußere Freiheit durch Gesetze einschränkenden Prinzip fehlt, das Gebäude aller übrigen unvermeidlich untergraben werden, und endlich einstürzen muß.“ (§ 43, S. 429)

Die Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen ist Voraussetzung dafür, daß die Einzelstaaten ihren Zweck erfüllen, nämlich die Freiheit der Menschen umfassend sichern können. Die Autoren des Federalist erörtern die Frage des Verhältnisses der Einzelstaaten zueinander unter dem Begriff des Föderalismus, wobei die Terminologie noch in der Entwicklung begriffen war und teilweise auch von ihnen uneinheit-

III. „Föderalismus‘‘

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lich gebraucht wird.373 Auch Kant bedient sich teilweise dieses Begriffes, um die Beziehungen der Staaten zueinander zu beschreiben. 1. Bei Kant Der Oberbegriff, unter dem Kant das Problem der zwischenstaatlichen Verrechtlichung erörtert, ist jedoch nicht der Terminus des Föderalismus, sondern des Völkerrechts. Kant betont, daß es um das Verhältnis der Völker als Staaten zueinander geht und nicht etwa um Völker im Sinne ethnischer Gruppierungen: „Das Recht der Staaten in Verhältnis zueinander (welches nicht ganz richtig im Deutschen das Völkerrecht genannt wird, sondern vielmehr das Staatenrecht (ius publicum civitatum) heißen sollte) ist nun dasjenige, was wir unter dem Namen des Völkerrechts zu betrachten haben . . .“ (§ 53, S. 466)

Auch im Frieden weist er darauf hin, daß sich seine Betrachtungen auf „Völker, als Staaten“, beziehen (Frieden S. 208). Überlegungen zu diesem Thema finden sich in mehreren seiner Schriften, vor allem in der Idee (1784), im Gemeinspruch (1793) und Frieden (1795), in der Metaphysik (1797) und dem Streit (1798). Es handelt sich dabei also um ein immer wiederkehrendes Motiv seiner Philosophie.374 a) Begründung der Notwendigkeit der globalen Verrechtlichung Kant begründet die Notwendigkeit völkerrechtlicher Regelungen in den relevanten Schriften unterschiedlich. Zwar greift er stets im Wege der Analogie auf seinen Nachweis der Notwendigkeit des Staates zurück; er zieht eine Parallele zwischen Staaten und Menschen und betont, daß sich die ersteren – wie ursprünglich die letzteren – im Naturzustand befinden und diesen verlassen müssen. Da sich seine Position bezüglich des Staatsrechts aber im Laufe der Zeit von einer empirischen zur apriorischen Argumentation weiterentwickelt hat,375 finden sich diese unterschiedlichen Begründungsansätze auch im Völkerrecht wieder. Die Metaphysik unterscheidet sich zudem dadurch von den früheren Schriften, daß Kant hier neben dem Analogieschluß noch eine zweite Begründung liefert, die nicht auf das Staatsrecht zurückgreift, sondern sich direkt aus dem Privatrecht und der Freiheit des einzelnen ergibt. Damit rückt in der Metaphysik auch das Individuum in den Fokus des Völkerrechts, während in den älteren Schriften lediglich der Staat eine Rolle spielt. Dieser Unterschied ist von ent-

373 374 375

s. hierzu unten 2. c). Höffe, O., Minimalstaat (1996), S. 156. s. hierzu oben C. I. 2.

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E. Aufbau des Staates

scheidender Bedeutung für die gesamte Konzeption des Völkerrechts; er gibt ihm eine andere Dimension und erweitert seine Funktion. (1) In der Idee, dem Gemeinspruch und Frieden In der Idee und im Gemeinspruch stützt Kant die zur Begründung einer zwischenstaatlichen Rechtsordnung herangezogene Analogie zwischen Staaten und Menschen auf ihren gleichartigen Charakter und ihr entsprechend gleichartiges Verhalten; Staaten sind mit Individuen vergleichbar, weil sie von Menschen gebildet werden und wie diese den Einflüssen der menschlichen Natur unterliegen. Damit bestimmen die gleichen charakterlichen Grundeigenschaften, die das menschliche Verhalten steuern, auch das Handeln der Staaten. Diesen Zusammenhang betont Kant zunächst in der Idee: „Das Problem der Errichtung einer vollkommenen bürgerlichen Verfassung ist von dem Problem eines gesetzmäßigen äußeren Staatenverhältnisses abhängig, und kann ohne das letztere nicht aufgelöset werden. Was hilft’s, an einer gesetzmäßigen bürgerlichen Verfassung unter einzelnen Menschen, d. i. an der Anordnung eines gemeinen Wesens zu arbeiten? Dieselbe Ungeselligkeit, welche die Menschen hiezu nötigte, ist wieder die Ursache, daß ein jedes Gemeinewesen in äußerem Verhältnisse, d. i. als ein Staat in Beziehung auf Staaten, in ungebundener Freiheit steht, und folglich einer von dem anderen eben die Übel erwarten muß, die die einzelnen Menschen drückten und sie zwangen, in einen gesetzmäßigen bürgerlichen Zustand zu treten.“ (Idee S. 41 f.)376

Kant geht davon aus, daß die Menschen eine Veranlagung zur „ungeselligen Geselligkeit“ haben, d. h. einerseits in Gesellschaft leben wollen, andererseits aber den konfligierenden Drang verspüren, sich abzusondern und ihr Leben allein nach ihren Vorstellungen zu leben.377 Aufgrund dieser unsozialen, egoistischen Neigung fügen sich die Menschen gegenseitig Schaden zu, falls sie nicht durch Gesetze und staatliche Macht daran gehindert werden, und aus dem gleichen Grunde beeinträchtigen sich auch die Staaten im Naturzustand gegenseitig. Um dies zu verhindern, müssen sie sich zwangsbewehrten Gesetzen unterwerfen, die ihr Verhalten regeln, d. h. in einen rechtlichen Zustand eintreten. Auch im Gemeinspruch betont Kant, daß sich die Grundzüge des menschlichen Charakters nicht nur im Umgang einzelner Menschen miteinander, sondern auch auf internationaler Ebene zeigen: 376 Brandt, R., Weltbürgerrecht (1995), S. 138, leitet daraus ab, daß Kant nicht den einzelnen Staat zum Ausgangspunkt der Verrechtlichung nimmt, sondern den umgekehrten Weg einschlägt: „Also zuerst die Lösung im ganzen, und danach die Verrechtlichung der Gewalt in den Staaten.“ (ebd.). Dies trifft jedoch nicht zu, vielmehr sieht Kant die innerstaatliche Republikanisierung als Voraussetzung der zwischenstaatlichen Verrechtlichung, s. dazu unten b) (2) (c) (bb). 377 s. dazu Idee S. 37 f. und oben C. I. 2.

III. „Föderalismus‘‘

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„Die menschliche Natur erscheint nirgend weniger liebenswürdig, als im Verhältnisse ganzer Völker gegen einander.“ (Gemeinspruch S. 171)

Entsprechend verletzen sich im Naturzustand nicht nur die Menschen, sondern auch die Staaten gegenseitig: „So wie allseitige Gewalttätigkeit und daraus entspringende Not endlich ein Volk zur Entschließung bringen mußte, sich dem Zwange, den ihm die Vernunft selbst als Mittel vorschreibt, nämlich dem öffentlicher Gesetze zu unterwerfen, und in eine staatsbürgerliche Verfassung zu treten: so muß auch die Not aus beständigen Kriegen, in welchen wiederum Staaten einander zu schmälern oder zu unterjochen suchen, sie zuletzt dahin bringen, selbst wider Willen, entweder in eine weltbürgerliche Verfassung zu treten . . .“ (Gemeinspruch S. 169)

Die ungesellige Neigung des Menschen zeigt sich auf internationaler Ebene in den zahlreichen Kriegen, die die Staaten miteinander führen; um dem Leid zu entkommen, das durch diese verursacht wird, müssen – und werden – die Staaten ihr Verhältnis zueinander verrechtlichen, um Konflikte auf dem Rechtsweg beilegen zu können. Mit dem Verweis auf die Natur des Menschen bzw. des Staates begründet Kant die Notwendigkeit des Völkerrechts in der Idee und im Gemeinspruch mit anthropologischen, aus der Erfahrung abgeleiteten Prämissen.378 Nach diesem Begründungsansatz ist es für die Staaten – wie für die Menschen – zwar vorteilhaft, den Naturzustand zu verlassen, nicht aber geboten;379 der Eintritt in einen völkerrechtlichen Zustand ist für die Staaten nützlich, weil dieser sie vor Rechtsverletzungen schützt, es steht ihnen aber frei, diesen Schutz abzulehnen und ihre ungesicherte Freiheit im Naturzustand der gesicherten Existenz in einer rechtlichen Ordnung vorzuziehen. Im Frieden argumentiert Kant anders. Hier ist die Grundlage der Analogie zwischen Staaten und Menschen nicht mehr ihr vergleichbares unsoziales Verhalten, das auf der menschlichen Natur beruht; vielmehr sieht Kant die Parallele hier in folgendem begründet: „Völker, als Staaten, können wie einzelne Menschen beurteilt werden, die sich in ihrem Naturzustande (d. i. in der Unabhängigkeit von äußern Gesetzen) schon durch ihr Nebeneinandersein lädieren, und deren jeder, um seiner Sicherheit willen, von dem andern fordern kann und soll, mit ihm in eine, der bürgerlichen ähnliche Verfassung zu treten, wo jedem sein Recht gesichert werden kann.“ (Frieden S. 208 f.) 378 Entsprechend begründet Kant – wie oben dargelegt – auch das Staatsrecht in diesen Schriften primär mit anthropologischen Prämissen, s. dazu oben C. I. 2. Wie dort bereits erörtert, verweist er zwar auch auf die Vernunftgebotenheit der zwischenmenschlichen und zwischenstaatlichen Verrechtlichung (s. Gemeinspruch S. 169), aber er postuliert diese nur, ohne sie weiter zu begründen. 379 Kant weist im obigen Zitat aus dem Gemeinspruch zwar darauf hin, daß die Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Verhältnisse vernunftgeboten ist, aber er belegt diese Behauptung nicht weiter, sondern stützt sich in der Begründung des Völkerrechts allein auf die menschliche bzw. staatliche Natur.

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E. Aufbau des Staates

Den Gedanken, daß sich Menschen und Staaten im Naturzustand allein durch ihre Koexistenz in ihren Rechten verletzen, führt Kant in der Metaphysik näher aus:380 „. . . sie mögen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will, so liegt es doch a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes, daß . . . vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewalttätigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht, zu tun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin von der Meinung des anderen nicht abzuhängen; mithin das erste, was ihm zu beschließen obliegt, . . . der Grundsatz sei: man müsse aus dem Naturzustande, in welchem jeder seinem eigenen Kopfe folgt, herausgehen . . .“ (§ 44, S. 430)

Nicht, weil der Mensch bestimmte Charaktereigenschaften aufweist, etwa bösartig ist, gerät er im Naturzustand mit anderen in Konflikt, sondern allein deshalb, weil er ein vernunftbegabtes Wesen ist, das Willkürfreiheit besitzt. Damit kann er sich seine eigenen Zwecke setzen und in ihrer Verfolgung mit den Vorhaben anderer Menschen kollidieren. Dies gilt nach Kants obiger Aussage ebenso für Staaten; er geht also in der Metaphysik davon aus, daß Staaten – wie einzelne Menschen – vernünftige, zu autonomem Handeln fähige Wesen sind.381 Diese Überlegung liegt auch im Frieden der Analogie zwischen Staaten und Menschen zugrunde, wie sich im zweiten Präliminarartikel zeigt,382 in dem Kant betont: „Ein Staat ist nämlich nicht (wie etwa der Boden, auf dem er seinen Sitz hat) eine Habe . . . Er ist eine Gesellschaft von Menschen, über die niemand anders, als er selbst, zu gebieten und zu disponieren hat. Ihn aber . . . einem andern Staate einzuverleiben, heißt seine Existenz, als einer moralischen Person, aufheben, und aus der letzteren eine Sache machen, und widerspricht also der Idee des ursprünglichen Vertrags, ohne die sich kein Recht über ein Volk denken läßt.“ (Frieden S. 197)

Den hier auf Staaten bezogenen Begriff der moralischen Person definiert Kant in der Metaphysik wie folgt: „Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind. Die moralische Persönlichkeit ist also nichts anders, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen . . ., woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen, als denen, die sie (entweder allein, oder wenigsten zugleich mit anderen) sich selbst gibt, unterworfen ist.“ (S. 329)

Mit der Bezeichnung als moralische Person weist Kant den Staaten damit auch im Frieden den Rang vernünftiger, mit Willkürfreiheit ausgestatteter Wesen zu, und zwar deshalb, weil sich im Staat der allgemein vereinigte Wille äußert und 380 381 382

In zwischenmenschlicher Hinsicht s. dazu oben C. I. 3. s. auch Pinzani, A., Völkerrecht (1999), S. 237. s. dazu Hennigfeld, J., Friede (AZP 8, 1983), S. 26–28.

III. „Föderalismus‘‘

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auch ein Staat als „die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ (§ 45, S. 431) nur den Gesetzen unterworfen ist, die diese Vereinigung sich selbst gibt.383 Damit knüpft Kant im Frieden – wie auch später in der Metaphysik – zur Begründung des Völkerrechts nicht mehr an die menschliche Natur an, sondern leitet die Notwendigkeit, den Naturzustand zu verlassen, unabhängig von empirischen Prämissen allein aus apriorischen Gründen – der Freiheit des Staates – ab. Auf dieser Grundlage ist die Verrechtlichung des zwischenstaatlichen Verhältnisses nicht mehr bloß aus Nützlichkeitserwägungen, d. h. aus pragmatischen Gründen notwendig, sondern vernunftgeboten und eine Rechtspflicht. Es gilt die zum Vertragsschluß zwischen Menschen analoge Überlegung, daß die Freiheit der Staaten zu ihrer umfassenden Verwirklichung der Absicherung bedarf und dazu die ihr immanente Beschränkung auf die Kompatibilität mit der Freiheit aller anderen Staaten durchgesetzt werden muß. Diese – erforderlichenfalls zwangsweise – Durchsetzung kann nur auf der Grundlage der allseitigen Zustimmung und damit eines allgemein vereinigten Willens der Staaten erfolgen, da sie nur dann mit der Freiheit jedes Staates vereinbar ist. Dieser kollektive Wille aber ist untrennbar mit einem staatlichen oder bürgerlichen Zustand verbunden, den Kant im obigen Zitat aus dem Frieden (S. 208 f.) fordert. Die Verpflichtung zur Schaffung einer internationalen Rechtsordnung ist damit das Pendant zum Freiheitsrecht der Staaten; diesem Recht korreliert die Pflicht, die Bedingungen für seine umfassende Verwirklichung herbeizuführen. Damit ist Kant in der Reihe der politisch-philosophischen Schriftsteller der erste, der den Krieg nicht nur aus pragmatischen, sondern aus vernunftrechtlichen Gründen als Mittel der Konfliktlösung verwirft und eine Beilegung von Kontroversen auf dem Rechtswege fordert.384 Trotz des apriorischen Ansatzes stimmt die Begründung der internationalen Rechtsordnung im Frieden jedoch mit der des Gemeinspruchs und der Idee darin überein, daß in ihrem Mittelpunkt allein der Staat steht. In allen drei Schriften leitet Kant die Notwendigkeit des Völkerrechts allein aus dem Verhältnis der Staaten zueinander ab und sieht seine Aufgabe allein im Schutz der 383 s. Hennigfeld, J., Friede (AZP 8, 1983), S. 28; Pinzani, A., Völkerrecht (1999), S. 237. Strenggenommen gilt dies allerdings nur für republikanisch verfaßte Staaten, wie Williams, H., Philosophy (1983), S. 254, herausstellt, denn nur in einer Republik gibt das vereinigte Volk sich – vermittelst seiner Repräsentanten – seine Gesetze tatsächlich selbst und ist nicht einem fremden, partikularen Willen etwa des Monarchen unterworfen. s. auch Kants Hinweis auf die Notwendigkeit der Gewaltenteilung: „Also sind es drei verschiedene Gewalten . . ., wodurch der Staat . . . seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält.“ (§ 49, S. 437). Zur Analogie zwischen Staaten und Menschen s. auch Höffe, O., Minimalstaat (1996), S. 161 f. 384 s. hierzu Kersting, W., Freiheit (1993), S. 69 f.; s. auch Höffe, O., Kant (1996), S. 229.

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E. Aufbau des Staates

staatlichen Rechte. So postuliert er in der Idee als Ziel einen Zustand, in dem „. . . jeder, auch der kleinste, Staat seine Sicherheit und Rechte . . . von einer vereinigten Macht . . . erwarten könnte“ (Idee S. 42), und auch nach dem Gemeinspruch schützt das Völkerrecht den Staat: „Kein Staat ist gegen den andern wegen seiner Selbständigkeit, oder seines Eigentums, einen Augenblick gesichert. . . . Nun ist hierwider kein anderes Mittel, als ein auf öffentliche mit Macht begleitete Gesetze . . . gegründetes Völkerrecht (nach der Analogie eines bürgerlichen oder Staatsrechts einzelner Menschen) möglich . . .“ (Gemeinspruch S. 171 f.)

Im Frieden betont Kant schließlich in Übereinstimmung damit, daß das Völkerrecht der „Erhaltung und Sicherung der Freiheit eines Staats“ dient (Frieden S. 211). Das Individuum und seine Rechte spielen in diesen älteren Schriften im Völkerrecht keine Rolle. Zwar rekurriert Kant in der Idee und im Gemeinspruch auf die menschliche Natur; damit spricht er aber nicht die Freiheit und Rechte des einzelnen an, sondern das Verhalten der Menschen als Gattung. (2) In der Metaphysik In der Metaphysik finden sich – wie oben bereits erwähnt – zwei verschiedene Ansätze zur Begründung des Völkerrechts. (a) Öffentlich-rechtliche Begründung Im öffentlichen Recht greift Kant – wie in den früheren Schriften – auf die Parallele zwischen Staaten und Menschen zurück: „Die Elemente des Völkerrechts sind: 1. daß Staaten, im äußeren Verhältnis gegen einander betrachtet, (wie gesetzlose Wilde) von Natur in einem nicht-rechtlichen Zustande sind; 2. daß dieser Zustand ein Zustand des Krieges (des Rechts des Stärkeren), wenn gleich nicht wirklicher Krieg und immerwährende wirkliche Befehdung . . . ist, welche . . ., obzwar dadurch keinem von dem anderen unrecht geschieht, doch an sich selbst im höchsten Grade unrecht ist, und aus welchem die Staaten, welche einander benachbart sind, auszugehen verbunden sind . . .“ (§ 54, S. 467)

Die Verpflichtung zum Verlassen des Naturzustandes stützt Kant zunächst auf die bereits im Frieden herangezogene Tatsache, daß Staaten – wie Menschen – vernünftige, zu autonomem Handeln fähige Wesen sind, d. h. moralische Personen. Wie oben bereits ausgeführt, legt Kant in § 44 dar, daß sich Staaten allein aufgrund ihrer Freiheit im Naturzustand in ihren Rechten verletzen, und in § 53 betont er, daß „ein Staat, als eine moralische Person, gegen einen anderen im Zustande der natürlichen Freiheit . . . betrachtet, . . . eine den beharrlichen Frieden gründende Verfassung . . . zur Aufgabe macht . . .“ (§ 53, S. 466)

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Ihr Freiheitsrecht erlegt den Staaten die diesem kongruente Verpflichtung auf, die Freiheitssphären durchgängig zu sichern und sich dazu gemeinsamen, zwangsbewehrten Gesetzen zu unterwerfen. Dieser Schritt steht ihnen nicht frei, sondern stellt wie oben dargelegt eine Rechtspflicht dar. Am Schluß des Völkerrechts stützt Kant die Analogie zwischen Staaten und Menschen noch auf einen weiteren, mit ihrem Freiheitsrecht zusammenhängenden Gesichtspunkt, nämlich ihr Recht auf äußeres Mein und Dein: „Da der Naturzustand der Völker, eben so wohl als einzelner Menschen, ein Zustand ist, aus dem man herausgehen soll, um in einen gesetzlichen zu treten: so ist, vor dieser Ereignis, alles Recht der Völker und alles durch den Krieg erwerbliche oder erhaltbare äußere Mein und Dein der Staaten bloß provisorisch, und kann nur in einem allgemeinen Staatenverein (analogisch mit dem, wodurch ein Volk Staat wird) peremtorisch geltend und ein wahrer Friedenszustand werden.“ (§ 61, S. 474)

Wie oben unter C. dargelegt, ergibt sich aus der menschlichen Freiheit das Recht, etwas Äußeres als das Seine zu haben, insbesondere Eigentum an Sachen haben zu können, da die Freiheit ohne den Zugriff auf die Umwelt und auf äußere Gegenstände nicht umfassend verwirklicht werden kann. Das gleiche muß nach Kants Analogie auch für Staaten als moralische Personen gelten, und im obigen Zitat betont er entsprechend, daß auch Staaten das Recht auf äußeres Mein und Dein und damit auf Eigentum haben. Dieses ist aber im Naturzustand ungesichert und nicht umfassend legitimiert, denn der nur einseitige Anspruch eines Staates auf einen äußeren Gegenstand kann diesen nicht zu seinem machen und die anderen Staaten nicht wirksam verpflichten, sich seines Gebrauchs zu enthalten. Dies gilt auch für das Staatsgebiet als Teil des Erdbodens. Das äußere Mein und Dein, das nicht angeboren ist, sondern erst erworben werden muß, bedarf vielmehr der allseitigen Verwilligung, da die Verpflichtung, auf die Sache zu verzichten, nur so auch dem eigenen Willen des Verpflichteten entspringt und mit seiner Freiheit vereinbar ist. Ein solchermaßen begründetes Recht kann aufgrund seiner Rechtmäßigkeit auch zwangsweise durchgesetzt werden. Daher bedarf es zur umfassenden Peremtorisierung des Eigentums der Staaten eines allgemein vereinigten Willens der Staaten, der einen bürgerlichen oder staatlichen Zustand zwischen ihnen schafft.385 (b) Privatrechtliche Begründung Die Forderung nach einer Peremtorisierung der Rechte, insbesondere des Eigentums, begründet aber auch unabhängig vom obigen Analogieschluß die Notwendigkeit einer globalen Rechtsordnung; diese ergibt sich nach der Systematik

385 Zur entsprechenden Begründung des Staatsrechts s. oben C. I. 1. b) 3 (a) und 1. c) (3) (c) (cc).

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E. Aufbau des Staates

der Metaphysik bereits aus den Rechten des einzelnen Menschen, unabhängig von der Existenz des Staates. Denn die von den Rechten der Menschen im sozialen Kontext erzeugte und im Postulat des öffentlichen Rechts zum Ausdruck kommende Verpflichtung zur umfassenden Verrechtlichung treibt sowohl in inner- als auch außerstaatlicher Hinsicht über die bestehenden Staaten hinaus.386 Zur Gewährleistung der allgemeinen Freiheitskompatibilität von (Eigentums-)Ansprüchen reicht letztlich weder die nur simulierte noch die Zustimmung lediglich eines Teils der von ihnen Betroffenen, so daß es zum einen der Republikanisierung der Staaten und zum anderen eines Konsenses der gesamten Menschheit bedarf. Zur abschließenden Peremtorisierung der menschlichen Rechte muß ein globaler kollektiver Wille und eine diesen durchsetzende zwangsbewehrte Herrschaft, d. h. eine weltumspannende Staatlichkeit geschaffen werden, wie Kant im zweiten Hauptstück des Privatrechts betont: „Aber, wenn sie [die Aufgabe der ursprünglichen äußeren Erwerbung des Bodens] auch durch den ursprünglichen Vertrag aufgelöset wird, so wird, wenn dieser sich nicht aufs ganze menschliche Geschlecht erstreckt, die Erwerbung doch immer nur provisorisch bleiben.“ (§ 15, S. 377 f.)

Nach diesem Verständnis basiert die weltweite rechtliche Verfassung auf den Rechten des Individuums; sie dient der umfassenden Absicherung der Freiheit und des Eigentums des einzelnen. Da sich das Recht auf das letztere aus der ersteren ergibt und zu ihrer umfassenden Verwirklichung unabdingbar ist, steht hinter dem Postulat der globalen Verrechtlichung letztlich – wie hinter Kants gesamter praktischer Philosophie – die Freiheit des einzelnen. Zwischen dieser und der weltumspannenden Staatlichkeit besteht nach der privatrechtlichen Argumentation ein ungebrochener Begründungszusammenhang; die Schaffung der globalen Rechtsordnung ist ein unentbehrliches Element zur Sicherung der individuellen Freiheit. In der Abfolge der entsprechenden Regelungskomplexe, die sich wie konzentrische Kreise um den einzelnen legen, stellt die globale Rechtsordnung nach dem Privat- und dem Staatsrecht den äußersten Kreis dar. Nach dem öffentlich-rechtlichen Analogieschluß dagegen besteht kein direkter, ungebrochener Zusammenhang zwischen der Freiheit des einzelnen und dem Völkerrecht; Ausgangspunkt der Begründung ist nicht der einzelne, sondern allein der Staat. Daß Kant die Analogie in seine Argumentation aufnimmt und sich nicht allein auf die direkte privatrechtliche Begründung stützt, zeigt, daß er neben den Individualrechten auch die Rechte der Staaten gesichert wissen will und diese als unverzichtbare Elemente der globalen Rechtsordnung sieht. Denn im Rahmen der privatrechtlichen Begründung, die sich allein auf die naturzuständlichen Verhältnisse bezieht, spielt der Staat keine Rolle; danach 386

s. oben C. I. 1. b) (3) (b) und (c) und 1. c) (3) (c) (cc).

III. „Föderalismus‘‘

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wäre auch die Schaffung eines einzigen, globalen Einheitsstaates zur umfassenden Verrechtlichung der zwischenmenschlichen Verhältnisse denkbar. Im öffentlichen Recht stellt Kant jedoch klar, daß dieser Prozeß nur unter Einbeziehung der bestehenden Staaten erfolgen kann, denn diese stellen einen ersten Schritt aus dem Naturzustand hin zur Sicherung der Freiheit und Rechte der Menschen dar, hinter den nicht zurückgegangen werden darf. Die umfassendere Stufe der Verrechtlichung kann nach Kants Ansicht die vorhergehende nicht völlig ersetzen, sondern muß hinzutreten, wie sich auch aus dem vergleichbaren Verhältnis des Privatrechts zum Staatsrecht ergibt. Das Privatrecht, das – wie in globaler Hinsicht das Staatsrecht – ebenfalls eine nur unvollkommene Sicherung und Legitimierung der menschlichen Rechte bietet, wird vom Staatsrecht nicht völlig absorbiert und durch dieses nicht obsolet, sondern hat in gewissem Umfang eine normative Wirkung für das letztere;387 so muß der Kerngehalt seiner Regelungen bezüglich des Eigentums vom Staat gewahrt werden. Ebenso darf auch die anzustrebende globale Rechtsordnung das Staatsrecht nicht vollständig absorbieren, d. h. die Staaten nicht in einen Welteinheitsstaat auflösen; vielmehr muß zumindest ein Kerngehalt ihrer Staatlichkeit gewahrt bleiben. Das Völkerrecht muß damit parallel zum Staatsrecht bestehen, es darf dieses zwar überformen, aber nicht ersetzen.388 Zwar greift Kant die privatrechtliche Begründung im öffentlichen Recht nicht explizit auf, aber er betont im Anschluß an die obige Verknüpfung von Privatund Völkerrecht in § 61, daß das Streben nach dem ewigen Frieden, d. h. nach einer rechtlichen Regelung des zwischenstaatlichen Verhältnisses, „eine auf der Pflicht, mithin auch auf dem Recht der Menschen und Staaten gegründete Aufgabe ist“ (§ 61, S. 474). Damit bezieht er ausdrücklich auch den einzelnen und seine Rechte ins Völkerrecht ein und betont, daß dieses nicht nur der Sicherung der Rechte des Staates, sondern auch seiner Bürger dient. Anders als in den älteren Schriften sieht er in der Metaphysik also nicht nur die Staaten, sondern auch die Menschen als Träger von Rechten und Pflichten des Völkerrechts, d. h. als Völkerrechtssubjekte.389 Auch an anderer Stelle in der Rechtslehre betont Kant, daß das Völkerrecht sich nicht nur auf die Staaten, sondern auch auf die Menschen und ihre Rechte bezieht; er schreibt bereits im ersten Paragraphen des Völkerrechts,

387

s. hierzu oben C. I. 1. b) (3) (a) (aa). In geschichtsphilosophischer Perspektive bedarf es der Existenz verschiedener Staaten, um ihren in gewissem Umfang wünschenswerten Antagonismus zu sichern, der Motor des Fortschritts und der Entwicklung der Anlagen im Menschengeschlecht ist. So fordert Kant in der Idee, daß der weltbürgerliche Zustand „nicht ohne alle Gefahr sei, damit die Kräfte der Menschheit nicht einschlafen“ (Idee S. 44). s. dazu Williams, H., Philosophy (1983), S. 251. 389 Zur heutigen Lage s. Steiger, H., Institution, S. 167. 388

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E. Aufbau des Staates

„. . . daß im Völkerrecht nicht bloß ein Verhältnis eines Staats gegen den anderen im ganzen, sondern auch einzelner Personen des einen gegen einzelne des anderen, imgleichen gegen den ganzen anderen Staat selbst in Betrachtung kommt . . .“ (§ 53, S. 466)

Allerdings erörtert Kant die Beziehungen des einzelnen zu fremden Bürgern und Staaten nicht im Völkerrecht, sondern vielmehr im Weltbürgerrecht; er spricht dort jedem Menschen das Recht zu, „die Gemeinschaft mit allen [d. h. auch denen fremder Staaten] zu versuchen, und zu diesem Zweck alle Gegenden der Erde zu besuchen, wenn es gleich nicht ein Recht der Ansiedelung auf dem Boden eines anderen Volks . . . ist . . .“ (§ 62, S. 476)390

Die Rechte des einzelnen fallen damit aber nicht aus dem Völkerrecht heraus; vielmehr bedürfen sie in einer weiteren Hinsicht der Bestimmung, die durch das Völkerrecht erfolgen muß, und zwar im Hinblick auf das Verhältnis des einzelnen zu den Organen der globalen Rechtsgemeinschaft.391 Welcher Art diese Beziehung nach Kants Auffassung sein muß, wird sich unten zeigen.392 b) Form der Verrechtlichung Kant erörtert drei prinzipiell mögliche Formen der völkerrechtlichen Verbindung: einen weltweiten Einheitsstaat, den er in Form einer Universalmonarchie anspricht,393 einen aus den bestehenden Staaten zusammengesetzten Völkerstaat, den er auch als Weltrepublik bezeichnet,394 oder einen Völkerbund, dem 390 s. auch Kants Aussagen im dritten Definitivartikel des Friedens: „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.“ Kant beschreibt es hier weiter als „das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. . . . Es ist kein Gastrecht, . . . sondern ein Besuchsrecht, . . . welches . . . sich nicht weiter erstreckt, als auf die Bedingungen der Möglichkeit, einen Verkehr mit den alten Einwohnern zu versuchen.“ (Frieden S. 213 f.) Das Weltbürgerrecht initiiert oder fördert nach Kant die Republikanisierung der zwischenstaatlichen Verhältnisse, d. h. die Entwicklung des Völkerrechts, denn es bringt auch entfernte Staaten durch seine Einwohner miteinander in Kontakt. 391 Daher ist auch die von Gerhardt, V., Entwurf (1995), S. 104, vertretene Ansicht nicht überzeugend, daß es in einer Weltrepublik des Weltbürgerrechts nicht bedürfe. Das Recht der Menschen als Weltbürger fiele nur in einem weltweiten Einheitsstaat, nicht aber einem Staatenstaat mit ihrem Recht als Staatsbürger zusammen. Ebenso kann die Auffassung von Riley, P., Philosophy (1983), S. 118 nicht überzeugen, daß die extreme Beschränkung des Weltbürgerrechts eindeutig zeigt, daß Kant die Souveränität der Staaten möglichst weitgehend bewahren wollte. Hier handelt es sich vielmehr um zwei verschiedene Fragen; im Weltbürgerrecht geht es um die Rechte von Individuen gegen fremde Staaten und Individuen, im Völkerrecht dagegen um die Rechte von Staaten und Individuen gegen den übergeordneten Staatenverbund. 392 s. unten c). 393 s. Frieden S. 225. 394 s. Frieden S. 212 f.

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kein staatlicher Charakter zukommt und den Kant auch unter dem Begriff des Föderalismus oder der Föderation erörtert.395 (1) Endziel: Völkerstaat In Übereinstimmung mit den sich aus seiner Begründung des Völkerrechts ergebenden Grundsätzen fordert Kant in allen relevanten Schriften letztlich eine Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Verhältnisse in Analogie zu jener der zwischenmenschlichen Beziehungen, d. h. in Form eines Völkerstaates. So schreibt er im Gemeinspruch am Ende des Völkerrechtskapitels: „Nun ist hierwider [gegen die Unsicherheit und Kriegsgefahr zwischen den Staaten] kein anderes Mittel, als ein auf öffentliche mit Macht begleitete Gesetze, denen sich jeder Staat unterwerfen müßte, gegründetes Völkerrecht (nach der Analogie eines bürgerlichen oder Staatsrechts einzelner Menschen) möglich . . .“ (Gemeinspruch S. 171 f.)

Die Existenz öffentlicher, von einer übergeordneten Instanz auch zwangsweise durchsetzbarer Gesetze kennzeichnet den staatlichen Zustand.396 Einen Zusammenschluß mit staatlichem Charakter fordert Kant auch in der frühesten relevanten Schrift, der Idee. Zwar spricht er hier durchgängig vom Völkerbund, aber seine näheren Erläuterungen zeigen, daß er darunter nicht ein bloßes Bündnis, sondern einen staatlichen Zusammenschluß versteht.397 So betont er, daß es den Staaten obliege, „aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinaus zu gehen, und in einen Völkerbund zu treten; wo jeder, auch der kleinste, Staat seine Sicherheit und Rechte, nicht von eigener Macht, oder eigener rechtlicher Beurteilung, sondern allein von diesem großen Völkerbunde . . ., von einer vereinigten Macht, und von der Entscheidung nach Gesetzen des vereinigten Willens, erwarten könnte.“ (Idee S. 42)

An späterer Stelle fordert Kant auch explizit einen „künftigen großen Staatskörper.“ (Idee S. 47)398 Auch im Frieden spricht sich Kant am Ende des zweiten Definitivartikels explizit für einen Völkerstaat aus: „Für Staaten, im Verhältnis unter einander, kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande . . . herauszukommen, als daß sie, eben so wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen, und so einen (freilich immer wachsenden) Völker395

s. Gemeinspruch S. 170; Frieden S. 208, 211; Metaphysik § 54, S. 467. s. etwa § 44, S. 430. 397 s. auch Höffe, O., Theoretiker (1998), S. 239. 398 Kant beschreibt diesen auch als „eine vereinigte Gewalt, . . . mithin einen weltbürgerlichen Zustand der öffentlichen Staatssicherheit“ (Idee S. 44); er ist „ein allgemeiner weltbürgerlicher Zustand“ (Idee S. 47) und damit ein Staat. 396

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E. Aufbau des Staates

staat . . ., der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden.“ (Frieden S. 212)399

Kant stellt hier klar, daß „nach der Vernunft“, d. h. nach apriorischen Prinzipien, nur eine Weltrepublik die umfassende Verrechtlichung gewährleisten kann.400 Dies betont er letztlich auch in der Metaphysik: „. . . so ist, vor dieser Ereignis [dem Verlassen des Naturzustandes zwischen den Staaten], alles Recht der Völker . . . bloß provisorisch, und kann nur in einem allgemeinen Staatenverein (analogisch mit dem, wodurch ein Volk Staat wird) peremtorisch geltend und ein wahrer Friedenszustand werden.“ (§ 61, S. 474).

