Die Verzeitlichung der Bildung: Selbstbestimmung im technisch-medialen Wandel 9783839450192

Zeitstrukturen haben - vor allem durch technisch-mediale Entwicklungen im Zuge der Entfaltung moderner Gesellschaften -

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Die Verzeitlichung der Bildung: Selbstbestimmung im technisch-medialen Wandel
 9783839450192

Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Selbstbestimmung und Bildung: Normative Eingrenzungen und bildungstheoretische Fundierungen
Einleitung
2.1 Vorbemerkung: Die Dauerkrise der Bildung und die Funktion der Bildungstheorie
2.2 Selbstbestimmung und die Idee der Aufklärung
2.3 Die Beziehung zwischen Subjekt und Welt als theoretischer Ort von Bildung
2.4 Aneignung und Selbstbestimmung: Zum Prozess der Bildung
2.5 Erstes Zwischenfazit: Bildungstheoretische Grundbedingungen von Selbstbestimmung
3. Zeit im Kontext von Bildung
Einleitung
3.1 Zeit und Bildung: Eingrenzungen des Forschungsfeldes und Positionierung
3.2 Zeit und die Beziehung zwischen Subjekt und Welt
3.3 Zweites Zwischenfazit: Eckpunkte einer bildungstheoretisch anschlussfähigen Charakterisierung von Zeit
4. Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit
Einleitung
4.1 Zeit und Zeitbewusstsein: Philosophische Perspektiven auf Zeit
4.2 Zeit und Sozialität: Soziologische Perspektiven auf Zeit
4.3 Drittes Zwischenfazit und Ausblick: Eckpunkte einer zeittheoretischen Grundlegung der Subjekt-Welt-Beziehung und ihre Implikationen für das Ideal der Selbstbestimmung
5. Komplexität und das Technisch-Mediale
Einleitung
5.1 Komplexität: Systemtheoretische Prämissen und bildungstheoretische Eingrenzungen
5.2 Komplexität und die technisch-mediale Prägung der Beziehung zwischen Subjekt und Welt
5.3 Viertes Zwischenfazit: Systemtheoretische Grundlegung des Komplexitätsbegriffs und seine Bedeutung für Bildungstheorie und Medienpädagogik
6. Zur Gesellschaftsdiagnose der Beschleunigung
Einleitung
6.1 Vorüberlegung: Steigerung als Strukturlogik der Moderne
6.2 Das analytische Grundgerüst der Beschleunigungstheorie Rosas: Von der technischen Beschleunigung zur Beschleunigung des individuellen Lebenstempos und zurück
6.3 Beschleunigung in bildungstheoretischer Perspektive
6.4 Fünftes Zwischenfazit und Diskussion: (Temporale) Entfremdung und die Frage nach Selbstbestimmung
7. Schlussbetrachtungen
7.1 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen: Die Verzeitlichung der Bildung
7.2 Diskussion: Die Verzeitlichung der Bildung und ihre Implikationen im Horizont von Bildungstheorie und Medienpädagogik
7.3 Ausblick: Ende des Subjekts oder Frage nach dem guten Leben?
Nachwort
Bibliografie

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Christian Leineweber Die Verzeitlichung der Bildung

Pädagogik

Christian Leineweber (Dr. phil.) ist Bildungswissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrgebiet Bildungstheorie und Medienpädagogik an der FernUniversität in Hagen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Bildungstheorie, mit Schwerpunktsetzungen auf Selbstbestimmung, digitaler Beschleunigung sowie dem Verhältnis von Subjekt, Technik und Medialität.

Christian Leineweber

Die Verzeitlichung der Bildung Selbstbestimmung im technisch-medialen Wandel

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der FernUniversität in Hagen.

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Inhalt

1

Einleitung..................................................................... 9

2

Selbstbestimmung und Bildung: Normative Eingrenzungen und bildungstheoretische Fundierungen .......................................... 15 Vorbemerkung: Die Dauerkrise der Bildung und die Funktion der Bildungstheorie............................................................ 19 Selbstbestimmung und die Idee der Aufklärung................................ 24 Die Beziehung zwischen Subjekt und Welt als theoretischer Ort von Bildung .... 33 Aneignung und Selbstbestimmung: Zum Prozess der Bildung................... 42 2.4.1 Theoretische Eingrenzungen: Aneignung und die Erfahrung des Fremden .......................................................... 44 2.4.2 Vom Datum der Welt zur Bildung des Subjekts: Die informationstechnische Struktur von Aneignungsprozessen......... 46 2.4.3 Aneignung und die Unterscheidung zwischen Lernen und Bildung ....... 49 Erstes Zwischenfazit: Bildungstheoretische Grundbedingungen von Selbstbestimmung ........................................................... 55

2.1 2.2 2.3 2.4

2.5

3 3.1 3.2 3.3

Zeit im Kontext von Bildung.................................................. 59 Zeit und Bildung: Eingrenzungen des Forschungsfeldes und Positionierung..... 63 Zeit und die Beziehung zwischen Subjekt und Welt............................. 72 Zweites Zwischenfazit: Eckpunkte einer bildungstheoretisch anschlussfähigen Charakterisierung von Zeit .................................. 75

4 4.1

Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit .................................. 79 Zeit und Zeitbewusstsein: Philosophische Perspektiven auf Zeit................ 80 4.1.1 Zeit als reine Form der Anschauung (nach I. Kant) ...................... 82 4.1.2 Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (nach E. Husserl)........ 87 4.1.3 Zeitbewusstsein und qualitatives Erleben (nach H. Bergson).............. 91

4.1.4 Geschichtlichkeit und Subjektivität (nach M. Heidegger)................. 97 4.2 Zeit und Sozialität: Soziologische Perspektiven auf Zeit....................... 103 4.2.1 Zeit als lebensweltliches Strukturelement (nach A. Schütz und Th. Luckmann) ....................................................... 103 4.2.2 Soziale Zeit und Eigenzeit (nach N. Elias) .............................. 109 4.3 Drittes Zwischenfazit und Ausblick: Eckpunkte einer zeittheoretischen Grundlegung der Subjekt-Welt-Beziehung und ihre Implikationen für das Ideal der Selbstbestimmung .................................................. 116 Komplexität und das Technisch-Mediale .................................... 123 Komplexität: Systemtheoretische Prämissen und bildungstheoretische Eingrenzungen .............................................................. 128 5.1.1 Grundannahmen aus Luhmanns Theorie sozialer Systeme ............. 130 5.1.2 Beobachten als Differenz zwischen Unterscheiden und Bezeichnen .... 134 5.1.3 Sinn als Medium der Möglichkeiten .................................... 138 5.1.4 Die (bildungs-)theoretische Grundstruktur von Komplexität ............ 143 5.2 Komplexität und die technisch-mediale Prägung der Beziehung zwischen Subjekt und Welt ............................................................. 147 5.2.1 Zur Sachdimension von Komplexität im Technisch-Medialen: Das emanzipatorische Zusammenspiel von Technik und technischer Praxis (téchne) ........................................... 156 5.2.2 Zur Sozialdimension von Komplexität im Technisch-Medialen: Von der Oralisierung zur Digitalisierung – Kommunikationsmedien und ihr Überschusssinn .............................................. 164 5.2.3 Zur Zeitdimension von Komplexität im Technisch-Medialen: Das Verhältnis zwischen Kontingenz und Selbstbestimmung ............ 172 5.3 Viertes Zwischenfazit: Systemtheoretische Grundlegung des Komplexitätsbegriffs und seine Bedeutung für Bildungstheorie und Medienpädagogik ....... 177

5 5.1

6 Zur Gesellschaftsdiagnose der Beschleunigung ............................. 183 6.1 Vorüberlegung: Steigerung als Strukturlogik der Moderne .................... 185 6.2 Das analytische Grundgerüst der Beschleunigungstheorie Rosas: Von der technischen Beschleunigung zur Beschleunigung des individuellen Lebenstempos und zurück .................................................. 190 6.3 Beschleunigung in bildungstheoretischer Perspektive ........................ 198 6.4 Fünftes Zwischenfazit und Diskussion: (Temporale) Entfremdung und die Frage nach Selbstbestimmung ............................................... 208

Schlussbetrachtungen ....................................................... 217 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen: Die Verzeitlichung der Bildung .... 217 Diskussion: Die Verzeitlichung der Bildung und ihre Implikationen im Horizont von Bildungstheorie und Medienpädagogik ......................... 225 7.3 Ausblick: Ende des Subjekts oder Frage nach dem guten Leben? .............. 232 7 7.1 7.2

Nachwort......................................................................... 237 Bibliografie....................................................................... 239

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Einleitung »›Ich kann‹ ist: ›Ich habe Zeit‹.« (Handke 1985, S. 339)

Die vorliegende Arbeit fragt nach dem Verhältnis von Selbstbestimmung und Zeit unter den Bedingungen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse. Diese Frage stellt sich mit dem Eindruck, dass die Art und Weise, wie Menschen selbstbestimmt zu handeln in der Lage sind, maßgeblich von den Zeitstrukturen abhängig ist, in denen sie leben. Vor allem in den modernen, westlichen Wohlstandsgesellschaften vermag das Leben immer weniger die Zeit, jedoch die Zeit zunehmend das Leben zu bestimmen, so dass ihre Individuen vermehrt an »Sinnkrisen und Überforderungen« (Avanessian 2018a, S. 9) zu leiden scheinen. Gerade der geisteswissenschaftlichen Literatur ist dieser Eindruck nicht fremd, wie einige Beispiele zunächst verdeutlichen können: So kennzeichnet der Philosoph Odo Marquard den Menschen als »Zeitmangel-Wesen«, dessen temporale »Primärerfahrung« die Knappheit sei (Marquard 1991, S. 231). Otto F. Bollnow weiß diese Einschätzung zustimmend zu flankieren, wenn er den Menschen »des modernen zivilisatorischen Daseins« darunter leiden sieht, dass »er nie Zeit hat. Er lebt in einer beständigen Hast, wird von einer Verpflichtung zur anderen gedrängt und kommt niemals zur Ruhe, kommt niemals zu dem, was ihm im Leben eigentlich wichtig wäre, weil sich andres, unwichtiges dazwischenschiebt.« (Bollnow 1979, o.S.) Weitaus pessimistischer weiß es bereits Friedrich Nietzsche zu formulieren, der die westliche Zivilisation aus »Mangel an Ruhe […] in eine neue Barbarei« laufen sieht, in der »die Thätigen, das heißt die Ruhelosen«, mehr als je zuvor gelten (Nietzsche 1878, S. 232). Niklas Luhmann reflektiert diese Ruhelosigkeit im Kontext des sozialen Lebens, um schließlich einen temporal strukturierten Habitus in Form einer sozialen Norm vermuten zu können: »Wer zugibt, viel Zeit zu haben, disqualifiziert sich selbst und scheidet aus der Gesellschaft derer, die

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Die Verzeitlichung der Bildung

etwas leisten, etwas fordern, etwas erhalten können, aus.« (Luhmann 1971a, S. 156) Und nicht zuletzt kulminieren all diese Perspektiven derzeit in der durchaus auch öffentlich wirksam gewordenen Beschleunigungsdiagnose des Soziologen Hartmut Rosa, der moderne Gesellschaftsformen mit folgendem Problem konfrontiert: »Wir haben keine Zeit«, obwohl wir »mithilfe der Technik enorme Zeitgewinne durch Beschleunigung verzeichnen können« (Rosa 2005, S. 11). Wenngleich diesen Perspektiven eine einseitige, oftmals kulturpessimistische Haltung nicht abgesprochen werden kann, so machen sie zweifelsohne auf nicht von der Hand zu weisende Entwicklungstendenzen aufmerksam (vgl. Fuchs/Iwer/Micali 2018, S. 10), denen es in der vorliegenden Arbeit aus einer medienpädagogischen Haltung heraus zu begegnen gilt. Wegweisend dafür ist insbesondere Rosas Beobachtung des dichotom zu bewertenden Zusammenspiels zwischen Zeitgewinn und Zeitknappheit, spielt dieses doch indirekt auf die Gegenüberstellung zwischen Autonomie und Heteronomie, Freiheit und Zwang, ja, zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung an, welche mit dem Programm der intellektuellen Aufklärung Europas zu einer zentralen Angelegenheit von Bildung avancierte (vgl. de Witt 2018, S. 996). Innerhalb dieses Rahmens sensibilisiert Rosas Beschleunigungsdiagnose ausdrücklich dafür, dass mit der Verbreitung technischer Innovationen ein Wandel eingesetzt hat, der in unterschiedlichen Bereichen des alltäglichen Lebens nachweisbare Veränderungen der subjektiven Zeitwahrnehmung bedingt. Die Medienpädagogik, als wissenschaftliche Teildisziplin der Pädagogik, fungiert innerhalb dieses Wandels auf der einen Seite als Akteur hinsichtlich der Aufgabe, nach Möglichkeiten zur technologischen Renovierung von Lern- und Bildungsprozessen zu suchen, die derzeit nicht nur bildungspolitisch – beispielsweise in Form von ›digitaler Bildung‹ – gefordert werden. Auf der anderen Seite scheint sie jedoch ebenso dazu verpflichtet, kritische Tendenzen des gesellschaftlichen Fortschritts nicht aus den Augen zu verlieren, um eine Ermöglichung der Menschenbildung nachhaltig gewährleisten zu können. Insofern sich hier also eine ambivalente Rolle der Medienpädagogik in einer Konstellation andeutet, in der sich Hoffnungen auf Verbesserungen des individuellen wie kollektiven Lebens ebenso wie eine Infragestellung menschlicher Freiheit manifestieren, versteht sich die vorliegende Arbeit als Beitrag, in dem es die Bedingungen von Bildung unter besonderer Berücksichtigung der durch Technologien veränderten Zeitstrukturen der westlichen Gegenwartsgesellschaft zu reflektieren gilt. Verfolgt sind auf diese Weise Überle-

1 Einleitung

gungen, die auf gesellschaftliche Entwicklungen reagieren, ihre Bedeutung für die Bildung des Menschen aufarbeiten und letzten Endes auch versuchen werden, erste Schlussfolgerungen daraus zu gewinnen. Es geht den folgenden Überlegungen daher um »eine Sichtweise auf gesellschaftliche Problembestände« vor dem Hintergrund, dass Bildungsprozesse als »Prozesse der gesellschaftlichen Problemwahrnehmung und Problemlösungsversuche« (Marotzki 1990, S. 53) verstanden werden müssen. In summa resultiert daraus eine interdisziplinäre Konzeption, deren Herzstück jedoch stets die Bildung des Menschen sein wird, die in »Abhängigkeit von der geistigen Situation der Zeit« (Jörissen/Marotzki 2009, S. 239) neu zu durchdenken ist. In Anbetracht dieser Zielsetzung ist die vorliegende Arbeit wie folgt aufgebaut: Im zweiten Kapitel werden zunächst die bildungstheoretischen Vorüberlegungen des hier verfolgten Forschungsvorhabens dargelegt. Gemeinhin besteht eine Schwierigkeit im Nachdenken über Bildung darin, dass der Begriff in verschiedenen Kontexten vor dem Hintergrund unterschiedlicher Absichten verwendet wird, die sich zentral im Spannungsfeld zwischen alltagsgebräuchlichen Sprachspielen, wissenschaftlich-pädagogischen Ausdifferenzierungen und politisch-öffentlichen Geltungsansprüchen verorten lassen (vgl. Jörissen 2011, S. 212; Prüwer 2009, S. 9; Ricken 2007, S. 18ff; Tenorth 1997, S. 970). Insofern muss zunächst verdeutlicht werden, unter welchen Voraussetzungen überhaupt von Bildung gesprochen werden soll. Reagierend auf die oben angeführten kulturpessimistischen Beobachtungen, die die Freiheit der Subjekte in Bezug auf Veränderungen zeitlicher Strukturen moderner Gegenwartsgesellschaften in Frage stellen, wird es vorrangig um eine Festlegung des Bildungsbegriffs auf das Ideal der Selbstbestimmung gehen. Bildung fungiert damit zuvorderst als Normbegriff, an dem alle weiteren Ausführungen zu bemessen sind. Ganz wesentlich wird dabei zu argumentieren sein, dass der theoretische Ort dieses Verständnisses die Beziehung zwischen Subjekt und Welt ist, an dem Selbstbestimmung im Handeln der Subjekte wirkmächtig wird. Hierbei gilt es im Besonderen zu betonen, dass sich die Möglichkeiten der Selbstbestimmung innerhalb eines paradoxen Spannungsfeldes entscheiden, in dem ihre konstitutiven Bedingungen, aber auch die Widerstände, mit denen sie konfrontiert sind, sich am Grad der Komplexität der Gesellschaft bemessen, in der die Subjekte leben. Daran anschließend wird im dritten Kapitel ein Verständnis von Zeit erarbeitet. Thematisiert werden muss in diesem Rahmen zunächst die Vieldeutigkeit des Begriffs, die Zeitbeschreibungen selbst in homogenen und streng ein-

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Die Verzeitlichung der Bildung

gegrenzten Betrachtungsfeldern als »heterogen, inkommensurabel und inkompatibel« (Rosa 2005, S. 23) zueinander erscheinen lässt. Diese Voraussetzung zuspitzend, wird gezeigt, dass gerade in der pädagogischen Forschungslandschaft zwar bereits vereinzelte Studien und Abhandlungen, jedoch keine tradierten Forschungsfelder mit explizit ausgewiesenem Fokus auf Zeit existieren. Wenn dies einen Anschluss der vorliegenden Überlegungen an bereits bestehende, tradierte Konzeptualisierungen vorerst verunmöglicht, so gilt es, Zeit als Phänomen innerhalb der Beziehung zwischen Subjekt und Welt zu erfassen. Dabei wird maßgeblich die Argumentation stark zu machen sein, dass Zeit in letzter Konsequenz nicht ohne Subjektreferenz zu denken ist. Obgleich natürliche Veränderungen auch ohne eine Beobachterin bzw. einen Beobachter stattfinden können und die Bedeutungen sozial konstruierter Zeiten (z.B. die Woche) immer erst zu erlernen sind, gilt es zu argumentieren, dass es sich hier jeweils um Faktizitäten handelt, die erst dort eine Wirkung entfalten, wo Subjekte mit ihnen in Beziehung treten und diese zu einem Teil ihres Lebens werden lassen. Diese subjektbezogenen und gleichsam holistischen Eingrenzungen des Zeitbegriffs werden im vierten Kapitel unter dem Terminus der subjektiven Zeitlichkeit weiter ausdifferenziert. Die Rede von einer subjektiven Zeitlichkeit wird dabei als analytische Kategorie dienen, um die Bedeutung von Zeit im Hinblick auf die Beziehung zwischen Subjekt und Welt weiter explorieren zu können. Diesbezüglich richtet sich der Blick maßgeblich auf die Idee eines zeitlich beschaffenen Subjekts, das sich durch reflexive Wahrnehmungen der Zeitstrukturen der Welt, der Zeitstrukturen des sozialen Lebens und der Zeitstrukturen des eigenen Lebens gewahr wird. Wie es darzulegen gilt, lässt sich diese Position im Anschluss an zeitphilosophische und zeitsoziologische Theorieanlagen vertreten, was einerseits an die bisher rudimentär vorliegende Literatur der Pädagogik zum Thema Zeit anschließt und andererseits ein Bewusstsein von Zeit sowie eine temporal strukturierte Sozialität in den Mittelpunkt subjektiver Zeitlichkeit stellen lässt. Hierbei wird sich im Besonderen zeigen, dass Zeit einerseits ein konstitutives Element aller nur möglichen Konstruktionen subjektiver Wirklichkeit (so z.B. in Form von Wahrnehmung, Erfahrung oder Erkenntnis) ist und andererseits im sozialen Zusammenleben eine heteronome Wirkkraft entfaltet, die mit dem Komplexitätsniveau der Gesellschaft korrespondiert. Schließlich gestattet dies eine erste konkrete, wenn auch zunächst explorative Querverbindung zwischen Selbstbestimmung und Zeit, die sich daran ausrichtet, dass sich sowohl die konstitutiven

1 Einleitung

Voraussetzungen subjektiver Selbstbestimmung als auch die heteronomen Wirkkräfte von Zeit am Phänomen der Komplexität bemessen. Folglich ist ein Anlass für eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Komplexität gefunden, die im fünften Kapitel unternommen wird. Komplexität, so wird in erster Linie zu zeigen sein, lässt sich bildungstheoretisch dann anschlussfähig innerhalb der Beziehung zwischen Subjekt und Welt verhandeln, wenn man den Begriff über den technischen Entwicklungsstand der Gesellschaft eingrenzt und über die medial vermittelten Möglichkeitsräume, die daraus für Subjekte weltlich erfahrbar werden, ausdifferenziert. Unter diesen Bedingungen muss Komplexität als genuines Phänomen von Medienlandschaften verstanden werden, innerhalb derer der Einsatz von Technik einen Weltzugang eröffnet, der in medial vermittelten Möglichkeitsräumen aufgeht und auf diesem Wege die Handlungsspielräume jedes Einzelnen potenziert. Auf Basis dieser Überlegungen kann schließlich im sechsten Kapitel aufgearbeitet werden, inwiefern die Potenzierung von Handlungsspielräumen den subjektiven Umgang mit Zeit verändert und systematisch Tendenzen der Beschleunigung ebenso bedingt wie erfordert. Gemäß Rosa werden Zeitstrukturen in modernen Gesellschaften gerade durch technisch intendierte Beschleunigungsprozesse in umfangreichen Dimensionen wie niemals zuvor verändert (vgl. Rosa 2005, S. 112-158). Zwar räumen technische Beschleunigungsprozesse einerseits Möglichkeiten ein, mehr Dinge in kürzerer Zeit erledigen zu können, allerdings werden so andererseits ebenfalls neue Abhängigkeiten hervorgebracht, die sowohl auf individueller als auch kollektiver Ebene zu einer Steigerung des Lebenstempos, von Stresserfahrungen und Überforderungen führen. Diese Entwicklungen verändern auch die Bedingungen der subjektiven Selbstbestimmung, die es darzulegen, zu interpretieren und zu diskutieren gilt. Zuletzt können die hier angebotenen Überlegungen, die in ihrer Gesamtheit auf bildungstheoretischen Prämissen basieren und sich von dort weitestgehend über zeittheoretische, komplexitätstheoretische, aber auch medientheoretische Ansätze erstrecken, im siebten Kapitel noch einmal vereinheitlichend zusammengetragen werden. Im Zentrum dieses Kapitels steht jene Begriffsfassung, die bereits der Titel der Arbeit anzeigt: die Verzeitlichung der Bildung. Thematisiert werden dadurch die konstitutive Bedingtheit der subjektiven Selbstbestimmung von zeitlichen Strukturen und Ordnungen, damit verbundene krisenhafte Tendenzen im Hinblick auf einen technisch-media-

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Die Verzeitlichung der Bildung

len Gesellschaftswandel, aber auch erste Überlegungen zur Überwindung jener Krisen.

2 Selbstbestimmung und Bildung: Normative Eingrenzungen und bildungstheoretische Fundierungen »Eine Verwendung von ›Bildung‹ derart, daß jeder sich dabei das Seine denken kann, beraubt den Begriff nicht nur seiner Leistungsfähigkeit, sondern verwirrt auch, wo er klären sollte und könnte und depotenziert damit die Diskussion.« (Koneffke 1986, S. 67)

Mit dem vorausgehend skizzierten Aufbau der vorliegenden Arbeit liegt die Intention dieses Kapitels in der Ausarbeitung einer Verbindung zwischen Selbstbestimmung und Bildung. Innerhalb der medienpädagogischen Theoriebildung ist das selbstbestimmt handelnde Subjekt von zentraler Bedeutung (vgl. Kammerl 2017, S. 30), und zunächst ist danach zu fragen, worin sich diese Bedeutung gründet und welchen Stellenwert sie gegenwärtig einnimmt. In ihrem Ursprung führen beide Fragen auf Dieter Baackes Begriff der Medienkompetenz zurück (vgl. z.B. Baacke 1996), der sich (spätestens) während der 1990er Jahre als ein Schlüsselbegriff medienpädagogischer Forschungsbemühungen etablierte (vgl. Junge 2013, S. 134).1 Im Anschluss an Noam Chomskys Syntax Theorie (vgl. Chomsky 1969) und deren Interpretation durch Jürgen Habermas zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz (vgl. Habermas 1971a) ging Baacke von einem theoretischen Standpunkt aus, der die »›Emanzipation des Individuums‹ aus ›Bewußtseinszwängen‹« und die 1

Zur Entstehungsgeschichte der Medienpädagogik als Wissenschaftsdisziplin, die an dieser Stelle nicht rekonstruiert werden kann, vgl. Süss/Lampert/Wijnen (2018, S. 4781).

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Die Verzeitlichung der Bildung

dadurch notwendig werdende »Förderung seiner ›Selbstbestimmung‹ und seiner ›Partizipation‹« in den Mittelpunkt rückte (Baacke 1996, S. 113). Auf diesen normativen Anspruch antwortend, folgte bis heute eine Vielzahl an Modifikationen des Medienkompetenzbegriffs (vgl. z.B. Dewe/Sander 1996; Tulodziecki 1998; Aufenanger 1999; Kübler 1999; Groeben 2002), die in ihrer Gesamtheit »ein handlungstheoretisch-pädagogisches« Konzept akzentuiert, »das sowohl mit Ansätzen zur kommunikativen Kompetenz als auch mit Leitideen für Erziehung und Bildung in einer von Medien mitgestalteten Welt verbunden ist« (Tulodziecki 2015, S. 223). Ebenso folgten (oftmals bildungstheoretisch motivierte) Konzeptionen zum Begriff der Medienbildung (vgl. de Witt 2000; Jörissen/Marotzki 2009; Bachmair 2010; Fromme 2011; Herzig 2012; Pietraß 2014a; Jörissen 2015a; Grünberger 2017; Verständig 2017; Bettinger 2018). Sukzessive trug man auf diese Weise dem Sachverhalt Rechnung, dass Bildung nicht allein durch die kompetente Handhabung konkreter Medien zu gewährleisten ist, sondern Medien ebenfalls neu geartete, allzu oft abstrakt strukturierte Möglichkeitsräume für Handlungen und Erfahrungen eröffnen, die umgekehrt auch einen Einfluss auf Bildungsprozesse nehmen. Getragen durch diese Einsicht rückte der Medienbildungsbegriff in den letzten Jahren »von einer eher am Rande angesiedelten Position« sowohl »ins Zentrum des medienpädagogischen Diskurses« (Iske 2015, S. 252) als auch in den Blickpunkt darüber hinaus gehender Debatten um die Wirkungsweisen digitaler Medien (vgl. z.B. Simanowski 2018). Mit dieser Tendenz eröffnet sich eine Vielzahl an neuen Frage- und Problemstellungen, wie ein exemplarischer Blick auf den Ansatz der strukturalen Medienbildung verdeutlicht (vgl. Jörissen/Marotzki 2009), der derzeit den »am weitesten entwickelten theoretischen und empirischen Ansatz der Medienbildung« und gleichsam »zentralen Referenzpunkt des medienpädagogischen Diskurses« (Iske 2015, S. 266) um Bildung darstellt. Als Ausgangspunkt dieses Ansatzes gilt die These, »dass Sozialisation in der Moderne grundlegend und unhintergehbar medial erfolgt« (Jörissen/Marotzki 2009, S. 7), was primär zu der Frage veranlasst, »wie verschiedene Reflexionsoptionen in mediale Architekturen eingeschrieben sind« (ebd., S. 240). Zweifelsohne liegt es in der Natur der Sache, dass jede Theorie ihre blinden Flecken mit sich führt. So wies unter anderem Horst Niesyto darauf hin, dass die strukturale Medienbildung und die von ihr geprägten bildungstheoretischen Diskurse der Gegenwart eine subjekttheoretisch verkürzte Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen führen, indem sie vor allem den Blick auf Macht- und Herrschaftsinteressen und damit indirekt den Blick

2 Selbstbestimmung und Bildung

auf das Verhältnis von Selbst- und Fremdbestimmung innerhalb medial aufgebauter Möglichkeitsräume vernachlässigen (vgl. z.B. Niesyto 2017, S. 48). Wenngleich Niesytos Einschätzung nicht in der Lage ist, den Begriff der Medienbildung in all seinen derzeit vorliegenden »unterschiedlichen Lesarten« (Verständig/Holze/Biermann 2016a, S. 6) zu reflektieren, so sensibilisiert sie dennoch für einen gewichtigen Umstand: Ausgehend von der normativen Prägung des Medienkompetenzbegriffs und seiner durchaus vielfältigen, theoretisch komplexen sowie für bloße Betrachterinnen und Betrachter der fachspezifischen Diskurse nur schwer erkennbaren Differenzen zum Begriff der Medienbildung (vgl. Iske 2015, S. 264-266), liegt der Medienpädagogik aktuell eine Vielzahl an Perspektiven und Konzeptionen vor, die das Subjekt stark machen (vgl. Grünberger/Münte-Goussar 2017, S. 183); allerdings sucht man derzeit vergebens sowohl nach einer medienpädagogischen Konzeption von Bildung als auch nach einer bildungstheoretischen Konzeption von Medienbildung, die ausdrücklich das Normativ der Selbstbestimmung als ihre zentrale Argumentationsfigur auserwählt. Für das Vorhaben der vorliegenden Arbeit hat das weitreichende und wegweisende Folgen: Wenn in ihrem Zentrum die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Selbstbestimmung, Zeit und gesellschaftlichem Wandel stehen soll, dann kann sie nicht rein deskriptiv auf eine bereits explorierte Theorie der Medienpädagogik zurückgreifen. Vielmehr bedarf es einer eigenen, explorativ angelegten Theoretisierung, die einerseits den normativen Gehalt des Selbstbestimmungsbegriffs zu berücksichtigen weiß und andererseits einen Anschluss an die disziplinimmanenten Diskurse der Medienpädagogik nicht aufgibt. Eine Theorieanlage medienpädagogischer Provenienz, die zunächst diesem Anspruch entspricht, stellt Werner Sesinks bildungstheoretisches Programm dar. Dieses galt immer wieder der Betonung, dass die (Medien-)Pädagogik als wissenschaftliche Disziplin ihrer gesellschaftlichen Aufgabe – sei es als Ziel oder sei es als Schwierigkeit – nur dann nachkommen kann, wenn sie sowohl in Theorie als auch in Praxis die Sorge für eine Ermöglichung von Bildung trägt (vgl. z.B. Sesink 2004, S. 132ff; 2006, S. 9ff sowie bis zuletzt 2016, S. 223ff). Bildung versteht sich demzufolge als Leitbegriff pädagogischen Handelns, der sich gegen äußere Umstände richten und behaupten muss, um so die Freiheit des Einzelnen überhaupt erst ermöglichen zu können. Sesink bezeichnet diese Denkweise im Anschluss an die kritische Bildungstheorie Hans-Joachim Heydorns als materialistisch (vgl. z.B. Sesink 2006, S. 32; 1997, S. 53) und stützt sie auf drei Grundprinzipien: Bildung liegt erstens in den »Bedürfnissen im von der Natur

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Die Verzeitlichung der Bildung

geschenkten Entwicklungsprozess der Menschen und der äußeren Welt« begründet (Sesink 2006, S. 32). Aufgrund dessen ist sie zweitens Grenzen ausgesetzt, die durch »die Materialität der Welt gegeben sind« (ebd.). Sie kann sich also nur auf das beziehen, was ihr die Welt zur Verfügung stellt und braucht in diesem Sinne drittens einen Rahmen, »in dem sie sich entfalten kann« (ebd.). Ausgehend von diesen Prinzipien stellt Sesinks Konzeption somit vor allem eine Reflexionsfolie dar, um ein Gespür für jene Widrigkeiten zu liefern, mit denen eine auf Selbstbestimmung abstellende Bildung zu kämpfen hat. Und sich jener Widrigkeiten bewusst zu werden, erscheint zentral, um überhaupt verstehen zu können, was die Voraussetzungen einer gelingenden Selbstbestimmung sind. Letztlich ist dabei entscheidend, dass Sesinks Bildungskonzeption mit anderen bildungstheoretischen Ansätzen kombiniert werden kann, weil sie dem Anspruch folgt, »nicht im Gegensatz zu anderen Dimensionen von Bildung oder in Konkurrenz zu ihnen« zu stehen, sondern vielmehr den Versuch unternimmt, diese »in sich aufzunehmen« (ebd.). Auf diese Weise eignet sie sich beispielsweise als normative Rahmung für ein strukturales Verständnis von Bildung als Transformation subjektiver Weltund Selbstverhältnisse, das sich derzeit als Konsens schaffendes Verständnis sowohl innerhalb genuin medienpädagogischer (vgl. z.B. Jörissen/Marotzki 2009; Jörissen 2015a; Meder 2007a) als auch allgemeiner bildungstheoretischer Bestimmungen (vgl. z.B. Kokemohr 2007; Koller 2012; Marotzki 1990; Ricken 2007) abzeichnet. Aufbauend auf diesen Eingrenzungen ergibt sich folgende Struktur für das vorliegende Kapitel: Zu Beginn wird es im Rahmen einer Vorbemerkung darum gehen, den Begriff der Selbstbestimmung als Normativ für den Bildungsbegriff zu bestimmen und die daraus resultierenden Konsequenzen für bildungstheoretisches Nachdenken in den Blick zu nehmen (vgl. Abschnitt 2.1). Anschließend werden die Voraussetzungen einer normativen Vorstellung von Selbstbestimmung ausgearbeitet, welche ihren historischen Ursprung in der europäischen Aufklärung finden (vgl. Abschnitt 2.2). Daraufhin kann die Beziehung zwischen Subjekt und Welt als theoretischer Ort von Bildung markiert werden (vgl. Abschnitt 2.3), in den wiederum die prozessualen Eigenheiten einer durch Selbstbestimmung strukturierten Vorstellung von Bildung einzutragen sind (vgl. Abschnitt 2.4). Die zentralen Ergebnisse werden abschließend noch einmal unter der Zielsetzung zusammengetragen, bildungstheoretische Grundbedingungen von Selbstbestimmung zu ermitteln (vgl. Abschnitt 2.5).

2 Selbstbestimmung und Bildung

2.1

Vorbemerkung: Die Dauerkrise der Bildung und die Funktion der Bildungstheorie

Als funktional wird etwas – ganz gleichgültig, ob es sich um einen Gegenstand, eine Handlung, eine Theorie oder ähnliches handeln mag – für gewöhnlich dann angesehen, wenn es einem praktischen Nutzen gerecht wird und folglich »zur Erreichung oder Erhaltung eines bestimmten Zustands innerhalb eines Zusammenhangs, in dem es steht, beiträgt« (Jaeggi 2014, S. 171). Unsere Vorstellung von Funktionalität steht insofern stets in Relation zu einer Zielsetzung und folgt gleichsam einer zweckdienlichen Logik (vgl. Jaeggi 2014, S. 121; Reckwitz 2017, S. 121; Searle 2017, S. 103). Dabei gilt, dass Zielund Zweckzuweisungen durchaus sozialen Tradierungen unterliegen – »Wozu außer zum Schneiden sollte ein Messer gut sein?« (Jaeggi 2013, S. 329) –, aber niemals eindeutig festgelegt sind. Vielmehr sind sie das Resultat normativer Erwartungen. In diesem Sinne ist beispielsweise ein Messer für eine Person nicht funktional, weil die Klinge zu stumpf ist, um einen Apfel in zwei Hälften zu schneiden, während eine andere Person die Funktion ebendieses Messers in der Eignung erkennen mag, das bereits vom Bäcker vorgeschnittene Brot mit einer Konfitüre zu bestreichen. Der hier beschriebene normative Vorbote des Funktionalen soll im Folgenden als gedankliche Folie für die Argumentation dienen, dass ein durch das Normativ der Selbstbestimmung festgelegter Bildungsbegriff eine ganz bestimmte Funktionszuweisung an bildungstheoretische Überlegungen stellt. Akzentuiert wird auf diese Weise ein spezifisches Verhältnis zwischen der Normativität von Bildung und ihren wissenschaftlichen Darstellungen in Form der Bildungstheorie, das der vorliegenden Arbeit zugrunde zu legen und innerhalb der vorstehenden Überlegungen stets mit zu bedenken ist. Präziser formuliert geht es also zunächst um eine Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Selbstbestimmung als Normativ, Bildung als weltlichem Phänomen und Bildungstheorie als strukturierte Methodik des Nachdenkens über Bildung.2 In Erinnerung an Wolfgang Klafki sei in diesem Kontext angemerkt, dass gerade die Rede von Bildungstheorie(n) »nur im Sinne einer sprachlichen Vereinfachung« akzeptiert werden darf (Klafki 1994, S. 16). Denn es ist letztlich der inhaltlichen Vielfalt des Bildungsbegriffs geschuldet, dass 2

Wenn Heinz-Elmar Tenorth die beiden Fragen ›Was ist Bildung?‹ und ›Was soll Bildung sein?‹ als zentrale Absichten bildungstheoretischen Nachdenkens benennt, so zielen die hier formulierten Absichten also auf die zweite Frage ab (vgl. Tenorth 1997, S. 975).

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Bildung als kontext-abhängige Variable zu verstehen ist, an die sich ihre Theorie entlang ausgewählter Akzentuierungen jeweils anpassen muss (vgl. Ruhloff 1998, S. 426). Eine solch kontext-abhängige Variable ist gefunden, wenn man sich auf Werner Sesinks bereits genannte Forderung einlässt und die Ermöglichung von Bildung als den gesellschaftlichen Auftrag an die (Medien-)Pädagogik anerkennt. Es ist ein Auftrag, der seine Plausibilität maßgeblich aus zwei Vorstellungen gewinnt: Die erste Vorstellung ist normativer Natur und beruht im Allgemeinen darauf, dass Situationen möglich sind, die bildend sein können (vgl. Sesink 2006, S. 16f.). Sie ist der intentionale Ursprung eines äußeren Gestaltungsprozesses (forma) (vgl. Ricken 2006, S. 170), der als konstitutiv für die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden, Meistern und Lehrlingen, Ausbildenden und Auszubildenden usw. anzuerkennen ist. In der von Immanuel Kant bis Georg W. F. Hegel reichenden Tradition der Philosophie des deutschen Idealismus ist die Zielkategorie dieses äußeren Gestaltungsprozesses ein starkes Subjekt, ausgelegt als eine »Leistung« des sich selbst und die Welt »erkennenden Menschen« (Adorno 1958, S. 66). Das Subjekt fungiert in diesem Sinne als die prägende Figur bzw. als Zielgröße einer zweiten Vorstellung in Form einer grundsätzlich bildsamen und – sofern eine bildende Situation arrangiert werden kann – aktiv werdenden, sich bildenden Entität. Verwiesen ist damit auf die Möglichkeit eines inneren Gestaltungsprozesses (formatio) (vgl. Ricken 2006, S. 170), der auf der anthropologischen Grundkategorie der Bildsamkeit gründet (vgl. Rucker 2015, S. 137) und Ausdruck einer qualitativ besonderen, sich vom bloßen Lernen unterscheidenden Form geistiger Anstrengungen ist (vgl. Pietraß 2014a, S. 171). Das gemeinsame Herausstellungsmerkmal dieser beiden Vorstellungen liegt darin, dass sie ohne konkrete inhaltliche Bezüge getroffen werden können. Bildung ist mit der Unterscheidung zwischen äußerem und innerem Gestaltungsprozess, zwischen forma und formatio auf keinen konkreten Gegenstand oder Sachverhalt zurückgeführt. Hierbei handelt es sich um eine Besonderheit, die einerseits dafür ausschlaggebend ist, dass Bildung lediglich zu ermöglichen, aber niemals zu garantieren ist. Andererseits ist diese Besonderheit von Bedeutung, wenn es darum gehen soll, Bildung und Selbstbestimmung auf einen Begriff zu bringen. Um die damit verbundenen Implikationen für die Darstellungen und Diskussionen der vorliegenden Arbeit zu verfolgen, ist ein Verweis auf die verschriftlichte Immatrikulationsrede Max Horkheimers aus dem Wintersemester 1952/1953 hilfreich, in der die Studie-

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renden der Goethe Universität in Frankfurt a.M. wie folgt begrüßt worden sind: »Diejenigen unter Ihnen, welche heute ihr Studium beginnen, tun gut daran, für einen Augenblick darüber nachzudenken, was sie von diesem Studium noch erwarten. Im Vordergrund steht wohl zumeist der praktische Zweck, sich die Vorkenntnisse für bestimmte Berufe anzueignen, die akademischen und staatlichen Diplome zu erwerben, an deren Nachweis manche, ja allzu viele Laufbahnen heute gebunden sind. Zuweilen mag die Tradition der Familie eine Rolle spielen, der Umstand, daß freie und gelehrte Berufe in ihr heimisch sind, das Vorbild oder der Wille des Vaters, der Druck der Verhältnisse. Zu solchen Momenten tritt jedoch eine Vorstellung, die manche unter Ihnen vielleicht nicht sehr deutlich zu bezeichnen vermöchten, von der ich aber glaube, daß sie in verschiedenen Graden des Bewußtseins allen jungen Studenten eigen ist, auch wenn die Härte des Lebens sie davon abhält, sich ihr hinzugeben. Es ist der Gedanke, daß das Studium an der Universität nicht bloß bessere wirtschaftliche und gesellschaftliche Möglichkeiten erschließt, nicht bloß eine Karriere verspricht, sondern zur reicheren Entfaltung der menschlichen Anlagen, zu einer angemessenen Erfüllung der eigenen Bestimmung die Gelegenheit bietet. Der Begriff, der sogleich sich darbietet, wenn diese Vorstellung sich aussprechen will, ist der der Bildung.« (Horkheimer 1983, S. 22; Hervorh. C.L.) Horkheimer sieht sich in seiner Begrüßungsrede dazu veranlasst, die üblich formulierten Bedeutungszuweisungen und Sinnstiftungen eines universitären Studiums perspektivisch zu erweitern. Folglich thematisiert er eine eigene Haltung in Form einer individuellen Loslösung von äußeren Umständen, wie z.B. der empfundenen Verpflichtung, den oftmals nur allzu rigiden Erwartungshaltungen des Elternhauses durch Studienleistungen gerecht zu werden. Diese loslösende, ja, befreiende Haltung ist die Grundvoraussetzung für das, was Horkheimer phänomenal unter Bildung subsumiert. Erst mit ihr ist Bildung zu verwirklichen und für den Einzelnen erfahrbar. Es ist eine Betrachtungsweise, die im Anschluss an Sesink schließlich wie folgt ergänzt werden kann: »In der Welt geschieht etwas, das den Namen Bildung trägt (und verdient); und damit haben wir alle unsere Erfahrungen bereits gemacht und machen sie noch: Bildung bezeichnet eine Entwicklung, die wir alle durchgemacht haben und noch durchmachen; und zwar eine Qualität von Entwicklung, die

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zum Menschsein in der gegenwärtigen Gesellschaft gehört. […] Diese spezifische Qualität sei vorläufig mit dem Begriff der Selbstbestimmung gekennzeichnet. […] Wenn ich also behaupte, Bildung sei Realität, dann will ich damit sagen: dass die Menschen in unserer heutigen Gesellschaft eine Entwicklung durchmachen müssen, für die Selbstbestimmung eine zutreffende Charakterisierung ist.« (Sesink 2006, S. 6f.; Hervorh. C.L.) Sesinks Worte eröffnen die Möglichkeit, Horkheimers Befreiungsgedanken mit dem Begriff der Selbstbestimmung zu verknüpfen. Das daraus resultierende Postulat lautet: Bildung wird real durch Selbstbestimmung. Postwendend sind die mit dieser Feststellung verbundenen Schwierigkeiten jedoch ersichtlich, wenn man sich auf die Suche nach exemplarischen Momenten oder Phänomenen der Selbstbestimmung begibt. Selbstbestimmung scheint dann allzu oft nur ein wünschenswerter Zustand zu sein. Denn in empirischer Hinsicht ist es deutlich einfacher, Phänomene der Fremdbestimmung oder des Mangels an Selbstbestimmung auszumachen (vgl. Sesink 2006, S. 7; Heitger 2004, S. 20). Mitnichten kann dies bedeuten, dass es keine Momente der Selbstbestimmung gibt oder dass diese gar unmöglich wären. Leicht fällt der Gedanke an Situationen, in denen man sich selbstbestimmt fühlte und womöglich auch Freiheit empfand. Solche Gedanken werden sich allerdings auf Situationen beschränken, die einer zeitlichen Begrenzung unterliegen, womit gilt: Selbstbestimmung ist kein persistenter Zustand; sie wird stets von Momenten der Fremdbestimmung eingeholt. Unter solch empirischen Voraussetzungen erweist sich Bildung, die sich über Selbstbestimmung zu realisieren hat, als eine durchaus »zweischneidige Angelegenheit« (Bauman 2003, S. 27). In den Worten Sesinks steckt sie demnach in einer »Dauerkrise« und ist »sowohl als Idee überhaupt als auch in ihren jeweiligen Ausprägungen« permanent in Frage gestellt (Sesink 2006, S. 9). Ihre durch Selbstbestimmung konstituierte Realität muss folglich als »realer Versuch« (ebd., S. 7) relativiert werden. Die zentrale Implikation dieser Relativierung lautet, dass »Bildung im Handeln« der Subjekte zwar »wirkmächtig werden« (Sesink 2016, S. 224; ohne Hervorh.) kann, ihr Gegenpart jedoch stets bestehen bleibt, also nicht vollständig zu beseitigen ist. Fremdbestimmung, beispielsweise durch materielle oder soziale Einflüsse, erweist sich somit als unwiderrufliche und voranschreitende Bedingung für die Bestimmung des Selbst. In den Worten Sesinks folgt daraus: »Niemals kann Bildung mehr sein als der Versuch, den eigenen Impuls zur Weltgestaltung unter je gegebenen Bedingungen zur Geltung zu bringen.

2 Selbstbestimmung und Bildung

Ob dieser Versuch gelingt bzw. zu welchen Resultaten er führt, ist nie allein von der dem Subjekt zuzurechnenden Qualität dieses Versuchs abhängig, sondern stets mit-bestimmt von den jeweiligen materiellen und sozialen Gegebenheiten und der Gewalt, mit der diese sich gegen ihre Um- oder Neugestaltung sperren.« (Ebd.) Es handelt sich hierbei um eine Diagnose, auf deren Grundlage schließlich zwei funktionale Ansprüche an bildungstheoretisches Nachdenken erhoben werden müssen: Die erste Funktion liegt in Anbetracht aller empirischen Widerstände in der konsequenten Erinnerung an die gesellschaftliche Notwendigkeit von Bildung. Bildungstheorie fungiert in diesem Sinne als eine fortwährende Legitimation des Bildungsbegriffs, ungeachtet dessen, wie stark seine durch Selbstbestimmung konstituierte Realität auch untergraben scheint (vgl. Sesink 2006, S. 9). Weil diese Realität aufgrund etwaiger Untergrabungen höchstens ein Versuch bleiben kann, ist die Qualität jener Versuche inklusive ihrer inhärenten Widerstände jedoch stets fraglich. Bildungstheorie fungiert insofern zweitens als Reflexion von Bildung (vgl. ebd., S. 5-7). Entsprechend hat sie nach Antworten auf die Frage zu suchen, wie sehr in subjektiven Handlungen der Aspekt der Selbstbestimmung zur Geltung kommt; und sie fragt danach, mit welchen Schwierigkeiten diese Handlungen zu kämpfen haben und welche Kompromisse ihnen inhärent sind (vgl. Sesink 2016, S. 226). Wo man diese funktionalen Bestimmungen schließlich für die eigenen Überlegungen akzeptiert, dort ist dem Konflikt nicht zu entkommen, dass normative Perspektiven grundsätzlich einen Freiraum für alternative Normative einräumen. Anders formuliert: Bildungstheoretisches Nachdenken, das einen normativen Bezug auf Selbstbestimmung setzt, muss seinen Standpunkt rechtfertigen, weil auch andere normative Perspektiveinnahmen zumindest möglich wären. Dass dies per se kein Schwachpunkt sein darf, liegt in der Eigenart theoretischer Konstruktionen begründet, die ausschließlich im Anschluss an Erklärungen, Beobachtungen, Untersuchungen etc. möglich sind, weil ein Beginn aus dem Nichts nicht vorstellbar ist (vgl. Baecker 2016a, S. 7; Meder 2016, S. 179). Dass damit aber zumindest die Frage aufzuwerfen ist, welche Vorannahmen und Ausdifferenzierungen einen durch Selbstbestimmung strukturierten Bildungsbegriff rechtfertigen lassen, ist eine unvermeidbare Konsequenz, die leitend für den nächsten Abschnitt ist.

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2.2

Selbstbestimmung und die Idee der Aufklärung

In seiner unzweideutig betitelten Monographie Bildung als Selbstbestimmung weist der Erziehungswissenschaftler Marian Heitger den Begriff der Selbstbestimmung als »regulative Idee der Bildung« aus, die »das Programm moderner Pädagogik« verkörpert (Heitger 2004, S. 19). Bei Heitger heißt es: »In der gegenwärtigen Pädagogik gilt Selbstbestimmung als unverzichtbar für das Verständnis von Bildung. Das Freiheitspathos der Aufklärung hat dieser Auffassung ihr besonderes Gewicht gegeben. Selbstbestimmung und Autonomie des Subjekts gelten als Schutz gegenüber staatlicher Unterdrückung, als Widerspruch zur Diktatur. Personale Selbstbestimmung wird zum Inbegriff jener Grundrechte, die dem Menschen seiner Natur nach zukommen, die unabhängig von gesetztem Recht anzuerkennen sind, die ihre Berechtigung auch nicht von einer demokratischen Mehrheitsentscheidung herleiten.« (Ebd.) Sesinks Forderung, dass Bildung als individuelle und gesellschaftliche Notwendigkeit zu verhandeln sei, erhält damit eine voraussetzungsreiche historische Rahmung, weil der Begriff der Selbstbestimmung von Heitger als Ideal einer aufgeklärten Gesellschaft bestimmt wird. In der theoretischen Genese basiert diese Bestimmung auf einer philosophiehistorisch weit zurückreichenden Auseinandersetzung – kursorische Referenzen sind Sokrates, Augustinus von Hippo, Nicolaus Cusanus sowie Gottfried W. Leibniz (vgl. ebd.). Der Kern des Selbstbestimmungsbegriffs Heitgers referiert jedoch auf Immanuel Kant (vgl. ebd., S. 19ff), mit dem die reformierenden und geistigen Bewegungen der Aufklärung unumgänglich in Verbindung mit dem Begriff der Mündigkeit zu bringen sind. Die inhaltliche Konkretisierung dieser Verbindung lässt sich nach wie vor »[u]nübertroffen prägnant« (Klafki 1994, S. 19) und für bildungstheoretische Überlegungen gleichsam richtungsweisend in Kants Text Was ist Aufklärung? vorfinden, in dem Mündigkeit maßgeblich in Unterscheidung zur Unmündigkeit definiert wird: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu be-

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dienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. […] Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen […].« (Kant 1784, S. 5f.; Hervorh. C.L.) Gleich mehrere Aspekte sind aus diesem Zitat hervorzuheben: Als Konstitutivum von Mündigkeit erweist sich erstens Kants bekannter Appell, dass der Mensch von seinem Verstand vernünftig Gebrauch zu machen habe. Kant greift hier auf einen Grundbegriff seiner Philosophie zurück, den er zweitens in der Kritik der reinen Vernunft ausarbeiten konnte (vgl. Kant 1787). Vernünftig handeln bedeutet danach, Sachverhalte durch Erfahrungszusammenhänge zu erschließen, um daraus Erkenntnisse für herbeizuführende Konsequenzen gewinnen und einschätzen zu können. Es handelt sich hier also um jenes »Vermögen, welches die Prinzipien der Erkenntnis a priori an die Hand gibt« (Ebd., S. 62; Hervorh. im Orig.). Wenn Kant betont, dass der vernünftige Gebrauch des Verstandes öffentlich zu machen sei, dann ist drittens eine inhaltliche Feinheit gefunden, mit der die gesellschaftliche Bedeutsamkeit von Mündigkeit akzentuiert ist. Der imperative Charakter der kantischen Argumentation lässt viertens eine klar formulierte Zielsetzung erkennen, die einerseits ein allgemeines Verständnis des Aufklärungsgedankens bis heute fundamental prägt und andererseits die oben bemühte Darstellung der intentionalen Bedeutung von Funktionszuschreibungen beerbt: Überspitzt wäre demzufolge fünftens zu argumentieren, dass nur ein mündiges Subjekt eine Funktion für eine aufgeklärte Gesellschaft erfüllen könne. Es handelt sich um eine Lesart, die im Anschluss an Kant positiv konnotiert ist, referiert sie doch zentral auf den Gedanken an individuelle und kollektive Freiheit. Eine Wendung dieser positiven Konnotation lässt sich allerdings mit Sesinks Beitrag Vom Wert der Mündigkeit einleiten (vgl. Sesink 1995). Dieser beruht auf der These, dass der Mensch in einer aufgeklärten Gesellschaft erst zu einem wertvollen Menschen werden kann, wenn »er sich zur Mündigkeit bildet bzw. zur Mündigkeit erzogen wird« (ebd., S. 153).3 Zwei weitere Aspekte sind damit fokussiert: Zum Ersten ist angedeutet, dass das Programm der Pädagogik im Zuge der Aufklärung dort beginnt, wo sich die Zukunft des Menschen aus seiner Herkunft emanzipiert (vgl. Luhmann 1991a, S. 160; Marquard 1988, 3

Wenngleich dieser Beitrag Sesinks ohne Referenz auf Kant auskommt, erscheinen seine Argumentationen an diesen anschlussfähig, weil sie aus einer Aufarbeitung der Bildungstheorie Hans-Joachim Heydorns resultieren, für die der Mündigkeitsbegriff stets eine »herausragende Rolle« (Sesink 1995, S. 151) spielte.

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S. 235; de Haan 2014, S. 376).4 Mit dem Übergang zur Moderne wird die Bedeutung von Zukunft folglich von immer größerer Bedeutung. Subjekte können erst im Laufe ihres Lebens mündig werden und streben insofern einer grundsätzlich offenen Entwicklung entgegen, die jedoch stets die Gefahr eines möglichen Scheiterns mit sich trägt. An der Zukunft hängen sowohl Hoffnungen und Erwartungen als auch Ängste zugleich (vgl. Dörpinghaus 2009, S. 169). Welches Schicksal damit auch im Einzelfall verbunden sei, mit der Zukunft wird die bloße weltliche Existenz um die Idee einer zielgerichteten, zu füllenden Fortdauer erweitert, innerhalb derer Menschen sowohl als Schöpfer ihrer Gesellschaft als auch als Schöpfer ihrer selbst agieren können und sollen (vgl. Borst 2011, S. 28ff; Luhmann 1990, S. 119; 1991a, S. 160; Sesink 2006, S. 8ff; 2016, S. 215; Rosa 2013a, S. 38). Zum Zweiten ist darauf aufmerksam gemacht, dass mit einer menschenbildbezogenen Umstellung von Herkunft auf Zukunft im Grunde genommen eine »Entwertung« (Sesink 1995, S. 153) des ursprünglichen, natürlichen, ja, unentwickelten Menschseins billigend in Kauf genommen wird. Mündigkeit ist unter diesen Voraussetzungen als Gegenbegriff der menschlichen »Naturhaftigkeit« (ebd.) zu deuten, weil der Mensch erst durch ihre Ausformung einen Wert erfahren kann und im logischen Umkehrschluss von Natur aus nichts wert sein müsste. Die Vorstellung von einer Herkunftsentwertung des Menschen sowie die ergänzende Rede davon, dass eine Sache oder ein Lebewesen überhaupt erst einen Wert haben kann, nimmt Sesink schließlich als Anlass, um in bildungstheoretischer Hinsicht eine Auseinandersetzung mit der kapitalistischen »Wertproduktion« (ebd., S. 155) zu unternehmen, die eine Leistung arbeitender Menschen ist und eine beherrschende Bearbeitung natürlicher Zustände voraussetzt. Innerhalb einer wertorientierten Produktion ist alles Weltliche von Natur aus erst einmal nichts wert. Erst im »Warencharakter der Dinge«, der auf einem Produktionsprozess basiert und die Möglichkeit des (Aus-)Tauschens schafft, also in einem Marxschen Sinne eine »abstrakte Arbeit« (Marx 1972. In: Sesink 1995, S. 154) verkörpert, manifestiert sich der gesellschaftliche Wert von Etwas, genauso wie sich in der Mündigkeit der gesellschaftliche Wert jedes einzelnen Menschen zeigt (vgl. ebd., S. 155). Der springende Punkt dieser Gegenüberstellung besteht nun darin,

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Zur fundierten Untermauerung dieser Aussage vgl. die Monographie Kontinuität und Kontingenz von Ursula Pfeiffer, in der klassische Theorieentwürfe der neuzeitlichen Pädagogik und des 20. Jahrhunderts systematisch auf ihre Zukunftsbegriffe befragt werden (vgl. Pfeiffer 2007, S. 15-46).