Im nächsten Satz bezeichnet er diesen „allgemeinen Staatenverein“ explizit als Völkerstaat.401 In der letzten relevanten Schrift, dem Streit, sieht Kant den Endpunkt der zwischenstaatlichen Verrechtlichung ebenfalls in einer Weltrepublik: „Allmählich wird der Gewalttätigkeit von Seiten der Mächtigen weniger, der Folgsamkeit in Ansehung der Gesetze mehr werden. Es wird etwa mehr Wohltätigkeit, weniger Zank in Prozessen, mehr Zuverlässigkeit im Worthalten u.s.w., teils aus Ehrliebe, teils aus wohlverstandenen eigenen Vorteil im gemeinen Wesen entspringen, und sich endlich dies auch auf die Völker im äußeren Verhältnis gegen einander bis zur weltbürgerlichen Gesellschaft erstrecken . . .“ (Streit S. 365)

Damit stellt Kant abschließend nochmals klar, daß Ziel der Entwicklung ein globaler bürgerlicher und damit ein staatlicher Zustand ist.402 399 Angesichts dieser expliziten Aussage vermag die Annahme Brandts, daß der allgemeine Völkerstaat im Frieden nicht mehr als Lösung angesehen werde, nicht zu überzeugen (s. Brandt, R., Weltbürgerrecht (1995), insb. S. 139). 400 Hier geht er – wie oben bereits angesprochen – nicht mehr davon aus, daß sich die einzelnen Staaten beim Zusammenschluß zum Staatenstaat in diesem auflösen. 401 Daß Kant in der Metaphysik letztlich einen Völkerstaat fordert, wird nochmals am Ende der Rechtslehre, im Beschluß, deutlich: „Also ist nicht mehr die Frage: ob der ewige Friede ein Ding oder Unding sei, . . . sondern wir müssen so handeln, als ob das Ding sei, was vielleicht nicht ist, . . . und diejenige Konstitution, die uns dazu die tauglichste scheint (vielleicht den Republikanism aller Staaten samt und sonders) hinwirken, um ihn herbei zu führen, und dem heillosen Kriegführen . . . ein Ende zu machen.“ (S. 478) Der „Republikanism aller Staaten“ ist ein republikanischer, d. h. staatlicher Zusammenschluß, der zur Weltrepublik führt. Daß Kant diese Forderung durch den Zusatz „vielleicht“ einschränkt, liegt an pragmatischen Bedenken; aus pragmatischer Perspektive sieht Kant das Problem der Regierbarkeit großer Staaten und des Unwillens der einzelnen Staaten zum Souveränitätsverzicht, wie unten zu zeigen sein wird. Diese Erwägungen können die vernunftrechtliche Gebotenheit eines Völkerstaates jedoch nicht unterminieren. 402 Vgl. Kants Bestimmung des bürgerlichen Zustandes in § 44, S. 430. Daher handelt es sich hier um einen bundesstaatlichen und nicht supranationalen Zusammenschluß, denn letzterem kommt keine eigene Staatlichkeit zu. Alternativentwürfe zu einer „Verstaatlichung“ der internationalen Beziehungen legen beispielsweise Bohmann und Habermas vor. Ersterer sieht eine Verrechtlichung durch eine „kosmopolitische Öffentlichkeit“ vor, die verändernd auf die politischen Institutionen einwirken kann (s. Bohmann, J., Öffentlichkeit (1996), insb. S. 99 ff.); letzterer durch ein „Mehrebenen-

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Bezüglich des Aufbaus des Völkerstaates lassen sich Kants Ausführungen lediglich einige Grundzüge entnehmen; die über diese fundamentalen Prinzipien hinausgehende konkrete Ausgestaltung bleibt damit der politischen Klugheit überlassen.403 Da der globale Staat der Freiheits- und Rechtssicherung dient, muß er republikanisch verfaßt sein; entsprechend bezeichnet Kant ihn auch als Weltrepublik (s. Frieden S. 213). Im Streit betont Kant, daß die respublica noumenon „die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt“ ist (Streit S. 364) und damit nicht nur dem Einzel-, sondern auch dem Staatenstaat als Vorbild dient.404 Die strukturellen Elemente des Republikanismus sind die Teilung der Gewalten und die Repräsentation;405 der Völkerstaat muß sich also wie der republikanische Einzelstaat in eine eigenständige Legislative, Exekutive und Judikative aufgliedern.406 Zudem müssen seine Mitglieder in der Legislative repräsentiert werden, da nur dann ihr allgemein vereinigter Wille in den Gesetzen zum Ausdruck kommt407 und nur unter dieser Bedingung jedes Mitglied (auch) der eigenen und nicht „eines anderen nötigender Willkür“ unterworfen ist (s. S. 345). Bezüglich der Frage, wer repräsentationsberechtigtes Mitglied des Völkerstaates ist, d. h. sich zum Mitgesetzgeber qualifiziert, ergibt sich aus den unterschiedlichen Begründungsansätzen in den älteren Schriften einerseits und der Metaphysik andererseits ein entscheidender Unterschied. Während nach den ersteren lediglich die Staaten den völkerrechtlichen Gesetzen unterworfen sind und es damit nur ihrer Zustimmung zu diesen bedarf, sind nach der Metaphysik daneben auch die Individuen Völkerrechtssubjekte, so daß auch sie den vom Völkerstaat erlassenen Normen beistimmen müssen. Daher müssen und dürfen nach Kants Ansatz in den älteren Schriften lediglich die Staaten in den Organen der internationalen Organisation vertreten sein; nach seiner Auffassung in der Metaphysik dagegen müssen sowohl die Staaten als auch die Individuen direkt repräsentiert werden.408 Wie dies im einzelnen zu erfolgen hätte, läßt sich Kants Aussagen nicht entnehmen; denkbar wäre aber beispielsweise ein bikamesystem“ von Institutionen, denen auf supra- und transnationaler Ebene kein staatlicher Charakter zukommt (s. Habermas, J., Weltgesellschaft (2005), insb. S. 334 ff.). 403 Gerhardt, V., Entwurf (1995), S. 91; Höffe, O, Kontrapunkt (1990), S. 278. 404 s. Geismann, G., Weltfrieden (ZpF 37, 1983), S. 378. 405 s. dazu oben I. 1. b) (2) und II. 1. c) (2). 406 s. hierzu auch Höffe, O., Theoretiker (1998), S. 243. 407 Zur Transformationsfunktion der Repräsentation, d. h. Umwandlung des reinen Mehrheitswillens in den allgemein vereinigten Willen, s. oben II. 1. c) (2). 408 Zu dieser Verknüpfung zwischen Normunterworfenheit und Mitwirkungsrecht bei der Normgebung s. auch Delbrück, J., Organisation (1998), S. 212: „In dem Maße, wie die internationale/supranationale Autorität Hoheitsgewalt über den einzelnen Menschen ausübt, in demselben Maß muß auch Legitimation durch demokratische Mitwirkung der betroffenen Menschen vorgesehen werden.“ s. auch Bohmann, J., Öffentlichkeit (1996), S. 108 f.

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E. Aufbau des Staates

rales System mit einer die Staaten und einer die Weltbevölkerung repräsentierenden Kammer.

(2) „Negatives Surrogat“: Völkerbund Allerdings fordert Kant im Gemeinspruch, dem Frieden und der Metaphysik in scheinbarem Widerspruch zu seinen oben dargelegten Aussagen und seinen eigenen Prämissen anfangs ein bloßes Bündnis der Staaten, dem keine staatliche Macht zukommt. So betont er im Gemeinspruch, daß die durch die beständigen Kriege erzeugte Not die Staaten dazu bringen wird, „entweder in eine weltbürgerliche Verfassung zu treten; oder, ist ein solcher Zustand eines allgemeinen Friedens (wie es mit übergroßen Staaten wohl auch mehrmalen gegangen ist) auf einer anderen Seite der Freiheit noch gefährlicher, indem er den schrecklichsten Despotismus herbei führt, so muß sie diese Not doch zu einem Zustande zwingen, der zwar kein weltbürgerliches gemeines Wesen unter einem Oberhaupt, aber doch ein rechtlicher Zustand der Föderation nach einem gemeinschaftlich verabredeten Völkerrecht ist.“ (Gemeinspruch S. 169 f.)

Zwar plädiert er hier primär noch für den Eintritt in eine „weltbürgerliche Verfassung“, d. h. für einen Zusammenschluß der Staaten, der selbst mit staatlicher Gewalt ausgestattet ist; als Alternative sieht er jedoch eine Föderation, der keine eigene Staatlichkeit zukommt und die lediglich auf vertraglichen Absprachen der Mitgliedsstaaten, d. h. nicht auf zwangsweise durchsetzbaren Gesetzen, beruht. Im Frieden geht Kant noch einen Schritt weiter und führt zu Beginn des Völkerrechts allein den Völkerbund als mögliche Form des Zusammenschlusses an; er postuliert in der Überschrift des zweiten Definitivartikels: „Das Völkerrecht soll auf einen Föderalism freier Staaten gegründet sein.“ (Frieden S. 208)

Die Alternative, einen Völkerstaat, verwirft er hier explizit: „Dies wäre ein Völkerbund, der aber gleichwohl kein Völkerstaat sein müßte.“ (Frieden S. 209)

Diesen Bund beschreibt er wie folgt: „. . . so muß es einen Bund von besonderer Art geben, den man den Friedensbund (foedus pacificum) nennen kann, der vom Friedensvertrag (pactum pacis) darin unterschieden sein würde, daß dieser bloß einen Krieg, jener aber alle Kriege auf immer zu endigen suchte. Dieser Bund geht auf keinen Erwerb irgend einer Macht des Staats, sondern lediglich auf Erhaltung und Sicherung der Freiheit eines Staats, für sich selbst und zugleich anderer verbündeten Staaten, ohne daß diese doch sich deshalb (wie Menschen im Naturzustande) öffentlichen Gesetzen, und einem Zwange unter denselben, unterwerfen dürfen.“ (Frieden S. 211)

III. „Föderalismus‘‘

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Kant betont zunächst, daß der Völkerbund lediglich der gemeinsamen Verteidigung dient; dies ergibt sich zwingend bereits aus seinem Zweck, der Friedenssicherung. Zudem weist Kant auch hier darauf hin, daß der Friedensbund einen rein freiwilligen Zusammenschluß der Mitgliedsstaaten darstellt, der nicht durch Gesetze, sondern durch eine vertragliche Übereinkunft geschaffen wird. Diese kann nicht zwangsweise durchgesetzt werden, sondern ist der freiwilligen Erfüllung durch die Mitglieder anheimgestellt; damit aber kann auch der Austritt von Mitgliedern und die Auflösung des Bundes nicht verhindert werden, so daß der Friedensbund sein eigentliches Ziel, die präventive Verhinderung aller kommenden Kriege, nicht erfüllen kann. Dazu bedürfte es vielmehr einer auf Dauer angelegten und unauflösbaren Vereinigung.409 Daß das von ihm propagierte Bündnis demgegenüber eine lose Verbindung darstellt und jederzeit von den Mitgliedern aufgelöst werden kann, bringt Kant in der Metaphysik explizit zum Ausdruck, in der er ebenfalls zunächst einen bloßen Staatenbund fordert: „Die Elemente des Völkerrechts sind: . . . 3. daß ein Völkerbund, nach der Idee eines ursprünglichen gesellschaftlichen Vertrages, notwendig ist, sich zwar einander nicht in die einheimische Mißhelligkeiten derselben zu mischen, aber doch gegen Angriffe der äußeren zu schützen; 4. daß die Verbindung doch keine souveräne Gewalt (wie in einer bürgerlichen Verfassung), sondern nur eine Genossenschaft (Föderalität) enthalten müsse; eine Verbündung, die zu aller Zeit aufgekündigt werden kann, mithin von Zeit zu Zeit erneuert werden muß . . . (foedus Amphictyonum).“ (§ 54, S. 467)

Zusätzlich zum defensiven Charakter des Völkerbundes410 weist Kant hier darauf hin, daß dieser sich nicht mit den inneren Angelegenheiten der ihm angehörenden Staaten befassen darf. Die Auflösbarkeit des Bündnisses betont er auch an späterer Stelle, im letzten Paragraphen des Völkerrechts, nochmals: „Man kann einen solchen Verein einiger Staaten, um den Frieden zu erhalten, den permanenten Staatenkongreß nennen, zu welchem sich zu gesellen jedem benachbarten unbenommen bleibt . . .. Unter einem Kongreß wird hier aber nur eine willkürliche, zu aller Zeit ablösliche Zusammentretung verschiedener Staaten, nicht eine solche Verbindung, welche (so wie die der amerikanischen Staaten) auf einer Staatsverfassung gegründet, und daher unauflöslich ist, verstanden . . .“ (§ 61, S. 474 f.)

409

s. dazu auch Pinzani, A., Völkerrecht (1999), S. 240. Den rein defensiven Charakter des Bundes betont Kant auch an anderer Stelle in der Metaphysik: „Das Recht des Friedens ist . . . das . . . zu wechselseitiger Verbindung (Bundesgenossenschaft) mehrerer Staaten, sich gegen alle äußere oder innere etwanige Angriffe gemeinschaftlich zu verteidigen; nicht ein Bund zum Angreifen und innerer Vergrößerung.“ (§ 59, S. 473) 410

464

E. Aufbau des Staates

Kant bezieht sich hier ausdrücklich auf die USA und unterscheidet den dort vollzogenen Zusammenschluß mit staatlichem Charakter von dem von ihm propagierten Völkerbund. Die Argumente, die Kant für ein Bündnis statt eines mit seinen Prämissen übereinstimmenden Völkerstaates anführt, liegen auf zwei verschiedenen Ebenen. Im Gemeinspruch und Frieden versucht er zunächst, die Notwendigkeit eines föderalen Zusammenschlusses aus Freiheitsgesichtspunkten und damit aus vernunftrechtlichen Gründen abzuleiten, was ihm jedoch nicht gelingt; letztlich stehen hinter seiner Propagierung eines Bündnisses hier – wie in der Metaphysik – rein pragmatische Erwägungen. (a) Versuch der vernunftrechtlichen Begründung Zur apriorischen Begründung des Völkerbundes bedient Kant sich eines Umkehrschlusses und sucht nachzuweisen, daß ein Zusammenschluß mit staatlichem Charakter die Freiheit sowohl der Menschen als auch der Staaten verletzten würde. (aa) Freiheit der Staaten So betont er im Frieden, daß nur ein Bündnis die Freiheit der Staaten zu wahren vermag: „Nun haben wir oben gesehen: daß ein föderativer Zustand der Staaten, welcher bloß die Entfernung des Krieges zur Absicht hat, der einzige, mit der Freiheit derselben vereinbare, rechtliche Zustand sei.“ (Frieden S. 249)

Damit lehnt Kant sowohl einen weltweiten Einheitsstaat als auch einen Völkerstaat ab; als Grund führt er an, daß sich die Einzelstaaten bei einem Zusammenschluß mit staatlichem Charakter in diesem auflösen und mit ihrer Existenz auch die Fähigkeit zu autonomem, selbstbestimmtem Handeln verlieren würden: „Dies wäre ein Völkerbund, der aber gleichwohl kein Völkerstaat sein müßte. Darin aber wäre ein Widerspruch; weil ein jeder Staat das Verhältnis eines Oberen (Gesetzgebenden) zu einem Unteren (Gehorchendem, nämlich dem Volk) enthält, viele Völker aber in einem Staat nur ein Volk ausmachen würden, welches (da wir hier das Recht der Völker gegen einander zu erwägen haben, so fern sie so viel verschiedene Staaten ausmachen, und nicht in einem Staat zusammenschmelzen sollen) der Voraussetzung widerspricht.“ (Frieden S. 209)

Mit der Annahme, daß sich die einzelnen Staaten beim Zusammenschluß zu einem übergeordneten Staat unausweichlich in diesem auflösen und damit selbst liquidieren, setzt Kant den Völkerstaat mit einem globalen Einheitsstaat gleich;411 er geht hier davon aus, daß die Mitgliedsstaaten zur Schaffung einer 411

s. dazu auch Höffe, O., Völkerbund (1995), S. 127.

III. „Föderalismus‘‘

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mit eigener Staatlichkeit ausgestatteten globalen Vereinigung ihre eigene Staatsgewalt vollkommen aufgeben müssen. Während diese Überlegung bezüglich eines weltweiten Einheitsstaates zutrifft und diesen daher mit Kants Prämissen unvereinbar macht, ist das obige Argument bezüglich eines Völkerstaates nicht stichhaltig. Denn hierbei handelt es sich um einen Zusammenschluß mit bundesstaatlichem Charakter, der die Existenz der Gliedstaaten wahrt und ihnen neben dem Gesamtstaat eigene Staatlichkeit zuspricht.412 Auf die Möglichkeit einer solchen Verbindung geht Kant selbst an anderer Stelle ein, wenn er gegen Ende des zweiten Definitivartikels betont, daß ein „Völkerstaat . . . zuletzt alle Völker der Erde befassen würde“ (Frieden S. 212). Damit gibt er zu erkennen, daß dieser Staat aus den Völkern, d. h. Staaten, der Erde und nicht nur den Menschen gebildet wäre und die Völker bzw. Staaten hier als solche bestehen bleiben würden. Der mit der Errichtung einer bundesstaatlichen Ordnung einhergehende teilweise Souveränitätsverzicht413 verletzt die Freiheit der Staaten deshalb nicht,414 weil diese – wie oben bereits dargelegt – keine unbeschränkte ist, sondern nur als auf die Kompatibilität mit der Freiheit aller anderen Staaten begrenzte überhaupt denkbar ist. Dem Freiheitsrecht der Staaten korreliert wie gesehen die Pflicht, in einen staatlichen Zustand einzutreten; die Schaffung eines Völkerstaates ist daher mit der Freiheit der Staaten nicht nur vereinbar, sondern ist die unabdingbare Voraussetzung ihrer umfassenden Verwirklichung.415

412 s. Höffe, O., Theoretiker (1998), S. 240; ders., Völkerbund (1995), S. 122; LutzBachmann, M., Friedensidee (1996), S. 40 f. 413 Der scheinbare Widerspruch zum auch von Kant vertretenen Konzept der Unteilbarkeit der Souveränität [s. dazu oben D. I. 5. b) (2)] entfällt, wenn man davon ausgeht, daß die ungeteilte Souveränität nur im jeweiligen Funktionsbereich bestehen muß, denn in den ihnen übertragenen Kompetenzbereichen haben die Gliedstaaten ebenso wie der Gesamtstaat jeweils die vollständige Staatsgewalt inne. Zur Vereinbarkeit von Kants Souveränitätsbegriff mit einem engeren Zusammenschluß der Staaten s. auch Müller, J. P., Weltbürgerrecht (1999), S. 272. 414 s. auch Höffe, O., Kontrapunkt (1990), S. 272; Lutz-Bachmann, M., Friedensidee (1996), S. 42 f.; Mestmäcker, E.-J., Rechtsprinzip (1999), S. 70. 415 Daher vermag die Ansicht, daß nach Kants Prämissen in internationaler Hinsicht ein Völkerbund zur Rechtssicherung ausreicht, nicht zu überzeugen, so aber beispielsweise Gerhardt, V., Entwurf (1995), insb. S. 94 f. und 104; Riley, P., Philosophy (1983), insb. S. 116 f. Geismann, G., Weltfrieden (ZpF 37, 1983), S. 383 f., vertritt diese Meinung nicht (so aber Höffe, O., Völkerbund (1995), S. 123); zwar bezeichnet er den am Ende der Entwicklung stehenden Zusammenschluß als Völkerbund, beschreibt aber einen globalen (Nachtwächter-)Staat. Gegen die Vereinbarkeit eines Bündnisses mit Kants Konzept auch Höffe, O., Theoretiker (1998), S. 241; Kersting, W., Freiheit (1993), S. 76 f.; Lutz-Bachmann, M., Friedensidee (1996), S. 26, 39, 44.

466

E. Aufbau des Staates

(bb) Freiheit der Menschen Als zweites Argument gegen einen globalen Staat führt Kant die Bedrohung an, die ein solcher Staat für die Freiheit der Menschen darstellt. So weist er im Gemeinspruch auf die Gefahr hin, daß ein globaler Staat wegen seiner Größe zur Tyrannei entarten, d. h. seine Macht mißbrauchen und die Freiheit der Bürger unterdrücken könnte.416 Diese Befürchtung geht mit der herkömmlichen, insbesondere auch von Montesquieu vertretenen Auffassung konform, daß die Form eines Staates417 von seiner Größe abhängt, wobei ein großes Staatsgebiet der despotischen Herrschaft bedarf,418 und sich bei einer Veränderung der Größe entsprechend anpassen wird.419 Um dieser Gefahr einer tyrannischen Degeneration der globalen Staatenverbindung vorzubeugen, schlägt Kant als Ersatz für einen staatlichen Zusammenschluß eine Föderation vor, der keine eigene Staatlichkeit und damit auch keine mißbrauchsanfällige Macht zukommt. Mit einer ähnlichen Argumentation lehnt Kant auch im Frieden den Zusammenschluß aller Staaten zu einem globalen Staat ab: „Die Idee des Völkerrechts setzt die Absonderung vieler von einander unabhängiger benachbarter Staaten voraus, und, obgleich ein solcher Zustand an sich schon ein Zustand des Krieges ist . . .: so ist doch selbst dieser, nach der Vernunftidee, besser als die Zusammenschmelzung derselben, durch eine die andere überwachsende, und in eine Universalmonarchie übergehende Macht; weil die Gesetze mit dem vergrößten Umfange der Regierung immer mehr an ihrem Nachdruck einbüßen, und ein seelenloser Despotism . . . zuletzt doch in Anarchie verfällt.“ (Frieden S. 225)420 416 „. . . entweder in eine weltbürgerliche Verfassung zu treten; oder, ist ein solcher Zustand eines allgemeinen Friedens (wie es mit übergroßen Staaten wohl auch mehrmalen gegangen ist) auf einer anderen Seite der Freiheit noch gefährlicher, indem er den schrecklichsten Despotismus herbei führt, so muß sie diese Not doch zu einem Zustande zwingen, der zwar kein weltbürgerliches gemeines Wesen unter einem Oberhaupt, aber doch ein rechtlicher Zustand der Föderation nach einem gemeinschaftlich verabredeten Völkerrecht ist.“ (Gemeinspruch S. 169 f.) 417 Allerdings ist die Despotie nach Kants Konzept nicht den Staatsformen zuzurechnen, sondern ist vielmehr eine mögliche Ausprägung der Regierungsart, s. dazu oben D. I. 4. a). 418 s. etwa Montesquieu, C.-L. de, Geist (1748), Buch VIII, Kap. 19, S. 175: „Ein großes Reich setzt eine despotische Gewalt seines Herrschers voraus. Die Schnelligkeit der Entscheidungen muß die weiten Entfernungen der Orte, wohin sie gehen, ausgleichen; Furcht muß die Nachlässigkeit des Statthalters oder des Beamten in der Ferne hintanhalten, das Gesetz muß in der Hand eines Einzelnen liegen und sich unaufhörlich ändern, wie die äußeren Ereignisse, die in einem solchen Staat sich immer im Verhältnis zu seiner Größe vervielfältigen.“ 419 s. etwa Montesquieu, C.-L. de, Geist (1748), Buch VIII, Kap. 20, S. 175: „Wenn es also ein natürliches Merkmal kleiner Staaten ist, eine republikanische Staatsform zu haben, mittelgroßer, einem Monarchen zu unterstehen, und der großen Reiche, von einem Despoten beherrscht zu werden, so folgt daraus, daß der Staat, um die Prinzipien der bestehenden Regierungsform bewahren zu können, seine bisherige Größe beibehalten muß, und daß dieser Staat sein Wesen ändern wird, je nachdem sein Gebiet verengt oder ausgedehnt wird.“

III. „Föderalismus‘‘

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Kant geht auch hier davon aus, daß ein weltweiter Staat zu einem Einheitsstaat verschmelzen würde und wegen seiner Größe kaum auf ordnungsgemäßem Wege, durch Gesetze, zu regieren wäre, sondern nur mit einer starken Hand im Wege der tyrannischen Herrschaft geführt werden könnte. Anders als im Gemeinspruch hält Kant aber im Frieden selbst eine Despotie nicht für stark genug, die ganze Welt zu regieren; er geht davon aus, daß ein globaler Staat schließlich in Anarchie verfallen, d. h. die völlige Auflösung der staatlichen Strukturen und das Ende jeglicher staatlicher Herrschaft nach sich ziehen würde. Dies aber würde die Freiheit der Menschen stärker verletzen als das Leben in einem Einzelstaat, der nicht in eine internationale Rechtsordnung eingebunden ist, denn selbst im zwischenstaatlichen Naturzustand gewährleisten die einzelnen Staaten bereits die (innerstaatliche) Sicherung der Rechte und Freiheit ihrer Bürger. Ein weltumspannender (Einheits-)Staat dagegen würde diese Sicherungsinstanzen aufheben, ohne den entsprechenden Zweck selbst erfüllen zu können. Das Argument, daß ein globaler Staat unausweichlich zur Tyrannei oder Anarchie degenerieren muß und damit zwangsläufig die Freiheit seiner Bürger verletzen wird, ist aber nicht überzeugend.421 Der beschriebene Degenerationsprozeß ist kein unabwendbarer Automatismus; es ist nicht logisch undenkbar und damit a priori unmöglich, einen weltweiten Staat zu schaffen, der imstande ist, die Freiheit und Rechte seiner Mitglieder zu sichern. Die Errichtung eines stabilen und rechtmäßig verfaßten422 globalen Staates stellt lediglich ein technisches Problem dar; die mit der praktischen Ausführung verbundenen Schwierigkeiten liefern aber allenfalls ein pragmatisches Argument gegen einen weltweiten Staat, ohne diesen prinzipiell zu diskreditieren.423 Zwar gibt es historische Beispiele, die für eine Entwicklung von großen Staaten zu Tyranneien sprechen; auf diese beruft sich Kant im Gemeinspruch, wenn er schreibt: „wie es mit übergroßen Staaten wohl auch mehrmalen gegangen ist“ (Gemeinspruch S. 169). Aber empirische, aus der Erfahrung abgeleitete Tatsachen können nicht zur Grundlage der apriorischen Gesetze gemacht werden; in der Metaphysik betont Kant ausdrücklich: 420 Zwar sieht Kant die vollständige Fusion der Staaten hier nicht durch einen freiwilligen Zusammenschluß, sondern das hegemoniale Streben eines Staates bedingt, aber die gleichen Überlegungen würden auch für eine auf freiwilliger Basis eingegangene Vereinigung zu einem globalen Staat gelten. 421 So auch Pinzani, A., Völkerrecht (1999), S. 252. 422 Zum Unterschied zwischen rechtmäßig und bloß rechtlich verfaßten Staaten s. oben D. I. 5. a). 423 s. hierzu auch Höffe, O., Theoretiker (1998), S. 237 f. Die Gefahr des Mißbrauchs von Macht besteht immer und würde damit nicht nur gegen einen globalen, sondern auch gegen die Errichtung des Einzelstaates sprechen, s. Höffe, O., Kontrapunkt (1990), S. 274.

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E. Aufbau des Staates

„Die Belehrung in ihren Gesetzen [der Lehren der Sittlichkeit] ist nicht aus der . . . Wahrnehmung des Weltlaufs geschöpft, von dem, was geschieht und wie gehandelt wird . . ., sondern die Vernunft gebietet, wie gehandelt werden soll, wenn gleich noch kein Beispiel davon angetroffen würde . . .“ (S. 320 f.)424

Daher kann auch der historisch untermauerte Verweis auf die Tendenz großflächiger Staaten zur Tyrannei oder Anarchie nicht die prinzipielle Forderung begründen, einen großen und damit auch einen globalen Staat zu vermeiden. (b) Eigentlicher Grund: Pragmatische Probleme Damit sind die eigentlichen Gründe, aus denen Kant sich für ein Bündnis ausspricht, nicht vernunftrechtlicher, sondern pragmatischer Art; die auf Freiheitsgesichtspunkte rekurrierenden Argumente widerlegen die Notwendigkeit eines Völkerstaates nicht. (aa) Unregierbarkeit eines globalen Staates Dies bringt auch Kant letztlich zum Ausdruck; so zieht er das Problem der Unregierbarkeit großer Staaten in der Metaphysik nicht mehr als apriorisches Argument heran wie noch im Frieden, sondern läßt erkennen, daß es sich hier um eine pragmatische Erwägung handelt. Denn während er in der älteren Schrift angibt, selbst der Naturzustand zwischen den Staaten sei „nach der Vernunftidee, besser als die Zusammenschmelzung derselben“ (Frieden S. 225), die er im Völkerstaat gegeben sieht (s. Frieden S. 209), schreibt er in der Metaphysik im Anschluß an seine Forderung nach einem „allgemeinen Staatenverein (analogisch mit dem, wodurch ein Volk Staat wird)“ (§ 61, S. 474): „Weil aber, bei gar zu großer Ausdehnung eines solchen Völkerstaats über weite Landstriche, die Regierung desselben, mithin auch die Beschützung eines jeden Gliedes endlich unmöglich werden muß . . .: so ist der ewige Friede . . . freilich ein unausführliche Idee. Die politische Grundsätze aber, die darauf abzwecken, . . . sind es nicht . . .“ (§ 61, S. 474)

Kant unterscheidet hier zwischen der vernunftrechtlichen Ebene, der Idee des ewigen Friedens, die durch den Völkerstaat verwirklicht werden muß, und der Ausführbarkeit dieser Idee, die auf pragmatischer Ebene liegt. Zudem weist er darauf hin, daß das pragmatische Argument der Unregierbarkeit die Pflicht zur Schaffung völkerrechtlicher Regelungen nicht zu unterminieren vermag – damit kann es jedoch auch den nach der Begründung des Völkerrechts notwendigen Völkerstaat nicht prinzipiell diskreditieren. Auch an späterer Stelle betont Kant im Hinblick auf den zunächst von ihm propagierten Staatenkongreß: 424

321.

s. dazu oben D. I. 5. e) (3). s. auch die weiteren Aussagen Kants auf S. 319–

III. „Föderalismus‘‘

469

„. . . durch welchen allein die Idee eines zu errichtenden öffentlichen Rechts der Völker, ihre Streitigkeiten auf zivile Art, gleichsam durch einen Prozeß, nicht auf barbarische . . ., nämlich durch Krieg zu entscheiden, realisiert werden kann.“ (§ 61, S. 475)

Dies zeigt ebenfalls, daß er sich aus reinen Machbarkeitserwägungen für den Völkerbund ausspricht. Zudem spricht das Argument der Unregierbarkeit nach Kants Aussagen in der Metaphysik nicht nur gegen einen Völkerstaat, sondern auch gegen den von ihm propagierten Völkerbund. Denn zu Beginn von § 61 schreibt er: „. . . alles Recht der Völker . . . kann nur in einem allgemeinen Staatenverein . . . peremtorisch . . . werden.“ (§ 61, S. 474; meine Hervorhebung). Mit der Bezeichnung als allgemein fordert er hier einen universalen, globalen Staatenverein. Anschließend weist er auf dessen Unregierbarkeit hin und fordert ein auch als Kongreß bezeichnetes bloßes Bündnis: „Man kann einen solchen Verein einiger Staaten, um den Frieden zu erhalten, den permanenten Staatenkongreß nennen . . .“ (meine Hervorhebung) (§ 61, S. 474). Damit scheint Kant hier einzugestehen, daß das Problem der weltweiten Administration nicht nur einen globalen Staatenstaat, sondern auch einen solchen Völkerbund unmöglich macht und damit gar keine Möglichkeit einer universalen Verrechtlichung besteht. Denn das bezüglich des Weltstaates vorgebrachte Argument, daß „eine Menge solcher Korporationen aber wiederum einen Kriegszustand herbeiführt“ (§ 61, S. 474), gilt auch bezüglich mehrerer Bündnisse. Damit zeichnet sich in den verschiedenen Schriften eine Entwicklung ab: während Kant im Gemeinspruch noch davon ausgeht, daß ein globaler Staat regierbar wäre, wenn auch nur im Wege der despotischen Herrschaft, nimmt er im Frieden an, daß dies zumindest auf Dauer nicht möglich ist, sondern lediglich ein weltweites Bündnis in Frage kommt. In der Metaphysik dagegen hält er nicht einmal einen globalen Völkerbund für durchsetzbar. Er gesteht hier also ein, daß auch die von ihm propagierte Form des Zusammenschlusses die umfassende Verrechtlichung nicht gewährleisten kann.

(bb) Mangelnde Bereitschaft der Staaten zum Souveränitätsverzicht Auch im Frieden bringt Kant letztlich zum Ausdruck, daß seine Propagierung des Völkerbundes auf pragmatischen Erwägungen und nicht auf vernunftrechtlichen Argumenten beruht; hier verweist er auf das Problem, daß die Staaten nicht zu Souveränitätsverzichten bereit sind: „Da sie dieses aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in hypothesi verwerfen, so kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden, und sich immer ausbreitenden

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E. Aufbau des Staates

Bundes den Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten, doch mit beständiger Gefahr ihre Ausbruchs . . .“ (Frieden S. 212 f.)425

Damit vollzieht Kant einen Perspektivenwechsel; er verläßt die normative Argumentationsebene und wendet sich der auf der faktischen Ebene liegenden Frage der Ausführbarkeit zu.426 Um angesichts der Weigerung der Staaten zum Souveränitätsverzicht die gebotene Stiftung eines internationalen rechtlichen Zustandes nicht völlig aufgeben zu müssen, muß als „negatives Surrogat“, d. h. als minderwertiger Ersatz, wenigstens ein Völkerbund geschlossen werden. Dieser stellt Prinzipien zur Regelung des zwischenstaatlichen Verhältnisses auf, die zwar nicht zwangsweise durchsetzbar, aber deshalb auch mit keinem Souveränitätsverlust verbunden sind und daher von den Staaten eher akzeptiert werden. Damit ist der Völkerbund ein erster Schritt zur Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Verhältnisse und aus dem internationalen Naturzustand heraus: „Die Bedingung der Möglichkeit eines Völkerrechts überhaupt ist: daß zuvörderst ein rechtlicher Zustand existiere. Denn ohne diesen gibt’s kein öffentliches Recht, sondern alles Recht, was man sich außer demselben denken mag (im Naturzustande), ist bloß Privatrecht.“ (Frieden S. 249)427

Während im Naturzustand zur Konfliktlösung nur auf Gewalt zurückgegriffen werden kann, besteht in einem rechtlichen Zustand die Möglichkeit, Streitigkeiten auf rechtsförmigem Wege zu lösen. Allerdings ist der durch den Völkerbund geschaffene Rechtszustand nur provisorisch; wegen der fehlenden Erzwingbarkeit der ihm zugrundeliegenden Vereinbarungen vermindert ein Bündnis die Gefahr von Streitigkeiten und Kriegen allenfalls, ohne diese völlig auszuschließen. Kant stellt am Ende des zweiten Definitivartikels eindeutig klar, daß ein Völkerbund letztlich nicht ausreicht und 425 Das gleiche Argument führt Kant auch im Gemeinspruch an; im Anschluß an seine abschließende Forderung einer Weltrepublik betont er: „,Aber solchen Zwangsgesetzen, wird man sagen, werden sich Staaten doch nie unterwerfen; und der Vorschlag zu einem allgemeinen Völkerstaat, unter dessen Gewalt sich alle einzelne Staaten freiwillig bequemen sollen, um seinen Gesetzen zu gehorchen, mag in der Theorie eines Abt von St. Pierre, oder eines Rousseau, noch so artig klingen, so gilt er doch nicht für die Praxis . . .‘“ (Gemeinspruch S. 172) 426 s. auch Höffe, O., Theoretiker (1998), S. 240 f.; Lutz-Bachmann, M., Friedensidee (1996), S. 43. 427 Dies betont Kant auch an anderer Stelle im Frieden: „Nur unter Voraussetzung irgend eines rechtlichen Zustandes . . . kann von einem Völkerrecht die Rede sein, . . . und dieser status iuridicus muß aus irgend einem Vertrage hervorgehen, der nicht eben (gleich dem, woraus ein Staat entspringt) auf Zwangsgesetze gegründet sein darf [lies: muß], sondern allenfalls auch der einer fortwährend-freien Assoziation sein kann, wie der oben erwähnte der Föderalität verschiedener Staaten. Denn ohne irgend einen rechtlichen Zustand, . . . mithin im Naturstande, kann es kein anderes als bloß ein Privatrecht geben.“ (Frieden S. 246 f.)

III. „Föderalismus‘‘

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die ,positive Idee‘, d. h. das anzustrebende Ideal, ein Völkerstaat ist.428 Das Bemühen um seine Verwirklichung ist Pflicht, und zwar unabhängig davon, ob ein derartiger rechtlicher Zustand tatsächlich erreichbar ist oder nicht:429 „Auf die Art garantiert die Natur, durch den Mechanism in den menschlichen Neigungen selbst, den ewigen Frieden; freilich mit einer Sicherheit, die nicht hinreichend ist, die Zukunft desselben (theoretisch) zu weissagen, aber doch in praktischer Absicht zulangt, und es zur Pflicht macht, zu diesem (nicht bloß schimärischen) Zwecke hinzuarbeiten.“ (Frieden S. 226 f.)

Die Idee des Völkerstaates hat damit eine kriteriologische Funktion; sie stellt in Analogie zum Staatsrecht die völkerrechtliche respublica noumenon dar. Auch in der Metaphysik sieht Kant den Völkerbund als Zwischenschritt auf dem Weg zur umfassenden Verrechtlichung: „Die politischen Grundsätze aber, die darauf abzwecken, nämlich solche Verbindungen der Staaten einzugehen, als zur kontinuierlichen Annäherung zu demselben dienen, sind es nicht [d. h. nicht unausführbar], sondern, so wie diese eine auf der Pflicht, mithin auch auf dem Recht der Menschen und Staaten gegründete Aufgabe ist, allerdings ausführbar.“ (§ 61, S. 474)

Um dieser Pflicht nachzukommen, müssen die Staaten sich zu Vereinigungen zusammenschließen, die – anders als der Völkerstaat – den ewigen Frieden zwar nicht umfassend verwirklichen können, aber wenigstens im Wege der Approximation auf ihn hinwirken, d. h. zumindest teilweise eine friedensfördernde Wirkung haben. Diese Staatenverbindungen bleiben damit hinter dem Ideal des Völkerstaates zurück, aber sie transformieren die unerreichbare noumenale Idee in eine – wenn auch defiziente – phaenomenale Form und stellen damit in der Terminologie des Friedens die negativen Surrogate des Völkerstaates dar. (c) Evolutionärer Prozeß Der Prozeß der zwischenstaatlichen Verrechtlichung verläuft also insofern parallel zum innerstaatlichen: 430 in beiden Fällen wird zunächst ein noch defizi428 Zwar kommt er am Ende des Anhangs II im Frieden nochmals auf die Völkerbundforderung zurück und bezeichnet ihn hier als a priori begründet: „Nun haben wir oben gesehen: daß ein föderativer Zustand der Staaten, welcher bloß die Entfernung des Krieges zur Absicht hat, der einzige, mit der Freiheit derselben vereinbare, rechtliche Zustand sei. Also ist die Zusammenstimmung der Politik mit der Moral nur in einem föderativen Verein (der also nach Rechtsprinzipien a priori gegeben und notwendig ist) möglich, und alle Staatsklugheit hat zur rechtlichen Basis die Stiftung des ersteren, in ihrem größt-möglichen Umfange . . .“ (Frieden S. 249). Aber wie oben dargelegt, trifft dies nicht zu, und Kant stellt dies im 2. Definitivartikel und damit im Haupttext auch deutlich heraus. 429 s. hierzu Freudenberg, G., Frieden (ZeE 11, 1967). 430 s. auch Jaspers, K., Frieden (1958), S. 124; Williams, H., Philosophy (1983), S. 244 f.

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E. Aufbau des Staates

enter rechtlicher Zustand als erster Schritt aus dem Naturzustand heraus akzeptiert. Auf einzelstaatlicher Ebene handelt es sich dabei um die bereits bestehenden vorrepublikanischen Staaten, auf internationaler Ebene um den – hier allerdings noch zu schaffenden – Völkerbund. (aa) Kein zwangsweiser Zusammenschluß Bezüglich des ersten Schrittes, der Schaffung des Völkerbundes, besteht jedoch ein Unterschied zwischen der Verrechtlichung zwischen Staaten und jener zwischen Menschen; während letztere ein Recht haben, einander zum Eintritt in einen rechtlichen Zustand, d. h. den Staat, zu nötigen,431 kann ein solches Recht den einzelnen Staaten nicht zustehen,432 wie Kant im Frieden explizit betont: „Da . . . gleichwohl aber von Staaten, nach dem Völkerrecht, nicht eben das gelten kann, was von Menschen im gesetzlosen Zustande nach dem Naturrecht gilt, ,aus diesem Zustande herausgehen zu sollen‘ (weil sie, als Staaten innerlich schon eine rechtliche Verfassung haben, und also dem Zwange anderer, sie nach ihren Rechtsbegriffen unter eine erweiterte gesetzliche Verfassung zu bringen, entwachsen sind), . . .“ (Frieden S. 210 f.)

Kant verwirft hier nicht die Verpflichtung der Staaten zur rechtlichen Regelung ihrer Beziehungen, wie es zunächst scheinen könnte, denn im folgenden betont er ausdrücklich, daß die Staaten zum Verlassen des Naturzustandes verpflichtet sind;433 vielmehr lehnt er die zwangsweise Durchsetzung dieser Pflicht durch andere Staaten ab, insbesondere die Erzwingung des Eintritts in eine „erweiterte gesetzliche Verfassung“, d. h. einen staatlichen Zustand. Der zwischenstaatliche Verrechtlichungsprozeß kann deshalb nur auf freiwilliger Basis erfolgen, weil die einzelnen Staaten intern bereits rechtlich (wenn 431 „Der Mensch aber (oder das Volk) im bloßen Naturstande . . . lädiert mich schon durch eben diesen Zustand, indem er neben mir ist, . . . und ich kann ihn nötigen, entweder mit mir in einen gemeinschaftlich-gesetzlichen Zustand zu treten, oder aus meiner Nachbarschaft zu weichen.“ (Frieden S. 203, Anmerkung). s. auch Kants Bejahung eines solchen Rechts in der Metaphysik; § 8, S. 366 und § 9, S. 366. 432 Zwar geht Jaspers, K., Frieden (1958), S. 104, davon aus, daß Kant das obige Zitat auf die Staaten bezieht, d. h. ihnen damit ein Zwangsrecht zur Verrechtlichung zuspricht; dies erscheint jedoch nicht überzeugend, da Kant schreibt „ich kann ihn nötigen“ (meine Hervorhebung) und sich damit nur auf den zuvor erwähnten Menschen, nicht aber das zusätzlich erwähnte Volk bezieht. Zudem spricht er hier in der ersten Person Singular, geht also auf die individuelle Perspektive ein. Jaspers selbst geht davon aus, daß das Verständnis, das er dem Satz beilegt, Kants Prinzipien widerspricht. Gegen eine Geltung des Zitates für Staaten auch Ebbinghaus, J., Kriegsschuldfrage (1929), S. 34, Fn. 1; Geismann, G., Weltfrieden (ZpF 37, 1983), S. 376, Fn. 56a; Kersting, W., Freiheit (1993), S. 73. 433 „. . . indessen daß doch die Vernunft . . . den Krieg als Rechtsgang schlechterdings verdammt, den Friedenszustand dagegen zur unmittelbaren Pflicht macht, welcher doch, ohne einen Vertrag der Völker unter sich, nicht gestiftet oder gesichert werden kann: – so muß es einen Bund von besonderer Art geben . . .“ (Frieden S. 211)

III. „Föderalismus‘‘

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auch nicht unbedingt rechtmäßig)434 verfaßt sind, wie Kant im obigen Zitat betont; sie stellen – anders als die Individuen im Naturzustand – bereits rechtssichernde Instanzen dar und garantieren zumindest bis zu einem gewissen Grad die Freiheit ihrer Bürger. Diese Funktion und damit auch die Rechte der Bürger würden durch einen unfreiwilligen Zusammenschluß gefährdet,435 denn eine solche Verbindung würde auf den subjektiven Rechtsanschauungen des den anderen nötigenden Staates basieren: Kant betont, daß die Staaten in diesem Fall andere „nach ihren Rechtsbegriffen unter eine erweiterte gesetzliche Verfassung zu bringen“ suchen (meine Hervorhebung). Diese Aufoktroyierung fremder Rechtsvorstellungen könnte bei einer Rückwirkung auf die innerstaatlichen Verhältnisse zu Rückschritten in der bereits erreichten Verrechtlichung führen.436 Eine solche Rückwirkung wäre zwar vor allem bei dem hier von Kant angesprochenen Zusammenschluß zum Völkerstaat zu befürchten, da dieser zwangsbewehrte Gesetze erlassen kann, die im Mitgliedsstaat unmittelbare Geltung besitzen;437 das gleiche Argument spricht jedoch auch gegen die Aufoktroyierung eines Völkerbundes. Zwar wären die ihm zugrundeliegenden Vereinbarungen vom Bündnis selbst nicht erzwingbar, aber die entsprechenden Verpflichtungen wären geschaffen, und es wäre nicht ausgeschlossen, daß sich der zum Eintritt nötigende Staat eine Vormachtstellung in diesem anmaßen und die anderen Staaten auch in der Folgezeit weiter zur Beachtung des Bündnisvertrages zwingen könnte. Die Unzulässigkeit eines unfreiwilligen völkerrechtlichen Zusammenschlusses zeigt sich auch an der Unvereinbarkeit dieses Vorhabens mit der transzendentalen Formel des öffentlichen Rechts, die lautet: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“ (Frieden S. 245)

Denn die Maxime, andere Staaten mit Zwangsmitteln dazu zu bringen, sich einer nach den eigenen Vorstellungen gestalteten Staatenverbindung anzuschließen, würde bei ihrem Bekanntwerden zum präventiven Tätigwerden der anderen Staaten führen, um dies gänzlich zu verhindern oder das eigene Konzept des Zusammenschlusses durchzusetzen. Damit aber würde die Publizität der Maxime ihren Zweck vereiteln. Mit der Ablehnung von Zwang als Mittel der Verrechtlichung spricht Kant sich insbesondere auch gegen den Einsatz militärischer Gewalt aus; das Ziel, 434 Zur Unterscheidung zwischen rechtlicher und rechtmäßiger Verfassung s. oben D. I. 5. a). 435 s. Geismann, G., Weltfrieden (ZpF 37, 1983), S. 367 f. und 380; Kersting, W., Freiheit (1993), S. 79. 436 Geismann, G., Weltfrieden (ZpF 37, 1983), S. 367. 437 Zu diesem Unterschied zwischen einem Bündnis und einem Staat s. Friedrich, C. J., Paix (AdPP 4, 1962), S. 151, der auch auf die Bedeutung dieser Frage im Federalist hinweist [s. dazu unten 2 a)]; Riley, P., Philosophy (1983), S. 116.

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E. Aufbau des Staates

die Republikanisierung voranzutreiben, kann einen Krieg nicht legitimieren. Dies gilt sowohl für die zwischen- als auch für die innerstaatliche Verrechtlichung, zu deren Förderung Kant nicht nur interne Gewalt in Form von Revolutionen untersagt,438 sondern auch externe Gewalt in Form der Intervention fremder Staaten. Dies betont er im fünften Präliminarartikel: „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen.“ (Frieden S. 199)

Auch die Kolonisation als Mittel zur Schaffung eines rechtlichen Zustandes zwischen verschiedenen Völkern lehnt Kant dezidiert ab. Er verneint die Frage, „ob, wenn uns . . . unser eigener Wille in Nachbarschaft mit einem Volk bringt, welches keine Aussicht zu einer bürgerlichen Verbindung mit ihm verspricht, wir nicht, in der Absicht, diese zu stiften und diese Menschen (Wilde) in einen rechtlichen Zustand zu versetzen (wie etwa die amerikanischen Wilden, die Hottentotten, die Neuholländer), befugt sein sollten, allenfalls mit Gewalt, oder (welches nicht viel besser ist) durch betrügerischen Kauf, Kolonien zu errichten und so Eigentümer ihre Bodens zu werden, und ohne Rücksicht auf ihren ersten Besitz, Gebrauch von unserer Überlegenheit zu machen.“ (§ 15, S. 377)

Diese Art des Bodenerwerbs ist unrecht, da das entsprechende Land bereits von den Ureinwohnern in Besitz genommen und provisorisch erworben wurde. Das hierdurch erworbene Recht der Einwohner kann auch nicht durch Zweckmäßigkeitserwägungen ausgehebelt werden; so kann die Kolonisierung beispielsweise nicht durch die Überlegung gerechtfertigt werden, daß dadurch ungenutztes Land nutzbar gemacht werden und „zivilisierte“ Menschen dort angesiedelt werden könnten. Sowohl die gewaltsame Verdrängung als auch der betrügerische Aufkauf von Land mißachten das provisorische Eigentum der Ureinwohner und sind daher unrecht. Kant sieht eine solche Kolonisation als „verwerflich“ (§ 15, S. 377) an. Anders als im Frieden scheint Kant den Staaten in der Metaphysik jedoch auf den ersten Blick ein Recht zur zwangsweisen Etablierung eines Völkerbundes zuzusprechen. Denn er betont in § 53, daß im Völkerrecht „ein Staat . . . gegen einen anderen im Zustande der natürlichen Freiheit . . . betrachtet, . . . teils das [Recht], einander zu nötigen, aus diesem Kriegszustande herauszugehen, mithin eine den beharrlichen Frieden gründende Verfassung, d. i. das Recht nach dem Kriege zur Aufgabe macht.“ (§ 53, S. 466)

Auch aus den beiden folgenden Paragraphen scheint sich ein solches Recht zu ergeben, denn in § 54 schreibt Kant am Ende, der föderale Bund sei „ein Recht, in subsidium eines anderen und ursprünglichen Rechts“, und dieses benennt er in § 55:

438

Zu Kants Verwerfung des Revolutionsrechts s. oben D. I. 5.

III. „Föderalismus‘‘

475

„Bei jenem ursprünglichen Rechte zum Kriege freier Staaten gegen einander im Naturzustande (um etwa einen dem rechtlichen sich annähernden Zustand zu stiften) . . .“ (§ 54, S. 467)

Bei näherer Betrachtung ergibt sich jedoch ein anderes Bild, denn im obigen Zitat aus § 53 setzt Kant das Recht zur Nötigung bezeichnenderweise nicht mit dem Recht zum, sondern dem Recht nach dem Krieg gleich,439 und dieses erläutert er in § 58 wie folgt näher: „Das Recht nach dem Kriege, d. i. im Zeitpunkte des Friedensvertrags und in Hinsicht auf die Folgen desselben, besteht darin: der Sieger macht die Bedingungen, . . . und zwar nicht gemäß irgend einem vorzuschützenden Recht, . . . sondern, indem er diese Frage auf sich beruhen läßt, sich stützend auf seine Gewalt.“ (§ 58, S. 471 f.)

Damit aber bezieht sich das in § 53 erwähnte Recht, den anderen zum Ausgang aus dem Kriegszustand zu nötigen, nur auf den aktuellen Krieg und nicht den strukturell bedingten Kriegszustand, sprich den Naturzustand. Kant setzt das Recht nach dem Krieg in § 53 mit der Aufgabe gleich, „eine den beharrlichen Frieden gründende Verfassung“ zu schaffen (s. § 53, S. 466); damit verpflichtet er den Sieger, von seinem Recht zur Festlegung der Bedingungen des Friedensvertrages keinen willkürlichen, sondern vernünftigen Gebrauch zu machen und die Bedingungen so zu gestalten, daß man dieser friedlichen Verfassung einen Schritt näherkommt. Dazu würde insbesondere die Schaffung eines Völkerbundes beitragen. In dieser – und nur in dieser – Situation wäre damit der Zwang zum Beitritt in einen Völkerbund zulässig, da der Sieger auf seine bloße Gewalt gestützt dem Besiegten auch andere Bedingungen aufoktroyieren könnte440 und der Eintritt in ein Bündnis demgegenüber vernunftgeboten ist; der Sieger hat bei dieser Forderung also das Recht auf seiner Seite. Insofern stellt der Krieg in geschichtsphilosophischer Hinsicht eine Chance für Verbesserungen dar.441 Auch die Aussagen in §§ 54 und 55 legitimieren einen Krieg nicht im Hinblick auf den dadurch zu erreichenden Rechtsfortschritt. Denn wie Geismann unterstreicht, weist die Formulierung „etwa“ in § 55 auf den vorläufigen, hypothetischen Charakter des genannten Grundes hin, und in § 56, in dem Kant näher auf das Recht zum Krieg eingeht, stellt er klar, daß dieses Recht nur bei Aggressionen oder Bedrohungen gegeben ist. Damit verwirft er den zunächst hypothetisch angesprochenen Grund der Friedensförderung.442

439 440 441 442

So auch Geismann, G., Weltfrieden (ZpF 37, 1983), S. 376, Fn. 56a. Die unzulässigen Bedingungen stellt Kant in § 58 vor, s. S. 472. Zu Kants positiver Beurteilung des Krieges in dieser Perspektive s. oben a) (1). Geismann, G., Weltfrieden (ZpF 37, 1983), S. 376, Fn. 56a.

476

E. Aufbau des Staates

(bb) Friedensfördernde Faktoren Wie die innerstaatliche kann auch die zwischenstaatliche Verrechtlichung nach Vernunftprinzipien nur auf friedlichem, evolutivem Wege vonstatten gehen;443 Kant fordert eine sukzessive Expansion des föderalen Systems.444 Zu seiner Ausbreitung tragen zwei Faktoren bei: zum einen der Pflichtcharakter dieses Prozesses und zum anderen die Natur.445 Kant geht davon aus, daß die Menschen ihre moralischen Pflichten intuitiv wahrnehmen (können) und ihr Handeln zu einem gewissen Grad von ihrem moralischen Bewußtsein gesteuert wird; er weist in der Metaphysik darauf hin, daß jeder Mensch eine Metaphysik der Sitten „obzwar gemeiniglich nur auf dunkle Art in sich“ hat (s. S. 321). Daß diese moralische Empfindung das Handeln der Menschen auch tatsächlich zu bestimmen vermag, sieht er bezüglich der Pflicht zur zwischenstaatlichen Verrechtlichung im Frieden dadurch belegt, daß sich die politischen Akteure selbst im Krieg als der Negation des Rechtszustandes noch auf das Recht berufen:446 „Bei der Bösartigkeit der menschlichen Natur, die sich im freien Verhältnis der Völker unverhohlen blicken läßt . . ., ist es doch zu verwundern, daß das Wort Recht aus der Kriegspolitik noch nicht als pedantisch ganz hat verwiesen werden können, und sich noch kein Staat erkühnet hat, sich für die letztere Meinung öffentlich zu erklären; denn noch werden Hugo Grotius, Pufendorf, Vattel u. a. m. . . . immer treuherzig zur Rechtfertigung eines Kriegsangriffs angeführt . . . Diese Huldigung, die jeder Staat dem Rechtsbegriff (wenigsten den Worten nach) leistet, beweist doch, daß eine noch größere, ob zwar zur Zeit schlummernde, moralische Anlage im Menschen anzutreffen sei, über das böse Prinzip in ihm . . . doch einmal Meister zu werden . . .“ (Frieden S. 210)447

Die Bereitschaft zur Befolgung der moralischen Pflichten wird durch die Aufklärung gefördert, die auch die innerstaatliche Republikanisierung vorantreibt;448 zwischen dieser und der zwischenstaatlichen Verrechtlichung besteht

443

s. auch Williams, H., Philosophy (1983), S. 245 und 247. s. Frieden S. 213: „. . . so kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden, und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten . . .“ 445 So betont Kant etwa im Gemeinspruch: „Ich meinerseits vertraue dagegen doch auf die Theorie, die von dem Rechtsprinzip ausgeht, wie das Verhältnis unter Menschen und Staaten sein soll, und die den Erdengöttern die Maxime anpreiset, in ihren Streitigkeiten jederzeit so zu verfahren, daß ein solcher allgemeiner Völkerstaat dadurch eingeleitet werde, und ihn also als möglich (in praxi), und daß er sein kann, anzunehmen; – zugleich aber auch (in subsidium) auf die Natur der Dinge, welche dahin zwingt, wohin man nicht gerne will . . .“ (Gemeinspruch S. 172). s. auch Riley, P., Philosophy (1983), S. 115; Williams, H., Philosophy (1983), S. 244. 446 Im einzelnen s. dazu Gerhardt, V., Entwurf (1995), S. 98–100. 447 s. auch seine Ausführungen im Frieden, Anhang I, S. 238. 444

III. „Föderalismus‘‘

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damit ein Zusammenhang. Kant geht davon aus, daß die letztere von der ersteren abhängig ist und sich die internationale Republikanisierung nur auf der Basis republikanischer Staaten vollziehen kann.449 Entsprechend nennt er im ersten Definitivartikel als primäre Bedingung des ewigen Friedens die republikanische Verfassung des Staates (s. Frieden S. 204). Denn Staaten, die auf den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Selbständigkeit ihrer Mitglieder basieren, werden zum einen eher bereit sein, sich zur umfassenden Sicherung dieser Rechte gemeinsamen Regeln zu unterwerfen; zum anderen sind sie nach Kants Ansicht friedensgeneigter, weil hier die Bürger, die die Lasten des Krieges zu tragen haben, selbst über seinen Ausbruch entscheiden.450 Andererseits ist auch die innerstaatliche von der zwischenstaatlichen Republikanisierung abhängig, da sie erst in einer globalen republikanischen Ordnung umfassend gesichert ist. Als Ausgangspunkt der föderalen Entwicklung kann bereits ein einziger republikanischer Staat dienen, dem sich weitere anschließen: „Die Ausführbarkeit (objektive Realität) dieser Idee der Föderalität, die sich allmählich über alle Staaten erstrecken soll, und so zum ewigen Frieden hinführt, läßt sich darstellen. Denn wenn das Glück es so fügt: daß ein mächtiges und aufgeklärtes Volk sich zu einer Republik (die ihrer Natur nach zum ewigen Frieden geneigt sein muß) bilden kann, so gibt diese einen Mittelpunkt der föderativen Vereinigung für andere Staaten ab, um sich an sie anzuschließen, und so den Freiheitszustand der Staaten, gemäß der Idee des Völkerrechts, zu sichern, und sich durch mehrere Verbindungen dieser Art nach und nach immer weiter auszubreiten.“ (Frieden S. 211 f.).

Kant geht davon aus, daß auf der Grundlage republikanischer Staaten, zu denen sich zu seinen Lebzeiten Frankreich und die USA entwickelten, zunächst mehrere sich ausweitende Völkerbünde entstehen, die sich aber – da er letztlich ei-

448 s. auch Riley, P., Philosophy (1983), S. 119; Williams, H., Philosophy (1983), S. 244. Zu ihrer Rolle für die innerstaatliche Republikanisierung s. oben D. I. 4. b). 449 s. Kersting, W., Freiheit (1993), S. 77; Mestmäcker, E.-J., Rechtsprinzip (1999), S. 71; Williams, H., Philosophy (1983), S. 253. 450 s. hierzu Kants Ausführungen im ersten Definitivartikel: „Wenn . . . die Beistimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, ,ob Krieg sein solle, oder nicht‘, so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten . . ., sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen . . .“ (Frieden S. 205 f.) Diese Annahme Kants wird durch empirische Daten insoweit bestätigt, als liberal-demokratische Staaten (bisher) untereinander nicht Krieg führen, s. dazu Doyle, M.W., Legacies (PPA 12, 1983), insb. S. 213–217, 232, 349; Rittberger, V., Friedensfähigkeit (PuZ 37, 2, 1987), S. 9 f. Gegenüber anderen, nicht liberal-demokratischen politischen Systemen stellen sie sich jedoch nicht als friedensgeneigter dar, s. Doyle, M.W., a. a. O., S. 225; Rittberger, V., a. a. O., S. 11. Eine Erklärung für dieses Phänomen liefert Czempiel, E.-O., Theorem (ZIB 3, 1996), S. 79 ff.; ders., Beziehungen (1996), S. 300 ff. Zu Czempiels Verständnis s. Schmidt, H., Beziehungen (ZIB 3, 1996), S. 103 ff. Kritisch zur These der Friedensgeneigtheit von Republiken etwa Höffe, O., Ausblick (1995), S. 254 f. (m.w. N.).

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E. Aufbau des Staates

nen einzigen Völkerbund fordert – schließlich auch untereinander zu einem globalen Bündnis vereinigen müssen. Dieser Prozeß wird durch die Natur gefördert,451 die die Menschen und Staaten durch die „ungesellige Geselligkeit“ (Idee S. 37) zu Konflikten und durch die dadurch erzeugte Not zur rechtlichen Regelung ihrer Beziehungen zwingt: „Alle Kriege sind demnach so viel Versuche (zwar nicht in der Absicht der Menschen, aber doch in der Absicht der Natur), neue Verhältnisse der Staaten zu Stande zu bringen, . . .; bis endlich einmal, teils durch die bestmögliche Anordnung der bürgerlichen Verfassung innerlich, teils durch eine gemeinschaftliche Verabredung und Gesetzgebung äußerlich, ein Zustand errichtet wird, der, einem bürgerlichen gemeinen Wesen ähnlich, so wie ein Automat sich selbst erhalten kann.“ (Idee S. 42 f.)

Obwohl Kant den Krieg in rechtsphilosophischer Hinsicht strikt ablehnt, sieht er ihn in geschichtsphilosophischer Hinsicht als Chance, einen Fortschritt der rechtlichen Verhältnisse zu erreichen; diese ambivalente Einschätzung entspricht seiner Beurteilung von Revolutionen in innerstaatlicher Hinsicht.452 Ein weiteres Mittel, durch das die Natur die Entstehung von Rechtsbeziehungen zwischen den Staaten fördert, ist der den Menschen innewohnende Handelsgeist.453 Der Völkerbund ist jedoch – ähnlich wie der vorrepublikanische Staat in zwischenmenschlicher Hinsicht – nur der erste Schritt aus dem zwischenstaatlichen Naturzustand heraus; er ist nur im Hinblick auf seine fortschreitende, umfassende Verrechtlichung legitimiert und muß letztlich in eine Weltrepublik umgewandelt werden.454 c) Funktion des Völkerstaates Kant sieht den Zweck des globalen Staates in der Freiheits- und Rechtssicherung; allerdings beantwortet er die Frage, wessen Rechte zu sichern sind, in den älteren Schriften anders als in der Metaphysik. Nach der Idee, dem Gemeinspruch und Frieden dient Kants Völkerstaat der Sicherung der Freiheit und Rechte allein der Staaten; der Mensch als Individuum spielt hier im Völkerrecht keine Rolle.455 Nach diesem Begründungsansatz kann der Völkerstaat lediglich das zwischenstaatliche Verhältnis gesetzlich regeln;456 eine direkte Einwirkung des Globalstaates auf den einzelnen Bürger und die damit verbun451

s. dazu den ersten Zusatz des Friedens, S. 217–227. s. dazu oben D. I. 5. e) (1). 453 Frieden, erster Zusatz, S. 226 f.; s. dazu Williams, H., Philosophy (1983), S. 252. 454 s. Lutz-Bachmann, M., Friedensidee (1996), S. 44. 455 Entsprechend ist der Völkerstaat hier – wie oben gesehen – nur aus den Staaten als kollektiven Einheiten gebildet; die einzelnen Bürger werden nicht direkt repräsentiert. 456 s. hierzu Höffe, O., Theoretiker (1998), S. 235 f. 452

III. „Föderalismus‘‘

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dene Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten ist ihm nicht erlaubt. Nach Kants Position in der Metaphysik dagegen dient die Weltrepublik nicht mehr nur dem Schutz der Rechte und Freiheit der Staaten, sondern auch ihrer Bürger.457 Primär verantwortlich für die Sicherung der Rechte des einzelnen müssen jedoch weiterhin die Einzelstaaten sein, denn diese Funktion stellt ihren Hauptzweck dar;458 würde sie gänzlich vom Völkerstaat übernommen, wären die Einzelstaaten als rechtsetzende und -sichernde und damit auch politische Instanzen obsolet.459 Damit würde der von Kant abgelehnte weltweite Einheitsstaat entstehen. Der Völkerstaat darf also zur individuellen Rechtssicherung nur subsidiär tätig werden, und zwar insoweit, als die Einzelstaaten diesen Zweck nicht erfüllen.460 In diesen Fällen darf und muß er die Rechte des Bürgers auch gegen dessen eigenen Staat sichern. Diese Funktion des Völkerstaates ergibt sich unmittelbar aus dem angeborenen Freiheitsrecht des einzelnen Menschen;461 der damit verbundene Eingriff in die inneren Angelegenheiten und das Selbstbestimmungsrecht der Staaten ist zulässig,462 weil das Recht der letzteren auf ihre Autonomie kein originäres, sondern nur von dem der Menschen abgeleitet ist.463 Der Staat ist anders als der Mensch kein Zweck an sich selbst, sondern nur Mittel zur Sicherung der Freiheit und Rechte seiner Bürger;464 im Rahmen der globalen Rechtsordnung muß er daher im Konfliktfall hinter diesem Zweck zurückstehen. Zwar lehnt Kant gewaltsame Umwälzungen im Staat mit diesem Argument ausdrücklich 457 s. oben a), insb. (2) (b). Höffe, O., Theoretiker (1998), S. 236, ist anderer Ansicht; er geht davon aus, daß nur die Staaten Schutz verdienen. Dies ist zutreffend, wenn man sich lediglich auf den Analogieschluß, d. h. den Begründungsansatz in den älteren Schriften bezieht; nach Kants Aussagen in der Metaphysik, in der er zusätzlich noch die privatrechtliche Begründung einführt, ergibt sich jedoch ein anderes Bild. Entsprechend müssen nicht nur die Staaten, sondern auch die Individuen direkt im globalen Staat repräsentiert werden. 458 s. oben C. I. 4. a). 459 s. Kants Definition der Politik „als ausübender Rechtslehre“ im Frieden, Anhang I, S. 229. 460 Habermas beschreibt diese Funktion (in bezug auf die Vereinten Nationen) wie folgt: „In ihrer Eigenschaft als Subjekte des Völkerrechts – als Weltbürger – haben diese Staatsbürger jedoch zugleich der Weltorganisation eine Art Ausfallbürgschaft übertragen, wonach der Sicherheitsrat in die Funktion der Grundrechtssicherung einspringt, wenn die eigene Regierung dazu nicht mehr fähig oder willens ist.“ Habermas, J., Weltgesellschaft (2005), S. 353 f. 461 s. dazu oben a) (2) (b). 462 Diese Einmischung ist im von Kant als „negatives Surrogat“ vorgesehenen Völkerbund und auch im Völkerstaat, den er in den älteren Schriften vorsieht, unzulässig, s. oben. Auch nach der Charta der UN ist eine solche Intervention grundsätzlich unzulässig, s. dazu Delbrück, J., Organisation (1998), S. 197. 463 s. Kersting, W., Freiheit (1993), S. 82 f.; Pinzani, A., Völkerrecht (1999), S. 254. 464 s. dazu insbesondere oben D. I. 5. e) (2).

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E. Aufbau des Staates

ab,465 im Völkerstaat aber wird der Konflikt auf rechtlichem Wege gelöst, so daß weder die Gefahr des Rückfalls in den Naturzustand noch ein Verstoß gegen die Publizitätsfähigkeit des Vorhabens besteht. Auch entsteht nicht der Widerspruch eines über dem nominellen Souverän stehenden faktischen Souveräns, da der Einzelstaat sich beim Eintritt in die Weltrepublik freiwillig in bestimmten Bereichen seiner Souveränität begibt und sie auf den Globalstaat überträgt. Damit verbleiben dem Völkerstaat nach allen relevanten Schriften subsidiär nur die Aufgaben, die nicht schon die Einzelstaaten wahrnehmen; allerdings erfolgt die Abgrenzung der Sphären in der Metaphysik nach einem anderen Maßstab als in den älteren Schriften. In diesen setzt Kant ein quantitatives Kriterium an: alle Aufgaben, die den Einzelstaaten zustehen, fallen aus dem Kompetenzbereich des Staatenstaates heraus, unabhängig davon, ob und wie die Mitgliedsstaaten diese Funktionen erfüllen. In der Metaphysik dagegen grenzt Kant die Sphären nach qualitativen Gesichtspunkten ab: in den Bereichen, in denen der jeweilige Einzelstaat die ihm obliegenden Aufgaben nicht angemessen erfüllt, darf der Völkerstaat tätig werden. Um seinen so bestimmten Aufgaben nachzukommen, kann der Völkerstaat Gesetze erlassen, die aufgrund seiner bundesstaatlichen und nicht staatenbündischen Struktur in den Mitgliedsstaaten unmittelbar gelten, ohne der Umsetzung durch die einzelstaatlichen Parlamente zu bedürfen.466 Sie müssen dem einzelstaatlichen Recht gegenüber vorrangig sein und etwaiges entgegenstehendes Recht brechen, da sie sonst in diesen Fällen wirkungslos wären; zudem müssen sie vor einem völkerstaatlichen Gericht justiziabel sein, und zwar nach der Metaphysik nicht nur – wie nach den älteren Schriften – für die Staaten, sondern auch für die Individuen.467 Auch den Bürgern muß nach Kants späterer Position der Rechtsweg zu den völkerrechtlichen Gerichten offenstehen, da sonst kein effektiver Rechtsschutz gewährleistet wäre. Die von dem oder den völkerstaatlichen Gericht(en) erlassenen Urteile müssen in den Staaten unmittelbar geltendes Recht darstellen, damit ihre Befolgung nicht mit Militärgewalt, sondern auf dem Verwaltungswege durchgesetzt werden kann. Auch der nach der Metaphysik erlaubte bzw. gebotene völkerrechtliche Schutz des einzelnen würde so auf dem Rechtswege erfolgen; eine Implementierung der Menschenrechte mit militärischer Gewalt wäre nicht mehr nötig. Etwas anderes würde allerdings bei Staaten gelten, die die Autorität der Weltrepublik und der von ihr erlassenen Maßnahmen verwerfen; hier wäre das Völ465 Dazu gehören auch die durch die Intervention fremder Staaten erzeugte; zum Interventionsverbot s. bereits oben. Zur Verwerfung des Revolutionsrechts s. oben D. I. 5. 466 s. hierzu auch Ipsen, K., Ius gentium (1996), S. 296, der dies allerdings für mit Kants Prämissen unvereinbar hält. 467 s. auch Kambartel, F., Nichteinmischung (1996), S. 245, 248.

III. „Föderalismus‘‘

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kerrecht beim Scheitern anderer Sanktionen letztlich nur auf militärischem Wege durchsetzbar.468 Dieses Problem stellt sich aber deshalb dem Grundsatz nach nicht, weil Kant als Mitglieder des Völkerstaates nur Republiken sieht, die den Geltungsanspruch und die Legitimität der Weltrepublik anerkennen und zur Befolgung der von ihr erlassenen Regeln grundsätzlich bereit sind. In diesen Staaten sind auch eklatante Rechtsmißbräuche nicht zu erwarten, weil sie die republikanischen Prinzipien in größtmöglichem Maße umsetzen; hier zeigt sich wiederum der oben bereits angesprochene Zusammenhang zwischen der inneren und der äußeren rechtlichen Verfassung von Staaten. Neben dem primären Zweck der Rechtssetzung und -sicherung muß dem Völkerstaat nach der Analogie zum Einzelstaat, auf die Kant sich in allen relevanten Schriften beruft, noch eine weitere, subsidiäre Funktion zukommen, und zwar die Förderung des Gemeinwohls.469 Höffe ist anderer Auffassung;470 er geht davon aus, daß der globale Staat nur auf die Freiheits- und Rechtssicherung beschränkt ist und weitere, der Gemeinwohlförderung zuzurechnende Aufgaben nicht in seinen Kompetenzbereich fallen. Als Beispiel führt er die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 an, die der UNO neben dem Schutz der Menschenrechte auch die Förderung der internationalen Zusammenarbeit und des sozialen Fortschritts und besserer Lebensbedingungen überträgt, und verwirft die Vereinbarkeit der beiden letzteren Aufgaben mit kantischen Prinzipien. Dies begründet er wie folgt: „Wie beim Einzelstaat so bei der internationalen Rechtsgemeinschaft: der Staat verteilt nicht das Mein und Dein, er sichert es lediglich.“ 471

Hieran ist zutreffend, daß der Staat nach Kant grundsätzlich nicht umverteilend tätig werden darf; eine Theorie sozialer Gerechtigkeit läßt sich Kants Ausführungen nicht entnehmen.472 Das Primat der Rechtssicherung und das Verbot des Eingriffs in das Eigentum (der Staaten wie der Menschen) zur Förderung 468 In diesen Fällen wäre die Beachtung der Gesetze und Urteile beim Scheitern anderer Sanktionen letztlich nur mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Entsprechend sieht z. B. auch Art. 37 GG die Möglichkeit des Bundeszwanges vor. Ob Kant die Intervention des Völkerstaates gegen einen Mitgliedsstaat zulassen würde, läßt sich nicht abschließend klären, denn das im fünften Präliminarartikel des Friedens ausgesprochene Interventionsverbot verwirft nur die gewalttätige Einmischung in die Angelegenheiten „eines andern Staats“ (Frieden S. 199). Fraglich ist aber, ob es sich beim Völkerstaat im Verhältnis zu seinem – ihn mitkonstituierenden – Mitgliedsstaat um einen „anderen“ Staat handelt oder ob nicht beide vielmehr Teile desselben Staates darstellen. s. hierzu auch Kambartel, F., Nichteinmischung (1996), S. 246. 469 Zur steigenden Bedeutung dieser Aufgabe und der entsprechenden Themenfelder s. Steiger, H., Institution, S. 157 f. und 160. 470 Höffe, O., Ausblick (1995), S. 246 und 257 ff.; ders., Theoretiker (1998), S. 235 f. 471 Höffe, O., Theoretiker (1998), S. 236. 472 s. oben C. I. 4. c). Allerdings besteht eine wichtige Ausnahme von diesem Grundsatz, denn zur „Armenfürsorge“, d. h. zur Sicherung des Existenzminimums Be-

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E. Aufbau des Staates

der allgemeinen Wohlfahrt schließen aber darauf abzielende Maßnahmen nicht generell aus; zulässig sind vielmehr auch nach Kants Prämissen solche Maßnahmen, die den Vorrang der Rechtssicherungsfunktion wahren. Zwar könnte man einwenden, daß die gemeinwohlfördernde Rolle des Völkerstaates ohne die Möglichkeit zur Einforderung von Geldmitteln substanzlos wird, aber der globale Staat kann bestimmte Probleme auf die politische Agenda setzen und so den Anstoß für eine freiwillige – auch finanzielle – Beteiligung der Staaten an der Problemlösung geben. Diese Generierung von Öffentlichkeit ist bereits ein erster Schritt zu einer Veränderung der Verhältnisse.473 Auch die von Höffe für mit Kants Prämissen unvereinbar erklärte Förderung des sozialen Fortschritts und besserer Lebensbedingungen wären in diesem Rahmen zulässig. Der unterschiedlichen Dimension des Völkerrechts entsprechend darf sich der globale Staat nach den älteren Schriften lediglich um die Wohlfahrt der Einzelstaaten als kollektive Einheiten, nach der Metaphysik dagegen auch um die Wohlfahrt ihrer Bürger kümmern. Allerdings ist dies nur zulässig, soweit er damit nicht gegen die Rechte der Staaten oder Menschen verstößt, denn anders als das Recht der Menschen geht ihre Wohlfahrt nicht den Rechten der Staaten vor. Insbesondere darf die innerstaatliche Wohlfahrtspflege der Weltrepublik auch nach den Grundsätzen der Metaphysik anders als die Sicherung des Völkerrechts nicht gegen das Selbstbestimmungsrecht des jeweiligen Staates verstoßen, bedarf also seiner Einwilligung. Auch unabhängig vom Einverständnis der Staaten könnte die Weltrepublik aber bestimmte Probleme auf die politische Tagesordnung setzen und durch diese Schaffung eines öffentlichen Forums moralischen Druck aufbauen. Diese Möglichkeit ist vor allem im von Kant letztlich geforderten Völkerstaat von Bedeutung, in dem die Staaten und Individuen repräsentiert sind, denn hier kann das Volk gesellschaftliche Probleme auch gegen den Willen seines Staates thematisieren.474 Nicht mehr zum Gebiet der Gemeinwohlförderung, sondern der Rechtssicherung gehören allerdings die Fälle, in denen es um die Sicherung der Existenz der Menschen geht.475 Denn die Erhaltung ihres Leben ist Voraussetzung für die Wahrung ihrer Freiheit. Daher darf der Völkerstaat zum Zweck humanitärer Hilfeleistung nach Kants Prämissen in der Metaphysik auch gegen den Willen des Einzelstaates einschreiten, und ihm steht die Befugnis zu, zu diesem Zweck dürftiger, darf (und muß) der Staat nach Kant Steuern von den Wohlhabenderen erheben, d. h. umverteilend tätig werden; s. oben C. I. 4. b) (3). 473 Zur Bedeutung der Öffentlichkeit s. auch Habermas, J., Publizität (1976) und Bohmann, J., Öffentlichkeit (1996), der sie allerdings in umgekehrter Weise, primär von den Bürgern und nicht den staatlichen Institutionen, erzeugt sieht. Zwar haben die Bürger nach Kants Konzept in den älteren Schriften kein Mitspracherecht im globalen Staat, wohl aber nach seinen Prämissen in der Metaphysik, s. oben a), insb. (2) (b). 474 s. hierzu Bohmann, J., Öffentlichkeit (1996), S. 110. 475 s. dazu oben C. I. 4. b) (3).