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dass Mündigkeit einem Warencharakter und der Form abstrakter Arbeit nicht widerspricht, sondern vielmehr als eine diesbezüglich »zugehörige Bewußtseins- und Verhaltensform« (ebd., S. 154) auftritt. Mündigkeit ist insofern als »das Selbstbewußtsein der abstrakten und sich selbst in ihrer Abstraktheit hervorbringenden Arbeit« (ebd.) interpretierbar. Ganz grundsätzlich macht Sesinks Perspektive auf eine strukturelle Verflechtung zwischen einer pädagogisch angestrebten Bildung zur Mündigkeit und einer kapitalistisch orientierten Warenproduktion aufmerksam. Die sowohl historische als auch gesellschaftsstrukturelle Erörterung dieser Verflechtung lässt sich mit Rückgriff auf Eva Borsts Einführung in die Theorie der Bildung studieren, wo zusammengetragen wird, dass die initialen Bewegungen der Aufklärung bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts in der revolutionären Erforschung einiger Naturgesetze auszumachen sind. Wie Borst argumentiert, liegen die Folgen dieser Bewegungen in einer Veränderung des menschlichen Glaubens, damit einhergehender Prozesse der Säkularisierung sowie einer langsam aufkeimenden Verbindung zwischen Menschlichkeit und der Vorstellung von Vernunft (vgl. Borst 2011, S. 13f.). Es handelt sich um Entwicklungen, die einerseits auf eine rationalisierende Bearbeitung und systematische Erkundung der Natur verweisen. Andererseits markieren sie den Anfang der Geschichte des Subjekts, die im Detail von einer Befreiung des Menschen »von Fesseln der Tradition, des Aberglaubens, der Knappheit, der Armut, der Unwissenheit und der politischen Tyrannei sowie der Emanzipation von vielen Zwängen der Natur« (Rosa 2016, S. 517) erzählt. Gesellschaftsstrukturell verfestigen sich diese Phänomene in der Ausformung einer Industriegesellschaft, die im Kern auf einem tiefgreifenden technisch und ökonomisch institutionalisierten Wandel beruht (vgl. Sesink 2006, S. 77f.). Aus diesen Überlegungen lässt sich zunächst als Zwischenfazit gewinnen, dass die enge prozessuale Verwobenheit zwischen europäischer Aufklärung und industrieller Revolution als Grundvoraussetzung für die Verflechtung zwischen einer Bildung zur Mündigkeit und einer naturbeherrschenden Warenproduktion auszulegen ist. Sesink bringt dies in einem anderen Beitrag mit dem Titel Eine kritische Bildungstheorie der Medien auf den Punkt, wenn er schreibt, dass die »pädagogische Idee der Bildung« nur deshalb denkbar wurde, »weil sie sich auf die Entfesselung einer frei von der Bindung an vorhandene Mittel (den Stand der Produktivkräfte) entwickelbaren, demnach bildsamen Arbeitskraft beziehen konnte« (Sesink 2013, S. 138f.). Wenn der Begriff der Mündigkeit jedoch gleichsam auf eine damit einhergehende Entwertung

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des ursprünglichen Menschseins aufmerksam macht, dann gibt dies Aufschluss darüber, dass Kants Idee von Freiheit, die einen auf Bildung rekurrierenden Selbstbestimmungsbegriff historisch prägt, bereits in ihrer theoretischen Genese eine antagonistische Figur entgegengebracht bekommt. Mit der Entfesselung der Produktivkräfte folgt die Entfesselung des Ideals der Selbstbestimmung; mit der daraus resultierenden Konsequenz, dass der Mensch erst einmal frei werden müsse, ist er allerdings ebenso auf seine eigene Unzulänglichkeit zurückgeworfen, die aufgrund des konstitutiven Zusammenspiels zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung niemals gänzlich zu überwinden ist. Entsprechend mag es auch nicht weiter überraschen, dass das sich hier abzeichnende Spannungsfeld bereits von Kant selbst thematisiert wird, der in seiner im Jahr 1785, also ein Jahr nach dem Beitrag Was ist Aufklärung?, veröffentlichten Schrift Grundlegung zur Metaphysik der Sitten die Relevanz äußerer Zwänge für die je individuelle (freie) Handlungsgestaltung von Subjekten nachzeichnet: »[W]enn man sich ihm [dem Menschen, dem Subjekt, C.L.] nur als einem Gesetz (welches es auch sei) unterworfen dachte: so mußte dieses irgend ein Interesse als Reiz oder Zwang bei sich führen, weil es nicht als Gesetz aus einem Willen entsprang, sondern dieser gesetzmäßig von etwas anderem genötigt wurde, auf gewisse Weise zu handeln. Durch diese ganz notwendige Folgerung aber war alle Arbeit, einen obersten Grund der Pflicht zu finden, unwiederbringlich verloren. Denn man bekam niemals Pflicht, sondern Notwendigkeit der Handlung aus einem Interesse heraus. […] Ich will also diesen Grundsatz das Prinzip der Autonomie des Willens, im Gegensatz mit jedem andern, das ich deshalb zur Heteronomie zähle, nennen. […] Der Begriff eines jeden vernünftigen Wesens […] führt auf einen ihm abhängenden sehr fruchtbaren Begriff, nämlich den eines Reiches der Zwecke. […] [V]ernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alles andere niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle.« (Kant 1785, S. 58f.; ohne Hervorh.) In diesem Passus findet sich der Begriff der Mündigkeit um den Begriff der Autonomie ergänzt, der in der Auffassung Kants als Gesetz, ›sich als Zweck an sich selbst zu behandeln‹, definiert ist und mithin auf die menschliche Fähigkeit verweist, sich ein eigenes (autós) Gesetz (nómos) geben zu können (vgl. Sesink 2013, S. 152; Baecker 2018, S. 62). In Abgrenzung zur Mündigkeit ist die Vorstellung von Autonomie also deutlich stärker von den Überzeugungen

2 Selbstbestimmung und Bildung

der Subjekte geprägt. Das Subjekt steht hier im Einklang mit seinen eigens festgelegten Werten, Intentionen, Absichten, Maßstäben und Regeln, deren Anerkennung sein Handeln fundiert. Die im Mündigkeitsbegriff implizierte Entwertung des Menschlichen findet damit in der Autonomie einen Gegenbegriff, der seine Potenz maßgeblich daraus gewinnt, dass er kontradiktorisch zu Mechanismen des Zwanges gedacht werden kann. Autonomie ist folglich als Begriff überall dort anwendbar, wo über den Menschen verfügt wird, wo also Mündigkeit notwendig ist, damit institutionalisiertes Zusammenleben überhaupt erst funktionieren kann – dafür paradigmatische Beispiele sind »Gesundheit und Altersfürsorge, Wohlfahrt und Verkehr, Beruf und Wirtschaft, Kultur und selbst Religion« (Heitger 2004, S. 20). Unter den Voraussetzungen der Autonomie heißt Freiheit paradoxerweise: einem Gesetz folgen, bei dem autonomes Wollen und verpflichtendes Sollen in eins fallen (vgl. Menke 2018, S. 19). Die Gegenüberstellung zwischen Autonomie und Mündigkeit ist ebenso hilfreich, um eine erste konkrete handlungsorientierte Eingrenzung des Begriffs der Selbstbestimmung vornehmen zu können. Damit einher geht eine Präzisierung der oben angeführten Behauptung, dass Bildung maßgeblich im Handeln der Subjekte wirkmächtig wird. Wurde Selbstbestimmung demnach weiter oben im Anschluss an Horkheimer noch als Form der eigenen Haltung bzw. einer individuellen Loslösung von äußeren Umständen verstanden, spricht ihr der Protestcharakter der Autonomie eine wahllose Beliebigkeit ab. Selbstbestimmung zeichnet sich damit, wie vor allem eine unbedachte wissenschaftliche Verwendung des Begriffs zumeist suggeriert, in bildungstheoretischer Hinsicht nicht dadurch aus, dass man tut, was man möchte. Vielmehr setzt sie die Frage »Was soll ich tun?« (Kant 1800, S. 448; Hervorh. C.L.) voraus, die gleichsam die zweite Frage der kantischen ›Logik‹ darstellt (vgl. Jörissen/Marotzki 2009, S. 31; Jaeggi 2016, S. 277). Verwiesen ist insofern auf einen praktischen Freiheitsbegriff, den Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft treffend als »die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit« beschreibt (Kant 1787, S. 489; ohne Hervorh.).5 Die damit einhergehende Kraft selbstbestimmten Handelns weiß unter anderem Käte Meyer-Drawe zu präzisieren, wenn sie in ihrer Monographie Illusionen von Autonomie postuliert, dass Autonomie stets »gegen reale Fremdbestimmungen« zu protestieren habe (Meyer-Drawe 2000, S. 64). Es ist gerade diese Form des

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Zu Kants Begriff der Sinnlichkeit vgl. Abschnitt 4.1.1.

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Protests, die dem Ideal der Selbstbestimmung eine besondere Bedeutung verleiht, indem sie eine »spezifische Beziehung zu den Verhältnissen« andeutet, durch die »sich das Selbst« schließlich »bestimmt« (Meyer-Drawe 2001, S. 10; Hervorh. C.L.). Die normativ gesetzte Reichweite der theoretisch komplexen Konsequenzen eines solch abstrakten Verständnisses ist in letzter Konsequenz nur dann einzusehen, wenn man es dialektisch weiterdenkt, wenn man also die Gegenüberstellung von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung auf ihr sich gegenseitig bedingendes Verhältnis hin befragt. Denn auf diese Weise gewinnt man die Möglichkeit, Selbstbestimmung als Positivum zu verhandeln, deren Verhältnis zur Fremdbestimmung als dem dazugehörigen Negativum mehr als bloß bedrohlich oder antagonistisch ist. Um es mit den Worten Theodor W. Adornos auf den Punkt zu bringen, handelt es sich dann vielmehr um ein Verhältnis, in dem die »Antithesis [Fremdbestimmung, C.L.] aus der Thesis [Selbstbestimmung, C.L.] herausgenommen wird«, so dass »das, was ist, selber als mit sich selbst identisch und nicht identisch begriffen« werden kann (Adorno 1958, S. 59). Die Essenz dieser Lesart besteht darin, dass Zustände der Fremdbestimmung, wie auch immer sie empirisch geartet seien, zugleich als Gegenspieler und konstitutive Bedingung für Selbstbestimmung erscheinen. Mit anderen Worten: Fremdbestimmung bringt die Möglichkeit zur Selbstbestimmung hervor und umgekehrt.6 Projiziert man diese Abhängigkeit auf die Vorstellung von einem Subjekt, das in seinem Handeln wirkmächtig werden kann, dann unterbreitet die Tradition der philosophischen Dialektik das verlockende Angebot, die praktische Bestimmung des sich in heteronomen Strukturen befindenden Selbst als Negation zu denken (vgl. z.B. Hegel 1832, S. 126; Adorno 1970, S. 9; 1958, S. 27).

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Angespielt ist dadurch auf eine konstitutive Paradoxie des vermeintlich freien Subjekts, die keine genuin bildungstheoretische Einsicht bleiben muss. Als Ergänzung lassen sich beispielsweise in poststrukturalistischer Hinsicht an Michel Foucault anschließende Debatten um den Begriff der Subjektivation anführen, der gleichermaßen sowohl den Prozess des Unterworfen-Seins durch Macht als auch den daraus hervorgehenden Prozess der subjektiven Befreiung umfasst (vgl. z.B. Foucault 1981, S. 82). Die Figur der Freiheit bzw. der Selbstbestimmung konstituiert sich demzufolge nur dann, »wenn man einer Macht unterworfen wird, eine Subjektivation, die radikale Abhängigkeit impliziert« (Butler 2001, S. 81). Das Subjekt kann folglich nur ›selbst sein‹ und ›selbst werden‹, indem es sich einerseits den je gegebenen Verhältnissen (einer symbolischen Ordnung, der Arbeit, dem Sozialen usw.) unterwirft, aber andererseits ebenso unterworfen wird (vgl. auch Han 2014a, S. 61; 2016b, S. 82).

2 Selbstbestimmung und Bildung

Die Intention dieser Negation wäre dann die Bestimmung des Selbst, das heißt die Abwendung fremdbestimmender Zustände. Auf diese Weise dient der Begriff der Negation als eine Art »Reflexionsformel, die auf einen Kontext aufmerksam macht und ihn zur Bestimmung dessen, worum es geht, hinzuzieht« (Baecker 2016b, S. 38), so dass ein Befreiungsmoment aus dem Negierten heraus entsteht. Man stößt mit dieser Perspektive umgehend auf die voraussetzungsreiche Frage, ob die Negation eines dem Subjekt Äußeren im Sinne Hegels tatsächlich eine affirmative »Negation der Negation« ist (Hegel 1832, S. 126; ohne Hervorh.), oder, ob diese Affirmation im Sinne der Hegel-Lektüre Adornos abzulehnen wäre (vgl. Adorno 1970, S. 144-146). Glücklicherweise gestattet die Bildungstheorie Sesinks ein Umschiffen dieser Frage mit dem Angebot, die Intentionalität selbstbestimmten Handelns als kritische Kraft auszulegen (vgl. z.B. Sesink 2004, S. 156; 2006, S. 33; 2007, S. 13f.; 2013, S. 141). Dass dies mit den Positionen Hegels und Adornos im Einklang steht, ist in zweierlei Hinsicht begründbar: Zum Ersten kann die kritische Kraft der Selbstbestimmung als Affirmation gelesen werden, weil Sesinks Überlegungen (u.a. die im vorliegenden Abschnitt 2.2 zitierten) immer wieder von Hegel selbst oder der Hegel-Lektüre Marx’ beeinflusst wurden.7 Bemerkenswerterweise spricht Sesink selbst an einigen wenigen Stellen ebenfalls von Negation. So heißt es beispielsweise in seinem Beitrag Bildung – ein Versuch über ihren Versuch: »Durch Negation bestehender Verhältnisse wird ein geistiger Spiel- und Freiraum geschaffen und offen gehalten, in dem der Einzelne gedanklich durchspielen kann, welche Möglichkeiten und Alternativen einer begrifflichen Bestimmung der Welt ›es gibt‹ bzw. gefunden, erfunden und versuchsweise angenommen werden können – ohne jedoch jemals den Anspruch zu erheben, eine ›definitive‹ Erkenntnis über ihr So-sein verfügbar zu erhalten. Bildung wird so aufs Engste mit der individuellen Lebensgeschichte verbunden und kann nicht mehr mit dem identifiziert werden, was in Lehr- und Bildungsplänen mit Gültigkeitsanspruch gesellschaftlich kodifiziert wird.« (Sesink 2016, S. 215; Hervorh. C.L.)

7

Dass die Philosophie Hegels vielfältige Aknüpfungsmöglichkeiten zum Begriff der Kritik anbietet, stellt darüber hinaus z.B. der Sammelband Was ist Kritik? auf vielfältige Art und Weise unter Beweis (vgl. Jaeggi/Wesche 2013).

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Zum Zweiten steht der Begriff der Kritik zweifelsohne mit der Philosophie Adornos im Einklang, wie kursorisch anhand des folgenden Passus einzusehen ist: »Mit der Voraussetzung von Demokratie, Mündigkeit, gehört Kritik zusammen. Mündig ist der, der für sich selbst spricht, weil er für sich selbst gedacht hat und nicht bloß nachredet; der nicht bevormundet wird. Das erweist sich aber in der Kraft zum Widerstand gegen vorgegebene Meinungen und, in eins damit, auch gegen nun einmal vorhandene Institutionen, gegen alles bloß Gesetzte, das mit seinem Dasein sich rechtfertigt. Solcher Widerstand, als Vermögen der Unterscheidung des Erkannten und des bloß konventionell oder unter Autoritätszwang Hingenommenen, ist eins mit Kritik, deren Begriff ja vom griechischen krino, Entscheiden, herrührt. Wenig übertreibt, wer den neuzeitlichen Begriff der Vernunft mit Kritik gleichsetzt.« (Adorno 1969, S. 10f.; Hervorh. C.L.) Nicht zuletzt gestattet dieser Passus einen Rückbezug zum ideengeschichtlichen Ursprung von Bildung und Selbstbestimmung. Um alle damit vollzogenen Überlegungen auf einen Begriff zu bringen, soll Selbstbestimmung an dieser Stelle vorläufig als Kritik der Verhältnisse definiert sein.8 Ganz grundsätzlich ist mit dieser Definition der intentionale Charakter des Selbstbestimmungsbegriffs unter besonderer Berücksichtigung seiner historischen Genese und seiner Beeinflussung durch die Begriffe der Mündigkeit, Vernunft und Autonomie akzentuiert. Wenngleich sich der vorläufige Status dieser Definition darin manifestiert, dass noch keine Anhaltspunkte gefunden sind, wie ihr kritischer Impetus auszudifferenzieren ist, so sensibilisiert sie bereits dafür, dass die Bestimmung von Selbstbestimmung nur im Kontext eines kritisch konnotierten Verhältnisses zur Fremdbestimmung erfolgen kann. 8

Wenn sich eine Verbindung zwischen Kritik und Aufklärung freilich an vielen Stellen finden lässt, dann sei zu diesem frühen Zeitpunkt der vorliegenden Arbeit betont, dass diese Verbindung im Anschluss an Kant von erkenntnistheoretischer Natur ist. Hervor geht dies z.B. aus Michel Foucaults Vortrag Was ist Kritik, in dem eine machttheoretische Lesart entfaltet wird, die sich wie folgt zur kantischen Philosophie positioniert: »Dennoch bleibt es wahr, daß Kant dem kritischen Unternehmen der Unterwerfung gegenüber dem Spiel der Macht und der Wahrheit als vorgängige Aufgabe – als Prolegomenon zu jeder gegenwärtigen und künftigen Aufklärung – die Erkenntnis der Erkenntnis aufbürdet.« (Foucault 1992, S. 18; ohne Hervorh.) Den Fokus auf das Erkenntnistheoretische gilt es daher zu berücksichtigen und im weiteren Verlauf der Betrachtungen zu vertiefen.

2 Selbstbestimmung und Bildung

Auf diese Weise wird der Umstand fruchtbar gemacht, dass Zustände der Fremdbestimmung konstitutiv für das Ideal der Selbstbestimmung sind. Zugleich rückt so eine Eingrenzung von Bildung und die Formulierung von möglichen Bildungszielen in den Hintergrund, während sich der Blick für die Möglichkeiten kritischer Bewegungen der Subjekte öffnet. Damit wird es einerseits zur Frage, was die theoretischen Voraussetzungen für Selbstbestimmung im Kontext von Fremdbestimmung sind. Andererseits knüpft daran unmittelbar die Frage an, wie sich innerhalb dieser Voraussetzungen ein intentionales, differenzierendes, ja, kritisches Verhältnis der Subjekte zu etwas entfalten kann. Beide Fragen sind leitend für die folgenden Abschnitte 2.3 und 2.4.

2.3

Die Beziehung zwischen Subjekt und Welt als theoretischer Ort von Bildung

Die pädagogisch konkrete Umformulierung der Frage, wie Selbstbestimmung im Kontext von Fremdbestimmung zu realisieren ist, kann im Anschluss an Norbert Meder wie folgt formuliert werden: »Wie ist Sich-bilden unter den Bedingungen des Gebildet-werdens möglich?« (Meder 2014, S. 35) Meders Antwortvorschlag ist ähnlich pointiert: »Offensichtlich ist es empirisch so: Nur am Gebildet-werden ist Sich-bilden möglich.« (Ebd.) Nur das Zusammenspiel zwischen äußerer Anregung und innerer Entwicklung gestattet dem Subjekt eine »erlebte Einheit der Bildung« (Klafki 1959, S. 43) und markiert folgerichtig den Ort, an dem über jenes Erleben theoretisch nachzudenken ist. Theoriehistorisch geht diese Verortung auf die wohl bekannteste Fassung des klassischen Bildungsbegriffs zurück: die Bildungskonzeption Wilhelm von Humboldts. Die diesbezüglich zentrale Referenz ist von Humboldts essayistisches Fragment zur Theorie der Bildung des Menschen, in dem die Stärkung und Verbesserung der jeweiligen Veranlagungen und Fähigkeiten jedes Einzelnen als die zentrale Aufgabe des menschlichen Daseins deklariert und in Abhängigkeit zu einem äußeren »Gegenstand« gesetzt wird (von Humboldt 1792, S. 235). Bildung, so Hans-Christoph Koller im Anschluss an von Humboldt, erfolgt somit »nicht im solipsistischen Bezug« des Subjekts »auf sich selbst«, sondern bedarf »eines Widerparts, einer Welt außer sich« (Koller 2009a, S. 36). Subjekt und Welt finden sich in diesem Sinne in ein Verhältnis zueinander gesetzt, in dem Erstgenanntes angeregt und heraus-

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gefordert wird, ja, womöglich Widerstände erfährt und sich dazu verhalten muss. Dass es sich dabei um ein »Anthropologikum«, das heißt um eine Eigenschaft handelt, »die den Menschen vom Tier unterscheidet« (Böhme 2016, S. 10), gilt nicht bloß als bildungstheoretischer, sondern ebenso als geisteswissenschaftlich etablierter Allgemeinsinn. Georg Simmel kann dies einprägsam in seinem Beitrag Der Begriff und die Tragödie der Kultur festhalten, wenn er schreibt: »Dass der Mensch sich in die natürliche Gegebenheit nicht fraglos einordnet, wie das Tier, sondern sich von ihr losreißt, sich ihr gegenüberstellt, fordernd, ringend, vergewaltigend und vergewaltigt – mit diesem ersten großen Dualismus entspinnt sich der endlose Prozess zwischen dem Subjekt und dem Objekt.« (Simmel 1919, S. 223) Dass auch die Welt dabei im Sinne einer »cartesianischen Neigung« (Kokemohr 2007, S. 15) nicht als invarianter Gegenstand zu verstehen ist, ergibt sich als zwingende Konsequenz aus einer weiteren, grundlegenden Einsicht von Humboldts, gemäß der das subjektive Verhältnis zur Welt eine allgemeine, rege und freie Wechselwirkung darzustellen habe (vgl. von Humboldt 1792, S. 235f.). Die Frage, als was sich Subjekt und Welt bestimmen lassen, entscheidet sich demzufolge nur im wechselseitigen Bezug beider Entitäten zueinander. Bei von Humboldt heißt es: »Was also der Mensch nothwendig braucht, ist bloss ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbstthätigkeit möglich mache. Allein wenn dieser Gegenstand genügen soll, sein ganzes Wesen in seiner vollen Stärke und seiner Einheit zu beschäftigen; so muss er der Gegenstand schlechthin die Welt seyn, oder (denn diess ist eigentlich allein richtig) als solcher betrachtet werden. Nur um der zerstreuenden und verwirrenden Vielheit zu entfliehen, sucht man Allheit; um sich nicht auf eine leere und unfruchtbare Weise ins Unendliche hin zu verlieren, bildet man einen, in jedem Punkt leicht übersehbaren Kreis; um an jeden Schritt, den man vorrückt, auch die Vorstellung des letzten Zwecks anzuknüpfen sucht man das zerstreute Wissen und Handeln in ein geschlossenes, die blosse Gelehrsamkeit in eine gelehrte Bildung, das bloss unruhige Streben in eine weise Thätigkeit zu verwandeln.« (Ebd., S. 237f.; Hervorh. C.L.) An diesem Passus ist bemerkenswert, dass von Humboldt in der Auseinandersetzung mit der Wechselwirkung zwischen Mensch und Welt eine potenzielle Handlungsfähigkeit des Menschen miteinbezieht, die ohne eine Referenz auf

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eine Äußerlichkeit ins Leere münden würde, also keine Resonanz erfahren könnte. Prozessual wird diese Fähigkeit als das Zusammenspiel zwischen Tätigkeit und Empfänglichkeit ausdifferenziert. Eine Neuformulierung dieser Ausdifferenzierung findet man z.B. bei dem Soziologen Hans-Josef Wagner, der in seiner von Humboldt-Interpretation Die Aktualität der strukturalen Bildungstheorie Humboldts eine struktural-dialektische Beschreibung des Verhältnisses zwischen menschlichem Handeln und Welt erarbeitet. Dies mündet unter anderem in die Einsicht, dass die Bildung des Einzelnen sich »in der Dialektik von Individualität und Welt [vollzieht, C.L.], die material auf der Folie eines Handlungskreises funktioniert« (Wagner 1995, S. 28). Man mag gegen den Begriff des Handlungskreises einwenden wollen, dass ein Kreis in sich geschlossen ist: er konstituiert sich durch eine Linie, die am Ende in ihren Anfang übergeht. Von Subjekten ausgeführte Handlungen wiederholen sich aber nicht, selbst wenn sie gleich geartet sind – sie bauen stets aufeinander auf und referieren in diesem Sinne immer auf bislang gemachte, in einen Zusammenhang angeordnete Erfahrungen. In Erinnerung an eine möglichst alltagsgebräuchliche Auffassung von der hermeneutischen Grundstruktur des menschlichen Denkens und Erfahrens gleicht die Wechselwirkung zwischen Empfänglichkeit und Tätigkeit im prozessualen Sinne also präzisier formuliert einer Handlungsspirale. Betont ist damit, dass ein handlungsorientiertes Verständnis von Bildung niemals als prozessual abgeschlossen zu betrachten ist. Eine Selbstbestimmung, deren Wirkung im Handeln der Subjekte vermutet wird, ist immer wiederkehrend gefordert.9 In der bildungstheoretischen Literatur der letzten 30 Jahre findet sich die perspektivische Eingrenzung auf eine vermutete Wechselwirkung zwi-

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Der inhaltlichen Vollständigkeit halber muss dieser Erkenntnis beigefügt werden, dass von Humboldt das Gelingen der Wechselwirkung zwischen Mensch und Welt und damit die Grundvoraussetzung für eine in Kraft tretende Handlungsspirale zu Beginn des 19. Jahrhunderts (d.h. in seiner letzten großen Schaffensphase) innerhalb sprachtheoretischer Überlegungen auf den Erwerb einer oder mehrerer Sprachen zurückführt. Sprache fungiert in diesem Sinne gewissermaßen als »Träger« (Meder 2011, S. 67) der Wechselwirkung zwischen Subjekt und Welt. Insofern ist sie mehr als nur ein Medium zur Kommunikation oder Interaktion, weil ihr ein sowohl weltvermittelnder als auch welterschließender Charakter vorausgeht (vgl. Koller 2012, S. 12). Von Humboldt skizziert dies in seinen Fragmenten der Monographie über die Basken treffend, wenn er zusammenfasst: »Durch die Mannigfaltigkeit der Sprachen wächst unmittelbar für uns der Reichthum der Welt und die Mannigfaltigkeit dessen, was wir in ihr erkennen.« (von Humboldt 1801/1802, S. 111)

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schen Subjekt und Welt schließlich innerhalb eines Verständnisses von Bildung als Transformation subjektiver Welt- und Selbstverhältnisse weiterverhandelt. Mit dieser Auslegung ist der Prozess des Sich-bildens, formatio, durch das Suffix ›trans-‹ aus sich heraus an eine Äußerlichkeit gebunden. Wenngleich diese Lesart ganz wesentlich von der Art und Weise beeinflusst ist, wie Rainer Kokemohr den von humboldtschen Bildungsbegriff in eher kürzeren Beiträgen neu dachte (vgl. Kokemohr 1989; 1992; 2000 und bis zuletzt 2007; darüber hinaus Koller 2012, S. 15), erfuhr sie sowohl in der traditionellen Bildungstheorie als auch in der empirischen Bildungsforschung (v.a. an die Biographieforschung anschließend) durch Winfried Marotzkis Habilitationsschrift Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie eine breite Beachtung.10 Marotzki trifft darin eine Unterscheidung zwischen Lern- und Bildungsprozessen und legt Transformationen als komplexe sowie selbstreflexive, das heißt höherstufige Lernprozesse aus, »die sich auf die Veränderung von Interpunktionsprinzipien von Erfahrung und damit auf die Konstruktionsprinzipien der Weltaufordnung beziehen« (Marotzki 1990, S. 41). Die Implikation dieses Verständnisses, dessen theoretische und prozessuale Voraussetzungen es im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit noch zu vertiefen gilt, ist die subjektive Befähigung zur Einsicht, dass eine andere Weltsicht und eine andere Seinsweise möglich sind. Bildung ist demnach als eine Art Anders-Sehen und Anders-Sein bestimmt. Indem sich Subjekte ihre Welt »auf andere Weise zugänglich« (ebd., S. 43) machen, gelangen sie zu einer Flexibilität hinsichtlich bislang tradierter und internalisierter Gewohnheiten, so dass sich Erfahrungsmöglichkeiten eines modifizierten Selbstbezugs sowie einer gesteigerten und ausdifferenzierten Selbsttransparenz eröffnen (vgl. Jörissen/Marotzki 2009, S. 26). Im Rahmen einer kritisch-reflektierenden Auseinandersetzung mit einem Verständnis von Bildung als Transformation ist es Meder, der konstatiert, dass sich in der Definition von Bildung als Transformation subjektiver Welt- und Selbstverhältnisse eine spezifische Bildungsstruktur manifestiert 10

Diese Behauptung erhält ihre Plausibilität durch zwei weitere Aspekte: Marotzkis Verständnis von Bildung als Transformation subjektiver Welt- und Selbstverhältnisse ist zum Ersten ganz wesentlich durch die Vorarbeiten Kokemohrs beeinflusst (vgl. von Felden 2016, S. 93; Koller 2012, S. 16; 2016, S. 149). Zum Zweiten – und das mag erstaunlich klingen – referiert Marotzki in seiner Habilitationsschrift kein einziges Mal (!) auf von Humboldt. Die starken Ähnlichkeiten in der formalen Logik zwischen von Humboldts und Marotzkis Bildungstheorie werden erst in späteren Schriften durch entsprechende Bezugnahmen sichtbar (vgl. v.a. Jörissen/Marotzki 2009, S. 12f.).

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(vgl. Meder 2007a, S. 120). Bildung ist folglich als »ein Verhältnis, eine Beziehung, eine Relation« und damit »in erster Linie relational und nicht substantial bestimmt«.11 (Iske/Meder 2010, S. 21) Insofern darf sie nicht als spezifische Eigenschaft des Subjekts missverstanden werden, sondern ist als »die Charakteristik« der Beziehung zwischen Mensch und Welt zu denken (ebd.). Bildungstheoretisch denken heißt daher, beziehungstheoretisch zu denken. Das ist deshalb dezidiert zu betonen, weil Meder im Anschluss an diese Bestimmung mit Rückgriff auf die von Niklas Luhmann als sachlich, sozial und zeitlich unterschiedenen Sinndimensionen psychischer und sozialer Systeme eine Ergänzung vornimmt, die Bildung innerhalb einer formalen Logik in ein dreifaches Beziehungsgefüge überführt (vgl. Meder 2007a, S. 120). Bildung ist dementsprechend strukturiert als das Verhältnis zwischen 1. dem Subjekt und den Sachverhältnissen und Dingen in der Welt (Sachdimension), 2. dem Subjekt und »dem oder den anderen in der Gemeinschaft« (Sozialdimension) sowie 3. dem Subjekt und »sich selbst in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« (Zeitdimension) (ebd.; ohne Hervorh.).

In dem hier vorgeschlagenen Sinne führt die Beziehung zwischen Subjekt und Welt auf sachliche und dingliche Bezugnahmen, gesellschaftliche Zugehörigkeiten sowie zeitliche Verhältnisse zurück. Es sind Verhältnisse, die analytisch zwar getrennt werden können, empirisch jedoch auf vielfältige Art und Weise ineinander überlaufen. Sie stehen »unter Kombinationszwang« und können mithin »nicht isoliert auftreten« (Luhmann 1984, S. 127). Das trifft immer und überall zu, selbst in diesem Moment: So findet das Lesen dieser Zei11

Es ist davon auszugehen, dass der Kantianer Meder hier an jenen Substanzbegriff denkt, den Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft konträr zu einer Situationsgebundenheit an das Beharrliche, also an den Träger des plötzlich Eintretenden koppelt: »Veränderung ist eine Art zu existieren, welche auf eine andere Art zu existieren eben desselben Gegenstandes erfolget. Daher ist alles, was sich verändert, bleibend, und nur sein Zustand wechselt. Da dieser Wechsel also nur Bestimmungen trifft, die aufhören oder auch anheben können: so können wir, in einem etwas paradox scheinenden Ausdruck, sagen: nur das Beharrliche (die Substanz) wird verändert, das Wandelbare erleidet keine Veränderung, sondern einen Wechsel, da einige Bestimmungen aufhören, und andere anheben. […] Veränderung kann daher nur an Substanzen wahrgenommen werden.« (Kant 1787, S. 220f., Hervorh. C.L.)

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len womöglich an einem Tisch statt, während das Geschriebene in Form eines Buches vorliegt und ein gespitzter Bleistift für Vermerke am Rand des Textes in der Hand gehalten wird (Sachdimension). Ebenso ist es wahrscheinlich, dass das Lesen vor dem Hintergrund einer ganz bestimmten biografischen Sozialisation erfolgt. Man hat beispielsweise aus beruflichen Gründe Interesse am Thema dieser Arbeit gefunden oder möchte einen Fachartikel zu einer ähnlichen Thematik schreiben und kommt nun mit dem Lesen der wissenschaftlichen Pflichtaufgabe einer gründlichen Recherche nach (Sozialdimension). Und nicht zuletzt ist die Tätigkeit des Lesens in eine Zeit eingebettet, die irgendwann durch eine Zeit für andere Tätigkeiten abgelöst wird (Zeitdimension). Luhmann zufolge ist die prinzipiell mögliche Unterteilung jedes (!) empirisch erfahrbaren Phänomens in eine Sach-, Sozial- und Zeitdimension eine unwiderrufliche Faktizität der Sozialwissenschaft, ohne dass letztlich einzusehen wäre, wie sie deduktiv hergeleitet ist (vgl. Luhmann 2009, S. 239). Ihrer Infragestellung entgegnet er einmal in seiner Vorlesung zur Einführung in die Systemtheorie mit der Aufforderung, »einmal andere Dimensionen vorzuschlagen« (ebd.). Entsprechend ist ein »Drei-Welten-Modell« (Weidenhaus 2015, S. 18) thematisiert, das sich in einer Vielzahl an philosophischen und soziologischen Werken in Form eines routinemäßig wiederholbaren Theorieprodukts wiederfinden lässt (vgl. Luhmann 2009, S. 239), wenngleich eine grundsätzliche Problematik darin auszumachen ist, dass diese drei Welten oftmals implizit bedacht, aber selten explizit benannt werden. Explizite Bestimmungen finden sich z.B. in Helmut Plessners anthropologischer Interpretation des Menschen als exzentrische Positionalität, die sich aufbauend aus einer Außenwelt, Mitwelt und Innenwelt konstituiert (vgl. Plessner 1981, S. 365). Dazu ergänzend legen Peter L. Berger und Thomas Luckmann in ihrer wissenssoziologischen Grundlegung über Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit der »Wirklichkeit der Alltagswelt« eine objektive, subjektive und soziale Struktur zugrunde (Berger/Luckmann 1969/2009, S. 24f.). Und auch Jürgen Habermas spricht im Rahmen seiner Theorie des kommunikativen Handelns von einer objektiven, sozialen und subjektiven Welt (vgl. Habermas 1995a, S. 84). Die Rede von Selbst-, Sozial- und Weltverhältnissen lässt sich darüber hinaus auch in solchen bildungstheoretischen Konzeptionen finden, deren theoretische Basis die hermeneutische Praxis ist (vgl. z.B. Dörpinghaus 2015, S. 464). Im Kontext eines transformatorischen Bildungsbegriffs spricht nicht zuletzt Koller vom »Welt-, Anderen- und Selbstverhältnis« der Subjekte (Koller 2012, S. 17).

2 Selbstbestimmung und Bildung

Diese jeweils unterschiedlichen Sprachspiele, die im Kern auf kongruente Verhältnisse anspielen, verdeutlichen, dass es wichtig ist, sich zumindest darüber zu vergewissern, warum von welcher Einteilung vorzugsweise zu sprechen ist. Dementsprechend soll im Folgenden die durch Meder von Luhmann übernommene Einteilung verwendet werden, weil sie explizit den Aspekt ›Zeit‹ betont,12 womit in erster Linie darauf verwiesen ist, »dass man sich zu sich selbst nur als zu einem Vergangenen, einem Aktuellen oder einem Zukünftigen verhalten kann. Vergangenheitsorientiert rekonstruiert man seine Position im Lebenslauf. Man konstruiert seine Biografie.« (Meder 2007a, S. 121) Mit der Rede von einer Zeitdimension ist insofern bereits zu diesem frühen Zeitpunkt der Arbeit hervorgehoben, dass sich das Subjekt der Veränderungen seines Lebens stets in der Zeit bewusst wird. Die Festlegung des theoretischen Ortes von Bildung auf ein dreifach strukturiertes Beziehungsgefüge wird für die weiteren Betrachtungen eine zentrale argumentative Grundlage darstellen. Folglich soll an dieser Stelle zunächst der Fokus darauf liegen, dass sich mit ihr die Definition von Bildung als Transformation subjektiver Welt- und Selbstverhältnisse besser verfolgen lässt. Das ist insofern hilfreich, als dass es sich bei ›Welt‹ um einen übergreifenden »Totalitätsbegriff« (ebd., S. 122) bzw. »Inbegriff« (Kant 1787, S. 336) handelt, der alle möglichen Ereignisse und Zustände umfasst und damit empirisch anschlussfähige Überlegungen nicht eindeutig zulässt. Die Rede von ›Welt‹ referiert lediglich auf eine Art ganzheitliche Rahmung »des Erfahrbaren – auch des pädagogisch Erfahrbaren. Aber das Ganze selbst kann nicht empirisch erfahren werden, es befindet sich auf einer kategorialen Ebene, die wir traditionell die Ebene der Metaphysik nennen.« (Meder 2007a, S. 122) In diesem Sinne liegt die Stärke ihrer Einteilung in eine Sach-, Sozial- und Zeitdimensionen darin, dass man konkrete Strukturen gewinnt, unter denen man gezielt die Voraussetzungen eines auf der Beziehung zwischen Subjekt und Welt aufbauenden Bildungsbegriffs untersuchen kann. Wenngleich diese Dimensionen auf den ersten Blick zu komplex sind, als dass mit ihnen inhaltlich erschöpfende Charakterisierungen möglich wären, so gestatten sie nichtsdestotrotz eine permanente Reflexion darüber, auf welcher Ebene man sich mit seinen Überlegungen befindet.

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Darüber hinaus entstehen so Anschlussmöglichkeiten an einen systemtheoretischen Begriff von Komplexität, wie er weiter unten noch bildungstheoretisch zu deuten sein wird (vgl. Kapitel 5).

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Insofern darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass hier ein theoretischer Zugang zu Bildung bestimmt ist, mit dem das Phänomen in seinen Voraussetzungen zwar ausreichend strukturiert scheint, aber keineswegs einem normativen Anspruch gerecht wird (vgl. Krinniger/Müller 2012 und Fuchs 2014. In: Koller 2016, S. 150). Es handelt sich hier um eine Problematik, die sich in dem Sammelband Von der Bildung zur Medienbildung (vgl. Verständig/Holze/Biermann 2016b) thematisiert findet. Darin erhebt einerseits Koller in dem Beitrag Ist jede Transformation als Bildungsprozess zu begreifen? das Postulat, dass der normative Gehalt des Transformativen der Bildung zwischen den Zeilen vermutet werden muss, weil gerade ihre Vorstellung »als rein deskriptives Konzept ohne wertende Stellungnahme« dazu führen würde, dass »jede (oder zumindest jede grundlegende Transformation) eines Welt- und Selbstverhältnisses als Bildungsprozess« (Koller 2016, S. 151; ohne Hervorh.) zu begreifen sei. Wenn daran im Rahmen des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Arbeit die Frage anschließt, wie die Vorstellung vom Transformativen mit dem Ideal der Selbstbestimmung zu verknüpfen ist, dann lässt sich ein Antwortvorschlag andererseits in Meders Beitrag Philosophische Grundlegung von Bildung als einem komplexen Relationengefüge finden. Meder greift in diesem Beitrag auf das als dreifaches Beziehungsgefüge strukturierte Bildungsverständnis zurück und fokussiert dessen subjektbezogene Zeitdimension in Form des Verhältnisses »des Einzelnen zu sich selbst im Ganzen seines Lebens, im Ganzen seiner Lebenszeit« (Meder 2016, S. 182). Die damit thematisierte Zeitstruktur des selbstreferentiellen Subjekts und seiner befristeten Lebenszeit wird daraufhin mit der Unterscheidung zwischen Dynamik, in Form des Weiterlebens, und Statik, in Form der je aktuellen Gegenwart, spezifiziert. Bei Meder heißt es: »Man kann das Selbst- und Weltverhältnis statisch als einen Zustand betrachten oder aber dynamisch als ein Werden, in dem sich permanent das Selbst- und Weltverhältnis verändert. In der explizierten Form heißt dies, dass sich irgendetwas im Beziehungsgefüge des Einzelnen zu den Sachen und Sachverhalten in der Welt, zu dem Anderen und den anderen in der Gemeinschaft sowie zu sich selbst in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verändert.« (Ebd.) Mit der Differenzierung von Statik und Dynamik (bzw. Sein und Werden) gewinnt man die Möglichkeit, den Begriff der Bildung nicht nur strukturell und prozessural, sondern ebenso mittels einer normativen Haltung zu fundieren.

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Meder greift dazu auf die Bewegungsursachen-Lehre der Naturphilosophie Aristoteles’ und den dazu gehörigen vier Unterscheidungen zurück: 1. 2. 3. 4.

die causa materialis als Material- und Stoffursache, die causa formalis als die Form, in die das Materielle übergeht, die causa efficiens als Effekt, den eine Form bewirkt, sowie die causa finalis als Ursache jedes Zweckes (vgl. ebd.).

Diese Unterscheidungen sind zunächst wie folgt zu exemplifizieren: Holz als Material hat unter anderem die Eigenschaft, beständig und robust zu sein. In der Form einer Hütte liegen daraus resultierende Effekte womöglich im Schutz vor den Gefahren der Natur (Tiere, Kälte etc.). Eine mögliche Zweck-Ursache ist folglich in dem menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit auszumachen. Bildungstheoretisch ist dies wie folgt weiterzudenken: Mit der causa materialis ist die Grundlage der Dynamik des Lebens bestimmt, die jeder prozessualen Veränderung und jedem zielgerichteten Werden in der Welt zugrunde liegt. Indem Subjekte handeln, tragen sie zu den Veränderungen in der Welt bei; indem sie Sorge für das tragen, was sie tun, tragen sie Sorge für ihr Sein und ihr Werden. Abzuleiten ist daraus die Paradoxie, dass Veränderung die Grundlage jedes Seins ist. Mit jeder ausgeführten Handlung unterwirft sich das Subjekt diesem Umstand, auch wenn diese Unterwerfung mitnichten jedem bewusst ist. Die causa formalis bildet das Gegenprinzip dazu. Sie ist die Form, die sich unveränderlich in jedem Seienden befindet (vgl. ebd., S. 182). Das Subjekt kann nur deshalb Subjekt sein, weil seine Fähigkeit des Welterkennens in der Form des Menschen enthalten ist. Das Veränderbare und das Unveränderliche, die Materie und die Form finden sich unter diesen Voraussetzungen zwar nicht logisch miteinander vereint, kommen aber im weltlichen Handeln dennoch immer gemeinsam vor (vgl. ebd., S. 184). Bildungstheoretisch entscheidend ist, dass sich die causa efficiens innerhalb dieser Logik in subjektbezogener Perspektive als Äquivalent zum Phänomen der Fremdbestimmung verhält: »ein anderes ist die Ursache für die Veränderung eines etwas« (ebd., S. 183). Diese Bestimmung entfaltet ihre argumentative Wirkkraft, wenn die causa finalis schlussendlich als Äquivalent zum Ideal der Selbstbestimmung gedeutet wird, so dass sie sich zur causa efficiens so verhält, wie die causa formalis zur causa materialis. Zusammenfassend argumentiert Meder daher, dass die Selbstbestimmung der Subjekte »allein als causa finalis gefasst werden [kann, C.L.]. Ich kann mich nur selbst bestimmen, indem ich mir ein Ziel (finis) vorgebe und

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dieses Ziel für mich die Ursache meines Handelns ist. Modern wird dies Finalität oder Zweck-Rationalität genannt.« (Ebd., S. 183f.; Hervorh. C.L.) In diesem Sinne konstituiert sich mit der Materialität der Welt in Unterscheidung zu der gegebenen Form alles Weltlichen einerseits sowie der Wirkung dieser Form in Unterscheidung zu damit stets verknüpften Handlungen der Subjekte andererseits eine doppelt gewundene Verflechtung des theoretischen Ortes der Bildung. Folglich ist eine abstrakte Antwort auf die Frage gefunden, wie die Ermöglichung von Selbstbestimmung aus einem als Beziehungsgefüge angelegten Bildungsverständnis heraus zu denken ist. Greifbarer wird diese Antwort im Anschluss an das bislang Argumentierte mit der Betonung, dass die causa finalis offensichtlich an ein zweckbestimmtes Ziel (Intentionalität) gebunden ist. Denn dies gewährt eine Verbindung zu dem, was weiter oben mit Kant als autonomes Handeln in Form eines ›sich als Zweck an sich selbst zu behandeln‹ bereits ausführlich erfasst werden konnte. Obwohl damit eine ausreichend erscheinende Normativität in den hier skizzierten theoretischen Ort der Bildung eingetragen ist, drängt sich umgehend die Frage auf, wann es Subjekten denn nun möglich ist, ein Ziel so zu setzen, dass es im Rahmen einer selbstbestimmten Handlung wirkmächtig werden kann. Kürzer gefragt: Was ist die Grundbedingung eines selbstbestimmten Bildungsprozesses, eines selbstbestimmten Sich-Bildens, einer selbstbestimmten formatio?

2.4

Aneignung und Selbstbestimmung: Zum Prozess der Bildung

Die Vorstellung, dass jedem Bildungsprozess ein Lernprozess zugrunde liegt, ist keineswegs eine exklusiv pädagogische Einsicht. Lernen gilt allerdings als ein komplexes Ereignis, dessen wissenschaftliche Ausdifferenzierung mit einer inhaltlichen Vielfalt einhergeht (vgl. Meder 2007a, S. 119). Antworten auf die Frage, was Lernen ist, können sowohl theoretisierende (z.B. behavioristisch, kognitivistisch, konstruktivistisch, pragmatistisch oder konnektivistisch), prozessorientierte (z.B. forschendes Lernen, Versuch und Irrtum, Spielen, Entdecken, Mitmachen) als auch kontextuelle (z.B. informell vs. formell) Dimensionen vorweisen (vgl. Kerres/de Witt 2004, S. 79ff; Meder 2007a, S. 119). Ungeachtet dieser vielfältigen Beschreibungsmuster geht es im Kern jedoch stets um die Beobachtung einer »Veränderung irgendeiner Art« (Bateson 1964, S. 366; Hervorh. im Orig.), deren Intention auf Seiten der Subjekte der Erwerb von Erkenntnis ist (vgl. z.B. Piaget 1973). Damit drängt sich die Ver-

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mutung auf, dass Erkenntniserwerb und Selbstbestimmung in einem kausalen Verhältnis zueinanderstehen könnten. Eine gedankliche Brücke dazu liefert z.B. Zygmunt Bauman, wenn er in seiner Monographie Flüchtige Moderne im Anschluss an Adorno den Gewinn von Erkenntnis als »Beginn der Freiheit« deklariert (Bauman 2003, S. 55). Ausgehend von diesem Gedankengang wird es im Folgenden darum gehen, die bislang formulierten Überlegungen auf den Begriff der Aneignung festzulegen.13 Aneignung wird dabei als eine besondere Qualität der Beziehung zwischen Subjekt und Welt zu beschreiben sein, mit der im Grunde genommen vor allem erkenntnistheoretische Voraussetzungen eines Verständnisses von Bildung als Kritik der Verhältnisse (vgl. Abschnitt 2.2) in den Blick genommen sind. Die Notwendigkeit dieser Perspektive liegt auf der Hand: bereits die Art, wie Subjekte die Welt wahrnehmen,14 bestimmt die Weise, wie sie handeln und entscheidet folglich auch darüber, ob sie selbstbestimmt handeln können. In diesem Sinne lässt sich die Rede von Aneignung in einem zunächst sehr oberflächlichen Verständnis auch als eine Praxis bzw. als eine Form des praktischen Weltverhältnisses der Subjekte deuten (vgl. Jaeggi 2016, S. 65). Das gewährt grundsätzlich Anschluss an einen Begriff von Selbstbestimmung, der entlang des bereits Argumentierten als praktischer Freiheitsbegriff zu verstehen ist. Darüber hinaus kann mit dem Begriff der Aneignung die Besonderheit exploriert werden, dass innerhalb des konstitutiven Zusammenspiels zwischen Selbst- und Fremdbestimmung ein Teil der Welt vom Subjekt zu eigen gemacht wird: im Prozess der Aneignung wird »ein vorher Fremdes der Sach- bzw. Sozialdimension […] ins Selbstverhältnis integriert » (Meder 2007a, S. 131). Der Darlegung dieser Perspektive wird im Folgenden in dreifacher Hinsicht nachgegangen. Zunächst gilt es, den Begriff der Aneignung theoretisch

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Ausgearbeitet finden sich damit Überlegungen, die an anderer Stelle bereits vorbereitet wurden (vgl. Leineweber 2017). Eine recht pointierte Fassung der nachstehend formulierten Überlegungen liegt mittlerweile auch in Form des Beitrags Digitale Bildung und Entfremdung – Versuch einer normativ-kritischen Verhältnisbestimmung vor (vgl. Leineweber 2020a, S. 38-43). Der Begriff der Wahrnehmung soll an dieser Stelle in einem sehr allgemeinen Verständnis als Bewusstwerdung sämtlicher Ereignisse und damit in Bezug auf alle möglichen Konstruktionen von Wirklichkeit erfasst werden. Eine solche Verallgemeinerung schafft die Möglichkeit zu Querverbindungen, die sich im weiteren Verlauf sowohl in Bezug auf Zeit (vgl. Kapitel 4) als auch in Bezug auf Komplexität (vgl. Kapitel 5) noch als nützlich erweisen werden.

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so einzugrenzen, dass er an den Begriff der Selbstbestimmung anschlussfähig wird (vgl. Abschnitt 2.4.1). Zentraler Bezugspunkt soll dabei Bernhard Waldenfels’ Studie zur Topographie des Fremden sein, deren grundsätzliches Potenzial für Überlegungen, die einen transformatorischen Bildungsbegriff zu berücksichtigen wissen, bereits Kokemohr und Koller ausgearbeitet haben (vgl. z.B. Kokemohr 2007; Koller 2012, S. 79-86). Mit Waldenfels lässt sich Aneignung als potenziell freiheitsgenerierende Verarbeitung des Fremden durch das Subjekt beschreiben. Die beiden daran anknüpfenden Arbeitsschritte gelten einer bildungstheoretischen Konkretisierung dieser Lesart und greifen in diesem Sinne die bislang wegführenden Positionen auf, so dass einerseits noch einmal an bildungstheoretische Überlegungen Sesinks (vgl. Abschnitt 2.4.2) und andererseits an ein Verständnis von Bildung als Transformation subjektiver Welt- und Selbstverhältnisse angeschlossen werden kann (vgl. Abschnitt 2.4.3).

2.4.1

Theoretische Eingrenzungen: Aneignung und die Erfahrung des Fremden

Waldenfels’ Studie zur Topographie des Fremden ist phänomenologischer Provenienz. Folglich gestattet sie die Fokussierung auf das wahrnehmende Subjekt, liegt der Kern phänomenologischer Theoriebildung doch darin, den je untersuchten Gegenstand »mit bewußter Naivität« so zu betrachten, »wie er sich zeigt« (Luckner 1997, S. 24), um Dinge als Resultat der subjektiven Empirie zu erfassen (vgl. Nassehi 2011, S. 70). In diesem Sinne beginnen Waldenfels’ Überlegungen mit der Beobachtung, »dass das Fremde für uns etwas Alltägliches, Allvertrautes« ist (Waldenfels 1997, S. 16). Einprägsame Beispiele sind das »Gastrecht, das dem Fremden« zusteht, »die Vielfalt fremder Sprachen, aus der sich die Muttersprache aussondert«, oder das »Fremdeln beim Kind, wenn es lernt, vertraute von fremden Gestalten zu unterscheiden« (ebd.). Die Originalität der daran anschließenden Überlegungen liegt darin, dass Waldenfels das Fremde nicht ausschließlich als Phänomen der menschlichen Wahrnehmung auffasst (vgl. Koller 2009, S. 80), sondern vielmehr als »Hyperphänomen« kennzeichnet, das in der Lage ist, Subjekte in ihrer je spezifischen »Eigenheit«, das heißt in der Konstitution ihres Selbst herausfordernd in Frage zu stellen (Waldenfels 1997, S. 18). Diesen Akt der Infragestellung, dem durchaus eine beunruhigende Wirkung innewohnt (vgl.

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ebd., S. 37-41),15 bringt Waldenfels auf den Begriff der Erfahrung, einen »Prozeß, in dem sich Sinn bildet und artikuliert und in dem die Dinge Struktur und Gestalt annehmen« (ebd., S. 19). Die Implikation der Erfahrung (bzw. des Erfahrens) ist eine radikale »Intentionalität«, durch die uns schließlich »etwas als etwas, also in einem bestimmten Sinn, einer bestimmten Gestalt, Struktur oder Regelung erscheint« (ebd.; Hervorh. im Orig.). Daran schließt eine subjektive Befähigung zur Herstellung individueller Weltordnungen an, weil der Sachverhalt, dass etwas als ebendieses etwas wahrgenommen wird, bereits voraussetzt, dass es »so und nicht anders« ist, dass also bestimmte »Erfahrungsmöglichkeiten« bereits vorab »ausgesondert« sind (ebd., S. 20; ohne Hervorh.). Ein solch selektierender Erfahrungsbegriff erlaubt eine phänomenologische Eingrenzung des Fremden: Als fremd wird folglich solches von Subjekten erfahren, was sich individuellen Weltverhältnissen entzieht (vgl. ebd.). Zweifelsohne verschließt das Abstraktionsniveau dieser Formulierung einen direkten Zugriff sowohl auf einzelne empirische Phänomene als auch auf konkrete Erfahrungsmodi des Fremden. Nichtsdestotrotz ist hier eine (besondere) Qualität thematisiert, die sich innerhalb der Differenz zwischen Subjekt und Welt, zwischen Eigenem und Fremdem entfaltet. Der bildungstheoretische Gehalt dieser Qualität ist letztlich mit der Frage einzusehen, wie Subjekte auf die Erfahrung des Fremden reagieren (vgl. Koller 2012, S. 84). Waldenfels hält auf diese Frage drei Antworten bereit: Vernichten, Antworten und Aneignen (Waldenfels 1997, S. 45-50), wobei gerade die Reaktionsform des Aneignens ein bildungstheoretisches Interesse weckt, weil ihr eine emanzipatorische Leistung implizit ist. »Der Umgang mit dem Fremden ist so sehr durch das Ziel der Aneignung bestimmt, daß ›Aneignung‹ vielfach als Synonym für ›Erkennen‹, ›Erlernen‹ oder ›Befreiung‹ gebraucht wird.« (Ebd., S. 49) In der Auffassung Waldenfels’ liegt folglich die Besonderheit von Prozessen der Aneignung darin, dass das Fremde nicht vernichtet bzw. beseitigt, 15

Eine Beschreibung jener beunruhigenden Wirkung des Fremden für das Eigene (des Subjekts) findet sich beispielsweise in Manuela Pietraß` Monographie Der Situationsumschlag zusammengetragen, wo es heißt: »Fremd, das ist das, was nicht zum Eigenen gehört und deswegen auch nicht erfahrbar und erfaßbar ist. Fremd ist auch das ursprünglich andere, von dem man nicht will, daß es zum Eigenen gehört und dem deswegen ein Platz zugewiesen wird, der außerhalb der eigenen Welt liegt. Fremd, das ist immer anders als man selbst, anders als die vertraute Welt. In seiner negativen Wirkung greift es die eigene Identität an, da es mit dieser nicht vereinbar ist und sie in Frage stellt.« (Pietraß 1995, S. 43)

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sondern von Subjekten gedanklich »verarbeitet und absorbiert« wird (ebd.). Offensichtlich ist damit eine Verbindung zu Lernprozessen hergestellt, bei denen es ebenfalls auf eine Verinnerlichung des Gelernten (vgl. Meder 2007a, S. 130), das heißt auf die Denkbewegungen der Subjekte ankommt. Erfahrung geht damit über eine bloße Form des Wahrnehmens hinaus und zielt auf eine Art Erkenntnisgewinn ab, was in bildungstheoretischer Hinsicht weiter ausdifferenziert werden kann.