III. „Föderalismus‘‘

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zwangsweise Gelder von den anderen Staaten einzufordern, was ihm im Rahmen der bloßen Gemeinwohlförderung untersagt ist. Denn aus der Analogie zwischen Einzel- und Völkerstaat ergibt sich, daß der letztere wie der erstere das Recht hat, zum Zweck der sozialen Fürsorge umverteilend tätig zu werden und Steuern von den „Wohlhabenden“ zu erheben, d. h. von den Mitgliedsstaaten, die zur Erbringung dieser Abgaben in der Lage sind. Damit sind die Staaten nach Kants Prämissen in der Metaphysik beispielsweise nach Naturkatastrophen nicht nur ethisch, sondern auch rechtlich verpflichtet, den Menschen in den betroffenen Ländern, die sich nicht selbst helfen können und denen auch ihr Land keine Hilfe leisten kann, mit finanziellen oder anderen Mitteln zur Seite zu stehen.476 2. Im Federalist Die Autoren des Federalist gehen davon aus, daß die amerikanischen Staaten die ihnen obliegenden Aufgaben nur vereint erfüllen können, da ihr Verhalten nach der Revolution gezeigt hatte, daß sie auf sich allein gestellt weder zur Sicherung der Rechte ihrer Bürger noch zur Förderung des Gemeinwohls im Sinne wirtschaftlichen Wohlstandes imstande waren.477 Damit sehen die Verfasser der Essays die Union nicht nur zur Wahrnehmung außenpolitischer und militärischer Belange und zur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten berufen wie unter den Konföderationsartikeln, sondern zur Erfüllung oder Überwachung des gesamten einem Staat obliegenden Aufgabenkreises.478 476 Diese Mittel müssen dabei nicht an den entsprechenden Staat gezahlt werden, sondern können auch auf andere Weise an die betroffenen Menschen verteilt werden; denkbar wäre etwa eine Verteilung über eigene Hilfsorganisationen des Völkerstaates oder über andere, beispielsweise karitative Hilfsorganisationen. Damit würde vermieden, daß die Hilfsgelder in (einzel-)staatlichen Kanälen untergehen. Zu diesem Problem s. Doyle, M.W., Legacies (PPA 12, 1983), S. 341. Die von ihm diskutierten unjust states wären allerdings keine Republiken im Sinne Kants. 477 Ersteres hatten insbesondere die von einigen Staaten erlassenen Schuldnerschutzgesetze bewiesen, die die Rechte der Gläubigerminderheit verletzten, und auch die von den Staaten zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise ergriffenen Maßnahmen waren ineffektiv gewesen und hatten keine Abhilfe geschaffen; s. hierzu oben B. II. 4. a) (3) und (1). 478 Strittig ist, ob die Verfasser der Essays die Vereinigten Staaten selbst zur Wahrnehmung der entsprechenden staatlichen Funktionen, insbesondere zur Sicherung der Privatrechte, berufen sehen (so Diamond, M., Framers (1974), S. 34 f., 38, im Hinblick auf Madison) oder ob sie dem Bund nur eine Kontrollfunktion zusprechen, die ihn dann zum Eingreifen ermächtigt, wenn die Einzelstaaten die ihnen obliegenden Funktionen nicht ordnungsgemäß erfüllen (so Zuckert, M. P., Reinterpretation (RoP 48, 1986), insb. S. 189–191). Für die letztere Ansicht spricht folgende Aussage Madisons: „Die den Einzelstaaten verbleibenden Kompetenzen werden sich auf alle Bereiche und Aufgaben des normalen Lebens erstrecken und Leben, Freiheit und Eigentum des Volkes betreffen . . .“ (Nr. 45, S. 283) Auch Hamilton stellt in Nr. 17 die primäre Zuständigkeit der Einzelstaaten heraus: „Die Zivilrechtsprechung für Bürger desselben Staa-

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E. Aufbau des Staates

a) Form des Zusammenschlusses Angesichts dieser Erweiterung des Wirkungskreises halten Hamilton, Madison und Jay die konföderale Form des Zusammenschlusses nicht mehr für ausreichend; ihrer Ansicht nach müssen die Vereinigten Staaten von Grund auf reformiert und auf ein neues Fundament gestellt werden: „Zwar geben sie [die Gegner von Bundesmaßnahmen] zu, daß das Regierungssystem der Vereinigten Staaten zu schwach ist, doch wehren sie sich dagegen, ihm die Vollmachten zu übertragen, die erforderlich wären, um eben die nötige Stärke zu verleihen. Sie versuchen immer noch, etwas zu erreichen, was widersprüchlich und unvereinbar ist: eine Verstärkung der Machtbefugnis des Bundes ohne eine Verringerung einzelstaatlicher Machtbefugnisse, Souveränität der Union bei gleichzeitiger vollkommener Unabhängigkeit ihrer Mitglieder. Letztlich scheinen sie immer noch mit blinder Hingabe dem politischen Monstrum eines imperium in imperio anzuhängen. Das aber macht eine volle Darlegung der Hauptmängel der Konföderation nötig, um zu beweisen, daß die Übel, die wir erleben, nicht von minimalen oder spezifischen Unvollkommenheiten herrühren, sondern aus grundsätzlichen Fehlern in der Struktur des Gesamtgebäudes, die nicht anders reformiert werden können als durch eine Veränderung der ursprünglichen Prinzipien und Hauptsäulen der Struktur.“ (Nr. 15, S. 83)

Unter den Konföderationsartikeln bildeten die Vereinigten Staaten einen Staatenbund,479 in dem jeder Staat seine Souveränität behielt.480 Hamilton betont, daß ein solches Bündnis allenfalls für die Wahrnehmung begrenzter, genau zu umschreibender Aufgaben geeignet ist: „Nichts an der Idee eines Bündnisses oder einer Allianz unabhängiger Nationen ist absurd oder undurchführbar, wenn sie für bestimmte genau definierte Zwecke bestehen, die präzise in einem Vertrag formuliert sind, der alle Einzelheiten von Zeitraum, Ort, Bedingungen und Umfang regelt, der nichts zukünftigen Entscheidungen überläßt und für seine Durchführung des guten Glaubens der betroffenen Parteien bedarf.“ (Nr. 15, S. 84)

Letztlich kann jedoch ein Vertrag zwischen souveränen Staaten nicht einmal die Erfüllung der in ihm niedergelegten limitierten Ziele garantieren, da seine Einhaltung allein vom guten Willen der Vertragsparteien abhängt: „Verträge dieser Art . . . unterliegen den normalen Wechselfällen von Krieg und Frieden, der Einhaltung und Nichteinhaltung, wie es Interessen und Leidenschaften tes, die Überwachung der Landwirtschaft und andere Fragen gleicher Art, all die Dinge, kurz gesagt, die von der örtlichen Gesetzgebung am besten geregelt werden können, können niemals erstrebenswerte Aufgaben in der Zuständigkeit des Bundes sein.“ (Nr. 17, S. 95) Zudem hatte Madison im Verfassungskonvent ein Veto des Bundes über Einzelstaatsgesetze als Kontrollmittel des ersteren propagiert, das er allerdings nicht durchsetzen konnte; s. dazu auch Huntington, S. P., Division (1959), S. 192. 479 s. Art. III, nach dem die Staaten einen „festen Bund der Freundschaft“ („a firm league of friendship“) eingehen. 480 s. Art. II.

III. „Föderalismus‘‘

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der Vertragspartner jeweils verlangen. Im ersten Abschnitt dieses Jahrhunderts gab es in Europa geradezu eine Epidemie solcher Verträge, von denen die Politiker jener Jahre sich positive Ergebnisse erhofften, die nie eintraten. . . . [S]ie waren kaum abgeschlossen, da wurden sie schon gebrochen und lieferten damit der Menschheit eine lehrreiche, wenn auch schmerzliche Lektion, wie wenig man sich auf Verträge verlassen kann, die keine andere Sanktion als die Obliegenheiten des guten Glaubens kennen, und bei denen allgemeine Erwägungen von Frieden und Gerechtigkeit im Gegensatz zur Triebkraft unmittelbarer Interessen oder Leidenschaften stehen.“ (Nr. 15, S. 84 f.)

Diese Neigung der Parteien, die im Vertrag fixierten gemeinsamen Interessen dem unmittelbaren eigenen Vorteil unterzuordnen, zeigte sich auch im Verhalten der amerikanischen Einzelstaaten unter den Konföderationsartikeln.481 Das einzige Mittel des Bundes, den Gehorsam der Mitgliedsstaaten zu erzwingen, bestand in der Anwendung militärischer Gewalt, die jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach zum Krieg und damit zur Auflösung der Konföderation geführt hätte.482 Ein auf dem konföderalen Prinzip aufbauendes Bündnis ist unausweichlich zum Scheitern verurteilt: entweder bricht es abrupt durch kriegerische Auseinandersetzungen auseinander, oder es löst sich schleichend durch die Vernachlässigung der vertraglichen Pflichten auf: „Das [den Krieg zwischen den Einzelstaaten] kann man als den gewalttätigen Tod der Konföderation betrachten. Ihren natürlicheren Tod sind wir anscheinend derzeit im Begriff zu erleben, wenn das föderative System nicht umgehend und zwar substantiell reformiert wird.“ (Nr. 16, S. 91)

Eine Ablehnung des Verfassungsentwurfes würde damit zum Zerfall der Union führen, wie Hamilton bereits im ersten Artikel betont: „Denn nichts ist für all diejenigen offensichtlicher, die diese Frage im weiteren Kontext zu sehen vermögen, als die Alternative zur Annahme der neuen Verfassung: nämlich die Aufspaltung der Union.“ (Nr. 1, S. 5)

Dies aber würde die eingangs beschriebenen Nachteile und Probleme zwischen den Einzelstaaten aufwerfen: „Wenn bestimmte Einzelstaaten unseres Landes gern eine ähnliche Beziehung zueinander eingehen möchten und den Plan einer gemeinsamen unumschränkten Leitung fallenlassen wollen, dann wäre das in der Tat ein verderblicher Plan, der für uns all die Nachteile mit sich bringen würde, die unter der ersten Rubrik aufgezählt worden sind.“ (Nr. 15, S. 85)

Daher müssen die Vereinigten Staaten den Bündnischarakter ablegen und mit staatlicher Gewalt ausgestattet werden:483 481

s. dazu oben B. II. 4. a) (1). s. oben I. 2. a) (1) (a) (aa). 483 Zu den Grundlagen des amerikanischen Föderalismus s. auch Ranney, J. C., Bases (WMQ 3, 1946), S. 1 ff.; zu den historischen „Vorläufern“ des bundesstaatlichen Systems Murrin, J. M., Invention (1988), S. 20 ff. 482

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E. Aufbau des Staates

„Sind wir jedoch nicht bereit, uns in diese gefährliche Lage zu begeben, bleiben wir bei unserem Ziel eines nationalen Regierungssystems, oder, was dasselbe ist, einer obersten Gewalt unter der Leitung eines gemeinsamen Organs, dann müssen wir in unseren Entwurf die Bestandteile einbauen, die den charakteristischen Unterschied zwischen einem Bündnis und einem Regierungssystem ausmachen: Wir müssen die Machtbefugnis der Union auf die Personen der Bürger ausdehnen – die die einzigen geeigneten Adressaten von Regierung sind.“ (Nr. 15, S. 85)

Den entscheidenden Unterschied zwischen einem bloßen Bündnis und einem Staat sehen die Verfasser der Essays in den Adressaten ihrer Gesetze: während die Normen eines Staates sich unmittelbar auf seine Bürger beziehen, gelten die eines Staatenbundes nur für die Mitgliedsstaaten und nicht unmittelbar für ihre Bürger. Die Autoren sehen hierin den grundlegenden Defekt der Konföderationsartikel.484 Um dieses Manko zu beseitigen und das bestehende Bündnis souveräner Staaten, dem selbst kein Staatscharakter zukommt, in einen Staat zu verwandeln, müssen die Einzelstaaten auf einen Teil ihrer Souveränität verzichten; denn die Verleihung staatlicher Souveränität an den Bund ist mit der Wahrung der vollständigen Souveränität der Einzelstaaten nicht vereinbar, wie Hamilton im obigen Zitat aus Nr. 15 betont. Von einem System, das dies dennoch zu verwirklichen sucht, spricht er dort als „dem politischen Monstrum eines imperium in imperio“ (Nr. 15, S. 83). Auch Madison geht davon aus, daß die Konföderationsartikel an diesem Problem scheitern mußten: „Dies ist nicht der einzige Fall, in dem die Konföderationsartikel oberflächlich versucht haben, Unmögliches zustande zu bringen: nämlich eine teilweise Souveränität der Union mit der vollständigen Souveränität der Einzelstaaten in Einklang zu bringen und einen mathematischen Lehrsatz zu ignorieren, indem man einen Teil wegnimmt und doch das Ganze bestehen läßt.“ (Nr. 42, S. 256)

Auch an anderer Stelle betont er, daß die Souveränität des Bundes die der Einzelstaaten ausschließt: „Souveränität über Souveräne, eine Regierung über Regierungen, Gesetzgebung für Gemeinschaften statt für Individuen, das sind in der Theorie ebenso Widersprüche, wie sie in der Praxis Ordnung, Sinn und Zweck eines Gemeinwesens [civil polity] untergraben, da sie Gewalt an die Stelle des milden und heilsamen Zwangs von Regierung setzen.“ (Nr. 20, S. 117)

Die Autoren des Federalist unterstreichen, daß die Existenz der Einzelstaaten kein Selbstzweck ist, sondern sie der Sicherung der Freiheit und des Gemeinwohls ihrer Bürger dienen und diesen Zwecken bei Bedarf geopfert werden müssen:

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s. dazu oben I. 2. a) (1) (a) (aa).

III. „Föderalismus‘‘

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„Wurde die Amerikanische Revolution denn nicht in Gang gesetzt, wurde die Amerikanische Konföderation nicht gegründet . . ., damit das amerikanische Volk in Frieden, Freiheit und Sicherheit leben kann? Oder etwa, damit die Regierungen der Einzelstaaten . . . ein gewisses Maß an Macht ausüben und sich bestimmter Würden und Attribute der Souveränität erfreuen können? . . . soll das umfassende Glück und Wohlergehen des Volkes den Absichten politischer Institutionen . . . geopfert werden? . . . Wäre der Entwurf des Konventes dem öffentlichen Wohl schädlich, so riefe ich: ,Lehnt den Entwurf ab!‘ . . . Ebenso muß sich jeder gute Bürger vernehmen lassen, wann immer die Souveränität der Einzelstaaten nicht mit dem Glück und Wohlergehen des Volkes in Einklang gebracht werden kann: ,Ersteres muß letzterem geopfert werden!‘“ (Nr. 45, S. 279)

Zwar ist auch die Union nur Mittel zur Verwirklichung der Staatszwecke, aber anders als die Einzelstaaten vermag sie diese zu gewährleisten und ist ihnen insofern vorrangig:485 „Doch wenn die Union, wie wir gezeigt haben, ausschlaggebend für den Schutz des amerikanischen Volkes vor einer Bedrohung aus dem Ausland ist; wenn sie ausschlaggebend für seinen Schutz vor Konflikten und Kriegen zwischen den verschiedenen Einzelstaaten ist; wenn sie ausschlaggebend ist, um vor jenen gewalttätigen und unterdrückerischen Faktionen zu schützen, die die Wohltaten der Freiheit beeinträchtigen und vor solchen militärischen Einrichtungen, die allmählich deren Ursprung abtöten werden; wenn, um es mit einem Wort zu benennen, die Union ausschlaggebend für das Glück und Wohlergehen des amerikanischen Volkes ist, ist es dann eine absurde Kritik an dieser Regierungsform, ohne die die Aufgaben der Union nicht erfüllt werden können, zu sagen, ein solches Regierungssystem könne die Bedeutung der Einzelstaaten schmälern?“ (Nr. 45, S. 278 f.)

Die Autoren des Federalist fordern jedoch nicht die vollständige Abschaffung der Einzelstaaten, die im Konvent zwar teilweise verlangt worden, aber nicht durchsetzbar gewesen war,486 sondern weisen darauf hin, daß die Verfassung eine Teilung der Souveränität zwischen Bund und Einzelstaaten vorsieht und den Einzelstaaten einen Teil ihrer Souveränität beläßt.487 So betont Hamilton in Nr. 32: „Die Notwendigkeit konkurrierender Zuständigkeit für bestimmte Fälle ergibt sich aus der Teilung der Souveränität. Die Regel, daß alle Vollmachten, die den Einzelstaaten nicht ausdrücklich zugunsten der Union genommen worden sind, bei ihnen in voller Stärke verbleiben, . . . wird eindeutig durch den gesamten Tenor der Artikel des Verfassungsentwurfs bestätigt.“ (Nr. 32, S. 183),488

485 s. auch Carey, G. W., Design (1989), S. 104: „. . . both the general and particular powers needed to achieve the objectives of union are what might be termed nonnegotiable, whereas . . . the residual powers of the states are.“ 486 s. hierzu Onuf, P. S., Sovereignty (1988), S. 79–81. 487 s. auch ihre Einordnung des neuen Systems, unten c). 488 Die Teilung der Souveränität spricht Hamilton auch in Nr. 69 an: „Doch beruht das auf der Tatsache, daß die Union allein den Teil der Souveränität innehat, der Verträge betrifft.“ (Nr. 69, S. 421)

488

E. Aufbau des Staates

und auch Madison unterstreicht in Nr. 40: „Wir haben gesehen, daß im neuen Regierungssystem, wie im alten, die Bundeskompetenzen begrenzt sind, und die Einzelstaaten in allen aufgezählten Fällen ihre souveräne und unabhängige Zuständigkeit behalten.“ (Nr. 40, S. 236)489

Die Autoren des Federalist gehen also nicht nur von einer Teilung der Souveränität in horizontaler Hinsicht aus, als Teilung zwischen den verschiedenen Gewalten, sondern auch in vertikaler Hinsicht, zwischen den beiden staatlichen Ebenen.490 Dies halten sie für möglich, weil das Volk die ihm in seiner verfassungsgebenden Gestalt der Substanz nach zustehende Souveränität durch die Verfassung zur Ausübung auf verschiedene Träger verteilen kann.491 b) Kompetenzverteilung zwischen Bund und Einzelstaaten Die Verfassung grenzt die Zuständigkeitsbereiche der Vereinigten Staaten und der Einzelstaaten ab, indem sie die Gebiete, auf denen der Bund tätig werden darf, aufzählt. Im einzelnen ergibt sich folgende Kompetenzverteilung: (1) Gesetzgebungskompetenzen In Art. 1 Abschn. 8 überträgt die Verfassung dem Bund neben weiteren fiskalischen Befugnissen das Recht zur Steuererhebung, um die ihm obliegenden Aufgaben finanzieren zu können, sowie das Recht zur Regulierung des internationalen und zwischenstaatlichen Handels und militärische Kompetenzen.492 Auch die Außenpolitik fällt in den Kompetenzbereich des Bundes; sie wird vom Präsidenten unter teilweiser Beteiligung des Senates wahrgenommen.493 Gemäß Art. 4 Abschn. 3 Abs. 2 der Vorschrift verfügt der Bund zudem über das Territorium der Vereinigten Staaten, und gemäß Abs. 1 der Vorschrift kann er neue Staaten in die Union aufnehmen. Diese Bundeskompetenz sicherte eine friedliche, geordnete Expansion der USA und gewährleistete in Übereinstimmung mit der 1787 noch vom Konföderationskongreß verabschiedeten North489 Allerdings gehen beide Autoren hier in der Betonung der einzelstaatlichen Macht – wohl aus taktischen Gründen – zu weit, denn die Vereinigten Staaten haben unter der Verfassung nicht mehr nur die ihr ausdrücklich übertragenen Kompetenzen, vielmehr gilt das Prinzip der implied powers, s. dazu oben I. 2. a) (1) (a) (dd) und unten b) (3), Fn. 519. Daher sind die Bundeskompetenzen im neuen System weit weniger begrenzt als unter den Konföderationsartikeln. 490 Vgl. Habermas, J., Weltgesellschaft (2005), S. 327. 491 s. hierzu auch oben I. 2. b) (3) (c) (bb), Fn. 210, sowie von Bose, H., Mischverfassung (1989), S. 222; Zuckert, M. P., Reinterpretation (RoP 48, 1986), S. 186, der daraus allerdings schlußfolgert, daß keine der staatlichen Ebenen souverän ist. 492 s. oben I. 2. a) (1) (a) (cc). 493 s. Art. 2 Abschn. 2 Abs. 2 S. 1 und 2 sowie Art. 2 Abschn. 3 S. 3. s. dazu oben I. 2. a) (2) (b).

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west-Ordinance494, daß sich die Vereinigten Staaten nicht im Wege der Kolonisation, sondern durch die Aufnahme gleichberechtigter neuer Staaten ausdehnten.495 Die Vereinigten Staaten garantieren den Mitgliedsstaaten gemäß Art. 4 Abschn. 4 eine republikanische Regierungsform und schützen sie vor Invasionen und auf Antrag auch vor inneren Unruhen. Die erstere Bestimmung gewährleistet die grundsätzliche Homogenität von Bund und Einzelstaaten;496 sie verleiht der Union das Recht, „das System vor aristokratischen und monarchistischen Neuerungen zu schützen“, wie Madison in Nr. 43 formuliert (s. S. 262). Diese Klausel dient nicht nur dem Interesse des Bundes, sondern – wie die beiden anderen Bestimmungen des Art. 4 Abschn. 4 – auch dem Schutz der Einzelstaaten.497 Daneben wird die Stellung der Einzelstaaten auch dadurch gestärkt, daß keinem Staat das gleiche Stimmrecht im Senat ohne seine Zustimmung entzogen werden darf (s. Art. 5 a. E.); dieses Recht ist damit dem Zugriff im Wege der Verfassungsänderung entzogen. Auch sind dem Recht des Kongresses zur Aufnahme neuer Staaten in die Union zum Schutz der bestehenden Einzelstaaten Grenzen gesetzt. So darf gemäß Art. 4 Abschn. 3 Abs. 1 Hs. 2 kein neuer Staat im Gebiet eines anderen Staates gebildet werden, und gemäß Hs. 3 darf kein neuer Staat durch die Zusammenlegung von zwei Einzelstaaten oder Teilen von Einzelstaaten entstehen, ohne daß neben dem Kongreß die betroffenen Einzelstaatslegislativen zustimmen. Allerdings können diese Bestimmungen des Art. 4 im Gegensatz zur oben genannten Vorkehrung des Art. 5 im Wege der Verfassungsänderung abgeschafft werden.498 Die enumerierten Befugnisse des Bundes werden durch Art. 1 Abschn. 8 Abs. 18 der Verfassung ergänzt, der bestimmt, daß der Kongreß alle für die Durchführung der den Bundesorganen übertragenen Kompetenzen notwendigen und angemessenen Gesetze erlassen kann (necessary and proper-Klausel).499 Die Gesetze des Bundes gelten dabei nicht mehr wie noch unter den Konföderationsartikeln für die Einzelstaaten in ihrer korporativen Eigenschaft, sondern direkt für ihre Bürger, bedürfen also keiner Umsetzung durch die Mitgliedsstaaten mehr. Bei einer etwaigen Unvereinbarkeit von Einzelstaats- und Bundesge494 Zur Northwest-Ordinance vom 13. Juli 1787 s. oben B. II. 4. a) (1). Der erste Schritt in Richtung einer friedlichen Expansion war der Verzicht der „landreichen“ Staaten auf die westlich der Appalachen liegenden, unbesiedelten Gebiete und ihre Abtretung an den Konföderationskongreß gewesen; s. oben B. II. 3. 495 Zur Problematik der Erweiterung der Union s. Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 100–102; Onuf, P. S., Expansionspolitik (1991). 496 Vgl. Art. 28 GG, s. insb. Abs. 1 S. 1 und Abs. 3. 497 s. hierzu von Bose, H., Mischverfassung (1989), S. 52 und 217 f. 498 s. Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 103. 499 s. dazu oben I. 2. a) (1) (a) (dd).

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E. Aufbau des Staates

setzen hat aufgrund der supreme law of the land-Klausel des Art. 6 Abs. 2 das Bundesrecht Vorrang.500 Die amerikanische Bundesverfassung bestimmt nur bezüglich einiger der Gesetzgebungskompetenzen und zum Großteil nur indirekt, ob es sich um eine ausschließliche Zuständigkeit des Bundes handelt oder auch die Länder regelnd tätig werden können; anders als etwa im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland findet sich keine systematische Einteilung nach diesem Gesichtspunkt.501 Hamilton unterscheidet in seiner Erörterung der Steuerkompetenz in Nr. 32 jedoch zwischen der ausschließlichen und der gleichzeitigen (concurrent) Zuständigkeit502 und stellt Kriterien für die Abgrenzung auf: „Diese ausschließliche Übertragung [exclusive delegation] oder genauer Abtretung einzelstaatlicher Souveränität bestünde nur in drei Fällen: dort, wo die Verfassung explizit der Union die ausschließliche Kompetenz überträgt, wo sie für einen bestimmten Fall der Union die Kompetenz überträgt und an anderer [Stelle] den Einzelstaaten untersagt, die gleiche Kompetenz auszuüben, und dort, wo sie der Union eine Kompetenz überträgt, bei der eine gleiche Kompetenz bei den Einzelstaaten völlig und in jeder Hinsicht unvereinbar und im Widerspruch dazu stehen würde. Ich benutze diese Ausdrücke, um diesen letzten Fall von einem anderen zu unterscheiden, der ihm zunächst zu gleichen scheint, der sich faktisch jedoch ganz deutlich unterscheidet, und zwar meine ich den Fall, in dem eine konkurrierende, d. h. gemeinsame Zuständigkeit [concurrent jurisdiction] zu gelegentlichen Überschneidungen der Maßnahmen von Regierung und Verwaltungen [des Bundes oder der Einzelstaaten] führt, jedoch keinen direkten Widerspruch, keine Unvereinbarkeit in der Verfassungsmäßigkeit impliziert.“ (Nr. 32, S. 180)

(a) Ausschließliche Zuständigkeit Anhand dieser Kriterien läßt sich der Verfassung teilweise entnehmen, welche Art der Gesetzgebungszuständigkeit sie dem Bund überträgt. So führt Hamilton im Anschluß Beispiele für die drei möglichen Arten der ausschließlichen Zuständigkeit an: „Diese drei Fälle ausschließlicher Zuständigkeit des Bundes kann man anhand der folgenden Beispiele verdeutlichen: Der vorletzte Absatz im achten Abschnitt des ersten Artikels bestimmt ausdrücklich, daß der Kongreß die ,ausschließliche Gesetzgebung‘ über den Bezirk ausüben soll, der als Regierungssitz bestimmt wird. Das entspricht der ersten Kategorie.“ (Nr. 32, S. 180)

500

s. dazu oben I. 2. a) (1) (a) (bb). s. die Einteilung in die ausschließliche, konkurrierende und Rahmengesetzgebung in Art. 71–75 GG; s. hierzu Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 109. 502 Der Begriff der Rahmengesetzgebung kommt weder in der Verfassung noch im Federalist vor, s. dazu Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 110 und 115–117. 501

III. „Föderalismus‘‘

491

Die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für den District of Columbia ist der einzige Fall, in dem die Verfassung sie explizit als ausschließliche kennzeichnet. Daneben begründen aber auch jene Fälle eine exklusive Zuständigkeit des Bundes, in denen der Kompetenzübertragung an den Bund ein Regelungsverbot für die Einzelstaaten korreliert. Als Beispiel für diese zweite Kategorie führt Hamilton die Erhebung von Einfuhrzöllen an: Art. 1 Abschn. 10 Abs. 1 ermächtigt den Kongreß, Zölle zu erheben, während Art. 1 Abschn. 10 Abs. 2 den Einzelstaaten verbietet, ohne Zustimmung des Kongresses Einfuhrzölle zu erheben.503 Das gleiche gilt auch bezüglich anderer Kompetenzen, etwa des Prägens von Münzen: Art. 1 Abschn. 8 Abs. 5 überträgt dieses Recht dem Bund, während Art. 1 Abschn. 10 Abs. 1 es den Einzelstaaten versagt.504 Ebenso wird beispielsweise auch das Recht zum Abschluß internationaler Verträge und zur Kriegführung dem Bund übertragen und den Einzelstaaten in Art. 1 Abschn. 10 Abs. 3 versagt. In die dritte Kategorie der ausschließlichen Zuständigkeiten, die sich aus der sachlichen Unvereinbarkeit einer gleichzeitigen Regelung durch den Bund und die Einzelstaaten ergibt, fällt nach Hamilton etwa das Recht des Kongresses, für das gesamte Gebiet der Vereinigten Staaten eine einheitliche Einbürgerungsregelung zu schaffen (Art. 1 Abschn. 8 Abs. 4 Alt. 1): „Sie [diese Kompetenz] muß zwangsläufig als ausschließlich betrachtet werden, denn wenn jeder Einzelstaat die Kompetenz hätte, seine besondere Regelung aufzustellen, könnte es keine einheitliche Regelung geben.“ (Nr. 32, S. 181)

(b) Gleichzeitige und konkurrierende Zuständigkeit Von diesem letzten Fall der ausschließlichen Zuständigkeit unterscheidet Hamilton die gleichzeitige Zuständigkeit, die er insbesondere bezüglich der Erhebung von Steuern gegeben sieht – mit Ausnahme von Import- und Exportzöllen, deren Erhebung den Einzelstaaten nach Art. 1 Abschn. 10 Abs. 2 untersagt ist: „Ich meine die Kompetenz, Steuern auf alle Artikel außer Ein- und Ausfuhrgüter zu erheben. Meiner Ansicht nach ist das offenkundig eine konkurrierende [concurrent] und gleichrangige Machtbefugnis der Vereinigten Staaten und der Einzelstaaten. In dem Absatz, der diese Kompetenz überträgt, findet sich keine Bestimmung, die diese Kompetenz ausschließlich der Union zuschreibt. Außerdem gibt es keinen weiteren Absatz oder Satz, der den Einzelstaaten deren Ausübung verbietet.“ (Nr. 32, S. 181)

503 504

s. dazu Nr. 32, S. 180 f. s. Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 110.

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E. Aufbau des Staates

Hamilton leitet vielmehr aus dem den Einzelstaaten in Art. 1 Abschn. 10 Abs. 2 erteilten Verbot der Erhebung von Import- und Exportzöllen e contrario ab, daß die Mitgliedsstaaten der Union zur Erhebung aller anderen Steuern befugt sind: „Diese Beschränkung impliziert das Eingeständnis, daß ohne sie die Einzelstaaten diese Kompetenz besäßen. Sie impliziert auch das weitergehende Eingeständnis, daß in bezug auf alle anderen Steuern die Vollmacht der Einzelstaaten unvermindert besteht. Ansonsten wäre die Einschränkung sowohl unnötig als auch gefährlich. Sie wäre unnötig, falls die Verleihung dieser Kompetenz an die Union den Ausschluß oder auch nur die Unterordnung der Einzelstaaten automatisch nach sich zöge, die aber . . . nicht beabsichtigt gewesen sein kann. Ich meine, daß die Einzelstaaten in allen Fällen, auf die die [explizite] Beschränkung nicht zutrifft, eine konkurrierende Steuerkompetenz mit der Union haben.“ (Nr. 32, S. 181 f.)

Hier wird deutlich, daß der von Hamilton verwendete Begriff der concurrent jurisdiction nicht das gleiche beschreibt wie die konkurrierende Gesetzgebung des deutschen Grundgesetzes. Denn nach Art. 72 GG haben die Länder in diesem Bereich die Befugnis zur Gesetzgebung, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit nicht Gebrauch gemacht hat (s. Art. 72 Abs. 1 GG), während Hamilton den Bund und die Einzelstaaten im Bereich der concurrent jurisdiction gleichzeitig und parallel zur Regelung der selben Materie befugt sieht. Dies ergibt sich auch aus dem Begriff „concurrent“, der anders als das deutsche „konkurrierend“ kein gegenseitiges Exklusivitätsverhältnis ausdrückt, sondern „gleichzeitig“, „gemeinschaftlich“ oder „sich überschneidend“ bedeutet. Zudem bezeichnet Hamilton die entsprechende Gesetzgebungszuständigkeit an verschiedenen Stellen als „gleichrangige [coequal] Machtbefugnis“.505 Zwar könnte man annehmen, daß in den Fällen einer gleichzeitigen Besteuerung durch die Union und durch ihre Mitgliedsstaaten die Steuergesetze der ersteren aufgrund der supremacy-Klausel des Art. 6 Abs. 2 vorgehen;506 Hamilton stellt jedoch klar, daß diese Klausel hier nicht eingreift: „Obwohl also ein Gesetz, das eine Steuer zugunsten der Vereinigten Staaten auferlegt, seiner Natur nach den höchsten Rang einnimmt und rechtlich kein Widerstand und keine Kontrolle dagegen möglich sind, wäre ein Gesetz, das die Einziehung einer Steuer [anordnet], die qua Amtsgewalt eines Einzelstaates erhoben wird – außer auf Ein- oder Ausfuhrwaren – nicht das höchste Recht des Landes, sondern die 505 s. Nr. 32, S. 181; s. auch Nr. 34, S. 188: „Ich bilde mir ein, in meinem letzten Artikel eindeutig bewiesen zu haben, daß die einzelnen Staaten im vorgelegten Verfassungsentwurf eine mit der Union gleichrangige Steuerkompetenz [coequal authority] außer für Ein- und Ausfuhren besitzen.“ 506 Sie bestimmt, daß die amerikanische Bundesverfassung und alle auf ihrer Grundlage erlassenen Gesetze der Vereinigten Staaten sowie die im Namen der letzteren abgeschlossenen Verträge das höchste Recht des Landes sind und daß die Richter in jedem Einzelstaat ungeachtet entgegenstehender Verfassungs- oder Gesetzesbestimmungen eines Einzelstaates daran gebunden sind.

III. „Föderalismus‘‘

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willkürliche Anmaßung einer nicht durch die Verfassung übertragenen Gewalt . . . Die Schlußfolgerung aus alledem lautet, daß die Einzelstaaten nach dem vorgelegten Verfassungsentwurf eine unabhängige und keiner Gewalt unterworfene Vollmacht behalten, Steuern im nötigen Umfang zu erheben, und zwar durch jede Form der Besteuerung außer auf Ein- und Ausfuhren.“ (Nr. 33, S. 187 f.)

Der Vorrang des Bundesrechtes gilt im Fall der Steuererhebung auf andere Objekte als Im- oder Exporte nicht, da den Einzelstaaten eine originäre, eigene Steuerkompetenz zusteht, in deren Bereich der Bund nicht eingreifen darf. Bei den einzelstaatlichen Steuergesetzen handelt es sich daher nicht um der Bundesverfassung „entgegenstehende“ Bestimmungen, die Art. 6 Abs. 2 voraussetzt; vielmehr ist die gleichzeitige Steuererhebung durch die Mitgliedsstaaten mit der durch die Union vereinbar.507 Würde der Bund nun in diese Steuerkompetenz eingreifen, insbesondere die von den Einzelstaaten erhobenen Steuern einziehen, würde er sich ihm nicht zustehende Rechte anmaßen und damit nicht mehr verfassungsgemäß handeln. Damit aber würde das entsprechende Gesetz nicht mehr von Art. 6 Abs. 2 erfaßt werden, der die Suprematie nur der Bundesgesetze festschreibt, die auf Grundlage der Verfassung erlassen wurden. Das durch die gleichzeitige, parallele Besteuerungsbefugnis beider staatlicher Ebenen entstehende Problem der möglichen Doppelbesteuerung will Hamilton im Wege der Verständigung und des politischen Kompromisses lösen: „Soweit die unangemessene Häufung von Steuern auf ein und dieselbe Sache ihre Einziehung schwierig oder gefährlich macht, wäre das eine wechselseitige Unannehmlichkeit, die weder auf der Überlegenheit noch dem Mangel an Kompetenzen einer der beiden Seiten beruht, sondern sich aus der unklugen Ausübung ihrer Kompetenz durch eine der beiden Seiten zum beiderseitigen Nachteil ergibt. Man muß jedoch hoffen und annehmen, daß das beiderseitige Interesse ein einvernehmliches Vorgehen in dieser Sache gebietet und damit jede größere Schwierigkeit vermieden wird.“ (Nr. 33, S. 187)

Die Abstimmung der Sphären ist für Hamilton eine Frage der Klugheit, die auf politischem Wege und nicht durch rechtliche Vorgaben gelöst werden muß. Dabei hofft er auf gegenseitige Rücksichtnahme: „Es wird ein für diesen Zweck wirksames Mittel sein, daß beide Seiten jeweils die Steuerobjekte aussparen, die von der anderen bereits beansprucht werden. Da sie sich gegenseitig nicht Einhalt gebieten können, wird jede Seite ein offensichtliches und spürbares Interesse an dieser gegenseitigen Rücksichtnahme haben.“ (Nr. 37, S. 204)

In der amerikanischen Bundesverfassung findet sich jedoch auch eine konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit im Sinne des deutschen Grundgesetzes, 507 Anders dagegen Art. 105 GG, der dem Bund die ausschließliche Gesetzgebung über Zölle und Finanzmonopole zuspricht (Abs. 1) und über die übrigen Steuern unter bestimmten Voraussetzungen die konkurrierende Gesetzgebung (Abs. 2).

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E. Aufbau des Staates

und zwar besteht sie bezüglich der Regelung der Kongreßwahlen: gemäß Art. 1 Abschn. 4 regeln die Einzelstaaten die Wahlen, jedoch kann der Kongreß den Wahlmodus durch Bundesgesetze abändern.508 (2) Verwaltungs- und Rechtsprechungskompetenzen Die Ausführung der von den Vereinigten Staaten erlassenen Gesetze obliegt gemäß Art. 2 Abschn. 3 S. 4 der Verfassung dem Präsidenten. Er wird dabei durch die ihm nachgeordneten Abteilungen (Departments) der Bundesexekutive unterstützt, die lediglich eine kurze Erwähnung in Art. 2 Abschn. 2 Abs. 1 finden. Damit werden die Gesetze der Vereinigten Staaten von der bundeseigenen Verwaltung vollzogen, anders als beispielsweise in der Bundesrepublik Deutschland, in dem die Bundesgesetze dem Grundsatz nach von den Ländern als eigene Angelegenheit ausgeführt werden (s. Art. 83 GG).509 Die judikativen Kompetenzen des Bundes zählt die Verfassung enumerativ auf;510 sie überträgt den Vereinigten Staaten die Rechtsprechungsbefugnis in allen auf Bundesrecht basierenden Fällen und in Streitigkeiten mit zwischenstaatlichem oder internationalem Bezug511 (s. Art. 3 Abschn. 2 Abs. 1). Die Frage, ob diese Kompetenzübertragung eine ausschließliche Zuständigkeit des Bundes begründet, verneinen die Autoren des Federalist. Hamilton weist darauf hin, daß die Kompetenzübertragung an den Bund in Art. 3 Abschn. 1 S. 1 zweideutig ist: „Man kann das entweder in der Bedeutung interpretieren, daß allein das Oberste Gericht und die nachgeordneten Gerichte der Union die Kompetenz haben sollten, solche Fälle zu entscheiden, auf die sich ihre Vollmacht erstreckt, oder einfach so, . . . daß die Vereinigten Staaten die rechtsprechende Gewalt, die dem Bund übertragen wird, durch ein höchstes Gericht und eine Anzahl nachgeordneter Gerichte, die er selbst einrichtet, ausüben soll. Die erste Interpretation schließt eine konkurrierende Gerichtsbarkeit mit den Einzelstaatsgerichten aus, letztere läßt sie zu. Und da erstere implizit auf eine Veräußerung einzelstaatlicher Macht hinauslaufen würde, erscheint letztere als die natürlichste und am besten zu vertretende Interpretation.“ (Nr. 82, S. 500)

Hamilton hält die einzelstaatsfreundlichere Auslegung für überzeugender und geht davon aus, daß die Verfassung mit der Übertragung der Rechtsprechungskompetenz an den Bund grundsätzlich eine gleichzeitige, parallele Zuständigkeit von Bund und Einzelstaaten begründet.

508 509 510 511

(3).

Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 110. s. hierzu Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 131 f. s. Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 135. Hierzu und zum Aufbau der Bundesgerichtsbarkeit s. im einzelnen oben I. 2. a)

III. „Föderalismus‘‘

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Der Bundesgesetzgeber ist jedoch befugt, abweichende Regelungen zu treffen und im Kompetenzbereich der Vereinigten Staaten eine ausschließliche Zuständigkeit des Bundes festzuschreiben: „Ich bin der Ansicht, daß in jedem Fall, in dem sie [die Einzelstaaten] nicht ausdrücklich durch zukünftige Gesetze der nationalen Legislative ausgeschlossen werden, sie selbstverständlich die Zuständigkeit von Fällen übernehmen werden, die aus solchen Gesetzen hervorgehen werden. . . . dann drängt sich die Schlußfolgerung zwingend auf, daß die Einzelstaatsgerichte in allen Fällen die konkurrierende Gerichtsbarkeit haben werden, die sich nach den Gesetzen der Union ergeben, solange dies nicht ausdrücklich untersagt ist.“ (Nr. 82, S. 501)

Die Einzelstaaten haben damit so lange das Recht zur Judizierung der in Art. 3 Abschn. 2 Abs. 1 genannten Fälle, als der Kongreß sie hiervon nicht explizit per Gesetz ausschließt; diesem steht bei der Regelung der Rechtsprechungskompetenzen im von der Verfassung vorgegebenen Rahmen ein weiter Spielraum zu. Auch bei einer gleichzeitigen Zuständigkeit von Bundes- und Einzelstaatsgerichten hat aber der Bund die abschließende Entscheidungsbefugnis, und zwar auch dann, wenn ein Rechtsstreit in erster Instanz vor ein Einzelstaatsgericht gebracht wird.512 Denn sonst würde die in der Verfassung verankerte Bundeskompetenz unterminiert, wie Hamilton betont:513 „Darauf antworte ich, daß die Berufung sicher von letzteren [den Einzelstaatsgerichten] an das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten erfolgen würde. Die Verfassung überträgt dem Obersten Gericht unmißverständlich die Berufungsgerichtsbarkeit in allen aufgeführten Fällen der Bundeszuständigkeit, in denen es nicht die erstinstanzliche Gerichtsbarkeit besitzt, und es gibt keine einzige Formulierung, die ihre Wirksamkeit auf die nachgeordneten Bundesgerichte beschränken würde. . . . Aus diesem Umstand und aus der Logik der Sache selbst sollte sie so interpretiert werden, daß der Rechtsweg zum Obersten Gericht auch von den Einzelstaatsgerichten ausgehen kann. Entweder das ist der Fall oder die lokalen Gerichte sind von der konkurrierenden Gerichtsbarkeit in Fragen von nationaler Tragweite ausgeschlossen. Denn sonst könnte die rechtsprechende Machtbefugnis der Union nach Belieben von jedem Kläger oder Ankläger umgangen werden.“ (Nr. 82, S. 501 f.)

512 Wird ein in die Bundeszuständigkeit fallender Rechtsstreit in erster Instanz vor ein Bundesgericht gebracht, so bestimmt Art. 3 Abschn. 2 Abs. 2 S. 2, daß der Oberste Bundesgerichtshof das zuständige Rechtsmittelgericht ist (soweit der Kongreß keine abweichenden Regelungen getroffen hat). 513 Allerdings geht er davon aus, daß auch ein nachgeordnetes Bundesgericht zuständig sein könnte, wenn der Kongreß dies bestimmt: „Das scheint alles der Entscheidung der Legislative überlassen zu sein. Und da das so ist, kann ich im Moment kein Hindernis für die Einrichtung eines Berufungsweges von den Einzelstaatsgerichten an nachgeordnete Bundesgerichte erkennen.“ (Nr. 82, S. 503)

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E. Aufbau des Staates

Die Bundesgerichte haben nicht nur gegenüber den anderen Gewalten des Bundes,514 sondern auch der Einzelstaaten 515 das Recht zur Normenkontrolle (judicial review), d. h. die Befugnis, Akte der Legislative und Exekutive auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen und bei einem Verstoß für nichtig zu erklären. Damit verteilt die amerikanische Verfassung die staatlichen Kompetenzen in der Weise, daß sie dem Bund die Zuständigkeit für bestimmte Materien überträgt und ihm in diesen Sachgebieten sowohl die gesetzgebende als auch die vollziehende und rechtsprechende Funktion zuspricht; die Funktionsbereiche folgen also (überwiegend516) dem Sachgebiet. Einen anderen Weg wählt beispielsweise das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das die Sachgebiete und die Funktionsbereiche entkoppelt und unterschiedlich verteilt: der Schwerpunkt der Gesetzgebung liegt beim Bund, während die Vollziehung und Rechtsprechung überwiegend Aufgabe der Länder sind.517 (3) Kompetenzpräsumtion und Kompetenzkompetenz Da der Bund nur in dem ihm von der Verfassung übertragenen Aufgabenbereich tätig werden darf, liegt die Zuständigkeitsvermutung grundsätzlich bei den Einzelstaaten.518 Allerdings fordern die Autoren des Federalist eine weite Auslegung der Bundeskompetenzen, sie sind der Ansicht, daß der Bund berechtigt sein muß, in seinem Zuständigkeitsbereich alle verfassungsmäßig zulässigen Maßnahmen zu ergreifen.519 Die Kompetenzpräsumtion zugunsten der Einzel514 Zur Begründung des Normenkontrollrechts in horizontaler Hinsicht s. oben I. 2. b) (3) (c) (bb). 515 Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 22; Marcus, M., Review (1996), S. 26–28. 516 Eine Ausnahme besteht bezüglich der rechtsprechenden Funktion in den Fällen, in denen der Bund aufgrund der Parteikonstellation zuständig ist: hier sind die Bundesgerichte unabhängig vom anzuwendenden Recht und damit auch dann zuständig, wenn die Fälle allein auf einzelstaatlichem Recht basieren. 517 Hesse, K., Grundzüge (1995), Rn. 235. 518 Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 112. 519 s. hierzu oben I. 2. a) (1) (a) (dd). Zwar scheinen sie an anderer Stelle eine abweichende Auffassung zu vertreten, wenn Hamilton in Nr. 32 schreibt: „Die Regel, daß alle Vollmachten, die den Einzelstaaten nicht ausdrücklich zugunsten der Union genommen worden sind, bei ihnen in voller Stärke verbleiben, . . . wird eindeutig durch den gesamten Tenor der Artikel des Verfassungsentwurfs bestätigt.“ (Nr. 32, S. 183) Diese Aussage trifft aber nicht zu, denn die Kompetenzübertragung an den Bund muß unter der Verfassung anders als unter den Konföderationsartikeln nicht ausdrücklich erfolgen, vielmehr gilt – wie oben unter I. 2. a) (1) (a) (dd) dargelegt – das Prinzip der implied powers. Es ist anzunehmen, daß Hamilton die Rechte der Einzelstaaten hier überbetont, um die Gegner der Verfassung, die eine zu starke Zentralisierung monierten, zu beruhigen. Zu dieser Taktik s. auch Carey, G. W., Design (1989), S. 120; Onuf, P. S., Sovereignty (1988), S. 81.

III. „Föderalismus‘‘

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staaten wurde später im 10. Zusatzartikel von 1791 festgeschrieben, der bestimmt, daß die Kompetenzen, die von der Verfassung weder den Vereinigten Staaten übertragen noch den Einzelstaaten entzogen worden sind, den Einzelstaaten oder dem Volk vorbehalten bleiben.520 Die Nennung des Volkes soll darauf hinweisen, daß ihm all jene Rechte verbleiben, die es nicht im Wege der treuhänderischen Beauftragung dem Staat – sei es den Einzelstaaten oder dem Bund – überträgt; hier wie auch im 9. amendment kommt die Auffassung vom government als trust zum Ausdruck.521 Da die Verfassung zwar die Zwecke enumeriert, zu deren Erfüllung der Bund tätig werden darf, nicht aber die Mittel, derer er sich bedienen kann, sind die Zuständigkeitsbereiche des Bundes und der Einzelstaaten nicht eindeutig voneinander abzugrenzen; diese Unbestimmtheit kann Anlaß für Streitigkeiten sein.522 Die Frage, wer in Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen Bund und Einzelstaaten verbindlich entscheiden kann, d. h. die Kompetenzkompetenz besitzt, beantwortet die Verfassung nicht explizit. Die Autoren des Federalist gehen von einer zweischichtigen Lösung aus und betonen, daß diese Befugnis nicht bei den Einzelstaaten, sondern zunächst nur beim Bund liegen kann. In Nr. 39 weist Madison die Zuständigkeit einem Bundesgericht zu, da nur unter dieser Voraussetzung eine neutrale, unparteiische Entscheidung zu erwarten ist: „Es ist wahr, daß bei Kontroversen über die Grenze zwischen beiden Zuständigkeiten das Gericht, das letztlich entscheidet, vom Bund etabliert wird. . . . Die Entscheidung soll unparteiisch nach den Regeln der Verfassung gefällt werden. Alle üblichen und besonders wirksamen Vorsichtsmaßnahmen sind getroffen worden, um diese Unparteilichkeit zu sichern. Ein solcher Gerichtshof ist auf die eine oder andere Art ganz eindeutig essentiell, um eine Anrufung der Waffen und eine Auflösung des Vertrages zu verhindern. Und kaum jemand wird bestreiten, daß er unter der Hoheit des Bundes statt der Hoheit der Einzelstaaten eingerichtet werden sollte, oder richtiger gesagt, daß er nur unter ersterer sicher eingerichtet werden kann.“ (Nr. 39, S. 231)

520 Die Gegner einer starken Zentralgewalt hatten gefordert, das 10. amendment restriktiver zu formulieren und den Terminus „ausdrücklich“ einzufügen, hatten sich jedoch nicht durchsetzen können. Andernfalls hätten die Vereinigten Staaten nur die Kompetenzen, die von der Verfassung ausdrücklich ihnen übertragen oder den Einzelstaaten entzogen werden; vgl. die Formulierung in Art. II der Konföderationsartikel, der bestimmt, daß jeder Staat alle Kompetenzen und Rechte behält, die nicht ausdrücklich den Vereinigten Staaten übertragen wurden. s. hierzu von Bose, H., Mischverfassung (1989), S. 220 f.; Dry, M., Dialogue (1987), S. 59. 521 s. auch Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 112. 522 s. Dry, M., Dialogue (1987), S. 55; Epstein, D. F., Theory (1984), S. 51 f.

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E. Aufbau des Staates

Es ist anzunehmen, daß Madison hier den Obersten Bundesgerichtshof anspricht, dem die Entscheidung der entsprechenden Fälle obliegt:523 der Supreme Court kann im Wege des judicial review überprüfen, ob die Organe des Bundes oder der Einzelstaaten ihre verfassungsrechtlich vorgegebenen Zuständigkeitsbereiche überschritten haben, und das entsprechende Gesetz gegebenenfalls für nichtig erklären.524 Allerdings ist fraglich, ob bei der Judizierung durch ein Bundesgericht tatsächlich eine neutrale Instanz entscheidet oder ob nicht vielmehr der Bund als Richter in eigener Sache tätig wird.525 Dies wäre nach Madisons Ausführungen in Nr. 10 wegen der damit verbundenen Gefahr der Voreingenommenheit unzulässig: „Niemand darf Richter in eigener Sache sein, weil seine Interessen mit Sicherheit sein Urteil beeinflussen und wahrscheinlich sogar seine Integrität korrumpieren würden.“ (Nr. 10, S. 53)

Madison betont jedoch im obigen Zitat aus Nr. 39, daß Vorkehrungen zur Sicherung der Neutralität des entscheidungsbefugten Gerichts getroffen wurden. Welche Vorkehrungen dies sind, erörtert er hier nicht näher, an anderer Stelle stellt er jedoch klar, daß vor allem die Teilung der Gewalten eine bedeutende Rolle spielt: „Fragt man, was die Folge wäre, wenn der Kongreß diesen Teil der Verfassung [die necessary and proper-Klausel] falsch auslegen und Kompetenzen wahrnehmen würde, die eigentlich nicht autorisiert sind, so antworte ich: dasselbe, wie wenn er jede andere ihm übertragene Kompetenz falsch auslegen oder ausweiten würde. . . . Zuallererst wird der Erfolg eines Machtmißbrauchs vom Verhalten der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt abhängen, die die Gesetze auslegen und in die Tat umsetzen müssen.“ (Nr. 44, S. 275 f.)

Die Gewaltenteilung bietet Sicherheit vor einer Usurpation des Bundes zu Lasten der Einzelstaaten, weil der Kongreß aufgrund dieser Vorkehrung zur Durchführung seiner Gesetze zunächst auf die Exekutive angewiesen ist. Zudem entscheidet bei einer gerichtlichen Klärung die von der Legislative unabhängige 523 s. Diamond, M./Fisk, W. M./Garfinkel, H., Republic (1966), S. 115. Allerdings ist Madisons Aussage nicht ganz eindeutig, da er von einem Gericht spricht, das unter der Oberhoheit des Bundes etabliert wird („is to be established under the general government“, Nr. 39, S. 213), während der Oberste Bundesgerichtshof bereits von der Verfassung geschaffen wird; s. Carey, G. W., Design (1989), S. 112. Die Verfassung war aber zu dem Zeitpunkt der Veröffentlichung des Federalist noch nicht angenommen, so daß dieser Akt noch in der Zukunft lag, und zudem handelt es sich auch beim Supreme Court der USA um ein zum Bund (general government) gehöriges Gericht. 524 Auch in Deutschland liegt die Kompetenzkompetenz beim Bund: gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG entscheidet das Bundesverfassungsgericht bei Streitigkeiten zwischen dem Bund und den Ländern über die bundesstaatliche Ordnung. Als ultima ratio sieht das Grundgesetz in Art. 37 den Bundeszwang vor. 525 s. dazu Carey, G. W., Design (1989), S. 112.

III. „Föderalismus‘‘

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Judikative, so daß zwar ein Bundesorgan, aber nicht der Kongreß selbst über seine eigenen Kompetenzen befindet. Vielmehr wird er aufgrund der Gewaltenteilung einer externen Kontrolle unterzogen. Zudem sehen die Autoren des Federalist neben dem Gericht noch eine weitere Instanz zur Klärung von Zuständigkeitsfragen befugt: das Volk. So betont Madison im Anschluß an das obige Zitat: „Letztlich muß die Abhilfe vom Volk kommen, das durch die Wahl zuverlässigerer Abgeordneter die Gesetze der Usurpatoren annullieren kann.“ (Nr. 44, S. 276)

Falls das zuständige Gericht keine Abhilfe schafft und eine unzulässige Kompetenzanmaßung sanktioniert, kann das Volk durch die Ausübung seines Wahlrechts einen personellen Wechsel in der Legislative und damit auch eine Änderung der politischen Ausrichtung herbeiführen und so die Aufhebung der beanstandeten Maßnahme durch die neuen Abgeordneten erreichen. Diese Einflußmöglichkeit des Volkes stellt eine zusätzliche Sicherung für den Fall dar, daß die in der Verfassung vorgesehenen Maßnahmen nicht für die erforderliche Neutralität des Gerichtes sorgen.526 Auch Hamilton propagiert einen zweistufigen Entscheidungsprozeß: „Doch könnte man weiter fragen, wer über die Notwendigkeit und Angemessenheit der anstehenden Gesetze für die Umsetzung der Kompetenzen der Union entscheidet? Meine Antwort lautet . . ., . . . daß zunächst der Bund wie jedes andere Regierungssystem über die angemessene Ausübung seiner Kompetenzen entscheiden muß, schließlich aber seine Wähler darüber entscheiden werden. Wenn die Bundesorgane die angemessenen Grenzen ihrer Autorität verletzen und ihre Kompetenzen willkürlich ausüben sollten, dann muß das Volk, dessen Geschöpf sie sind, an die einmal aufgestellten Standards erinnern und Maßnahmen ergreifen, die die Verletzung der Verfassung beheben, so wie es die jeweilige Situation erfordert und rechtfertigt.“ (Nr. 33, S. 185 f.)

Allerdings eröffnen Hamiltons Ausführungen dem Volk einen größeren Spielraum als die Madisons: während dieser nur das Recht erwähnt, neue Abgeordnete zu wählen und durch diese die Gesetze ändern zu lassen, weist Hamilton darauf hin, daß die erforderlichen Maßnahmen von der jeweiligen Lage abhängen, und stellt sie ins Ermessen des Volkes. Er geht auf die möglichen Vorge526 Diese übergeordnete Kontrollfunktion des Volkes betont Madison auch an anderer Stelle: „Die Gegner der Verfassung . . . betrachten die verschiedenen Einrichtungen [den Bund und die Einzelstaaten] nicht nur als gegenseitige Rivalen und Feinde, sondern so, als würde ein Versuch, die Machtbefugnisse des jeweils anderen zu usurpieren, durch eine gemeinsame übergeordnete Instanz nicht kontrolliert. Diese Herren müssen an dieser Stelle an ihren Irrtum erinnert werden. Sie müssen sich sagen lassen, daß die höchste Autorität allein beim Volk liegt . . . Es hängt keineswegs allein vom relativen Machtstreben oder dem Geschick der verschiedenen Regierungen ab, welche ihren Zuständigkeitsbereich auf Kosten der anderen ausdehnen kann. Die Wahrheit nicht weniger als der Respekt verlangt, daß das Ergebnis jeweils von der Meinung und Billigung der gemeinsamen Basis abhängt.“ (Nr. 46, S. 284 f.)

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E. Aufbau des Staates

hensweisen nicht näher ein, in Betracht kommt neben der bereits erwähnten Änderung der (einfachen) Gesetze jedoch eine Verfassungsänderung nach Art. 5, mit der das Volk die Zuständigkeiten neu festlegen oder auch nur klarstellen kann, daß bisher vom Gericht sanktionierte Maßnahmen nicht in den Kompetenzbereich der einen oder anderen staatlichen Ebene fallen. Allerdings ist dieser Weg schwieriger als der erstgenannte, da höhere Hürden bestehen.527 Als letztes Mittel kann das Volk zudem von seinem Revolutionsrecht Gebrauch machen,528 das ihm nach Ansicht der Autoren des Federalist allerdings nur bei schweren und dauerhaften Verfassungsbrüchen zusteht.529 Damit kann das Volk unzulässige Kompetenzanmaßungen auf drei Arten beheben: es kann sie auf einfachgesetzlichem, verfassungsrechtlichem oder – als ultima ratio – auf extralegalem Wege rückgängig machen. Seine ersten beiden Einflußmöglichkeiten kann das Volk aber nicht nur bei verfassungswidrigen Entscheidungen des Gerichts, d. h. in spezifischen Fällen nutzen, vielmehr kann es durch Gesetzes- und Verfassungsänderungen generell über die Zuständigkeitsbereiche von Bund und Einzelstaaten entscheiden. Damit ist es nicht nur eine subsidiäre Kontrollinstanz neben dem Gericht, sondern hat parallel zu diesem eine generelle Einflußmöglichkeit. Diese steht aber nicht – wie teilweise angenommen wird -530 im Widerspruch zur oben propagierten Kompetenzkompetenz des Gerichts, vielmehr liegt sie auf einer anderen Ebene; die Zuständigkeit des Gerichts und des Volkes erstrecken sich auf unterschiedliche Bereiche, die einander komplementär sind. Denn das erstere entscheidet innerhalb des von der Verfassung vorgegebenen Rahmens und auf Grundlage ihrer Bestimmungen mit sofortiger Wirkung über spezifische Fälle, während das Volk mit seiner Entscheidung die generelle politische Richtung für die Zukunft vorgibt. Die rechtliche Sphäre, in der das Gericht entscheidet, und die politische Sphäre, in der das Volk bestimmt,531 stehen nicht beziehungslos nebeneinander; vielmehr besteht zwischen ihnen ein wechselseitiger Zusammenhang, denn beide Instanzen haben die Möglichkeit, den Entscheidungsspielraum der jeweils anderen näher zu definieren und festzulegen. So kann der Oberste Bundesge527 s. Art. 5, nach dem der Kongreß Verfassungsänderungen vorschlägt, wenn beide Kammern es mit Zweidrittelmehrheit für notwendig halten; alternativ beruft er auf Antrag von zwei Dritteln der Einzelstaaten einen Konvent zur Ausarbeitung von Zusatzartikeln ein. Die Änderungen werden rechtskräftig, wenn sie in drei Viertel der Einzelstaaten von den Legislativen bzw. speziellen Konventen ratifiziert werden. s. dazu auch Nr. 43, S. 267. 528 s. dazu auch unten d) (1). 529 s. hierzu oben D. II. 3. a). 530 s. Carey, G. W., Design (1989), S. 111–114. 531 Dazu, daß die Kompetenzfrage teils auf rechtlichem, teils auf politischem Gebiet entschieden wird, s. auch Carey, G. W., Design (1989), S. 114 f.; Epstein, D. F., Theory (1984), S. 52 f.

III. „Föderalismus‘‘

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richtshof zum einen den Rahmen der möglichen politischen Entscheidungen einschränken, denn wenn er bestimmte Kompetenzaneignungen für verfassungswidrig erklärt, können die Repräsentanten des Volkes diese auch in Zukunft aufgrund der Bindungswirkung des entsprechenden Präzedenzfalles auf einfachgesetzlicher Ebene nicht mehr legal durchsetzen. Andererseits kann das Volk durch eine Verfassungsänderung gemäß Art. 5 den vom Gericht anzulegenden Entscheidungsmaßstab modifizieren. Damit hat zwar das Gericht in der rechtlichen, von der Verfassung vorgegebenen Sphäre die abschließende Entscheidungsbefugnis über Zuständigkeitsstreitigkeiten,532 letztlich entscheidend für die Abgrenzung der Kompetenzbereiche von Bund und Einzelstaaten ist aber der politische Wille des Volkes:533 „Es hängt keineswegs allein vom relativen Machtstreben oder dem Geschick der verschiedenen Regierungen ab, welche ihren Zuständigkeitsbereich auf Kosten der anderen ausdehnen kann. Die Wahrheit nicht weniger als der Respekt verlangen, daß das Ergebnis jeweils von der Meinung und Billigung der gemeinsamen Basis abhängt.“ (Nr. 46, S. 285)

Dies entspricht der Souveränitätskonzeption der Verfassung und des Federalist: souverän ist das Volk in seiner verfassungsgebenden Gestalt; es kann als solches die staatliche Gewalt in der Verfassung nicht nur auf verschiedene Organe, sondern auch auf verschiedene staatliche Ebenen verteilen.534 Die Autoren des Federalist gehen davon aus, daß das Volk dabei derjenigen staatlichen Ebene mehr Macht anvertrauen wird, die ihre Funktion besser erfüllt:535 „Ich glaube, man kann als allgemeingültige Regel aufstellen, daß sein [des Volkes] Vertrauen und sein Gehorsam dem politischen System gegenüber normalerweise genau der guten oder schlechten Qualität seiner Regierung und Verwaltung entsprechen werden.“ (Nr. 27, S. 155 f.)

Grundsätzlich sehen die Verfasser der Essays das Volk stärker an die Einzelstaaten gebunden, die die Menschen unmittelbarer tangieren; sie gehen aber davon aus, daß diese Präferenz durch gute Leistungen des Bundes und positive Entwicklungen unter seiner Leitung überwunden werden kann: „Es ist eine bekannte Tatsache der menschlichen Natur, daß generell die Zuneigung des Menschen in dem Maß abnimmt, in dem die Entfernung des Objektes und seine Konturenlosigkeit wachsen. Aufgrund dieses Prinzips fühlt sich ein Mann stärker seiner Familie als seinen Nachbarn . . . verbunden, und die Bevölkerung je532 s. auch Wills, G., Explaining (1981), S. 164, der davon ausgeht, daß der Supreme Court das letzte Wort haben wird. 533 s. auch Carey, G. W., Design (1989), S. 114 f.; Epstein, D. F., Theory (1984), S. 52 f. 534 s. hierzu oben a). 535 s. hierzu Epstein, D. F., Theory (1984), S. 52.

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E. Aufbau des Staates

des Staates würde sich wahrscheinlich stärker ihrer Regierung vor Ort als der Unionsregierung verbunden fühlen; es sei denn, die Wirksamkeit dieses Prinzips würde durch eine sehr viel bessere Regierung und Verwaltung letzterer außer Kraft gesetzt.“ (Nr. 17, S. 96)

Diese Entwicklung sagen die Verfasser der Essays voraus: „Im Verlauf dieser Artikel wurden verschiedene Gründe benannt, die dafür sprechen, daß der Bund besser regiert werden wird als die Einzelstaaten.“ (Nr. 27, S. 156)536

Sollte sich diese Prognose als zutreffend erweisen, so fordern sie, daß die größere Kompetenz des Bundes auch entsprechend honoriert werden und dem Volk das Recht zustehen muß, den Bund mit einem größeren Aufgabenspektrum zu betrauen: „Wenn daher . . . das Volk in Zukunft eher für den Bund als für die Einzelstaaten Partei ergreifen sollte, so kann dieser Wandel einzig durch überzeugende und unwiderlegbare Beweise einer besseren Regierung und Verwaltung zustandekommen, die seine früheren Neigungen allmählich verdrängen. In einem solchen Fall sollte das Volk sicher nicht daran gehindert werden, sein Vertrauen dem zu geben, der es am meisten verdient.“ (Nr. 46, S. 286)

Anders als bei der horizontalen Machtverteilung zwischen den drei Gewalten halten es die Autoren des Federalist bezüglich der Kompetenzverteilung in vertikaler Hinsicht für zulässig, wenn sich die Grenzen der Zuständigkeit und damit die Machtverhältnisse verschieben.537 c) Einordnung des neuen Systems Die Gegner des Verfassungsentwurfes dagegen fürchteten, daß eine Machtverlagerung zu Gunsten des Bundes den Untergang der Einzelstaaten und die Herausbildung einer despotischen Zentralregierung bedeuten würde; sie gingen davon aus, daß die Annahme der neuen Verfassung zur Schaffung eines tyrannischen Einheitsstaates führen würde.538 Madison paraphrasiert diese Bedenken der Anti-Federalists wie folgt: 536 Im Anschluß zählt Hamilton einige auf: „Die wichtigsten sind: Mit der Ausweitung des Wahlgebietes erhält das Volk ein breiteres Angebot und damit mehr Möglichkeiten der Wahl; der Senat wird meist mit besonderer Sorgfalt und Urteilskraft von den Einzelstaatslegislativen ausgewählt werden . . .; all diese Umstände sprechen für ein breiteres Wissen und umfassendere Kenntnisse in den nationalen Gremien; wegen der Ausdehnung des Landes, aus dem die Mitglieder der Gremien rekrutiert werden, können sie weniger leicht vom Faktionsgeist verdorben werden und haben mehr Distanz zu sporadischen Verstimmungen, vorübergehenden Vorurteilen und Neigungen, wie sie in kleinen Gemeinwesen häufig öffentliche Debatten vergiften, Ungerechtigkeit und Unterdrückung eines Teils der Gemeinschaft hervorbringen . . .“ (Nr. 27, S. 156) 537 s. auch Carey, G. W., Design (1989), S. 123 f. 538 s. Dry, M., Dialogue (1987), S. 45, 55.

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„,Aber es war für den Konvent nicht genug,‘ erklären die Gegner der vorgeschlagenen Verfassung, ,an der republikanischen Form festzuhalten. Sie hätten mit Sorgfalt an der föderalen Form festhalten müssen, nach der die Union als eine Konföderation souveräner Staaten anzusehen ist. Stattdessen haben sie ein nationales Regierungssystem geschaffen, das die Union als eine Vereinigung [consolidation] der Einzelstaaten betrachtet.‘ “ (Nr. 39, S. 227 f.)

In diesen Ausführungen zeigt sich der oben bereits angesprochene Unterschied zur heutigen Terminologie:539 Madison verwendet die Begriffe föderal (federal) und konföderal (confederal) – wie im 18. Jahrhundert allgemein üblich – als Synonyma, während sie heute unterschiedliche Sachverhalte bezeichnen. Dem liegt eine andere Einteilung der Staaten und Staatenverbindungen zugrunde:540 während als Alternative zum Einheitsstaat heute zwei Modelle gesehen werden, und zwar der Zusammenschluß zum Bundesstaat (föderalen System)541 einerseits oder zum Staatenbund (konföderalen System) andererseits, war damals nur eine Form der Staatenverbindung bekannt, und zwar der heute als konföderal bezeichnete Zusammenschluß zum Staatenbund.542 Das von der Verfassung vorgesehene System stellte demgegenüber eine zwischen diesen beiden Polen liegende neue Art der Staatenverbindung dar, die ohne Vorbild war;543 die Autoren des Federalist betonen, daß die Geschichte dem Verfassungskonvent zwar eine Fülle an Negativbeispielen bot, deren Probleme es zu vermeiden galt, nicht jedoch ein positives Beispiel, das als grundlegendes Vorbild hätte dienen können. In Nr. 37 gehen sie auf die Schwierigkeiten ein, die der Konvent zu bewältigen hatte:

539

s. oben B. II. 4. c) (1). Zur Terminologie und dem eingetretenen Bedeutungswandel s. Diamond, M., Framers (1974), S. 26–31; ders., View (1961), S. 108–110. 541 Allerdings ist die Bezeichnung als föderales System, die hier in Anknüpfung an die frühere Terminologie den Unterschied zum (konföderalen) Staatenbund herausstellen soll, nicht ganz eindeutig, denn der Begriff des Föderalismus wird uneinheitlich und teilweise zur Beschreibung gegenläufiger Phänomene verwendet. So bezeichnet er nach heutigem deutschen Verständnis vor allem das Bestreben, die Gliedstaaten im Bundesstaat gegenüber dem Zentralstaat zu stärken, und steht als solcher im Gegensatz zum Unitarismus und Zentralismus. Im Gegensatz dazu steht das amerikanische Verständnis, nach dem der Begriff des Föderalismus das Ziel bezeichnet, die Bundesebene (federal power) gegenüber den Einzelstaaten zu stärken. Damit wird er hier als Antonym zum Partikularismus und Separatismus gesehen. s. Herzog, R., Art. Föderalismus (1987), Sp. 914, und Fraenkel, E., Regierungssystem (1981), S. 104. 542 Elazar, D. J., Foreword (1987), S. xvii, weist allerdings darauf hin, daß es neben dem klassischen, von Hobbes, Locke und der Aufklärung geprägten Föderalismusverständnis noch eine biblisch-puritanische Version gab, die dem in der Verfassung verankerten Konzept und dem heutigen Verständnis entsprach. Er räumt jedoch ein, daß sich der Federalist allein auf klassische Quellen stützt, s. S. xviii. 543 Andere Mischformen, die im Konvent erörtert wurden, stellt Zuckert, M. P., Reinterpretation (RoP 48, 1986), vor. 540

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E. Aufbau des Staates

„Die Neuheit der Aufgabe springt uns sofort ins Auge. Wir haben im Lauf dieser Artikel dargelegt, daß die bestehende Konföderation auf fehlerhaften Grundsätzen beruht . . . Wir haben nachgewiesen, daß andere Konföderationen, die man als Präzedenzfälle heranziehen könnte, durch dieselben irrigen Grundsätze zerstört wurden. Deshalb können sie nur als Leuchtfeuer dienen, die vor dem Kurs warnen, den man meiden, ohne jedoch den Weg zu weisen, den man einschlagen sollte. Unter diesen Umständen konnte der Konvent nicht mehr tun, als die Fehler aus den Erfahrungen anderer Länder ebenso wie aus unserer eigenen Geschichte zu vermeiden . . .“ (Nr. 37, S. 209)544

Für dieses neue System gab es noch keine Bezeichnung;545 die Verfassungsbefürworter führten erst im Verlauf der Diskussionen über seine Annahme mit der Aneignung des Begriffs federal für ihre Position einen Bedeutungswandel und das Aufkommen der heutigen Terminologie herbei.546 Den Vorwurf, dieses neue politische System konsolidiere die Einzelstaaten zu einem nationalen System, d. h. einem Einheitsstaat, entkräften die Autoren des Federalist auf unterschiedliche Weise. (1) Hamiltons Terminologie Hamilton sucht den Vorwurf in Nr. 9 zu widerlegen, indem er zunächst näher auf die Kriterien eingeht, die die Verfassungsgegner für ihre Einordnung als national oder föderal ansetzen: „Man hat eher spitzfindig als präzise versucht, einen Unterschied zwischen einer Konföderation und einer Vereinigung [consolidation] der Staaten zu konstruieren. Das wesentliche Merkmal ersterer wäre demnach, daß sich ihre Autorität auf die Mitgliedsstaaten in deren kollektiver Eigenschaft bezieht, ohne sich auf die Individuen zu erstrecken, aus denen sich die Staaten zusammensetzen. Man behauptet weiter, der höchste nationale Rat [national council] sollte sich nicht mit den inneren Angelegenheiten [der Staaten] befassen. Und man hat auf der völligen Gleichheit des Stimmrechts zwischen den Mitgliedstaaten als wesentlichem Merkmal einer Konföderation bestanden.“ (Nr. 9, S. 48 f.)