2.4.2

Vom Datum der Welt zur Bildung des Subjekts: Die informationstechnische Struktur von Aneignungsprozessen

Mit seiner Monographie In-formatio eröffnet Sesink die Möglichkeit, den Begriff der Aneignung in eine informationstechnische Struktur einzutragen, die analytisch zwischen Datum, Information, Wissen und Bildung unterscheidet. Innerhalb dieser Unterscheidung agieren Subjekte als diejenigen Entitäten, die in der Lage sind, sich selbst und die um sie herum existierende Welt als gegeben wahrzunehmen (vgl. Sesink 2004, S. 137f.). Unter der bildungstheoretischen Prämisse, dass die Beziehung zwischen Subjekt und Welt wechselwirkend ist (vgl. Abschnitt 2.3), resultiert als Konsequenz aus einer solch konstruktivistischen Perspektive, dass es nicht nur eine wahrzunehmende Welt, sondern ebenso Subjekte gibt, die sich über Wahrnehmungsprozesse eine Wirklichkeit von Welt konstruieren. Der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty fasst die damit verbundenen Konsequenzen treffend zusammen, wenn er in seiner Monographie Phänomenologie der Wahrnehmung schreibt: »Eine Welt ist für mich da, weil ich nicht ohne Wissen von mir selbst bin; und ich bin mir selbst nicht verborgen, weil ich eine Welt habe.« (Merleau-Ponty 1945, S. 346) Die Möglichkeit des Erkennens darüber, dass etwas da ist, lässt sich mit Sesink zunächst mit der »passivische[n] Formulierung ›ist gegeben‹« verfolgen, die im Lateinischen »datum est« lautet (Sesink 2004, S. 138; Hervorh. im Orig.). Das basale Datum ist die Welt, die folglich der Ursprung aller sachlichen, sozialen und zeitlichen Verhältnisse ist: sie ist da und wir existieren in ihr. In Ergänzung lautet die ursprüngliche Wortbedeutung des Begriffs der Information: »Ein-Prägung, Ein-Bildung« (ebd. 2004, S. 139). Ein Datum ist unter diesen Voraussetzungen dann informierend, wenn von ihm eine Wirkung ausgeht: »Information ist ein Datum, das mich angeht.« (Ebd.; ohne Hervorh.) Wenn der Anthropologe und Kybernetiker Gregory Bateson für diesen Sachverhalt die einprägsame Definition von Information als einen unter-

2 Selbstbestimmung und Bildung

schiedsmachenden Unterschied vorgeschlagen hat (vgl. Bateson 1970, S. 582), dann kann man schließlich soweit gehen und Informationstheorien per se als Differenztheorien lesen (vgl. Luhmann 2009, S. 69; Baecker 2018, S. 68). Der springende Punkt ist hier in bildungstheoretischer Hinsicht, dass zur Wahrnehmung eines Unterschieds eine ordnende Beziehung zwischen Subjekt und Welt vorliegen muss. Eine Information gilt letztlich nicht nur einem einzelnen Datum, sondern der aktiven Gegenüberstellung eines Datums zu anderen Daten (vgl. Baecker 2007a, S. 19). Dass sich damit ein Weltverhältnis der Subjekte zu erkennen gibt, ist deshalb zu betonen, weil sich dieses im Kontext des Wissens schließlich konsolidiert. Bei Sesink heißt es: »Datum ist das Gegebene, bezieht sich als ›Gegebensein‹ auf ein Seiendes außerhalb des Subjekts. Information ist das Gegebene, das das Subjekt angeht, es prägt. Als Wissen schließlich bezeichne ich die vom Subjekt nicht nur angenommene, sondern auch angeeignete Information, insofern vom Subjekt in sein eigenes geistiges Bild der Welt eingeordnete Information. Information, die sich zu Information fügt, zu einem Geflecht, einem Ordnungszusammenhang von informierenden Daten.« (Sesink 2004, S. 141; Hervorh. C.L.) Wissen wird hier auf die Aneignung einer Information zurückgeführt. Aneignung ist insofern als diejenige Tätigkeit bestimmt, bei der ein Datum über den Unterschied, den eine Information macht, zu etwas Eigenem wird. Es handelt sich hier zuvorderst um eine geistige Leistung, die im Anschluss an Sesink als eine Art kohärentes Aneinanderreihen von Information(en) an Information(en) zu präzisieren ist. Denkt man diese Aneinanderreihung hermeneutisch strukturiert, dann erhält man die Möglichkeit, den oben im Anschluss an von Humboldt vorgeschlagenen Begriff der Handlungsspirale wiederaufzunehmen (vgl. Abschnitt 2.3), so dass ein vom Subjekt angeeignetes Wissen als Quelle humaner Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit anzuerkennen ist. Ein Beispiel kann diesen Gedankengang verdeutlichen: Die Angabe ›24. Dezember‹ ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Datum. Die zusätzliche Notiz, dass das Weihnachtsfest auf den 24. Dezember fällt, ist eine Information, denn sie macht einen Unterschied: das Datum des 24. Dezembers unterscheidet sich von anderen Daten durch die Verbindung mit einer Festlichkeit. In der Aneignung dieser Information, das heißt mit ihrer Aneinanderreihung zu anderen Informationen, gelangt man womöglich zu der Einsicht, dass das Weihnachtsfest bestimmte Gepflogenheiten mit sich führt: Geschenke, ein gemeinsames Essen mit den Liebsten, den Gang in die Kirche etc. Die Verknüpfung dieser Elemente

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versetzt Subjekte schließlich in einen Handlungsbedarf: man sollte womöglich Geschenke besorgen, die Familie zum Essen einladen, den Festanzug zur Reinigung bringen etc. Dieses Beispiel kann letztlich nur die Vereinfachung einer vielschichtigen Ereignisreihe sein, bei der entscheidend ist, dass Subjekte innerhalb der Aneignung von Informationen einen kognitiven Zusammenhang entfalten (vgl. Baecker 2013a, S. 18). Deutlich wird dies unter Hinzunahme der Unterscheidung zwischen dem Verb ›wissen‹ und dem dazugehörigen Substantiv ›Wissen‹, der eine Gegenüberstellung zwischen dem (wissenden) Subjekt und der Welt (auf die sich das Wissen bezieht) implizit ist (vgl. Sesink 2004, S. 141). Der Zusammenhang beider Bezeichnungen ist dann ersichtlich, wenn man das ›Wissen‹ noch einmal in die Zustände objektiviert (d.h. allgemein vermittelbar) und objektiv (d.h. voraussetzungsfrei nachvollziehbar) aufteilt und sich anschließend vergegenwärtigt, dass beide Zustände letztlich auf subjektiven Einteilungen basieren müssen (vgl. ebd., S. 142). Gleichsam ist damit eine Abstraktionsebene betreten, die notwendig erscheint, um einsehen zu können, wie Sesink zwischen Wissen und Bildung differenziert: »Als subjektives [und damit angeeignetes, C.L.] will das Wissen auch etwas über sich selbst wissen: Es will sich über sich selbst, über das ›Datum‹ des Wissens informieren. Damit drängt es zurück zur Genese der Daten, der Information, des Wissens. Das Wissen selbst muss sich einordnen lassen. […] Im formalen Ordnungszusammenhang der Informationssysteme wird die Spur des fundierenden und übergreifenden Lebenszusammenhangs der Menschen gesucht, die Bedeutung, die sie hierfür haben können; ihr Sinn. […] Damit vollzieht sich der Übergang vom Wissen zur Bildung und der Rückgang auf die Bildung des Wissens. Bildung verlangt nach der Reflexion auf die Einrichtung des Ganzen unter Einschluss des in den Informationssystemen Ausgeschlossenen: des materiellen Moments der menschlichen Existenz, von leibgebundener Bedürftigkeit ebenso wie von schöpferischer Potenz. Bildung führt die Reflexion auf den eigenen materiellen Lebensgrund, das ursprünglichste Datum.« (Ebd., S. 143f.; Hervorh. C.L.) Angeeignetes Wissen, das im Kontext von Bildung wirksam wird, ist somit der Ausdruck einer besonderen Prägung, die das Verhältnis des Subjekts zu seiner Sicht auf die Welt neu situiert. Das lehrt vor allen Dingen, dass eine informationstechnische Unterscheidung zwischen Datum, Information, Wissen und Bildung auf unterschiedliche Intensitäten im Kontext der Beziehung zwischen Subjekt und Welt aufmerksam macht: mit jeder informations-

2 Selbstbestimmung und Bildung

technischen Ebene wird das Weltverhältnis der Subjekte intensiver. Allerdings verleitet diese Lesart ebenso durchaus vorschnell zu dem Gedanken, dass es sich hier um eine serielle Logik handeln könnte, innerhalb derer die Stufen vom Datum zur Bildung progressiv zu erreichen wären. Die auf den Punkt gebrachte Argumentationslogik müsste dann lauten, dass Subjekte sich ihre Welt über den Umwandlungsprozess von Daten zu Informationen hin zu Wissen aneignen und Bildung sich just in dem Moment realisiert, in dem Subjekte Wissen – geplant oder zufällig – auf sich selbst und ihre eigene Entwicklung beziehen. Bemerkenswerterweise scheint also gerade diese Perspektive den krisenhaften Charakter der Bildung zu vernachlässigen, indem sie unter anderem den Fremdheitscharakter von Daten und Informationen inklusive ihrer inhärenten Widerstände nicht berücksichtigt. Zusammenfassend lässt sich also formulieren: Sesinks informationstechnische Differenzierung handelt vom konstruktivistischen Erkennen, aber nicht vom irritierenden Erfahren. Folglich sind seine Ausführungen im Kontext des Aneignungsbegriffs einem blinden Fleck ausgeliefert, der mit einer Perspektive eingeholt werden kann, die Bildung als Transformation subjetiver Welt- und Selbstverhältnisse in den Blick nimmt und Aneignung innerhalb der Unterscheidung zwischen Lernen und Bildung weiter ausdifferenziert.

2.4.3

Aneignung und die Unterscheidung zwischen Lernen und Bildung

Transformationen subjektiver Welt- und Selbstverhältnisse sind im Anschluss an Marotzki auf höherstufige Lernprozesse zurückzuführen (vgl. Abschnitt 2.3). Ihre Implikation liegt in der Konstruktion neuartiger Formen von Wirklichkeit, die aus der Auseinandersetzung der Subjekte mit einer sachlich und sozial strukturierten Welt sowie mit sich selbst in der Zeit heraus entstehen. Marotzki gewinnt diese Einsicht im Anschluss an Gregory Batesons logische Kategorien von Lernen und Kommunikation, mit der Lernprozesse als Lernen null, Lernen I, Lernen II und Lernen III formalisiert werden (vgl. Bateson 1964, S. 362-399; Marotzki 1990, S. 32-54). Modifiziert wird diese Formalisierung in der von Marotzki und Benjamin Jörissen später gemeinsam publizierten Einführung in die strukturale Medienbildung, wo schließlich von Lernen I, Lernen II, Bildung I und Bildung II die Rede ist (Vgl. Jörissen/Marotzki 2009, S. 22). Die bildungstheoretische Relevanz dieser Formalisierung plausibilisiert Marotzki in seinem Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie mit der Darlegung eines auf Individualisierung und Kontingenzsteigerung abstellenden Pro-

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blemrahmens (vgl. Marotzki 1990, S. 19-31).16 Die Essenz dieser Darlegung ist die These, dass mit der Genese moderner Gesellschaftsstrukturen zunehmend Anlässe für subjektive Krisenerfahrungen geschaffen werden. Auf Seiten der Subjekte führt dies zu einem »gesteigerte[n] Maß an Unbestimmtheit«, das sich daraus konstituiert, dass tradierte Muster der Identitätskonstruktion zunehmend an »Orientierungsverbindlichkeit« (ebd., S. 24) einbüßen und ein »Zwang zur Kontingenzbewältigung« zu »ausgeprägte[n] Suchbewegungen« (ebd., S. 27) führt.17 Von Humboldts konstatierte Veranlagungen des Menschen zu Offenheit und Freiheit schlagen in Anbetracht dessen in eine auf den Begriff der Unbestimmtheit gebrachte Problemlage um. Es sind angedeutete Konsequenzen moderner Pluralität, die einerseits einen Einfluss auf subjektive »Lebensweisen, Handlungsformen« und »Denkmuster« (Jörissen/Marotzki 2009, S. 17) nehmen und andererseits umso potenter werden, je höher die »Komplexitätsschübe« (Marotzki 1990, S. 47) einer Gesellschaft sind. Je komplexer also Gesellschaften sind, so lässt sich Marotzkis Diagnose zunächst auf den Punkt bringen, desto mehr Unbestimmtheit ist auf Seiten der Subjekte angelegt und desto mehr höherstufige Lernprozesse sind ebenso möglich wie notwendig. Implizit ist dieser Formulierung ein Verständnis von Bildung, die zu einem Umgang mit Unbestimmtheiten befähigt. In Anbetracht dieser theoretischen Setzung legt die strukturale Bildungstheorie ein Verständnis nahe, das Bildung nicht bloß »als Überführung von Unbestimmtheit in Bestimmtheit« (Jörissen/Marotzki 2009, S. 20) denkt, sondern stattdessen den dialektisch strukturierten Gedankengang ins Zentrum ihrer Überlegungen setzt, dass jede »Herstellung von Bestimmtheit Unbestimmtheitsbereiche ermöglichen und eröffnen muß« (Marotzki 1990,

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Marotzki greift bezüglich dieser Charakterisierung auf damals populäre soziologische Gesellschaftsdiagnosen zurück, wie z.B. Ulrich Becks Theorie der Risikogesellschaft (vgl. Beck 1986), Martin Kohlis Konzeptionen zum Lebenslauf (vgl. Kohli 1986) und James S. Colemans Gedanken über die asymmetrische Gesellschaft (vgl. Coleman 1986). In der späteren Zusammenarbeit mit Jörissen werden diese Diagnosen zum einen im Kontext der beiden Epochenbegriffe ›Informationsgesellschaft‹ und ›Wissensgesellschaft‹ aktualisiert (vgl. Jörissen/Marotzki 2009, S. 26-29). Zum anderen erfolgt ein ausführlicher Rekurs auf die von Wilhelm Heitmeyer erhobenen drei Krisentypen der Moderne (vgl. Heitmeyer 1997): die auf gesamtgesellschaftlicher Ebene verorteten Strukturkrisen, die durch die Pluralisierung von Werten und Normen hervorgerufenen Regulationskrisen und zuletzt die soziale Anerkennung, Zugehörigkeit und Bildung umfassenden Kohäsionskrisen (vgl. Jörissen/Marotzki 2009, S. 16f.). Auf den Begriff der Kontingenz wird in Abschnitt 5.2.3 noch genauer einzugehen sein.

2 Selbstbestimmung und Bildung

S. 153). Unbestimmtheit bedeutet in diesem Sinne nicht, dass man mit jeder Bestimmung von Neuem beginnen müsste, sondern, dass man in den unübersichtlichen Feldern des Komplexen einen Moment der bestimmenden Orientierung findet (Orientierungswissen), von dem aus die Möglichkeit neuer Unbestimmtheit(en) ausgeht (vgl. Jörissen/Marotzki 2009, S. 38). Wichtig ist dabei, dass die Erfahrung neuer Unbestimmtheiten dann bildend ist, also im Sinne einer strukturalistischen Argumentationsführung dann eine Transformation des bestehenden Welt- und Selbstverhältnisses ermöglicht, wenn sie das Subjekt in einen Modus versetzt, den Marotzki im Anschluss an Kokemohr als Tentativität bezeichnet (vgl. Marotzki 1990, S. 145). Für Marotzki stehen tentative Erfahrungsverarbeitungen in Differenz zu subsumtiven Erfahrungsverarbeitungen. Das heißt, sie konstituieren sich aus der Gegebenheit, dass Subjekten bislang bekannte und affirmierte Wahrnehmungsund Weltordnungsmuster, die beispielsweise »biographisch vertraut und sozial validiert sind«, nicht mehr genügen, um Erlebnisse einordnen und verarbeiten zu können (ebd., S. 151). Folglich bedarf es der Genese neuer Regeln, die mit neuen Deutungen von Welt und Selbst korrespondieren (vgl. ebd., S. 145ff). Derartige Regeln besitzen per se weder einen Anspruch auf »intersubjektive Anerkennung« (Jörissen/Marotzki 2009, S. 19) noch auf Wahrheit. Transformationen von Welt- und Selbstverhältnissen sind nicht ausschließlich durch rationale Mittel realisierbar (vgl. Pietraß 2014b, S. 368) und unterliegen mithin dem versuchshaften Charakter der Bildung (vgl. Abschnitt 2.1), der ein »Spiel mit den Unbestimmtheiten« (Jörissen/Marotzki 2009, S. 21) eröffnet. Um nun die damit verbundenen Implikationen für den Begriff der Aneignung verfolgen zu können, ist ein Rückgriff auf die bereits eingeführte Unterscheidung zwischen Lernen I, Lernen II, Bildung I und Bildung II notwendig. Denn deren strukturlogischer Anordnung liegt eine steigende Verkomplizierung von Lernvorgängen zugrunde (vgl. Lehmann 2011a, S. 121), die im Kontext der Unbestimmtheit mit einer Steigerung der Flexibilität und Freiheit der Subjekte im Umgang mit den eigenen Lern- und Lebensbedingungen einhergeht (vgl. Marotzki 1990, S. 32-41). So verweist die Rede von Lernen I auf die prozessual einfachste und inhaltlich klar definierte Lernvariante in Form eines starren behavioristischen Reiz-Reaktions-Schemas, bei dem nur eine bestimmte Reaktion auf einen festgelegten Reiz folgt (vgl. Jörissen/Marotzki 2009, S. 22). Batesons einprägsames Beispiel dafür ist die Werksirene, von der die Arbeitenden lernen, »dass es zwölf Uhr ist« (Bateson 1964, S. 368). Handeln im Kontext von Lernen I kennt keine Alternativen.

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Auf der Ebene des Lernens II ist diese Alternativlosigkeit insofern gelockert, als hier die Lernenden nicht mehr starr auf einen Reiz reagieren, sondern zudem je gegebene Kontexte in ihr Handeln miteinbeziehen. Lernen II umfasst also jene Formen des Lernens, die in klassischen Lerntheorien beschrieben sind (vgl. Jörissen/Marotzki 2009, S. 22). Ihre Implikation ist die subjektive Befähigung zur Erkenntnis, dass eine Reaktion »in diesem Kontext« eine andere Reaktion sein kann oder sollte »als in jenem« (ebd.; Hervorh. im Orig.). Als Kind lernt man beispielsweise, dass eine Handlung im Kontext ›Freundeskreis‹ zu Lob und im Kontext ›Familie‹ zu Tadel führt (vgl. ebd., S. 23). Dies gestattet einerseits einen Rückgriff auf Sesinks informationstechnische Argumentationsführung und lässt Lernen II als eine Form der Aneignung kontextueller Informationen verstehen, die das Erkennen informationeller Unterschiede möglich werden lässt und zum Aufbau eines subjektiven (Kontext-)Wissens führt. Andererseits deutet das Beispiel des in unterschiedlichen Kontexten handelnden Kindes auf der Ebene des Lernens II erste Ausprägungen eines angeeigneten Welt- und Selbstverhältnisses an: das Kind erfährt sich selbst im Kontext Schule als anderes, als beispielsweise im Kontext Familie usw. Aneignung bedeutet unter diesen Bedingungen, sich für etwas Bestimmtes zu entscheiden, um alles Andere außenvorzulassen, »einige Aspekte bzw. Momente zu verwerfen«, um sich andere »zu eigen zu machen« (Marotzki 1990, S. 185). Während also Lernen II gegenüber Lernen I eine Flexibilisierung des ReizReaktions-Schemas mittels Kontextualisierungen beschreibt, ist im Modus der Bildung I eine Flexibilisierung des Kontextes selbst möglich (vgl. ebd.). Bildung I bezieht sich demzufolge auf eine Veränderung subjektiver »Ordnungsschemata und Erfahrungsmuster« (ebd.), das heißt auf eine Veränderung eines bisher angeeigneten Kontextwissens. Das impliziert das »Überschreiten von Kontexten, indem sie als solche erkannt werden« (Pietraß 2014b, S. 373). Bildung I referiert folglich auf den paradoxen Sachverhalt, dass das bislang Angeeignete auf eine neue Weise angeeignet werden kann, den z.B. Jean Piaget schon im Blick hatte, wenn er von einer in Differenz zur Assimilation stehenden Akkomodation sprach (vgl. Piaget 1973, S. 96f.). Es ist eine Paradoxie, für deren Beschreibung in Anbetracht des bislang Argumentierten der Begriff der kontextuellen Neuaneignung des Angeeigneten zulässig scheint. Die Essenz dieser kontextuellen Neuaneignung liegt darin, dass mit ihr jene Informationen, die im Modus von Lernen II bereits kontextuell vom Subjekt angeeignet worden sind, auf den Prüfstand gestellt, unter Umständen modifiziert oder gar verworfen und somit hinsichtlich eines neuen Kontextes ein weiteres Mal ange-

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eignet werden. Dadurch eröffnet sich dem Subjekt die Möglichkeit, die Welt auf neue Weise zu erfahren, also ein neues Weltverhältnis herzustellen und das bis dato bestehende Weltverhältnis zu transformieren. Im Kontext der Figuren des Fremden und des Unbestimmten wird hier die Erfahrung eines Neuen, eines Anderen möglich (vgl. Leineweber 2017, S. 25). Und mehr noch: Sobald eine kontextuelle Neuaneignung stattfindet, tritt jenes befreiende, ja, selbstbestimmende Moment in Kraft, das oben bereits auf die Kritik subjektiver Welt- und Selbstverhältnisse zurückgeführt worden ist.18 Man kann damit schließlich so weit gehen und unter den explorierten Voraussetzungen von einer Kritik fremdbestimmender Welt- und Selbstverhältnisse sprechen. Handeln unter diesen Bedingungen bedeutet, nicht mehr in Kontexten zu handeln, sondern die Freiheit erworben zu haben, von einem Kontext zu einem anderen Kontext wechseln zu können und sich von der Anwesenheit mehrerer Kontexte nicht irritieren zu lassen, also darin behaupten zu können (vgl. Lehmann 2011a, S. 122). Kontextuelle Informationen sind auf diese Weise derart verarbeitet, dass sie dem Subjekt letztlich bei der Abwägung von Alternativen zur Verfügung stehen. Die Besonderheit dieser Bestimmung liegt allein darin, dass sie vollständig im Horizont der Tentativität steht. Die Neuaneignung des Angeeigneten geht im Modus der Bildung I zunächst mit der Genese von solchen Weltverständnissen einher, die dem für Bildung konstitutiven Versuchscharakter unterliegen. Auf diese Weise ist dem Subjekt mit der Neuaneignung des Angeeigneten die Möglichkeit zu dem geebnet, was Jörissen und Marotzki als Bildung II bezeichnen, die auf »die Steigerung und Differenzierung« subjektiver Selbstverhältnisse abhebt (Jörissen/Marotzki 2009, S. 24). Das Subjekt tritt hier in den Mittelpunkt der Betrachtungen und lernt schließlich, so Bateson, »im Rahmen der Kontexte von Kontexten wahrzunehmen und zu handeln« (Bateson 1964, S. 393). Es ist auf dieser Stufe dazu befähigt, seine in unterschiedlichen Kontexten vollzogenen Handlungen zu unterscheiden und die Ursprünge dessen auf der Basis seines Weltverhältnisses zu ergründen. Das Subjekt betritt so als eine Art Selbstbeobachter die Bühne der Welt (vgl. Jörissen/Marotzki 2009, S. 25). Angespielt

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Im Hinblick auf die oben geführte Diskussion, ob jene Kritik negativ oder positiv ist, darf nicht unerwähnt bleiben, dass sie im Anschluss an Marotzki negativ wäre. Denn Marotzki differenziert die Veränderung kontextuell strukturierter Verhältnisse als »Inhaltsnegationen« und »Strukturnegationen« (Marotzki 1990, S. 215). Es sind deutlich sichtbare hegelianische Spuren, die dem Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie damit zu entnehmen sind.

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ist damit auf einen Prozess, der alltagsgebräuchlich als Reflexion zu übersetzen ist (vgl. Meder 2007a, S. 123). Im Gegenteil zu Prozessen der Aneignung sowie der Neuaneignung des Angeeigneten sind Erfahrungen im Modus der Bildung II allerdings »immer nur in Grenzen erreichbar« (Jörissen/Marotzki 2009, S. 26), das heißt sie stellen optionale Erweiterungen dar, die jedoch keine Auswirkungen mehr auf einen praktischen Freiheitsbegriff haben. Insofern kann moniert werden, dass gerade reflexive Leistungen des Subjekts in Unterscheidung zu Prozessen der Aneignung eine empirische Seltenheit darstellen. Einen theoretischen Impuls dafür liefert der bereits erwähnte Beitrag Der Lernprozess als performante Korrelation von Einzelnem und kultureller Welt, in dem Meder für die Ablehnung des Reflexionsbegriffs plädiert, weil er dazu führe, »dass nur höchstens ein Drittel einer Gemeinschaft gebildet ist und dass nur wenige Welt- und Selbstverhältnisse den Status der Bildung haben« (Meder 2007a, S. 123). Bildung laufe, so Meder weiter, auf diese Weise Gefahr, »apriori sozialdifferenzierend« zu sein (ebd., S. 124), womit im Umkehrschluss ein möglichst allgemeiner Bildungsbegriff zu präferieren sei, der den Blick auf eben jene Formen des Lernens lenke, »in denen der Einzelne sich etwas zu eigen macht. ›Zu eigen‹ heißt dabei, dass er sich ein ihm vorher Fremdes bekannt macht – und zwar derart, dass er von nun an sich zu ihm verhalten kann. Ob dieses Verhalten bzw. dieses Verhältnis dann ein positives oder negatives ist, bleibt dahingestellt.« (Ebd., S. 131) Meders Argumentation kann als Befürwortung dafür gelesen werden, den Prozess der Bildung als Aneignung zu denken. Zwar ist seinem Plädoyer für die Ablehnung des Reflexionsbegriffs zu widersprechen, weil es gewissermaßen in der Natur der Sache liegt, dass immer eine dezidierte Anzahl an Phänomenen oder Gruppierungen existiert, die entwickelter bzw. gebildeter ist, und dass diese Anzahl umso exponierter wird, je höher der Maßstab an diese Entwicklung gesetzt wird. Nichtsdestotrotz ist an Meders Argumentation insofern anzuschließen, als der Reflexionsbegriff keine Eignung mehr vorweist, um das Phänomen der Selbstbestimmung zu verfolgen. Gerade die Verknüpfung zwischen Aneignung und Selbstbestimmung als Form des praktischen Weltverhältnisses räumt in diesem Rahmen eine Reichweite ein, die Subjekten, denen man die Fähigkeit zur Reflexion absprechen möchte, durchaus selbstbestimmt handeln können. Auf den Punkt gebracht: Ein durch Aneignung bestimmter Bildungsprozess kann allen Subjekten zuteilwerden. Die Grundbedingungen, die dafür notwendig sind, werden im Folgenden entlang des bis hierher Ausgeführten noch einmal zusammengetragen.

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2.5

Erstes Zwischenfazit: Bildungstheoretische Grundbedingungen von Selbstbestimmung

Die Zielsetzung dieses Kapitels bestand darin, die Begriffe der Selbstbestimmung und Bildung miteinander zu verknüpfen. Dahinter steckt die Frage, unter welchen Voraussetzungen Subjekte ein selbstbestimmtes Leben führen können. Mit den Initiativen und Folgen der europäischen Aufklärung sowie der damit einhergehenden Formung moderner Gesellschaftsstrukturen stellt diese Frage ein zentrales Anliegen von Bildung dar. Ihre Beantwortung wurde in diesem Kapitel mithilfe bildungstheoretischer Ansätze der Medienpädagogik vorgenommen und so im Hinblick auf ihre theoretischen Prämissen, prozessualen Besonderheiten und gesellschaftshistorischen Bedingungen ergründet. Um dabei jene normativen Ansprüche darstellen und reflektieren zu können, die das Ideal der Selbstbestimmung an Bildung stellt, wurde auf Werner Sesinks materialistische Konzeption von Bildung rekurriert. Ergänzt wurde diese Konzeption um ein struktural-prozessuales Verständnis von Bildung als Transformation subjektiver Welt- und Selbstverhältnisse. In der in diesem Kapitel dargestellten Lesart beider Theorieanlagen ergaben sich historische Referenzen auf Immanuel Kant und Wilhelm von Humboldt. Die abendländische Philosophie und der Neuhumanismus bilden insofern den Referenzrahmen für das hier vorgelegte Bildungsverständnis. Die auf diese Weise ermittelten bildungstheoretischen Grundbedingungen von Selbstbestimmung sollen an dieser Stelle vor allem in formaler Hinsicht festgehalten werden. Wegweisend dafür ist die Abbildung auf der folgenden Seite, in der sich noch einmal die wichtigsten Begriffe zueinander angeordnet finden. In dieser Abbildung sind insgesamt vier analytisch relevante Unterscheidungen akzentuiert: Die Beziehung zwischen Subjekt und Welt ist die wesentliche Voraussetzung für Bildung und markiert in diesem Sinne ebenso den theoretischen Ort, an dem über Selbstbestimmung nachzudenken ist (i). Selbstbestimmung basiert daher auf einer Relation und ist im Umkehrschluss weder eine Eigenschaft der Subjekte noch ein Zustand in der Welt, sondern eine Qualität, die sich im Verhältnis beider Entitäten – Subjekt und Welt – zueinander ereignet. Dieses Verhältnis kann in einem weiteren analytischen Schritt in eine Sach-, Sozial- und Zeitdimension ausdifferenziert werden (ii). Die Selbstbestimmung der Subjekte entscheidet sich damit grundsätzlich in Bezug auf sachliche und dingliche Verhältnisse, soziale Beziehungen und zeitliche Strukturen. Zwar sind diese Dimensionen analytisch zu unter-

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Abb. I: Bildungstheoretische Grundbedingungen von Selbstbestimmung

scheiden, empirisch laufen sie jedoch auf vielfältige Art und Weise ineinander über. Wissenschaftlich können sie damit getrennt voneinander betrachtet werden, wenngleich ein umfassender Blick ihre Kombination erforderlich werden lässt. Aufbauend auf diesen Prämissen konnte argumentiert werden, dass Subjekte über den Prozess der Aneignung eine aktive Beziehung zur Welt eingehen können, die einen Aufbau subjektiver Welt- und Selbstverhältnisse bedingt und in diesem Sinne darüber entscheidet, wie Subjekte die Welt und sich selbst in der Welt sehen (iii). Der Begriff der Aneignung führt demnach auf eine Form des Lernens zurück, bei dem ein Bereich von Welt so vom Subjekt erschlossen wird, dass er in ein Selbstverhältnis übergeht. Dieser Übergang ist für das Subjekt Glück und Unglück bzw. Chance und Risiko zugleich. Einerseits erwirbt es die Freiheit, in unterschiedlichen Kontexten auf der Grundlage eigener Weltsichten und Überzeugungen verschieden handeln zu können. Andererseits wird es dort radikal auf seine eigene krisenhaft erscheinende Unzulänglichkeit zurückgeworfen, wo es in inhaltlich un-

2 Selbstbestimmung und Bildung

bestimmte und damit fremdbestimmende Situationen gerät, zu deren Bewältigung das bislang Angeeignete nicht mehr ausreicht. Die Bewältigung solcher Situationen erfordert schließlich den paradox bezeichneten Prozess der kontextuellen Neuaneignung des bislang Angeeigneten, bei dem das Subjekt bislang Angeeignetes und damit praktisch zur Verfügung stehendes, handlungsorientierendes Wissen im Kontext jener neuen Situationen auf den Prüfstand stellt, modifiziert oder gar verwirft, um seine Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen und sich in einem praktischen Sinne als Selbst in einer als vorher unbestimmt erscheinenden Welt bestimmen zu können. In diesem Prozess manifestiert sich sowohl ein kritisches Verhältnis zu bislang vorhandenen Welt- und Selbstverhältnissen als auch die Möglichkeit zur Konstitution neuer Welt- und Selbstverhältnisse (iv).19 Indem sich Subjekte also »die Welt auf [eine, C.L.] andere Weise« zugänglich machen, finden sie »einen anderen Zugang zu sich selbst« (Jörissen/Marotzki 2009, S. 24). In einer Umstrukturierung der Welt liegt somit die Bestimmung des Selbst begründet. Zusammenfassend legen die hier gewonnenen Betrachtungen fest, dass Selbstbestimmung im Handeln der Subjekte zu den Bedingungen ihrer Welt wirkmächtig wird. Selbstbestimmt handeln zu können, bedeutet folglich nicht nur in Kontexten handeln zu können, sondern sich von dem Auftreten mehrerer Kontexte nicht irritieren zu lassen und diese auf der Basis bislang angeeigneter Welt- und Selbstverhältnisse zu bewältigen. Dies stellt in Rechnung, dass Subjekte von Kontext zu Kontext wechseln können und die Gleichzeitigkeit mehrerer Kontexte zu bewältigen in der Lage sind. Insofern ist hier kein willkürliches, sondern ein erkenntnistheoretisch abgesichertes Handeln beschrieben. Dieses Handeln ist letztlich davon getragen, dass erst Erfahrungen der situativen Unbestimmtheit eine Möglichkeit auf Selbstbestimmung eröffnen, indem sie die praktische Freiheit der Subjekte herausfordern, die mit Kant durch die Frage ›Was soll ich tun?‹ einzugrenzen ist. Die Frage nach Selbstbestimmung ist damit in erster Linie eine Frage nach faktischer Fremdbestimmung. »Sich-bestimmen korreliert mit Bestimmt-werden.« (Meder 2014, S. 49) Die damit gewonnene Paradoxie bedingt, dass die Freiheit der Subjekte empirisch immer wieder von Zuständen der eigenen Unzulänglichkeit eingeholt wird. Selbstbestimmung bleibt damit ein Normativ. Selbstbestimmt sein ist kein persistenter Zustand, sondern ein 19

Das ist durchaus wörtlich zu nehmen und entsprechend anhand des griechischen Ursprungs des Wortes Kritik (kritikos) festzumachen, dessen Verb (krino) auf die Prozesse »trennen, auseinander setzen und stellen« verweist (Ilias. In: Bittner 2013, S. 134).

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Anspruch an das Leben, dessen Ermöglichungsbedingungen und Einschränkungen eine fortwährende Aufgabe bildungstheoretischer Reflexion bleibt. Gesellschaftshistorisch findet diese Konstellation ihren Ursprung bereits in der Verflechtung zwischen intellektueller Aufklärung und der Entfesselung der Produktivkräfte, die einerseits mehr Freiheit bedingt, andererseits jedoch erst erforderlich werden lässt, dass Subjekte sich zu ihrer Freiheit verhalten. Die Freiheit des Einzelnen bestimmt demnach erst die Möglichkeiten seiner Existenz, das heißt die Bedingungen seines angeeigneten Verhältnisses zur Welt und zu sich selbst. Je höher die Komplexität einer Gesellschaft ist, desto vielfältiger sind diese Bedingungen, desto stärker werden die damit einhergehenden Widerstände und desto notwendiger ist schließlich die Befähigung des Subjekts zum Umgang mit seinen Möglichkeiten und den daraus möglicherweise resultierenden Unsicherheiten. Die konstitutiven Voraussetzungen der Selbstbestimmung der Subjekte bemessen sich folglich am Grad der Komplexität der Welt, in der sie leben. Damit sind die Grundbedingungen eines bildungstheoretisch ausgelegten Begriffs von Selbstbestimmung auf den Punkt gebracht. Auf der Basis dieser Überlegungen kann nun zunächst ein anschlussfähiges Verständnis von Zeit ergründet werden.

3 Zeit im Kontext von Bildung »As the finitude of Dasein and as ›the infinity of the emergence of being from nothingness‹, time is perhaps the most enigmatic feature of human experience.« (Giddens 1984, S. 34; Hervorh. im Orig.)

Nachdem die Ausarbeitung eines normativen Bildungsbegriffs auf Basis einer Auseinandersetzung mit bildungstheoretischen Ansätzen der Medienpädagogik erfolgt ist, geht es nun darum, nach Anschlussmöglichkeiten an den Begriff der Zeit zu suchen. Wegweisend für diese Zielsetzung sind drei Aspekte: Zeit ist erstens ein vieldeutiger Begriff, den man auf ganz unterschiedlichen Pfaden verfolgen kann (vgl. z.B. Elias 1988, S. VIIf.; Gent 1965, S. 177; Hartung 2015a, S. 7ff; Weidenhaus 2015, S. 24). Die Soziologin Helga Nowotny bringt diesen Sachverhalt auf den Punkt, wenn sie konstatiert: »Die Bibliotheken sind voll von detaillierten wie auch überblicksartigen Untersuchungen.«1 (Nowotny 1993, S. 8) Die Ursache für diese Vieldeutigkeit findet sich erstaunlicherweise bereits in der Antike durch den Philosophen Aurelius Augustinus thematisiert, dessen Antwort auf die Frage, was Zeit ist, wie folgt lautet:

1

Entsprechend kann hier im Folgenden die Vielfalt vorliegender Konzeptualisierungen von Zeit in all ihren Verästelungen lediglich in ausgewählten Ansätzen nachgezeichnet werden. Einen informativen, über die vorliegende Arbeit hinausgehenden Einstieg in die Thematik liefern z.B. folgende Publikationen: die drei gleichnamigen Werke Was ist (die) Zeit? von Kurt Weis (vgl. Weis 1995), Peter Gendolla und Dietmar Schulte (vgl. Gendolla/Schulte 2012) sowie Kurt Flasch (vgl. Flasch 2016), der Sammelband Zeit in den Medien – Medien in der Zeit, herausgegeben von Werner Faulstich und Christian Steininger (vgl. Faulstich/Steininger 2002), sowie der Sammelband Mensch und Zeit, herausgegeben von Gerald Hartung (vgl. Hartung 2015b).

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Die Verzeitlichung der Bildung

»Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht. Aber zuversichtlich behaupte ich zu wissen, daß es vergangene Zeit nicht gäbe, wenn nichts verginge, und nicht künftige Zeit, wenn nichts herankäme, und nicht gegenwärtige Zeit, wenn nichts seiend wäre. Die beiden Zeiten, Vergangenheit und Zukunft, wie sollten sie seiend sein, da das Vergangene doch nicht mehr ›ist‹, das Zukünftige noch nicht ›ist‹? Die Gegenwart hinwieder, wenn sie stetsfort Gegenwart wäre und nicht in Vergangenheit überginge, wäre nicht mehr Zeit, sondern Ewigkeit. Wenn also die Gegenwart nur dadurch zu Zeit wird, daß sie in Vergangenheit übergeht, wie können wir dann auch von der Gegenwartszeit sagen, daß sie ist, da doch ihr Seinsgrund eben der ist, daß sie nicht sein wird? Rechtens also nennen wir sie Zeit nur deshalb, weil sie dem Nichtsein zuflieht.« (Augustinus ca. 400, S. 275f.)2 Augustinus’ Beobachtung gewinnt ihre zutage gebrachte Unsicherheit maßgeblich daraus, dass sie Zeit als einen fluiden, auf Veränderungen basierenden Untersuchungsgegenstand auslegt. Zum Ausdruck gebracht ist damit vor allem eine Metaphorik, die sich in der geisteswissenschaftlichen Literatur z.B. durch Charakterisierungen von Zeit als Bewegung, als Prozess (vgl. Luhmann 1990, S. 123), als wiederkehrender Kreislauf (vgl. Koselleck 2013, S. 19f.) oder als »Übergangsphänomen« (Waldenfels 2016, S. 296) präzisiert findet. Im Allgemeinen sensibilisieren diese Bezeichnungen dafür, dass alles, was sich verändert, über einen Zeitaspekt ausdifferenziert werden kann. Vielfältige Perspektiveinnahmen sind die daraus resultierende, logische Konsequenz. Entsprechend trifft man innerhalb verschiedener Wissenschaftsdisziplinen – exemplarisch zu nennen sind Philosophie, Soziologie, Psychologie, Geschichtswissenschaft, Physik, Ökonomie, Ökologie, Theologie oder Kulturwissenschaft (vgl. Steininger 2002, S. 10ff) – auf zeittheoretische Forschungsbemühungen, die auf unterschiedliche Felder diskursiv verständigter Zeitbegriffe aufmerksam machen (vgl. Schmidt-Lauff 2008, S. 445) und somit in ihrer interdisziplinären Gesamtheit »eine in sich antagonistische Vielfalt an Denkmotiven« (Kreuzer 1995. In: Schmidt-Lauff 2008, S. 27) eröffnen.

2

Die nach wie vor anhaltende Relevanz dieses Zitats ist daran zu erkennen, dass es auch heute noch in vielen Monographien über Zeit angeführt wird (vgl. z.B. Dörpinghaus/Uphoff 2012b, S. 25; Elias 1988, S. VII; Rosa 2005, S. 23; Safranski 2015, S. 11; Schmidt-Lauff 2008, S. 32 oder Weidenhaus 2015, S. 23).

3 Zeit im Kontext von Bildung

In Ergänzung dazu stoßen Auseinandersetzungen mit Zeit im Kontext von Bildung zweitens auf die spezifische Widrigkeit, dass (bislang) keine pädagogische, erziehungswissenschaftliche, bildungswissenschaftliche oder gar bildungstheoretische Forschungstradition mit explizit ausgewiesenem Fokus auf Zeit existiert (vgl. Schmidt-Lauff 2012, S. 16; Uhle 1999, S. 123). Dies schließt zwar an weitestgehend fehlende Systematisierungsansätze in der Kommunikations- und Medienwissenschaft an (vgl. Hartmann 2017, S. 367), erscheint jedoch insofern frappierend, als dass ein Interesse an Zeit durchaus als fundamental für die Pädagogik einzuschätzen ist. Ein derartiges Interesse ist bereits in oberflächlicher Argumentationsführung anhand eines Blicks auf die strukturellen Voraussetzungen pädagogischen Handelns einzusehen (vgl. Ballauf 1970, S. 149; Uhle 1999, S. 123), das allzu oft zeitlich determiniert ist (die Dauer einer Schulstunde, eines Hochschulseminars usw.). Zeit ist in diesem Sinne eine formale Größe, in der sich die Ermöglichung und Realisierung von Bildung ereignet. Ebenso lassen sich die beiden wichtigsten Grundbegriffe der Pädagogik – Erziehung und Bildung – anhand ihrer temporalen Prägung (abgeschlossen vs. unabgeschlossen) definitorisch unterscheiden. Dass der fluide Prozesscharakter von Zeit über diese oberflächlichen Betrachtungen hinaus dem Bildungsbegriff vielschichtig implizit ist, deuten bereits die begrifflichen Eingrenzungen des zweiten Kapitels der vorliegenden Arbeit an: Eine Lesart von Bildung als Transformation subjektiver Welt- und Selbstverhältnisse oder als Kritik auf der Basis von Aneignung impliziert im Grunde genommen nichts Anderes als durch Subjekte initiierte geistige Veränderungen in Wechselwirkung mit der Welt. Wie mannigfaltig sich darin enthaltene Zeitstrukturen letztlich auslegen lassen, ist leicht daran einzusehen, dass sich in beiden hier angeführten Lesarten ein je spezifischer Zeitbezug manifestiert: Entsprechend weisen Transformationen einen fortschreitenden Charakter auf (vgl. Giddens 1996, S. 169), während sich die Aneignung von Wissen zwischen vergangenen und zukünftigen Erfahrungen aufspannt und durch die Kontextualisierung von Informationen aus jeweilig indifferenten Vergangenheitspunkten konstituiert (vgl. Han 2015, S. 19). Wenn dies auch lediglich einige ausgewählte Beispiele sind, ist mit ihnen offensichtlich dafür sensibilisiert, dass Bildungsprozesse tiefgreifende Zeitverhältnisse hervorbringen (vgl. Dörpinghaus/Uphoff 2012a, S. 61ff). Das scheint auch eine ihrer Gegenprinzipien, die Halbbildung, zu bestätigen (vgl. auch Koller 2009b, S. 183), die Theodor W. Adorno bemerkenswerterweise als »Schwäche zur Zeit« beschreibt, das heißt eine Schwäche »zur Erinnerung, durch welche allein jene Synthesis des Erfahrenen im Bewußtsein geriet, welche einmal

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Bildung meinte« (Adorno 1959, S. 50). Die Aussage, dass Bildung nun einmal unerlässlich Zeit brauche, erweist sich unter solchen Voraussetzungen als weitaus mehr als nur eine Floskel. Stattdessen drängt sich der Verdacht auf, dass das Phänomen der Zeit als Untersuchungsgegenstand im Kontext von Bildung nach besonderer Aufmerksamkeit verlangt. In Anbetracht des gegenwärtigen Forschungsstandes ist es insofern also »[a]usgerechnet die Bildungstheorie, die es doch mit Entwicklung und Entfaltung zu tun hat« und dennoch die Tatsache in ihrer Forschung unterschlägt, »dass alle Bildung in der Zeit stattfindet« (Faulstich 2012, S. 76; Hervorh. C.L.). Zum Dritten, und das mag auf den ersten Blick überraschen, machen eine nicht eindeutig mögliche Begriffsbestimmung von Zeit und eine fehlende Forschungstradition bei der Ergründung ihres Verhältnisses zum Bildungsbegriff keineswegs auf eine gänzlich unbestellte Forschungslandschaft in der Pädagogik aufmerksam. Vielmehr eröffnet die Synthese beider Beobachtungen einen Raum für ganz unterschiedlich geartete und motivierte Publikationen, die sowohl perspektivische und argumentative Brüche als auch differierende Bedeutungszuschreibungen und Begriffsbestimmungsversuche hervorbringen (vgl. Schmidt-Lauff 2008, S. 445). Wenngleich darauf weiter unten noch expliziter zurückzukommen sein wird, so sollte zunächst noch erwähnt werden, dass die Medienpädagogik diese bruchstückhafte Forschungslandschaft derzeit durch ein grundsätzlich vorhandenes, aber bislang zurückhaltendes Interesse an Zeit durchaus zu flankieren weiß. Dieser Eindruck vermittelt sich wie folgt: Grundsätzliches Interesse ist maßgeblich durch den von Gerhard Chr. Bukow, Benjamin Jörissen und Johannes Fromme herausgegebenen Sammelband Raum, Zeit, Medienbildung geäußert, der im Wesentlichen auf den Sachverhalt reagiert, dass moderne Kommunikationstechnologien die menschliche Zeitwahrnehmung unmittelbar beeinflussen (vgl. Bukow/Jörissen/Fromme 2012). Entsprechend finden sich darin weniger konzeptionelle Ausarbeitungen zum Thema Zeit, aber vielmehr Beiträge zu medial konstituierten Veränderungen der menschlichen Raum- und Zeiterfahrung versammelt.3 Derzeit anhaltende Zurückhaltung hinsichtlich der Vertiefung dieser ersten Impulse dokumentiert das von Manuela Pietraß, Johannes Fromme, Petra Grell und Theo Hug herausgegebene Jahrbuch Medienpädagogik 14, das einen Schwerpunkt auf medienpädagogische 3

Innerhalb der wissenschaftlichen Literatur werden jene Veränderungen bereits deutlich offensiver vor allem durch Beiträge aus der Soziologie und Philosophie thematisiert (vgl. z.B. Sandbothe/Zimmerli 1994; Großklaus 1995; Funken/Löw 2003).

3 Zeit im Kontext von Bildung

Untersuchungen und Perspektiven zum digitalen Raum setzt (vgl. Pietraß et al. 2018). Das Jahrbuch geht auf die durch die Universität der Bundeswehr München veranstaltete Herbsttagung der Sektion Medienpädagogik der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE) aus dem Jahr 2015 zurück, die dem Thema ›Digitaler Raum – digitale Zeit. Form und Veränderung grundlegender Kategorien von Erfahrung und ihre Bedeutung für die Medienpädagogik‹ gewidmet war. Sowohl mit dem Tagungsthema als auch mit dem Call »wurden digitale Veränderungen von Raum und Zeit angesprochen« – allerdings ist im Jahrbuch »die Frage nach dem digitalen Raum dominierend« (ebd., S. 7; Hervorh. im Orig.). In der Summe stellen die genannten Aspekte die Herausforderung des vorliegenden Kapitels dar, das sich in drei Abschnitte gliedert: Zunächst wird es darum gehen, erste Eingrenzungen des Forschungsfeldes zum Verhältnis zwischen Zeit und Bildung vorzunehmen, um sich anschließend innerhalb dieser Eingrenzungen positionieren zu können (vgl. Abschnitt 3.1). Daran anknüpfend wird Zeit als Phänomen in Bezug auf die für Selbstbestimmung basale Beziehung zwischen Subjekt und Welt beschrieben (vgl. Abschnitt 3.2). In einem letzten Schritt können die wichtigsten Aspekte noch einmal im Rahmen einer bildungstheoretisch anschlussfähig erscheinenden Charakterisierung von Zeit zusammengetragen werden (vgl. Abschnitt 3.3).

3.1

Zeit und Bildung: Eingrenzungen des Forschungsfeldes und Positionierung

Dass die Überlegungen in diesem Abschnitt nicht voraussetzungslos begonnen werden müssen, ist vor allem der Verdienst der Erziehungswissenschaftlerin Sabine Schmidt-Lauff, die mit ihrer Habilitationsschrift Zeit für Bildung im Erwachsenenalter (vgl. Schmidt-Lauff 2008) sowie den darauf basierenden Beiträgen Grundüberlegungen zu Zeit und Bildung (vgl. SchmidtLauff 2012) und Alles nur eine Frage der Zeit?! (vgl. Schmidt-Lauff 2016) bislang insgesamt drei umfangreiche und um erste Systematisierungen bemühte Grundlagenbeiträge hinsichtlich der Verknüpfung zwischen Zeit und Bildung erarbeiten konnte. Schmidt-Lauff geht innerhalb einer erwachsenenpädagogischen Perspektive ganz grundsätzlich von einem Zeitbegriff aus, der »uns im Sprechen über Bildung, in erziehungswissenschaftlichen Zeitmodi wie -phänomenen in ›solider Faktizität‹« (Schmidt-Lauff 2016, S. 89) begegnet. Ein damit vielfältig geartetes Interesse an Zeit wird am ausführlichsten

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durch ihre Habilitationsschrift dokumentiert, die alles in allem durch drei große Zielsetzungen getragen ist: 1. die Erarbeitung eines disziplinübergreifenden Zugangs zu Zeit (vgl. Schmidt-Lauff 2008, S. 25), einhergehend mit einer breit angelegten Übersicht »[b]ildungswissenschaftlicher Aspekte und Fragestellungen zu Bildungszeit und Lernzeit« (ebd., S. 88), 2. die Aufbereitung aktueller Zeitbestimmungen und Zeitverwendungsmuster im Kontext von »Arbeit und Erwerbstätigkeit« (ebd., S. 202) sowie »Erwachsenenbildung und Lernen« (ebd., S. 219) und zuletzt 3. die Auswertung einer empirischen Untersuchung »zu Bildungszeiten und Zeiten für Lernen im Erwachsenenalter« (ebd., S. 259) mit besonderem Fokus auf qualitativen Einschätzungen zu »Bildungs- und Lernzeiten« (ebd. S. 363), das heißt Einschätzungen zu individuell und institutionell initiierten Lernprozessen, Lerntätigkeiten innerhalb variierender Lebensabschnitte und der Effektivität von Lernzeiten und Rhythmen von Lernprozessen (vgl. ebd., S. 364ff).

Das im Folgenden intendierte Interesse gilt primär jenen Erkenntnissen, die Schmidt-Lauff innerhalb ihrer ersten Zielsetzung gewinnen konnte. Dementsprechend kann dem Untersuchungsgegenstand ›Zeit‹ gegenwärtig im Rahmen pädagogischer Überlegungen entweder eine akzidentielle, spezifische oder eine grundsätzliche Bedeutung beigemessen werden (vgl. ebd., S. 445). In ihrer Gesamtheit verleihen diese drei Bedeutungsbeimessungen der Problematik einen Ausdruck, dass Zeit keineswegs »als pädagogischer Grundbegriff, pädagogisches Prinzip bzw. relevante Dimension behandelt wird oder in grundlagentheoretischen Analysen und empirischen Studien expliziert aufgearbeitet ist« (ebd., S. 13). Um diese Problematik zu verstehen, ist es nachstehend zunächst nötig, Schmidt-Lauffs Überlegungen zu rezipieren. Dabei gilt es zu beachten, dass diese mittels einer hohen Anzahl an Textreferenzen entfaltet worden sind, bei denen viele eine explizite Relevanz für die »[e]rwachsenenenpädagogische Identifikation und Strukturierung von Lernzeiten« (ebd., S. 114) aufweisen. Die folgend ausgeführten Darstellungen beschränken sich auf jene Positionen, die einerseits exemplarisch und

3 Zeit im Kontext von Bildung

andererseits paradigmatisch für die jeweiligen Bedeutungsbeimessungen stehen.4 Demnach gelten akzidentielle Bedeutungsbeimessungen gegenüber Zeit zum Ersten als das Resultat von Auseinandersetzungen mit der »Strukturierung und Organisation von Lernverläufen und Inhalten« sowie der »Planung von Zeitfenstern für Bildungsangebote« (Schmidt-Lauff 2012, S. 16). Als dafür paradigmatische Position verweist Schmidt-Lauff auf Manfred Lüders’ Monographie Zeit, Subjektivität und Bildung, in der Zeit primär eine Koordinationsfunktion in Bildungsinstitutionen zugeschrieben wird (vgl. Schmidt-Lauff 2008, S. 445; 2012, S. 11). Zeit gilt damit primär als ein erzieherisches Problem (vgl. Oelkers 2001, S. 176ff), das in eine zielorientierte pädagogische Praxis eingebettet ist, deren Planung wiederum »über die Terminierung, Seriation und Synchronisation von Handlungen geschieht und in der Prognosen, Diagnosen und Retrodiktionen gestellt werden, um Prozeßverläufe im Hinblick auf vorgegebene Zielsetzungen zu reflektieren« (Lüders 1995, S. 75). Insofern ist dem bereits genannten Sachverhalt Rechnung getragen, dass institutionelle Lernzeiten temporal befristet sind und didaktische Planungen zwangsläufig jenen Befristungen unterliegen (vgl. Brinkmann 2000; Nahrstedt et al. 1998). Gerade deswegen können akzidentielle Bedeutungsbeimessungen im Sinne Schmidt-Lauffs auch nicht den Anspruch auf universelle Gültigkeit erheben, weil sie lediglich für hermetisch geschlossene Gesellschaftsbereiche gelten. In institutionalisierten Bildungseinrichtungen werden lernende Menschen sowohl räumlich als auch zeitlich von potenziellen äußeren Störungen geschützt (vgl. Giddens 1996, S. 161). Vielleicht mag es einige territoriale Bereiche und temporale Phasen in solchen Einrichtungen geben, in denen sich Möglichkeiten »heterogener und diffuser Interaktionsformen« eröffnen, aber zumeist unterscheiden sich die Begegnungen beim institutionellen Lernen von jenen Ereignissen des sozialen Lebens, »in denen die normative Regulierung der Aktivität weniger straff ist« (ebd., S. 188f.). Folglich liegt akzidentiellen Bedeutungsbeimessungen von Zeit für Bildung eine perspektivische Verengung auf strukturellorganisatorische Bedingungen des pädagogischen Handelns zugrunde, die nach weiterer Ergänzung verlangt.

4

Interessierte Leserinnen und Leser seien zur Vertiefung der erwachsenenpädagogischen Schwerpunktsetzung vor allem auf das dritte Kapitel ›Bildungswissenschaftliche Aspekte und Fragestellungen zu Bildungszeit und Lernzeit‹ in Schmidt-Lauffs Habilitation verwiesen (vgl. Schmidt-Lauff 2008, S. 88-180).

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Die Verzeitlichung der Bildung

In diesem Sinne eröffnet eine fernab strukturell-organisatorischer Fragen vorgenommene prozessuale Charakterisierung von Bildung zweitens die Möglichkeit, Zeit eine spezifische Bedeutung für Bildungsprozesse beizumessen (vgl. Schmidt-Lauff 2012, S. 16). Eine solche Beimessung trägt dem Sachverhalt Rechnung, dass Zeit eine formale Größe ist, in der Bildung ermöglicht und realisiert werden kann. Schmidt-Lauff verweist hier wegweisend auf Andreas Dörpinghaus, der gleich mehrere Beiträge zum Verhältnis zwischen Bildung und Zeit veröffentlichen konnte (vgl. ebd., S. 13). Dörpinghaus postuliert ganz grundsätzlich eine Abhängigkeit des pädagogischen Handelns von »Schonräume[n] der Langsamkeit« (Dörpinghaus 2008, o.S.), derer es bedarf, um Offenheit für Irritationen, Fragen und Unsicherheiten zu ermöglichen. Diesem Postulat ist durchaus eine kritische Haltung implizit, wie Dörpinghaus vor allem in der zusammen mit Ina Katharina Uphoff verfassten Monographie Die Abschaffung der Zeit herausarbeitet. Die zentrale These dieser Monographie lautet, dass gerade moderne Subjekte zunehmend heteronomen Zeitstrukturen unterworfen sind, die sich emphatisch »als Zeitdruck, als Suggestion unendlicher Möglichkeiten, als Verlust des Abschieds, als Nichtfertigwerden und Orientierungslosigkeit« äußern (Dörpinghaus/Uphoff 2012b, S. 14f.). Bildung hingegen bringt eine zeitliche Struktur hervor, die Dörpinghaus und Uphoff als Verzögerung kennzeichnen (vgl. Dörpinghaus/Uphoff 2012b, S. 122; vgl. darüber hinaus Dörpinghaus 2005; 2009; 2015). Paradigmatisch für diese Kennzeichnung wird argumentiert: »Der Bildungsbegriff impliziert notwendig die Unterbrechung eines sich als linear vorstellbaren Zeitgeschehens als Verzögerung. In der Regel unterstellen sich Menschen wechselseitig die Möglichkeit von Bildung, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass ein zeitliches Schema von Reiz und Reaktion oder eine unbefragte Verbindung von Gesolltem und Verhalten nicht dem Selbstverständnis und der Weise des Zusammenlebens entspricht. Eine solche Absage an die Verbindung von Reiz und Reaktion lässt sich über den Gedanken fassen, dass Bildung mit den Verzögerungen der unmittelbaren und kürzesten Verbindungen im Denken, Handeln und Urteilen zusammenhängt. Im Moment der Verzögerung entstehen allererst die Erfahrungsspielräume, die Bildungsprozesse ermöglichen, die nicht gewissermaßen in der Reaktion auf eine Frage bestehen, sondern in einer Antwort, die die Frage als Fragliches selbst umgreift.« (Dörpinghaus/Uphoff 2012b, S. 176; ohne Hervorh.)

3 Zeit im Kontext von Bildung

In weiteren Publikationen vertieft Dörpinghaus dieses primär auf Responsivität zielende Bildungsverständnis schließlich mit der menschlichen Fähigkeit zur temporalen Distanz (vgl. Dörpinghaus 2014, S. 45), die er als Möglichkeitsbedingung von Erfahrung verstanden haben möchte (vgl. Dörpinghaus 2015, S. 476). Dem Moment der Verzögerung wird auf diese Weise eine Ermöglichung auf eine andere Sicht der Dinge unterstellt (vgl. ebd.). Hierbei handelt es sich um eine Argumentation, die man ebenfalls in der begriffsbestimmenden Bildungsphilosophie vorfinden kann. Exemplarisch dafür steht die Perspektive Käte Meyer-Drawes, Bildung als ein Aushalten unvollendeter Zustände zu verstehen, das unabdingbar scheint, um zum fruchtbaren Augenblick kairos, dem erfüllenden Zeitpunkt plötzlicher Einsicht zu gelangen (vgl. Meyer-Drawe 2005, S. 28ff; 2007, S. 247; vgl. darüber hinaus Schmidt-Lauff 2012, S. 11ff; Treml 1999, S. 24). In der Summe sind damit Beschreibungen formuliert, mit denen dem Bildungsbegriff eine Zeitstruktur zugewiesen wird, die gewöhnlichen, linear verlaufenden Zeitmustern entgegensteht. Spezifische Bedeutungsbeimessungen von Zeit für Bildung verweisen folglich zuvorderst auf eine Prozessualität von Bildung, die sich dadurch auszeichnet, dass Subjekte Erfahrungen machen, die den alltäglichen Fluss der Zeit unterbrechen. Die Möglichkeit einer dritten und letzten Bedeutungsbeimessung von Zeit für Bildung erhält man demgegenüber mit einer Vernachlässigung des prozessualen Bildungscharakters und einem Blick auf gegenwärtige Tendenzen subjektiver Zeitempfindungen. Zeit wird dann gemäß Schmidt-Lauff von grundsätzlicher Bedeutung (vgl. Schmidt-Lauff 2008, S. 94 und S. 445; 2010, S. 355; 2012, S. 17), wie paradigmatisch in Gerhard de Haans Habilitationsschrift Die Zeit in der Pädagogik argumentiert wird. De Haan arbeitet die Entwicklung subjektiver Wahrnehmungen der Zeitknappheit im Kontext der Schulpädagogik sozial-historisch auf und macht diese schließlich sowohl als konstitutives Merkmal als auch primäre Herausforderung eines (schul-) pädagogischen Handelns aus (vgl. de Haan 1996, S. 25ff). Schulpädagogik hat demensprechend auf ein Leben mit erhöhten Handlungsmöglichkeiten und sich beschleunigenden Lebensveränderungen vorzubereiten. Paradigmatisch ist jene Notwendigkeit im Kontext des Lebenslangen Lernens einzusehen, das gemäß de Haan eine »Limesgestalt« ist, »nach der die gesamte Lebenszeit« allein eine Vorbereitung auf die Anforderungen und Optionen im Leben bleibt (ebd., S. 36). Als Zwischenfazit ist festzuhalten, dass die von Schmidt-Lauff vorgeschlagenen Bedeutungsbeimessungen einen ersten Blick auf ein unsortiertes und

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sich bislang nur in Silhouetten abzeichnendes Forschungsfeld liefern. Wie vage dieser Blick letztlich bleibt, räumt Schmidt-Lauff selbst mit der »fast demütige[n] Einsicht von der Vielfalt zeitlicher Dimensionen und temporaler Phänomene in der Pädagogik [ein, C.L.], deren Komplexität nur erahnt werden kann« (Schmidt-Lauff 2016, S. 96). Infolgedessen scheint es wenig zielführend, sich auf eine der skizzierten Bedeutungsbeimessungen festzulegen, um etwa von dort aus weiter argumentieren zu können. Vielmehr sind allgemeinere Eingrenzungen nötig, die bestenfalls mit dem Erkenntnisinteresse und den bis hierher gewonnenen Prämissen der vorliegenden Arbeit vereinbar sind. Derartige Eingrenzungen lassen sich schließlich mit der Frage gewinnen, unter welchen priorisierten Vorannahmen man derzeit pädagogische Auseinandersetzungen mit Zeit im Kontext von Bildung vornimmt. Anhand der genannten Positionen ist dann zwischen zwei Methoden zu unterscheiden: Die erste Methode liegt in einer Priorisierung des Bildungsbegriffs inklusive dadurch mitschwingender Suggestionen. Das Resultat sind temporale Deutungen von Bildung, beispielsweise als Verzögerung, Distanz, Aushalten oder als Warten, wie sie exemplarisch von Dörpinghaus (2008; 2009; 2014; 2015) und Meyer-Drawe (2005; 2007) vorgelegt werden. Demgegenüber liegt eine zweite Methode in dem Versuch einer theoretisch fundierten Auseinandersetzung mit Zeit, die jeweils in den genannten, größer angelegten Monographien von Lüders (1995), de Haan (1996), Schmidt-Lauff (2008) und Dörpinghaus/Uphoff (2012b) durchgeführt wird. Das Studium dieser Monographien eröffnet schließlich den Zugang zu unterschiedlichen zeittheoretischen Bezügen, was tabellarisch zunächst wie folgt zu ordnen ist:

3 Zeit im Kontext von Bildung

Tab. I: Pädagogische Monographien zum Zusammenhang zwischen Zeit und Bildung: thematische Schwerpunkte und zeittheoretische Bezüge Monographie

Thematischer Schwerpunkt

zeittheoretische Bezüge (chronologische Anordnung)

Zeit, Subjektivität und Bildung (vgl. Lüders 1995)

Zusammenhang zwischen subjektiven Zeitwahrnehmungen und pädagogischem Handeln

zeitphilosophisch: Aristoteles, I. Kant, H. Bergson, J. E. McTaggart, E. Husserl, M. Heidegger, P. Bieri zeitsoziologisch: G. Dux, N. Luhmann

Die Zeit in der Pädagogik (vgl. de Haan 1996)

Zusammenhang zwischen Zeit, Erziehung und Bildung im Kontext der Schulpädagogik

zeitphilosophisch: A. Augustinus, H. Bergson, E. Husserl, M. Heidegger, H. Blumenberg, O. F. Bollnow zeitsoziologisch: N. Elias, G. Dux, N. Luhmann, H. Nowotny

Zeit für Bildung im Erwachsenenalter (vgl. Schmidt-Lauff 2008)

Zusammenhang zwischen Zeit und Lernen im Erwachsenenalter

zeitphilosophisch: A. Augustinus, E. Husserl, H. Arendt zeitsoziologisch: N. Elias, G. Dux, R. Wendorf, H. Nowotny

Die Abschaffung der Zeit (vgl. Dörpinghaus/ Uphoff 2012b)

Zeitliche Machtstrukturen im Kontext von Bildung

zeitphilosophisch: Platon, Aristoteles, Th. von Aquin, A. Augustinus, I. Kant, E. Husserl, M. Merleau-Ponty

Diese Tabelle kann zunächst im Kern dafür sensibilisieren, dass genuin pädagogische Auseinandersetzungen mit Zeit sich gegenwärtig einerseits an den Interessen je spezifisch gesetzter Forschungsschwerpunkte und andererseits (oftmals kursorisch) an dem bemessen, was dazu im großen interdisziplinären, philosophisch und soziologisch konstituierten Forschungsfeld anschlussfähig erscheint. Als exemplarische Untermauerung einer solchen Sen-

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sibilisierung dient der folgende Passus, in dem Schmidt-Lauff die Auswahl ihrer zeitphilosophischen Positionen begründet: »Die drei Positionen (Augustinus, Husserl, Arendt) wurden stellvertretend aus vielen möglichen zeitphilosophischen Arbeiten ausgewählt, weil sie die Form einer ergründenden, interpretierenden Zeitreflexion in Abgrenzung zur pragmatischen Strukturierung von Zeit, ihrer sozialen Organisation und einem scheinbar objektiv, instrumentellen Zugriff auf Verlaufsentscheidungen vertreten. Sie machen mit ihren verstehend phänomenologischen Zugängen den Blick frei für die Wertigkeit und subjektiv individuelle Bedeutung von Zeit.« (Schmidt-Lauff 2008, S. 27) In Ergänzung dazu, und das ist an dieser Stelle die weitaus gewichtigere Einsicht, ist es ebenfalls Schmidt-Lauff, die in einem erkennbaren pädagogischen Interesse an sowohl zeitphilosophischen als auch zeitsoziologischen Werken einen interdisziplinär konstruierten »Doppelcharakter« (Pfeiffer 2007. In: Schmidt-Lauff 2012, S. 45) der Zeit ausmacht, der die Beschreibung von Zeitmodalitäten ins Zentrum deskriptiver Absichten rückt. Im Detail heißt es dazu in dem Beitrag Grundüberlegungen zu Zeit und Bildung: »Zeitmodalitäten bilden die Art und Weise zeitlicher Existenzen in (u.a. pädagogischen) Bezügen und die Interpretation dieser im Denken über sie ab. Zeitmodalitäten bewegen sich zwischen formal phänomenologischen Zustandsbeschreibungen, die Zeit zunächst instrumentell fassen, und ihren interpretativen Erfahrungen und Auslegungen als Temporalitäten. Zeit besteht in ihnen als Konstruktion und Interpretation in einem Wechselverhältnis sozialer wie individueller Entitäten.« (Schmidt-Lauff 2012, S. 13; Hervorh. im Orig.) Die hier beschriebene, doppelte Perspektive erlaubt die Unterscheidung zwischen einer dem Subjekt äußeren (instrumentellen) und einer dem Subjekt inneren (interpretativ erfahrbaren) Zeit. Gerade deshalb steht auch zu vermuten, dass Schmidt-Lauff im zitierten Passus nicht ›Phänomenologie‹ in einem streng methodologischen Sinne meint, sondern den Blick auf phänomenorientierte Zustandsbeschreibungen richtet. Unabhängig davon erkennt sie jedoch ein Denken in Zeitmodalitäten als nützlich an, um der »Aufschlüsselung verschiedener temporaler Phänomene von Zeit in der Pädagogik« sowie deren »Interpretation und Funktion für Bildung und Lernen« (ebd., S. 11) nachzugehen.

3 Zeit im Kontext von Bildung

Das damit einhergehende Potenzial für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit und ihre bislang gewonnenen Erkenntnisse ist schließlich durch eine Aufarbeitung des philosophischen Ursprungs des Begriffs der Zeitmodalität ersichtlich, der auf Edmund Husserls Textsammlung Späte Texte über Zeitkonstitution zurückführt. Husserl definiert darin Zeitmodalität als »Urmodalität der eigentlichen Wirklichkeit des Seins« (Husserl 1929-1934, S. 84), innerhalb derer Subjekte sich selbst, aber auch die Welt erfahren: »die Welt in der Wahrnehmung als strömende Weltgegenwart« und sich selbst in »der Selbstwahrnehmung als strömende Selbstgegenwart« (ebd., S. 145). Es handelt sich hier also um eine auf die Wahrnehmungen der Subjekte bezogene Definition, die insofern theoretisch voraussetzungsvoll ist, als sie auf Husserls phänomenologische Zeittheorie des inneren Zeitbewusstseins zurückführt. Wenn auf diese Theorie weiter unten noch einmal ausführlicher zurückzukommen sein wird (vgl. Abschnitt 4.1.2), so ist zum jetzigen Zeitpunkt der Argumentationen die auch ohne theoretische Vorkenntnisse einzusehende Implikation Husserls entscheidend, dass Zeitmodalitäten ganz offensichtlich der Beziehung zwischen Subjekt und Welt vorausgehen. Empirisch anschlussfähig ist dies mithilfe des Hinweises, dass jegliche Möglichkeiten des subjektiven Wahrnehmens, Handelns, Erfahrens, Lernens, Aneignens usw. in Raum und Zeit, das heißt, in einem permanent variierenden (bei Husserl: strömenden) Hier und Jetzt angelegt sind (vgl. Leineweber 2017, S. 30). Die bildungstheoretisch grundlegende Erkenntnis, dass Subjekt und Welt in einer wechselwirkenden Beziehung zueinander stehen, ist folglich stets räumlich und zeitlich strukturiert, wobei es letztlich die »Kombination von Raum und Zeit« (Meder 2015, S. 188) ist, die die Grundbedingung aller Veränderungserfahrungen darstellt. »Was ›Hier‹ und ›Jetzt‹ mir in der Alltagswelt vergegenwärtigen, das ist das ›Realissimum‹ meines Bewußtseins« (Berger/Luckmann 1969/2009, S. 25). Alles in allem wird auf diese Weise deutlich, dass Husserls Begriff der Zeitmodalität einerseits die Intentionen der bislang vorliegenden pädagogischen Forschung zu Zeit auf den Punkt zu bringen scheint. Andererseits stellt er eine Grundlage dar, um Zeit innerhalb der Beziehung zwischen Subjekt und Welt als Unterscheidung zwischen innerer, subjektiv wahrgenommener Zeit und äußerer, weltlich gegebener Zeit zu beschreiben. Wie dies konkret weitergedacht werden muss, ist Gegenstand des folgenden Abschnitts.

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Die Verzeitlichung der Bildung

3.2

Zeit und die Beziehung zwischen Subjekt und Welt

Rückblickend auf die Betrachtungen im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit ist die Beziehung zwischen Subjekt und Welt analytisch in eine Sach-, Sozial- und Zeitdimension einzuteilen. Verwiesen ist damit auf die Verhältnisse der Subjekte zu den Sachen und Dingen in der Welt, zu anderen Subjekten sowie zu sich selbst und der Welt in der Zeit. Wenn ebenso bereits die empirische Verflechtung dieser Dimensionen betont werden konnte, so ist dafür sensibilisiert, dass eine Beschreibung von Zeit im Kontext der Beziehung zwischen Subjekt und Welt nicht innerhalb der Zeitdimension verharren darf, sondern überdies auch Aspekte der Sach- und Sozialdimension zu berücksichtigen hat. Husserls Begriff der Zeitmodalität bekräftigt diesen theoretischen Anspruch, indem er Zeit in Form einer subjektiv wahrgenommenen und einer weltlich gesetzten Zeit begreift. In der Kombination beider Perspektiven kann die Zeit als eine weltlich gegebene, objektive Zeit, als eine gesellschaftlich objektivierte, soziale Zeit und eine individuell wahrgenommene, subjektive Zeit ausdifferenziert werden, wie es im Folgenden expliziter darzulegen gilt. Eine objektive Zeit führt ganz grundsätzlich auf den etymologischen Ursprung des Wortes ›Zeit‹ zurück: ›tide‹, der zirkuläre, das heißt wiederkehrende Wechsel der Gezeiten (vgl. Behringer 2012, S. 347). Zeit ist damit in ihrem Ursprung ein »Verhältnis zur Natur« (Dörpinghaus/Uphoff 2012b, S. 11) und somit »geprägt von naturalen Konstanten« (Han 2014b, S. 21), anhand derer sich Veränderungen in der Welt protokollieren lassen. Ebbe und Flut oder Tag und Nacht sind dafür gängige Beispiele. Eine als objektiv begriffene Zeit verweist somit primär auf lokale Gegebenheiten der Welt (vgl. Castells 2001a, S. 485; Han 2014b, S. 21). So ist einerseits hervorgehoben, dass unsere Wahrnehmung von Zeit »eine Funktion« der Welt- oder Raumwahrnehmung ist: »es wird hell und dunkel, sommerheiß und winterkalt« (Rosa 2005, S. 163). Wie stark dies andererseits bereits subjektive Lebensgestaltungen zu beeinflussen vermag, weiß z.B. Hans Blumenberg mit seiner Unterscheidung zwischen (objektiver) Weltzeit und (subjektiver) Lebenszeit zu betonen, die auf die natürliche Begrenztheit des Lebens »bis hin zur Datierbarkeit zwischen Natalität und Mortalität« verweist und zugleich eine dadurch im Bewusstsein produzierte Zeit anspricht, in der die »Weltzeit als Inbegriff aller denkbaren Chronologien« erscheint (Blumenberg 1986, S. 295). Wenn eine im Bewusstsein produzierte Zeit ohne Frage sowohl subjektives als auch intersubjektives Leben betrifft, dann ist mit aller Deutlichkeit für die Wirkkraft sensibilisiert,

3 Zeit im Kontext von Bildung

die von einer objektiven Zeit ausgeht und sich in den beiden anderen, hier vorgeschlagenen Zeitformen empirisch anschlussfähig beleuchten lässt. Dementsprechend setzt eine soziale Zeit voraus, dass objektive Zeit objektiviert, also z.B. mathematisch oder physikalisch bestimmt wird. Objektivierte Zeiten bilden auf diese Weise die Koinzidenz zwischen objektiven Zeiten und menschlichen Beobachtungen von Zeit. Uhren sind demnach eine detaillierte Protokollierung der Erdumdrehung in Abhängigkeit zur Sonne. Etwaige Protokollierungen sind in unserem Alltag omnipräsent und betreffen z.B. »Gleichzeitigkeit, Dauer, Veränderung, Zukunft und Dringlichkeit, Warten, Abnutzung, Schnelligkeit, Altern« (Klein 2015, S. 80). Ungeachtet dieser Vielfalt ist jedoch entscheidend, dass Messungen letztlich nur im Sozialen eine Bedeutung einnehmen können (vgl. Weidenhaus 2015, S. 29-31). Eine bloß gemessene »Minute ist völlig sinnfrei« (ebd., S. 30) und im Umkehrschluss nur dann sinnvoll, wenn sie Abläufe zwischen Menschen organisieren, koordinieren oder synchronisieren lässt. Zeit avanciert im Horizont derartiger Ereignismarkierungen, so die populäre Bezeichnung von Émile Durkheim, zu einer »soziale[n] Angelegenheit« (Durkheim 1968/1998, S. 28), das heißt zu einem Konzept kollektiver Denkprozesse. Das lässt sich leicht daran einsehen, dass zeitliche Objektivationen häufig in sozial anerkannten Größen münden, wie z.B. die Länge eines Arbeitstages (9 to 5), eines Semesters (sechs Monate), eines Trimesters (drei Monate) oder des religiösen Fastens (40 Tage) (vgl. Sorokin/Merton 1937, S. 615ff). Als soziale Wesen werden Menschen in solche Strukturen und dahinterstehende, sozial etablierte Messmethoden hineingeboren (vgl. Nowotny 1993, S. 7). Zeit ist damit als eine »grundlegende Kategorie der sozialen Welt« anzuerkennen und gehört als solche »zum unbefragten Boden gesellschaftlicher Wirklichkeit überhaupt« (Nassehi 1993a, S. 13). In Anbetracht dieser Aspekte fällt die Vorstellung nicht schwer, warum Zeit ebenfalls eine spezifische Angelegenheit des Subjekts sein muss und in diesem Sinne als subjektive Zeit beschrieben werden kann. Die Rede von einer subjektiven Zeit verweist beispielsweise auf Anfang und Ende des Lebens, auf erfahrene Dauern und Gefühle, auf den eigenen Lebensrhythmus oder auf individuelle Erfahrungen und Vorstellungen von Vergangenheit, Jetzt und Zukunft, nur um einige einprägsame Beispiele zu versammeln. Manuel Castells vereinheitlicht die Vielfalt dieser Beispiele in ihrer Bedeutung vielleicht am treffendsten, wenn er den Menschen als »verkörperte Zeit« bezeichnet (Castells 2001a, S. 485). Damit einher geht die empirische Besonderheit, dass Zeit nur dort eine Bedeutung einnimmt, wo sie in einzelne Lebensbereiche eingebunden ist (vgl. Luhmann 2009, S. 196). Sei es, ob von einem bestimm-

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ten Menschen die Rede ist, dessen Lebenszeit endet, ob man eine Organisation betrachtet, in der Arbeitnehmer unter Zeitdruck Produkte herstellen, ob man sich eine Studentin vorstellt, die annimmt, viel Zeit beim Schreiben einer Hausarbeit zu haben, dann aber feststellen muss, dass die Zeit immer mehr verrinnt usw. – die Beziehung der hier genannten Entitäten muss mitgedacht werden, wenn man die Frage stellt, was Zeit sein könnte (vgl. ebd.). Das ist auch daran festzumachen, dass objektive und soziale Zeiten erst durch subjektive Deutungen eine Relevanz erfahren können, wobei ein entscheidendes Detail darin liegt, dass etwaige Deutungen variabel sein können: Person A liest beispielsweise diese Zeilen am späten Sonntagabend (objektive und objektivierte Zeit). Es ist jene Zeit, in der sie für gewöhnlich besonders aufmerksam lesen kann (subjektive Zeit). Nichtsdestotrotz kann sie diese Aufmerksamkeitsspanne womöglich nicht vollständig ausreizen, weil andere berufliche Verpflichtungen die Anwesenheit im Büro am frühen Morgen des Montags verlangen (soziale Zeit). Für Person B mögen diese Zeitformen eine vollkommen andere Bedeutung haben: der Sonntagabend gilt der Entspannung, denn die bevorstehende Woche droht anstrengend zu werden, und ohnehin ist man zu erschöpft, um einer fordernden Tätigkeit zu diesem Zeitpunkt noch angemessen nachgehen zu können usw. Es steht außer Frage, dass sich diese Beispiele in ihrer empirischen Vielfalt niemals bis ins Detail ergründen lassen, aber sie verdeutlichen, dass Zeit primär eine Angelegenheit des Subjekts ist, das Verknüpfungen zwischen objektiven Zeitstrukturen, gesellschaftlich tradierten Zeitbestimmungen und eigenen Zeitwahrnehmungen herstellt. Wenngleich sich also analytisch sehr wohl zwischen einer weltlich gegebenen, sozial objektivierten und subjektiv wahrgenommenen Zeit unterscheiden lässt, so scheint die Frage von Zeit in letzter Konsequenz niemals unabhängig vom Subjekt gestellt werden zu können. Denn letztlich ist es das Subjekt, das Verknüpfungen zwischen diesen Zeitformen herstellt und ihnen eine Bedeutung zuschreibt. Die theoretischen Folgen eines damit deutlich werdenden ›Subjektzentrismus‹ lassen sich ein letztes Mal im Anschluss an Schmidt-Lauff vertiefen, die in ihrem Beitrag Grundüberlegungen zu Zeit und Bildung postuliert, dass sich eine bislang noch uneingelöste »Zeittheorie der Pädagogik bzw. eine ›Zeitpädagogik‹« in ihren Grundzügen der subjektiven Bewusstwerdung zeitlicher Strukturen zu widmen hat (Schmidt-Lauff 2012, S. 17). Die beiden zentralen Vokabeln, die Schmidt-Lauff dabei ins Spiel bringt, lauten Verzeitlichung und Zeitlichkeit (vgl. Schmidt-Lauff 2012, S. 17; 2016, S. 90). Subjekti-

3 Zeit im Kontext von Bildung

ve Zeitordnungen entstehen demnach »durch das kontextuale Bewusstwerden von Zeit, d.h. in der Verzeitlichung von Strukturen und darin enthaltenen temporalen Entwürfen (Zeitlichkeiten)« (Schmidt-Lauff 2012, S. 17; Hervorh. im Orig.). Verzeitlichung beschreibt insofern einen reflexiven Prozess des Subjekts in Form der Bewusstwerdung zeitlicher Strukturen. Damit ist ein Begriff für die Erkenntnis gefunden, dass objektive, soziale und subjektive Zeiten in einem subjektiven Zeitbewusstsein sowohl zusammenlaufen als auch geordnet und interpretiert werden. Daran anknüpfend ist Zeitlichkeit als die unmittelbare »Folge der Verzeitlichung« (ebd., S. 18) zu verstehen. Peter L. Berger und Thomas Luckmann sehen diese Folge als eine der Domänen des Bewusstseinsstroms, der stets »eine zeitliche Ordnung« hervorbringt (Berger/Luckmann 1969/2009, S. 29). Begriffshistorisch führt Schmidt-Lauff den Begriff der Zeitlichkeit auf die Zeitphilosophie Martin Heideggers zurück (vgl. Schmidt-Lauff 2012, S. 18), der in seiner Monographie Sein und Zeit die »Alltäglichkeit […] als Modus der Zeitlichkeit« ausdifferenziert (Heidegger 1927/1993, S. 234; vgl. darüber hinaus Heidegger 1924). Bemerkenswerterweise referiert Schmidt-Lauff in ihren Ausführungen nur kursorisch auf Heidegger, so dass ihr entgeht, dass Heideggers Begriff der Zeitlichkeit an das Verb »zeitigen« (Heidegger 1927/1993, S. 152) gekoppelt ist, mit dem der »Unterschied zwischen einer Zeit, in der man sich enthalten fühlt, und einer Zeit, die man hervorbringt« (Safranski 2015, S. 65), erfasst wird. Die Entfaltungsmöglichkeiten der Subjekte sind damit in der Auffassung Heideggers Produkte ihres Geistes »in möglichen Zeitigungen der Zeitlichkeit« (Heidegger 1927/1993, S. 304). Offenkundig ist damit ein bildungstheoretisches Interesse geweckt, weil sich hier die Möglichkeiten subjektiver Entfaltung in einem weiten Sinne und damit Möglichkeiten subjektiver Selbstbestimmung in einem engen Sinne unter den Bedingungen einer zeitlich strukturierten Welt thematisiert finden. Insofern scheinen begriffliche Anhaltspunkte gefunden, die zunächst den Versuch rechtfertigen lassen, Eckpunkte einer bildungstheoretisch anschlussfähig erscheinenden Charakterisierung von Zeit zu formulieren.

3.3

Zweites Zwischenfazit: Eckpunkte einer bildungstheoretisch anschlussfähigen Charakterisierung von Zeit

Die Argumentationen in diesem Kapitel demonstrieren, dass Auseinandersetzungen mit Zeit im spezifischen Kontext von Bildung grundsätzlich durch ein Fehlen bislang etablierter Forschungstraditionen, an die inhaltlich oder

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Die Verzeitlichung der Bildung

konzeptionell anzuschließen wäre, erschwert sind. In diesem Sinne geht die derzeit vorliegende pädagogische Literatur über Zeit gemischten Fragen nach und ist dabei durch einen breit angelegten Rückgriff auf zeitphilosophische und zeitsoziologische Theorien geprägt. Im Anschluss an Sabine SchmidtLauff konnte dargelegt werden, dass sich in ebendieser Prägung ein übergreifendes Interesse an Zeitmodalitäten manifestiert, die sich anhand des Zusammenspiels zwischen den Zeitwahrnehmungen der Subjekte und den zeitlichen Veränderungen in der Welt beschreiben lassen. Zeit wird demzufolge in interdisziplinärer Argumentationsführung innerhalb des Spannungsfeldes zwischen weltlichen Veränderungen und deren sowohl individuell als auch kollektiv gearteten Interpretationen durch Subjekte beschrieben. Unter diesen allgemeinen Voraussetzungen konnten spezifische Eingrenzungen hinsichtlich des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Arbeit getroffen werden, die Zeit als Untersuchungsgegenstand an einen Bildungsbegriff koppeln lässt, der die Beziehung zwischen Subjekt und Welt als seinen theoretischen Ort ausweist. Diese Eingrenzungen finden sich auf der folgenden Seite in Form einer Abbildung zusammengetragen, in der noch einmal die wichtigsten Begriffe zueinander angeordnet sind. Die Abbildung verweist auf insgesamt vier analytisch relevante und gleichsam deduktiv konstruierte Unterscheidungen: Ihr Ausgangspunkt ist die Beziehung zwischen Subjekt und Welt (i), die in eine Sach-, Sozial- und Zeitdimension auszudifferenzieren ist (ii). Zwar kann innerhalb der Zeitdimension der analytische Fokus auf das Verhältnis der Subjekte zu sich selbst und der Welt in der Zeit gelegt werden, allerdings lässt sich dieses Verhältnis nur dann empirisch anschlussfähig beschreiben, wenn Veränderungen innerhalb der Sach- und Sozialdimension miteinbezogen werden. Dementsprechend ist die Zeit in einem weiteren Schritt analytisch in eine weltlich gegebene, objektive Zeit, in eine gesellschaftlich objektivierte, soziale Zeit und in eine individuell wahrgenommene, subjektive Zeit auszudifferenzieren (iii). Im Anschluss an diese Ausdifferenzierung konnte das Argument stark gemacht werden, dass Zeit in letzter Konsequenz niemals ohne eine Subjektreferenz zu denken ist. Wenngleich natürliche Veränderungen auch dann stattfinden mögen, wenn niemand sie beobachtet und es sich bei sozial objektivierten Zeitstrukturen um gesellschaftlich konstruierte, konsensschaffende Wissensgüter handelt, die der Einzelne erst erlernen muss, so können diese Zeitformen nur dort eine Wirkkraft entfalten, wo das Subjekt ihnen eine Bedeutung beimisst. Theoretisch ist diese Priorisierung des Subjekts im Verhältnis zwischen Verzeitlichung und Zeitlichkeit eingefasst (iv). Beide Begriffe

3 Zeit im Kontext von Bildung

Abb. II: Eckpunkte einer bildungstheoretisch anschlussfähigen Charakterisierung von Zeit

– Verzeitlichung und Zeitlichkeit – sind daher Angelegenheiten des Subjekts. Der Begriff der Verzeitlichung umfasst die auf Wahrnehmungsprozessen aufbauende subjektive Bewusstwerdung zeitlicher Strukturen, während der Begriff der Zeitlichkeit auf jene Strukturbereiche anspielt, die aus Prozessen der Verzeitlichung unmittelbar hervorgehen. In einem abstrakten Sinne ist Zeitlichkeit daher auch als eine Art »Sichtbar-Werden« (Schmidt-Lauff 2016, S. 90) einer zeitlich geprägten Beziehung zwischen Subjekt und Welt zu verstehen. Damit fungiert der Begriff schließlich als eine Kategorie, um die Bedeutung von Zeit innerhalb der Beziehung zwischen Subjekt und Welt zu verfolgen. Wie die Zeitlichkeit der Subjekte auf der Basis ihrer Verzeitlichungsprozesse auszudifferenzieren ist, bleibt grundsätzlich eine zeittheoretische Frage, der die pädagogische Theoriepräferenz auf zeitphilosophische und zeitsoziologische Ansätze bereits entgegenkommt. So liegt die zentrale Unterscheidung beider Theorieströmungen darin, dass die Zeitphilosophie das Verhältnis zwischen wahrnehmendem Subjekt und Zeit verfolgt und damit anstrebt, die

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Die Verzeitlichung der Bildung

konstitutiven Voraussetzungen der subjektiven Bewusstwerdung von Zeit zu klären, während jene Klärung im Rahmen zeitsoziologischer Betrachtungen um den Einbezug einer in Differenz zum Subjekt stehenden Gesellschaft erweitert wird. Auf diese Weise lässt sich einerseits das Verhältnis zwischen subjektiver und objektiver Zeit ergründen, während andererseits Überlegungen zum Verhältnis zwischen subjektiver Zeit und sozialer Zeit miteinbezogen werden. Zeitbewusstsein und Sozialität bilden in diesem Sinne das Zentrum subjektiver Zeitlichkeit.

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit »Die Welt kann ich berühren, und auch daraus schließe ich, dass sie existiert. Damit aber hört mein ganzes Wissen auf; alles andere ist Konstruktion.« (Camus 1942/2015, S. 31)

Im vorangehenden Kapitel wurde die Zeitlichkeit der Subjekte als geeignete Kategorie bestimmt, um der Bedeutung von Zeit innerhalb der Beziehung zwischen Subjekt und Welt nachgehen zu können. Als konstitutiv für diese Kategorie konnte der Prozess der subjektiven Verzeitlichung in Form der Bewusstwerdung zeitlicher Strukturen angeführt werden, wobei diese Strukturen wiederum auf Basis der Unterscheidung zwischen einer weltlich gegebenen, objektiven Zeit, einer gesellschaftlich objektivierten, sozialen Zeit und einer individuell wahrgenommenen, subjektiven Zeit präzisiert wurden. Ausgehend von diesen gewonnenen Prämissen gilt es nun, das Phänomen der Zeitlichkeit weiter auszudifferenzieren. Dazu wird zunächst auf zeitphilosophische Theorien rekurriert, die den Fokus auf den Zusammenhang zwischen weltlicher Zeit, wahrnehmendem Subjekt und subjektivem Zeitbewusstsein legen (vgl. Abschnitt 4.1). Daran anschließend werden zeitsoziologische Theorien angeführt, die schließlich Beschreibungen zum Zusammenhang zwischen Zeit und Sozialität ermöglichen (vgl. Abschnitt 4.2). Eine Auseinandersetzung mit diesen beiden Theorieströmungen empfiehlt sich mit der derzeit vorliegenden pädagogischen Literatur, die entlang des im vorangehenden Kapitel Argumentierten gleichsam dafür sensibilisiert, dass einer drohenden Willkür bei der Auswahl zeitphilosophischer und zeitsoziologischer Theorien mit wohl bedachten Eingrenzungen zu begegnen ist. Entsprechende, im Verlauf der vorstehenden Überlegungen zu ziehende Eingrenzungen werden abschließend im Rahmen einer zeittheoretischen Grundlegung der Subjekt-Welt-Beziehung zusammengeführt und mit ei-

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Die Verzeitlichung der Bildung

nem Ausblick auf deren Implikationen für das Ideal der Selbstbestimmung verbunden (vgl. Abschnitt 4.3). Unter den genannten Zielsetzungen wird in diesem Kapitel also in interdisziplinärer Absicht auf unterschiedliche Aspekte subjektiver Zeitlichkeit verwiesen, die sowohl in ihrer theoretischen Genese als auch in ihren empirischen Erscheinungsformen derart vielschichtig miteinander verwoben sind, dass sie als Phänomenbereiche zu deklarieren sind. Darüber hinaus bleibt anzumerken, dass die nachstehend verfolgten Betrachtungen weder einen vollständigen Einblick in die geisteswissenschaftliche Geschichte des Begriffs der Zeit mit all ihren Diskursen, Entwicklungen und inhärenten Widersprüchen liefern noch einem philosophie- und soziologiegeschichtlichen »Totalitätsanspruch« gerecht werden können (Nassehi 1993a, S. 19). Nichtsdestotrotz stellen die im Folgenden verhandelten Theorien umfassende Perspektiven und Begriffe bereit, die sich vor allem für die in der vorliegenden Arbeit verfolgte Frage nach dem Zusammenhang zwischen Selbstbestimmung und Zeit als hilfreich erweisen.1

4.1

Zeit und Zeitbewusstsein: Philosophische Perspektiven auf Zeit

Denkt man Verzeitlichung als eine für die Zeitlichkeit der Subjekte konstitutive reflexive Bewusstwerdung zeitlicher Strukturen, dann erscheint ein Einstieg in die philosophische Zeittheorie mit Immanuel Kant nur konsequent. Denn Kant war es, der in seiner Kritik der reinen Vernunft erstmalig ein Zeitverständnis in Verbindung zum zeitreflexiven Subjekt ausarbeiten konnte (vgl. Kant 1787). Kants Zeittheorie behauptet sich daher vor allem als »eine Theorie der erkennenden Subjektivität« (Lüders 1995, S. 32). Die Implikation dieser Behauptung ist ein Begriff von Zeit als bewusstseinskonstituierte Eigenleistung des Subjekts, der in der zeitphilosophischen Historie den »Ausgangspunkt der reflexiven Verzeitlichungstendenz« (Sandbothe 1998, S. 75) markiert. Bemerkenswert erscheint die Kompatibilität dieser Lesart mit jenen

1

Die Komplexität des Themas räumt zudem die Möglichkeit ein, die im Folgenden ausgearbeiteten Kategorien im Rahmen weiterer Schwerpunktsetzungen zu vertiefen. Und sie bedingt, dass viele Assoziationen, die Leserinnen und Leser mit dem Thema Zeit haben mögen, (zumindest an dieser Stelle) nicht ausführlich genug behandelt werden können – offenkundig betrifft dies psychologische Fragestellungen.

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

Zeitbegriffen, die bereits eine durch Aristoteles und Aurelius Augustinus informierte antike und mittelalterliche Philosophie vorschlug (vgl. ebd., S. 29f.). Vermutete man den Ursprung etwaiger Eigenleistungen damals jedoch in der Seele (Aristoteles) oder im Geist (Augustinus),2 liegt in bildungstheoretischer Hinsicht eine gewaltige Pointe bei Kant in der Grundlegung eines Zeitbegriffs, der durch die Annahme eines vernunftbegabten Subjekts und demzufolge durch die Ideale und Entwicklungen der europäischen Aufklärung entscheidend geprägt ist. Vor dem Hintergrund dieser disziplinhistorischen Eingrenzungen wird es im Folgenden zunächst darum gehen, Zeit im Anschluss an Kant als reine Form der Anschauung zu beschreiben (vgl. Abschnitt 4.1.1). Damit kann eine theoretische Grundlage ausgearbeitet werden, die schließlich Perspektiven auf eine Ausdifferenzierung des subjektiven Zeitbewusstseins nach Edmund Husserl (vgl. Abschnitt 4.1.2), auf eine Darstellung des Zusammenhangs zwischen Zeitbewusstsein und qualitativem Zeiterleben nach Henri Bergson (vgl. Abschnitt 4.1.3) und auf eine abschließende, zeitphilosophische Reflexion zur Zeitlichkeit der Subjekte nach Martin Heidegger (vgl. Abschnitt 4.1.4) ermöglicht. Die Auswahl dieser Referenzen bemisst sich an drei Kriterien: Ihr Referenzrahmen ist erstens die Zeittheorie Kants, von der aus sich alle weiteren Perspektiven nach und nach erschließen lassen. Allen Auseinandersetzungen liegt demnach also eine Berücksichtigung des sich verzeitlichenden Subjekts zugrunde. In der damit einhergehenden Auseinandersetzung mit Husserl und Heidegger manifestiert sich zweitens ein phänomenologischer Schwerpunkt, der sich insofern anbietet, als die Phänomenologie jene Wissenschaftsdisziplin ist, die von gegebenen Phänomenen ausgeht und folglich ihre Untersuchungsgegenstände so beschreiben möchte, wie sie sich den Subjekten durch Wahrnehmungen im Bewusstsein zeigen (vgl. bereits Abschnitt 2.4.1). Unter diesen theoretischen Voraussetzungen stellt die Referenz

2

So liest man bei Aristoteles: »Ob aber wenn nicht wäre die Seele, wäre die Zeit oder nicht, könnte man zweifeln. Denn könnte kein Zählendes sein, so könnte auch nicht ein Zählbares sein: also offenbar auch keine Zahl; denn Zahl ist entweder das Gezählte oder das Zählbare. Ist nun nichts anderes, als die Seele, im Stande zu zählen, so kann es keine Zeit geben, wenn es keine Seele giebt«. (Aristoteles ca. 347 v. Chr., S. 117; Hervorh. C.L.) Und bei Augustinus heißt es: »Darum wollte es mich dünken, Zeit sei Ausdehnung und nichts anderes: aber wessen Ausdehnung, weiß ich nicht. Es sollte mich wundernehmen, wäre es nicht der Geist selbst.« (Augustinus ca. 400, S. 287; Hervorh. C.L.)

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Die Verzeitlichung der Bildung

auf Bergson einen Bruch dar, der sich letztlich in Form einer zur Phänomenologie eingenommenen Gegenhaltung bemisst, welche naturwissenschaftliche Prämissen einholt und so eine bloße Zeitwahrnehmung mit deutenden Zeitinterpretationen verknüpft. Eine solche Vorgehensweise ist drittens mit der zunächst vorläufigen Begründung zu rechtfertigen, dass die Zeittheorien Kants und Husserls mit Bergson um wichtige Aspekte ergänzt werden können, die im Verlauf der Argumentationen konkret zum Vorschein treten werden. Betroffen ist davon auch im weiten Sinne eine erste Thematisierung »psychologische[r] Zustände« (Bergson 1920/2012, S. 9), die in der pädagogischen Erforschung von Zeit bislang unterrepräsentiert scheint. In der Kombination aller hier genannten Theorieanlagen ergibt sich schließlich ein Gesamtbild, das ein subjektives Bewusstsein von Zeit innerhalb der Beziehung zwischen Subjekt und Welt als Grundvoraussetzung für die Wahrnehmung und Erfahrung von Welt (Kant) sowie des temporal ordnenden Weltbezugs (Husserl) lesbar macht, bevor daran geknüpfte Qualitäten (Bergson) und daraus hervorgehende Bedeutungsmuster für die Konstitution des Subjekts (Heidegger) mit einzubeziehen sind. Deutlich werden damit vor allem noch einmal die zentralen Zielsetzungen der folgenden Überlegungen: die theoretische Grundlegung der Konstitution des subjektiven Zeitbewusstseins, die ontologische Konturierung dadurch möglich werdender Konstruktionen von Wirklichkeit bzw. Weltverhältnissen und die Reflexion daraus resultierender Konsequenzen für die Selbstbezüge der Subjekte.

4.1.1

Zeit als reine Form der Anschauung (nach I. Kant)

Um Kants zeittheoretische Grundlagen erschließen zu können, bedarf es zunächst eines Vorgriffs auf die zentralen Prämissen seiner transzendentalen Ästhetik (vgl. Kant 1787, S. 69-96). Grundlegend dafür ist die Einführung des bis dato in philosophischen Diskursen unbekannten Wortes ›transzendental‹, mit dem Kant jene Form der Erkenntnis umschreibt, »die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt« (ebd., S. 63; Hervorh. im Orig.). Transzendentale Sachverhalte überschreiten die Grenze der subjektiven Erfahrung. Transzendentalität gilt damit als Gegenwort von Empirie. Unter diesen Voraussetzungen leitet Kant folgende Prämissen für eine transzendentale Ästhetik ab:

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

»Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung. Diese findet aber nur statt, so fern uns der Gegenstand gegeben wird […]. Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe. Alles Denken aber muß sich, es sei geradezu (directe), oder im Umschweife (indirecte), vermittelst gewisser Merkmale, […] zuletzt auf Anschauungen, mithin, bei uns auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann. […] Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, so fern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung. Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt empirisch. Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung.« (Ebd., S. 69; Hervorh. C.L.) Bildungstheoretisch nicht uninteressant ist darüber hinaus das Verhältnis zwischen Anschauung und Vernunft, das Kant innerhalb seiner Überlegungen zur transzendentalen Dialektik (vgl. ebd., S. 308-338) wie folgt auf den Punkt bringt: »Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstande und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroffen wird, den Stoff der Anschauung zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen.« (Ebd., S. 311; Hervorh. C.L.) Damit sind die wichtigsten Begriffe genannt, um zunächst in Kants metaphysische Erörterungen zur Zeit einführen zu können, das heißt, jene Erörterungen, die in einer aristotelischen Tradition nach den Ursachen und Prinzipien von Zeit fragen (vgl. Adorno 1965, S. 23). Kant setzt diesem Bestreben die These voraus, dass Zeit keineswegs nur ein »empirischer Begriff« ist, sondern als »notwendige Vorstellung« bereits vorempirisch »allen Anschauungen zum Grunde liegt« (Kant 1787, S. 78). Angespielt ist somit auf die unwiderrufliche Existenz einer objektiven Weltzeit. Auf diese Weise wird betont, dass sämtliche Formen und Dimensionen des Wahrnehmens, des Denkens, des Erfahrens, des Erlebens, der Erkenntnis, also sämtliche Formen und Dimensionen des Konstruierens von Wirklichkeit, vorab in eine Zeit eingebettet sind:

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Die Verzeitlichung der Bildung

»Die Zeit ist also a priori gegeben« (ebd.; Hervorh. C.L.), was Kant als Grundvoraussetzung des subjektiven Vermögens zur Herstellung zeitlicher Verhältnisbestimmungen und Ordnungen kennzeichnet.3 Implizit ist dieser Kennzeichnung die Darlegung einer temporalen Eindimensionalität, der zufolge verschiedene individuelle Erscheinungen oder Wahrnehmungen, also verschiedene Zeiten eines Subjekts, niemals »zugleich« (ebd., S. 79), sondern ausschließlich nacheinander auftreten können, wobei dieses Nacheinander in eine übergreifende bzw. allumfassende Zeitordnung eingebettet ist. Exemplifizierend heißt das: Ein Subjekt nimmt ein Ereignis B später wahr als ein Ereignis A. Ereignis B und Ereignis A stehen folglich in einer temporalen Differenz zueinander. Diese Differenz kann innerhalb der Wahrnehmung des Subjekts zwar nicht aufgehoben, aber sehr wohl innerhalb einer metaphysischen Ordnung vereinheitlicht werden, die man dann erst richtig in den Blick bekommt, wenn man von einer objektiven oder weltlichen Zeit spricht. Die daraus von Kant gezogene Schlussfolgerung lautet: »Die Zeit ist kein diskursiver, oder, wie man ihn nennt, allgemeiner Begriff, sondern eine reine Form der sinnlichen Anschauung. Verschiedene Zeiten sind nur Teile eben derselben Zeit. Die Vorstellung, die nur durch einen einzigen Gegenstand gegeben werden kann, ist aber Anschauung. Auch würde sich der Satz, daß verschiedene Zeiten nicht zugleich sein können, aus einem allgemeinen Begriff nicht herleiten lassen. Der Satz ist synthetisch, und kann aus Begriffen allein nicht entspringen. Er ist also in der Anschauung und Vorstellung der Zeit unmittelbar enthalten.« (Ebd.) Es handelt sich hier um eine Schlussfolgerung, die mit aller Deutlichkeit die Subjektbezogenheit des kantischen Zeitbegriffs betont. Insofern ist auch dafür sensibilisiert, dass Zeit als weltliche Größe zwar unendlich sein mag, aber als subjektive Anschauung stets partikularisiert bleibt. Die eigene Lebenszeit ist kleiner als die Weltzeit. Die eigenen Wahrnehmungen sind nur Teil eines großen Ganzen, wie auch immer dieses Ganze zu beschreiben sei. Man muss diese triviale Unterscheidung so ausführlich anführen, weil sie schließlich das argumentative Fundament für Kants transzendentale Zeitbestim-

3

Daran lässt sich auch die Bedeutung des Zeitbegriffs für die kantische Philosophie im Allgemeinen erkennen, denn die Modi dieser Ordnungen sind »Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein« (Kant 1787, S. 216; ohne Hervorh.), die letztlich der Kategorie der Relation, also dem Zusammenspiel aus Substanz, Kausalität und Wechselwirkung entsprechen (vgl. ebd., S. 118).

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

mung darstellt, in deren Zentrum die Frage steht, wie sich der vorempirische Charakter von Zeit auf die empirische Zeitwahrnehmung von Subjekten bewusstseinsübergreifend verallgemeinern lässt, wie also Zeit als Gegenstand der subjektiven Wahrnehmung unabhängig von konkreten empirischen Ereignissen zu generalisieren ist. Kant leitet eine Antwort auf diese Frage mit der These ein, dass Zeit prinzipiell im Modus der Veränderung und im Modus der Bewegung »als Veränderung des Orts« wahrgenommen wird (ebd., S. 80; ohne Hervorh.). Der Rückgriff auf die Prämisse, dass diese beiden Modi als je individuell partikularisiert gelten und dementsprechend »nur durch und in der Zeitvorstellung möglich« (ebd.; ohne Hervorh.) sind, lässt ihn schließlich erkennen, dass Zeit in transzendentaler Hinsicht nicht nur eine reine Form der sinnlichen Anschauung im Allgemeinen ist, sondern ebenfalls eine spezifische »Form des inneren Sinnes« (ebd.) sein muss. Es handelt sich um eine Abstraktion, die dann konkretisiert werden kann, wenn zwischen den Wahrnehmungsmöglichkeiten von Raum und Zeit unterschieden wird. Der Raum ist daraufhin ebenfalls als eine Form der sinnlichen Anschauung zu deuten, die jedoch eine »Form aller Erscheinungen äußerer Sinne« (ebd., S. 75; Hervorh. C.L.) bleibt, weil sie stets auf etwas Gegenständliches zurückzuführt werden muss. Bei Kant heißt es: »Die Zeit ist die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt. Der Raum, als die reine Form aller äußeren Anschauung ist als Bedingung a priori bloß auf äußere Erscheinungen eingeschränkt. Dagegen, weil alle Vorstellungen, sie mögen nun äußere Dinge zum Gegenstande haben, oder nicht, doch an sich selbst, als Bestimmungen des Gemüts, zum inneren Zustande gehören; dieser innere Zustand aber unter der formalen Bedingung der inneren Anschauung, mithin der Zeit gehöret: so ist die Zeit eine Bedingung a priori von aller Erscheinung überhaupt.« (Ebd., S. 81; Hervorh. C.L.) Die zentrale Implikation dieses Passus liegt in der Ergründung dessen, dass das, was wir Zeit nennen, allein auf eine von materiellen, weltlichen Gegenständen beeinflusste, aber auf diese Materialität nicht vollends zurückzuführende Anschauung ausgelegt wird (vgl. Nassehi 1993a, S. 31). Zeit ist unter solchen Voraussetzungen nicht mehr ohne ein solches Subjekt zu denken, das Zeitordnungen herstellt, also Zeit in einem subjektiven Bewusstsein konstruiert.4 Wenn ihr damit die Basis einer ontologisch gründenden, absoluten 4

Naheliegende Einwände, dass Veränderungen von Wahrnehmungen sowie Bewusstseinsvorgänge im Allgemeinen bereits wirklich und »nur in der Zeit möglich« sind,

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Realität vollständig unter den Füßen entrissen ist (vgl. ebd., S. 31ff), so ist die Essenz der kantischen Zeittheorie für die Überlegungen der vorliegenden Arbeit primär darin auszumachen, dass sie eine Absicherung für die bereits oben angeführte Beobachtung liefert, dass die Zeitstrukturen der Welt nur mit der Annahme eines zeitwahrnehmenden Subjekts zu denken sind (vgl. Abschnitte 3.2 und 3.3). Darüber hinaus sensibilisiert sie in bildungstheoretischer Perspektive dafür, dass ein Bewusstsein von Zeit das Resultat der Beziehung zwischen Subjekt und Welt ist. Mehr noch: Kant kennzeichnet dieses Resultat als Grundkategorie der subjektiven Weltwahrnehmung: die Sinnlichkeit des Menschen ist zeitlich konstituiert. Unter derart gesetzten Voraussetzungen steht außer Frage, ob man den Aspekt Zeit mitzudenken hat, wenn man seine Überlegungen innerhalb der Differenz zwischen Subjekt und Welt verortet. Zusammenfassend kann daher konstatiert werden, dass Kant eine Klärung der zentralen Grundbedingungen subjektiver Verzeitlichung vornimmt,5 die allerdings auch dann drastisch an ihre Grenzen stößt, wenn man ihre prozessualen Implikationen befragt. Denn spätestens mit dieser Befragung wird deutlich, dass Kants Zeittheorie als eine begriffsbestimmende Theorie an der Schnittstelle zwischen Subjekt und Zeit gelesen werden muss,

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folglich die Zeit also »etwas Wirkliches« sein müsste, weist Kant von der Hand, indem er argumentiert: »Die Beantwortung hat keine Schwierigkeit. Ich gebe das ganze Argument zu. Die Zeit ist allerdings etwas Wirkliches, nämlich die wirkliche Form der inneren Anschauung. […] Sie ist also wirklich nicht als Objekt, sondern als die Vorstellungsart meiner selbst als Objekts [sic!] anzusehen. Wenn aber ich selbst, oder ein ander Wesen mich, ohne diese Bedingung der Sinnlichkeit, anschauen könnte, so würden eben dieselben Bestimmungen, die wir uns jetzt als Veränderungen vorstellen, eine Erkenntnis geben, in welche die Vorstellung der Zeit, mithin auch der Veränderung, gar nicht vorkäme. Es bleibt also ihre empirische Realität als Bedingung unsrer Erfahrungen. Nur die absolute Realität kann ihr nach dem oben Angeführten nicht zugestanden werden. […] Wenn man von ihr die besondere Bedingung unserer Sinnlichkeit wegnimmt, so verschwindet auch der Begriff der Zeit, und sie hängt nicht an den Gegenständen selbst, sondern bloß am Subjekte, welches sie anschauet.« (Kant 1787, S. 83f.) Gerade die abstrakte Gegenüberstellung zwischen einer metaphysischen und transzendentalen Zeit akzentuiert in diesem Sinne nichts Anderes als den Doppelcharakter von Zeit (vgl. Abschnitt 3.1). Dies lässt schließlich einsehen, warum Kants Zeittheorie als »Magna Charta« (Sandbothe 1997, o.S.) der modernen Zeitphilosophie gilt.

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

die einem theoretischen Anspruch an das, was Zeitwahrnehmung sein könnte, nicht mehr gerecht werden kann, indem sie »blind für die empirische Temporalität« des subjektiven Bewusstseins bleibt (Nassehi 1993a, S. 42). Verwiesen ist hier auf ein Desiderat, das in der historischen Folge erst durch die Phänomenologie Edmund Husserls gefüllt werden konnte, der Zeit als Untersuchungsgegenstand in die zeitphilosophische Bewusstseinstheorie einführte und bis heute als »wichtiger, wenn nicht der wichtigste Vertreter einer phänomenologischen oder auch subjektiven Zeitphilosophie« (Schmidt-Lauff 2008, S. 36) gilt.

4.1.2

Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (nach E. Husserl)

Um Husserls zeittheoretische Konzeptualisierungen des Bewusstseins angemessen aufarbeiten zu können, sind drei Referenzen von entscheidender Bedeutung: Zum Ersten Husserls verschriftlichte Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (vgl. Husserl 1928); zum Zweiten die von Martin Heidegger aus dem Nachlass Husserls veröffentlichte Textsammlung Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (vgl. Husserl 1893-1917). Beiden Texten liegt ein Interesse an Zeit zugrunde, das zum Dritten bereits in Husserls Darlegung allgemeiner Strukturen des Bewusstseins im ersten Buch seiner Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (vgl. Husserl 1922/2002, S. 141-178) geweckt wurde. Husserl deutet darin die Differenz zwischen einer »phänomenologischen Zeit, dieser einheitlichen Form aller Erlebnisse in einem Erlebnisstrome (dem eines reinen Ich) und der ›objektiven Zeit‹, d.i. der kosmischen Zeit« (ebd., S. 161; Hervorh. C .L.) als bewusstseinstheoretischen Problemzusammenhang an. Angesichts der Schwierigkeiten, die er in der Ergründung dieses Zusammenhangs sieht, bleibt es jedoch vorerst bei jenen Andeutungen: »Zum Glück können wir die Rätsel des Zeitbewußtseins in unseren vorbereitenden Analysen außer Spiel lassen, ohne ihre Strenge zu gefährden.« (Ebd., S. 163) Später verfolgt Husserl schließlich die phänomenologische Analyse des Zeitbewusstseins unter radikalem Ausschluss »jedweder Annahmen, Festsetzungen, Überzeugungen in betreff der objektiven Zeit (aller transzendierenden Voraussetzungen von Existierendem)« (Husserl 1928, S. 369). Damit ist eine ähnliche Subjektbezogenheit hervorgebracht, wie es bereits bei Kant der Fall war, obgleich Husserl die Erweiterung des transzendentalen Subjekts um die Vorstellung eines empirisch wahrnehmenden, geistig-intuitiven Subjekts anstrebt (vgl. Nassehi 1993a, S. 43f.; Schmidt-Lauff 2008, S. 36). Ausgangs-

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punkt dessen ist die Kennzeichnung des subjektiven Zeitbewusstseins als permanenten Umwandlungsprozess, als »Fluß des Bewußtseins« (Husserl 19831917, S. 268). Kants Terminus der Anschauung ist insofern um die Vorstellung »eines einheitlich andauernden Bemerkens« (ebd., S. 141) erweitert. Bei Husserl heißt es: »Was wir […] hinnehmen ist nicht die Existenz einer Weltzeit, die Existenz einer dinglichen Dauer u. dgl., sondern erscheinende Zeit, erscheinende Dauer als solche. Das […] sind absolute Gegebenheiten, deren Bezweiflung sinnlos wäre. Sodann nehmen wir allerdings auch eine seiende Zeit an, das ist aber nicht die Zeit der Erfahrungswelt, sondern die immanente Zeit des Bewusstseinsverlaufes.« (Ebd., S. 369; Hervorh. C.L.) Die Konkretisierung dieser Abstraktion gelingt Husserl am Beispiel der Bewusstwerdung bzw. des Hörens einer Melodie: »[W]ir hören die Melodie, d.h. wir nehmen sie wahr, denn Hören ist ja Wahrnehmen. Indessen, der erste Ton erklingt, kommt der zweite, dann der dritte usw. Müssen wir nicht sagen: wenn der zweite Ton erklingt, so höre ich ihn, aber ich höre den ersten nicht mehr usw.? Ich höre also in Wahrheit nicht die Melodie, sondern nur den einzelnen gegenwärtigen Ton. Daß das abgelaufene Stück der Melodie für mich gegenständlich ist, verdanke ich […] der Erinnerung; und daß ich, bei dem jeweiligen Ton angekommen, nicht voraussetze, daß das alles sei, verdanke ich der vorblickenden Erwartung. […] Jeder Ton hat selbst eine zeitliche Extension, beim Anschlagen höre ich ihn als jetzt, beim Forttönen hat er aber ein immer neues Jetzt, und das jeweilig vorausgehende wandelt sich in ein Vergangen. Also höre ich jeweils nur die aktuelle Phase des Tones, und die Objektivität des ganzen dauernden Tones konstituiert sich in einem Aktkontinuum, das zu einem Teil der Erinnerung, zu einem kleinsten, punktuellen Teil Wahrnehmung und zu einem weiteren Teil Erwartung ist.« (Husserl 1928, S. 385; Hervorh. C.L.) In dieser Beschreibung symbolisiert jeder einzelne Ton einen je neu eintretenden Zustand des Jetzt. Demnach wird das ganzheitliche Bemerken einer Melodie auf eine durch das Zusammenspiel zwischen Wahrnehmung, Erinnerung und Erwartung generierte Synthese zurückgeführt. Zur Analyse dieser Synthese schlägt Husserl drei Bewusstseinsmodifikationen vor: die Urempfindung, die Retention und die Protention (vgl. Husserl 1983-1917, S. 325f.). Urempfindungen gelten als Bewusstseinsmodifikation des Jetzt bzw. der Gegenwart. Insofern sie permanent durch neue Jetzt-Zustände abgelöst werden, stellen

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

sie als Form nacheinander folgender Sinneseindrücke den »absolut originäre[n]« Ausgangspunkt des ganzheitlichen Bemerkens dar, bei dem – um beim Beispiel der Melodie zu bleiben – »der jeweilige Ton-Punkt« stets »als selbstgegenwärtig, als jetzt leibhaft« (ebd.; ohne Hervorh.) erscheint. Urempfindungen unterliegen damit der temporalen Flüchtigkeit des Lebens: bei der Wahrnehmung einer Melodie werden einzelne Töne fortwährend abgelöst; bei der Wahrnehmung der Welt folgt ein Eindruck auf den nächsten. Diese Flüchtigkeit wird im Bewusstsein durch die Modifikation der Retention kompensiert, die als eine Art erinnernder »Seitenblick auf das, was gerade gelaufen ist« (Luhmann 2009, S. 85), ein »Präsenthalten von einzelnen Wahrnehmungen« (Nassehi 1993a, S. 48) zulässt, ohne die die Identifizierung einer Melodie letztlich nicht möglich wäre. Subjekte können Melodien demnach nur deshalb wahrnehmen, weil sie gegenwärtige Töne mit bereits vernommenen Tönen verknüpfen, weil sie wahrgenommene Jetzt-Zustände innerhalb einer retentionalen Reihe bzw. eines retentionalen Zusammenspiels miteinander verbinden. Es ist aufgrund unserer alltäglichen Erfahrungen nicht weiter erläuterungswürdig, dass eine solch retentionale Reihe nicht beliebig weit fortführbar ist. Wahrnehmungen sind stets dadurch geprägt, dass einzelne Momente präsenter oder intensiver erscheinen als andere und dass viele Momente aus der Erinnerung wieder verschwinden. Zeitbewusstsein im Sinne Husserls heißt folglich Aufbau und Zerfall zugleich (vgl. Nassehi 2011, S. 73). Das dafür empirisch evidente Beispiel findet sich in der Beobachtung eines Kometenschweifs (vgl. Husserl 1928, S. 391): So wie ein lang ausgedehnter Schweif am dunklen Abendhimmel irgendwann erlischt und in der Konsequenz bald nicht mehr zu erkennen ist, so endet eine Melodie oder verschwindet eine wahrgenommene Situation zunächst in einzelnen Ausprägungen und dann möglicherweise vollständig aus dem Bewusstsein bzw. aus den Erinnerungen der Subjekte.6 Das Beispiel des Kometenschweifs ist auch deshalb einschlägig, weil es sich ferner zur Erläuterung der protentionalen Bewusstseinsmodifikation eignet: Erblickt man einen Kometenschweif am Himmel, eröffnet dies unter 6

Während sich der Kometenschweif nicht wiederherstellen lässt, können einzelne Retentionsmodifikationen allerdings wieder ins Bewusstsein gerufen werden. Husserl bezeichnet dies als sekundäre Erinnerung oder Wiedererinnerung (vgl. Husserl 1928, S. 395ff). Sekundäre Erinnerungen beziehen sich nicht auf eine unmittelbare Wahrnehmung und sind somit von retentionalen Modifikationen – die in diesem Zusammenhang auch als primäre Erinnerungen zu verstehen sind – radikal zu unterscheiden (vgl. Sandbothe 1998, S. 96f.).

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Umständen die Vorahnung, dass sich jener Schweif in der von ihm eingenommenen Bewegungsrichtung immer weiter ausdehnen wird. Neben retentionalen Modifikationen sind Subjekte demzufolge ebenso dazu befähigt, ein erwartendes, vorausblickendes, ja, progressives Bewusstsein zu entwickeln, bei dem zukünftige Ereignisse oder Ereignisverläufe erahnt oder gar antizipiert werden können (vgl. Husserl 1928, S. 410; 1893-1917, S. 151f.). Diese Fähigkeit lässt sich auf die Wahrnehmung einer Melodie übertragen, eben dann, wenn beim Hören ein bestimmter Ton gedanklich erahnt wird (vgl. Nassehi 1993a, S. 48f.).7 Bei der Protention tritt also im Grunde genommen das in Kraft, was Pädagoginnen und Pädagogen für gewöhnlich als Erfahrungswissen bezeichnen. Die Unsicherheit dieses Wissens vergewissert zuletzt, dass protentionale Erwartungsperspektiven grundsätzlich imaginativ sind. Bei aller Erfahrung bleibt die Zukunft stets ungewiss. Zusammenfassend bilden die drei Modifikationen der Urempfindung, Retention und Protention das ab, was Subjekte je aktuell wahrnehmen. In diesem Sinne repräsentieren sie eine »›konkrete Lebensgegenwart‹« bzw. ein »›originäres Zeitfeld‹« (Prechtl 1991, S. 80). Die daraus resultierende bildungstheoretische Implikation lautet, dass das Welt- und Selbstverhältnis eines Subjekts stets als zeitlich konstituierte Einheit zu denken ist, in der die Gegenwart durch Wahrnehmung, Erinnerung und Erwartung verzeitlicht wird (vgl. auch Nassehi 1993b, S. 478). Gefunden ist damit ein analytisches Fundament, um das Verhältnis zwischen Subjekt und Welt im Kontext von Zeit weiter ausdifferenzieren zu können. Im Folgenden soll diese Ausdifferenzierung mit der Frage eingeleitet werden, welchen Einfluss verzeitlichte Gegenwarten auf das konkrete Erleben von Zeit nehmen. Diese Frage stellt sich mit der oben ausgearbeiteten Erkenntnis, dass Selbstbestimmung nicht nur auf bloßer Wahrnehmung aufbaut, sondern Erfahrungen voraussetzt, die auf Unsicherheiten oder Irritationen gründen (vgl. Abschnitt 2.4). Dies erfordert eine Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen Zeitbewusstsein und jenen qualitativen Erlebnissen, die daraus hervorgehen.

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Musikalischen Leserinnen und Lesern mag darüber hinaus das Phänomen bekannt sein, dass man hin und wieder bei selbst unbekannten Liedern Töne oder Textreime vorausahnt, wenngleich hier mit Horkheimer und Adorno kulturkritisch zu vermuten steht, dass dies nur bei anspruchsloser Musik möglich ist (vgl. Horkheimer/Adorno 1944, S. 133).