Diese Kriterien werden herkömmlicherweise als Merkmale eines Staatenbundes angesehen;547 Hamilton weist sie im folgenden jedoch als willkürlich zurück und behauptet, daß sie sich weder theoretisch begründen noch aus historischen Beispielen ableiten lassen:

544

s. auch Madisons Ausführungen in Nr. 14, S. 79. Vgl. de Tocqueville, A., Demokratie (1835), 1. Teil, 8. Kap., § 21, S. 178: „Man hat eine Regierungsform gefunden, die genau betrachtet weder gesamtnational noch föderalistisch ist, aber man ist da stehengeblieben, und das neue Wort, das die Dinge bezeichnen soll, gibt es noch nicht.“ 546 s. oben B. II. 4. c) (1). 547 s. Diamond, M., View (1961), S. 112. 545

III. „Föderalismus‘‘

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„Diese Thesen sind größtenteils willkürlich und weder im Prinzip noch durch Präzedenzfälle bewiesen. In der Vergangenheit waren Regierungssysteme dieser Art tatsächlich im allgemeinen in der Weise organisiert, wie sie die obige Unterscheidung als ihrem Wesen gemäß voraussetzt. Aber bei den meisten gab es viele Ausnahmen von dieser Praxis, die beweisen . . ., daß es in dieser Frage keine feste Regel gibt. Wir werden im Verlauf dieser Untersuchung eindeutig beweisen, daß, soweit das Prinzip, für das man hier kämpft, sich durchgesetzt hat, es Ursache heillosen Chaos und Schwachsinns im politischen System war.“ (Nr. 9, S. 49)

Im folgenden stellt er dann seine eigene Definition des (kon-)föderalen Systems auf: „Eine föderative Republik [confederate republic] kann man einfach als einen ,Verbund von Gemeinwesen‘ [assemblage of societies] oder als eine Vereinigung von zwei oder mehr Staaten zu einem Staat definieren. Ausmaß, nähere Bestimmungen und Ziele der föderativen Gewalt bleiben der Entscheidung im Einzelfall überlassen. Solange die getrennte Organisation der Mitgliedsstaaten nicht aufgehoben ist und diese per Verfassungsgebot für lokale Fragen zuständig sind, auch wenn sie der zentralen Autorität der Union völlig untergeordnet sind, handelt es sich doch praktisch und theoretisch um einen Staatenbund oder eine Konföderation [an association of states, or a confederacy].“ (Nr. 9, S. 49)

Hamilton sieht danach jeden Zusammenschluß von Staaten als Konföderation bzw. föderales Regierungssystem, solange die Mitgliedsstaaten nicht völlig aufgelöst werden, sondern ihre separate Struktur weiterhin durch die Verfassung für lokale Zwecke vorgeschrieben wird.548 Damit stellt er nur eine Minimalanforderung auf, denn die Aufrechterhaltung der getrennten Organisation der Einzelstaaten setzt nicht unbedingt ihre verfassungsrechtliche Verankerung als politische Einheiten voraus, denen ein Teil ihrer Eigenstaatlichkeit verbleibt; vereinbar wäre hiermit auch ihre verfassungsmäßige Eingliederung als reine Verwaltungsbezirke.549 Dies zeigt sich in Hamiltons Verweis auf die mögliche völlige Unterordnung der Mitgliedsstaaten unter die Zentralregierung, die den Verlust jeglicher politischer Eigenständigkeit bedeuten würde. Ein solcher Zusammenschluß von Staaten wäre nach heutigem Verständnis kein föderales System, kein Bundesstaat, mehr,550 sondern ein Einheitsstaat.551 548 s. die Formulierung im Original: „So long as the separate organization of the members be not abolished; so long as it exists, by a constitutional necessity, for local purposes . . .“ (Nr. 9, S. 44) 549 s. Diamond, M., View (1961), S. 137 f., der dies bezüglich anderer Textstellen im Federalist feststellt; anders Riley, P., View (Publius 8, Nr. 3, 1978), S. 90, der aus dem Begriff „by constitutional necessity“ herausliest, daß die Bewahrung der Einzelstaaten „not through mere decentralization or devolution“ erfolgen kann. Dies erscheint aber nicht ganz überzeugend, da die getrennte Organisation der Komponenten auch dann verfassungsrechtlich notwendig wäre, wenn eine Gliederung des Staates in entsprechende Verwaltungsbezirke in der Verfassung verankert wäre. Ostrom, V., Examination (Publius 15, Nr. 1, 1985), S. 17, scheint Diamonds Ansicht zu folgen, weist allerdings darauf hin, daß dies die ungleich höhere Gefahr einer Oligarchisierung der lokalen Institutionen birgt.

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E. Aufbau des Staates

Hamilton legt damit eine extrem weite Definition des (kon-)föderalen Systems vor und betont im folgenden, daß die neue Verfassung weit über ihre Anforderungen hinausgeht, indem sie den Einzelstaaten einen Teil der Souveränität beläßt und ihnen mit dem Senat eine direkte Mitsprachemöglichkeit im Bund eröffnet: „Im vorliegenden Verfassungsentwurf kann von einer Abschaffung der Einzelstaaten keine Rede sein, vielmehr erhalten sie mit dem Senat eine direkte Vertretung und behalten bestimmte ausschließliche und äußerst wichtige Anteile an der Souveränität. Das entspricht in jedem vernünftigen Sinn dieses Begriffs vollkommen der Idee eines föderativen Staates [federal government].“ (Nr. 9, S. 49)

Allerdings ist fraglich, ob Hamilton von diesem weiten Konföderations- und Föderalismusbegriff tatsächlich überzeugt war552 oder ob er die Definition nicht vielmehr aus taktischen Gründen so weit zieht.553 Für letzteres sprechen verschiedene Umstände; zunächst ist der Kontext zu berücksichtigen, in dem Hamilton die entsprechenden Äußerungen macht. Er geht auf die Einordnung des neuen Systems im Rahmen seiner Widerlegung des Argumentes der Verfassungsgegner ein, der neue Staat sei zu groß für ein republikanisches Regierungssystem. Die Anti-Federalists gingen im Anschluß an Montesquieu davon aus, daß ein großer Staat monarchischer Herrschaft bedürfe, und fürchteten die entsprechende Degeneration des neuen Systems.554 Hamilton entkräftet dieses Argument auf zweierlei Weise: zum einen betont er, daß nach Montesquieus Maßstäben bereits die bestehenden Einzelstaaten zu groß für ein republikanisches System wären (s. Nr. 9, S. 46 f.), und zum anderen weist er darauf hin, daß Montesquieu selbst einen Weg vorsieht, dieses System über einen größeren Bereich auszudehnen, nämlich den föderativen Zusammenschluß von Republiken (s. Nr. 9, S. 47). Im folgenden weist er dann nach, daß auch das neue Sy550 Allerdings stimmt Hamiltons Definition mit der heutigen Begriffsbestimmung insoweit überein, als sie nur den Gesichtspunkt der Kompetenzverteilung sieht; s. Diamond, M., View (1961), S. 111; Ostrom, V., Examination (Publius 15, Nr. 1, 1985), S. 9 f.; Yarbrough, J., Rethinking (Publius 15, Nr. 1, 1985), S. 33. Weitere Aspekte, die nach dem früheren Verständnis ebenfalls von Bedeutung sind, wie die Struktur der Zentralregierung und die Legitimation und Funktionsweise des Regierungssystems, läßt sie außer Betracht. Zu diesem Unterschied s. Diamond, M., Federalism (1977), S. 170–172. 551 Eine solche Herabstufung der Einzelstaaten zu rein administrativen Einheiten hatten einige der Mitglieder des Verfassungskonventes zunächst propagiert, diese Vorstellung aber nicht durchsetzen können, s. Onuf, P. S., Sovereignty (1988), S. 79–81. 552 So Ostrom, V., Examination (Publius 15, Nr. 1, 1985), S. 9 f. 553 Diese Ansicht vertritt Diamond, M., View (1961), S. 113, 119. Er geht davon aus, daß das alte Föderalismusverständnis eine bessere Analyse der damit verbundenen Phänomene ermöglicht als das neue, s. ders., Federalism (1977), S. 170 f., 174–178; ders., View (1961), S. 125. Kritisch dazu Yarbrough, J., Rethinking (Publius 15, Nr. 1, 1985), S. 35 ff. 554 s. Montesquieu, C.-L. de, Geist (1748), Buch VIII, Kap. 16, S. 172. Zu dieser herkömmlichen Ansicht s. auch oben II. 1. a) und II. 2. b) (2).

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stem noch unter diesen Begriff fällt, um die Verfassungsgegner auf der Grundlage der von ihnen selbst herangezogenen Autorität zu widerlegen und sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.555 Seine diesbezügliche Argumentation ist jedoch nicht überzeugend, wie insbesondere Martin Diamond ausführlich dargelegt hat.556 Dies gilt zunächst für Hamiltons Zurückweisung der herkömmlichen Prinzipien und damit des herkömmlichen Verständnisses eines (kon-)föderalen Systems. So belegt er seine Behauptung, die Kriterien seien „im Prinzip“, d. h. theoretisch, nicht bewiesen, nicht weiter,557 und obwohl er bestreitet, daß es Präzedenzfälle für dieses Verständnis gibt, gibt er selbst zu, daß „Regierungssysteme dieser Art tatsächlich im allgemeinen“ in dieser Weise organisiert waren, es also sehr wohl Beispiele und Vorbilder gibt. Die Tatsache, daß nicht alle Bündnisse die Kriterien vollständig erfüllten, spricht nicht gegen die Annahme einer Regel, wie Hamilton behauptet, denn die Existenz von Besonderheiten steht der Feststellung grundlegender Gemeinsamkeiten nicht entgegen. Auf deduktivem Weg kann stets nur das allen untersuchten Objekten Gemeinsame unter Außerachtlassung der jeweiligen Besonderheiten als Grundsatz herauskristallisiert werden.558 Zudem betont Hamilton zwar, daß es keine feste Regel gebe, spricht aber im nächsten Satz selbst vom entsprechenden „Prinzip“. Auch sein zweiter argumentativer Schritt hält einer genaueren Betrachtung nicht stand. Die von ihm vorgelegte neue Definition eines konföderalen Systems – „einen ,Verbund von Gemeinwesen‘ [assemblage of societies] oder . . . eine Vereinigung von zwei oder mehr Staaten zu einem Staat“ – soll vorgeblich Montesquieus Verständnis entsprechen und auf seinen Ausführungen beruhen, wie die Anführungszeichen zeigen. Montesquieus Darlegungen hat Hamilton zuvor wörtlich zitiert: „,Diese Regierungsform ist eine Vereinbarung, durch die mehrere kleinere Staaten beschließen, Mitglieder eines größeren zu werden, den sie zu bilden beabsichtigen. Sie ist [eine Art von] Zusammenschluß von Gemeinschaften, die sich als neue Gemeinschaft konstituieren . . .‘ . . . ,. . . Wird die Föderation aufgelöst, so behalten die Einzelstaaten die Souveränität.‘ “ (Nr. 9, S. 47 f.)

Hier zeigt sich bereits, daß weicht, denn er betont, daß es schaft sind, die den neuen Staat Damit hat Montesquieu einen

Montesquieus Verständnis von Hamiltons abdie Einzelstaaten in ihrer korporativen Eigenbilden, und daß sie ihre Souveränität behalten. (kon-)föderalen Zusammenschluß nach altem

555 Bein, A., Staatsidee (1927), S. 129, geht davon aus, daß Hamilton sich dieses Verfahren zur „Waffe“ gemacht hatte, insbesondere im Hinblick auf Montesquieu. 556 s. vor allem Diamond, M., View (1961). 557 s. dazu Diamond, M., View (1961), S. 115 f. 558 s. Diamond, M., View (1961), S. 114.

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E. Aufbau des Staates

Verständnis vor Augen, d. h. einen Staatenbund. Die von Hamilton benutzte und hier zitierte Übersetzung des Esprit des Lois enthält einige Ungenauigkeiten, die Hamilton seine tendenziöse Paraphrasierung erleichtern;559 nach einer heutigen Übersetzung lautet die obige Passage: „Diese Regierungsform ist ein Vertrag, durch den mehrere politische Gemeinwesen dahin übereinkommen, Bürger eines größeren Staates zu werden, den sie bilden wollen. Sie ist eine Gesellschaft von Gesellschaften, die eine neue bilden . . .“ 560

Hier zeigt sich noch deutlicher, daß sich die Autorität des neuen Staates nach Montesquieus Verständnis auf die politischen Körperschaften bezieht – sie und nicht etwa die Bürger der Einzelstaaten sind die „Bürger“ des neuen Staates.561 Dieses entscheidende Merkmal unterschlägt Hamilton in seiner Paraphrasierung von Montesquieus Aussagen, indem er die Definition der föderativen Republik ausweitet: während er im ersten Zitat noch anführt, daß es sich um „a kind of assemblage of societies that constitute a new one“ handelt (Nr. 9, S. 42), also um eine gewisse Art des Zusammenschlusses von Gemeinschaften (bzw. – wie Montesquieu im Original schreibt – von politischen Körperschaften), definiert er die föderative Republik im zweiten Zitat einfach als „,an assemblage of societies‘, or an association of two or more states into one state“ (Nr. 9, S. 44) und impliziert damit, daß jeder Zusammenschluß von Staaten zu einem Staat darunter fällt. Hamilton selbst scheint sich der Angreifbarkeit seiner Argumentation bewußt gewesen zu sein, denn er schaltet im Anschluß an seine Widerlegung der herkömmlichen Kriterien von der deskriptiven auf die normative Ebene um und führt die mangelnde qualitative Eignung als Zusatzargument gegen das herkömmlich Verständnis an562; er geht in Nr. 15 und 16 ausführlich inhaltlich auf diese Frage ein.563 Aufgrund der mangelnden Überzeugungskraft von Hamiltons Argumentation und des Wissens der Autoren um die Schwäche dieser Position scheint Hamiltons weite Definition nicht sein wirkliches Verständnis des (kon-)föderalen Prinzips widerzuspiegeln, sondern vielmehr dem Zweck zu dienen, die Verfassungsgegner auf der Basis ihrer eigenen Terminologie und ihrer eigenen Autorität – 559

Diamond, M., View (1961), S. 116. Montesquieu, C.-L. de, Geist (1748), Buch IX, Kap. 1, S. 180. 561 s. auch den Vergleich bei Riley, P., View (Publius 8, Nr. 3, 1978), S. 88. 562 s. Nr. 9, S. 49: „Wir werden im Verlauf dieser Untersuchung eindeutig beweisen, daß, soweit das Prinzip, für das man hier kämpft, sich durchgesetzt hat, es Ursache heillosen Chaos und Schwachsinns im politischen System war.“ s. auch Riley, P., View (Publius 8, Nr. 3, 1978), S. 89. 563 s. oben I. 2. a) (1) (a) (aa). Auch Madison widmet sich in Nr. 10 und 14 nochmals ausführlich inhaltlich dem Vorwurf der Verfassungsgegner und weist nach, daß die Größe des Staates kein Nachteil ist, sondern im Gegenteil der Durchsetzung und Sicherung der republikanischen Staatsform dient; s. hierzu bereits oben II. 2. b) (2). 560

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Montesquieu – zu widerlegen.564 Dies bestätigen auch seine abweichenden Ausführungen in Nr. 15, in denen er betont: „Sind wir jedoch nicht bereit, uns in diese gefährliche Lage zu begeben, bleiben wir bei unserem Ziel eines nationalen Regierungssystems [national government] oder, was dasselbe ist, einer obersten Gewalt unter der Leitung eines gemeinsamen Organs, dann müssen wir in unseren Entwurf die Bestandteile einbauen, die den charakteristischen Unterschied zwischen einem Bündnis und einem Regierungssystem ausmachen: Wir müssen die Machtbefugnis der Union auf die Personen der Bürger ausdehnen – die die einzigen geeigneten Adressaten von Regierung sind.“ (Nr. 15, S. 85)

Hier bezeichnet Hamilton entgegen seinen Beteuerungen in Nr. 9, daß es sich um ein föderatives System handelt, den neuen Staat ausdrücklich als „national government“; er behält seine eigene Klassifizierung als föderal also nicht bei. Zudem geht er hier ausführlich auf den „charakteristischen Unterschied“ des Geltungsbereichs der Gesetze ein, den er in Nr. 9 gerade als Merkmal für eine Unterscheidung von Staaten verwirft. (2) Madisons Terminologie Im Gegensatz zu Hamilton widerlegt Madison die Verfassungsgegner auf der Basis des herkömmlichen Verständnisses, indem er anhand der überkommenen, von ihnen angesprochenen Kriterien „die wahre Natur“ des neuen Systems analysiert: „Ohne die Richtigkeit der vorausgehenden Unterscheidung [zwischen einer Konföderation und einem nationalen Regierungssystem] zu befragen, ist es für eine richtige Einschätzung seiner Überzeugungskraft zunächst notwendig, die wahre Natur des in Frage stehenden Regierungssystems festzustellen . . .“ (Nr. 39, S. 228)

Allerdings distanziert sich auch Madison hier in gewisser Weise von der Unterscheidung zwischen der föderalen bzw. konföderalen Form einerseits und einem nationalen Regierungssystem andererseits, indem er darauf anspielt, daß Zweifel an ihrer Berechtigung bestehen könnten. Auch im Laufe der folgenden Diskussion weist er viermal darauf hin, daß er die Termini „föderal“ und „national“ im von den Verfassungsgegnern gebrauchten Sinne verwendet.565 564 So auch Wills, G., Explaining (1981), S. 172, der von Hamiltons „sweet talk“ spricht. A. A. Ostrom, V., Examination (Publius 15, Nr. 1, 1985), S. 8–10; 16 f. Ostrom trennt jedoch nicht zwischen der deskriptiven und normativen Ebene; daraus, daß Hamilton eine (Kon-)Föderation nach altem Verständnis, d. h. einen Staatenbund, in der Sache als ,politisches Monstrum‘ ablehnt (s. Nr. 15, S. 83), leitet Ostrom ab, daß Hamilton auch die alte Definition ablehnt. Diese Schlußfolgerung ist jedoch nicht zwingend und angesichts der oben dargelegten Umstände auch nicht überzeugend. Kritisch zu Ostrom auch Peterson, P., Defense (Publius 15, Nr. 1, 1985), S. 27 f. 565 s. Nr. 39, S. 228: „Daß es sich um einen föderalen und nicht um einen nationalen Rechtsakt handelt, so wie diese Begriffe von den Verfassungsgegnern verstanden

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E. Aufbau des Staates

Aber indem er die Konzeption und Terminologie trotz seiner vorgeblichen Skepsis übernimmt, zeigt er, daß sie im Zeitpunkt der Verfassungsdebatte allgemein anerkannt waren, da es der Widerlegung einer abwegigen Minderheitsposition nicht bedurft hätte, und daß er sie zumindest der Diskussion für würdig erachtet. Der Grund für diese – wohl eher scheinbare – Abgrenzung von der Position der Verfassungsgegner könnten zum einen die abweichende Terminologie Hamiltons in Nr. 9 sein,566 zu der Madison sich sonst in Widerspruch setzen würde, und zudem taktische Erwägungen, da Madison die Verfassungsgegner so nicht nur auf der Grundlage ihrer eigenen Prämissen widerlegt, sondern auch diese Prämissen selbst in Frage stellt. Madison analysiert das neue System anhand von fünf Kriterien: „Um, erstens, die wahre Natur des Regierungssystems festzustellen, kann man es in Beziehung zu dem Fundament setzen, auf dem es errichtet werden soll; zu den Quellen, aus denen seine normalen Kompetenzen [powers] abgeleitet werden sollen; zur Funktionsweise dieser Kompetenzen; zu deren Umfang; und zu der Vollmacht, aufgrund derer zukünftige Veränderungen des Regierungssystems eingebracht werden sollen.“ (Nr. 39, S. 228)

Mit dem ersten Punkt spricht Madison die Ratifikation der Verfassung an und qualifiziert den Staat in dieser Hinsicht als föderal und nicht national: „Betrachtet man die erste Beziehung, so wird einerseits sichtbar, daß die Verfassung auf der Zustimmung und Ratifizierung des Volkes von Amerika basieren soll. Sie wird durch Vertreter gegeben, die zu diesem besonderen Zweck gewählt werden. Diese Zustimmung und Ratifizierung wird vom Volk gegeben, jedoch nicht von Individuen, die eine Gesamtnation bilden, sondern von Individuen, die gesonderte und unabhängige Staaten bilden, denen sie jeweils angehören. Es wird sich um die Zustimmung und Ratifizierung durch einzelne Staaten handeln . . . Der Rechtsakt, der die Verfassung in Kraft setzt, wird also kein nationaler, sondern ein föderaler Akt sein.“ (Nr. 39, S. 228)

Allerdings ist diese Einordnung nicht ganz überzeugend, denn zunächst war keine einstimmige Ratifizierung durch alle Staaten nötig, um die Verfassung in Kraft zu setzen; zudem beschlossen nicht die Einzelstaatslegislativen, sondern eigens vom Volk gewählte Konvente über die Ratifizierung; und schließlich betont die Verfassung selbst in ihrer Präambel, daß sie vom Volk der Vereinigten

werden . . .“; S. 230: „Der Unterschied zwischen einem föderalen und einem nationalen Regierungssystem . . . besteht nach Annahme der Gegner des vom Konvent vorgelegten Entwurfs darin . . .“; S. 230: „. . . seine . . . Handlungen werden es im Sinne seiner Gegner insgesamt in dieser Beziehung als nationales Regierungssystem kennzeichnen“; S. 232: „Die vorgeschlagene Verfassung ist deshalb, selbst wenn man sie nach den Regeln prüft, die ihre Gegner aufgestellt haben, streng genommen weder eine nationale noch eine föderale Verfassung, sondern eine Verbindung von beidem.“ s. hierzu auch Diamond, M., View (1961), S. 119 f.; Ostrom, V., Examination (Publius 15, Nr. 1, 1985), S. 12. 566 Diamond, M., View (1961), S. 120.

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Staaten – und nicht von den Einzelstaaten – verabschiedet wurde.567 Diese Umstände würden eher für eine Einordnung des Ratifikationsmodus als national oder zumindest als aus nationalen und föderalen Elementen gemischt sprechen. Als zweiten Punkt untersucht Madison die Legitimation der Gewalten und unterscheidet hier zwischen Repräsentantenhaus, Senat und dem Präsidenten. Das erstere ordnet er als national ein, denn „Ursprung der legitimen Macht des Repräsentantenhauses wird das Volk Amerikas sein . . . Insoweit ist das Regierungssystem national und nicht föderal.“ (Nr. 39, S. 229)

Den Senat dagegen sieht er als föderales Element: „Andererseits liegt der Ursprung der legitimen Macht des Senates bei den Staaten als politischen und gleichrangigen Gemeinwesen. Diese werden nach dem Gleichheitsgrundsatz im Senat repräsentiert sein, so wie sie es heute im bestehenden Kongreß sind. Insoweit ist das Regierungssystem föderal und nicht national.“ (Nr. 39, S. 229)

Die Macht des Präsidenten sieht Madison aufgrund des vorgeschriebenen Wahlverfahrens aus beiden Quellen gespeist: „Aus dieser Sicht des Systems scheint es gemischter Natur zu sein, und weist ebenso viele föderale wie nationale Züge auf.“ (Nr. 39, S. 230)

Die Funktionsweise des neuen politischen Systems stuft Madison als national ein, da sich die Gesetze des Bundes direkt auf die Bürger und nicht die Einzelstaaten beziehen: „Der Unterschied zwischen einem föderalen und einem nationalen Regierungssystem, soweit es die Funktionsweise des Systems betrifft, besteht nach Annahme der Gegner des vom Konvent vorgelegten Entwurfs darin, daß in ersterem die Kompetenzen auf die Gemeinwesen, aus denen sich die Konföderation zusammensetzt, in ihrer Eigenschaft als politische Körperschaften einwirken, in letzterem auf die einzelnen Bürger, die als Individuen die Nation bilden. Prüft man die Verfassung aufgrund dieses Kriteriums, so fällt sie in die nationale und nicht die föderale Kategorie . . .“ (Nr. 39, S. 230)

Bezüglich des vierten Aspektes, des Umfangs der Bundeskompetenzen, hält Madison den neuen Staat für föderal, da die Bundesebene nur zu bestimmten, enumerierten Zwecken tätig werden darf und die übrigen Kompetenzen bei den Einzelstaaten liegen: „Die Idee eines nationalen Regierungssystems beinhaltet . . . auch die unumschränkte Oberhoheit [supremacy] über alle Personen und Dinge, soweit sie Objekte legaler Regierung sind. Bei einem Volk, das vollkommen zu einer Nation integriert [consolidated] ist, ist diese Oberhoheit vollkommen der nationalen Legislative übertragen. Bei Gemeinwesen, die sich nur für bestimmte Zwecke zusammenschließen, 567 s. Dry, M., Dialogue (1987), S. 54. Kritisch zu Madisons Einordnung auch Carey, G. W., Design (1989), S. 106.

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E. Aufbau des Staates

wird sie teils der gemeinsamen Legislative und teils den Landeslegislativen übertragen . . . In dieser Beziehung kann das vorgeschlagene Regierungssystem nicht für ein nationales gehalten werden, da seine Zuständigkeit sich nur auf bestimmte aufgezählte Gegenstände erstreckt und den einzelnen Staaten eine unantastbare residuelle Souveränität über alle anderen Gegenstände beläßt.“ (Nr. 39, S. 230 f.)

Das letzte von Madison angeführte Kriterium, der Modus der Verfassungsänderung, stellt wiederum eine Mischung aus nationalen und föderalen Elementen dar: „Wäre sie [die Autorität, die über Verfassungsänderungen entscheidet] völlig national, so läge die oberste und letzte Befugnis bei der Mehrheit der Bevölkerung der Union, die jederzeit, wie die Mehrheit jeder nationalen Gesellschaft, das etablierte Regierungssystem ändern oder auflösen könnte. Wäre die Kompetenz zur Verfassungsänderung andererseits völlig föderal, so wäre die Zustimmung jedes Staates der Union zwingend für jede Änderung, die für alle verbindlich sein sollte. Der im Entwurf des Konvents gegangene Weg basiert auf keinem einzelnen dieser Grundsätze. Er verlangt mehr als eine Mehrheit, insbesondere berechnet er den Anteil nach Staaten, nicht nach Bürgern, und weicht damit von einem nationalen zugunsten eines föderalen Merkmals ab. Da er jedoch die Zustimmung von weniger als der Gesamtzahl der Staaten für ausreichend erklärt, büßt er wiederum ein föderales Merkmal ein und erwirbt ein nationales.“ (Nr. 39, S. 231 f.)

Abschließend zieht Madison das Fazit, daß die neue Verfassung ein aus föderalen und nationalen Komponenten zusammengesetztes System schafft: „Die vorgeschlagene Verfassung ist deshalb, selbst wenn man sie nach den Regeln prüft, die ihre Gegner aufgestellt haben, streng genommen weder eine nationale noch eine föderale Verfassung, sondern eine Verbindung von beidem.“ (Nr. 39, S. 232)

Trotz der Unterschiede in der Terminologie und bezüglich der von ihnen untersuchten Kriterien entkräften Hamilton und Madison den Konsolidierungsvorwurf der Verfassungsgegner letztlich mit dem gleichen Argument:568 mit dem Verweis auf die verbleibende Souveränität der Einzelstaaten 569 und ihr durch den Senat gewährleistetes Mitwirkungsrecht auf Bundesebene.570 Das letztere sehen sie dabei als Ausdruck der ersteren:

568 So auch Carey, G. W., Design (1989), S. 109. Daß sich Hamilton und Madison mit ihren unterschiedlichen Ausführungen nicht widersprechen, betont auch Diamond, M., View (1961), S. 119 f. und insb. S. 377, Fn. 10. 569 s. oben a). 570 s. Hamiltons obige Aussage in Nr. 9: „Im vorliegenden Verfassungsentwurf kann von einer Abschaffung der Einzelstaaten keine Rede sein, vielmehr erhalten sie mit dem Senat eine direkte Vertretung und behalten bestimmte ausschließliche und äußerst wichtige Anteile an der Souveränität.“ (Nr. 9, S. 49); und Madisons Ausführungen in Nr. 39: „In dieser Beziehung kann das vorgeschlagene Regierungssystem nicht für ein nationales gehalten werden, da seine Zuständigkeit sich nur auf bestimmte aufgezählte Gegenstände erstreckt und den einzelnen Staaten eine unantastbare residuelle Souveränität über alle anderen Gegenstände beläßt.“ (Nr. 39, S. 231)

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„Die Ausnahme zugunsten eines gleichen Stimmrechts im Senat ist wahrscheinlich als Schutz für die verbliebene Souveränität der Einzelstaaten gedacht, wie sie durch dieses Prinzip der Repräsentation in einem Zweig der Legislative impliziert und gesichert wird . . .“ (Nr. 43, S. 267)

d) Freiheitssichernde Funktion der Einzelstaaten Auch wenn die Einzelstaaten allein nicht zur Erfüllung der Staatszwecke in der Lage gewesen waren, kommt ihnen nach Ansicht der Autoren des Federalist im Gefüge des neuen Bundesstaates in zweifacher Hinsicht eine freiheitssichernde Funktion zu. Zum einen potenziert der durch die Existenz politischer Untereinheiten bedingte föderale Aufbau des Staates die Vorteile eines großen Staatsgebietes, und zwar sowohl die größere gesellschaftliche Zersplitterung als auch die mögliche Vergrößerung der Wahlkreise, die die Wahl besserer Vertreter des Volkes fördert.571 Zum anderen führt die bundesstaatliche Struktur zu einer Machtbegrenzung mittels vertikaler Gewaltenteilung: „In der komplexen [compound] Republik Amerikas wird die vom Volk abgetretene Gewalt zunächst zwischen zwei getrennten Regierungssystemen aufgeteilt, und dann wird der jeweilige Anteil der Macht zwischen den unabhängigen und getrennten Gewalten unterteilt. Für die Rechte des Volkes ergibt sich daraus eine doppelte Sicherheit. Die beiden unterschiedlichen Regierungen kontrollieren sich gegenseitig und werden intern nochmals selbst kontrolliert.“ (Nr. 51, S. 316)

Während die Kontrollmöglichkeiten der Gewalten im Rahmen der horizontalen Gewaltenteilung verfassungsrechtlich verankert sind,572 ist die gegenseitige Kontrolle des Bundes und der Einzelstaaten im Rahmen der vertikalen Gewaltenteilung hauptsächlich politischer Natur.573 (1) Kontrolle des Bundes durch die Einzelstaaten So sind die Einzelstaaten zunächst darauf beschränkt, die Entscheidungen der Bundesorgane kritisch zu beobachten und das Volk auf eventuelle Mißbräuche hinzuweisen: „Unabhängig von den Parteien in den nationalen Legislativen werden die Einzelstaatslegislativen, sooft die Zeit für eine solche Diskussion [über den Etat der Streitkräfte] gekommen ist, immer wachsame und darüber hinaus mißtrauische und eifersüchtige Wächter der Rechte ihrer Bürger gegen Übergriffe des Bundes sein und deren Aufmerksamkeit auf das Verhalten der nationalen Herrscher lenken. Immer bereit, sollte etwas Ungebührliches geschehen, das Volk zu alarmieren, und falls 571

s. dazu oben II. 2. b) (2). Die Kontrollinstrumente sind das Recht der Legislative zur Amtsenthebung, das präsidentielle Veto gegenüber Gesetzesvorlagen und das Normenkontrollrecht der Judikative, s. dazu oben I. 2. b) (3) (c). 573 s. hierzu Epstein, D. F., Theory (1984), S. 54. 572

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nötig, nicht nur die Stimme, sondern auch der Arm seiner Unzufriedenheit zu sein.“ (Nr. 26, S. 153)

Durch ihre Überwachungs- und Informationspolitik können die Einzelstaaten die öffentliche Meinung gegen Maßnahmen des Bundes mobilisieren; reicht dies nicht aus, um den Bund von geplanten unrechtmäßigen Vorhaben abzuhalten, so können die Einzelstaaten ihm in einem zweiten Schritt Widerstand entgegensetzen. Sie sind dabei sowohl zur Überwachung des Bundes als auch zur Organisation des etwaigen Widerstandes besser geeignet als das Volk als große Masse: „Wir können als Axiom unseres politischen Systems feststellen: Die Einzelstaaten werden in allen nur denkbaren Krisen absoluten Schutz gegen Übergriffe der nationalen Regierungsorgane auf die öffentliche Freiheit gewährleisten. . . . Die Legislativen werden über bessere Informationsquellen verfügen. Sie können eine Gefahr schon von weitem erspähen, und da ihnen alle Organe staatlicher und gesellschaftlicher Macht [civil power] zur Verfügung stehen und sie das Vertrauen des Volkes besitzen, können sie umgehend einen ordentlichen Aktionsplan für den Widerstand beschließen, in dem sie alle Ressourcen der Gemeinschaft bündeln.“ (Nr. 28, S. 162)

Die Einzelstaaten bieten einen Kristallisationspunkt für den Unmut der Bevölkerung; sie bieten dem Volk ein Forum, sein Mißfallen zu äußern und dem Bund zu Gehör zu bringen. Zudem können sie dieser Ablehnung auch Gestalt verleihen, indem sie sie in institutionalisierte Bahnen lenken und auf diesem Wege in praktische Maßnahmen umsetzen. Die Mitgliedsstaaten ermöglichen damit eine effektive Artikulation und Durchsetzung des Volkswillens;574 sie haben eine ordnende, regulierende Funktion: „Werden in einem einzelnen Staat die Menschen, die Treuhänder der höchsten Macht sind, zu Usurpatoren, dann können die verschiedenen Untereinheiten, oder Bezirke, aus denen er besteht, keine regulären Maßnahmen zum Selbstschutz ergreifen, weil sie keine separaten Regierungen haben. Die Bürger müssen dann zu den Waffen stürzen, unkoordiniert und unsystematisch, ohne Hilfsmittel außer ihrem Mut und ihrer Verzweiflung.“ (Nr. 28, S. 161)

Mittels der Einzelstaaten kann das Volk sein Vorgehen dagegen abstimmen und sich so effektiver zur Wehr setzen. Allerdings bedürfen die Einzelstaaten für ein Einschreiten gegen den Bund der Zustimmung und Unterstützung des Volkes; in der politischen Sphäre entscheidet letztlich dieses über die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Mitgliedsstaaten.575 Wenn das Volk die von den Einzelstaaten monierten Maßnahmen des Bundes billigt, müssen sich auch die Einzelstaaten damit abfinden, wie Hamilton betont: 574 575

s. Epstein, D. F., Theory (1984), S. 55. s. oben b) (3).

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„In einer Konföderation aber, so läßt sich ohne Übertreibung sagen, ist das Volk vollkommen Herr seines Schicksals. Da Macht fast immer ein Rivale anderer Macht ist, wird die Bundesregierung jederzeit bereit sein, die Usurpation der Einzelstaatsregierungen aufzuhalten, und diese werden gegenüber der Bundesregierung ebenso handeln. Das Volk wird, indem es sein Gewicht in eine der Waagschalen wirft, unweigerlich den Ausschlag geben. Drohen seine Rechte von einer der beiden Seiten geschmälert zu werden, kann es die andere benutzen, um Abhilfe zu erlangen.“ (Nr. 28, S. 162)

Lehnt das Volk die Pläne des Bundes jedoch in Übereinstimmung mit den Einzelstaaten ab, so können die letzteren Gegenmaßnahmen ergreifen. Der Widerstand kann verschiedene Formen annehmen; die erste Stufe wäre der passive Widerstand, d. h. die Verweigerung der Kooperation: „Ist andererseits eine ungerechtfertigte Maßnahme des Bundes in bestimmten Staaten unpopulär . . ., so sind die örtlichen Mittel, sie zu verhindern, in ausreichendem Maß vorhanden. Die Unzufriedenheit des Volkes, sein Zögern, ja vielleicht seine Weigerung, mit den Amtsinhabern der Union zusammenzuarbeiten, die Mißbilligung durch Exekutivbeamte des Einzelstaates und Behinderungen durch in solchen Situationen übliche Beschlüsse der Legislative, würden der Durchführung in jedem Staat nicht unerhebliche Schwierigkeiten in den Weg legen. Sie würden in einem großen Einzelstaat sehr ernsthafte Hindernisse darstellen und dort, wo die Reaktionen mehrerer benachbarter Staaten zufällig übereinstimmten, eine solche Behinderung bedeuten, daß der Bund kaum bereit wäre, sie auf sich zu nehmen.“ (Nr. 46, S. 288)

Bereits eine rein passive Behinderung der beanstandeten Maßnahme würde dem Unmut des Volkes erhebliches Gewicht verleihen; die Verfasser der Essays gehen davon aus, daß schon ein solcher Ausdruck des Unwillens den Bund von einer Verfolgung seiner Pläne abhalten wird, wenn er verbreitet genug ist.576 Der Widerstand würde umso weitere Kreise ziehen und wäre damit umso effektiver, je gravierender die angegriffenen Schritte des Bundes wären: „Machthungrige Übergriffe des Bundes auf die Befugnisse der Einzelstaaten würden dagegen nicht nur den Widerstand eines einzigen Staates oder bloß einiger weniger Staaten auslösen. Sie wären das Signal, um alle auf den Plan zu rufen. Alle Einzelstaaten würden für die gemeinsame Sache eintreten. Sie würden Kommunikationswege öffnen, Pläne für den Widerstand koordinieren. . . . Und sollten die geplanten Neuerungen nicht freiwillig widerrufen werden, so würden die Staaten in diesem Fall ebenso die Waffen ergreifen, um eine Entscheidung herbeizuführen, wie sie das bereits einmal getan haben.“ (Nr. 46, S. 288)

Sollte auch der koordinierte passive Widerstand mehrerer oder aller Einzelstaaten nicht zur Aufgabe des Bundes führen, käme als letztes Mittel der aktive Widerstand in Betracht, d. h. der Griff zu den Waffen. Wie oben bereits erörtert, sprechen die Autoren des Federalist dem Volk ein Revolutionsrecht zu, wenn

576

s. hierzu Carey, G. W., Design (1989), S. 121.