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

4.1.3

Zeitbewusstsein und qualitatives Erleben (nach H. Bergson)

Die Frage nach dem qualitativen Erleben von Zeit führt zu Henri Bergsons Hauptwerk Zeit und Freiheit. Das Werk stellt für diese Frage insofern eine Art Pionierarbeit dar, als Bergson das Verhältnis zwischen subjektiv erlebter und quantitativ objektivierter Zeit ausdifferenziert, was in der geisteswissenschaftshistorischen Folge wegbereitend für all jene Überlegungen sein sollte, die um diese Unterscheidung nicht umher kamen (vgl. Dux 1989, S. 13). Der theoretische Ausgangspunkt in Zeit und Freiheit ist die Einsicht, dass die Differenz zwischen subjektiv erlebter und objektivierter Zeit (alternativ: psychologischer und physikalischer oder innerer und äußerer Zeit) die analytische Unterscheidung zwischen Dauer (durée) und Zeit (temps) zulässt (vgl. Bergson 1889, S. 10 und S. 37). Die Rede von Dauer repräsentiert in diesem Sinne ein Empfinden von Intensität, das in einen Zusammenhang zu einer als externe Größe wirkenden, kontinuierlich fließenden Zeit gebracht wird (vgl. Bergson 1920/2012, S. 12).8 Es handelt sich hier um eine Perspektive, bei der nicht unerwähnt bleiben darf, dass sie maßgeblich durch die kartesianische Unterscheidung zwischen Intensität und Extensität beeinflusst wurde, die bei Bergson in die Unterscheidung zwischen Qualität und Quantität mündet (vgl. Bergson 1920/2012, S. 7-60; Nassehi 1993a, S. 35). Entscheidend für diese Interpretation ist die Beobachtung, dass individuelle Qualitätszuweisungen, wie z.B. »Empfindungen, Gefühle, Affekte und Willensanstrengungen« (Bergson 1920/2012, S. 9), im alltäglichen Sprachgebrauch oftmals quantifiziert werden. So scheint es legitim zu behaupten, dass das Schreiben eines Buches vielfach anstrengender ist, als das Schreiben eines Fachartikels. Ebenso ist zu vermuten, dass das Laufen eines Halbmarathons maximal halb so schwer sein kann, als das Laufen eines Marathons. Diese kurzen Beispiele verdeutlichen allerdings auch das Problem: gefühlten Intensitäten fehlt es an objektivierten Größenordnungen; sie sind folglich nicht in »quantitativ homogene Einheiten« (Schütz/Luckmann 1979, S. 82) einzuteilen. In Zeit und Freiheit liest man: »Wenn man behauptet, eine Zahl oder ein Körper sei größer als ein andrer, weiß man […] sehr wohl, wovon man spricht; denn in beiden Fällen ist von ungleichen Räumen die Rede […] und man nennt größer den Raum, der den 8

Dieser Zusammenhang ist weder kausal noch korrelativ, was leicht daran einzusehen ist, dass unser Zeitgefühl oftmals Einschätzungen über Uhrzeiten in die Irre führt (vgl. Russell 1967, S. 31).

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andern enthält. Wie aber sollte eine intensivere Empfindung eine solche von geringerer Intensität enthalten können? […] Diese Auffassung von der intensiven Größe scheint die des gemeinen Verstandes zu sein: man kann sie aber nicht zum Range einer philosophischen Erklärung erheben, ohne geradezu einen Zirkelschluß zu begehen. Es ist nämlich unbestreitbar, daß eine Zahl mehr ist als eine andre, wenn sie in der natürlichen Zahlenreihe ihren Platz hat nach ihr […]. Die Frage ist dann, zu wissen, wie es uns denn gelingt, eine derartige Reihe mit intensiven Größen zu bilden, die ja nicht aus Dingen bestehen, die aufeinander gelegt werden können, und woran wir denn erkennen, daß die Glieder dieser Reihe z.B. anwachsen, statt abzunehmen; und das läuft allemal auf die Frage hinaus, weshalb eine intensive Größe einer extensiven Größe vergleichbar sei.« (Bergson 1920/2012, S. 9f.) Ausgehend von diesen Grundannahmen nimmt Bergson zunächst eine Bestimmung der Art und Weise vor, wie Subjekte intensive Deutungen im Kontext extensiver Ereignisse konstruieren. Seine Exemplifizierung findet anhand der Wahrnehmung eines Schmerzes statt, die im Wesentlichen auf das Interesse zurückzuführen ist, »das ein mehr oder weniger großer Teil des Organismus daran zu nehmen sich veranlaßt sieht« (ebd., S. 33). Die empirische Bestätigung dieses Beispiels findet sich in der sozial durchaus verbreiteten Praktik, Kinder nach einem Sturz abzulenken, so dass dem Schock oder den womöglich zugeführten Schmerzen so wenig Beachtung wie möglich geschenkt und ein Weinen verhindert werden kann. Das lehrt mit großer Deutlichkeit, dass Wahrnehmungen und Intensitätszuschreibungen keinen starren Automatismen folgen, sondern auf variierenden Prozessen der Aufmerksamkeitslenkung beruhen. Gleichsam ist damit eine Einsicht formuliert, die sich problemlos im Kontext von Zeit anwenden lässt, beispielsweise dann, wenn das Ticken einer Uhr uns in der Ruhe der Nacht tonstärker erscheint, weil es »ohne weiteren Widerstand ein beinahe empfindungs- und vorstellungsleeres Bewußtsein in Beschlag nimmt« (ebd., S. 37). Nun scheint die bloße Wahrnehmung des Uhrtickens allerdings noch nicht ausreichend, um das Auftreten eines qualitativen Gefühls in Form einer temporal erfahrenen Dauer konstatieren zu können, denn es repräsentiert zunächst nicht mehr als eine auditiv wahrnehmbare Abfolge von Jetzt-Zuständen: »Ich sage z.B., daß soeben eine Minute abgelaufen ist, und will damit ausdrücken, daß eine Uhr, die die Sekunden anzeigt, 60 Schwingungen vollzogen hat. Stelle ich mir diese 60 Schwingungen auf einmal und durch einen

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

einzigen Apperzeptionsakt des Geistes vor, so schließe ich der Hypothese zufolge die Vorstellung einer Sukzession aus: ich denke nicht an 60 aufeinanderfolgende Schwingungsschläge, sondern an 60 Punkte an einer starren Linie, von denen jeder eine Schwingung der Uhr sozusagen symbolisiert. – Wenn ich mir andererseits diese 60 Schwingungen sukzessive vorstellen will, […] werde ich an jede Schwingung für sich zu denken haben, indem ich hierbei die Erinnerung an die vorhergehende ausschalte; denn der Raum hat keine Spur ihrer aufbewahrt: dadurch aber verurteile ich mich fortwährend im Gegenwärtigen zu bleiben, und verzichte darauf, eine Sukzession oder Dauer zu denken.« (Ebd., S. 80f.; Hervorh. C.L.) In Abgrenzung davon sieht Bergson die Genese eines temporal strukturierten Gefühls dann als möglich, wenn die Summe des Tickens »durch ihre Beziehung zur Zahl […] eine[r] meßbare[n] Größe, ganz analog dem Raume« gleicht (ebd., S. 80), so dass ein quantitatives Uhrticken zu einer Qualität werden kann. Eine entfaltete »Mannigfaltigkeit der Bewusstseinszustände« (Nassehi 1993a, S. 37) wird so zu einer sinnstiftenden Einheit zusammengeführt (vgl. Bergson 1920/2012, S. 68-72). Damit rückt man in eine argumentative Logik vor, die erstaunlich nah an Husserls Definition vom Zeitbewusstsein als Zusammenspiel zwischen Urempfindung, Retention und Protention liegt, was auch daran deutlich wird, dass Bergson ebenfalls das Beispiel der Melodie bemüht: »Die ganz reine Dauer ist die Form, die die Sukzession unsrer Bewußtseinsvorgänge annimmt, wenn unser Ich sich dem Leben überläßt, wenn es sich dessen enthält, zwischen dem gegenwärtigen und den vorhergehenden Zuständen eine Scheidung zu vollziehen. Dazu hat es keineswegs nötig, sich an die vorübergehende Empfindung oder Vorstellung ganz und gar zu verlieren; denn dann würde es ja im Gegenteil zu dauern aufhören. Ebensowenig braucht es die vorangegangenen Zustände zu vergessen: es genügt, wenn es diese Zustände, indem es sich ihrer erinnert, nicht neben den aktuellen Zustand wie einen Punkt neben einen andern Punkt stellt, sondern daß es sie mit ihm organisiert, wie es geschieht, wenn wir uns Töne einer Melodie, die sozusagen miteinander verschmelzen, ins Gedächtnis rufen.« (Ebd., S. 77) Allerdings zeigt dieses Zitat auch die Unterschiede zur Zeittheorie Husserls auf. Denn Bergsons Fokus liegt auf der Betonung des Sachverhalts, dass die Dauer über die bloße Zusammenführung unterschiedlicher Jetzt-Punkte hinausgeht. Sie setzt einen Interpretationsvorgang voraus, durch den einzel-

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ne Jetzt-Punkte im Bewusstsein in einer ganzheitlichen Form »sukzedieren« (ebd., S. 168), das heißt aufeinanderfolgen. Ebenso ist auf diese Weise eine Unterscheidung zu Kants transzendentaler Zeittheorie getroffen, die darauf gründet, dass Zeit a priori allen Wahrnehmungen vorausgeht, womit ein subjektives Bewusstsein stets zeitlich (vor-)strukturiert ist. Bergson hingegen beschreibt ein rückgekoppeltes Verständnis, bei dem auch Wahrnehmungen zumindest einen Einfluss auf zeitliche Dauern nehmen. Entsprechend ist eine im Bewusstsein konstituierte Dauer der Nacht z.B. dann kurz, wenn das Klingeln des Weckers und die damit drohende Gefahr eines durch Müdigkeit geprägten Arbeitstages unausweichlich näher rücken; demgegenüber ist sie lang, wenn die Sehnsucht nach der Überwindung der Dunkelheit und das Gefühl des Einsam-im-Bett-Liegens als immer intensiver und qualvoller empfunden werden. Das konstitutive Moment der Dauer ist in diesem Sinne die Verflechtung zwischen inneren Bewusstseinsvorgängen (geringe Schlafzeit vs. quälende Einsamkeit) und externen Gegebenheiten (das Klingeln des Weckers, das mit jeder Sekunde näher rückt). Insofern ist die Dauer Ausdruck einer reflexiven Interpretation des zeitlich strukturierten Welt-Verhältnisses der Subjekte. Sie ist, so Gilles Deleuze im Anschluss an Bergson, »ein ›Übergang‹ und ein ›Wandel‹; ein Werden, aber ein Werden, das dauert, und ein Wandel, der selbst Substanz ist. […] Denn was uns die Erfahrung liefert, ist immer ein raum-zeitliches Konglomerat.« (Deleuze 1989, S. 53; Hervorh. im Orig.) Bergson bezeichnet die Zeit deshalb auch als einen »Bastardbegriff […], der seinen Ursprung dem Eindringen der Raumvorstellung ins Gebiet des reinen Bewußtseins verdankt« (Bergson 1920/2012, S. 76). Der Prozess der Verzeitlichung stellt in diesem Sinne zuvorderst eine vom Subjekt im Bewusstsein vorgenommene Verräumlichung der Zeit dar (vgl. de Haan 1996, S. 23; Nassehi 1993a, S. 37). Das Abstraktionsniveau der Rede von einer verräumlichten Zeit und nicht zuletzt das Abstraktionsniveau, das die Zeittheorien Kants und Husserls auszeichnet, zwingt zu der Frage, was daraus – neben hilfreichen Begriffsbestimmungen – in bildungstheoretischer Hinsicht zu gewinnen ist. Eine erste Antwort auf diese Frage liefert die Einsicht, dass der Begriff der Verzeitlichung im hier dargestellten Sinne dem verändernden, bewegenden, prozesshaften oder übergangsartigen Wesen von Zeit (vgl. Kapitel 3) auf Seiten der Subjekte gerecht wird: sei es als eine vom Subjekt bloß wahrgenommene (Kant), temporal geordnete (Husserl) oder gefühlte (Bergson) Erscheinung. Diese Beobachtung lässt sich im Horizont zeitphilosophischer Theoriebildung mittels zweier fundamentaler »Formen zeitlicher Bestimmungen« (Weidenhaus 2015,

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

S. 24) weiter ausdifferenzieren, die John E. McTaggart in seinem Beitrag Die Irrealität der Zeit vorschlug.9 In diesem Beitrag wird zwischen transitorischen und relationalen Zeitbestimmungen unterschieden (vgl. McTaggart 1908, S. 68), die sich einerseits durch die Bezeichnungen vergangen, gegenwärtig und zukünftig und andererseits durch die Bezeichnungen vorher, gleichzeitig und nachher konstituieren. Folglich verweisen transitorische Zeitbestimmungen auf Geschichtlichkeit und relationale Zeitbestimmungen auf Chronologie (vgl. Weidenhaus 2015, S. 24f.). Wenngleich chronologische und geschichtliche Ordnungsmuster innerhalb des empirischen Prozesses der subjektiven Verzeitlichung oftmals miteinander vermischen bzw. erst gar nicht eindeutig voneinander zu trennen sind (vgl. ebd., S. 30f.), handelt es sich hier um eine Differenzierung, die bis heute »als Standardterminologie der analytischen Zeitphilosophie« (ebd., S. 24) gilt und darüber hinaus gerade deshalb ein bildungstheoretisches Interesse weckt, weil sie unterschiedliche temporale Reichweiten der Subjekt-Welt-Beziehung markiert. Während die chronologischen Rede von vorher, gleichzeitig und nachher einzelne Ereignisse primär in ein geordnetes Verhältnis zueinander setzt, liegt die Originalität einer geschichtlichen Rede von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft darin, dass sie nicht ohne Sinn- und Handlungszusammenhänge möglich ist, welche wiederum mit Identitäts- und Kontinuitätszuweisungen der Gegenwart einhergehen (vgl. Luhmann 1990, S. 127). Antworten auf die Frage, wer man in der Zukunft sein will, entscheiden in diesem Sinne maßgeblich darüber, wer man in der Gegenwart ist. Folglich darf Geschichtlichkeit nicht mit Geschichte oder geschichtlichen Zeiterfahrungen verwechselt werden (vgl. z.B. Koselleck 2013, S. 19-127). Denn entgegen einem weltgeschichtlichen Geschehen (vgl. Heidegger 1927/1993, S. 19) geht es hier um die temporale Struktur einer sinnhaft erfahrenen und handlungsbezogenen Welt, die auf den je individuellen Verzeitlichungsprozessen der Subjekte aufbaut. Die damit verbundenen Konsequenzen benennt beispielsweise der Soziologe Gunter Weidenhaus treffend, wenn er in seiner Monographie Soziale Raumzeit schreibt: »Die Vergangenheit kann uns lehren, die Zukunft herausfordern, gegenüber der Gegenwart können wir uns versündigen, indem wir sie ungenutzt verstreichen lassen. Diese Sinngehalte können auch völlig anders aussehen,

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Zur konstitutiven Bedeutung dieses Vorschlags für die Pädagogik vgl. mittlerweile auch Leineweber 2020b.

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entscheidend aber ist, dass geschichtliche Strukturen nur wegen und im Zusammenhang mit diesem Sinngehalt konstituiert werden. Die Zukunft existiert nur, weil sie Chancen eröffnet oder weil die Apokalypse droht. Ohne diese Sinnzuschreibungen gäbe es nur ein nachher, wie uns die Aborigines lehren.« (Weidenhaus 2015, S. 31) Für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit spielt es dabei eine wichtige Rolle, dass geschichtliche Zeitstrukturen im Besonderen eine Relevanz für die Ideale und Zielvorstellungen einer aufgeklärten Pädagogik einnehmen, wobei die Referenz auf eine offene Zukunft entscheidend scheint. Das Projekt der Moderne existiert demnach nur aus der Überzeugung heraus, dass die Zukunft besser als die Gegenwart und die Vergangenheit sein kann. Bildung ist unter solchen Voraussetzungen vor allem ein Versprechen auf die Zukunft, womit Geschichtlichkeit zur zentralen zeitlichen Rahmung des zu bildenden und des sich bildenden Subjekts avanciert. Aus diesen Querverbindungen entspringt schließlich die Notwendigkeit einer vertiefenden Auseinandersetzung mit dem von Heidegger in Sein und Zeit ausgearbeiteten Begriff der Zeitlichkeit, wie er bereits oben kursorisch in diese Arbeit eingeführt worden ist (vgl. Abschnitt 3.2). Im Zuge dieser auftretenden Notwendigkeit ist es zunächst durchaus bemerkenswert, dass Heideggers Werk in den bislang vorliegenden pädagogischen Auseinandersetzungen mit Zeit lediglich eine marginale Rolle spielt (vgl. Abschnitt 3.1). Heideggers nur mühselig zugängliche Sprache, seine später publik gewordenen politischen Neigungen (vgl. z.B. Heinz/Kellerer 2016) und die auf den ersten Blick nur schwer einsehbare empirische Anschlussfähigkeit von Sein und Zeit mögen dafür gute Gründe liefern. Mit der Anerkennung einer Verbindung zwischen Geschichtlichkeit und moderner Subjektivität weichen diese Aspekte aber einer inhaltlichen Bedeutung, stößt man in Sein und Zeit doch auf die Konturierung eines Subjekts, das sich fundamental durch die Sorge um die eigene Existenz konstituiert, wobei ebendiese Sorge an eine aus der Zukunft in die Gegenwart eintreffende Zeit gebunden ist (vgl. Baecker 2013a, S. 117; Han 2007a, S. 31). Die Explikation dieser Konturierung steht im Fokus der folgenden Betrachtungen, die sich darüber hinaus auch philosophiehistorisch aufdrängt, weil Heideggers Begriff der Zeitlichkeit einerseits aus der kritischen Auseinandersetzung mit der Zeittheorie Kants resultiert und folglich als theoretische Weiterführung der reflexiven Verzeitlichung des Subjekts zu lesen ist (vgl. Sandbothe 1997, o.S.). Andererseits ist Heideggers Zeitphilosophie aus dem Anspruch heraus entstanden, die Phänomenologie Husserls

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

weiterzudenken (vgl. Figal 2009, S. 46-50). Zeitlichkeit zu verstehen, bedeutet demnach in der Anschlussnahme Heideggers ebenso, »die phänomenologische Explikation der Zeit« (Heidegger 1924, S. 4; ohne Hervorh.) weiterzuführen.

4.1.4

Geschichtlichkeit und Subjektivität (nach M. Heidegger)

Gegenüber den Zeittheorien Kants, Husserls und Bergsons zieht eine Auseinandersetzung mit Heideggers Sein und Zeit eine Veränderung der Argumentationsperspektive nach sich, fort von den Bedingungen und Formen der subjektiven Verzeitlichung, hin zu der Frage nach der Konstitution des Subjekts im Kontext geschichtlicher Zeitstrukturen. Dieser Wechsel ist vor allem Heideggers kritisch gearteter Haltung gegenüber den zeitphilosophischen Positionen seiner Zeit geschuldet, die in das Bestreben mündet, einen neu zu gewinnenden »Begriff der Zeit gegen das vulgäre Zeitverständnis [gemeint ist: die Verzeitlichung des Subjekts, C.L.] abzugrenzen, das explizit geworden ist in einer Zeitauslegung, wie sie sich im traditionellen Zeitbegriff niedergeschlagen hat, der sich seit Aristoteles bis über Bergson hinaus durchhält« (Heidegger 1927/1993, S. 17f.; ohne Hervorh.). Auf diese Weise gelingt Heidegger eine Freilegung »der metaphysischen Seinsfrage aus dem Horizont der [von Kant bis Bergson verfolgten, C.L.] Zeiterfahrung« (Habermas 1992a, S. 56). Das Resultat ist eine ausgearbeitete »Fundamentalontologie« (Heidegger 1927/1993, S. 13) bzw. »Existenzialontologie« (Adorno 1960/1961, S. 14), die eine »ontologische Analytik« (Heidegger 1927/1993, S. 13) des menschlichen Seins hervorbringt. Um im Folgenden die relevanten Implikationen dieser Auslegung für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit erschließen zu können, scheint es zunächst geboten, eine Auswahl an zentralen Begriffsprägungen Heideggers einzuführen.10 In Anbetracht der komplexen und nicht weniger komplizierten Argumentationsstruktur in Sein und Zeit beschränken sich die Darstellungen auf jene Begriffe, die sich als relevant erweisen, um dem Hauptanliegen des vorliegenden Abschnitts gerecht werden zu können:

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Eine pointierte, sich auf die Begriffe Dasein und Sinn konzentrierende Fassung der hier ausgearbeiteten Heidegger-Interpretation liegt mittlerweile auch durch den Beitrag Die Sorge um Zukunft – Pädagogische Überlegungen zum Zusammenhang von Geschichtlichkeit und Menschsein vor (vgl. Leineweber 2020b).

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Die Verzeitlichung der Bildung

die Akzentuierung einer durch die Sorge um Zukunft strukturierten Zeitlichkeit der Subjekte.11 Den Ausgangspunkt stellt Heideggers »ontologische Bezeichnung« (Han 2016a, S. 39) für den Menschen dar: das »Dasein«,12 definiert als das »Seiende, das wir selbst je sind und das unter anderem die Seinsmöglichkeit des Fragens hat« (Heidegger 1927/1993, S. 7). Diese Definition, die sowohl eine spezifisch räumliche (Da) als auch zeitliche (Da-sein) Verfassung anzeigt (vgl. Avanessian 2018a, S. 68), ist anknüpfungsfähig an den Subjektbegriff der vorliegenden Arbeit, denn der theoretische Ort des Daseins ist die Beziehung zwischen Subjekt und Welt,13 die Heidegger bekanntlich als »In-der-Welt-sein« chiffriert und mithin als »Grundverfassung des Daseins« bestimmt (Heidegger 1927/1993, S. 52f.). Dasein ist in diesem Sinne die Konsequenz des In-derWelt-seins; Dasein ist die seinsspezifische Besonderheit des Subjekts, die in bildungstheoretischer Hinsicht auf der Basis seiner Wechselwirkung zur Welt gründet. Wenn Heidegger dem Dasein zudem die Seinsmöglichkeit des Fragens unterstellt, dann deutet dies auf eine prinzipielle Weltoffenheit der Subjekte hin, die er im Begriff der »Geworfenheit« zusammenfasst: den »unverhüllte[n] erschlossenen Seinscharakter des Daseins, dieses ›Daß es ist‹ nennen wir die Geworfenheit dieses Seienden in sein Da, so zwar, daß es als In-derWelt-sein das Da ist« (ebd., S. 135). Die subjektbezogene Konsequenz der Geworfenheit ist die Möglichkeit zum »Entwurf« des »Seinkönnens des Daseins«

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Die Sorge im Allgemeinen und die individuelle Sorge um die Zukunft finden sich in der Philosophie nicht nur durch Heidegger thematisiert. Mit zusätzlichem Verweis auf Helmuth Plessner ist sie als eine anthropologische Grundkonstante interpretierbar (vgl. z.B. Plessner 1982, S. 28). Einen umfangreichen Einstieg in diese Thematik, einhergehend mit einer interdisziplinären Erweiterung auf Soziologie und Theologie, liefert z.B. der Sammelband Dimensionen der Sorge (vgl. Henkel et al. 2016). Im Folgenden werden Heideggers größtenteils eigentümlich erscheinende Begrifflichkeiten zunächst als Zitation eingeführt, um sie fortan in einer kursiven Schreibweise weiterverwenden zu können. Ihre Bestätigung findet diese Verbindung beispielsweise bei Adorno, der in seiner neunten Vorlesung zur Ontologie und Dialektik vom 13. Dezember 1960 seinen Studierenden folgende Überlegung unterbreitet: »Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß Sie Dasein mit Subjekt, Mensch – in einem zwar nicht spezifisch individuellen, aber doch in einem so einigermaßen das Menschenwesen treffenden Sinn – übersetzen sollen, wenn Sie vorläufig ein Verständnis dafür gewinnen wollen, was hier mit Dasein gemeint ist.« (Adorno 1960/1961, S. 129) Dazu ergänzend vgl. ebenfalls Sandbothe 1997, o.S.

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

(ebd., S. 147), den Heidegger wiederum als »Faktum der Geworfenheit« (ebd., S. 148) in Form des Ausschöpfens bestehender Möglichkeiten präzisiert. Auf Basis dieser theoretischen Setzung verharrt die Zeitlichkeit des Subjekts nicht als verhängnisvolles Schicksal. Sie bietet vielmehr Gestaltungsräume. Gerade die im Entwurf zur Geltung kommenden Möglichkeiten der Subjekte bestimmen daher ihr Verhältnis zur Zukunft (vgl. Han 2014b, S. 21). Damit kann Heidegger Zeitlichkeit als Sinnstruktur des Daseins, das heißt als »der Sinn desjenigen Seienden, das wir Dasein nennen« (Heidegger 1927/1993, S. 17), ausweisen. Ihre argumentative Reichweite gewinnt diese Einsicht mit dem Hinweis, dass Sinn in Sein und Zeit wiederum auf ein »Woraufhin des primären Entwurfs« zielt, »aus dem her etwas als das, was es ist, in seiner Möglichkeit begriffen werden kann« (ebd., S. 324). Der Entwurf erhält demzufolge im Horizont von Sinn eine intentionale Struktur: »Das Entwerfen erschließt Möglichkeit, das heißt solches, das ermöglicht.« (Ebd.) Es handelt sich um eine von Heidegger akzentuierte Intentionalität, die bereits anhand der ursprünglichen Bedeutung des Wortes »›Sinn‹ (mhd. Sin)« als »›Gang‹, ›Reise‹ und ›Weg‹« zu erkennen ist: Sinn ist stets »an eine bestimmte Richtung, an ein bestimmtes Ziel gekoppelt. Der Ausdruck ›Uhrzeigersinn‹ etwa deutet auf seine Gerichtetheit hin.« (Han 2007b, S. 25; Hervorh. im Orig.) Alles in allem sind damit die wichtigsten Voraussetzungen genannt, unter denen die Sorge des Subjekts um seine Zukunft als der zentrale Wesenszug einer sinnstiftenden Zeitlichkeit lesbar zu machen ist (vgl. Heidegger 1927/1993, S. 180; Luckner 1997, S. 137). Heidegger schreibt pointiert: »Die Sorge liegt als ursprüngliche Strukturganzheit existenzial-ontologisch ›vor‹ jeder, das heißt immer schon in jeder faktischen ›Verhaltung‹ und ›Lage‹ des Daseins.« (Heidegger 1927/1993, S. 193; Hervorh. im Orig.) Aus dem Zusammenspiel zwischen Sorge und einer auf Zukunft abstellenden Seinsmöglichkeit des subjektiven Daseins entwickelt sich auf diese Weise ein »motivierender Zukunftsbezug« (Lindemann 2016, S. 78), der in Phänomenen wie »Wille, Wunsch, Hang und Drang« (Heidegger 1927/1993, S. 182) fundiert ist. Folglich lässt sich die Sorge des Subjekts um seine Seinsmöglichkeit auch als »Grundzug des menschlichen Daseins« (Han 2007a, S. 69; Hervorh. im Orig.) interpretieren, der maßgebend für das ist, was das Subjekt aus seiner Seinsmöglichkeit heraus wirklich werden lässt.14 Die Bedeutung dieser Interpretation für das 14

Als Beleg für diese Lesart verweist Heidegger auf die Cura-Fabel des römischen Gelehrten Hyginus: »Cura prima finxit: Dieses Seiende hat den ›Ursprung‹ seines Seins in der Sorge. Cura teneat, quamidu vixerit: Das Seiende wird von diesem Ursprung nicht

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Subjekt finden sich in der stark durch die Lektüre Heideggers beeinflussten Schrift Philosophie des Zen-Buddhismus des Philosophen Byung-Chul Han auf den Punkt gebracht, wo es heißt: »Sein ist Sorge. Im Sein geht es mir um mein Sein. Die Sorge bezeichnet diese Bezogenheit auf sich. Wenn ich handle, nehme ich die Welt auf meine Seinsmöglichkeiten hin in den Blick. Der Blick auf die Welt ist nicht leer. Er ist besetzt von meinen Seinsmöglichkeiten, d.h. vom Selbst. Wenn ich z.B. einen Raum gestalte, verändere ich ihn auf eine meiner Seinsmöglichkeiten hin. Der Blick auf die Welt ist also immer gerichtet. Er wird gelenkt von meinen Seinsmöglichkeiten. Erst diese lassen mir die Welt sinnvoll bzw. in ihrer Sinnhaftigkeit erscheinen. So artikulieren die Seinsmöglichkeiten, die ich um meiner selbst willen entwerfe, die Welt, verleihen dieser erst einen Sinn, d.h. eine Richtung. Der Entwurf der Seinsmöglichkeiten setzt ein Streben voraus. Ich entwerfe nämlich die Seinsmöglichkeiten um meiner selbst willen. Ohne diesen ursprünglichen Willen ist die Welt für mich nicht. Das Streben, der appetitus läßt mir also die Welt erst sein. Sein heißt Streben. Die Sorge bedeutet letzten Endes nichts anderes als dieses Bestrebt-Sein. Sie ist die Seinsformel des menschlichen Daseins, das auf sich hin existiert.« (Han 2007a, S. 71; Hervorh. im Orig.) Han betont hier mit aller Deutlichkeit, dass die Frage nach einer ontologischen Beschreibung des Subjekts mit einem Verweis auf ein solches (Da-)Sein zu beantworten ist, das durch ein progressives Streben strukturiert ist. Es ist eine Antwort, die schließlich ihre endgültige Wirkkraft mit einer letzten Begriffsbestimmung Heideggers erhält, wonach der Ursprung des Strebens in der »Erschlossenheit« (Heidegger 1927/1993, S. 212) liegt, die sich aus der Angst um den eigenen Tod, das heißt aus der Angst des Subjekts um das Ende seines Daseins, um das Ende seiner Beziehung zur Welt heraus entwickelt (vgl. ebd., S. 305). Erschlossenheit »birgt das eigentliche Sein zum Tode in sich als mögliche existenzielle Modalität ihrer eigenen Eigentlichkeit« (ebd.). Sie entlassen, sondern festgehalten, von ihm durchherrscht, solange dieses Seiende ›in der Welt ist‹. Das ›In-der-Welt-Sein‹ hat die seinsmäßige Prägung der ›Sorge‹. Den Namen (homo) erhält dieses Seiende nicht mit Rücksicht auf sein Sein, sondern in bezug darauf, woraus es besteht (humus). Worin das ›ursprüngliche‹ Sein dieses Gebildes zu sehen sei, darüber steht die Entscheidung bei Saturnus, der ›Zeit‹. […] Die in der Fabel ausgedrückte vorontologische Wesensbestimmung des Menschen hat sonach im vorhinein die Seinsart in den Blick genommen, die seinen zeitlichen Wandel in der Welt durchherrscht.« (Heidegger 1927/1993, S. 198f.; Hervorh. C.L.)

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

ist somit interpretierbar als Handlungsantrieb im Kontext subjektiver Seinsmöglichkeit(en). Sie baut sich innerhalb der Beziehung zwischen Subjekt und Welt, also innerhalb des Spannungsfeldes zwischen eigener Lebenszeit, objektiver Weltzeit und den individuellen Möglichkeiten der Lebensgestaltung auf (vgl. bereits Abschnitt 3.2 und 3.3). Dadurch konstituiert sich gerade mit der Akzeptanz des eigenen Todes die Sinnstruktur des heideggerschen Sorgebegriffs, »also das, worum es ihr geht: unsere Endlichkeit qua Zeitlichkeit« (Luckner 1997, S. 126). Heideggers Perspektive ist damit voraussetzungsvoll, kann sie letztlich nur in solchen Kulturen lesbar gemacht werden, in denen der Tod das Ende jeglicher Existenz markiert.15 Das Argumentationsgerüst aus Sein und Zeit ist damit für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit hinreichend erläutert, wenngleich zunächst die Frage berechtigt scheint, wie mit den damit verbundenen Beschreibungen empirisch anschlussfähig weiterzuarbeiten ist. Eine mögliche Antwort auf diese Frage kann nun wie folgt formuliert werden: Heideggers Beschreibungen lassen auf der einen Seite die im Kontext der Geschichtlichkeit zutage tretende Zeitabstraktion der Zukunft priorisieren, denn das Subjekt kann nur in der Zukunft seine Handlungsmöglichkeiten realisieren, kann sich als geworfenes Dasein nur in die Zukunft entwerfen. Außer Frage steht dabei, dass in die Zukunft ragende Handlungen stets auf der eigenen Vergangenheit beruhen (das Dasein muss in die Welt geworfen sein; es hat Erfahrungen gesammelt, die seine Handlungen prägen usw.) und nur im Jetzt zu realisieren sind. Um dieses Zusammenspiel und seine inhärente Priorisierung begrifflich in den Blick zu bekommen, lässt sich zum Ende von Sein und Zeit der Begriff der »gewesend-gegenwärtige[n] Zukunft« (Heidegger 1927/1993, S. 326) als Vorschlag einer spezifischen Bezeichnung für die Zeitlichkeit des Subjekts finden. Es ist ein Vorschlag, der unter anderem auch dafür sensibilisiert, dass Fragen nach Selbstbestimmung im Kontext von Zeit nicht nur das bloße Verhältnis des Subjekts zur Zeit zu untersuchen haben. Vielmehr müssen sie sensibel dafür sein, dass Handlungen abhängig von den Beziehungen sind, die Subjekte zu ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einnehmen. In der zeitphilosophischen Forschungstradition wurde die von

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Zweifelsohne ist der Tod nicht permanent in unserem Handeln präsent. Seine nicht zu leugnende Wirkkraft ist nichtsdestotrotz darin erkennbar, dass sich die Handlungswünsche, Lebensgestaltungen und Gedanken von Menschen über das Leben dann schlagartig ändern können, wenn sie mit dem Tod konfrontiert werden, wie z.B. der Film Now is Good von Ol Parker aus dem Jahr 2012 eindrucksvoll zeigt.

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Die Verzeitlichung der Bildung

Heidegger betonte, enge Verwobenheit zwischen Subjekt und Zeit vor allem in der französischen Phänomenologie durch Maurice Merleau-Ponty aufgenommen, der Heideggers Ausdruck der ›gewesend-gegenwärtigen Zukunft‹ in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung interpretiert als »Zukunft, die zur Vergangenheit wird, indem sie zur Gegenwart kommt« (Merleau-Ponty 1945, S. 478). Darüber hinaus wird Heideggers Dasein von Merleau-Ponty mit der Theorieanalage des Leibes informiert,16 was an dieser Stelle noch einmal die enge Verwobenheit zwischen Subjekt und Zeit unter dem Deckmantel einer sorgestiftenden Zukunft akzentuieren lässt: »Eine Vergangenheit und Zukunft entspringen, indem ich nach ihnen aushole. Für mich selbst aber bin ich nicht zu dieser Stunde, bin ich ebensosehr am Morgen dieses Tages und in der kommenden Nacht, und meine Gegenwart ist zwar, wenn man so will, dieser Augenblick, aber ebensosehr dieser Tag, dieses Jahr, mein ganzes Leben. Den Übergang von einer Gegenwart zur anderen denke ich nicht, ich schaue ihm nicht zu, ich vollziehe ihn, ich bin je schon bei der Gegenwart, die kommen wird […].« (Ebd. 1945, S. 478f.) Auf der anderen Seite ist bemerkenswert, dass Heideggers Theorie letztlich nur deshalb ihre vollständige Argumentationskraft entfalten kann, weil das Dasein radikal auf seine zeitliche Begrenzung zurückgeführt wird. Heideggers Fundamentalontologie ist in diesem Sinne das Resultat einer Priorisierung des Todes gegenüber dem Leben (vgl. Adorno 1960/1961, S. 217). Es handelt sich hier um eine Priorisierung, die sich in der Philosophie durchaus häufiger finden lässt. Drastisch bringt es z.B. Paul Virilio auf den Punkt, der das Leben als »Sturz zum Tode« beschreibt (Virilio 1993, S. 44). In zeittheoretischer Hinsicht ist dabei vor allem entscheidend, dass das Wissen um den Tod ein sozial übermitteltes Wissensgut darstellt, das einem alleinstehenden Individuum niemals zugänglich ist. Mit anderen Worten ist das Wissen um den Tod also keine Erfahrung a priori, sondern eine Wirklichkeit, die überliefert werden muss. Auf diese Weise ist dafür sensibilisiert, dass einer Zeitlichkeit der Subjekte nicht ausschließlich durch die Ergründung bewusstseinskonstituierter

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Eine zentrale Definition des Leibes lautet: »Der eigene Leib ist in der Welt wie das Herz im Organismus: er ist es, der alles sichtbare Schauspiel unaufhörlich am Leben erhält, es innerlich ernährt und beseelt, mit ihm ein einziges System bildend.« (MerleauPonty 1945, S. 239) In Abgrenzung zu Heidegger ist die Beziehung zwischen Subjekt und Welt damit kein In-der-Welt-Sein mehr, sondern eher ein »Zur-Welt-Sein« (ebd., S. 421).

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

Prozesse und damit verbundenen Konsequenzen nachzukommen ist. Vielmehr sind auch soziale Aspekte zu berücksichtigen, was nunmehr allen Anlass bietet, um von zeitphilosophischen hin zu zeitsoziologischen Perspektiven überzugehen.

4.2

Zeit und Sozialität: Soziologische Perspektiven auf Zeit

Im Folgenden werden die dargelegten zeitphilosophischen Perspektiven um zeitsoziologische Perspektiven ergänzt. Im Zentrum steht dabei der Zusammenhang zwischen Zeit und Sozialität, der den philosophisch relevanten Zusammenhang zwischen Zeit und Zeitbewusstsein flankiert. Um eine Brücke zwischen den beiden Disziplinen schlagen zu können, wird Zeit zunächst im Anschluss an Alfred Schütz und Thomas Luckmann als lebensweltliches Strukturelement beschrieben (vgl. Abschnitt 4.2.1). Damit lässt sich vor allem die Frage klären, welche Bedeutung zeitliche Strukturen für die Aufrechterhaltung des gemeinschaftlichen Lebens einnehmen. Schütz’ und Luckmanns Argumentationen sind wissenssoziologischer Natur, wobei zu zeigen sein wird, dass gerade dies in besonderer Weise an die Phänomenologie Husserls, genauer gesprochen an Husserls Begriff der Intersubjektivität anschließt. Die Perspektive auf Zeit als Phänomen intersubjektiv geteilter Lebenswelten gestattet schließlich einen Rekurs auf Norbert Elias, der den im gesellschaftlichen Zusammenleben entstehenden Konflikt zwischen einer dem Subjekt zuzuschreibenden Eigenzeit und einer sozialen Zeit aus einer sozio-kulturellen und mithin wissenssoziologischen Perspektive weiter beleuchten lässt (vgl. Abschnitt 4.2.2).

4.2.1

Zeit als lebensweltliches Strukturelement (nach A. Schütz und Th. Luckmann)

Wenn das Konzept der Lebenswelt einen Übergang von zeitphilosophischen hin zu zeitsoziologischen Analysen einleiten soll, dann führt dies im Hinblick auf die wissenschaftstheoretische Genese des Begriffs zunächst noch einmal zurück zur Phänomenologie »des späten« Husserls, die den ersten »durchanalysierten Lebensweltbegriff« (Habermas 1995b, S. 182 und S. 192) liefert. In diesem Rahmen muss zunächst in aller Kürze auf Husserls Schrift Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie Bezug genommen werden, um die theoretische Grundlegung für eine sozio-

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logische Perspektive auf Zeit entfalten zu können, die das Lebensweltkonzept in ihren Mittelpunkt stellt.17 In der präzisesten Formulierung ist Lebenswelt bei Husserl die »je erfahrende und erfahrbare Welt« (Husserl 1934-1937, S. 124). Diese Konzeption richtet ihre Aufmerksamkeit auf das ›Wie?‹ der subjektiven Welterfahrung (vgl. Habermas 1992b, S. 36). Lebenswelt behauptet sich in diesem Sinne als eine »Gesamtheit tatsächlicher und möglicher Erfahrungshorizonte menschlichen Lebens« (Tenorth/Tippelt 2012, S. 451), die jeweils individuell durch präsente Erlebnisse und Erinnerungen konstituiert ist (vgl. Husserl 1934-1937, S. 130). Prägend dafür ist ein »Transcendentalismus«, der den »Seinssinn der vorgegebenen Lebenswelt« als bewusstseinsübergreifendes »Gebilde« vorausgibt (ebd., S. 144). Insofern liegt auch dieser Konzeptualisierung ein starker Bezug zum Subjekt zugrunde. Denn letztlich sind es die Subjekte, die ein alltägliches Verhältnis zur Welt eingehen und dabei durch ihre Fähigkeiten des Wahrnehmens, Denkens, Bewertens, Erfahrens etc. zu geistigen Lebensweltkonstrukteuren avancieren. Der interpretative Spielraum, der jenen Konstruktionen implizit ist, zieht als Konsequenz nach sich, dass unklar bleiben muss, inwieweit lebensweltliche Konstruktionen mit physischen Weltkonstellationen tatsächlich konform gehen (vgl. Schiemann 2015, S. 211; Weidenhaus 2015, S. 18). Folgerichtig liegt dem Konzept der Lebenswelt die ontologische Unterscheidung zwischen Realität und Wirklichkeit zugrunde. Lebensweltliche Phänomene sind daher Erfahrungsbereiche alltäglicher Selbstverständlichkeit; in Unterscheidung zur physischen Welt, die gemäß Husserl das Universum der Dinge meint, ist hier der Ursprung aller weltlichen Evidenzen thematisiert (vgl. Husserl 1985, S. 131-191). Innerhalb der (Wissens-)Soziologie ist Husserls phänomenologischer Lebensweltbegriff erstmals ausführlich in dem von Alfred Schütz nachgelassenen und in der Folge durch Thomas Luckmann ausgearbeiteten Manuskript zu den Strukturen der Lebenswelt verhandelt worden.18 Das Ergebnis ist die 17

18

Im Rückblick auf das bislang Argumentierte drängt sich womöglich die Frage auf, inwiefern »Husserls Weg zur transzendentalen Phänomenologie zugleich ein Weg zur Phänomenologie der Lebenswelt ist« (Sommer 1990, S. 60). Die Frage kann hier aufgrund ihres primär philosophiehistorischen Charakters nicht weiter vertieft werden. Interessierte Leserinnen und Leser seien diesbezüglich auf Manfred Sommers Monographie Lebenswelt und Zeitbewußtsein verwiesen (vgl. ebd. S. 59-90). Schütz’ intensive Auseinandersetzung mit der Phänomenologie Husserls im Speziellen, aber auch mit der Bewusstseinsphilosophie im Allgemeinen (v.a. mit Bergson und McTaggart) ist weitreichend durch den zweiten Abschnitt der Monographie Der sinn-

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

Charakterisierung von Lebenswelt als eine von Subjekten geteilte Weltinterpretation. Husserls subjektiv konstituiertes Lebensweltkonzept findet sich damit intersubjektiv gewendet: ihre Grundstruktur geht auf eine Gemeinschaftlichkeit zurück (vgl. Schütz/Luckmann 1979, S. 25f.). Dieser Einsicht liegt eine Orientierung an einem phänomenologischen Lebensweltkonzept insofern zugrunde, als das Auftreten intersubjektiver Strukturen unabdingbar die Existenz subjektiver Erfahrungen vorauszusetzen hat (vgl. Habermas 1995b, S. 196). Eine Vertiefung des »phänomenologische[n] Problem[s] der Intersubjektivität« lehnen Schütz und Luckmann jedoch ab, um sich stattdessen den intersubjektiv konstituierten Lebensweltstrukturen einer »Sozialbzw. Kulturwelt« widmen zu können (Schütz/Luckmann 1979, S. 27).19 Ausgangspunkt dieser Widmung ist die alltägliche Lebenswelt (ebd., S. 62ff), die eine Perspektive auf das handelnde Subjekt fokussiert. Der Begriff wird bereits von Luckmann in der zusammen mit Peter L. Berger publizierten Monographie Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit exploriert und dort als die subjektiv konstruierte »Wirklichkeit par excellence« definiert (Berger/Luckmann 1969/2009, S. 24). In ihr ist »die Anspannung des Bewußtseins am stärksten, das heißt die Alltagswelt installiert sich im Bewußtsein in der massivsten, aufdringlichsten, intensivsten Weise« (ebd., S. 24). Die alltägliche Lebenswelt stellt dementsprechend jene Rahmungen bereit, in denen es Widerstände und Anstrengungen zu überwinden gilt; sie ist der Ort, an dem Dinge versucht und Ziele verwirklicht werden können, der Ort, an dem man erfolgreich ist oder letztlich scheitern kann (vgl. ebd.). Von entscheidender Bedeutung ist, dass Schütz und Luckmann ihren Betrachtungen zur alltäglichen Lebenswelt eine zeitliche Struktur zugrunde legen, die sich innerhalb des Spannungsfeldes zwischen subjektiver und objektiver Zeit konstituiert (vgl. ebd., S. 73-86). Ihr Verständnis von subjektiver Zeit knüpft dabei an die bis dato vorliegenden philosophischen Vorstellungen vom zeitreflexiven Subjekt an. Ausgangspunkt ist zunächst die Rede von einer subjektiven »Zeitstruktur der Reichweite«, die das Wahrnehmen und Handeln der Subjekte wiederum in »eine aktuelle Reichweite« (Gegenwart), »wiederherstellbare Reichweite« (Erinnerung) und »erlangbare Reichweite« (Erwar-

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hafte Aufbau der sozialen Welt dokumentiert (vgl. Schütz 1932/1981, S. 62-136). Das Werk gilt als eines der grundlegenden Werke für die Wissenssoziologie. Diese Ablehnung ist im Wesentlichen durch eine Beeinflussung des amerikanischen Pragmatismus (insbesondere durch Mead) begründet, wie Schütz bereits in dem Beitrag Das Problem der transzendentalen Intersubjektivität bei Husserl im Jahr 1957 expliziert (vgl. dazu ebenso Habermas 1995b, S. 197).

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tung) einteilt (ebd., S. 80).20 Die daraus entspringende Erfahrungswelt der Subjekte bezeichnen Schütz und Luckmann als »Artikulierung des Bewußtseinsstroms« (ebd.), was im theoretischen Ursprung auf William James’ Monographie The Principles of Psychology zurückführt, in der die Metapher des Bewusstseinsstroms (»Stream of thought«) maßgeblich zur Beantwortung der Frage angeführt wird, warum subjektives Zeitbewusstsein niemals Unterbrechungen hervorbringt, selbst wenn Tätigkeiten sprunghaft gewechselt werden (James 1890, S. 111; vgl. darüber hinaus Dimbath/Heinlein 2015, S. 26). Wenn diese Referenzen zunächst ein Interesse Schütz’ und Luckmanns am subjektiven Zeiterleben dokumentieren, so erkennen sie in der Gegenüberstellung einer subjektiv erfahrenen Zeit und einer objektiv vorliegenden Zeit der Welt schließlich ein Spannungsfeld, das heteronome Strukturen hervorbringt, denen das Zeitbewusstsein, aber auch die Handlungen der Subjekte unhinterfragt unterliegen. Eingeteilt wird dieses Spannungsfeld in insgesamt drei Differenzpaare, die wie folgt zu skizzieren sind (vgl. Schütz/Luckmann 1979, S. 73-77): 1. Die Differenz zwischen weltlicher Fortdauer und der Endlichkeit des eigenen Lebens, die bemerkenswerterweise zunächst nichts Anderes als eine in Einklang stehende Ergänzung zu Heideggers Fundamentalontologie ist. Folglich fungiert diese Differenz in der Alltagswelt als vielfach ineinander verschlungenes System aus »Hoffnung und Furcht, Bedürfnissen und Befriedigungen, Chancen und Risiken, die den Menschen veranlassen, seine Lebenswelt zu meistern, Hindernisse zu überwinden, Pläne zu entwerfen und durchzuführen« (ebd., S. 75). 2. Die Differenz zwischen den Zwangsläufigkeiten des Alltags und dem Prinzip des ›first-things-first‹, die weitere Regulationen bedingt. Das Wahrnehmen und Handeln der Subjekte ist demnach temporal an Körperrhythmen, biologische und soziale Zeitstrukturen gebunden, deren Verflechtung ein komplexes Konstrukt an zeitlichen Bindungen bildet, die priorisierende Handlungspläne und konsensfähige Routinen erforderlich werden lassen. Derartige Verflechtungen sind durchaus vielfältig, wie durch folgende Beispiele verdeutlicht werden kann: »Wenn ich Zuckerwasser zubereiten will, muß ich warten, bis der Würfel sich auflöst. Mein Bewußtseins20

Mit dieser Einteilung ist exakt auf das verwiesen, was Husserl bereits verfolgte, wenn er im Kontext des inneren Zeitbewusstseins von Retention, Urempfindung und Protention sprach.

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

strom fließt unabhängig von der Abfolge der Naturereignisse fort, auf deren Ende ich warten muß. […] Alle die ›unwichtigen‹ Zwischenstücke, Teilhandlungen usw., die ich z.B. in meinen Tagträumen überspringen kann, sind notwendige Elemente meines Lebens im Alltag, in dem mir Natur und Gesellschaft einschließlich ihrer Zeitstruktur ›Widerstand‹ leisten […]; ich muß in das Automobil steigen, den Motor anwerfen und hunderterlei Bewegungen machen, bevor ich an die Stelle gelange, an die ich in meinen Gedanken vorausgeeilt war.« (Ebd., S. 79f.) 3. Die Differenz zwischen gesellschaftlicher Historizität und individueller Lebenssituation, die einen steten Einfluss darauf hat, wer man ist, was man tut und was man sein kann.21 Lebensweltliche Zeitstrukturen wirken in diesem Sinne als regulierende und kanalisierende Rahmungen des gemeinschaftlichen Lebens, die sich aus alltäglichen Erfahrungsbereichen konstituieren. Der Ursprung und die Mannigfaltigkeit solcher Rahmungen sind letztlich analytisch nicht mehr bis ins letzte Detail zu ergründen, weil diese im Grunde genommen alle Phänomene und Phänomenbereiche des intersubjektiv geteilten Lebens betreffen: »Er war da, bevor ich geboren wurde, und wird da sein, wenn ich gestorben bin. Das Wissen um die Unausweichlichkeit meines Todes begrenzt die Zeit für mich. Ich verfüge über die Verwirklichung meiner Projekte nur über einen gewissen – und ungewissen – Vorrat an Zeit. Daß ich das weiß, wirkt sich auf meine Einstellung zu meinen Projekten aus. Da ich außerdem nicht sterben will, schmuggelt das Wissen um eine endgültige Grenze meiner Zeit Angst in mein Tun. Ich kann mich eben nicht unabsehbar an Sportveranstaltungen beteiligen. Ich weiß, daß ich älter werde. Ja, dies mag meine letzte Chance für eine Beteiligung an Sportveranstaltungen sein. Mein Warten wird in dem Maße gepreßter, in welchem sich Zeit als Grenze zwischen mich und die Erfüllung meiner Wünsche schiebt.« (Berger/Luckmann 1969/2009, S. 30) Daraus lässt sich schlussfolgern, dass subjektive Wahrnehmungen und Handlungen von zeitlichen Verhältnisses beeinflusst werden, die wieder-

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Schütz und Luckmann sprechen von »Geschichtlichkeit« (Schütz/Luckmann 1979, S. 78), meinen aber nicht die oben skizzierte philosophische Begriffsprägung (vgl. Abschnitt 4.1.4), sondern die historischen Gegebenheiten einer Gesellschaft, die vorgeben, wie entwickelt das eigene Leben ist bzw. sein kann.

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um in institutionalisierte Strukturen eingebettet sind. Konsequenterweise nimmt dies Einfluss auf Intentionen, Entscheidungen und Bereitschaften zum Risiko (vgl. Luhmann 1979, S. 63), was weit über ein bloßes Zeitbewusstsein oder die bloße Prozessualität von Handlungen hinausragt. Wenn man Zeit als Struktur von Lebenswelt akzeptiert, dann offenbaren sich heteronome Strukturen der Beziehung zwischen handelndem Subjekt und Welt, die weder immer zu beeinflussen noch vollends einzusehen sind. Wenngleich diese Einsicht auch erste Implikationen für die Selbstbestimmtheit des Subjekts beinhalten mag, so scheint für eine Erarbeitung der zeitsoziologischen Theoriebildung zunächst von Bedeutung, dass die kritische Würdigung und Reformulierung des Lebensweltkonzepts eine zentrale Rolle in Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns einnimmt. Lebenswelt bildet bei Habermas den »Komplementärbegriff zum kommunikativen Handeln« (Habermas 1995b, S. 182) und repräsentiert demnach den »transzendentale[n] Ort, an dem sich Sprecher und Hörer begegnen« (ebd., S. 192). Insofern ist sie Teil der Gesellschaft, die sich im Sinne Habermas’ »gleichzeitig als System und Lebenswelt« (ebd., S. 183) konstituiert. Das Zusammendenken beider Bestimmungen veranlasst Habermas zum Verwurf sämtlicher »bewußtseinsphilosophische[r] Grundbegriffe« (ebd., S. 189), wie sie für die Arbeiten von Husserl, aber auch von Schütz und Luckmann paradigmatisch sind. Das Konzept der Lebenswelt charakterisiert Habermas folglich unter den Bedingungen einer strikt kommunikationstheoretischen Perspektive »durch einen kulturell überlieferten und sprachlich organisierten Vorrat an Denkmustern« (ebd.). Der Ursprung lebensweltlicher Strukturen liegt dementsprechend im Zusammenspiel von Sprache und Kultur. Lebenswelt ist in diesem Sinne für Habermas also in »einem in die Intersubjektivität sprachlicher Verständigung eingebauten sozialen Apriori« fundiert (ebd., S. 199). Dies impliziert die Kritik, dass sprachliche Verständigungsprozesse und konsenszentrierte Vereinbarungen im Rahmen phänomenologischer Konzeptionen von Lebenswelt keine Berücksichtigung erfahren und vielmehr einem singulären Blick auf Strukturen »des subjektiven Erlebens« (ebd., S. 198) verfallen. Auf diese Weise ist auf einen blinden Fleck eines sowohl subjektiv als auch intersubjektiv ausgelegten Lebensweltbegriffs aufmerksam gemacht, der im Anschluss an Habermas eine kulturalistische Verkürzung hervorhebt (vgl. ebd., S. 198ff). Im Detail heißt das: »Ihr [C.L.: einer kulturalistisch verkürzten Auffassung] zufolge aktualisieren die Beteiligten jeweils einige aus dem kulturellen Wissensvorrat geschöpf-

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

ten Hintergrundüberzeugungen; der Verständigungsprozeß dient dem Aushandeln gemeinsamer Situationsdefinitionen; und diese wiederum müssen den kritischen Bedingungen eines als begründet akzeptierten Einverständnisses genügen. Damit wird das kulturelle Wissen, soweit es in Situationsdefinitionen eingeht, einem Test unterzogen: es muß sich ›an der Welt‹, d.h. an Tatsachen, Normen und Erlebnissen bewähren.« (Ebd., S. 210) Habermas’ Argumentation ist für das Lebensweltkonzept von Schütz und Luckmann folgenreich, weil sie dafür sensibilisiert, dass Situationsdefinitionen im Rahmen kommunikativer Handlungen als Interpretationsvorgänge verstanden werden müssen, die beim Testen kulturellen Wissens auf »Vorgänge der sozialen Integration und der Vergesellschaftung« (ebd., S. 211) basieren und sich an gestellten Geltungsansprüchen bemessen. Daraus folgt: Wenn das Konzept der Lebenswelt fundiert darauf aufmerksam machen kann, dass Zeit einen Einfluss darauf nimmt, wie Subjekte handeln, dann darf eine ganzheitliche soziologische Perspektive auf Zeit dafür keineswegs ausschließlich die Annahme einer bloß intersubjektiv geteilten Wirklichkeit verantwortlich machen. Vielmehr muss sie vermuten, dass an solchen temporalen Einflussnahmen ebenso vielfältige Vergesellschaftungsprozesse beteiligt sind. Dieser Vermutung und ihren Konsequenzen für das Subjekt gilt es im Folgenden weiter nachzugehen.

4.2.2

Soziale Zeit und Eigenzeit (nach N. Elias)

Der Zusammenhang zwischen Zeit und Prozessen der Vergesellschaftung weckte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Interesse der Soziologie (vgl. z.B. Simmel 1900/1977, S. 500f.). Ein daraus zentral hervorgehendes Postulat lautet, dass Zeit eine sozial konstruierte Wirklichkeit und damit kein weltliches Datum, sondern eine soziale Faktizität ist. Unter diesen Voraussetzungen wird die Bedeutung der Existenz einer objektiven Zeit relativiert, während sozialen Formen von Zeit eine Priorisierung zugesprochen wird. Die Implikation dieser Priorisierung liegt einerseits in einer Funktionszuschreibung von Zeit für die Organisation ganz unterschiedlicher Formen des Sozialen. Andererseits gründet in ihr die Annahme, dass »es mehrere Zeiten, eine Pluralität von Temporalgestalten oder sozialen Zeiten gibt« (Luhmann 1990, S. 123; ohne Hervorh.). Während die Analyse der Genese des sozialen Konstruktionscharakters von Zeit in gewisser Weise einem ausschließlich soziologischen Interesse gilt

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Die Verzeitlichung der Bildung

und konkrete Formen sozialer Zeiten bereits beschrieben worden sind (vgl. Abschnitt 3.2), liegt der Fokus im Folgenden auf der Aufarbeitung der Bedeutsamkeit sozialer Zeitstrukturen für ein Subjekt, das in bildungstheoretischer Hinsicht selbstbestimmt handeln soll. Das Resultat ist eine soziologisch geprägte, zeittheoretische Beschreibung des Spannungsfeldes zwischen heteronomen Zeitstrukturen des Sozialen und individuellen Zeitregulationen. Für die begriffliche Eingrenzung dieses Spannungsfeldes dient im Folgenden der von Helga Nowotny vorgeschlagene Terminus der Eigenzeit, der in Unterscheidung zu einer sozialen Zeit gedacht werden kann (vgl. Nowotny 1993). Wenn Nowotny den Begriff der Eigenzeit als individuelles Zeitgefühl moderner Subjekte beschreibt (vgl. Schmidt-Lauff 2008, S. 80) und in diesem Rahmen nach den sozialen Voraussetzungen dieses Gefühls fragt (vgl. Nowotny 1993, S. 17161), so sind die hier verfolgten Absichten allerdings deutlich stärker am Handeln der Subjekte interessiert. Eine solche Schwerpunktsetzung gewährt Anschlüsse an einen Bildungsbegriff, der davon ausgeht, dass Selbstbestimmung im Handeln der Subjekte wirkmächtig wird (vgl. Abschnitt 2.5). Die Festlegung des Begriffs der Eigenzeit auf das Handeln der Subjekte ist dabei vor allem in naturwissenschaftlicher Hinsicht zu bestärken, wofür Nowotny selbst sensibilisiert, indem sie den Begriff aus der Relativitätstheorie Albert Einsteins übernimmt (vgl. Nowotny 1993, S. 21). In der ergänzenden Auffassung des Soziologen Dirk Baecker zieht diese Übernahme nach sich, dass Raum und Zeit »nicht mehr als Konstanten, sondern als Variablen gelten«, so dass »Handlung zu einer grundlegenden Größe der Physik« avanciert (Baecker 2016b, S. 11). Nach Einstein »[d]efiniert als Produkt aus Energie und Zeit«, liegt der Prozess des Handelns folglich »allem zugrunde, was als Materie, Gravitation und Beschleunigung« (ebd.) zu beobachten ist. Theoretisch abzusichern ist ein handlungsbezogener Fokus auf den Begriff der Eigenzeit auch in biologischer Hinsicht. Als »organisches System« hat der Mensch insofern eine zeitliche Organisation vorzuweisen, als er »die Anschlußform« seines Organismus ausschließlich »in der Interaktion mit einer schon vorfindlichen Natur« entwickeln kann (Dux 1989, S. 43). »Kurz, er muß die Struktur der Handlung und die eines Handlungssystems als Anschlußform ausbilden.« (Ebd., S. 44). Bildungstheoretisch können diese naturwissenschaftlichen Begründungsfiguren insofern gewendet werden, als dass die Eigenzeit des Subjekts auf äußere, lebensweltliche, soziale und mitunter heteronome Zeitstrukturen reagierende Handlungen verweist. Dies gestattet schließlich auch eine Verbindung zu einer angenommenen praktischen Freiheit der Subjekte

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

(vgl. Abschnitte 2.2 und 2.5): auch Eigenzeit gilt zuvorderst als Resultat einer Paradoxie, innerhalb derer die Zeit der Subjekte erst durch eine soziale Zeit, das heißt eine »Zeit der anderen« (Nowotny 1993, S. 147), möglich wird. Einen vertiefenden Zugriff auf diese Paradoxie erhält man innerhalb der soziologischen Forschungslandschaft mit einem Rekurs auf die Zivilisationstheorie, die sich in der zweibändigen Studie Über den Prozeß der Zivilisation durch Norbert Elias ausgearbeitet findet (vgl. Elias 1939/1980a und b). Ausgangspunkt dieser Studie ist die These, dass der europäische Zivilisationsprozess in seiner Dynamik und seinen Auswirkungen nur dann verständlich nachzuvollziehen sei, wenn er entlang des Zusammenspiels zwischen der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Strukturen einerseits und der Ausdifferenzierung individueller Affektregulierung andererseits studiert wird (vgl. Elias 1939/1980b, S. 434-454). Zweifelsohne ist auch damit ein bildungstheoretisches Interesse geweckt, wird hier die Entwicklung des Subjekts in Abhängigkeit zu einer sozial konstruierten Welt gesetzt. Elias analysiert unter derartigen Abhängigkeitsverhältnissen die Veränderungen menschlicher Verhaltensweisen und Gewohnheiten anhand zahlreicher Geschichtswerke, historischer Biographien und Manierenbücher des 13. bis 18. Jahrhunderts (vgl. Elias 1939/1980a), um sie anschließend in Verbindung zu gesellschaftlichen Strukturveränderungen wie der Ausdifferenzierung der höfischen Gesellschaft, dem Feudalismus, der Entstehung des Abendlandes oder dem Übergang von der traditionellen hin zur bürgerlichen Gesellschaft zu setzen (vgl. Elias 1939/1980b). Er kommt auf diese Weise zu dem Schluss, dass die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Strukturen zu einer Minderung äußerer Zwänge bei gleichzeitiger Verfeinerung innerer Zwänge führt: »Der gesellschaftlich-gesellige Verkehr hört auf, dadurch eine Gefahrenzone zu sein, daß Mahl, Tanz und lärmende Freude rasch und häufig in Wut, Prügelei und Mord umschlagen, und er wird dadurch zu einer Gefahrenzone, daß der Einzelne sich selbst nicht genug zurückhält, daß er an die empfindlichen Stellen, an die eigene Schamgrenze oder an die Peinlichkeitsschwelle der Anderen rührt.« (Ebd., S. 406f.) Das lehrt zunächst, dass Elias’ Überlegungen eine »Lehre auf Triebverdrängung« (Plessner 1982, S. 21) zum Ausdruck bringen, die den Prozess der Verinnerlichung sozialer Zwänge zu Selbstzwängen hervorheben (vgl. Elias 1939/1980b, S. 312). Sie liefern damit eine Antwort auf die Frage, wie sich Macht- und Herrschaftsstrukturen innerhalb des gesellschaftlichen Zusam-

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Die Verzeitlichung der Bildung

menlebens manifestieren. Wenn Elias damit ein zentrales Erkenntnisideal gesellschaftstheoretischer Überlegungen des 20. Jahrhunderts bedient,22 dann liegt eine Originalität seiner Studie darin, dass er die erfahrene Potenz und entstandene Vielfalt subjektiv entwickelter Selbstzwänge in einen Bezug zu gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen setzt. Zentral dafür steht der Begriff der Interdependenz: »Je dichter das Interdependenzgeflecht wird, in das der Einzelne mit der fortschreitenden Funktionsteilung versponnen ist, je größer die Menschenräume sind, über die sich dieses Geflecht erstreckt, und die sich mit dieser Verflechtung, sei es funktionell, sei es institutionell, zu einer Einheit zusammenschließen, desto mehr ist der Einzelne in seiner sozialen Existenz bedroht, der spontanen Wallungen und Leidenschaften nachgibt; desto mehr ist derjenige gesellschaftlich im Vorteil, der seine Affekte zu dämpfen vermag, und desto stärker wird jeder Einzelne auch von klein auf dazu gedrängt, die Wirkung seiner Handlungen oder die Wirkung der Handlungen von Anderen über eine ganze Reihe von Kettengliedern zu bedenken.« (Ebd., S. 321f.) Interdependente Strukturen finden sich hier als mehrdimensional und vielschichtig beschrieben. Soziales Zusammenleben ist vor diesem Hintergrund durch heterogene, ineinanderlaufende und sich miteinander vermischende Strukturen konstituiert, in denen sich Subjekte unhinterfragt befinden, leben und handeln. Um auf den damit impliziten heteronomen Charakter hinzuweisen, schlägt Elias in späteren, das heißt an die Zivilisationstheorie anschließenden Schriften den Begriff der Figuration vor, der das einzelne Subjekt in ein soziales Gefüge auflöst: »Das Zusammenleben von Menschen in Gesellschaften hat immer, selbst im Chaos, im Zerfall, in der allergrößten Unordnung eine ganz bestimmte Gestalt. Das ist es, was der Begriff der Figuration zum Ausdruck bringt. Kraft ihrer grundlegenden Interdependenz voneinander gruppieren sich Menschen immer in Form spezifischer Figurationen.« (Elias 1986, S. 101) 22

Einen ausführlichen Einstieg in diese Überlegungen, die so namhaft von Max Webers Theorie der Rationalisierung (vgl. z.B. Weber 1905) über Theodor W. Adornos und Max Horkheimers kulturkritische Bemühungen (vgl. Horkheimer/Adorno 1944) hin zu Michel Foucaults Disziplinargesellschaft reicht (vgl. Foucault 1977), liefert der von Peter Imbusch herausgegebene Sammelband Macht und Herrschaft – Sozialwissenschaftliche Theorien und Konzeptionen (vgl. Imbusch 2012).

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

Nun nehmen die Prämissen der Zivilisationstheorie dann eine Relevanz für das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit ein, wenn man sie in Verbindung zu jenen zeittheoretischen Überlegungen setzt, die Elias in seiner Schrift Über die Zeit ausgearbeitet hat. Ausgehend von einem Verständnis von Zeit als gesellschaftlichem Orientierungsmittel lautet die zentrale These dieses Werks, dass gesellschaftlicher Fortschritt in Form der Potenzierung von Interdependenz primär an der Entwicklung und Etablierung komplizierter Orientierungsmittel zu erkennen sei (vgl. Elias 1988, S. XVff). Im Kontext von Zeit heißt das auf einer ganz grundsätzlichen Ebene: Einfache Gesellschaften mit niedrigen Interdependenzen nehmen ihre zeitlichen Datierungen anhand natürlicher Veränderungen vor, während fortgeschrittene Gesellschaften mit höheren Interdependenzen funktionale Instrumente zur Datierung und Objektivierung von Zeit vorzuweisen haben (vgl. ebd., S. VIIIf.). Der springende Punkt dabei ist, dass Elias die Entwicklung instrumentaler Objektivierungsmethoden, wie auch immer diese im Einzelfall geartet sein mögen, als Resultat sozialer und generationenübergreifender Konstruktionsprozesse versteht: »Menschen besitzen als Teil ihrer natürlichen Ausstattung ein allgemeines Potenzial zur Synthese, das heißt zur Verknüpfung von Ereignissen; doch alle spezifischen Verknüpfungen, die sie herstellen, und die entsprechenden Begriffe, die sie in ihrem Reden und Nachdenken gebrauchen, sind das Ergebnis von Lernen und Erfahrung, und zwar nicht einfach jedes einzelnen Menschen, sondern einer sehr langen Kette menschlicher Generationen: ein einzelnes Leben ist viel zu kurz für den Lernprozeß, der notwendig ist, um die Kenntnis spezifischer Zusammenhänge zu erwerben, wie sie etwa durch Begriffe wie ›Ursache‹, ›Zeit‹ und andere eines gleich hohen Syntheseniveaus repräsentiert werden.« (Ebd., S. 3) Mit dieser Perspektive werden zunächst einige Ergänzungen im Hinblick auf das bislang Argumentierte notwendig, und zwar in dreifacher Hinsicht: Versteht man Zeit zum Ersten als menschlich konstruiertes Phänomen, dann fußt dieses Verständnis im Grunde genommen auf der gleichen Annahme, die auch dem Bildungsbegriff der vorliegenden Arbeit vorausgeht: der aktiven und wechselwirkenden Beziehung zwischen Subjekt und Welt. Eine damit angedeutete Verflechtung zwischen Zeitdatierungen und dem Prozess der Bildung ist insofern leicht einzusehen, als Elias die Zeitverständnisse und -interpretationen fortgeschrittener Gesellschaften als Resultate synthetischer Leistungen, das heißt sozialkonstruktivistischer Lernprozesse, begreift (vgl. ebd., S. 12ff). Bildung und komplizierte Zeitbestimmungsmethoden sind da-

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mit gleichermaßen als ein Charakteristikum fortgeschrittener Gesellschaften bestimmt. Zum Zweiten ist gerade mit dieser sozialkonstruktivistischen Perspektivierung ein offensichtlicher Widerspruch zu Immanuel Kants These, Zeit sei eine Gegebenheit a priori (vgl. Abschnitt 4.1.1), formuliert. Explizit heißt es bei Elias: »Die philosophische Ansicht, daß Menschen gleichsam automatisch und ohne jegliches Lernen in der Form von ›Zeit‹ verknüpfen, kraft einer ›Synthese a priori‹ als einer Gabe ihrer eingeborenen Vernunft, war teils eine Folge des begrenzten Tatsachenwissens, das Descartes oder Kant und anderen, die in ihre Fußstapfen traten, jeweils zur Verfügung stand, teils eine Folge ihres Erfahrungsbegriffs: Wenn sie von Erfahrung sprachen, hatten sie nur die Erfahrung eines einzelnen, als völlig autonome Einheit aufgefaßten Menschen im Auge und nicht im Laufe der Jahrhunderte wachsenden Erfahrungen und Denkmittel der sich entwickelnden Menschheit.« (Ebd., S. 3f.) Dies ist als Beweis dafür anzuerkennen, dass Antworten auf die Frage, was Zeit ist, letztlich vom Betrachtungspunkt abhängig sind und demnach nicht eindeutig ausfallen können (vgl. Abschnitt 3.1).23 In bildungstheoretischer Hinsicht ist zum Dritten von Bedeutung, dass ein je spezifisch konstruierter Zeitbegriff einer Gemeinschaft oder Gesellschaft erheblich die Art und Weise beeinflusst, wie Subjekte ihre Welt wahrnehmen. Elias’ empirische Evidenz für diesen Sachverhalt ist der Verweis auf ein fiktives, autonom lebendes Bergvolk und das daran anschließende Aufwerfen der Frage, ob ein solches Volk zeitlich aufeinander folgende Ereignisse ähnlich differenziert erfassen könnte, wie dies die Bewohner moderner, westlicher Gesellschaften gegenwärtig vornehmen (vgl. ebd., S. 15-23). Dieser letzte Aspekt unterstreicht, dass es deutlich verkürzt wäre, instrumental-funktionale Objektivationen als Resultat bloß zufällig stattgefundener Evolution zu verstehen. Entsprechend müssen sie im Sinne Elias’ als Konsequenz eines anthropologischen Bedürfnisses nach Koordination und Synchronisation interpretiert werden, das sich einerseits aus 23

Zur Vertiefung dieser Kritik an Kant aus einer soziologischen Perspektive vgl. ebenfalls Dux 1989, S. 58 und S. 64f. Zur Reichweite dieser Kritik und der Irritation, die sie gerade für eine genuin philosophische Haltung mit sich führt, sei darüber hinaus auf Elias’ Notizen zum Lebenslauf verwiesen. Elias beschreibt darin, dass die Beziehung zu seinem »verehrten Lehrer Richard Hönigswald« aufgrund der Kritik an Kant »in einem ganz echten und kaum heilbaren Krach geendet sei«, weil Hönigswald sie »schlechthin für falsch« erklärte (Elias 1990, S. 21).

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

einer gemeinschaftlich begründeten Intentionalität heraus entwickelt hat und andererseits mit der Genese von der vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft intensiviert wurde (vgl. Nowotny 1995, S. 84). Ein einprägsames Beispiel für eine solche Intentionalität ist die aktive Produktion von Nahrungsmitteln. Der Ackerbau setzt beispielsweise, sofern er effizient sein soll, zeitlich aufeinander abgestimmte Handlungen wie Säen, Züchten, Ernten usw. voraus. Elias sieht bereits in dieser Form der menschlichen Naturbeherrschung einen Rückkopplungsprozess, der darin besteht, dass Subjekte »durch die Beherrschung und Nutzung der Pflanzenwelt« einer zuvor noch »unbekannten Disziplin unterworfen« werden, »die ihnen durch die Erfordernisse der Kulturpflanzen, von denen ihre Nahrungsmittelversorgung jetzt abhängt, auferlegt wird« (Elias 1988, S. 16). Das lässt sich in folgender Formel subsumieren: Materielle Produktion führt zu subjektiver Disziplinierung. Wie weitreichend und wirkmächtig dies vor dem Hintergrund geplanter Warenproduktion und Tauschgeschäfte zu denken ist, wusste in der soziologischen Historie bereits Georg Simmel zu betonen, der in seiner Schrift Philosophie des Geldes die Beobachtung notiert, dass »das rechnerische Wesen des Geldes« zu einer zunehmenden »Präzision […] von Gleichheiten und Ungleichheiten, eine[r] Unzweideutigkeit in Verabredungen und Ausmachungen« geführt hat, als deren empirische Signifikanz die »allgemeine Verbreitung der Taschenuhren« anzuführen ist (Simmel 1900/1977, S. 500). Die damit verbundenen Ausmaße unterstreicht Simmel in dem Beitrag Die Großstädte und das Geistesleben mit der Fiktion, dass sowohl das gesamte wirtschaftliche als auch verkehrsgesteuerte Leben seines Geburtsortes Berlin langfristig »zerrüttet« wären, wenn alle Uhren »in verschiedener Richtung falsch gehen würden« (Simmel 1903, S. 120). Mit Elias’ zivilisationstheoretischer Vermutung einer Korrelation zwischen gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und individueller Selbstregulation sind diese Beobachtungen schließlich wie folgt zu deuten: Reguliertes Zeiterleben von in interdependenten Strukturen lebenden Subjekten, welches sich beispielsweise durch Notwendigkeiten terminlicher Absprachen, Stresserfahrungen durch Zeitdruck oder die Abfrage der Uhrzeit konstituiert, kann als eine konkrete Ausprägung einer Persönlichkeitsstruktur betrachtet werden, »die nicht weniger zwingend als biologische Eigentümlichkeiten und doch sozial erworben« ist (Elias 1988, S. 122). Gesellschaftliches Zeiterleben geht auf diese Weise als eine Art »zweite Natur« in den Menschen über und wird so zu einem »Teil des sozialen Habitus« (ebd., S. 117). In den Blick genommen ist damit ein sozial beeinflusstes Zeitbewusstsein, das sich in den

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Die Verzeitlichung der Bildung

Persönlichkeitsstrukturen der Subjekte als regulierende Einheit entfaltet und dabei ein Bedürfnis eigener Gestaltungsräume von Zeit entfacht. Zeit entpuppt sich auf diese Weise als eine Art soziale Machtstruktur, die Menschen im gesellschaftlichen Zusammenleben generieren (vgl. Nowotny 1993, S. 147) und gegen die sich Individuen behaupten müssen.

4.3

Drittes Zwischenfazit und Ausblick: Eckpunkte einer zeittheoretischen Grundlegung der Subjekt-Welt-Beziehung und ihre Implikationen für das Ideal der Selbstbestimmung

Zeit als Untersuchungsgegenstand zu beschreiben, stellt keine leichte Angelegenheit dar, wie die vorangehenden Überlegungen verdeutlichen. Der Ausgangspunkt des vorliegenden Kapitels lag in der Prämisse, dass sich die Zeitlichkeit des Subjekts als analytische Kategorie eignet, um die Bedeutung von Zeit im Kontext der Beziehung zwischen Subjekt und Welt erfassen zu können. Im Mittelpunkt der Überlegungen stand folglich ein in seiner Existenz zeitlich beschaffenes Subjekt, das durch den reflexiven Prozess der Verzeitlichung ein Bewusstsein von Zeit generiert und sich somit – ganz grundsätzlich formuliert – der Zeitstrukturen der Welt, der Zeitstrukturen des sozialen Lebens und der Zeitstrukturen des eigenen Lebens gewahr wird. Zur inhaltlichen Ausdifferenzierung dieser Perspektive dienten ausgewählte zeitphilosophische und zeitsoziologische Theorieanlagen. Auf diese Weise konnte an das Vorgehen der derzeit vorliegenden pädagogischen Literatur zum Thema ›Zeit‹ angeschlossen werden. Dabei führte der Begriff der subjektiven Verzeitlichung in seiner theoretischen Genese auf die transzendentale Zeittheorie Immanuel Kants zurück, von wo aus sich zunächst ein zeitphilosophisch abgesteckter Weg ebnete, auf dem Edmund Husserl, Henri Bergson und Martin Heidegger zentrale Referenzen waren. Diese Referenzen wurden im Weiteren um zeitsoziologische Theorieansätze von Alfred Schütz und Thomas Luckmann sowie Norbert Elias ergänzt. In ihrer Gesamtheit ist diesen Ansätzen auf der Ebene des Theoretischen gemein, dass sie einerseits auf Kants transzendentalen Zeitbegriff Bezug nehmen bzw. diesen um entscheidende Einsichten erweitern (Husserl, Bergson, Heidegger, Elias) und andererseits auf Aspekten der husserlschen Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins aufbauen (Heidegger, Schütz/Luckmann). In Anbetracht der Willkür, die bei der Rezeption von Zeittheorien potenziell droht (vgl. Abschnitte 3.2 und 3.3), manifestierte sich auf diese Weise eine phänome-

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

nologische und wissenssoziologische Schwerpunktsetzung innerhalb der zurückgelegten Betrachtungen, die inhaltlich das subjektive Bewusstsein von Zeit und eine zeitlich strukturierte Sozialität ins Zentrum subjektiver Zeitlichkeit rückten. Der Argumentationsweg und die dabei gewonnenen Ergebnisse können nun noch einmal in Form einer zeittheoretischen Grundlegung der Beziehung zwischen Subjekt und Welt wie folgt wiedergegeben werden: Kants transzendentaler Zeittheorie zufolge lässt sich die Zeit als reine Form der inneren Anschauung begreifen. In diesem Sinne sind sämtliche Konstruktionen subjektiver Wirklichkeit, also sämtliche Formen der subjektiven Wahrnehmung, Erfahrung, Erkenntnis usw. a priori in eine Zeit eingebettet. Philosophiehistorisch ist diese Charakterisierung Kants an die Vorstellung an ein vernunftbegabtes Subjekt zu koppeln – Kants Zeittheorie ist sonach eine Theorie, die die Kategorie des modernen und womöglich auch selbstbestimmt handelnden Subjekts betrifft. Als formale Bedingung subjektiv konstruierter Wirklichkeiten geht die Zeit auch der Beziehung zwischen Subjekt und Welt voraus. Der Prozess der Verzeitlichung als reflexive Bewusstwerdung zeitlicher Strukturen erweist sich folglich als selbstverständlicher Boden von Bildungsprozessen. Mit dem Versuch, ebenjene subjektive Bewusstwerdung zeitlicher Strukturen prozessual auszudifferenzieren, stößt man mit Kants Zeittheorie allerdings an Grenzen, weil sie als begriffsbestimmende Theorie empirische Anschlussmöglichkeiten nicht zentral verfolgt. Daher wurde zusätzlich auf Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins rekurriert, die Zeit als Untersuchungsgegenstand in die zeitphilosophische Bewusstseinstheorie einführte und diesbezüglich bis heute als zentrale Referenz gilt. Mit Husserl ist die Prozessualität der Verzeitlichung durch eine Trias aus ›Urempfindung‹, ›Retention‹ sowie ›Protention‹ zu kennzeichnen, die gegenwärtige Wahrnehmungen des Subjekts, deren erinnerndes Präsenthalten im Bewusstsein und ein Antizipieren weiterer Momente thematisiert. Man muss sich ein daraus resultierendes Bewusstsein der Subjekte deshalb dynamisch vorstellen, weil es von der Gegenwart immer wieder überrascht wird: das Jetzt ist stets entscheidend für das, woran man sich erinnert und was man sich von der Zukunft verspricht (vgl. Nassehi 2011, S. 72f.). Dass diese Dynamik letztlich auch einen Einfluss auf die Qualität des subjektiven Zeiterlebens nimmt, konnte schließlich im Anschluss an Bergson betont werden, dessen Philosophie in einer zeitlich anhaltenden Dauer eine Form der empfundenen Intensität verortet, die

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Die Verzeitlichung der Bildung

zwischen der Erfahrung von Welt und der dynamischen Struktur von Zeit vermittelt. Im Anschluss an diese Perspektiven wurde dargelegt, dass die im Prozess der Verzeitlichung zutage tretende Dynamik in analytischer Hinsicht mittels der Unterscheidung zwischen ›Chronologie‹ und ›Geschichtlichkeit‹ zu spezifizieren ist. Chronologie beschreibt demnach das Verhältnis zwischen früher, jetzt und später, während mit geschichtlichen Zeitbestimmungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft differenziert wird. Innerhalb der Beziehung zwischen Subjekt und Welt spielt diese Unterscheidung auf einen bildungstheoretisch entscheidenden Sachverhalt an: Während mit chronologischen Unterscheidungen einzelne Ereignisse bloß relational geordnet werden, liegt die darüber hinaus gehende Besonderheit des Konzepts der Geschichtlichkeit darin, dass es mit konkreten Sinn- und Handlungszusammenhängen der Subjekte einhergeht. Gerade, weil sinnhafte »Handlungen Ziele verfolgen, generieren sie Zukunft. Die Zukunft ist die Zeit, in der diese Ziele erreicht oder verworfen sind.« (Weidenhaus 2015, S. 29) Derartige Sinnzuweisungen korrespondieren mit den Leitbildern einer aufgeklärten Pädagogik und eines aufgeklärten Menschenbildes, die sich beide zentral durch den Gedanken plausibilisieren, dass die Zukunft besser als die Gegenwart und die Vergangenheit sein kann.24 So gesehen ist Bildung ein Versprechen auf die Zukunft. Geschichtlichkeit avanciert auf diese Art und Weise zur konstitutiven Zeitstruktur des zu bildenden und des sich bildenden Subjekts. Der Gedanke, dass die Zukunft durch Handlungen zu beeinflussen ist, geht mit einem bestimmten Menschenbild einher, welches das Leben nicht als verhängnisvolles Schicksal anerkennt, sondern Gestaltungsmöglichkeiten annimmt. Eine Deutung dieser Annahme konnte mit Heidegger erarbeitet werden, der die Sorge des Subjekts als den zentralen Wesenszug einer sinnstiftenden menschlichen Existenz ausweist. Zeitphilosophisch ist diese Einsicht an eine analytische Perspektive gebunden, die über eine Beschreibung der bloßen Zeitwahrnehmung hinausgeht, um nach den Bedingungen des zeitlich strukturierten Seins zu fragen. Demzufolge ist die subjektive Zeitlichkeit

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Dieses Argument gewinnt dann an Gewicht, wenn man zu bedenken gibt, dass Gesellschaften und Kulturen existieren, die keine Vergangenheit und Zukunft konstituieren. Erinnert sei noch einmal an das oben im Anschluss an Weidenhaus angeführte Beispiel der Aborigines.

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

gemäß Heidegger über die Sorge durch einen Bezug zur Zukunft strukturiert, der intentional in Handlungen wirkmächtig wird. Sobald man derartige Handlungen in Bezug auf eine von Subjekten geteilte Lebenswelt denkt, sind sie schließlich gemäß Schütz und Luckmann in eine Zeit eingebettet, die durch soziale Strukturen getragen und um intersubjektives Wissen bereichert ist: die Wartezeit auf einen Termin beim Arzt, das Wissen darum, dass die Genesung eines Bänderrisses mindestens zehn Wochen dauert, die Gewissheit, dass nach der beruflichen Tätigkeit die Rente folgen wird usw. Diese Aufzählung ließe sich beliebig weiterführen; entscheidend ist, dass spätestens im intersubjektiv geteilten Leben ein Wissen um zeitliche Strukturen auftritt, die einerseits einen Einfluss auf die Möglichkeiten und Festlegungen subjektiver Handlungen nehmen und andererseits deshalb als heteronome Strukturen gedacht werden müssen, weil sie individuell nicht immer beeinflussbar sind. Dieser heteronome Charakter konnte abschließend weiter mit Elias beschrieben werden, wonach Ausdifferenzierungen gesellschaftlicher Strukturen zu einer Verstärkung subjektiver Zwänge führen. Elias beginnt diesen Gedanken bei gemeinschaftlichen Produktionsabsichten von Waren, deren Erfolg das Einhalten terminlicher Fristen voraussetzt, und zieht übergreifende Schlussfolgerungen dahingehend, dass zeitliche Zwänge der Subjekte mit gesellschaftlichen Interdependenzen einhergehen, dass also die Notwendigkeit zeitlicher Regulationen mit fortschreitender gesellschaftlicher Funktionsteilung steigt. Der von Elias geprägte Begriff der Figuration betont in diesem Zusammenhang, dass die Handlungsweisen der Subjekte nur dann konzise zu beobachten sind, wenn man sie in Abhängigkeit zu anderen Subjekten denkt. Zusammenfassend können damit ein dynamisch verlaufender Prozess der Verzeitlichung, eine geschichtlich strukturierte Zeitlichkeit moderner Subjekte und eine heteronome Wirkung von Zeit im intersubjektiv geteilten sowie sozial organisierten Zusammenleben als Eckpunkte einer zeittheoretischen Grundlegung der Subjekt-Welt-Beziehung angeführt werden. Während der Prozess der Verzeitlichung besagt, dass Zeit als perzeptive Rekonstruktion (z.B. als Vergangenheit, Wahrnehmung, zukünftige Vorstellung oder Dauer) allen subjektiven Konstruktionen von Wirklichkeit und damit auch potenziellen Bildungsprozessen vorausgeht, legt der Begriff der Zeitlichkeit eine spezifische Eigenschaft des Menschen fest und tritt damit als anthropologische Größe auf. Zudem ist mit der heteronomen Wirkkraft eine Eigenschaft von Zeit gefunden, die konkret danach fragen lässt, was sie für das Ideal der Selbstbestimmung zu bedeuten hat. Eine entscheidende Komplikation, die

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mit dieser Frage jedoch aufkommt, besteht darin, dass ein bloß heteronomer Charakter von Zeit noch nicht ausreicht, um einen bildungstheoretisch konstruierten Begriff von Selbstbestimmung auf die Probe zu stellen (vgl. Abschnitt 2.5). Denn dieser setzt die Erfahrung einer Krise voraus. Diese Krise tritt dann in Kraft, wenn Situationen sich mit bislang angeeigneten Perspektiven auf die Welt und auf sich selbst in der Welt nicht mehr bewältigen lassen, wobei die Häufigkeit solcher Situationen an die Komplexität der Welt gekoppelt ist, zu der Subjekte in Beziehung stehen. Die Besonderheit eines solchen Verständnisses liegt darin, dass es über eine bloße Willkür des Handelns hinausgeht, so dass es verfehlt wäre, bereits dort von Selbstbestimmung zu sprechen, wo man z.B. den Geburtstag des Schwiegervaters absagt, um ein Buch lesen zu können, wo man früher das Büro verlässt, um Sport zu machen usw. Diese Beispiele mögen genügen, um das eigentliche Problem zu verdeutlichen: Der heteronome Charakter von Zeit kann nur dann eine Relevanz für die Frage nach Selbstbestimmung haben, wenn er einer Struktur zugeordnet wird, die übergreifend zu Erfahrungen der Unbestimmtheit oder Fremdbestimmung führt. Gerade Elias’ Figurationsbegriff liefert dafür wichtige Impulse. Wie dargelegt werden konnte, betont der Begriff eine Auflösung des Subjekts im sozialen Gefüge. Dazu sei noch einmal Elias zitiert: »Wenn vier Menschen um den Tisch herumsitzen und miteinander Karten spielen, bilden sie eine Figuration. Ihre Handlungen sind interdependent« und folglich in einem Gefüge, in dem »›Ich‹- und ›Er‹-Beziehungen oder ›Wir-‹ und ›Sie‹-Beziehungen« möglich sind (Elias 1970, S. 172). Grundsätzlich lässt diese Theoretisierung zwei Deutungsmöglichkeiten zu, die Elias selbst in einem Gespräch mit dem Kultursoziologen Wolfgang Engler im Hinblick auf seine eigene Forschung und deren Rezeption in Aussicht stellt. Darin macht Elias sich gegen eine systemische und für eine prozessorientierte Lesart stark. Im Detail heißt es: »Das Ringen mit dem Problem des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zeigt sich unter anderem darin, dass ich glaubte, der Begriff der Figuration genügte, um dieses Problem allgemein zugänglich zu machen. Als ein Resultat haben einige meiner Freunde und Schüler meine Art von Soziologie als Figurationssoziologie bezeichnet. Ich verwerfe heute diesen Begriff. Ich glaube, daß der Figurationsbegriff im Gespräch und in der Diskussion viel zu nahe an den alten Systembegriff herangebracht worden ist, und ziehe,

4 Phänomenbereiche subjektiver Zeitlichkeit

wenn man schon ein Etikett für meine Arbeiten sucht, ›Prozesssoziologie‹ vor.« (Elias 1989, S. 373) Bemerkenswerterweise ist es allerdings jene systemische Lesart, die nicht primär den Entwicklungsprozess einer Gesellschaft, sondern ihre ganzheitliche Struktur betrachtet und damit einen theoretischen Überbau bereitstellt, der entscheidende Anschlussmöglichkeiten für Fragen nach der Selbstbestimmung der Subjekte schafft. Durchaus gestattet Elias den Zugang zu solchen Lesarten in seinen eigenen Schriften, vor allem dort, wo er explizit auf den Menschen eingeht. Exemplarisch heißt es in Die Gesellschaft der Individuen: »In einfacheren Gesellschaften gibt es weniger Alternativen, weniger Möglichkeiten der Wahl, weniger Wissen vom Zusammenhang der Ereignisse und dementsprechend weniger Gelegenheiten, die in der Rückschau als ›verpaßt‹ erscheinen können. In den einfachsten steht Menschen von Kindheit an oft nur ein einziger, geradliniger Weg offen – ein Weg für Frauen und ein anderer für Männer. Kreuzwege sind selten, und es ist selten ein einzelner Mensch allein, der vor die Entscheidung gestellt ist. Aber auch hier bringt das Leben sein Risiko mit sich. Aber der Spielraum der Wahl ist so gering und das Ausgeliefertsein an Willkür und Übermacht der Naturkräfte so groß, daß es kaum noch ein Entscheidungsrisiko gibt.« (Elias 1987, S. 179) Der entscheidende Stichwortgeber ist hier die Rede von ›einfacheren Gesellschaften‹, die einen Brückenschlag zu ›komplexen Gesellschaften‹ zulässt und damit auch eine ganzheitliche, die Entwicklungsprozesse einer Gesellschaft übergreifende Perspektive auf Zeit gestattet.25 Als erste Vorwegorientierung schreibt z.B. Helga Nowotny: »Je komplexer die Gesellschaft, desto vielschichtiger werden die Zeitabläufe, die sich überlagern, miteinander und nebeneinander in zeitliche Verbindungen eintreten.« (Nowotny 1993, S. 8) Detaillierte Ausführungen findet man daraufhin schließlich bei Niklas Luhmann, der die These vertritt, dass jede Handlung in der Welt eine Festlegung auf eine Möglichkeit, bei gleichzeitigem Auslassen alternativer Möglichkeiten bedeutet (vgl. Luhmann 1984, S. 70). Während dies für einfache Gesellschaften nach sich zieht, dass wenige Möglichkeiten letztlich nur wenig Konsensbildung erfordern, so erzwingen komplexe Strukturen die Notwendigkeit gezielter Entscheidungen, weil nicht mehr alle Möglichkeiten 25

Freilich ist ›einfach‹ hier nicht als Gegenwort von, sondern als Relativum zu ›komplex‹ zu verstehen, denn der »Gegenbegriff zu ›einfach‹ ist ›kompliziert‹, nicht ›komplex‹« (Baecker 2008, S. 135).

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Die Verzeitlichung der Bildung

ausschöpfbar sind (vgl. Luhmann 1971a, S. 145). Komplexität heißt unter solchen Umständen, dass die Routinen alltäglicher Zeitstrukturen derart vielfältig und die zeitlichen Verpflichtungen des sozialen Zusammenlebens derart hoch sind, dass nicht mehr »alles mit allem abgestimmt werden« (Luhmann 1984, S. 70) kann und Zeit folglich knapp wird (vgl. Luhmann 1971a, S. 145). Damit erweist sich der »Begriff und das Problem der Komplexität« (Luhmann 2009, S. 167) schließlich als gemeinsamer Nenner zwischen einer Vorstellung von Selbstbestimmung einerseits, deren Bedingungen vielfältiger und notwendiger mit dem Anstieg gesellschaftlicher Komplexität werden (vgl. Abschnitt 2.5), und einer heteronomen Wirkkraft von Zeit andererseits, die sich ebenfalls mit dem Anstieg von Komplexität zu erhöhen scheint. Weil dies jedoch nicht mehr als eine erste explorative Querverbindung zwischen Selbstbestimmung und Zeit ist, stößt man umgehend auf die Problematik, dass der Begriff der Komplexität ganz grundsätzlich als eine Art ›Kategorie des Unverfügbaren‹ verwendet werden kann: generell gilt etwas bereits dann als komplex, wenn es auf den ersten Blick nicht verständlich ist oder zu bewältigen scheint, also über einzelne Welt- und Selbstverhältnisse hinausgeht. Demzufolge kann vieles als komplex bezeichnet werden, so dass der Begriff für vielfältige Betrachtungen eine potenzielle Bedeutung einnimmt (vgl. Luhmann 1982, S. 204). Wenn damit die Gefahr einer willkürlichen Verwendung einhergeht, ist reichlich Anlass zur Erarbeitung einer präzisen Begriffsbestimmung geboten. In bildungstheoretischer Hinsicht führt dies zu der Frage, was es bedeutet, wenn die Beziehung zwischen Subjekt und Welt als komplex bezeichnet wird. Und in Bezug auf Zeit muss die Frage miteinbezogen werden, wie jener Komplexitätsbegriff geartet ist, der Luhmann zur Einsicht bewegt, dass er Zeit knapp werden lässt. Beide Fragen gilt es im Weiteren zu verfolgen.

5 Komplexität und das Technisch-Mediale »Der Weg zum Konkreten erfordert den Umweg über die Abstraktion.« (Luhmann 1994, S. 10)

Als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand ist der Begriff der Komplexität gemeinhin in der Systemtheorie verortet (vgl. Schoeneberg 2014, S. 13). Nun mag auf den ersten Blick wenig dafür sprechen, sich auf einen systemtheoretischen Ansatz im Allgemeinen und erst recht auf den systemtheoretischen Ansatz Niklas Luhmanns im Speziellen zu berufen. Denn die bisherigen Überlegungen zu den Begriffen der Bildung, Selbstbestimmung, Zeit und Zeitlichkeit (vgl. Kapitel 2 bis 4) gingen von einem Subjekt aus, das in wechselwirkender Beziehung zu einer sachlich, sozial und zeitlich strukturierten Welt steht. Gegenüber dieser subjektzentrierten Argumentationsführung der vorliegenden Arbeit liegt der Systemtheorie traditionell eine Position zugrunde, die Systemen nicht die spezifische Leitunterscheidung zwischen ›Subjekt‹ und ›Welt‹, sondern die universelle Leitunterscheidung zwischen ›Teil‹ und ›Ganzes‹ zuweist, um auf diese Weise die »rein interne Ordnung der Beziehung von Teilen zueinander und zum Ganzen« beobachten zu können (Luhmann 1968, S. 10). Dieses Unterfangen mündet im Allgemeinen in die These, dass Systeme der Reduktion von Komplexität dienen, »und zwar durch Stabilisierung einer Innen/AußenDifferenz«, die im Horizont einer Teil/Ganzes-Differenz verortet ist (ebd., S. 11). Unter dieser Prämisse gilt Luhmanns soziologische Systemtheorie der Analyse von sozialen Systemen. Den theoretischen Referenzrahmen dafür bildet Talcott Parsons’ Theorie sozialer Systeme, die Gesellschaft als »eine spezielle Klasse von Sozialsystemen« versteht und ebendiese Sozialsysteme als »eine der primären Subklassen aus der Menge der Handlungssysteme« beschreibt (Parsons 1966, S. 121). Soziale Systeme beruhen demzufolge auf Handlungen, was grundsätzlich noch die Vorstellung handelnder Subjekte

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Die Verzeitlichung der Bildung

in die Systeme eintragen lässt (vgl. Habermas 1995a, S. 297ff; Luhmann 1984, S. 191; Schütz 1977, S. 25). Ausgehend von der Skepsis, ob damit allerdings schon »das Verhältnis von Handlung und Sozialität zutreffend erfaßt« sei, erweitert Luhmann den Ansatz Parsons’ um die Annahme, dass Handlungen in »sozialen Systemen über Kommunikation und Attribution konstituiert als eine Reduktion der Komplexität, als unerläßliche Selbstimplifikation des Systems« zu betrachten sind (Luhmann 1984, S. 191). Eine damit intendierte theoretische Umstellung lässt Handlungen als Produkte einer Zuschreibung verstehen, die innerhalb von Kommunikationsprozessen vorgenommen wird (vgl. Baecker 2007a, S. 37ff; Nassehi 2011, S. 105). Mit anderen Worten: Luhmann abstrahiert in seiner systemtheoretischen Forschung sowohl die Vorstellung vom handelnden Subjekt als auch die Idee vom Handlungssystem und löst diese in der Betrachtung solcher Systeme auf, die sich aus »Kommunikationen und aus deren Zurechnung als Handlung« (Luhmann 1984, S. 240) konstituieren,1 um schließlich mit seinem Opus Magnum Die Gesellschaft der Gesellschaft eine Theorie der Gesellschaft vorlegen zu können, die auf der Annahme eines einzigen Weltgesellschaftssystems beruht, das sich aus einer Vielzahl an nebeneinander bestehenden Kommunikationssystemen – so z.B. Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Recht, Religion, Kunst, Massenmedien, aber auch Erziehung – zusammensetzt (vgl. Luhmann 1998). Das Weltgesellschaftssystem ist damit komplexer als die darin enthaltenen Kommunikationssysteme, die sich im Umkehrschluss in der Art und Weise analysieren lassen, wie sie die Komplexität der Welt verarbeiten, um ihre Strukturen durch den Aufbau eigener Komplexität erhalten und stabilisieren zu können. Diese Beschreibung liefert eine mögliche Antwort auf die beiden großen soziologischen Fragen, wie Gesellschaft funktioniert und soziale Ordnung aufrechterhalten werden kann (vgl. ebd., S. 60-77 und S. 148-161). Ihr ist darüber hinaus der theoretische Anspruch implizit, dass Gesellschaft als Ganzes nur dann zu verstehen sei, wenn einzelne soziale Prozesse in Bezug auf ihre gesamtgesellschaftliche Funktion hin angeordnet und dadurch entstehende Strukturen in Teilen untersucht werden. Einerseits deutet sich hier ein großes Potenzial der Systemtheorie für gesellschaftstheoretische Fragestellungen an. Andererseits scheint aber auch das, was die Systemtheorie im eingelebten akademischen Alltagswissen einholt, im Besonderen Luhmanns Spielart der Systemtheorie zu betreffen: der 1

Luhmanns Diktum lautet daher: »In der Soziologie lässt sich keine Handlung ohne System und kein System ohne Handlung konstituieren.« (Luhmann 1980, S. 246)

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

Verdacht, ein »umstrittenes Geschäft« (Fuchs 2004, S. 9) im Wissenschaftsbetrieb zu führen, das aufgrund seines Abstraktionsniveaus weder ein »empirisch sensibles Instrumentarium« (Nassehi 2016, S. 13) anbietet noch den Anforderungen der Kategorie des Subjekts entsprechen will. Inwiefern eine damit naheliegende Unbrauchbarkeit für eine Theorie des Subjekts (oder: für eine Theorie der Bildung des Subjekts) allerdings ebenso angezweifelt werden kann, ist daran festzumachen, dass die Systemtheorie gemeinhin als Supertheorie gilt (vgl. Luhmann 1978, S. 9; 1984, S. 19; Baecker 2016c, S. 155). »Supertheorien sind Theorien mit universalistischen (und das heißt auch: sich selbst und ihre Gegner einbeziehenden) Ansprüchen«, die andere Theorien integrieren können (Luhmann 1984, S. 19). Gerade deshalb sind sie nicht auf einzelne Inhalte begrenzt, so dass sie im Umkehrschluss eine Vielzahl an Begriffen und Theorieanlagen bereithalten, »die in der Lage sind, theoretische Zugänge zu Gegenständen beliebiger Art neu zu ordnen« (Baecker 2016c, S. 155). Diese Eigenheit gestattet potenziell ihre integrative »Anwendung in nahezu allen Wissenschaftsbereichen« (Simon 2015, S. 16). Scheint insofern also die Absicht möglich zu sein, innerhalb bildungstheoretischer Überlegungen auf einen systemtheoretischen Begriff der Komplexität zurückgreifen zu können, so liegt in diesem Rahmen paradoxerweise gerade ein besonderes Potenzial der Systemtheorie Luhmanns darin, dass sie den Subjektbegriff und die damit verbundenen normativen Tendenzen und Erwartungen überwindet. Auf einer recht grundlegenden Ebene sind die Implikationen dieser Überwindung am leichtesten anhand einer autobiographischen Notiz zu verdeutlichen, die Luhmann einmal in einem Interview in der Frankfurter Rundschau am Samstag vom 17. April 1985 preisgab: »[E]ine Vorstellung, wie die Gesellschaft gut oder auch nur besser sein könnte, habe ich gar nicht. Ich finde, daß unsere Gesellschaft mehr positive und mehr negative Eigenschaften hat als jede frühere Gesellschaft zuvor. Es ist heute also zugleich besser und schlechter. Das kann man viel zutreffender als üblich beschreiben, aber nicht zu einem Gesamturteil aufaddieren.« (Luhmann 1987, S. 139) Luhmann nimmt hier eine deskriptive und gleichsam generalisierende Neutralität für seine Überlegungen in Anspruch. Demzufolge kann seine Systemtheorie als Theorie der bloßen Reflexion verstanden werden, die sich bewusst von idealisierten Ansprüchen sowie normativer Forschung abgrenzt (vgl. Luhmann 1994/1995, S. 63). Die originelle, wissenschaftstheoretische Ambition, die darin mitschwingt, verortet sich »auf der Ebene der Beobachtung zweiter

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Die Verzeitlichung der Bildung

Ordnung«, deren Augenmerk nicht darauf liegt, was in der Welt zu beobachten ist, sondern darauf, wie etwas von Beobachtenden beobachtet wird,2 das heißt, wie etwas in der Gesellschaft wahrgenommen und darüber kommuniziert wird (Luhmann 1992a, S. 508). Mit seinem Fokus auf Beobachtungen von Beobachtungen entledigt sich Luhmann schließlich jeglichem kritischen Begehren: »Die Theorie des Beobachtens verzichtet auf eine Kritik der Beobachter, die sie beobachtet. Sie weist nicht Fehler nach und behauptet auch nicht, es besser zu wissen, und, wenn man es zuließe: es besser machen zu können.« (Luhmann 1994/1995, S. 63) So gewonnene Eigenbeobachtungen, Begriffe oder gar Erkenntnisse können gerade deshalb als eine Art »Auffangund Abwehrebene für moralische ebenso wie für erkenntnistheoretische (im Wissenschaftssystem selbst generierte) Ansprüche« (Luhmann 1978, S. 9) genutzt werden. Dies ermöglicht es, den Begriff der Komplexität auf einer wertefreien Ebene zu beschreiben, um ihn anschließend für die Kategorie des Subjekts lesbar zu machen zu können, ohne die normativen Ansprüche dieser Kategorie innerhalb der Beschreibung voraussetzen zu müssen. Für Theorien, die auf normative Figuren zurückgreifen, verspricht dies eine deskriptive Eingrenzung ihrer befürworteten Ideale, was einer selbstreflexiven Bewusstwerdung der eigenen Argumentationsposition nur dienlich sein kann. Wenn daher grundsätzlich ein Argument dafür gefunden ist, warum es legitim scheint, sich gerade mit Luhmanns Systemtheorie inhaltlich im Dienste einer auf das Subjekt bezogenen Perspektive auseinanderzusetzen, dann ist ebendieses Argument im Weiteren dahingehend zu bestärken, dass ihre generalisierenden Absichten in Korrespondenz mit einem theoretischen Anspruch an den Begriff der Komplexität stehen, dem man mit einer rein auf das Subjekt bezogenen Perspektive nicht mehr gerecht wird. Denn der bereits erwähnte Sachverhalt, dass Luhmann seinen Forschungsfokus im Anschluss an Parsons erstens von Handlungssystemen auf Kommunikationssysteme umstellt, damit zweitens Handlungen als Zurechnungen von Kommunikationsprozessen begreift und die Produkte jener Zurechnungen drittens in der Reduktion von Komplexität ausmacht, sensibilisiert zusammengefasst dafür, dass Komplexität zwar das Handeln der Subjekte betrifft, aber nicht mehr allein darauf zurückgeführt werden kann. Empirisch ist dies auf einer ganz grundsätzlichen Ebene so zu verstehen, dass Komplexität ein Phänomen darstellt, das dem Subjekt nicht per se gegenübersteht, sondern ihm als weltliches Phänomen schon auf einer abstrakteren, ja, übergeordneten Ebene ent2

Zu Luhmanns Begriff des Beobachtens vgl. Abschnitt 5.1.2.

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

gegentritt. Komplexität ist daher nicht nur ein Resultat der Beziehung zwischen Subjekt und Welt. Vielmehr ist bereits die Beziehung zwischen Subjekt und Welt komplex. Infolgedessen scheint es eine notwendige Konsequenz zu sein, das Phänomen der Komplexität zuvorderst auf einer abstrakten Ebene zu beschreiben, um die damit verbundenen Bedeutungen für ein Subjekt überhaupt erst einsehen zu können.3 Dieser Spur gilt es in den weiteren Überlegungen wie folgt nachzugehen: Zunächst wird es darum gehen, den Komplexitätsbegriff in seinen systemtheoretischen Grundannahmen aufzuarbeiten und bildungstheoretisch anschlussfähig, das heißt primär im Hinblick auf eine angenommene Beziehung zwischen Subjekt und Welt, einzugrenzen (vgl. Abschnitt 5.1). Wenngleich ein häufig formulierter Vorwurf an Luhmann darin besteht, dass ihm in seinen Betrachtungen »das Subjekt abhanden gekommen« sei (Luhmann 2009, S. 225), so gilt es zu zeigen, dass seine theoretischen Bezüge durchaus Anschlussmöglichkeiten an eine Theoretisierung des Subjekts anbieten, die auf der Ebene einer Beschreibung sich funktional ausdifferenzierender sozialer Systeme oftmals lediglich angedeutet bleiben. Im Verlauf der Betrachtungen wird sich dabei gerade Luhmanns Medienverständnis als wegweisende Referenz erweisen, die auf der »präsystemtheoretischen

3

In gewisser Weise folgt diese Einsicht dem derzeitigen Erkenntnisideal, dass sich das Subjekt nicht mehr vollständig durch einen alleinigen Blick auf das Subjekt analysieren lässt, sondern innerhalb einer größer angelegten Ordnung reflektiert werden muss. In bildungstheoretischen Diskursen der Gegenwart wird diesem Erkenntnisideal z.B. mit der zunehmend an Popularität gewinnenden Methodik entsprochen, der Beschreibung und Reflexion von Bildungsprozessen mit einer praxistheoretischen Haltung zu begegnen (vgl. z.B. Allert/Asmussen 2017; Bettinger 2018; Jörissen 2015b). Wie sich bereits anhand der Grundlagentexte dieser Haltung studieren lässt, geht damit ein Denken einher, welches das Subjekt in eine Praxis auflöst, welches es also »zerbröckelt und es systematisch verteilt, welches die Identität des Subjekts bestreitet, es auflöst und von Platz zu Platz gehen läßt, ein Subjekt, das immer Nomade bleibt, aus Individuationen besteht, aber aus unpersönlichen, oder aus Besonderheiten, aber aus vorindividuellen« (Deleuze 1977, S. 55). In der Andeutung dieser TheorieParallele zeigen sich womöglich fruchtbare Überschneidungen zwischen Praxistheorie und Systemtheorie, die trotz eines unterschiedlichen Erkenntnisinteresses eine ähnliche Theorieanlage aufweisen (vgl. Hillebrandt 2006; Nassehi 2011, S. 89-122) und damit beide für bildungstheoretische Konzeptionen von Interesse sein könnten. Vor dem Hintergrund dieses Potenzials ist zu betonen, dass die hier intendierte Auseinandersetzung mit der Systemtheorie vor allen Dingen vom Komplexitätsbegriff herrührt.

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Die Verzeitlichung der Bildung

Unterscheidung von Medium und Form« (ebd., S. 227) basiert und den Begriff der Komplexität dann bildungstheoretisch vertiefen lässt, wenn man die Beziehung zwischen Subjekt und Welt als eine technisch-medial strukturierte Beziehung auslegt (vgl. Abschnitt 5.2). Mit diesen ersten oberflächlichen Querverbindungen kristallisiert sich schon heraus, dass ein systemtheoretischer Komplexitätsbegriff auch ein Anliegen der Medienpädagogik darstellt, was es schließlich mit besonderem Augenmerk auf bildungstheoretische Fragestellungen zu akzentuieren gilt (vgl. Abschnitt 5.3). Mithin können die folgenden Betrachtungen also als Beitrag zur medienpädagogischen Rezeption der Systemtheorie gelesen werden.4 Bestärkung zu einem solchen Unterfangen findet sich insbesondere bei Dieter Spanhel, der die Systemtheorie für die Konzeption einer Theorie der Medienerziehung heranzog und dabei auch auf deren Potenzial für eine Medienpädagogik verwies, die aufgrund ihrer jungen Disziplinhistorie noch »durch mancherlei begriffliche Unklarheiten und Ungereimtheiten gekennzeichnet« sei und damit vor allem von universalen Theorien profitieren könne (Spanhel 2006, S. 21).

5.1

Komplexität: Systemtheoretische Prämissen und bildungstheoretische Eingrenzungen

Bereits mit den Vorstudien zu den beiden Großprojekten Soziale Systeme (vgl. Luhmann 1984) und Die Gesellschaft der Gesellschaft (vgl. Luhmann 1998), also der Grundlegung einer Theorie sozialer Systeme einerseits und der darauf gründenden Ausarbeitung einer fundierten Theorie der Gesellschaft andererseits, bestimmt Luhmann den Komplexitätsbegriff als systemtheoretischen Grundbegriff (vgl. Luhmann 1971b, S. 292-315; 1975, S. 25; 1982, S. 204ff). Inhaltlich geht diese Bestimmung von der Problematik aus, dass verschiedene Forschungszweige – referiert wird unter anderem auf Bereiche der Organisationstheorie, Psychologie und Formalwissenschaften (vgl. Luhmann 1982, S. 204) – im Rahmen ihrer je disziplinimmanenten Komplexitätsverständnisse »recht heterogene Verwendungen« (Luhmann 1975, S. 28) aufweisen.

4

Dass damit kein völliges Neuland betreten wird, zeigt ein Seitenblick auf einige sowohl theoretisch als auch empirisch vorliegende Überlegungen medienpädagogischer Provenienz: z.B. Aßmann 2013; Barberi 2017; Pietraß 2018a; Ruckdeschel 2015; Sutter 2008; Tulodziecki 2017.