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der Staat das zwischen ihm und dem ersteren bestehende Treuhandverhältnis verletzt und diese Mißachtung seines Auftrags von einer hinreichenden Schwere und Dauer ist.577 Hamilton betont, daß eine Revolution in einem Bundesstaat aufgrund der oben dargelegten Umstände viel eher gelingen kann als in einem Einheitsstaat: „Wenn Volksvertreter ihre Wähler betrügen, gibt es keine andere Zuflucht als das ursprüngliche Recht auf Selbstverteidigung, das allen positiven Formen von Herrschaft vorausgeht und gegen den Machtmißbrauch der Herrschenden auf nationaler Ebene mit unendlich viel größerer Aussicht auf Erfolg ausgeübt werden kann als gegen den Machtmißbrauch der Herrschenden eines einzelnen Staates.“ (Nr. 28, S. 161)578

Selbst für den schlimmsten Fall, daß der Bund sich zur Durchführung seiner usurpatorischen Pläne der Armee bedienen würde – eine Vorstellung, die die Verfasser der Essays ohnehin als „phantastisch“ bezeichnen (s. Nr. 46, S. 289) – nehmen sie an, daß die Einzelstaaten dieser Bedrohung Herr werden könnten: „Es wäre immer noch keine falsche Annahme, daß die Einzelstaaten mit dem Volk auf ihrer Seite in der Lage wären, diese Gefahr abzuwehren. . . . Neben dem Vorteil, bewaffnet zu sein, den die Amerikaner der Bevölkerung der meisten anderen Nationen voraushaben, ist die Existenz untergeordneter Regierungen, zu denen die Bevölkerung eine enge Bindung hat und von denen die Offiziere der Miliz ernannt werden, eine Barriere gegen alle Unternehmungen zum Machterwerb, die unüberwindlicher ist als alle, die ein einfaches Regierungssystem, welcher Art auch immer, bieten kann.“ (Nr. 46, S. 289 f.)

Der Federalist geht jedoch davon aus, daß die Verfassung alle Vorkehrungen zur Verhinderung solcher Szenarien getroffen hat; im Anschluß an die obige Erörterung betont Madison: „Die Argumentation zum vorliegenden Thema kann auf eine knappe und präzise Formel gebracht werden, die vollkommen schlüssig erscheint. Entweder macht die Art und Weise ihres Zustandekommens die Bundesregierung ausreichend abhängig vom Volk oder sie tut es nicht. Im ersten Fall wird sie durch diese Abhängigkeit davon abgehalten werden, Pläne zu schmieden, die ihren Wählern verhaßt sind. Im anderen Fall wird sie nicht das Vertrauen des Volkes besitzen, und ihre Usurpationspläne werden leicht durch die Einzelstaaten vereitelt werden, die dabei vom Volk unterstützt werden.“ (Nr. 46, S. 290)

577

s. dazu oben D. II. 3. a). Die Autoren des Federalist sprechen dieses Revolutionsrecht und damit auch das Recht zum Einsatz von Waffengewalt gegen den Bund nur dem gesamten Volk als solchem zu; sie propagieren kein Recht einzelner Mitgliedsstaaten oder -gruppierungen, sich gegen den Bund und den Rest der Staaten zu wenden und von ihm abzuspalten. Das von den Südstaaten im Bürgerkrieg geltend gemachte Sezessionsrecht läßt sich ihren Ausführungen nicht entnehmen. So auch Epstein, D. F., Theory (1984), S. 55 f.; a. A. Stampp, K. M., Perpetual (JAH 65, 1978, Teil 1), S. 16–18, insb. S. 18. 578

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Hier zeigt sich deutlich, daß die Autoren des Federalist die vertikale Gewaltenteilung nur als sekundäre, ersatzweise Schutzvorkehrung sehen; den primären Schutz für die Freiheit der Menschen im Staat sehen sie in der richtigen Konstituierung der Bundesebene, zu der unter anderem die Gewaltenteilung und die Repräsentation beitragen.579 (2) Kontrolle der Einzelstaaten durch den Bund Die vertikale Gewaltenteilung wirkt jedoch auch in umgekehrter Richtung und ermöglicht dem Bund die Kontrolle der Einzelstaaten. Diese kann er zunächst auf rechtlichem Wege durch den Obersten Bundesgerichtshof ausüben,580 der ein Normenkontrollrecht auch gegenüber den Einzelstaatslegislativen und – exekutiven hat und in rechtlicher Hinsicht die Letztentscheidungskompetenz in Zuständigkeitsstreitigkeiten besitzt.581 Diese Kontrollmöglichkeit allein ist jedoch nicht hinreichend, denn weigern sich die Staaten, die entsprechende Entscheidung anzuerkennen, oder geht es nicht um ein verfassungswidriges Verhalten staatlicher Organe, muß der Bund zu anderen Mitteln greifen, und zwar als ultima ratio zum Einsatz des Militärs:582 „Es kann Fälle geben, in denen der Bund gezwungen ist, zum Mittel der Gewalt zu greifen, daran besteht kein Zweifel. . . . Sollte es solche Ausnahmezustände je im nationalen Regierungssystem geben, es gäbe keine andere Abhilfe als Gewalt. Die eingesetzten Mittel müssen im richtigen Verhältnis zum Umfang des Schadens stehen. Sollte es sich um einen unbedeutenden Tumult in einem kleinen Teil eines Staates handeln, so sollte die Miliz des Staates zur Niederschlagung ausreichen. . . . Sollte der Aufstand andererseits einen ganzen Staat erfassen oder einen wesentlichen Teil davon, würde die Anwendung einer anderen Streitmacht [d. h. der Einsatz der Armee] unausweichlich werden.“ (Nr. 28, S. 159 f.)

So, wie die Einzelstaaten in Ausübung des Revolutionsrechts des Volkes als letztes Mittel mit militärischer Gewalt gegen den Bund vorgehen dürfen, kann sich auch der Bund zur Verteidigung der Rechte des Volkes dieser Methode bedienen. Hamilton spricht im obigen Zitat von der Bekämpfung faktiöser Aufstände; mit dem gleichen Recht könnte der Bund jedoch gegen tyrannische Herrschaft in einem Einzelstaat vorgehen.583 579

s. auch Epstein, D. F., Theory (1984), S. 58. Vgl. Huntington, S. P., Division (1959), S. 194: „The defensive armor of the states was the political process; that of the national government was the judicial process.“ 581 s. dazu oben b) (3). In diesem Umfang sind die Kontrollmöglichkeiten des Bundes im Rahmen der vertikalen Gewaltenteilung also institutionalisiert. 582 Vgl. die Regelung des Bundeszwangs in Art. 37 GG. 583 Allerdings erwähnen die Verfasser der Essays diesen Aspekt nicht; dies zeigt nochmals, daß sie als größtes und bedrohlichstes Problem im republikanischen Staat 580

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E. Aufbau des Staates

Allerdings macht bereits die Existenz dieser Eingriffsmöglichkeit des Bundes die Notwendigkeit ihres Einsatzes unwahrscheinlicher, da sie eine präventive, abschreckende Wirkung hat: „Eine aufrührerische Faktion in einem Einzelstaat kann leicht meinen, daß sie sich gegen die Freunde der Regierung dieses einen Staates behaupten kann, sie wird kaum so verblendet sein anzunehmen, sie könne es mit den vereinten Anstrengungen der Union aufnehmen.“ (Nr. 27, S. 157)

Zudem erschwert die vertikale Gewaltenteilung die Ausbreitung von Faktionen und das Übergreifen eines lokalen Aufstandes auf die anderen Einzelstaaten und die Bundesgremien: „Der Einfluß von Faktionsführern mag in einem einzelnen Staat zum Aufruhr führen, er wird aber nicht wie ein Flächenbrand auf die übrigen Staaten übergreifen können. Eine religiöse Sekte kann in einem Teil des Staatenbundes gelegentlich zur politischen Faktion degenerieren, aber die Vielzahl der über die ganze Konföderation verstreuten Sekten sichert die überregionalen Gremien vor möglichen Gefahren aus dieser Richtung.“ (Nr. 10, S. 58)

Um faktiöse Vorhaben im Gesamtstaat durchzusetzen, müssen in einem Bundesstaat höhere Hürden überwunden werden als in einem Einheitsstaat, da die Einzelstaaten und der Bund je eigene Entscheidungszentren haben, die alle korrumpiert und zur Zusammenarbeit bewegt werden müßten.584 Dieser Schutz vor Faktionen, den die vertikale Gewaltenteilung bietet, ist allerdings – wie der Schutz vor einer tyrannischen Herrschaft des Bundes – nur sekundär. Denn sie ver- oder behindert nicht wie das Repräsentationsprinzip und die Diversifizierung der Gesellschaft die Entstehung von Faktionen, sondern dämmt ihre Ausbreitung nur nachträglich, nach ihrer Entstehung, ein. (3) Ergebnis Die mit dem föderalen Staatsaufbau verbundenen freiheitssichernden Faktoren bilden ein abgestuftes System: die Förderung der Wahl geeigneter Repräsentanten trägt zur Hemmung des faktiösen Impulses bei, während der gesellschaftliche Pluralismus nicht nur die Entstehung des faktiösen Impulses, sondern auch die Gelegenheit zu seiner Ausführung einschränkt. Die vertikale Gewaltenteilung stellt eine diesen präventiven Elementen nachgeschaltete Sicherheitsstufe dar: sollten die anderen Sicherungsmechanismen, zu denen unabhängig vom föderalen Staatsaufbau auch die horizontale Gewaltenteilung zählt, nicht die Tyrannei des Staates, sondern die Unterdrückung der Minderheit durch die Mehrheit des Volkes sahen. Sie gehen lediglich bezüglich der Kontrolle der Einzelstaaten über den Bund auf die Gefahr der Tyrannei ein, weil die Entstehung einer despotischen Zentralregierung die größte Furcht der Verfassungsgegner und eins ihrer Hauptargumente gegen die Annahme des Entwurfes war. 584 s. bereits II. 2. b) (2) (b).

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versagen, können die beiden politischen Ebenen sich zunächst auf politischem Wege und als letztes Mittel mit Gewalt gegenseitig einschränken. Die Rolle der vertikalen Gewaltenteilung ist jedoch nur subsidiär, denn wenn der primäre Schutz vor faktiöser und tyrannischer Herrschaft durchgreift, bedarf es der gegenseitigen Obstruktion von Bund und Einzelstaaten nicht mehr. Die Autoren des Federalist sehen die Freiheit im Staat damit durch ein gestaffeltes Zusammenspiel verschiedener verfassungsrechtlicher, sozialer und politischer Momente gesichert, zu denen als letztes Mittel die Möglichkeit eines militärischen Einsatzes hinzutritt. 3. Vergleich und Ergebnis Sowohl Kant als auch die Autoren des Federalist fordern eine rechtliche Regelung der zwischenstaatlichen Beziehungen aus zwei Gründen: sie halten sie einerseits zum Schutz der Staaten und andererseits zum Schutz der Bürger für notwendig. Allerdings rücken die Rechte der Bürger bei Kant erst in der Metaphysik in den Blickpunkt des Völkerrechts; in den früheren Schriften leitet er die Notwendigkeit der zwischenstaatlichen Verrechtlichung nur aus den Rechten der Staaten ab. Die erstgenannte, jüngere Position Kants, nach der nicht nur die Staaten, sondern auch die Individuen Völkerrechtssubjekte sind, ist überzeugender, denn die Begründung in den älteren Schriften beruht auf einer Analogie zwischen Staaten und Menschen, die nur begrenzt haltbar ist. Die Freiheit der Staaten ist anders als die ihrer Bürger nicht angeboren, sondern lediglich vom Freiheitsrecht der letzteren abgeleitet; hinter den Rechten der Staaten stehen damit letztlich die Rechte ihrer Bürger. Diesen Aspekt spricht Kant in der Metaphysik mit der privatrechtlichen Begründung an. Daher muß sich ein an kantischen Prinzipien orientiertes Völkerrecht und eine entsprechende internationale Vereinigung auf sein Konzept in der Metaphysik stützen und neben den Staaten auch die Individuen als Subjekte des Völkerrechts anerkennen. Der Federalist bezieht seinen Entwurf des zwischenstaatlichen Verhältnisses nur auf die vereinigten amerikanischen, Kant dagegen global auf alle Staaten. Aber die Autoren des Federalist gehen davon aus, daß eine Ausdehnung der Vereinigten Staaten in gewissen Grenzen möglich ist und auch erfolgen wird,585 585 „Eine zweite Beobachtung besagt, daß es das unmittelbare Ziel der Bundesverfassung ist, die Union der dreizehn ursprünglichen Staaten zu sichern . . .; danach aber solche weiteren Staaten anzugliedern, die auf ihrem Gebiet oder in ihrer Nachbarschaft entstehen, was wir ohne Frage beides für möglich und durchführbar halten.“ (Nr. 14, S. 77) s. auch Nr. 51, S. 318: „Je größer eine Gemeinschaft ist, vorausgesetzt ihre Ausdehnung hält sich in praktikablen Grenzen, um so besser geeignet ist sie für die Selbstregierung. Und zum Glück für die republikanische Sache sind diese Grenzen sehr weit dehnbar, wenn man das föderale Prinzip klug und maßvoll anwendet.“

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und Madison spricht die weltweite Ausdehnung eines bundesstaatlichen, friedenssichernden Systems als (wenn auch unerreichbaren) Wunschtraum an.586 Nach Kants Begründung im Frieden und der Metaphysik ist die Errichtung einer völkerrechtlichen Ordnung nicht mehr nur nützlich wie nach den älteren Schriften, sondern zur umfassenden Sicherung der staatlichen (und – laut Metaphysik – menschlichen) Freiheit vernunftgeboten. Dieser Ansatz findet sich im Federalist nicht; seine Autoren begründen die Notwendigkeit einer engeren Verbindung der amerikanischen Staaten pragmatisch, aus ihrer konkreten historischen Situation heraus, und halten sie für nützlich, nicht aber für a priori geboten. Als Form der Verrechtlichung sehen sowohl Kant als auch die amerikanische Verfassung eine Staatenverbindung vor, der eigene Staatlichkeit zukommt, die aber dennoch die Existenz der Einzelstaaten als politische Einheiten bewahrt, d. h. einen bundesstaatlichen Zusammenschluß. Einen Staatenbund halten sowohl Kant als auch Publius für nicht ausreichend, da hier keine Möglichkeit zur zwangsweisen Durchsetzung der Gesetze besteht. Die Apologeten der amerikanischen Verfassung gehen davon aus, daß die Einzelstaaten zur Schaffung einer effektiven, starken Union auf einen Teil ihrer Souveränität verzichten müssen. Dieses Verständnis ist mit Kants Vorstellung von der Unteilbarkeit der Souveränität nicht vereinbar. Der bundesstaatliche Gedanke läßt sich jedoch mit seinem Souveränitätskonzept in Übereinstimmung bringen, indem man den Einzelstaaten und dem Bund bzw. Völkerstaat in ihrem jeweiligen Funktionsbereich die volle, ungeteilte Souveränität zuspricht. Im Gegensatz zur Ansicht des Federalist ist danach die Souveränität nicht horizontal, sondern vertikal aufgeteilt. Der partielle Machtverlust ist sowohl nach Kant als auch nach Publius nicht nur zulässig, sondern erforderlich, weil die Staaten kein Selbstzweck sind, sondern der Sicherung der Rechte ihrer Bürger dienen und hinter diesen Rechten zurückstehen müssen (nach Kant allerdings nur im Rahmen einer übergeordneten Rechtsordnung). Kant sieht einen abgestuften Prozeß der zwischenstaatlichen Verrechtlichung vor: er fordert zunächst aus pragmatischen Gründen die Errichtung eines bzw. mehrerer Völkerbünde, die er jedoch als bloße Vorstufe des Ideals, des Völkerstaates, sieht. Der Gedanke eines anzustrebenden Ideals und einer Verpflichtung zur fortschreitenden Verrechtlichung findet sich im Federalist nicht, aber die 586 „Können sich denn zwei gewalttätige Faktionen, die zu den Waffen eilen und den Staat in Stücke reißen, bessere Schiedsrichter für einen Fall wünschen, in dem es zweifelhaft ist, welche Seite Recht hat, als die Vertreter der konföderierten Staaten, die vom örtlichen Brand unberührt sind? Bei ihnen ist die Unparteilichkeit von Richtern mit der Zuneigung von Freunden vereint. Es wäre ein Glück, wenn allen freien Regierungssystemen ein solches Mittel zur Überwindung von Schwächezuständen zur Verfügung stünde und ein ebenso wirksames System zur Herbeiführung des universellen Friedens der Menschheit errichtet werden könnte!“ (Nr. 43, S. 265)

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geschichtliche Entwicklung der USA hat sich auf dem von Kant beschriebenen Weg vollzogen: Nach der Unabhängigkeit von Großbritannien schlossen sich die einzelnen Staaten zunächst zu einem Staatenbund zusammen, weil sie nicht bereit waren, auch nur partiell auf ihre neu gewonnene Unabhängigkeit und Souveränität zu verzichten; angesichts der Unzulänglichkeit dieses Systems wandelten sie das Bündnis dann mit der Annahme der Verfassung in einen Bundesstaat um. Diese fortschreitende Verstaatlichung der USA vollzog sich auch auf dem von Kant geforderten friedlichen, gewaltlosen Weg; die vom Konvent entworfene Verfassung wurde mit der Zustimmung aller Staaten angenommen. Nach Kants Auffassung besteht ein Zusammenhang zwischen der innerstaatlichen und der zwischenstaatlichen Verrechtlichung; er geht davon aus, daß der anzustrebende Völkerstaat nur auf der Grundlage republikanischer Einzelstaaten errichtet werden kann. Dieser Zusammenhang zeigt sich auch in den USA: die auch schon vor der Revolution angedachte engere Verbindung der Kolonien konnte erst nach der Loslösung von Großbritannien in den nunmehr republikanisch verfaßten Einzelstaaten erreicht werden. Während Kant jedoch davon ausgeht, daß Republiken friedensgeneigter sind als andere Staaten und Handelsbeziehungen einen kriegsverhütenden Einfluß haben, lehnen die Autoren des Federalist diese Annahme ab.587 Neuere empirische Daten geben beiden Positionen in gewisser Hinsicht recht; sie zeigen, daß Republiken im Sinne demokratischer Rechtsstaaten zwar untereinander kaum Kriege führen (bzw. bisher geführt haben), sich im Verhältnis zu anderen Staaten jedoch nicht friedlicher gerieren als diese588. Um seine primäre Funktion der Rechtssicherung zu erfüllen, die durch die sekundäre, subsidiäre der Gemeinwohlförderung ergänzt wird, muß der Zentralstaat wie seine Gliedstaaten sowohl nach Kant als auch nach dem Federalist gewaltenteilig und repräsentativ organisiert sein. Da nach Kants Ansicht in der Metaphysik nicht nur die Staaten, sondern auch die Individuen Völkerrechtssubjekte sind, müssen auch sie im Völkerstaat repräsentiert werden, während nach 587 „Es sei das Wesen von Republiken – so sagen sie – friedlich zu sein, das Wesen von Handelsbeziehungen deren Tendenz, das Verhalten der Menschen zu mäßigen und aufflackernde Aggressionen zu löschen, die in der Vergangenheit dann häufig in Kriegen voll entflammt seien. . . . Waren denn Republiken in der Vergangenheit weniger dem Krieg verfallen als Monarchien? Werden nicht erstere genau wie letztere von Menschen geleitet? Kommen Abneigung, Vorliebe, Rivalität und das Verlangen nach ungerechtfertigtem Eigentumserwerb bei Nationen nicht ebenso vor wie bei Königen? Sind Abgeordnetenhäuser nicht ebenso häufig Gefühlen wie Wut, Ablehnung, Eifersucht, Habgier und anderen unziemlichen und gewalttätigen Neigungen ausgesetzt? . . . Sind nicht ebenso viele Kriege aus handelspolitischen Motiven geführt worden, seit der Handel zum bestimmenden Wirtschaftssystem der Nationen geworden ist, wie sie vorher durch territoriale oder imperiale Gelüste ausgelöst wurden?“ (Nr. 6, S. 27) Daß die Ansicht des Federalist sich insofern von der Kants unterscheidet, betont auch Kesler, Ch. R., Federalist 10 (1987), S. 30. 588 s. oben Fn. 450.

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seinen Prämissen in den älteren Schriften nur die Staaten ein Recht darauf haben. Diese Repräsentation der Staaten und Menschen könnte – auch wenn Kant selbst sich hierzu nicht äußert – im Wege eines Zweikammersystems erfolgen, das auch die Legislative der Vereinigten Staaten kennzeichnet. Da Kant die Verrechtlichung in globaler Perspektive sieht, tritt bei ihm neben das Staats- und das Völkerrecht noch ein weiterer Rechtskreis: das Weltbürgerrecht, das das Verhältnis des einzelnen zu fremden Staaten und Bürgern regelt. Die amerikanische Verfassung geht bezüglich der USA in Art. 4 Abschn. 2 Abs. 1 auf diese Frage ein, der bestimmt, daß die Bürger jedes Einzelstaates alle Vorrechte und Freiheiten der Bürger anderer Einzelstaaten genießen. Kants Konzept ist demgegenüber einerseits beschränkter, da sein Weltbürgerrecht nur ein Besuchsrecht ist, andererseits aber umfassender, da dieses Recht nicht nur gegenüber bestimmten Staaten, sondern gegenüber jedem Staat der Erde und seinen Bürgern gilt.

F. Schlußbetrachtung Die vorstehende Untersuchung hat gezeigt, daß Kant und die Autoren des Federalist in ihrer Beschäftigung mit der Frage nach dem „richtigen“ Staat ausgehend von unterschiedlichen theoretischen Prämissen zu ähnlichen praktischen Ergebnissen kommen. Dabei führen die abweichenden Entstehungsbedingungen und Zielsetzungen der Werke Kants und Publius’ zu unterschiedlichen Schwerpunkten: Während Kant sich eingehend mit den theoretischen Grundlagen des Staates, seinem Zweck und seiner Legitimation, beschäftigt, gehen die Autoren des Federalist nur kurz auf diese Fragen ein und folgen insoweit dem vorherrschenden Verständnis ihrer Zeit. Ihr Hauptaugenmerk widmen sie – der Intention der Essays gemäß – den „praktischen“ Aspekten, d. h. dem Aufbau und der konkreten Ausgestaltung des Staates. Kant dagegen stellt den Staatsaufbau nur in den Grundzügen vor und überläßt die weitere, detaillierte Organisation der Politik. Die Verfassungsväter und in ihrem Gefolge die Autoren des Federalist betraten mit dem Entwurf bzw. der Verteidigung einer Verfassung für einen großflächigen republikanischen Staat in weiten Teilen Neuland; hier konnten sie nicht unbesehen überkommene Prinzipien übernehmen, sondern mußten sie einem neuen Kontext anpassen oder etwas gänzlich Neues schaffen. An diesen Stellen, an denen die Verfasser der Essays ihr eigenes Verständnis der relevanten staatsrechtlichen Prinzipien entwickeln, zeigen sich frappierende Übereinstimmungen mit Kants Ausführungen.1 In den theoretischen Fragen dagegen, in denen die Autoren des Federalist die herkömmlichen Vorstellungen aufgreifen, überwiegen die Unterschiede zwischen ihrem und Kants Ansatz. Zwar gehen Kant und die Verfasser der Essays von der gleichen grundlegenden Prämisse aus: von der Annahme, daß zwangsbewehrte staatliche Herrschaft zur Sicherung der Freiheit und Rechte des einzelnen notwendig ist. Aber während Kant eine vernunftrechtliche Verpflichtung der Menschen zum Leben im Staat postuliert, die sich als Korrelat ihres angeborenen Freiheitsrechts und des seiner umfassenden Verwirklichung dienenden prinzipiellen Rechts auf Eigentum ergibt,2 ist das Verlassen des Naturzustandes nach Auffassung Hamiltons, Madisons und Jays zwar nützlich, nicht aber geboten.3 1 s. auch Hendel, Ch. W., Freedom (1957), S. 124, Fn. 29: „The agreement in ,fundamental principles‘ is striking.“ 2 s. oben C. I. 3 s. C. II.

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F. Schlußbetrachtung

Dieser grundlegende Gegensatz führt zu einer unterschiedlichen Beurteilung der Funktion des Gesellschaftsvertrages: Nach Kants Konzept, nach dem sich der staatliche Autoritätsanspruch auf die jedem Menschen obliegende Pflicht zum Leben im Staat stützen kann, ist der Sozialkontrakt von Legitimationsaufgaben entlastet und hat als Idee des freiheitlichen Zusammenschlusses der Bürger eine normative Funktion.4 Nach dem Verständnis des Federalist dagegen dient der Gesellschaftsvertrag sowohl der Legitimation als auch der Limitation staatlicher Herrschaft, deren Autoritätsanspruch dem Grunde und dem Umfang nach von der Zustimmung des Volkes abhängig ist.5 Verletzt der Staat die ihm vom Volk zur treuhänderischen Wahrnehmung übertragenen Rechte in gravierender Weise, so steht dem Volk nach Ansicht Publius’ ein Recht zum aktiven Widerstand bzw. zur Revolution zu.6 Kant dagegen lehnt aufgrund der menschlichen Verpflichtung zum Leben im Staat ein aktives Widerstandsrecht kategorisch ab, spricht den Menschen aber ein Recht – und die Pflicht – zum passiven Widerstand aus Gewissensgründen zu.7 Mit seiner Konzeption überwindet Kant den Widerspruch, der der herkömmlichen Gesellschaftsvertragslehre immanent ist und dem auch Publius unterliegt: das Problem, daß der Vertrag die ihm abgeforderte Begründungsleistung nicht erbringen kann, weil seine herrschaftslimitierende, widerstandslegitimierende Funktion die auf ihn gestützte Legitimation des Staates konterkariert und aufhebt.8 Trotz dieser unterschiedlichen theoretischen Ansätze stimmen Kant und die Autoren des Federalist in praktischer Hinsicht darin überein, daß sie ein gewaltenteilig und repräsentativ organisiertes demokratisches Regierungssystem rechtsstaatlicher Prägung fordern, das seine Beziehungen zu den übrigen Staaten auf eine rechtliche Grundlage stellt. Die Existenz dreier staatlicher Gewalten halten sowohl Kant als auch Publius nicht primär zur Teilung und Begrenzung der staatlichen Macht, sondern logisch vorgängig zunächst zur Konstitution dieser Macht für notwendig. Beide Autoren weisen darauf hin, daß erst mit der Schaffung einer gesetzgebenden, ausführenden und rechtsprechenden Gewalt ein funktionsfähiger Staat entsteht.9 Erst in zweiter Linie stellen sie darauf ab, daß die Teilung der Gewalten auch der Limitation der staatlichen Macht dient und durch die Sicherung der Rechtsförmigkeit des staatlichen Handelns zum Schutz der Freiheit des einzelnen beiträgt.10 Zur Aufrechterhaltung der Gewaltenteilung sehen die Autoren ein ge4

Vgl. D. I. s. D. II. 6 s. oben D. II. 3. 7 Vgl. D. I. 5. 8 s. hierzu D. III. 9 Vgl. E. I. 1. a) und 2. a). 10 s. E. I. 1. b) und 2. b). 5

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gensätzliches Verfahren vor: Kant geht von einem statischen Verhältnis der Gewalten zueinander aus und fordert eine strikte funktionale Trennung bei gewissen strukturellen Verschränkungen,11 während der Federalist, der das Verhältnis der Gewalten zueinander als dynamisch ansieht, auf eine weitestmögliche strukturelle Trennung setzt und bestimmte funktionale Verschränkungen zuläßt.12 Die Staatsgewalt muß sowohl nach Ansicht Kants als auch des Federalist vom Volk ausgehen. Beide sprechen den Menschen nicht nur die negative Freiheit zu, ihr Leben unabhängig von den Vorgaben anderer nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, sondern prinzipiell auch die positive Freiheit zur politischen Partizipation.13 Die Herrschaft des Volkes darf dabei aber nicht unmittelbar, sondern muß repräsentativ ausgestaltet sein, um eine Unterdrückung der Minderheit durch die Mehrheit zu verhindern. Sowohl Kant als auch Publius sehen durch die Repräsentation des Volkes in den staatlichen Organen eine Erweiterung und Verfeinerung des politischen Willensbildungsprozesses bewirkt, die dafür sorgt, daß nicht der rein numerische, partikulare Mehrheitswille entscheidet, sondern ein Mehrheitswille, der die Belange aller Bürger und damit auch der Minoritäten mitberücksichtigt.14 Kant und die Autoren des Federalist stimmen auch darin überein, daß sie sich in ihren Ausführungen nicht allein auf die innerstaatlichen Verhältnisse beschränken, sondern die Tatsache in ihre Überlegungen einbeziehen, daß sich der einzelne Staat stets in der Gesellschaft anderer Staaten befindet. Zur umfassenden Rechts- und Freiheitssicherung sehen sowohl Kant als auch Hamilton, Madison und Jay die Notwendigkeit, die zwischenstaatlichen Beziehungen rechtlich zu regeln, und zwar durch einen Zusammenschluß auf bundesstaatlicher Basis. Hierzu müssen die einzelnen Staaten auf einen Teil ihrer Souveränität bzw. in Teilbereichen auf ihre Souveränität verzichten und sie einem übergeordneten staatlichen Gebilde übertragen, dessen Gesetze nicht nur für die Einzelstaaten, sondern auch für ihre Bürger gelten und ihnen gegenüber zwangsweise durchgesetzt werden können.15 Allerdings beziehen die Autoren des Federalist diesen Gedanken konkret nur auf die nordamerikanischen Staaten und sprechen ihn in globaler Hinsicht lediglich als Wunschtraum an,16 während Kant eine Pflicht der Staaten zur weltweiten Verrechtlichung postuliert. Die dargestellten Übereinstimmungen zwischen der Staatsphilosophie Kants und der vom Federalist verteidigten Verfassung der USA zeigen, daß sich in 11

s. hierzu E. I. 1. b). Vgl. E. I. 2. b) (3). 13 Zu Kants entsprechenden Vorstellungen s. D. I. 3. a) (2) (b) und 3. c). Zur Auffassung des Federalist s. D. II. 2. a) (2) und b) sowie c) (2). 14 s. E. II. 15 Vgl. E. III. 16 s. Nr. 43, S. 265. 12

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der Beantwortung der Frage nach dem „richtigen“ Staat Theorie und Praxis nicht widersprechen müssen. Jay hatte die Befürchtung geäußert, daß die Unmöglichkeit der praktischen Durchsetzung eines freiheitlichen, republikanischen Regierungssystems auch die Theorie diskreditieren würde: „Let us also be mindful that the cause of freedom greatly depends on the use we make of the singular opportunities we enjoy of governing ourselves wisely; for if the event should prove, that the people of this country either cannot or will not govern themselves, who will hereafter be advocates for systems, which, however charming in theory and prospect, are not reducible to practice.“ 17

Kant dagegen nimmt den umgekehrten Standpunkt ein; er geht davon aus, daß eine Abweichung von der Theorie die Praxis disqualifiziert: „. . . es gibt eine Theorie des Staatsrechts, ohne Einstimmung mit welcher keine Praxis gültig ist.“ (Gemeinspruch S. 164)

Der Vergleich beider Konzepte belegt, daß sich auf den von Kant aus der Vernunft abgeleiteten und den der amerikanischen Bundesverfassung zugrundeliegenden Prinzipien ein stabiler demokratischer Staat begründen läßt, der seinen Zweck der Freiheits- und Rechtssicherung erfüllen kann und flexibel genug ist, sich geschichtlichen Entwicklungen anzupassen. Allerdings betont Kant, daß „. . . der Idee einer Staatsverfassung überhaupt . . . adäquat kein Beispiel in der Erfahrung untergelegt werden kann . . .“ (S. 499) und damit jeder phaenomenale Staat hinter dem Vorbild der reinen Republik zurückbleibt. Diese Defizienz der realen Staaten zeigt sich auch am Beispiel der USA: So existierte nach der Verabschiedung der Verfassung in den Südstaaten noch über ein halbes Jahrhundert lang die Sklaverei, die einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung die in der Unabhängigkeitserklärung und der Verfassung postulierte Freiheit vorenthielt. Die apriorischen Prinzipien der Gewaltenteilung, der repräsentativen Demokratie und der Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen haben nach Kants Konzept für jeden realen Staat Vorbildcharakter; ihre normative Funktion gilt auch in heutiger Zeit und für die Staaten, die diese Grundsätze schon weitgehend verwirklichen. Auch sie dürfen sich nicht auf ihren Errungenschaften ausruhen, sondern müssen sich stets die Tatsache vor Augen halten, daß sie kein Selbstzweck sind, sondern der Sicherung der Freiheit und Rechte ihrer Bürger, und zwar aller Bürger, dienen. 17 Zitiert nach Taylor, Q. P., Essential (1998), S. 43 f., Fn. 24. („Laßt uns auch bedenken, daß die Sache der Freiheit stark von dem Gebrauch abhängt, den wir von den einzigartigen Gelegenheiten machen, die sich uns bieten, uns weise selbst zu regieren; denn wenn die Angelegenheit zeigen sollte, daß die Menschen dieses Landes sich nicht selbst regieren können oder wollen, wer wird sich in Zukunft für Systeme einsetzen, die, wie reizend sie auch in der Theorie und als Aussicht sein mögen, sich nicht auf die Praxis reduzieren lassen.“) s. auch Hamiltons Warnung in Nr. 1: „Ein falscher Schritt, bei dem was wir tun, muß aus dieser Perspektive als Unglück für die gesamte Menschheit erscheinen.“ (Nr. 1, S. 1)

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Insbesondere in einer Hinsicht kommt den Ausführungen Kants und des Federalist gerade in heutiger Zeit eine Leitbildfunktion zu, in der die Auswirkungen von Kriegen immer weiter reichen und die Möglichkeit eines globalen Vernichtungsschlages alle Menschen bedroht: im Hinblick auf die Friedenssicherung durch eine Regelung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Einen Schritt in diese Richtung stellen die Vereinten Nationen18 und die Europäische Union dar; für eine dauerhafte, umfassende Sicherung des Friedens ist es jedoch nötig, diese Ansätze weiterzuentwickeln. So hat die Geschichte der Vereinigten Staaten gezeigt, daß weder ein bloßes Bündnis, wie es unter den Konföderationsartikeln bestand und mit den Vereinten Nationen vorliegt, noch ein lokal begrenzter staatlicher Zusammenschluß ausreichen, wie ihn die Europäische Union darstellt. Denn während die amerikanische Bundesverfassung mit Ausnahme des Bürgerkrieges für Frieden zwischen den Einzelstaaten gesorgt hat, haben die USA gegen andere Staaten mehrfach Krieg geführt. Insofern gilt es, über das Vorbild der Vereinigten Staaten hinauszugehen und orientiert an der globalen Perspektive Kants einen weniger engen, dafür aber weltweit ausdehnbaren Zusammenschluß republikanischer Staaten zu schaffen, der zur effektiven Durchsetzung der von ihm gefaßten Beschlüsse in der Lage ist. Daß dieses Ziel in der Praxis nur unter großen Schwierigkeiten durchzusetzen sein wird, darf nicht davon abhalten, nach einer umfassenden Verrechtlichung der internationalen Beziehungen zu streben, denn jeder Schritt in diese Richtung wird die Menschheit dem Zustand näher bringen, den Publius als Wunschtraum und Kant als normatives Ideal, als „höchste[s] politische[s] Gut“ und „Endzweck der Rechtslehre“ (S. 479), vorstellt: dem „universellen Frieden. . . der Menschheit“ (Nr. 43, S. 265), dem „ewigen Frieden“ (S. 479).