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

Als übergreifenden Berührungspunkt dieser Verwendungen benennt Luhmann in früheren Schriften die Verhandlung des »Mannigfaltige[n] unter dem Gesichtspunkt einer Einheit« (ebd.; Hervorh. C.L.) und in späteren Schriften die Beschreibung der »Einheit einer Vielheit« (Luhmann 1998, S. 136; Hervorh. im Orig.). Definiert als Einheit einer Vielheit liegt dem Begriff der Komplexität eine Paradoxie zugrunde, die in ihrem Kern auf das mathematische Grundproblem anspielt, dass mit der Anzahl von festgelegten Elementen »die möglichen Relationen zwischen ihnen überproportional, nämlich in geometrischer Progression zunehmen; je mehr Elemente man hat, umso mehr ist jedes einzelne Element durch Verknüpfungsanforderungen überfordert« (Luhmann 2009, S. 173). Komplexität tritt in diesem Sinne überall dort als Sachverhalt auf, wo Beziehungen zwischen Elementen hergestellt werden, die nicht mehr allein aufeinander reduzierbar sind (vgl. Baecker 2013b, S. 168). Für Luhmann setzen komplexe Sachverhalte folglich stets Selektionen voraus, mit denen eine Festlegung auf relevant erscheinende Elemente erfolgt, von denen aus wiederum Relationen zu anderen Elementen entstehen: die »Selektion placiert und qualifiziert die Elemente, obwohl für diese andere Relationierungen möglich wären« (Luhmann 1984, S. 47). Bereits dies lässt sich auf den bildungstheoretisch bedeutsamen Umstand übertragen, dass mit jeder Problemlösung der Zugang zu neuen Problemen geebnet ist, dass mit jeder Form des Wissens letztlich Gewissheit darüber erlangt werden kann, was man noch nicht weiß, dass mit jeder Bestimmung eines Welt- und Selbstverhältnisses die Gefahr neuer, fremdbestimmender Unbestimmtheiten wächst. Diese Beispiele liefern einerseits eine Erklärung für die erkenntnistheoretisch unbefriedigende Einsicht, dass »der Stein der Weisen […] nur ein Sandkorn unter Millionen anderen« sein kann (Baecker 1988, S. 329); andererseits ist hier auf eine (inhaltlich) stets unvollendete Grundstruktur des menschlichen Lebens hingewiesen, in dem sich auch die ideelle Vorstellung von Selbstbestimmung immer wieder aufs Neue zu bewähren hat. Um im Folgenden einen systemtheoretisch ausdifferenzierten und zugleich bildungstheoretisch anschlussfähigen Blick auf diese Grundstruktur zu erhalten, sind insgesamt vier Arbeitsschritte notwendig: Ausgangspunkt ist eine Darlegung der wesentlichen Grundbegriffe und -annahmen aus Luhmanns Systemtheorie (vgl. Abschnitt 5.1.1). Diese Darlegung ermöglicht eine vertiefende Auseinandersetzung mit Luhmanns Formalisierungen zu einem formtheoretisch hergeleiteten Begriff des Beobachtens (vgl. Abschnitt 5.1.2) und zu einem medientheoretisch hergeleiteten Sinnbegriff (vgl. Abschnitt

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Die Verzeitlichung der Bildung

5.1.3). Auf diese Weise können alle notwendigen Prämissen erarbeitet werden, um schließlich den Begriff der Komplexität in seinen Grundzügen zu bestimmen (vgl. Abschnitt 5.1.4). Die generelle Schwierigkeit, aber sicherlich auch besondere Stärke von Luhmanns Systemtheorie liegt darin, dass sie mit einer fortwährenden internen Verweisungsstruktur arbeitet, in der jeder neu eingeführte Begriff bis dato verwendete Begriffe aktualisiert. Dies ist zum einen das Resultat von Luhmanns »Kommunikation mit Zettelkästen« (Luhmann 1992b, S. 53), einer spezifischen Arbeitsweise, die sich durch den Rückgriff auf solche Notizen auszeichnet, welche durch gewählte Mehrfachverweise untereinander eine »Unordnung mit nichtbeliebiger Struktur« (ebd., S. 57) bilden und folglich unterschiedliche Verweisungen von Informationen ohne ein festes Muster ermöglichen. Zum anderen liegt die Notwendigkeit einer internen Verweisungsstruktur im Aufbau der Theorie selbst begründet, die aus dem Anspruch heraus entstanden ist, dass sie »sich aus nicht zu erhellenden Momenten ihrer selbst aufbauen und ihre Gestalt beim Schreiben wie beim Lesen laufend ändern können müsste« (Lehmann 2011b, S. 55). Die im Folgenden vollzogene Auseinandersetzung mit Luhmann passt sich an diese Voraussetzungen an und versucht mit der Einführung jeder neuen Begrifflichkeit damit implizierte Aktualisierungen zu (re-)formulieren, versucht also, Schritt für Schritt das Abstraktionsniveau durch Konkretion zu senken. Das grundsätzliche Dilemma, das damit einhergeht, findet sich ebenso erhellend wie ermutigend von der Luhmann-Schülerin Maren Lehmann wie folgt notiert: »Wolfgang Jonas bat mich, ›eine (sehr grundsätzlich und elementar angelegte) Keynote über Systemtheorie und Design und Evolution‹ vorzubereiten. Das war einfach insofern, als ich den Eindruck habe: Je mehr ich über Systemtheorie lese und je entschiedener ich mit ihr arbeite, desto weniger kenne ich mich mit ihr aus.« (Ebd., S. 100)

5.1.1

Grundannahmen aus Luhmanns Theorie sozialer Systeme

Das zentrale Paradigma der Systemtheorie Luhmanns ist die Unterscheidung zwischen System und Umwelt (vgl. Luhmann 1984, S. 242-285; 1998, S. 60-78). Seine Überlegungen basieren demzufolge auf einer Eingrenzung der traditionellen systemtheoretischen Leitunterscheidung zwischen ›Teil‹ und ›Ganzes‹ und folgen insofern einem Vorschlag des Biologen Ludwig van Bertalanffy, der die System/Umwelt-Unterscheidung in die Systemtheorie

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

einführte, um zwischen einer Theorie des Organismus, der Thermodynamik und der Evolutionstheorie zu vermitteln (vgl. Luhmann 1984, S. 22). Zur theoretischen Ausdifferenzierung von Systemen bezieht sich Luhmann auf den Terminus der Autopoiesis (vgl. ebd., S. 60ff), der von den Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela zur Beschreibung der sich selbst erzeugenden Organisation von Lebewesen vorgeschlagen worden ist (Maturana/Varela 1987, S. 50). Autopoiesis bezeichnet den Prozess der Selbstorganisation der Systeme durch sich selbst, das heißt, »Selbstreproduktion des Lebens durch die Elemente, die im lebenden System selber produziert worden sind« (Luhmann 2009, S. 65). Jedes lebende System ist insofern in einem radikalen Sinne konstruktivistisch organisiert, weil es die Elemente, aus denen es besteht, fortwährend selbst (re-)produziert. Am leichtesten ist dieser Prozess auf einer sehr grundsätzlichen Ebene nachzuvollziehen: bereits eine Zelle, also die kleinste lebende Einheit, reproduziert eigenständig »die Bestandteile, die sie zur Aufrechterhaltung ihrer Organisation benötigt: Proteine, Nukleinsäuren, Lipide usw.« (Schuldt 2017, S. 25). Luhmann bezeichnet die Prozesse des internen Selbsterhalts durch Reproduktion der eigenen Elemente als Operationen. Insofern ist alles, was lebt, auf autopoietische Operationen von Systemen zurückzuführen (vgl. Luhmann 1984, S. 79). Die wichtigste Bedingung (und zugleich Folge) dieser Einsicht lautet Selbstreferenz. Der Begriff legt fest, dass ein System seine Strukturen selbst bildet und nicht auf einen »Strukturimport« von außen angewiesen ist (Luhmann 2009, S. 101). Autopoiesis ist demnach immer gleichbedeutend mit »operativer Schließung« (Luhmann 1998, S. 45), weil ein System nur aufgrund seiner eigenen, auf sich selbst bezogenen Operationen »für sich selbst« (Luhmann 1984, S. 58) sein kann. Wenn zu Beginn der vorliegenden Arbeit innerhalb unterschiedlich gesetzter Vertiefungen dargelegt werden konnte, dass die ideelle Vorstellung von sich selbstbestimmenden Subjekten niemals vollständig ohne einen konstitutiven Bezug zu Momenten oder Erfahrungen der Fremdbestimmung zu denken ist, dann setzt die Vorstellung von selbstreferentiellen Systemen im Grunde genommen eine ähnliche konstitutive Abhängigkeit an das Äußere voraus. Diese Abhängigkeit drückt sich im Wesentlichen darin aus, dass alles, was existiert, »immer zugleich zugehörig zu einem System (oder zu mehreren Systemen) und zugehörig zur Umwelt anderer Systeme« (ebd., S. 243) ist. Jede beliebig bestimmte Umwelt ist damit für ihr System mehr als bloß »eine Art Restkategorie« (ebd., S. 242), indem sie als Grundbedingung zur »Identität des Systems«

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Die Verzeitlichung der Bildung

(ebd., S. 243) fungiert, genauso wie fremdbestimmende Strukturen der Welt als konstitutive Voraussetzungen für individuelle Selbstbestimmung notwendig sind. Insofern darf der Terminus der Autopoiesis nicht dahingehend missverstanden werden, dass das System allein aus sich heraus, aus eigener, umweltunabhängiger Kraft bestehen kann. Vielmehr gilt die Paradoxie, dass nur die Operationen eines Systems einen Anschluss zu der dem System äußeren Umwelt herstellen, dass also die Geschlossenheit des Systems letzten Endes der Ursprung einer an die Umwelt angrenzenden Offenheit ist (vgl. ebd., S. 96). Als leicht verständliches Beispiel dafür kann das Auge angeführt werden, bei dem nur »die Geschlossenheit des Nervensystems« eine »Offenheit im Sinne der Verarbeitungsfähigkeit« von Eindrücken aus der Umwelt gewährt (Krüll/Deissler/Ludewig 1997, S. 143). Die ausführliche Beschreibung dieses Sachverhalts ist deshalb notwendig, weil das Zusammenspiel zwischen Geschlossenheit und Offenheit für systemtheoretisches Denken ganz wesentlich mit zwei theoretischen Prämissen einhergeht: Zum Ersten kann sich systemtheoretische Forschung nicht mit einem einzigen Fokus auf die Beschreibung von Systemen begnügen, sondern hat immer auch deren Differenz zur Umwelt mit zu verfolgen. Zum Zweiten kann es nicht das eine System und nicht die eine Umwelt geben, weil alles, was existiert, »immer zugleich zugehörig zu einem System (oder zu mehreren Systemen) und zugehörig zur Umwelt anderer Systeme« ist (Luhmann 1984, S. 243; Hervorh. C.L.). Aufbauend auf diesen Prämissen gilt Luhmanns Interesse nun der Gegenüberstellung von psychischen und sozialen Systemen: »psychische Systeme als konstituiert auf der Basis eines einheitlichen (selbstreferentiellen) Bewußtseinszusammenhanges und soziale Systeme als konstituiert auf der Basis eines einheitlichen (selbstreferentiellen) Kommunikationszusammenhanges« (ebd., S. 92). Diese Definitionen sind von entscheidender Bedeutung für ein präzises Verständnis des luhmannschen Theorieprogramms, denn sie betonen im Detail, dass sowohl psychische als auch soziale Systeme entgegen aller (v.a. auch bildungstheoretisch naheliegender) Intuition keine Subjekte sind. Vielmehr repräsentieren psychische Systeme alle sinnlichen Operationen des Bewusstseins, wie z.B. Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen oder Erfahrungen (vgl. Pietraß 2018a, S. 83), was empirisch weit »vom Dösen und Tagträumen bis zur mathematischen Rechnung« (Luhmann 1995, S. 61) reicht. Demgegenüber repräsentieren soziale Systeme unterschiedliche Komplexe von Kommunikationsprozessen, die sich entweder als Interaktionssysteme (z.B. ein Prüfungsgespräch) oder als Organisationssysteme (z.B. ein Arbeitsvertrag, der zu bestimmten Tätigkeiten verpflichtet) präzisieren lassen

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

(vgl. Luhmann 1984, S. 16f.). Dabei gilt: Sobald Kommunikation stattfindet, das heißt, sobald Bewusstseinsvorgänge in welcher Art und Weise auch immer geteilt werden, entstehen soziale Systeme. Und sobald auf Kommunikation nicht mit weiterer Kommunikation reagiert wird, hört ein soziales System auf, zu bestehen. Die Sprache ist der entscheidende Faktor innerhalb dieser Konstellation. Denn sie fungiert als Vermittler zwischen psychischen und sozialen Systemen, indem sie Strukturen wie objektivierte Zeichen und Symbole bereitstellt. Demgemäß wird eine Thematisierung von Sachverhalten sowohl im Bewusstsein als auch in der Kommunikation möglich, wobei soziale Systeme nicht denken und psychische Systeme nicht kommunizieren können.5 In den Worten Luhmanns heißt das: »Der Mensch kann nicht kommunizieren; nur die Kommunikation kann kommunizieren. […] Gedankenarbeit ist Gedankenarbeit in jeweils einem Bewußtsein, und Kommunikation ist Kommunikation im sozialen System der Gesellschaft.« (Luhmann 1984, S. 31) Grundlegend lässt sich mit dieser Gegenüberstellung die allgemeine Vorstellung von selbstreferentiellen, autopoietischen Systemen insofern präzisieren, als psychische und soziale Systeme in ein strukturell-gekoppeltes, co-evolutives Verhältnis zueinander anzuordnen sind, bei dem die »jeweils eine Systemart« die Rolle einer »notwendige[n] Umwelt der jeweils anderen« übernimmt (ebd., S. 92). Schließlich sind damit alle Voraussetzungen genannt, um nunmehr den Sachverhalt aufarbeiten zu können, dass die selbstreferentiellen, autopoietischen Operationen sowohl psychischer als auch sozialer Systeme von Luhmann als Beobachtungen deklariert werden, deren Produkte wiederum im Medium Sinn zu bündeln sind. Beide Begriffe stehen im Zentrum der folgenden Abschnitte 5.1.2 und 5.1.3.6 5

6

Entsprechend gilt auch, dass die Gesellschaft (bzw. das Weltgesellschaftssystem) als übergeordnete Gesamtheit aller (vergangenen, aktuellen und noch folgenden) sozialen Systeme auftritt (vgl. Luhmann 1984, S. 16). Sie verweist folglich nicht auf eine Menschheit im Gesamten, sondern auf Systeme, die durch Kommunikation eine eigene gesellschaftliche Wirklichkeit konstruieren (vgl. Luhmann 1978, S. 31). Am Rande sei angemerkt, dass vor allem der Begriff des Beobachtens charakteristisch für das Spätwerk Luhmanns ist. Das Werk Luhmanns wird für gewöhnlich in zwei Phasen (früh/spät) eingeteilt: So bezeichnet z.B. Rainer Schützeichel die frühe Phase als »›kommunikationstheoretische Systemtheorie‹, in welcher das Problem der Selbstreferentialität im Vordergrund steht«. Die späte Phase beginnt demgegenüber nach der im Jahr 1984 erfolgten Publikation von Soziale Systeme allmählich mit dem »verstärkten Einbau der Formenanalyse von Spencer Brown […] und hat eine begriffliche Umschichtung auf die Elemente Unterscheidung/Beobachtung/Operation zur Folge. Sie

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Die Verzeitlichung der Bildung

5.1.2

Beobachten als Differenz zwischen Unterscheiden und Bezeichnen

Zunächst zum Beobachten. Luhmanns theoretische Formalisierung zu diesem Begriff steht in nicht aufzulösender Verbindung zur differenztheoretischen Auslegung des Formkalküls, mit dem an die »Unterscheidungslogik und Formentheorie« (Baecker 1993a, S. 19) angeschlossen ist, die der britische Mathematiker George Spencer Brown in seiner Monographie Gesetze der Form ausgearbeitet hat (vgl. Spencer Brown 1969/1994). Diese Theorie legt ein Verständnis von Beobachten nahe, das sich »aus der Idee der Unterscheidung und der Idee der Bezeichnung« (Baecker 2016d, S. 249; Hervorh. C.L.) speist. Ganz grundsätzlich ist damit auch eine Theoretisierung für den Begriff der Wahrnehmung gefunden, was Querverbindungen zu solchen Überlegungen gewährt, deren Herzstück nicht das System, sondern das Subjekt ist. Die in Spencer Browns Beobachtungsbegriff eingeschriebene Idee der Unterscheidung stellt dafür das wichtigste Indiz dar. Eine Vorwegorientierung leistet die Erinnerung an das oben dargelegte informationstheoretische Verständnis von Aneignung (vgl. Abschnitt 2.4.2), in dessen Zentrum Gregory Batesons Definition von einer Information als unterschiedsgenerierendem Unterschied stand. Abgesichert wird diese Orientierung durch Luhmann selbst, der Wahrnehmung als »psychische Informationsgewinnung« (Luhmann 1984, S. 50) definiert. Nicht zuletzt lässt sich eine konkrete definitorische Brücke zwischen Wahrnehmen und Unterscheiden mit einem weiteren Verweis auf Bateson schlagen, der in seiner Monographie Geist und Natur schreibt: »Wahrnehmung arbeitet nur mit Unterschieden. Jede Informationsaufnahme ist notwendig die Aufnahme einer Nachricht von einem Unterschied, und alle Wahrnehmung von Unterschieden ist durch Schwellen begrenzt. Unterschiede, die zu klein oder zu langsam dargestellt sind, können nicht wahrgenommen werden. Sie sind keine Nahrung für die Wahrnehmung.« (Bateson 1987/2017, S. 39f.; Hervorh. C.L.)

kann als ›operative Systemtheorie‹ bezeichnet werden.« (Schützeichel 2003, S. 16) Ein Fokus auf das Spätwerk Luhmanns wird an dieser Stelle intendiert, weil sich so vor allem Bezüge zum Subjekt ermöglichen. Insofern bleibt die Frage offen, ob die operativ ausgelegte Variante nicht auch als unausgesprochenes Eingeständnis dafür gelesen werden kann, dass systemtheoretisches Denken in letzter Konsequenz das Subjekt nie ganz überwinden kann.

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

Die zentrale Prämisse des Formkalküls Spencer Browns besteht nun darin, dass, sobald etwas im Rahmen einer Beobachtung bezeichnet wird, schon implizit eine Unterscheidung getroffen ist (vgl. Spencer Brown 1969/1994, S. 1). Konkret heißt das: Sobald man etwas als komplex bezeichnet, ist eine Unterscheidung zu dem getroffen, was einfach sein könnte. Und weiter könnte man ausführen: Sobald man etwas als System bezeichnet, ist eine Unterscheidung zu dem getroffen, was Umwelt sein könnte. Sobald man eine Handlung als selbstbestimmte Handlung festlegt, ist eine Unterscheidung zu einer Erfahrung von Fremdbestimmung getroffen. Sobald man eine Farbe als weiß identifiziert hat, ist eine Unterscheidung zu allen anderen Farben getroffen, die nicht weiß sind. Sobald man vom Tag spricht, ist eine Unterscheidung zur Nacht getroffen usw. Insofern lassen sich Unterscheiden und Bezeichnen als die beiden Grundbedingungen jeder Wahrnehmung ausweisen. Gleichsam ebnet sich mit diesen Bedingungen der Weg zu einem logischen Verfahren, das Spencer Brown wie folgt auf den Punkt bringt: »Triff eine Unterscheidung. […] Nenne [bezeichne, C.L.] den Raum, der durch jedwede Unterscheidung gespalten wurde, zusammen mit dem gesamten Inhalt des Raumes die Form der Unterscheidung.« (Spencer Brown 1969/1994, S. 3f.; Hervorh. C.L.) Luhmann interpretiert den hier vorgeschlagenen Begriff der Form als die begriffliche Zusammenfassung einer Differenz, das heißt als Zusammenfassung einer »Unterscheidung von zwei Seiten« (Luhmann 1998, S. 142). Die oben eingeführte Definition von Komplexität als Einheit einer Vielheit ist in diesem Sinne eine Form, weil sie eine beobachtete Differenz begrifflich zusammenfasst, bei der die Einheit, die bezeichnet wird, auf eine Vielheit verweist, die strukturell an diese Bezeichnung gekoppelt ist. Mit einer solchen Konzeptualisierung ist einerseits die theoretische Verneinung dessen möglich, dass es sich bei den Bezeichnungen der Einheit und Vielheit im Kontext von Komplexität »um etwas Verschiedenes« (ebd., S. 136) handeln könnte. Andererseits »ist der leichte Ausweg blockiert, daß man mal als Einheit und mal als Vielheit spricht« (ebd.), auch wenn man sich während einer Beobachtung immer auf eine ausgewählte Unterscheidung konzentriert und auf diese Weise notwendigerweise einen »blinde[n] Fleck« (Luhmann 2009, S. 145) in Kauf nimmt. Zusammenfassend lässt sich also behaupten, dass Beobachtungen auf das Setzen einer Unterscheidung zugunsten einer bezeichneten und zuungunsten einer unbezeichneten Seite angewiesen sind, während der Formbegriff sicherstellt, dass auch die unbezeichnete Seite innerhalb einer Unterscheidung implizit mitgedacht (beobachtet) wird. Auch Bildung wäre in diesem Sinne als eine Form zu verstehen, beispielsweise als

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Die Verzeitlichung der Bildung

begriffliche Zusammenfassung der Differenz zwischen konkreter Bestimmtheit und offenbleibender Unbestimmtheit oder eben als Differenz zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung. Im Rückblick auf die bislang eingeführten Begriffe der Systemtheorie Luhmanns darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Operation des Beobachtens innerhalb des strukturell-gekoppelten Zusammenspiels zwischen psychischen und sozialen Systemen dann zustande kommt, wenn eines dieser Systemtypen aufgrund von Unterscheidungen und damit implizierten Bezeichnungen zu seiner selbstreferentiellen Erhaltung beiträgt (vgl. Esposito 1997a, S. 124). Daraus resultiert, dass nur innerhalb der Beobachtungen von psychischen und sozialen Systemen, also innerhalb von Gedanken und Kommunikationszusammenhängen, zwischen dem einen oder dem anderen Systemtyp unterschieden werden kann. Das hat letztlich die Auflösung der Unterscheidung zwischen Selbstreferenz und Beobachtung zur Folge, weil das System, welches Beobachtungen hervorbringt, sich per se von dem unterscheiden muss, was beobachtet wird. Luhmann kann diesen Sachverhalt in seinen verschriftlichten Vorlesungen zur Einführung in die Systemtheorie präzisieren, wenn er zwischen der Tätigkeit des Beobachtens und den Beobachtenden selbst unterscheidet: Beobachten ist dann »als eine Operation« gekennzeichnet, während »der Beobachter als ein System« zu verstehen ist, »das sich bildet, wenn solche Operationen nicht nur Einzelereignisse sind, sondern sich zu Sequenzen verketten, die sich von der Umwelt unterscheiden lassen« (Luhmann 2009, S. 142). Damit sind schließlich alle Vorannahmen formuliert, um sich nunmehr allmählich von den Verstrickungen der Systemtheorie lösen und folglich nach ersten bestehenden Anschlussmöglichkeiten an subjektbezogene Überlegungen suchen zu können. Antrieb und Berechtigung dafür liefert der Hinweis, dass der Begriff der Komplexität von Luhmann zwar innerhalb der Unterscheidung zwischen System und Umwelt gedacht wird, jedoch als »Formprinzip« (Willke 2005, S. 303) grundsätzlich nicht systemtheoretisch limitiert thematisiert werden muss. Auch die Welt als totalisierendes Konzept von System und Umwelt ist komplex (vgl. Luhmann 1984, S. 95; 1998, S. 138; 2009, S. 168). Gerade, weil Spencer Browns Theorie der Form nicht den abstrakten Beobachter als System, sondern einen wirklichkeitskonstruierenden Prozess der Wahrnehmung voraussetzt, kann sie in die bildungstheoretisch zentrale Beziehung zwischen Subjekt und Welt eingetragen werden. Bildungstheoretisches Nachdenken kann sich in diesem Sinne auf einen Formbegriff konzentrieren, der darauf abhebt, dass sich die

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

Wahrnehmungen der Subjekte durch Unterscheidungen und Bezeichnungen konstituieren, die wiederum ihre je individuellen Welt- und Selbstverhältnisse hervorbringen. Es handelt sich hier um eine Interpretation, die in der Notiz Bestärkung findet, dass auch die Theoretisierung des Formkalküls mit der Beobachtung von Selbstverhältnissen abschließt. Spencer Brown bezeichnet diesen Beobachtungsvorgang als »Wiedereintritt in die Form« (Spencer Brown 1969/1994, S. 60; Hervorh. im Orig.), der in der deutschsprachigen Systemtheorie (vgl. z.B. Baecker 2016d, S. 253; Klett 2013, S. 67; Luhmann 2009, S. 166 oder Nassehi 1993a, S. 379) in der Regel unter dem englischen Originalterminus »re-entry« (Spencer Brown 1969, S. 69) verhandelt wird. Der re-entry thematisiert in erkenntnistheoretischer Hinsicht, dass Beobachter als Systeme bzw. der Beobachter und die Beobachterin als wirklichkeitskonstruierende Subjekte eine Unterscheidung vollziehen können, bei der sie zwischen innen (System oder Selbst) und außen (Umwelt oder Welt) unterscheiden. Da solche Unterscheidungen aber stets vom System oder vom Selbst intern getroffen werden, findet postwendend ihr Wiedereintritt in das Unterschiedene statt (vgl. Simon 2015, S. 66). Die Form tritt auf diese Weise wieder in ihren eigenen Gegenstandsbereich ein, wodurch die Beobachtenden zu einem Teil dessen werden, was sie beobachten (vgl. Luhmann 1992a, S. 74; 2009, S. 167); sie nehmen jene Unterscheidung wahr, derer sie sich selbst verdanken (vgl. Baecker 2016d, S. 254). Die Figur des re-entry konfrontiert damit offensichtlich mit den Grenzen des erkenntnistheoretisch Vorstellbaren. So schreibt beispielsweise Dirk Baecker in Auseinandersetzung mit den formtheoretischen Prämissen Spencer Browns: »Der Wiedereintritt ist die Form, die die Entdeckung annimmt, daß wir es bei der Konstruktion der Universen nicht mit einer endlichen Bewegung mit Anfang und Ende, sondern mit einer unendlichen Bewegung zu tun haben. […] Der Beobachter entdeckt sich selbst als wiedereingetreten in das, was er unterscheidet, und muß auch alles, was er unterscheidet, als eine Form des Wiedereintritts begreifen. Jede Unterscheidung, jede Schließung, auch der Beobachter selbst, betrachtet als Form, ist bereits ein Wiedereintritt.« (Baecker 1993b, S. 26) Mit der Figur des re-entry ist folglich eine tautologische Struktur des Lebens beschrieben, in der jede unterscheidende Beobachtung an bislang getroffene Unterscheidungen anschließt. Unter solchen Voraussetzungen korrespondiert die Frage, was Selbst und Welt ist, mit den jeweiligen Welt- und Selbstverhältnissen der Subjekte und ihren mittels Beobachtungen getroffenen Be-

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Die Verzeitlichung der Bildung

zeichnungen und Unterscheidungen. Denn erst dadurch wird eine Differenz zwischen Selbst und Welt »prozessiert« (Klett 2013, S. 67) und für das Subjekt empirisch erfahrbar. Insofern entscheidet jede einzelne Situation, die Subjekte beobachten, darüber mit, wer sie in ebendieser Situation sein können. Allgemeiner formuliert hängt also die Frage, wer man ist, primär davon ab, was in der Welt um einen herum beobachtet, also unterschieden und bezeichnet werden kann. Das ermöglicht schließlich den Übergang zu Luhmanns Sinnbegriff, der Aufschluss darüber gestattet, inwiefern Unterscheidungen und Bezeichnungen (sinnhaft) geordnet werden.

5.1.3

Sinn als Medium der Möglichkeiten

Luhmanns Sinnbegriff basiert ganz wesentlich auf zwei Prämissen: Zum Ersten ist Sinn die Ordnungsform jeglichen menschlichen Erfahrens und betrifft daher jedes »aktuell vollzogene Erleben oder Handeln« (Luhmann 1984, S. 94). Um definitorische Missverstände zu vermeiden, ist noch einmal zu betonen, dass Erleben und Handeln im Sinne Luhmanns keine Aktivitäten des Subjekts sein können. Vielmehr handelt es sich um Interaktionen in psychischen oder sozialen Systemen, die sich in Kommunikationen durch Zurechnungen konstituieren, wobei die Differenz zwischen Erleben und Handeln unterschiedliche Richtungen ebensolcher Zurechnungen (Selbstzurechnung oder Fremdzurechnung) akzentuiert (vgl. Luhmann 1971b, S. 305). Entsprechend wird intentionale Kommunikation in sozialen Systemen dann »als Erleben registriert, wenn und soweit seine Selektivität nicht dem sich verhaltenden System, sondern dessen Welt zugerechnet wird. Es wird als Handeln angesehen, wenn und soweit man die Selektivität des Aktes zu dem sich verhaltenden System selbst zurechnet.« (Luhmann 1981, S. 68f.) Zum Zweiten gestattet Sinn den Umgang mit Komplexität (vgl. Luhmann 2009, S. 237). Sinn stellt demnach sicher, dass eine Festlegung auf eine beobachtete Einheit möglich ist, die wiederum jedoch mit einer Vielheit konfrontiert. Luhmann präzisiert diesen Sachverhalt in prozessualer Hinsicht als »Form der Wiedergabe, die punktuellen Zugriff, wo immer ansetzend erlaubt, zugleich aber jeden solchen Zugriff als Selektion ausweist« (Luhmann 1984, S. 95). Sinn bezeichnet folglich den Sachverhalt, dass Etwas zugleich »auf sich selbst und anderes verweist« (Luhmann 2008, S. 12). Jede Sinnstiftung schließt daher andere Sinnstiftungen aus und hält zugleich eine Auswahl zukünftiger Sinnstiftungen offen. Dadurch entsteht ein fortwährender Zwang zur Selektion, der in Handlungsbedarf mündet: »Wir haben ein Auto, müssen aber erst noch entscheiden, wohin wir damit

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

fahren. Wir haben eine Sprachkompetenz, müssen aber erst noch entscheiden, was wir sagen.« (Luhmann 2009, S. 236f.) Mit diesen Aspekten sind ebenso weitreichende wie voraussetzungsvolle Eingrenzungen formuliert, die weitere Ausführungen notwendig werden lassen. Dieser Notwendigkeit ist im Folgenden mit der Frage zu entsprechen, was in subjektbezogener Hinsicht von Luhmanns Sinnbegriff zu halten ist. Wegweisend für die Beantwortung dieser Frage ist der Sachverhalt, dass Sinn als Ordnungsform menschlichen Erfahrens als eine unerlässliche Bedingung »aller Operationen sowohl für psychische als auch für soziale Systeme« anzuerkennen ist (Luhmann 1984, S. 141). Einfacher formuliert: Luhmanns Sinnbegriff erhebt den Anspruch, dass er allen weltlichen Erscheinungen vorausgehe. Sinn tritt damit ohne »privilegierten Träger«, ohne »ontisches Substrat« (ebd.) auf und kann folglich ohne einen primären Bezug zum Subjekt gedacht werden, das »als sinnhaft konstituierte Identität den Sinnbegriff schon voraussetzt« (Luhmann 1971c, S. 28).7 Inwiefern sich diese Voraussetzungen konkret auf das Subjekt anwenden lassen, ist im Gesamtwerk Luhmanns an unterschiedlichen Stellen angedeutet und soll im Folgenden in dreierlei Hinsicht thematisiert sein: Erstens räumt Luhmann selbst eine Anwendung seines Sinnbegriffs auf das Subjekt ein, beispielsweise, wenn er im Rahmen seiner Vorlesung Einführung in die Systemtheorie der selbstgestellten Frage, ob der sinnhafte Beobachter ein System oder ein Subjekt sein soll, entgegnet, dass es in solchen Fragen »keine richtige Entscheidung, sondern nur die Möglichkeit [gibt, C.L.], klar zu sagen, was man meint« (Luhmann 2009, S. 149). Diese Möglichkeit findet sich in dem Aufsatz Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution explizit durch die Behauptung bestärkt, dass es in einer sinnhaften Welt »keine Ausnahme […], keinen privilegierten Standpunkt« gibt, der sich Sinn »entzieht – auch nicht den eines Subjekts« (Luhmann 2008, S. 35f.). Zweitens drängt sich eine subjektbezogene Anwendung des luhmannschen Sinnbegriffs anhand seiner theoretischen Provenienz auf, welche auf Edmund Husserls phänomenologische Bedeutungstheorie zurückführt (vgl. Habermas 1971b, S. 155), die der Ausdifferenzierung des prozessualen Charak-

7

Mit diesen Bestimmungen ist zu erahnen, dass Sinn eine, wenn nicht die zentrale Funktion für das zu Beginn des vorliegenden fünften Kapitels erwähnte Anliegen Luhmanns hat, den durch Parsons intendierten Fokus der soziologischen Systemtheorie auf Handlungssysteme durch den Blick auf Kommunikationssysteme zu erweitern.

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Die Verzeitlichung der Bildung

ters menschlichen Erlebens gilt. In Luhmanns Beitrag Sinn als Grundbegriff der Soziologie heißt es: »Den direkten, voraussetzungslosen Zugang zum Sinnproblem erschließt daher eine phänomenologische Beschreibung dessen, was in sinnhaftem Erleben wirklich gegeben ist. […] Stellt man sich auf diese Frage mit jener Rückhaltlosigkeit ein, für die Husserl das Vorbild gegeben hat, dann ergibt sich ein letztgewisser, elementarer Befund, daß die das Erleben jeweils füllenden, momentanen Gegebenheiten immer und unaufhebbar auf anderes verweisen. Das Erleben erlebt sich als beweglich – und anders als in der transzendentalen Phänomenologie nehmen wir dafür organische Grundlagen an. Es findet sich nicht in sich selbst verschlossen, nicht auf sich selbst beschränkt vor, sondern stets verwiesen auf etwas, was im Augenblick nicht sein Inhalt ist. Dies Über-sich-Hinausgewiesensein, diese immanente Transzendenz des Erlebens steht nicht zur Wahl, sondern ist eine Kondition, von der aus alle Freiheit zur Wahl erst konstituiert werden muss.« (Luhmann 1971c, S. 31; Hervorh. C.L.) Bemerkenswerterweise gestattet diese Referenz einen Brückenschlag zu Husserls oben dargelegter Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (vgl. Abschnitt 4.1.2). Ausdifferenziert als Synthese aus Retention, Urempfindung und Protention kann diese insofern in Luhmanns HusserlInterpretation eingeschrieben werden, als dass ein bewegliches Erleben in chronologischer Hinsicht durch Erinnerungen, ein erlebtes Jetzt sowie antizipierte Momente strukturiert ist. Luhmann selbst geht indirekt auf diese temporale Struktur (oder: Dynamik) von Sinn ein, wenn er argumentiert: »Man kann Sinn phänomenologisch beschreiben als Verweisungsüberschuß, der von aktuell gegebenem Sinn aus zugänglich ist. Sinn ist danach – und wir legen Wert auf die paradoxe Formulierung – ein endloser, also unbestimmbarer Verweisungszusammenhang, der aber in bestimmter Weise zugänglich gemacht und reproduziert werden kann. […] Man kann die Form von Sinn bezeichnen als Differenz von Aktualität und Möglichkeit und kann damit zugleich behaupten, daß diese und keine andere Unterscheidung Sinn konstituiert.« (Luhmann 1998, S. 49f.; Hervorh. C.L.) Gerade diese Überlegung gewährt eine Eingrenzung des husserlschen Theorieprogramms, weil Luhmann hier nicht die gesamte, das heißt sowohl auf Vergangenheit, Gegenwart als auch Zukunft verweisende Zeitstruktur der Welt thematisiert. Vielmehr geht es ihm um die »possibilistische«

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

(Schützeichel 2003, S. 55) Temporalstruktur von Sinn, die ununterbrochen von gegenwärtiger Aktualität auf zukünftige Möglichkeit verweist. Sofern man diese Temporalstruktur auf Husserls Ausführungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins überträgt, eröffnet sich eine von psychischen und sozialen Systemen gänzlich losgelöste Perspektive, die in bildungstheoretischer Hinsicht die Frage aufwerfen lässt, inwiefern Prozesse subjektiver Verzeitlichung sinnhaft strukturiert sind. Weniger terminologisch kann in diesem Sinne danach gefragt werden, wie Subjekte im Rahmen ihrer zeitlich strukturierten Weltwahrnehmung eine aktuelle Wirklichkeit konstruieren, von der aus sich stets neue Möglichkeiten offenbaren. Mit dieser Frage erfolgt schließlich ein Verzicht auf Luhmanns systemtheoretisch präferierte Terminologie des Erlebens. Gleichsam erhält man jedoch einen Zugriff auf den Begriff der Wahrnehmung, der sich in den vorliegenden Überlegungen sowohl in bildungstheoretischer (vgl. Kapitel 2) als auch in zeittheoretischer Hinsicht (vgl. Kapitel 4) als zentral erwies. Drittens gelingt eine Vertiefung dieser Eingrenzung auf den Begriff der subjektiven Wahrnehmung mittels der Einführung einer letzten Theoriekonzeption Luhmanns: der Unterscheidung zwischen Medium und Form, die in seinen späten Schriften (vgl. z.B. Luhmann 1998, S. 190; 2009, S. 226) im Anschluss an den wahrnehmungs- und ferner medientheoretischen Beitrag Ding und Medium des österreichischen Sozialpsychologen Fritz Heider ausgearbeitet wird. Im Allgemeinen geht Heider der Frage nach, wie weltliche Dinge wahrnehmbar sind. Inspiriert durch die aristotelische »Wahrnehmungslehre und damit von der klassischen Bedeutung des Medialen im Sinne eines stofflichen Substrats« (Mersch 2006, S. 213),8 schlägt er die analytische Unterscheidung zwischen Ding und Medium vor (vgl. Heider 1926, S. 21ff). Auf diese Weise will Heider auf die Paradoxie aufmerksam machen, dass Dinge nur durch mediale Vermittlungsprozesse wahrzunehmen sind, während Medien selbst nicht dinghaft (materiell) existieren. Medien tragen folglich den Prozess der menschlichen Wahrnehmung, ohne selbst mit wahrgenommen zu werden (vgl. Baecker 2008, S. 134). Dementsprechend sehen wir z.B. »durch den Äther ferne Sterne; wir hören durch die Luft den Ton einer Glocke; […] wir erkennen aus Schriftzügen Gedanken usw.« (Heider 1926, S. 23) Wenngleich sich die hier beschriebenen Wahrnehmungskonstitutionen nicht alle gleich logisch begründen und erklären lassen, lautet ihre übergreifende Essenz, dass erkannte Objekte nicht unmittelbar, sondern zuvorderst durch me8

Gemeint ist die causa materialis (vgl. Abschnitt 2.3).

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diale Vermittlungen wahrgenommen werden (vgl. ebd.). Medien lassen sich in diesem Sinne als »lose gekoppelte, riesige Mengen von Elementen« verstehen, die letztlich nur anhand der Dinge, die durch sie geprägt werden, zu erschließen sind (Luhmann 1998, S. 482). Zur Verdeutlichung dieser Abstraktion wird in der Regel auf den Sand verwiesen, in dem sich Abdrücke von Händen, Füßen usw. zu erkennen geben (vgl. Mersch 2006, S. 214). Von Bedeutung ist dabei nicht, was der Sand materiell ist, sondern, was er als lose Kopplung von winzigen Körnern ermöglicht: Erscheinungen, die schnell durch neue Abdrücke, durch den Wind oder das Wasser vergehen (vgl. Backer 2018, S. 21). Ein weniger abstraktes Beispiel ist die Sprache, die aus (einer lose gekoppelten Elementmenge von) Worten besteht und durch die Grammatik geprägt wird, die erst das Bilden verständlich artikulierter Sätze möglich werden lässt (vgl. Luhmann 2002, S. 83). Luhmann übernimmt Heiders Theorie schließlich zur begrifflichen Präzision seines Sinnbegriffs als »mediales Substrat« (Luhmann 1998, S. 220), das innerhalb einer lose gekoppelten Menge von Elementen die »Möglichkeit der Formbildung« (Luhmann 2009, S. 230) zulässt. Heiders Dingbegriff wird somit durch Spencer Browns Formbegriff ersetzt. Ein gewichtiges Detail liegt hierbei darin, dass Luhmann die Konzeption Heiders nicht wahrnehmungstheoretisch, sondern sozialtheoretisch verstanden haben möchte, indem er sie alleinig auf die sinnhaften Verweisungsstrukturen sozialer Systeme, aber nicht mehr auf psychische Systeme anwendet (vgl. Luhmann 1998, S. 195). Die wahrnehmungstheoretische Provenienz der heiderschen Theorie, aber auch der phänomenologische Ursprung des luhmannschen Sinnbegriffs sowie die wahrnehmungstheoretische Ausrichtung von Spencer Browns Formkalkül sensibilisieren allerdings ausreichend dafür, dass man nicht zwangsläufig mit Luhmanns Deutung mitgehen muss. Vielmehr kann die Unterscheidung zwischen Medium und Form auch so verstanden werden, dass ein medial Wahrgenommenes immer in Unterscheidung zu einem Nicht-Wahrgenommenen zu denken ist. Sinn und Form bilden innerhalb einer medial konstituierten Wahrnehmung eine »Reproduktionsgemeinschaft«, die ausschließlich »durch Formbildung« zu erhalten und zu reproduzieren ist (Luhmann 1992c, S. 31). Wahrnehmungen sind somit nur dann sinnhaft, wenn sie das Aktuelle durch Formbildungen ordnen und von dort aus Anschlussmöglichkeiten eröffnen. Dementsprechend sind Medien, so bringt es z.B. der Philosoph Dieter Mersch auf den Begriff, zuvorderst etwas prozessual Formierendes (vgl. Mersch 2002, S. 57), womit die Differenz zwischen Medium und Form in letzter Konsequenz immer auch

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als »Zeitdifferenz« (Luhmann 1992c, S. 31) erscheint. Es handelt sich hier um eine Lesart, die sich schließlich vielfältig reproduzieren lässt: Ein sinnhaft formulierter Satz im Medium der Sprache ist die festgelegte Ordnung (Form) von Worten, die man auch anders hätte formulieren können; eine sinnhafte Wanderung im Medium Weg ist die festgelegte Ordnung einzelner Streckenabschnitte, die man auch anders hätte wählen können (bekanntlich führen ja viele Wege nach Rom); ein sinnhaft festgelegter Preis ist im Medium des Geldes die festgelegte Ordnung einer monetären Forderung, die auch anders (billiger/teurer) sein könnte, je nachdem, wie sich die Nachfrage am Markt verhält (vgl. Baecker 2018, S. 21f.; Luhmann 1989, S. 22). Der mediale Blick ist im Anschluss an Luhmann also ein Blick, der sinnhaft Ordnungen festlegt und die Alternativen ebendieser Ordnungen verfolgen lässt. Und umgekehrt kann man ebenfalls sagen: Sinn ist eine Ordnungsform, die Möglichkeiten medial vermittelt; Sinn ist daher eine Art Medium der Möglichkeiten. Sinnhaft Ordnungen herstellen bedeutet folglich, vom Aktuellen einen Blick auf das zu werfen, was möglich erscheint. Damit sind schließlich alle notwendigen Prämissen eingeführt, um ein ausdifferenziertes Verständnis von Komplexität anführen zu können.

5.1.4

Die (bildungs-)theoretische Grundstruktur von Komplexität

Die bisherigen Überlegungen in diesem Kapitel sind wie folgt zusammenzufassen: Im Anschluss an Luhmann gilt Komplexität als eine Paradoxie, als die Einheit einer Vielheit. Etwas ist insofern komplex, als dass es über eine Anzahl von Elementen verfügt, die allesamt nicht mehr miteinander zu verknüpfen sind. Wenngleich diese Definition auf den ersten Blick allgemeingültig erscheint, so liegt ihre besondere Herausforderung in bildungstheoretischer Hinsicht darin, dass sie von Luhmann innerhalb der Unterscheidung zwischen System und Umwelt gedacht wird. Komplexität dient in diesem Sinne dazu, das System-Umwelt-Verhältnis zu bestimmen. Die Struktur eines Systems – ganz gleichgültig, ob psychischer oder sozialer Natur – umfasst stets weniger, als seine Umwelt umfassen kann: der eigene Blick auf die Welt beinhaltet folglich stets weniger, als die Welt im Gesamten bereithält; die Kommunikation über ein Thema verhandelt immer selektiv darüber, was die Welt an zu besprechenden Sachverhalten zu bieten hat usw. (vgl. Luhmann 1998, S. 134ff). In diesem Gebrauch ist der Begriff der Komplexität »ein Maß für die Anzahl von Ereignissen und Zuständen in der Welt (Weltkomplexität)

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oder die Anzahl der Zustände eines Systems (Eigenkomplexität)« (Habermas 1971b, S. 147). Entlang der dargelegten Aspekte kann nun zunächst noch einmal in vierfacher Weise dafür plädiert werden, warum Luhmanns Begriff der Komplexität nicht innerhalb der Differenz zwischen System und Umwelt verharren muss, sondern ebenfalls eine Angelegenheit des Subjekts zu sein scheint, das in wechselwirkender Beziehung zur Welt steht: Demgemäß argumentiert Luhmanns Systemtheorie erstens auf dem Niveau einer universalen Supertheorie, wonach sie einerseits verschiedene Beschreibungen und Theorien in sich integriert, aber ebenso andererseits abstrakte Begriffe bereitstellt, die alternative Fragestellungen, Perspektiven und Theorieanlagen zu informieren in der Lage sind. Unter diesen Voraussetzungen ist eine als die Einheit einer Vielheit definierte Komplexität zweitens im Sinne Luhmanns zunächst als ›Form‹, das heißt als die begriffliche Zusammenfassung einer beobachteten Differenz zu verstehen. Dieses Verständnis führt in seiner theoretischen Konzeption auf den ›Formkalkül‹ Spencer Browns und das damit verbundene Postulat zurück, dass, sobald etwas im Rahmen einer Beobachtung bezeichnet wird, schon implizit eine Unterscheidung zu allem Nicht-Bezeichneten getroffen worden ist. Auf diese Weise lässt sich Komplexität als »Begriff der Beobachtung« (Luhmann 1998, S. 136) verstehen, womit sich seine systemtheoretische Limitation durch eine potenzielle Anwendung auf das empirisch operierende, ja, wahrnehmende Subjekt auflöst. Bestärkung findet dieser Gedanke drittens darin, dass Luhmann im Anschluss an Fritz Heider das ›Medium‹ als konstitutive Möglichkeit jeder wirklich werdenden ›Form‹ bestimmt. Demnach gilt auf einer ganz grundsätzlichen Ebene der Leitsatz: »Jede unbestimmte Möglichkeit, welche die Manifestation von bestimmten Formen zulässt, ist ein Medium. Das Medium ist die Gelegenheit, eine Form in etwas zu verlegen.« (Wiesing 2008, S. 236) Als Ordnungsstruktur dieser Verlegungsmöglichkeit und das »allgemeinste Medium« (Luhmann 1999, S. 174) schlechthin kann viertens der Begriff ›Sinn‹ angeführt werden, den Luhmann im Anschluss an die husserlsche Bedeutungstheorie und somit an die Phänomenologie des subjektiven Bewusstseins aufarbeitet. Sinn stellt sicher, dass eine Beobachtung auf sich selbst und weitere Beobachtungen verweist, dass eine selektiv beobachtete Einheit immer auch potentiell mit Vielheit konfrontiert. Unter diesen Bedingungen dient jedes sinnhafte Erleben »als Ausgangspunkt weiteren Erlebens« (Luhmann 2008, S. 12). Sinn stellt somit eine medial vermittelte Ordnungsstruktur dar, die besagt, dass sich mit jeder ausgeschöpften Möglichkeit der Horizont für andere Möglichkeiten öffnet. Sinn setzt auf die-

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

se Weise den Einschluss des vorläufig Ausgeschlossenen voraus (vgl. Baecker 2014, S. 40) und lässt Komplexität daher als ein Phänomen erfassen, durch das vom aktuell Gegebenen auf neue Möglichkeiten verwiesen wird. Der Kern der hier vorgeführten Überlegungen besteht nun darin, dass Komplexität eine Form ist, die medial ermöglicht und sinnhaft geordnet wird. Der universale Charakter dieser Formulierung gestattet eine Vielfalt an Anschlussmöglichkeiten, die dann auch für eine theoretisch angenommene Beziehung zwischen Subjekt und Welt zugänglich wird, wenn man diese analytisch in eine Sach-, Sozial- und Zeitdimension einteilt. Genau genommen betont gerade diese Einteilung im Besonderen das Potenzial einer theoretischen Verflechtung zwischen Luhmanns Komplexitätsbegriff und dem Bildungsbegriff der vorliegenden Arbeit. Unerlässlich dafür ist die Erinnerung daran, dass die Einteilung der Subjekt-Welt-Beziehung in eine Sach-, Sozial- und Zeitdimension auf Norbert Meder zurückführt. Dass Meder diese Einteilung im Anschluss an Luhmann zur Ausdifferenzierung eines transformatorischen Bildungsbegriffs vorschlug, wurde bereits erwähnt (vgl. Abschnitte 2.3 und 2.5); dass Luhmann jene Dimensionen als analytische Skelettierung seines Sinnbegriffs verwendet, bietet nunmehr die Möglichkeit, den Begriff der Komplexität wie folgt auszudifferenzieren (vgl. Luhmann 1984, S. 114-120; 2009, S. 239-246; Baraldi 1997a, S. 170-173; Corsi 1997, S. 173-176): 1. Sachdimension: Innerhalb der Beziehung zwischen dem Subjekt und den Sach- und Dingverhältnissen der Welt konstituiert sich eine vom Subjekt sinnhaft geordnete Komplexität als die beobachtete Differenz zwischen dies und anderes. Einheit ist folglich selektiv durch eine Bezeichnung (dies) zu bestimmen, von der auf eine Vielheit (anderes) verwiesen wird: diese Katze ist kein Pferd, kein Elefant, keine Schildkröte usw. Alles, was sich sprachlich bezeichnen lässt, kann innerhalb der Sachdimension als dies verhandelt werden und damit auf anderes verweisen; selbst jenes, was nicht real existiert (man denke z.B. an einen rosa Eisbären). Insofern wird deutlich, dass die Sachdimension einen universalen Anspruch hervorbringt, ist in ihr doch jede Art der Beobachtung, Behauptung, Erkenntnis usw. zulässig. 2. Sozialdimension: Innerhalb der Beziehung zwischen einem Subjekt zu anderen Subjekten konstituiert sich eine sinnhaft geordnete Komplexität aus der Differenz zwischen ego und alter. Einheit wird folglich selektiv durch die Wahrnehmungen, Erlebnisse, Handlungen, Kommunikationen

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usw. eines Subjekts (ego) konstruiert, die mit der Vielheit der selektiven Wahrnehmungen, Erlebnisse, Handlungen, Kommunikationen anderer Subjekte (alter) konfrontieren (alter widerspricht der Aussage egos, dass rosa Elefanten nicht existieren). Unter solchen Gegebenheiten manifestiert sich eine Vielzahl intersubjektiver Perspektiven, durch die sich die Welt als soziale Welt ausformt. Auch die Sozialdimension nimmt auf diese Weise einen universalen Anspruch ein, weil in ihr prinzipiell alle Gegenstände und Themen relevant sein könnten. 3. Zeitdimension: Innerhalb der Beziehung zwischen dem Subjekt zu sich selbst und der Welt in der Zeit konstituiert sich eine sinnhaft geordnete Komplexität als beobachtete Differenz zwischen Vorher und Nachher (Chronologie) oder Vergangenheit und Zukunft (Geschichtlichkeit).9 Einheit wird folglich selektiv durch das Jetzt oder die Gegenwart bestimmt, die das bereits Geschehene mit dem, was geschehen könnte, konfrontiert. Dieser Verweisungsstruktur geht eine Abhängigkeit von weltlichen Veränderungen, das heißt von Veränderungen in der Sach- und Sozialdimension voraus. Dies sensibilisiert dafür, dass Komplexität in letzter Konsequenz immer in der Zeit behandelt wird, genauso, wie objektive und soziale Zeiten immer in einer Zeit der Subjekte eingebettet sind (vgl. Abschnitte 3.2 und 3.3). Diese Auflistung gestattet eine Präzisierung der Argumentationen dahingehend, dass Komplexität eine Form ist, die auf Seiten der Welt medial ermöglicht und auf Seiten der Subjekte sinnhaft geordnet wird. Folglich lässt sich danach fragen, wie innerhalb der Beziehung zwischen Subjekt und Welt die Beobachtung einer Form als Einheit einer Vielheit zustande kommt, wie sich also Möglichkeiten eröffnen, die den Ein- und Ausschluss anderer Möglichkeiten nach sich ziehen. Der entscheidende Zugang zu diesen Fragen ist der Begriff des Mediums, der mit Luhmann quer zum Phänomen der Komplexität zu denken ist (vgl. Baecker 2008, S. 133). Medien eröffnen den Raum für Möglichkeiten, die auf andere Möglichkeiten verweisen, schaffen somit den Zugang zu Komplexität. Darin drückt sich eine doppelte Relation medialer Vermittlung aus, die einerseits auf das

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Im Anschluss an die in den Abschnitten 4.1.4 und 4.3 getroffenen Eingrenzungen zur Zeitlichkeit des modernen Subjekts wird im weiteren Verlauf der Betrachtungen die geschichtliche Differenzierung zwischen Vergangenheit und Zukunft präferiert.

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

(komplexe) Subjekt-Welt-Verhältnis und andererseits auf das (komplexitätsgenerierende) Medium-Welt-Verhältnis referiert (vgl. Pietraß 2006, S. 41f.). Die Besonderheit, aber auch Schwierigkeit dieser Perspektive besteht nun darin, dass sie einer medial vermittelten Welt nicht auf der Ebene konkreter Phänomene, sondern davor begegnet. Die im Folgenden auszuarbeitende Perspektive reagiert auf diese Schwierigkeit insofern, als dass sie die Möglichkeiten medialer Vermittlungsprozesse eingrenzend an den Begriff der Technik koppelt. Dies folgt, wie noch weiter auszuführen sein wird, der medienpädagogischen Prämisse, dass die »Natur medialer Vermittlung« im Zusammenspiel zwischen »Mensch und Technik« (Pietraß 2006, S. 7) zu vermuten ist. Um diese Prämisse gerade in Unterscheidung zu dem in der Nachfolge Heiders durch Luhmann ausformulierten Medienbegriff nicht mehr aus den Augen zu verlieren, soll im Folgenden vom Technisch-Medialen bzw. von einer technisch-medialen Prägung der Beziehung zwischen Subjekt und Welt die Rede sein.

5.2

Komplexität und die technisch-mediale Prägung der Beziehung zwischen Subjekt und Welt

Eine referentielle Rahmung für das ›Mediale‹ festzulegen, stellt gemeinhin ein schwieriges Unterfangen dar, denn der diesbezüglich leitende Begriff des Mediums droht, »so zentral er einerseits für unsere Gesellschaften und ihre theoretischen Beschreibungen auf den unterschiedlichsten Ebenen auch ist und sosehr andererseits der wissenschaftliche Diskurs auf diese Bedeutung durch die Zunahme akademischer Institutionen und Publikationen auch auf eine mittlerweile durchaus angemessene Weise reflektiert, gerade aufgrund seiner Popularität und der damit verbundenen, geradezu inflationären Verwendung semantisch entgrenzt, jede theoretische Schärfe zu verlieren.« (Münker/Roesler 2008, S. 11) Wenn derzeit innerhalb der Medienpädagogik vom Medium die Rede ist, so findet dies gemäß Stefan Iske priorisiert im Rahmen medientechnologischer Entwicklungen und damit zusammenhängender Fragen unter dem Einbezug anthropologischer (auditive, visuelle, taktile, olfaktorische, gustatorische Sinne), funktionaler (Darstellung, Kommunikation, Kooperation usw.) oder technischer (Telefon, Radio, Computer, Smartphone usw.) Medienklassifikationen

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statt (vgl. Iske 2015, S. 249). Zu solchen medienpädagogischen Bemühungen, die den Zusammenhang zwischen Technik und Medien zu akzentuieren wissen, verhält sich der in der Nachfolge Heiders durch Luhmann ausformulierte Medienbegriff komplementär, verweist er doch in seiner allgemeinsten Bedeutung auf die Möglichkeiten des Wirklichen: jede Wahrnehmung (Heider) bzw. jede Beobachtung (Luhmann) benötigt hier einen medialen Träger. Mit Dieter Mersch gesprochen heißt das: »Medien sind immer schon am Werk; sie haben ihre Arbeit bereits begonnen, bevor es Mediatisiertes ›gibt‹; sie sind schon ›da‹, noch bevor es überhaupt etwas ›gibt‹.« (Mersch 2002, S. 59) Obwohl ein solches Verständnis im Grunde genommen nichts Anderes als ein mediales A priori postuliert und insofern einen Anschluss an philosophisch etablierte Medientheorien im Sinne Marshall McLuhans, Vilém Flussers, Jean Baudrillards, Paul Virilios oder Friedrich Kittlers gewährt (vgl. Mersch 2006, S. 131ff), verweist es ebenso auf einige theoretische Besonderheiten, die sich bemerkenswerterweise im bildungstheoretischen Diskurs der Medienpädagogik bereits aufgegriffen finden. Demgemäß konstatiert Werner Sesink in seinem Beitrag Bildungstheorie und Medienpädagogik, dass der luhmannsche Medienbegriff zwar grundsätzlich dem Medienbegriff McLuhans ähnle, sich jedoch von einem Medienbegriff abgrenze, der bevorzugt in der Medienpädagogik verwendet wird (vgl. Sesink 2008). Das Medium sei bei Luhmann »keine intervenierende, sondern eine umfassende, einhüllende Instanz, nicht etwas, zu dem, sondern in dem Menschen sich verhalten« (ebd., S. 15; Hervorh. C.L.).10 Sesink spielt damit offensiv auf den Sachverhalt an, dass mediale Vermittlungsprozesse immer mit der Eröffnung von Möglichkeitsräumen einhergehen und erkennt darin gleichsam ein Potenzial für ein solches medienpädagogisches Denken, das primär medientechnologische Entwicklungen in seinen Mittelpunkt stellen will: »In diesem [Luhmanns, C.L.] Verständnis dient das Medium also der Vermittlung von Möglichkeiten; als Basis, als Plattform, als Rahmen für etwas, das durch es ermöglicht wird. So bewegt sich der Fisch im Medium des Wassers; 10

Damit wird deutlich, dass es Sesink um den Vermittlungscharakter des Medialen geht. Phänomenal gilt das Medium bei McLuhan bekanntlich als die Botschaft, deren Inhalt blind gegenüber der »Wesensart des Mediums« selbst mache (McLuhan 1964, S. 19). Vor diesem Hintergrund ergeben sich auch Differenzen zu Luhmann, bei dem ein Medium lediglich eine Möglichkeitsbedingung ist und in diesem Sinne selbst nichts leistet, nicht konkret greifbar ist und damit primär auch kein Teil einer medialen Botschaft bzw. einer inhaltlichen Darstellung sein kann (vgl. Wiesing 2008, S. 236).