18 s. die Präambel der Charta der Vereinten Nationen: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, . . . haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.“ s. auch Art. 1 der Charta: „Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele: 1. Den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren . . .“

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Personen- und Sachverzeichnis Absolutismus 18 – aufgeklärter 18, 24 Adair, Douglass 76, 80 Adams, John 37, 44, 62, 68 Adams, Samuel 31, 45, 55 agrarian-localists 54–55 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 481 amendments – conditional 67 – explanatory 67 – recommended 66–67, 69 Amtsenthebung s. impeachment Anti-Federalists – Anhänger 54–55 – Argumente/Befürchtungen 55–56 – Begrifflichkeit 53 Apprehension s. Besitznehmung Arbeitstheorie des Eigentums 119–121 Aristokratie 228–229 Aristoteles 375 – Einteilung der Staatsformen 229 Articles of Confederation 344 – Inhalt 36 – Inkrafttreten 35 – Kongreßkomitees 359 – Ruf nach Reformen 43 Attorney General of the United States 69 Aufklärung 18, 157, 231–232, 269, 476–477 Autokratie 228–229, 416–417 Bank of the United States 73 Beard, Charles 301, 429–430 Benson, Egbert 79

Besitz 93–94, 96–97 – intelligibler 94 – physischer 93–94 Besitznehmung 118–125 – Begriff 118 – kein Akt der Gewalt 118–119 – keine quantitativen Aneignungsschranken 122–125 Besteuerung s. Steuern Bezeichnung 125 Bill of Rights 51, 61, 68, 69–70, 307– 308 Boston Tea Party 31 Bourne, Edward Gaylord 80 Bouterwek, Friedrich 259 britisch-französischer Krieg 29 Bündel von Kompromissen 17 Bundeskanzler (der Bundesrepublik Deutschland) 382 Bundesrat (der Bundesrepublik Deutschland) 385 Bundesregierung (der Bundesrepublik Deutschland) 360, 382, 387 Bundesrepublik Deutschland 367–368, 494 Bundesstaat 54, 344, 464–465, 502–504, 505, 520–521, s. auch Föderalismus – als Novum 85 – Gesetzgebung für Individuen, nicht Einzelstaaten 348–350, 480 Bundestag (der Bundesrepublik Deutschland) 382, 387 Bürger/Staatsbürger 18, 40, 64, 68, 235, 239, 294, 313, 317, 333, 435, s. auch Selbständigkeit und Wahlrecht – Begriff bei Kant 203, 211–212, 216– 219, 324–326 – Begriff im Federalist 289

Personen- und Sachverzeichnis Bürgerkrieg, amerikanischer 21, 318, 527 bürgerlicher Zustand 88, 105, 116, 128, s. auch Staat und Verfassung, bürgerliche – zwischen den Staaten 112, 460 Burke, Edmund 443 Burr, Aaron 60, 79 Caesar 52, 57 Cato 52, 56–57 Charles I. 27–28 charter colonies 28 charters 28, 33, 35 civil law-System 369 Clinton, George 55–57 Clintonians 56 Coercive Acts 32 – Administration of Justice Act 32 – Boston Port Act 32 – Massachusetts Government Act 32 – Quartering Act 32 commercial-cosmopolitans 54 common law-System 369 Common Sense 33 Concord 32 Connecticut Compromise 47 Currency Act 30 Daseinsvorsorge 186 declaratio s. Bezeichnung Declaration of Colonial Rights and Grievances 32 Declaration of Independence 34–35, 300–305, 313 – Gleichheitsbegriff 301–302 Declaratory Act 31 deferential society, Auflösung der 40 Deflation 38 Demokratie 228–229, 300–302, 442 – Begrifflichkeit im 18. Jahrhundert 288 – direkte 236–239, 298–299, 413 – repräsentative 236–237, 288, 325, s. auch Republik

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Demokratisierung der Gesellschaft (USA) 40–41 Despotie 55, 85, 146, 230, 236–238, 239–240, 244, 254, 256, 305, 333– 334, 346, 413, 462, 466–467, 469, 502, s. auch Tyrannei – Begriff bei Kant 238 Despotismus s. Despotie Dickinson, John 20 Ding an sich selbst 95–96, 204–205 East India Tea Company 31 Eherecht 90, 316 Eigentum 292–295 – absolutes Recht 92 – als vernunftgebotene Institution 100 – Antinomie 96 – Begriff bei Kant 90–92, 131–132 – Dynamik von Kants ~stheorie 106, 110–114, 130, 134–136, 321–322 – heute gängige Definition 91 – kein Gewaltmotiv in Kants ~stheorie 122 – Koppelung mit dem Wahlrecht 294– 295 – peremtorisches 105–109, 113–114, 455–456 – provisorisches 105–112, 134, 455–456 – staatliche Gestaltungsbefugnis 106– 109 – und Staat, wechselseitiger Bezug 134–136 – Verbindung zur Freiheit 98–100, 103, 134, 157–158, 292–293 – weiter Begriff im 18. Jahrhundert 292 Eigentümerkolonien s. proprietory colonies Einheitsstaat 53–54, 438, 457–458, 464– 465, 467, 479, 502–505, 516, 518 Einigungsplan von Albany 29 Einstimmigkeitserfordernis 36, 43, 303, 431, 510 Elternrecht 90, 225, 316 Empirie s. Erfahrung

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Personen- und Sachverzeichnis

England/Großbritannien 22, 27–30, 32, 35, 37–39, 61, 63, 75, 377 Erbadel – Ablehnung durch den Federalist 297– 298 – Ablehnung durch Kant 158, 214–215 Erfahrung 19–20, 23, 141, 222–223, 236, 272, 451, 467–468, 526 Erkenntnistheorie 25, 94–96 Erlaubnisgesetz 109–111, 128, 246–247 Ermächtigungsgesetz (Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich) 270 Erscheinung 95, 204 Erwerbung – abgeleitete 114–115 – allgemeines Prinzip 116–117 – Begriff 114 – ursprüngliche 114–116 – Voraussetzungen 116–117, s. auch Besitznehmung, Bezeichnung und Zueignung Ethik s. Tugendlehre Europäische Union 527 Exekutive 68–69, 326–328, 359–367 – Aufbau 327–328, 361–362 – Einsetzung durch Wahl 327–328 – Funktion 326–327 – Notwendigkeit von Stärke 359–361 – Rückkoppelung ans Privatrecht 326– 327 – Unabhängigkeit in finanzieller Hinsicht 382–383 Faktionen – Begriff 73–74 – bei Kant 447 – im Federalist 164, 424–425 – Eindämmung ihrer Auswirkungen 297, 404–408, 430–443, 518 – Gefahr in großen Versammlungen 434–435 – Mehrheits~ 431–432 – Minderheits~ 430–431 – negative Wirkungen 424–425

– politische Freiheit als Voraussetzung 426 – Ursachen 427–429 Federalist, The 58–59 – Autoren 58–59 – Bedeutung 81–86 – Beurteilung durch Thomas Jefferson 83 – Einfluß auf die Ratifizierung der Verfassung in New York 82 – Kurzüberblick 63–64 – Persönlichkeitsspaltung Publius’ s. Federalist, The, split personality – split personality 76–77 – Urheberschaft 78–81 Federalists 60–61, 68, 74–75 – Anhänger 54 – Argumente 55–56 – Begrifflichkeit 53–54 Fideikommisse – Ablehnung durch Kant 158 – Aufhebung in den Einzelstaaten 41, 298 Fiske, John 39 Föderalismus 448–522 – Begrifflichkeit 53–54, 78, 503–504 – Hamiltons Terminologie 504–509 – Madisons Terminologie 509–512 – freiheitssichernde Funktion 518–519 – Verstärkung der Auswirkungen des repräsentativen Systems 438–439, 440, 513 – vertikale Gewaltenteilung 513–518 – Kontrolle der Einzelstaaten durch den Bund 517–518 – Kontrolle des Bundes durch die Einzelstaaten 513–517 Folter 25 Franklin, Benjamin 29, 35, 37, 44, 62 Frankreich 38, 62, 75, 477 – Einfluß in Amerika 29–30 – Unterstützung der amerikanischen Kolonien im Unabhängigkeitskrieg 36–37

Personen- und Sachverzeichnis Französische Revolution 21, 25 – Beurteilung durch Kant 234, 264– 265, 421 – Resonanz in den USA 75 Freiheit 203–212, 282–292 – äußere 98–99, 209–212 – Beschränkung 98–99, 211, 283– 286, 288–289, 291–292 – Gefährdung der negativen durch die positive 289–290 – negative 89, 210–211, 283–286 – positive 211–212, 287–292 – bürgerliche s. Freiheit, äußere, positive – gesellschaftliche s. Freiheit, äußere, positive – individuelle s. Freiheit, äußere, negative – innere 205–209 – negative 205 – positive 206–209 – öffentliche s. Freiheit, äußere, positive – republikanische s. Freiheit, äußere, positive – transzendentale 203 – Unvereinbarkeit mit der Sklaverei 286–287 Frieden 138, 140, 147, 306, 350, 372– 373, 455, 457, 460, 468, 471, 475– 476, 485, 520 – von Gent 61 – von Paris 29–30, 35, 37, 39 Friedensbund 462–463 Friedensgeneigtheit von Republiken 476–477, 521 Friedensvertrag 462 Friedrich der Große s. Friedrich II. Friedrich II. 24–25 Friedrich Wilhelm I. 24 Friedrich Wilhelm II. 25, 269 Friedrich Wilhelm III. 25 Gehorsam 191, 257, 259–263, 266–269, 273, 276, 350, 485, 501 Geldverknappung 38

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geltungserhaltende Reduktion 405 Gemeinbesitz s. Gesamtbesitz am Boden, ursprünglicher Gemeinwohl – Begriff im Federalist 175–176, 184– 186 – sekundärer Staatszweck 147–155, 187, 189–190, 481–482 Generalstaatsanwalt der Vereinigten Staaten s. Attorney General of the United States George III. 30, 33–34 Gerechtigkeit – austeilende 88, 130, 322 – Begriff im Federalist 183–184, 295– 296 – beschützende 322 – soziale 481–482 – Begriff 155 – keine Forderung des Federalist 186–187, 190 – keine Forderung Kants 155–159, 161–162, 190 – Verteilungs~ 108–109, 161 – wechselseitig erwerbende 322 Gerry, Elbridge 50–51 Gesamtbesitz am Boden, ursprünglicher 130–134 – als Vermittler zwischen intelligiblem Besitz und Empirie 133 – als Voraussetzung der Zueignung 130–132 – Begriff der Ursprünglichkeit 132–133 – Unterschied zum Eigentum 133–134 – Unterschied zum intelligiblen Besitz 132–133 Geschichtsphilosophie 26–27 Gesellschaft – keine Unterscheidung zwischen Staat und ~ bei Kant 152 – ständische 211, 213 Gesellschaftsvertrag 105, 191–319 – Äquivalent zum kategorischen Imperativ 274–275

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Personen- und Sachverzeichnis

– dualistische Vertragskonzeption 192– 193 – kein Instrument der Widerstandslegitimierung (nach Kant) 241–242 – Kriterien – im Federalist s. Eigentum, Freiheit, Gleichheit – nach Kant s. Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit – kriteriologische Funktion – bezüglich der einfachen Gesetze 198–200, 282 – bezüglich der Verfassung 226–228, 282 – Kriterium der Ordnung der zwischenmenschlichen Verhältnisse 192 – Legitimation des Staates 198, 276– 277 – keine (rückwirkende) bei Kant 191, 198 – monistische Vertragskonzeption Kants 192–194, 311 – Verhältnis zum allgemein vereinigten Willen 200–201 – Virtualisierung der Vertragskonzeption bei Kant 196–198 – Widerspruch in der Vertragskonzeption des Federalist 310, 319 Gesetz – Begriff 206 – moralisches s. Sittengesetz Gesetzgebung – ethische 210 – juridische 210 Gesetzgebungskompetenzen 488–494 – ausschließliche Zuständigkeit des Bundes 490–491 – gleichzeitige Zuständigkeit 491–493 – konkurrierende Zuständigkeit 493–494 – Unterscheidung zwischen ausschließlicher und gleichzeitiger Zuständigkeit 490 Gewalten, staatliche s. auch Exekutive, Judikative und Legislative

– apriorische Bestandteile des Staates 321 – Fundierung im Privatrecht 321–322 – machtkonstituierende Funktion 321, 345–373, 408–409 – Streit um die Schaffung dreier ~ in den USA 345 Gewaltenteilung 330–344, 373–410 – checks and balances 338, 386, 406– 408, 441 – dynamisches Verständnis im Federalist 410 – freiheitssichernde Funktion 333–334, 336–341, 373 – Verhinderung faktiöser Herrschaft 404–408 – Verhinderung tyrannischer Herrschaft 373–376 – funktionelle Trennung (nach Kant) 331–335 – funktionelle Verschränkungen (nach dem Federalist) 387–396 – Inkompatibilitätsregelung 387, 401 – Koppelung von Privat- und Amtsinteressen 403 – Notwendigkeit von Verschränkungen zwischen den Gewalten (laut Federalist) 376–380 – personell-institutionelle Trennung 335–341, 380–387 – Trennung der Judikative 338–340 – Trennung von Legislative und Exekutive 335–338 – statisches Verständnis bei Kant 410 – vertikale s. Föderalismus Gideon, Jacob 79 Gleichheit 212–216, 295–300 – als Staatsbürger s. Gleichheit, bürgerliche – als Untertan s. Gleichheit, natürliche – bürgerliche 215–216, 298–300 – Einschränkung in personeller Hinsicht 298

Personen- und Sachverzeichnis – Einschränkung in systematischer Hinsicht 298–299 – natürliche 213–215, 295–298 – als rechtliche, nicht wirtschaftliche Gleichheit 213–214, 296–297 – Chancengleichheit 214–215, 297– 298 – persönliche s. Gleichheit, natürliche – politische s. Gleichheit, bürgerliche Glückseligkeit – Begriff bei Kant 146 – kein Maßstab staatlichen Handelns 145–147, 185–186, 202 Great Compromise s. Connecticut Compromise Green, Joseph 264 Grotius, Hugo 116, 120 Grundgesetz 21, 201, 221, 226, 390, 393, s. auch Verfassung – der Bundesrepublik Deutschland 368, 490, 492, 494, 496, 498 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten 25 Grundrechtserklärung 33–34, 50–51, 55, 64, 65–66, 226, 307, s. auch Bill of Rights und Virginia Declaration of Rights Grundsatz der Kausalität 204 Haller, Benedikt 414, 447 Hamilton, Alexander 44, 57, 69, 71–74 – Lebenslauf 59–60 Hamiltonians 56 Harrington, James 85 Hausherr 220, 317 Hausherren-Recht 90, 316 Hayburn’s Case 394 Henry, Patrick 45, 55 Herrschaftslegitimation – bei Kant – Ableitung aus der Freiheit der Menschen 142–145 – anthropologische Begründung 137– 142, 160–161, 189

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– eigentumstheoretische Begründung 92–136 – im Federalist 162–182, 276–282, s. auch Gesellschaftsvertrag, Legitimation des Staates Herrschaftsvertrag 193, 311–312, s. auch Unterwerfungsvertrag Hobbes, Thomas 139–141, 188, 245– 246, 279 – Naturzustand als Kriegszustand 140 – Souveränitätskonzeption 340 – Staatsbegründung 140 – teilweiser Rechtsverzicht beim Eintritt in den Staat 194–195 – Widerstandsrecht 245–246, 249 homo noumenon/phaenomenon s. Mensch als Vernunft- und Sinnenwesen Hopkins, George F. 78 Hume, David 85, 436 impeachment 394–396 Imperativ – Begriff 206 – kategorischer 208–209, 226, 261, 274–275 implied powers, Prinzip der 354, 488, 496 Impulse menschlichen Handelns 164– 180, s. auch Meinungen, Leidenschaften und Interessen – Lenkung durch den Staat 181–182 Industrialisierung der USA 73 Industrielle Revolution 162 Inflation 37 Interessen – als Gegenspieler der Vernunft 174–175 – als Impulse menschlichen Handelns 164 – Beeinflussung der Leidenschaften 177–178 – Entstehung 168 – positive Wirkung 175–176

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Personen- und Sachverzeichnis

– Unterscheidung zwischen gemeinschaftsschädlichen und gemeinnützigen ~ 175 – Verbindung zu den Leidenschaften 176–177 iustitia – commutativa s. Gerechtigkeit, wechselseitig erwerbende – distributiva s. Gerechtigkeit, austeilende – tutatrix s. Gerechtigkeit, beschützende Jachmann, Reinhold Bernhard 264 Jacksonian Revolution 360 Jacob I. 27 Jamestown 27 Jay, John 37, 57 – Lebenslauf 62–63 Jay-Treaty 63 Jefferson, Thomas 34, 39, 44, 69, 73– 74, 300–302, 305 Judicial Review 84, 306–307, 369–370, 389–394, 405, 496, 517 – Unvereinbarkeit mit Kants Konzeption 340–341 Judiciary Act 69, 367 Judikative 69, 328–330, 367–373 – Beteiligung des Volkes 329–330 – dreizügiges Rechtssystem des Bundes (USA) 367–368 – Ernennung der Richter auf Lebenszeit 384 – Federal Circuit Courts of Appeal 367 – Federal District Courts 367 – Rückkoppelung an das Privatrecht 328 – Supreme Court 367–368 – Unabhängigkeit in finanzieller Hinsicht 384 – Wahlmodus 384 – Zuständigkeit der Bundesgerichte 368–373

Kant, Immanuel – Überblick über sein philosophisches Werk 25–27 – zeitgeschichtlicher Hintergrund 24–25 Knox, Henry 69 Kolonisation 40, 474, 489 Kompetenzkompetenz 497–502 Kompetenzpräsumtion 496–497 Konferenz von Annapolis 43, 60–61 Konföderationsartikel s. Articles of Confederation Konföderationskongreß 344, 348 – Aufgaben und Befugnisse 36 – Auflösung 68 – Kongreßkomitees 359 – Probleme während der Kritischen Periode 37–39 Kontinentalkongreß – Erster 32 – Zweiter 33, 35 Kontrakt, ursprünglicher s. Gesellschaftsvertrag Kontraktualismus 191 Korrespondenzkomitees 31–32 Kreditsystem 38 Krieg 36, 48, 61, 69, 139–140, 279, 348, 349–350, 352, 360, 362, 364, 372, 451, 453–454, 459, 463, 466, 469–470, 474–476, 478, 485, 491, 527, s. auch britisch-französischer ~, Bürger~, Siebenjähriger ~ und Unabhängigkeits~ Kritik der praktischen Vernunft 25 Kritik der reinen Vernunft 25 Kritik der Urteilskraft 26 Kritische Periode 37–40, 346, 425 Kronkolonien s. royal colonies Kugelgestalt der Erde 132–133 Laurens, Henry 37 Lee, Richard Henry 34, 45, 55 Legalität 210, 260

Personen- und Sachverzeichnis Legislative 323–326, 347–359 – Dominanz im republikanischen Staat 379–380 – Eingriffe in den Bereich der Exekutive 337–338 – enumerierte Kompetenzen 352–353 – Immunität 401 – Indemnität 401 – legislative balances and checks 386, 406 – passives Wahlrecht 326 – repräsentative Gesetzgebungskörperschaft 325–326 – Rückkoppelung ans Privatrecht 323 – Sicherung ihrer Unabhängigkeit 387 – Zweikammersystem 356, 385–386 Leidenschaften – als Gegenspieler der Interessen 177 – als Gegenspieler der Vernunft 169–170 – als Impulse menschlichen Handelns 164 – Beeinflussung der Interessen 177–178 – Beeinflussung der Meinungen 170– 171 – Eindämmung durch die Verfassung der USA 182 – Entstehung 167–168 – positive Wirkung 172–173 – Unterscheidung zwischen gemeinschaftsschädlichen und gemeinnützigen ~ 173 – Verbindung zu den Interessen 176–177 Lexington 32 licentiousness 285 Livingston, William 62 Livius 58 Locke, John 85, 282, 300, 302 – Arbeitstheorie des Eigentums 120–122 – Eigentumsbegriff 292 – Freiheitsverständnis 284–285 – teilweiser Rechtsverzicht beim Eintritt in den Staat 194–195 – Vertragstheorie 278–280 Ludwig XVI. 75, 234–235, 421

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Madison, James 44–45, 57–58, 69–70, 72–74, 83 – Lebenslauf 60–62 Mandat – freies 385, 444 – imperatives 385, 444 Marbury vs. Madison 84, 306, 394 Marshall, John 84, 306, 394 Mason, George 33, 44, 50–51 Massachusetts Bay Company 27 Maxime 206, 274–275 Maximilian I. 372 Mayflower 27 Mayflower Compact 27 Mehrheitsprinzip 411, 423, 430–431 Mehrklassenwahlrecht 216, 219 Mein und Dein – äußeres 89–90 – inneres 89, s. auch Freiheit Meinung, öffentliche 43, 57, 170–171, 432–434, 514, s. auch Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Publizität – hemmende Wirkung auf unrechte Vorhaben 308–309, s. auch transzendentale Formel des öffentlichen Rechts Meinungen s. auch Vorurteile – als Impulse menschlichen Handelns 164 – Entstehung 167 – Unterscheidung zwischen gemeinschaftsschädlichen und gemeinnützigen ~ 172 Meinungsfreiheit 231–232, 258, 269, 307–308, s. auch Meinung, öffentliche, Pressefreiheit und Publizität – Abgrenzung zum wörtlichen Widerstand 247–248 Mensch – als Vernunft- und Sinnenwesen 137– 138, 203–205, 207–208 – ungesellige Geselligkeit 139, 450 Menschenliebe 149 Menschenrecht(e) 202, 222, 269, 273, 480–481

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Personen- und Sachverzeichnis

menschliche Natur – als Grundlage der Staatstheorie des Federalist 163–164 – Begriff im Federalist 162–163 – Einschätzung durch Kant 137–139, 450–451 – Einschätzung im Federalist 178–180, 291 Metaphysik 19 Metaphysik der Sitten 26 – apriorischer Ansatz 141, 196 Minimalstaat 148 Monarchie 228–229 Montesquieu, Charles-Louis de 85, 374, 412, 466, 506–509 – Gewaltenteilungslehre 377–378 – Konzept der Judikative 330 Moral 148, 261, s. auch Sittlichkeit Moralität 210 Morgan, Edmund S. 42 Mündigkeit 157, 220, 224–225, 232, 317, 325 Nachtwächterstaat 148, 186 Napoleon I. 21–22 Nationalsozialismus 270, 273 Natur 20, 98, 133, 139, 189, 204, 208, 265, 471, 476, 478 Naturzustand 88, 181, 188 – als konfliktträchtiger Zustand 137– 138, 142–143 – zwischen den Staaten 112, 449, 450– 454 Necessary and proper-Klausel 48, 73, 353–355, 489, 498 New Jersey Plan 46 Niederlande 37 No taxation without representation 31, 444 Norddeutscher Bund 313 Normenkontrollrecht s. Judicial Review Northwest-Ordinance 39–40, 488–489 Noumen s. Ding an sich selbst

Obrigkeitsstaat 24 Ochlokratie 229 öffentliches Recht, Begriff bei Kant 88 Ökonomische Interpretation 301, 429– 430 Oligarchie 229 Olive Branch Petition 33 Olivenzweigpetition s. Olive Branch Petition Paine, Thomas 33 Parrington, Vernon 429 Parteien, politische 73–75, 84, 425 pater familias s. Hausherr Paternalismus 146, 153, 162 Paterson, William 46 Person, moralische 452 Pflichten gegen sich selbst 336 Pflichtenkollision 260–261 Phaenomenon s. Erscheinung Philosophie – praktische 25 – theoretische 25 Pilgrims 27 Pluralismus 406, 408 Plutarch 58 Plymouth Plantation 27 Politie 229 Politik – Begriff bei Kant 148 – Verhältnis zur Moral 148 possessio – noumenon s. Besitz, intelligibler – phaenomenon s. Besitz, physischer Postulat der praktischen Vernunft 97– 100, 104–105, 117, 128 Postulat des öffentlichen Rechts 136– 137, 141, 151–152, 191–192, 198, 201, 242, 247, 267–268, 416 Präsident der USA – Amtsdauer 362–363 – außenpolitische Befugnisse 364–365

Personen- und Sachverzeichnis – Oberbefehlshaber des Militärs 364– 365 – Vetorecht 366–367, 388–389, 405 – Wahl durch Wahlmänner 359–360 – Wiederwahl 363–364 Präzedenzfälle s. precedents precedents 369, 371 Pressefreiheit 307–308, s. auch Meinung, öffentliche, Meinungsfreiheit und Publizität Preußisches Allgemeines Landrecht 25 Primogenitur, Aufhebung in den Einzelstaaten 41, 298 Privatrecht, Begriff bei Kant 88 proprietory colonies 28 Publius 58 Publius Valerius Publicola 58 Publizität 253–254, 308–309, 318, 389, 473, 480, s. auch transzendentale Formel des öffentlichen Rechts Pufendorf, Samuel 116, 120 Quebec Act 32 Randolph, Edmund 45, 51 Rangfolge – der Staaten 442–443 – der Staatsformen 239–240 Ratifizierung der Verfassung der USA 50, 64–68 Ratifizierungskonvente 64–68 Recht – Abgrenzung zur Ethik/Tugendlehre 209–210 – auf dingliche Art persönliches 90, 316 – Begriff bei Kant 146, 260 – nach dem Krieg 474–475 – persönliches 90 – Verbindung mit der Befugnis zu zwingen 130 – zum Krieg 475 Rechte – des Volkes gegen den Staat 246

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– natürliche 180–181, 188, 276 Rechtspflicht 149 Rechtsprechungskompetenzen 494–496 Rechtsstaat 25, 235 – liberaler 161, 186 Rechtsverzicht beim Eintritt in den Staat 180, 194–195, 276–277 Reform (von oben) 113–114, 228, 231, 234, 239, 241, 247, 251, 256, 265, s. auch Republikanisierung Regierungsart 228–230 – Entkopplung von der Staatsform 229– 230 – Kriterien zur Beurteilung – im Frieden 237–238 – in der Metaphysik 240 Regierungssystem – parlamentarisches 381–382 – präsidentielles 381–382 Reichskammergericht 372–373 Reid, Thomas 85 Religionsedikt von 1788 25 Religionsfreiheit 25, 70, 243, 260 Religionsphilosophie 26 Report on a National Bank 73 Report on Manufactures 73 Report on the Public Credit 71–72 Repräsentantenhaus – Anzahl der Mitglieder 357 – Legislaturperiode 357, 359 – unbegrenzte Wiederwählbarkeit 358– 359 Repräsentation 410–448 – Abgrenzung des Federalist zur aktuellen und virtuellen ~skonzeption 445– 447 – aktuelle 444–445 – Begriff im Frieden 238, 415 – Diversifizierung der Gesellschaft 439–440 – Mittel der Republikanisierung 419– 420 – Mittel der Vereinigung des Volkes 422–423

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Personen- und Sachverzeichnis

– Notwendigkeit zusätzlicher Maßnahmen 441–442 – pragmatische Begründung im Gemeinspruch 411–412 – staatsimmanente Bedeutung (bei Kant) 418–423 – staatstranszendente Bedeutung (bei Kant) 416–418 – Verfeinerung und Erweiterung der öffentlichen Meinung 413–414, 432– 434, 447 – Vergrößerung des Staatsgebiets 435– 436 – virtuelle 30–31, 443–444 – Voraussetzung für die Herrschaft des allgemein vereinigten Willens 412–414 – Voraussetzung für Gewaltenteilung 415 – Wahl geeigneter Repräsentanten 436– 438 Republicans 60–61, 74 Republik 22, 48, 187, 255, 299–300, 419, 432, 436, 489, s. auch Demokratie, repräsentative, respublica noumenon und respublica phaenomenon – aliud zu den Staatsformen 233–234 – als Rechtsstaat 235 – Begriff bei Kant 113 – Begriff im Federalist 287–288, 432 – Begrifflichkeit im 18. Jahrhundert 288 – französische 75 – römische 58 – Verknüpfung mit Kants Eigentumstheorie 113–114, 235 – wahre 18, 113–114, 191, 235, 325 Republikanisierung 113–114, 240, 335, 474, 477, s. auch Reform (von oben) – der Regierungsart 230–232 – historisches Beispiel 234–235, 421 – umfassende 232–236, 419–420 Republikanismus 238, 291, 334, 415, 461 res nullius 97, 102 respublica s. auch Republik

– noumenon 113–114, 235–236, 416– 418 – phaenomenon 113, 233–234, 236, 275, 325, 417–418 Revolution(en) s. Widerstand Roosevelt, Franklin D. 363 Rousseau, Jean-Jacques 176, 412, 416– 417 – dualistische Konzeption des Gesellschaftsvertrages 193 – Souveränitätskonzeption 252, 340 – umfassender Rechtsverzicht beim Eintritt in den Staat 194 royal colonies 28 Rush, Benjamin 290 Sache, Definition bei Kant 99 Sachenrecht 90 Sachgebrauch – allgemeine Freiheitskompatibilität 98– 99, 100–101 – Begriff bei Kant 101–103 Schulden – der Einzelstaaten 72 – Fundierung der Staats~ 71–72 – Kriegs~ 37–38 Schuldnerschutzgesetze 42, 425 Schuldverschreibungen 71–72 Schuyler, Elizabeth 59 Schuyler, Philip 59 Selbständigkeit 216–225, 324–325 – apriorisches Prinzip 219, 221–225 – biologische Faktoren 217–218 – Einschränkung der positiven Freiheit und bürgerlichen Gleichheit 216–217 – Kritik am ~skriterium 221 – Mündigkeit als apriorisches Kriterium 223–225 – ökonomische Kriterien 218–219 – Vermischung von empirischen Kriterien und apriorischem Prinzip 219–221 – Weiterentwicklung von Kants Verständnis in der Metaphysik 222–223

Personen- und Sachverzeichnis Senat – Amtsdauer 357–358 – Anzahl der Mitglieder 356–357 – außenpolitische Befugnisse 365–366 – stabilisierende Funktion 356–359, 435 – ständiges Organ 358 – unbegrenzte Wiederwählbarkeit 358 Sezession 516 Shays’ Rebellion 43–44, 304 Shays, Daniel 44 Siebenjähriger Krieg 25, 29–30 Sinnlichkeit 95–96, 205 Sittengesetz 141, 206–207, 261, 270– 272 Sittlichkeit 25, 141, s. auch Moral Sklaverei 47, 286–287 Soldatenkönig s. Friedrich Wilhelm I. Solon 58 Souveränität – Konzeption des Federalist 391–392 – Konzeption Kants 251–252, 339–344, 520 – Teilung in horizontaler und vertikaler Hinsicht 488, 520 – teilweiser Verzicht der Einzelstaaten 487–488, 520 Soziale Frage 162, 190, 294 soziale Sicherung – keine Aussage im Federalist 186 – Pflicht des Staates (nach Kant) 150– 154 Sozialstaatlichkeit s. Daseinsvorsorge, Gerechtigkeit, soziale und soziale Sicherung Spanien 37–39, 62 – Einfluß in Amerika 29–30 Staat 105, 130, s. auch bürgerlicher Zustand und Verfassung, bürgerliche – Befugnis zur Ausübung von Zwang 181, 188 – Begriff bei Kant 321 – kein Zweck an sich selbst 268, 479 – Pflicht der Menschen zum Eintritt in den ~ 129, 159, 189

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– Pflicht der Staaten zum Eintritt in einen ~ 453 – Zwang zum Eintritt in den ~ 111, 129, 136 Staatenbund 36, 53, 344, 503, 521, s. auch Völkerbund – Unterschied zum (Bundes-)Staat 486, 504 – unzureichende Form des Zusammenschlusses 348–350, 484–486, 520 Staatsbankrott 38 Staatsform 228–229 – Einteilung der ~en bei Aristoteles 229 – Entkopplung von der Regierungsart 229–230 Stamp Act 30–31 Stamp Act Congress 31 Stempelsteuerkongreß s. Stamp Act Congress Steuermarken-/Stempelsteuergesetz s. Stamp Act Steuern 29, 30–31, 36–38, 44, 46, 48, 63, 151–153, 156, 186, 348, 352, 483, 488, 491–493 Sugar Act 30 supranationaler Zusammenschluß 460– 461 Supreme law of the land-Klausel 48, 351–352, 389, 490 Syllogismus s. Vernunftschluß, praktischer Tea Act 31 Townshend Duties 31 transzendentale Formel des öffentlichen Rechts 253, 308, s. auch Publizität Treuhandverhältnis s. trust trust – breach of ~ 302–305 – government as ~ 280–282, 311–312, 497 – Unvereinbarkeit mit Kants Konzeption 311

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Personen- und Sachverzeichnis

Tugend 26 – republikanische 41 Tugendlehre 209–210 Tugendpflicht 149, 153–154, 336 Tyrannei 43, 46, 48, 53, 55, 85, 243– 244, 269–271, 285, 318, 346, 373– 376, 380, 408–409, 426, 466–467, 502, 517, s. auch Despotie – des Volkes 404–405, s. auch Faktionen Tyrannis 229, 242 Tyrannislehre, klassische 244 Unabhängigkeit, amerikanische 25, 32– 34, 36–37, 39, 55 – Kants Einstellung 264 Unabhängigkeitserklärung s. Declaration of Independence Unabhängigkeitskrieg, amerikanischer 22, 32–33, 35–37, 352 UNO s. Vereinte Nationen Unterwerfungsvertrag 151, 193–194, s. auch Herrschaftsvertrag Ursprünglichkeit, Begriff bei Kant 196, 419 Urteilskraft 26 Van Brugh, Sarah 62 Vereinte Nationen 481, 527 Verfassung 108, 147, 189, 193, 226–228, 251, 274, 463, s. auch Grundgesetz – bürgerliche 106, 111, 113, 129, 203, 450, 463, s. auch bürgerlicher Zustand und Staat – eingeschränkte 254–256, 389–390 – gemischte 386 – rechtliche 247 – rechtmäßige 247 – republikanische 212, 217, 227, 477 – von 1850 (Preußen) 219 – weltbürgerliche 451, 462 Verfassung der USA – aktives Wahlrecht 49–50

– Entscheidung durch Ratifizierungskonvente 50 – Grundzüge 48–50 – Kompetenzverteilung 496 – passives Wahlrecht 50 – Quorum für Inkrafttreten 50 – Verhältnis zur Unabhängigkeitserklärung 300–302 Verfassungen der Einzelstaaten 33–34, 41–43 Verfassungsänderung 50, 226, 306, 489, 500–501, 512, s. auch amendments Verfassungsdebatte 51–53, 56–58 Verfassungskonvent – Delegierte 44–45 – Differenzen zwischen großen und kleinen Staaten 46–47 – Differenzen zwischen Nord- und Südstaaten 47 – Umgang mit der Sklaverei 47 Vernunft 18–19, 21, 23, 98–99, 139, 141, 161, 167, 182, 196, 208, 232, 279, 413, 438 – praktische 25, 97–98, 110, 191, 205– 207, 209, 310 – theoretische 25 – Ursprung der Meinungen 166–167 – Verhältnis zu den Interessen 173–176 – Verhältnis zu den Leidenschaften 169–173 Vernunftbegriff, praktischer 132, 196 Vernunftschluß, praktischer 321–322, 334 Verstand 95–96 Verwaltungskompetenzen 494 Virginia Company 27 Virginia Declaration of Rights 33, 44, 61 Virginia Plan 45–46, 61, 83 virtue s. Tugend, republikanische Vizepräsident der USA 60, 68, 394 volenti non fit iniuria 200, 323, 330, 339 Volk – als vereinzelte Menge 250 – vereinigtes 250

Personen- und Sachverzeichnis Völkerbund 462–478 – negatives Surrogat zum Völkerstaat 469–471 Völkerrecht 88, 136, 145, 449–483 – Begriff bei Kant 449 – Begründung – anthropologische 450–451 – vernunftrechtliche 451–456 – keine zwangsweise Implementierung 472–475 – Verknüpfung mit Kants Eigentumstheorie 112, 130, 455–456 – Verrechtlichung auf evolutivem Wege 476–478 Völkerrechtssubjekte 449, 461–462 – Staaten 453–454 – Staaten und Menschen 456–458 Völkerstaat 459–462, 478–483 – als Ziel des Völkerrechts 459–460 – Aufbau 461–462 – bundesstaatliche Ausgestaltung 464– 465 – Funktion 478–483 – Gefahr der tyrannischen oder anarchischen Degeneration 466–468 Volkssouveränität 20, 255, 277, 337, 419, 421 volonté – de tous 176, 237, 250, 413 – générale 176, 237, 413 Vorurteile s. auch Meinungen – als Unterart von Meinungen 165–166 – positive Wirkung 171–172 Wahlbezirke, Neuordnung in den Einzelstaaten 34, 40 Wahlrecht 216–219, 221–222, 225, 294– 295, 298, 302, 317, 326, 499, s. auch Bürger/Staatsbürger und Selbständigkeit – Ausweitung in den Einzelstaaten 34, 40 – nach der Verfassung der USA 49–50, 288–289

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– zu den Ratifizierungskonventen 64, 278 Währungsgesetz s. Currency Act Washington, George 33, 44–45, 59–60, 62, 68–69, 73–74 wechselhafte Rechtslage 42, 289–290 Weltbürgerrecht 88, 136, 145, 448, 458, 522 – Verknüpfung mit Kants Eigentumstheorie 112, 130 Weltrepublik s. Völkerstaat Whigs 443 Widerstand – Einstellung des Federalist 302–309 – breach of trust als Voraussetzung 303–305, 515–516 – grundsätzliche Bejahung eines ~srechts 303–304 – Mittel zur Verhinderung von ~ 305–309 – Einstellung Kants 241–275 – ~sverbot als Gegenstück zum Postulat des öffentlichen Rechts 267–269 – Ablehnung von aktivem ~ 242 – Ablehnung von wörtlichem ~ 247– 248 – anti-restaurative Wirkung von Kants ~slehre 262–263 – geringere Bedeutung des ~es in der Republik 255 – keine Legitimation durch Unterdrükkung der Meinungsfreiheit 258–259 – keine Rechtfertigung durch Rechtsverletzungen 242–244, 247 – keine Rechtfertigung durch Tyrannei 243–244 – keine Rechtfertigung mit Glückseligkeitserwägungen 247 – konstitutionelles ~srecht 248–249, 254–256 – Legitimität von passivem ~ gegen unmoralische Gesetze 259–262, 270–271 – präventive Wirkung von Kants ~slehre 271, 273

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Personen- und Sachverzeichnis

– Revolutionen als Chance in geschichtsphilosophischer Hinsicht 265–266 – Rückfall in den Naturzustand durch ~ 249–251 – Unvereinbarkeit mit Kants Souveränitätskonzeption 251–252 – Verstoß von ~ gegen die Publizitätsfähigkeit 253–254 Wille – allgemein vereinigter 105, 200–201, 422–423 – Autonomie des ~ns 207 – Begriff 206 Willkür – Begriff 206 – freie 208 – menschliche 208 – tierische 208

Wilson, James 285 Wirtschaftskrise 38, 352–353, 483 Wohlfahrtsstaat 24, 162, 186 Wohltätigkeit 149, 154, 157, 460 Wöllner, Johann Christoph von 269 Wunsch 206 Yates, Abraham 57 Zensur – Kants Konflikt mit der preußischen ~ 25, 269 – Kants Reaktion auf ~androhungen 266–267 Zuckergesetz s. Sugar Act Zueignung 126–134 Zweck an sich selbst 99, 226, 269, 414 Zweiweltenlehre 94–96, 113