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

das Wasser ermöglicht ihm seine Bewegung und mehr noch: sein Leben. So bewegen sich all unsere theoretischen Reflexionen immer schon im Medium der Sprache. Und so bildet auch die Technik einen entlastenden, schützenden Rahmen, innerhalb dessen neue Möglichkeiten entdeckt und realisiert werden können.« (Ebd.; Hervorh. C.L.) Ähnliche Aspekte werden gleich in mehreren Beiträgen Norbert Meders thematisiert (vgl. Meder 2008; 2011; 2014; 2015). Meder notiert erstens (durchaus selbstironisch) definitorische Schwierigkeiten mit dem heiderschen Medienbegriff: »Das Medium des Sehens ist Licht, das Medium des Hörens ist Luft, das Medium des Tastens ist Kraft/Haut, das Medium des Riechens, Schmeckens ist – ich weiß es nicht.« (Meder 2015, S. 117; Hervorh. C.L.) In Luhmanns Unterscheidung zwischen Medium und Form (vgl. Abschnitt 5.1.3) entdeckt Meder hingegen zweitens ein Potenzial für einen strukturalen Bildungsbegriff, der den Fokus auf die Transformation subjektiver Welt- und Selbstverhältnisse richtet (vgl. Abschnitt 2.4.3). Das theoretische Zusammenspiel zwischen der Medium-Form-Unterscheidung und einer subjektiven Welt-Selbst-Referenz veranschaulicht Meder (mit zusätzlichem Rekurs auf Richard Hönigswald) anhand der Sprache: »Das Medium ist die Unterscheidung von Medium und Form. Hönigswald würde sagen: im medialen Vollzug scheiden sich Medium und mediale Gestalt (Form). Das ist die bessere Formulierung. Denn im medialen Vollzug bezieht sich das Medium auf sich selbst als die Unterscheidung von der konkreten medialen Gestalt. Am Beispiel der Sprache als Medium: Sprache als Ganzes zeigt sich in der Referenz auf sich selbst angesichts einer aktuellen sprachlichen Gestalt in einem Satz. In der Realisierung von Sprache in einem gesprochenen Satz wird klar, dass Sprache mehr ist als der gesprochene Satz. Das zeigt sich daran, dass der Satz auch hätte nicht gesprochen werden können oder dass auch seine Negation hätte gesprochen werden können oder ein anderer Satz. Im performanten Satz bezieht sich also die Sprache auf sich selbst als das andere des Satzes nämlich als das generative System möglicher Sätze. Der Satz wird damit zum anderen in der Sprache. Sprache generiert auf diese Weise Fremdreferenz. Medien sind also – wie beispielhaft an der Sprache gezeigt – die Korrelation von Form und Materie, in der Selbstund Fremdreferenz eingebettet sind.« (Meder 2014, S. 65) Mit der Anerkennung der hier beschriebenen Korrelation und unter zusätzlichem Einbezug des Sachverhalts, dass Luhmanns Unterscheidung zwischen

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Medium und Form universell anwendbar ist, leitet Meder drittens ab, dass jegliche Transformationen subjektiver Welt- und Selbstverhältnisse im Medialen stattfinden. Damit erteilt er der Unterscheidung zwischen Bildung und Medienbildung, wie sie derzeit im bildungstheoretischen Diskurs der Medienpädagogik vorgenommen wird (vgl. Kapitel 2), schließlich eine Absage: »Nur im Medium, nur als Transformation des Mediums findet Bildung statt. Bildung ist immer Medienbildung. Das spricht für einen weiten Medienbegriff. Medium ist alles, was unser Selbst- und Weltverhältnis verändert […].« (Meder 2011, S. 79; Hervorh. C.L.) Bei aller theoretischen Finesse, die innerhalb dieser Argumentation zutage treten mag, liegt eine Schwierigkeit auf der Hand: Was ein weit gefasster Medienbegriff womöglich nicht auf Anhieb zu thematisieren in der Lage ist, sind die Unterschiede, die der derzeitige technische Entwicklungsstand moderner Gesellschaften für medial eröffnete Möglichkeitsräume der Subjekte bedingt. Der vermutlich zentrale Stichwortgeber in diesem Rahmen ist die Digitalisierung, die auf tiefgreifende, ja, radikale gesellschaftliche Veränderungen aufmerksam macht, wie sie zuletzt im Zuge der industriellen Revolution zu beobachten waren. Diesen Veränderungen liegen im Kern neu geartete Möglichkeiten der Übermittlung, Speicherung und Analyse von Daten und Informationen zugrunde (vgl. Stengel 2017, S. 39). Das technische Ferment dieser Möglichkeiten ist ein formalisierter 0/1-Code, eine »diskrete Zahlenrepräsentation in binärer Form« (Hartmann 2006, S. 185), die der Logiker George Boole zur Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst entwickeln konnte und die anschließend mittels der Turingmaschine auf computertechnische Medienformate übertragen wurde (vgl. Reckwitz 2017, S. 231). Die wissenschaftliche Reflexion des Prozesses der Digitalisierung mag derzeit durch die zunehmende Verbreitung digitaler Medien dadurch erschwert sein, dass ihre neu herbeigeführten Umbrüche sich gerade erst manifestieren und justieren (vgl. ebd., S. 226). Gleichwohl beherbergt die sozial- und geisteswissenschaftliche Forschung im Zuge des digitalen Transformationsprozesses vermehrt Konzeptionen und Denkinstrumente, die die Bedeutung des Zusammenspiels zwischen dem Technischen und dem Medialen für menschliche Entwicklungsprozesse systematisch analysieren lassen. Daher lautet die im Folgenden zu vertretende These, dass der Begriff der Medialität ein Theorieangebot darstellt, das bildungstheoretisch anschlussfähig zwischen einem weit gefassten Medienbegriff im Sinne Heiders und Luhmanns sowie einer medienpädagogisch intendierten Fokussierung der

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Verbindung zwischen dem Technischen und dem Medialen vermittelt. Die Möglichkeit dieser Vermittlung liegt in der Originalität des Medialitätsbegriffs begründet, dessen Theorieprogramm gemäß Benjamin Jörissen wie folgt konturiert ist: »Es geht hier um eine Medientheorie, die sowohl von einzelnen Medienerscheinungen als auch von bestimmten Medientypen abstrahierend, auf übergreifende Form- und Strukturaspekte fokussiert (und von dort aus bspw. mediale Architekturen vergleichend differenzieren kann).« (Jörissen 2014, S. 503) Außer Frage steht, dass alternative Konzeptionen eine ähnlich geartete Theorieanlage anbieten. Offenkundig zu nennen sind z.B. der von Friedrich Krotz kommunikationstheoretisch geprägte Begriff der Mediatisierung, verstanden als »Metaprozess sozialen und kulturellen Wandels, der in den Alltag, unsere sozialen Beziehungen, kulturelle Prozesse und die gesamte Gesellschaft eingreift« (Krotz 2007, S. 12), oder Felix Stalders kulturwissenschaftliches Verständnis von Digitalität, das im Kern auf eine durch Referentialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität geprägte Veränderung individuellen und kollektiven Lebens verweist (vgl. Stalder 2016, S. 95f.). Gegenüber diesen exemplarisch genannten Konzepten behauptet sich der Begriff der Medialität insofern, als dass seine zentrale Referenz das Subjekt ist, womit vorab eine besondere Anschlussfähigkeit im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse und die Prämissen der vorliegenden Arbeit gewährleistet scheint. Um diese Anschlussfähigkeit im Folgenden fundieren zu können, ist zunächst der Rekurs auf zwei Grundlagenbeiträge nötig, die sich unmittelbar innerhalb der Medienpädagogik verorten lassen: das betrifft zum Ersten den Beitrag Medialität als Ausgangspunkt für die Frage nach dem Menschsein, den Manuela Pietraß und Rüdiger Funiok ihrem philosophisch und sozialwissenschaftlich perspektivierten Herausgeberband Mensch und Medien voranstellen, um eine Grundlage für Reflexionen des Menschseins unter den Bedingungen einer »zunehmenden Verbreitung der Medien« (Pietraß/Funiok 2010, S. 7) anbieten zu können; und das betrifft zum Zweiten Jörissens Beitrag Digitale Medialität, dessen Herausstellungsmerkmal ganz grundsätzlich in einer bildungstheoretischen Erschließung des Begriffs der Medialität unter besonderer Berücksichtigung der Tendenzen des Digitalen liegt (vgl. Jörissen 2014). Beide Beiträge postulieren ein Verständnis von Medialität als anthropologische Konstante, die auf einem geistig vermittelten Weltzugang beruht, wobei entscheidend ist, dass dieser Weltzugang durch Zeichenvermittlung (Mimik, Gestik, Sprache) konstituiert ist und durch Möglichkeiten technischer Vermittlungsprozesse von Zeichen überformt wird (vgl. Jörissen 2014, S. 503f.;

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Pietraß/Funiok 2010, S. 7f.). Einfacher formuliert: Medialität beginnt dort, wo auf der Basis von Zeichen wahrgenommen und vermittelt wird, und sie wird dort beeinflusst bzw. verändert, wo Technik in jene Formen der Wahrnehmung und Vermittlung eingreift. Aufgrund einer damit vorliegenden semiotischen Prägung des Begriffs ist Medialität schließlich als »Möglichkeitsbedingung symbolischer Welten« (Jörissen 2014, S. 504) zu verstehen, in denen das Mediale von Subjekten als sich zeichenhaft vergegenwärtigende Wirklichkeit erfahren wird (vgl. Pietraß/Funiok 2010, S. 7). Mit diesen ersten definitorischen Eingrenzungen kristallisiert sich einerseits heraus, dass Medialität phänomenal nicht selbst erscheint, sondern sich letztlich hinter einer »Hervorbringung von Erscheinungen« (Jörissen 2014, S. 504) verbirgt, die deshalb möglich sind, weil Zeichen als »Medien des Symbolischen« (Cassirer 1942. In: Mersch 2002, S. 56) fungieren. Mithin liegt der Fokus der Medialität also nicht auf einer weltlich-materiellen Substanz, sondern auf den empirischen Operationen der Subjekte. Entsprechend stößt man in der derzeit vorliegenden Literatur auf Studien, die im Kontext von Medialität subjektive Medienerfahrungen anhand konkreter Medieninhalte ergründen (vgl. z.B. Pietraß 2018a) und auf diese Weise den Sachverhalt beleuchten, dass Medien etwas an den Menschen herantragen, »was ohne Medien auf diese Weise nicht erfahrbar wäre« (Pietraß 2006, S. 41). Losgelöst von konkreten medialen Inhalten und subjektiven Medienerfahrungen erlaubt der Begriff der Medialität jedoch ebenso einen Brückenschlag zu der Grundstruktur der Medienbegriffe Heiders und Luhmanns als lose Kopplung von Elementen, die nur anhand ihrer prägenden Träger zu erschließen sind (vgl. Abschnitt 5.1.3). Denn die ontologische Schwierigkeit der Medialität liegt ebenfalls darin begründet, dass der Begriff auf das verweist, was Medien gerade nicht sind. Auch dem Begriff der Medialität geht ein Blick voraus, bei dem sich Medien als etwas zeigen, »ohne sich selbst zu zeigen« (Wiesing 2008, S. 236); auch hier interessiert in erster Linie »nicht das Bildliche am Bild, sondern was es darstellt, wie am Text der Sinn oder an der technischen Apparatur ihr Effekt« (Mersch 2002, S. 56). Entscheidend dabei ist, dass jedoch gerade der Begriff der Medialität mit seiner Differenzierung zwischen einem geistig vermittelten Weltzugang der Subjekte und den technischen Möglichkeiten der Zeichenvermittlung einen besonderen theoretischen Anspruch akzentuiert, zu dessen Darlegung einmal Pietraß und Funiok ausführlich zitiert seien: »Verzichtet man auf diese Differenzierung, geht die durch die technische Entwicklung aufgeworfene Frage nach dem Menschsein in jener nach dem

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generell bestehenden geistig vermittelten Weltzugang des Menschen auf. Die technisch konstituierte Medialität ist jedoch nicht einfach unter der prinzipiellen Medialität des menschlichen Weltverhältnisses subsumierbar. Denn die Symbolizität des Menschen bringt heute eine doppelte Dynamik hervor: zum Einen das Sich-selbst-Hervorbringen und damit Selbst-imSymbol-Sein, verbunden mit der Wahrnehmung desselben als Außenwelt, die verschieden und doch als eigenes erkennbar ist (vgl. Wundern 2003, S. 52), und zum Anderen die Medienvermittlung, welche durch die spezifische, technische Vermittlungsform besondere Gestaltungsmöglichkeit erhält.« (Pietraß/Funiok 2010, S. 8) Neben dieser Betonung des Technischen ist eine weitere theoretische Besonderheit insofern auszumachen, als dass die semiotische Prägung der Medialität das Phänomen näher an Luhmanns Unterscheidung zwischen Medium und Form als an Heiders Unterscheidung zwischen Medium und Ding rücken lässt (vgl. Abschnitt 5.1.3). Denn während Heider mit der Rede vom ›Ding‹ postuliert, dass jede menschliche Wahrnehmung einen medialen Träger voraussetzt, nimmt Luhmann mit der Rede von der ›Form‹ als einer sich durch Unterscheiden und Bezeichnen konstituierenden Beobachtung explizit auch die Sprache (genauer formuliert: die Kommunikation in sozialen Systemen) in den Blick. Gerade deshalb scheint es sowohl möglich als auch naheliegend, den Begriff der Medialität in Beziehung zu einem durch Beobachtungen zustande kommenden Begriff der Komplexität zu setzen (vgl. Abschnitt 5.1.4). Wenn dies allerdings eine explorative Querverbindung ist, so drängen sich postwendend Fragen danach auf, inwiefern sich die Betonung des Technischen im Rahmen der medial bedingten Möglichkeitsräume des Symbolischen auf die medial bedingten Möglichkeitsräume des Komplexen übertragen lässt, inwiefern sich also das universale Phänomen einer medial vermittelten Komplexität der Welt mittels Erkenntnissen zur technisch-medial vermittelten Wirklichkeit der Subjekte her bestimmen lässt. Es sind Fragen, die darauf abzielen, medial vermittelte Wahrnehmungen der Subjekte unter besonderem Einbezug des Technischen auf eine spezifische Ergründung von Komplexität zuzuspitzen. Wegweisende Aspekte für eine derart intendierte Zuspitzung finden sich schließlich in Jörissens bereits erwähnten Beitrag Digitale Medialität, in dem der Vorschlag unterbreitet wird, das Phänomen der Medialität anhand substantieller, das heißt materiell sichtbarer »Medien oder Medienarchitekturen als Möglichkeitsbedingungen menschlicher Artikulationen« zu ergründen,

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»die innerhalb eines dreifachen Spannungsfeldes von Zeichen und Symbol (Kultur), Material und Struktur (Technik) sowie Prozess und Technik (téchne als Praxis) verortet sind« (Jörissen 2014, S. 511). Kürzer formuliert heißt das: Das Phänomen der Medialität referiert auf technisch-medial vermittelte Möglichkeitsräume, in denen sich subjektive Artikulationen im Spannungsfeld zwischen zeichen- und symbolhaft vermittelter Kultur, technischer Materialität und technischer Praxis (téchne) ereignen. Das ist an dieser Stelle so dezidiert anzuführen, weil hier eine formale Einteilung gefunden ist, die es erlaubt, das im obigen Abschnitt 5.1.4 ausgearbeitete Verständnis einer medial vermittelten Komplexität als sinnhafte Verweisung von dies auf anderes (Sachdimension), von ego auf alter (Sozialdimension) und von Vergangenheit auf Zukunft (Zeitdimension) unter Einbezug des Technischen weiter ausdifferenzieren zu können. Allerdings ist dafür eine theoretische Umstellung notwendig, die darin begründet liegt, dass Jörissens Einteilung einerseits nicht dem Komplexitätsbegriff gilt und andererseits auch nicht innerhalb einer als sachlich, sozial und zeitlich strukturierten Beziehung zwischen Subjekt und Welt vorgenommen wird. Eine solche Umstellung wird im Folgenden in drei Schritten vollzogen: 1. Sachdimension: Wenn sich Komplexität innerhalb der Beziehung zwischen den Subjekten zu den Sachverhältnissen und Dingen in der Welt durch die Verweisungsstruktur von dies auf anderes beschreiben lässt, dann bezieht dies innerhalb technisch-medial vermittelter Möglichkeitsräume die Aspekte der technischen Materialität und ihrer Praxis (téchne) mit ein. Diese Verknüpfung spielt auf den (v.a. auch bildungstheoretisch entscheidenden) Sachverhalt an, dass sachliche und dingliche Gegenstände im Allgemeinen und technische Gegenstände im Speziellen nur dann eine Bedeutung für das Subjekt einnehmen können, wenn beide Seiten (also z.B. Technik und Subjekt) in Wechselwirkung zueinander treten. Darüber hinaus wird man gerade so auch dem altgriechischen Ursprung des Begriffs der téchne gerecht, der einerseits auf die Art und Weise der zielgerichteten »Kunst im Sinne von handwerklicher Kunstfertigkeit« (Baecker 2016e, S. 64) referiert und damit andererseits auf einem »SichAuskennen [der Subjekte, C.L.] in den Naturprozessen« (Sesink 1999, S. 511) basiert. 2. Sozialdimension: Wenn sich Komplexität innerhalb der Beziehung zwischen den Subjekten zu anderen Subjekten in der Gemeinschaft oder Gesellschaft als Differenz zwischen ego und alter beschreiben lässt, dann bezieht dies

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innerhalb technisch-medial vermittelter Möglichkeitsräume den Aspekt einer zeichen- und symbolhaft vermittelten Kultur mit ein. Weil eine grundsätzliche Schwierigkeit des Kulturbegriffs darin besteht, dass er nicht erschöpfend zu erschließen ist, kann er im Rahmen der vorliegenden Arbeit über den Begriff der Kommunikation eingegrenzt werden. Diese Eingrenzung legitimiert sich mit dem Hinweis, dass Symbole und Zeichen im Sozialen nur dann sinnhaft sein können, wenn sie kommuniziert werden. Das Verhältnis zwischen Kommunikation und Kultur konstituiert sich in diesem Sinne dadurch, dass aus dem Kommunikativen heraus objektive »Verständigungsinseln« entstehen, »die als Kultur im weitesten Sinne das Sicheinlassen auf, und das Beenden von, Interaktion erleichtern« (Luhmann 1984, S. 568). 3. Zeitdimension: Wenn sich Komplexität innerhalb der Beziehung zwischen den Subjekten zu sich selbst und der Welt in der Zeit durch die Verweisungsstruktur von Vergangenheit auf Zukunft beschreiben lässt, dann bezieht dies innerhalb technisch-medial vermittelter Möglichkeitsräume den Aspekt der Artikulation mit ein. Damit ist zunächst lediglich auf den trivialen Sachverhalt hingewiesen, dass menschliche Artikulation im Kontext von Medialität in der Zeit stattfindet. Den Begriff der Komplexität betreffend ist von entscheidender Bedeutung, dass die Rede von Artikulation im Anschluss an Jörissen als eine begriffliche Besonderheit der strukturalen Medienbildung verstanden werden muss, deren Konzeption zentral auf der These aufbaut, dass sich Bildungsprozesse durch den »Aufbau von Orientierungswissen in komplexen, medial dominierten Gesellschaften wesentlich über mediale Artikulationen« konstituieren (Jörissen/Marotzki 2009, S. 39; Hervorh. C .L.). Ein Detail liegt dabei in dem Sachverhalt, dass »Artikulationen von Medialität nicht zu trennen sind« (ebd.), wobei ebendies eine Beziehung zu einem medial vermittelten Inhalt voraussetzt: »Wer sich artikuliert, deutet seine qualitative Erfahrung, indem er sie […] zur Sprache, zum Bild, zur Musik oder wozu auch immer bringt.« (Jung 2005. In: Jörissen/Marotzki 2009, S. 38) Losgelöst von der Medialität des Subjekts und in Bezug auf eine technisch-medial vermittelte Komplexität der Welt scheint es deshalb möglich, den Begriff der medialen Artikulation durch die Vorstellung vom selbstbestimmt handelnden Subjekt zu ersetzen. Dass der Begriff der Artikulation einerseits vielfältige Assoziationen in Bezug auf das handelnde Subjekt im Allgemeinen ermöglicht, betont Jörissen selbst, wenn er in dem Beitrag Transgressive Artikulation auf sowohl postmarxistisch-strukturalistische,

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sprachanthropologische, anerkennungstheoretische als auch bildungstheoretische Verwendungsmöglichkeiten des Begriffs aufmerksam macht (vgl. Jörissen 2015a, S. 57ff). Dass dem Artikulationsbegriff andererseits auch eine normative Tendenz innewohnt, dass er also durchaus mit einer spezifischen Vorstellung vom selbstbestimmt handelnden Subjekt korrespondiert, ist im Anschluss an den Sozialphilosophen Charles Taylor zu postulieren, der Artikulationen in seinem Aufsatz Was ist menschliches Handeln? als Versuch beschreibt, »unser Verständnis von dem zu formen, was wir wünschen oder was wir in einer bestimmten Weise für wichtig halten« (Taylor 1992, S. 39). Auf den Punkt gebracht, ist mit diesen drei Umstellungen zunächst nicht mehr als eine Heuristik zur weiteren Ausdifferenzierung eines Begriffs von Komplexität gefunden, der durch technisch-medial bedingte Möglichkeitsräume vermittelt wird und innerhalb der Trias zwischen erstens dem Zusammenspiel von Technik und téchne, zweitens dem Verhältnis von Kommunikation und Kultur sowie drittens dem selbstbestimmt handelnden Subjekt eine Wirkkraft entfaltet. Damit bleiben Fragen danach, in welcher Weise die SubjektWelt-Beziehung durch den Einsatz von Technik verändert wird und wie sich die daraus konstituierenden, medial vermittelten Möglichkeitsräume weiter eingrenzen lassen. Der theoretische Anspruch dieser Fragen liegt darin, dass sie konkreten Medienerfahrungen und damit sämtlichen Ausdifferenzierungen von Medialität vorangestellt sind. Es geht ihnen daher nicht um die Beschreibung der Komplexität eines medialen Inhaltes. Vielmehr ist eine Ausdifferenzierung der Ermöglichung von Komplexität auf der allgemeinen Ebene einer technisch-medial geprägten Subjekt-Welt-Beziehung intendiert, die nun ausgehend von den hier vorgeschlagenen Eingrenzungen der Reihe nach innerhalb des Sachlichen (vgl. Abschnitt 5.2.1), Sozialen (vgl. Abschnitt 5.2.2) und Zeitlichen (vgl. Abschnitt 5.2.3) vollzogen werden kann.

5.2.1

Zur Sachdimension von Komplexität im Technisch-Medialen: Das emanzipatorische Zusammenspiel von Technik und technischer Praxis (téchne)

Entlang des bislang Argumentierten gilt: Luhmanns Komplexitätsbegriff konfrontiert ganz grundsätzlich mit der Tatsache, dass innerhalb einer festgelegten Einheit nicht alle Elemente dieser Einheit miteinander verbunden werden können. Diese Struktur ist innerhalb der Sachdimension der Beziehung zwi-

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schen Subjekt und Welt insofern einzugrenzen, als die Entscheidung für diese eine Sache alles andere zunächst außen vor lässt, jedoch für weitere Entscheidungen potenziell verfügbar hält. Auf der Basis dieser Prämissen verfolgt der vorliegende Abschnitt ein zweigeteiltes Interesse: Zum Ersten gilt es grundsätzlich darzulegen, wie das Zusammenspiel zwischen Technik und technischer Praxis (téchne) die (medial vermittelten) Möglichkeiten der Welt beeinflusst und so eine Genese von Komplexität gestattet. Konkret wird im Anschluss an Luhmanns Systemtheorie zu argumentieren sein, dass der Einsatz von Technik stets eine Reduktion von Komplexität intendiert und auf diese Weise einen Zugang zu höherer Komplexität bzw. zu neuen Möglichkeiten in der Welt schafft. Dieses Argument lässt zum Zweiten die bildungstheoretisch relevante These zu, dass technisch intendierte Komplexitätsreduktionen und ein durch Selbstbestimmung geprägter Bildungsbegriff (vgl. Kapitel 2) miteinander korrespondieren. Es ist eine These, die insofern bereits auf der Hand liegt, als die beiden Phänomene der Technik und Bildung eine »unübersehbare Verwandtschaft« aufweisen, die dann genauer einsehbar ist, wenn man Erstgenanntes als »die zweckmäßige Formung der äußeren Natur« und Zweitgenanntes als »die zielgerichtete Formung der inneren Natur des Menschen« (Sesink 1999, S. 511) auffasst. Diese Auffassung verhält sich einerseits komplementär zu technikphilosophischen und -soziologischen Ansätzen, die das hohe Emanzipationspotenzial von Technik betonen (vgl. z.B. Hartmann 2010, S. 55; Müller 2010, S. 67). Technische Mechanismen, so beispielsweise die einprägsame Formulierung Hans Blumenbergs, »sind letztlich auf die Steigerung […] des menschlichen Daseins ausgelegt; sie strecken, wenn man so sagen darf, die Reichweite jedes Daseins, im räumlichen wie im zeitlichen Bezug, sie erlauben uns, Sprünge zu machen, statt Schritte zu tun« (Blumenberg 1959, S. 50f.). Andererseits liegt die begriffliche Nähe von Technik und Bildung in der historischen Verwobenheit zwischen intellektueller Aufklärung und industrieller Revolution begründet (vgl. Abschnitt 2.2). Technischer und geistiger Fortschritt stehen in diesem Sinne in einer sich wechselseitig bedingenden Beziehung zueinander. Empirisch anschlussfähig lässt sich dies in der Auffassung Manuel Castells’ exemplifizieren, der im ersten Band seiner Trilogie Das Informationszeitalter konstatiert, dass Erfindungen wie »Computer, Kommunikationssysteme, die Entschlüsselung des genetischen Codes und seine Programmierung« als »Verstärkungen und Erweiterungen des menschlichen Geistes« zu betrachten seien (Castells 2001a, S. 35). Der intentionale Ursprung von Technik, so dazu ergänzend der Philosoph Oliver Müller

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im Anschluss an Ernst Cassirer, ist damit »ein erkenntnistheoretischer: das Transparentmachen der Wirklichkeit, die Schaffung einer überprüf- und gestaltbaren ›Objektivität‹« (Müller 2010, S. 68). Auf der Suche nach den Grundbedingungen für das Auftreten von Komplexität stößt man in Luhmanns Die Gesellschaft der Gesellschaft auf den Begriff der »evolutionären Errungenschaften« als Definition »für ein strukturelles Arrangement mit deutlicher Überlegenheit über funktionale Äquivalente« (Luhmann 1998, S. 505f.; Hervorh. C.L.).11 In den Blick genommen sind damit solche Strukturen, innerhalb derer die Anzahl der Möglichkeiten, die Subjekte miteinander kombinieren können, gesteigert werden (vgl. Schützeichel 2003, S. 170). Ein solcher Blick ist weitreichend. Luhmann denkt z.B. »an das Auge oder an Geld, an bewegliche Daumen oder an Telekommunikation« (Luhmann 1998, S. 506). Um diese Reichweite eingrenzen zu können, führt er schließlich zwei Bewertungsebenen an, die sich in ihrem Verhältnis zueinander ergänzen: So müssen sich evolutionäre Errungenschaften zum Ersten im Hinblick auf eine Problemlösung beweisen (vgl. ebd.). Beispielsweise muss sich Geld eignen, um Waren erwerben zu können; gleichsam muss es den Markt langfristig stabilisieren, es muss gut unter den Warenerwerbenden verteilbar sein usw (vgl. ebd.). Neben dem Aspekt der Problemlösungseignung sind evolutionäre Errungenschaften zum Zweiten anhand einer zu erwartenden »evolutionäre[n] Vorteilhaftigkeit« (ebd.) zu bemessen, die sich in der Paradoxie niederschlägt, dass einerseits Komplexität reduziert wird, um andererseits auf der Basis ebendieser Reduktion höhere Komplexität organisieren zu können (vgl. ebd., S. 507). Luhmanns paradigmatisches Beispiel dafür ist das Straßennetz (vgl. ebd.): Dieses ist komplexitätsreduzierend, indem es durch festgelegte Wegstrecken die Möglichkeiten der eigenen Fortbewegung limitiert. Es gestattet jedoch zugleich eine Steigerung von Bewegungsmöglichkeiten, beispielsweise im Hinblick auf Schnelligkeit und Reichweite. Das ist empirisch dann evident, wenn man sich ein solches Straßennetz vorstellt, das 11

Gegen den Begriff der Evolution wird häufig eingewendet, dass er »beengend fortschrittsoptimistisch« (Heisterhagen 2018, S. 10) sei. Luhmanns theoretischer Ausgangspunkt einer Weltgesellschaft als co-strukturell gekoppelte Differenz zwischen System und Umwelt entzieht dieser Kritik jedoch ihren Boden, denn Evolution heißt hier nicht zwangsläufig »Verbesserung der Anpassungs- und damit Überlebensfähigkeit von Systemen an eine bestimmte Umwelt«, sondern, dass Systeme »zur Fortsetzung ihrer Autopoiesis eigene Strukturen« entwickeln (Luhmann 1986, S. 35f.). Evolutionstheorie ist in diesem Sinne eine Theorie, die thematisiert, welche Unterschiede im Laufe der Zeit entstehen (vgl. Baecker 2013b, S. 174).

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

an den Fernverkehr angebunden ist. Das Straßennetz ist letztlich nur eines von vielen Beispielen für evolutionäre Errungenschaften, die in unterschiedlichen »Gesellschaftsbereichen höhere Komplexität ermöglichen. Beispiele: Landwirtschaft, Schrift, Druckpresse, Telekommunikation« (ebd.). Luhmann verfolgt mit diesen Betrachtungen vor allem die Analyse gesellschaftlicher Strukturen. Komplexität hat daher nur bedingt etwas mit größerer Reichweite zu tun (vgl. Baecker 1994, S. 32); vielmehr geht es bei dem Begriff um die Steigerung von Möglichkeiten und Abhängigkeiten des Lebens. Die für das Erkenntnisinteresse des vorliegenden Abschnitts entscheidende Besonderheit liegt nun darin, dass man mit der Festlegung des Begriffs der evolutionären Errungenschaften auf die Bedingung eines gesteigerten Komplexitätszugangs bei gleichzeitiger Komplexitätsreduktion ab einem bestimmten Niveau »in die Nähe von Sachverhalten [rückt, C.L.], die üblicherweise als Technik bezeichnet werden« (Luhmann 1998, S. 517). Im Rückgriff auf die bereits dargelegte Prämisse, dass evolutionäre Errungenschaften sich durch eine Vorteilhaftigkeit gegenüber bislang tradierten und etablierten Verhältnissen auszeichnen, ist es im Anschluss an Luhmann somit möglich, Technik »als Steigerungsform evolutionärer Errungenschaften« auszulegen (ebd.). Diese Auslegung intendiert den Verzicht auf konkrete phänomenale Eingrenzungen bei gleichzeitigem Gewinn eines übergeordneten Kriteriums, das eine Antwort auf die Frage, was Technik ist, allein auf funktionale Vereinfachung zurückführt (vgl. ebd., S. 524; Luhmann 1991b, S. 97).12 Im Umgang mit

12

Bestätigung für den Verzicht auf konkrete phänomenale Festlegungen liefert einerseits Werner Rammert, der es für weitgehend üblich hält, »Technik als Masse der materiellen Artefakte, als Menge der zweckmäßigen Mittel, als Sammlung des Wissens über herstellbare Wirkungen oder als Ausdruck des Wunschs zur Bemächtigung der Welt anzusehen« (Rammert 2016, S. 56). Damit ist eine nicht mehr zu ordnende Vielfalt ersichtlich, die es möglich werden lässt, im Kontext von Technik unter anderem von materiellen Gegenständen wie Dampfmaschine, Computer oder Smartphone, von menschlichen Fähigkeiten wie Schuss-, Mal- oder Argumentationstechniken, von Kulturtechniken wie Lesen oder Schreiben, aber auch von Technologien als »Anwendungen von Techniken auf Technik« (Baecker 2013a, S. 195) bzw. als »Logos und damit [der, C.L.] Lehre von der Technik« (Meder 2004, S. 165) zu sprechen. Bestätigung für eine funktionsorientierte Charakterisierung von Technik liefert andererseits Hans Blumenberg, der die Verflechtung unterschiedlicher Techniken als »ein Universum von Dingen« beschreibt, die »um uns herum funktionieren« (Blumenberg 1959, S. 10).

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Komplexität zeichnet sich Technik also dadurch aus, dass sie funktioniert und vereinfacht (vgl. Baecker 1999, S. 32).13 Eine solche Festlegung erfordert zunächst einige Ergänzungen: Demnach wäre es erstens verhängnisvoll, den Anspruch geltend machen zu wollen, dass Technik stets funktioniere. Die meisten Leserinnen und Leser werden aus eigenen Erfahrungen nur allzu leicht bestätigen können, dass sie dies nämlich häufig nicht oder zumindest nicht so tut, wie es zu wünschen wäre. Bemerkenswerterweise trifft dies insbesondere auf Hochtechnologien zu, die stets ein Risiko für unvermeidbare Unfälle und Katastrophen nicht kalkulierbarer Größenordnungen bergen (vgl. Baecker 2017a, S. 148f.; Beck 2017, S. 132-146; Habermas 1992b, S. 44). Zweitens ließe sich darüber diskutieren, ob all das, was funktioniert, auch eine Technik ist. Klarheit in diese Diskussion bringt drittens der bereits zu Beginn der vorliegenden Arbeit erläuterte Sachverhalt, dass die Benennung einer Funktionalität stets im Kontext einer normativen Haltung stehen muss (vgl. Abschnitt 2.1) – Luhmanns Festlegung auf den Begriff der Vereinfachung gilt freilich als solches Normativ. Der damit erkennbare normative Anspruch an Technik ermöglicht schließlich eine Querverbindung zur normativen Struktur von Bildung, was die zu Beginn des Abschnitts erwähnte These von der Korrespondenz beider Phänomene aufgreifen und ergründen lässt. Dies erfordert jedoch die Darlegung einiger theoretischer Besonderheiten, für die im Folgenden der technikanalytische (und damit nicht kulturkritische) Teil in Martin Heideggers Vorlesung über Die Frage nach der Technik eine zentrale Referenz sein soll.14 In diesem Sinne ist zunächst die Anführung jener Prämissen hilfreich, die Heideggers Überlegungen zugrunde liegen: 13

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Die Universalität dieser Definition hat zur Folge, dass darunter nicht nur materielle Technik, um die es im Folgenden geht, zu subsumieren ist. So kann der Technikbegriff gemäß Luhmann prinzipiell »jede feste Kopplung von Ursachen und Wirkungen« umfassen, »gleichgültig ob es sich um Materialien physischer, chemischer oder biologischer Art oder um Symbole handelt wie im Recht oder in der Computertechnologie. Der Begriff reicht also über Maschinentechnik weit hinaus und schließt all das ein, was Husserl den mathematischen Idealisierungen der modernen (galileischen) Wissenschaften zugerechnet hatte.« (Luhmann 1994/1995, S. 54f.) Im Rückblick auf die bereits oben erfolgte Auseinandersetzung mit Heideggers Sein und Zeit (vgl. Abschnitt 4.1.4) sei angemerkt, dass an dieser Stelle keine phänomenologische Argumentationshaltung zu entfalten sein wird. Der Rekurs auf Heideggers Vorlesung dient vielmehr als geeignete Referenz, um einer Verflechtung des normativen Einsatzes von Technik und der normativen Struktur von Bildung begrifflich nachgehen zu können.

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

»Wir fragen nach der Technik und möchten dadurch eine freie Beziehung zu ihr vorbereiten. Frei ist die Beziehung, wenn sie unser Dasein dem Wesen der Technik öffnet. […] Als das Wesen von etwas gilt nach alter Lehre jenes, was etwas ist. Wir fragen nach der Technik, wenn wir fragen, was sie sei. Jedermann kennt die beiden Aussagen, die unsere Frage beantworten. Die eine sagt: Technik ist ein Mittel für Zwecke. Die andere sagt: Technik ist ein Tun des Menschen. Beide Bestimmungen der Technik gehören zusammen. Denn Zwecke setzen, die Mittel dafür beschaffen und benützen, ist ein menschliches Tun. Zu dem, was die Technik ist, gehört das Verfertigen und Benützen von Zeug, Gerät und Maschinen, gehört dieses Verfertigte und Benützte selbst, gehören die Bedürfnisse […] und Zwecke, denen sie dienen. Das Ganze dieser Einrichtung ist die Technik. Sie ist selber eine Einrichtung, lateinisch gesagt: ein instrumentum.« (Heidegger 1953, S. 7f.; Hervorh. C.L.) Heidegger stellt hier den handelnden Menschen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Sein Vorschlag, Technik primär als ein auf das ›Tun des Menschen‹ abstellendes Instrument zu begreifen, erhebt somit im Grunde genommen den Anspruch auf eine anthropologische Zuschreibung. Gibt man jedoch mit Müller zu bedenken, dass auch Tiere instinktiv Instrumente einsetzen, dann ist unschwer zu erkennen, dass Heideggers Betrachtung voraussetzungsreich ist: ihr liegt die Annahme zugrunde, dass die Rede von Technik erst ab einem bestimmten instrumentalen Niveau angemessen scheint; zusätzlich wird unterstellt, dass nur der Mensch dieses Niveau erreichen kann (vgl. Müller 2010, S. 53).15 Heidegger vermutet diese Niveaujustierung im angeführten Zitat in der Zweckrationalität technischer Funktionalität, was dann bildungstheoretisch diskussionswürdig erscheint, wenn man sie innerhalb der Beziehung zwischen Subjekt und Welt reflektiert. Die Erinnerung daran, dass diese Beziehung wechselwirkend zu denken ist, lässt umgehend erkennen, dass rein instrumentelle Sichtweisen, die Technik ausschließlich als Mittel oder Werkzeuge auffassen, zu kurz greifen, worauf vor allem auch techniksoziologische Perspektiven der Gegenwart aufmerksam machen (vgl. z.B. Latour 2017). Folglich drängen sich 15

Heideggers Annahme bleibt letztlich eine von vielen. So lässt sich beispielsweise auch bei Karl Marx eine Verbindung zwischen animalischer und menschlicher Bearbeitung der Natur finden. Gemäß Marx produzieren Tiere aufgrund der eigenen Bedürfnisse, »während der Mensch universell« und »frei vom physischen Bedürfnis produziert« (Marx 1844, S. 184). Dahinter können maßgeblich ökonomische Strukturen von Technik vermutet werden, auf die in Kapitel 6 noch zurückzukommen sein wird.

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zunächst einige theoretische Aktualisierungen auf, die im Anschluss an Dirk Baeckers Beitrag Technik und Entscheidung exploriert werden können. Baecker betont in diesem Beitrag, dass Technik innerhalb des Weltbezugs der Subjekte als intendierte »Einrichtung einer Sequenz von Ereignissen« gilt, denen stets eine Entscheidung »für das Funktionierende und gegen das Nicht-Funktionierende« vorausgeht (Baecker 2016e, S. 64; Hervorh. im Orig.). Die Frage nach der Funktionalität von Technik ist in diesem Sinne an die Frage gekoppelt, was sie nicht bewirken soll. Technische Funktionalität lässt sich so kontradiktorisch zum Ungewünschten positionieren (vgl. Luhmann 1998, S. 519) und intendiert damit in erster Linie »Positivität im Kontext von Negativität« (Baecker 2016e, S. 64f.): der Staubsauger gewährt Sauberkeit (Positivität) im Kontext von Schmutz (Negativität), die Lampe gewährt Helligkeit (Positivität) im Kontext von Dunkelheit (Negativität), die Heizung gewährt Wärme (Positivität) im Kontext von Kälte (Negativität) usw. Diese Beispiele lassen sich beliebig weiterführen, entscheidend ist, dass sie erkennen lassen, dass beim funktionalen Einsatz von Technik »volitive, die Welt gestaltende Züge« (ebd., S. 67) zur Geltung kommen. Technik verspricht, die Welt so zu gestalten, wie sie sein soll: sauber statt schmutzig, hell statt dunkel, warm statt kalt usw. Ein Nachdenken darüber, wie diese Welt gestaltenden Züge bildungstheoretisch zu deuten sind, ermöglicht letztlich die inhaltliche Vertiefung von Heideggers Frage nach der Technik, in der sich die Bestimmung finden lässt, dass jeder instrumentale Technikeinsatz in ein »Her-vor-bringen«, griechisch poiesis, mündet (Heidegger 1953, S. 14). Das ist deshalb bemerkenswert, weil diese Bestimmung in eine Verbindung zur technischen Praxis (téchne) gesetzt werden kann: Während die Rede von ›Praxis‹ auf die bloße, sich genügende Tätigkeit des Menschen verweist, gehört die téchne »zum Her-vor-bringen; zur poiesis; sie ist etwas Poietisches« (Heidegger 1953, S. 14; Hervorh. und Überführung altgriechischer in lateinische Buchstaben C.L.). Heideggers Hervorbingen16 dient damit als eine begriffliche Konkretisierung des schaffenden, verändernden, ja, Welt gestaltenden Wesens von Technik, das der Entdeckung

16

Äquivalent zur Vorgehensweise in Abschnitt 4.1.4 werden im Folgenden die eigentümlichen Begrifflichkeiten Heideggers zunächst als Zitat eingeführt, um sie dann in kursiver Schreibweise weiterverwenden zu können. Zur Erleichterung des Lesens wird darüber hinaus die gewöhnliche Schreibweise des Substantivs Hervorbringen inklusive dessen Verb hervorbringen verwendet.

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neuer Elemente bzw. der Kopplung bereits bekannter Elemente zu etwas Neuem dienlich ist. Werner Sesink kann dies in seiner Interpretation Heideggers Frage nach der Technik auf den Punkt bringen, wenn er schreibt: »Was heißt ›her-vor-bringen‹? Etwas vor uns her bringen, so dass es vor uns steht, für uns sichtbar, anwesend. Was für uns anwesend ist, das ist unverborgen. Hervorbringen heißt demnach: etwas aus der Verborgenheit in die Unverborgenheit bringen.« (Sesink 2012, o.S.) Mit Sesink lässt sich ebenso andeuten, dass die téchne und ihr Hervorbringen auf die Ausdifferenzierung der sachlichen und dinghaften Welt abzielen. Diese Einsicht verhält sich komplementär zu solchen technikphilosophischen Argumentationen, die Technik einerseits als Ursprung einer permanenten »Vermehrung und Verdichtung« der »Dingwelt« (Blumenberg 1959, S. 10) und Technologien andererseits als Bedingung eines strukturellen oder ontologischen Mehrs erfassen (vgl. Müller 2010, S. 43). In diesem Sinne setzt Heidegger das Hervorbringen der Technik auch in Relation mit dem »Entbergen«, durch das etwas ins Unverborgene tritt (Heidegger 1953, S. 13). Die Besonderheit der téchne liegt demnach nicht bloß »im Machen und Hantieren, nicht im Verwenden von Mitteln, sondern in dem genannten Entbergen. Als dieses, nicht aber als Verfertigen, ist die téchne ein Her-vor-bringen.« (ebd., S. 14; Hervorh. und Überführung altgriechischer in lateinische Buchstaben C.L.)17 Wenngleich das Abstraktionsniveau des heideggerschen Entbergens hoch ist, so lässt sich mit dem Begriff akzentuieren, dass bei einem funktionalen Einsatz von Technik keine Variation des bereits Bekannten, sondern tatsächlich etwas Neues entsteht. In diesem Rahmen ist entscheidend, dass Heidegger die Wortherkunft des Entbergens auf das altgriechische Wort ›altheia‹ und das römische Wort ›veritas‹ zurückführt, die beide auf die Göttin der Wahrheit verweisen (vgl. ebd., S. 13). Das Entbergen als Prozess gibt sich folglich als die »Wahrheit alles Seienden« zu erkennen (Sesink 2012, o.S.). »Alles, was ist, ist, weil es entborgen ist.« (Ebd.) In diesem Sachverhalt ist ein emanzipatorisches Moment insofern auszumachen, als dass Technik hier nicht nur als funktionales Instrument, sondern als Instrument der Wahrheit verstanden werden kann. Technik erweist sich in diesem Sinne als eine »Weise des Entbergens«, die sich dort vollzieht, »wo Entbergen und Unverborgenheit, […] 17

Insofern ist die erkenntnistheoretische Übersetzung des Entbergens auch die Abduktion, die ein Schaffen neuer Wahrscheinlichkeitsschlüsse und damit ein Erfinden von Neuem intendiert (vgl. Avanessian 2017, S. 124; 2018a, S. 94; Koller 2012, S. 108).

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wo Wahrheit geschieht« (Heidegger 1953, S. 14f.). Diese Argumentation erhält ihr besonderes Gewicht mit dem Sachverhalt, dass die Bedeutung des Wortes ›Wahrheit‹ in einer engen rhetorischen Verbindung zum humanen Streben nach Erkenntnis und Freiheit steht. »Wahrheit ist Versöhnung. Wahrheit ist Freiheit.« (Han 2015, S. 67)18 Zusammenfassend sind diese Betrachtungen insofern auf den Punkt zu bringen, als dass in der Ausdifferenzierung der sachlichen und dinghaften Welt, wie sie sich im Zusammenspiel zwischen Technik und technischer Praxis (téchne) manifestiert, immer auch der Anspruch auf wahrhaftiges Welterkennen (entbergen) und Weltgestaltung (poiesis) mitschwingt. Bezogen auf das Phänomen der Komplexität geht daher mit dem funktionalen Einsatz von Technik und der damit intendierten Reduktion von Komplexität immer auch ein Anspruch auf Freiheit einher. Diese Freiheit findet ihren Ausdruck in dem Sachverhalt, dass jede Komplexitätsreduktion mit der Hervorbringung neuer Komplexität einhergeht, dass innerhalb der Verflechtung zwischen Technik und handelndem Subjekt immer wieder neue Möglichkeitsräume entstehen. Auf diese Weise wird das Theoriegebäude, in dem einerseits über die Beziehung zwischen Subjekt und Welt, aber andererseits auch über die Selbstbestimmtheit des handelnden Subjekts nachzudenken ist, fortwährend und dynamisch verändert. Wie diese Dynamik im sozialen Zusammenleben am Laufen gehalten wird, ist Gegenstand des folgenden Abschnitts.

5.2.2

Zur Sozialdimension von Komplexität im Technisch-Medialen: Von der Oralisierung zur Digitalisierung – Kommunikationsmedien und ihr Überschusssinn

Im Sozialen konstituiert sich Komplexität gemäß Luhmann auf der Basis symbol- und zeichenvermittelter Kommunikation »in den Möglichkeitsräu18

In diesem Kontext betont z.B. der Soziologe Nico Stehr, dass das Wort ›Wissen‹ vor allem im Englischsprachigen in starker Relation zur Semantik von ›Wahrheit‹ steht (vgl. Stehr 1994, S. 19). Im Deutschsprachigen wird dieser Relation durch das Wort ›Licht‹ Ausdruck verliehen, wie sich im Anschluss an Hans Blumenberg verdeutlichen lässt: »Das von Natur Seiende hat in der Antike einen ontologischen Vorrang vor dem Verfertigten. Die Physis ist wesentlich ›aus sich selbst‹, und sie ist wesentlich ›aus sich selbst‹ wahr. So wahr also wie die Natur ist, so ›natürlich‹ ist die Wahrheit. Die Redeweise, die das zum Ausdruck bringt, bedient sich der Metapher des Lichts. Im Licht artikuliert sich das Seiende als Kosmos, als verstehbare, einsichtige Ordnung. Wahrheit ist das, was ›einleuchtet‹.« (Blumenberg 1953, S. 42; Hervorh. im Orig.)

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

men der Kommunikationspartner ›Ego‹ und ›Alter‹« (Corsi 1997, S. 174), das heißt innerhalb einer Differenz zwischen der eigenen Meinung und anderen Perspektiven. Kommunikation heißt daher, auf Informationen reagieren zu müssen und mit Möglichkeiten konfrontiert zu werden, die man bislang ausschloss oder mit denen erst gar nicht zu rechnen war (vgl. Luhmann 1984, S. 104; Baecker 2007a, S. 8). Die Rahmenbedingungen dieses Sachverhalts lassen sich unter den Bedingungen einer technisch-medial konstituierten Gesellschaft grundsätzlich anhand von insgesamt vier Medienepochen eingrenzen, die sich nicht substituieren, sondern überlagern und damit auf vielfältige Weise komplementieren: Oralisierung, Alphabetisierung, Literalisierung und Digitalisierung bzw. die Epoche der Sprache, der Schrift, des Buchdrucks und die Epoche der Computertechnik (vgl. Baecker 2018, S. 10). Man stößt nicht nur im Kontext des Phänomens der Komplexität schnell auf die These, dass mit dem Eintritt jeder dieser Epochen vielfältige Umbrüche in Gang getreten sind, die die Gesellschaft und ihre Individuen vor neu geartete Herausforderungen stellten und stellen (vgl. Avanessian 2017, S. 31). Auch bei Luhmann finden sich derartige Überlegungen, was bis zur aktuellsten, auf den Möglichkeiten der Computertechnik basierenden Medienepoche der Digitalisierung ragt, selbst wenn diese zu seinen Lebzeiten längst nicht die Wirkkraft entfalten konnte, wie sie es gegenwärtig tut. So findet sich beispielsweise bei Luhmann die Annahme, dass der Computer das Vermögen zu einer »bessere[n] und raschere[n] Organisation von Komplexität« (Luhmann 1998, S. 412) vorweist, mit dem die Ermöglichung neuer »Formen struktureller Kopplung« (ebd., S. 118) im gesellschaftlichen Zusammenleben wahrscheinlich wird. In der auf Luhmann rekurrierenden Literatur findet sich dieser Gedanke am intensivsten durch Dirk Baecker weitergeführt, der im Jahr 2007 im verbalen Anschluss an Peter Druckers Managing in the Next Society den konzeptuellen Vorschlag unterbreitete, von einer nächsten Gesellschaft zu sprechen. Baecker versteht diesen Vorschlag als Reaktion auf einen der aus seiner Sicht »spekulativsten Abschnitte in Niklas Luhmanns Buch über ›Die Gesellschaft der Gesellschaft‹, in dem er die Idee vorträgt, dass die Gesellschaft die Einführung von Schrift, Buchdruck und Computer nur überlebt hat, weil es ihr gelungen ist, so genannte Kulturformen des selektiven Denkens mit dem durch die neuen Medien produzierten Überschusssinn zu finden.« (Baecker 2007b, S. 10)

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Basierend auf diesen Prämissen weist Baeckers Rede von der nächsten Gesellschaft einerseits erste Konturen einer Medientheorie der digitalisierten Gesellschaft vor, die system- und kulturtheoretisch abgesichert ist (vgl. z.B. Baecker 2013a; 2014; 2017b; 2018); andererseits kann sie als eine den Begriff der Komplexität einbeziehende »Theorie der Medienepochen der Gesellschaft« (Baecker 2013a, S. 265) verhandelt werden, die es im Folgenden auszudifferenzieren gilt. Zentral dafür ist folgende Perspektive: »Wir haben es mit nichts Geringerem zu tun als mit der Vermutung, dass die Einführung des Computers für die Gesellschaft ebenso dramatische Folgen hat wie zuvor nur die Einführung der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks. Die Einführung der Sprache konstituierte die [tribale, C.L.] Stammesgesellschaft, die Einführung der Schrift die antike Hochkultur, die Einführung des Buchdrucks die moderne Gesellschaft und die Einführung des Computers die nächste Gesellschaft.« (Baecker 2007b, S. 7) Aufbauend auf dieser Perspektive besteht nun das mit Baeckers These von der nächsten Gesellschaft essentiell in den Blick genommene Problem darin, dass jede neue Medienepoche »einen Überschusssinn von Möglichkeiten der Handlung und Kommunikation produziert«, zu deren Bewältigung bislang tradierte Strategien einer Gesellschaft nicht mehr genügen (Baecker 2014, S. 132).19 Sprache, Schrift, Buch und Computer sind insofern »disruptive Medien« (ebd., S. 133), als dass sie das Komplexitätsniveau einer Gesellschaft anheben und infolgedessen neu geartete Bewältigungsstrategien und Orientierungsmuster erfordern. Baecker vertieft diese Lesart innerhalb des Zusammenspiels zwischen einer sich verändernden Strukturform der Gesellschaft und der Kulturform als Verarbeitung des Überschusses eines neu auftretenden Mediums. »Die Strukturform sichert die Verbreitung, die Kulturform die Eingrenzung des neuen Mediums im Kontext aller anderen gesellschaftlichen Möglichkeiten der Kommunikation« (Baecker 2018, S. 66),20 wie Baecker

19 20

Zur Vokabel des Überschusssinns, die bereits Luhmann im Anschluss an Husserl verwendet hat, vgl. noch einmal Abschnitt 5.1.3. Indirekt ist damit auf einen medientheoretisch konstruierten Kulturbegriff angespielt, dessen Essenz in der positiven Bewältigung medialer Überschüsse liegt. In kulturtheoretischer Argumentationsführung liest man bei Baecker: »Kultur beginnt damit, Nein sagen zu können und vollendet sich darin, aus diesem Nein positive Effekte zu gewinnen. Genau das heißt: kultivieren.« (Baecker 2014, S. 8)

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in Bezug auf die jeweiligen Medienepochen in vierfacher Weise ausarbeiten kann:21 Erstens führt Baecker die mündliche Sprache als Erweiterung einer auf Körper, Mimik, Gestik, Höhlenmalerei oder Bilder begrenzten Kommunikation an (vgl. Baecker 2007b, S. 169). Die Originalität der Sprache liegt demzufolge gegenüber einfacheren Kommunikationsformen in der Ermöglichung einer detaillierten Auseinandersetzung mit Sachverhalten, die nicht zwangsläufig präsent sein müssen. Im Medium der Sprache können physisch nicht präsente Dinge im Präsens verhandelt werden, was beispielsweise die Möglichkeit einer umfangreichen Beschreibung eines Ortes, an dem man sich gerade nicht befindet, gestattet. Auf diese Weise wird eine bloß visuelle oder haptische Wahrnehmung um verbale Referenzen erweitert, die (inter-)subjektive Interpretationsspielräume eröffnen. Worte bedeuten in diesem Sinne stets »mehr, als in jeder denkbaren Situation kontrolliert werden kann«, weil mit ihnen prinzipielle Unklarheit darüber einhergeht, wer was zu welcher Zeit über wen (und überhaupt wahrhaftig) sagt (ebd.). Die mit der Sprache herbeigeführte Komplexität ragt deswegen über den Sachverhalt bloß sprechender Menschen weit hinaus. Baecker bezeichnet daher die neu auftretenden Möglichkeiten der Sprache als »Referenzüberschuss« (ebd., S. 157) und vermutet ihre strukturelle Ordnung schließlich in der Ausgründung tribaler Gesellschaften, denen die Eingrenzung territorialer Zonen vorausgeht (vgl. ebd., S. 156f.). Es handelt sich hier um eine Vermutung, die auf Luhmann zurückführt, der von Segmentierung spricht, wenn Teilbereiche der Gesellschaft durch Clans, Familien, Dörfer, Stämme oder Regionen aufgeteilt sind (vgl. Luhmann 1998, S. 635). Damit verbundene örtliche, räumliche, hierarchische, generationenbezogene oder geschlechtliche Trennungen reduzieren den Überschusssinn verbaler Referenzen durch die Etablierung und Kontrollierung eigener Sprachspiele. Insofern ist die mit der Strukturform der Segmentierung einhergehende Kulturform in der Ziehung von Grenzen auszumachen (vgl. Baecker 2007b, S. 156). Grenzziehungen reagieren auf die neu geschaffenen Möglichkeitsräume der Sprache, indem »sie den Überschuss je situativ auf die jeweils aufgegriffenen Referenzen reduzieren, gleichzeitig jedoch mitführen, dass auf der anderen Seite der Grenze der Überschuss nach wie vor vorhanden ist und weiteren situativen Zugriffen zur Verfügung 21

Für Vorarbeiten zu Baeckers These zur nächsten Gesellschaft vgl. Leineweber 2017, S. 34-36. Für weiterführende Überlegungen vgl. mittlerweile ebenso Leineweber 2020a, S. 44f.

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steht« (ebd.). Grenzen gewähren im Komplexen also einerseits eine ordnende Einheit, indem sie verbale Referenzen territorial regulieren; andererseits droht eine Konfrontation mit Vielheit, sobald territoriale Grenzen überschritten werden. Zweitens kennzeichnet Baecker die Schrift als das Medium, mit dem sprachliche Kommunikation festgehalten werden kann und Vergessen folglich erstmals erlaubt wird (vgl. ebd., S. 160-164). Die Schrift fungiert in diesem Sinne als kulturelles und generationenübergreifendes Gedächtnis, das zugleich den Referenzüberschuss der Sprache um einen »Symbolüberschuss« ergänzt (Baecker 2014, S. 134). Die konstitutiven Elemente eines Symbolüberschusses sind notierte Zeichen und Symbole, die eine Kommunikation mittels aufgeschriebener Worte, Sätze, Rechnungen, Gedichte, Texte usw. gestatten (vgl. Luhmann 1998, S. 319f.). Eine verbale Rede ist damit um die verschriftlichte Lektüre erweitert. Das Spezifikum dieser Erweiterung ist eine kommunikative Nachhaltigkeit, indem nun in jeder gegebenen Gegenwart »kontrollierbare Zugriffe auf eine differenzierbare Vergangenheit und korrigierbare Zugriffe auf eine noch offene Zukunft« (Baecker 2017b, S. 6) denkbar sind. Anders formuliert: Die Schrift hat entscheidenden Einfluss darauf, wie über die Vergangenheit berichtet wird und welche zukunftsprägenden Meinungen einzuholen sind. Sie ist so gesehen der Ursprung dessen, dass Menschen mit unterschiedlichen Zeithorizonten konfrontiert werden können. Als strukturelle Ordnung dieser Konfrontation legt Baecker die Etablierung unterschiedlicher Sozialschichten fest, wofür aristokratische Hochkulturen, stratifizierte Gesellschaften oder Sklavenhaltungen als paradigmatisch gelten (vgl. Baecker 2007b, S. 160; Luhmann 1998, S. 679). Die prägende Kulturform dieser gesellschaftlichen Ausdifferenzierung ist die griechische Idee der Teleologie, die mit der Vorstellung fester Ordnungen und Ziele einhergeht, indem sie »auf den quasi-natürlichen Platz« (Baecker 2007b, S. 162) verweist, den jeder Mensch und jedes Ding in der Gesellschaft angesichts »Herkunft, Ehre und Geschick« (Baecker 2018, S. 66) einzunehmen hat, damit »der Kosmos in Harmonie mit sich selbst existieren« (Baecker 2007b, S. 162) kann. Dieser Idee ist die Vorstellung von individuellen und sozialen Entwicklungen implizit, inklusive damit verbundener Differenzen zwischen Personen, sozialen Schichten und Rangordnungen. Die Lehre der Teleologie räumt damit im Komplexen eine Einheit ein, indem sie den Ort der Menschen in der Gesellschaft, ihre Lebensplanung, ihre Ziele, Aufgaben und zu tragenden Sorgen festlegt. Vielheit geht von dieser Ordnungsform insofern aus, als teleologische Lebensvorstellungen

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notgedrungen zu einem kosmologischen Weltbild führen, in dem alles seine feste Ordnung hat. Denn nur schwer kommt man umhin, »auch die Teloi der anderen, inklusive korrupter Formen (das Chaotische und Monströse), zur Kenntnis zu nehmen und in einem Gesamtzusammenhang von, griechisch, Psyche, Oikos, Polis und Kosmos zu verorten« (Baecker 2014, S. 135). Drittens spricht Baecker von einem durch den Buchdruck bedingten »Kritiküberschuss«, der den verbalen Kontroll- sowie den schriftlichen Symbolüberschuss flankiert und jene gesellschaftliche Strukturform herbeiführte, die wir gewöhnlich Moderne nennen (ebd., S. 136). Konstitutiv für diese Gesellschaftsform sind massenhaft produzierte und weiträumig verteilte Schriftstücke, wie z.B. »Flugblätter, Zeugnisse, Akten, Bücher und Zeitungen« (ebd.). Mit ihnen wird es Subjekten auf vielfältige Weise gestattet, alternative Meinungen einzuholen, um die jeweils individuell oder kollektiv vorherrschende Haltung radikal in Frage stellen zu können (vgl. Baecker 2007a, S. 164). Der Buchdruck erweitert in diesem Sinne den Übergang von einer oralen zu einer schriftlichen Kultur, indem er den Zugang auf die Schriftlichkeit anderer Kulturen, also den Zugang zu anderen Arten des Umgangs mit schriftlicher Kommunikation, ermöglicht (vgl. Esposito 2002, S. 187). »Es gibt bald keine Situation mehr, in der man nicht mit Kritik rechnen muss.« (Baecker 2007b, S. 165) Als strukturelle Ordnung dieses Überschusses an Kritik gilt die funktionale Differenzierung der Gesellschaft und eine damit verbundene Etablierung von Teilsystemen, die vor dem Hintergrund mannigfaltiger Meinungen und Behauptungen ihre je eigenen, selbstlegitimierenden und orientierungsgebenden Codes entwickeln (vgl. ebd., S. 167; Baecker 2014, S. 136f.; Baraldi 1997b, S. 68). »Die funktionalen Kalküle der Politik (Bestimmung eines demos), der Wirtschaft (Erweiterung und Bewirtschaftung von Knappheit), des Rechts (Eingrenzung von Legalität und Legitimität), der Wissenschaft (Kontrolle der Neugier), der Religion (Glaube an die Transzendenz) […] und der Massenmedien (Suche nach neuen Informationen) sind von der modernen Gesellschaft in einer Schärfe ausdifferenziert worden, wie dies keine Gesellschaft zuvor unternommen hat und unternehmen musste.« (Baecker 2014, S. 139; Hervorh. im Orig.) Die kulturell ordnende Reaktion auf den Buchdruck liegt damit in der Herstellung eines funktionalen, vereinheitlichten Gleichgewichts im Kontext eines durch differierende Perspektiven entstandenen Ungleichgewichts der Vielheit.

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Viertens bringt Baecker einen durch die Möglichkeiten des Computers und damit durch die Möglichkeiten des Internets, der Algorithmen und der Künstlichen Intelligenz bedingten »Kontrollüberschuss« ins Spiel (Baecker 2007b, S. 169; ohne Hervorh.). Die technisch entscheidende Originalität des Computers liegt in diesem Rahmen in einer Entkörperlichung, das heißt in einer Verlagerung der »Technik von Körpern und Dingen auf Zeichen […], deren Sinn darin besteht, andere Zeichen zugänglich zu machen« (Luhmann 1998, S. 530). Auf diese Weise entstehen neue Möglichkeiten der Zeichen- und Symbolvermittlung, die insofern einen Überschuss generieren, als dass sich zunehmend »Maschinen an der Kommunikation unter Menschen« (Baecker 2018, S. 20) beteiligen, die sich durch eigenständig rechnende Algorithmen und eine dadurch entstehende Künstliche Intelligenz auszeichnen. Der springende Punkt dabei ist, dass der Computer auf diese Weise zu einer Art ›black box‹ avanciert, deren kommunikatives Handeln nicht immer nachzuvollziehen, aber immer stärker einer menschlichen Kommunikation angepasst ist (vgl. Baecker 2007b, S. 169ff). Als eigenständig rechnende Maschine nimmt der Computer in der Auffassung Baeckers daher eine immer unkontrollierbarere Eigendynamik an, »dessen Errechnungsmodus von Beiträgen unklar, Schnelligkeit der Verknüpfung überfordernd und Reichweite des Gedächtnisses bedrohlich ist« (Baecker 2018, S. 54). Die Gesellschaftsstruktur, die aus den technischen Möglichkeiten des Computers hervorgeht, ist laut Baecker eine globale Vernetzung (vgl. Baecker 2014, S. 140), die letztlich eine »Überfülle von Beziehungen und Möglichkeiten« (Han 2005, S. 20) bedingt. Folgt man Manuel Castells viel beachteter Studie zur Netzwerkgesellschaft, so bestehen Netzwerke aus einer »Reihe miteinander verknüpfter Knoten« (Castells 2001b, S. 431), die einerseits eine neue informationelle und globale Ökonomie erzeugen und andererseits eine Topologie schaffen, in der eine »Distanz (oder die Intensität und Häufigkeit der Interaktion) zwischen drei Punkten (oder sozialen Positionen) geringer (oder häufiger oder intensiver) ist, wenn beide Punkte Knoten in einem Netzwerk sind, als wenn sie nicht zum selben Netzwerk gehören« (ebd., S. 528). Insofern kann gerade das Netzwerk auch als eine Art Inbegriff der Komplexität verstanden werden. Als »epistemisch komplexer Gegenstand« (Jörissen 2016, S. 250) ermöglicht es den homogen geordneten Zugriff auf prinzipiell heterogene Elemente und suggeriert folglich Einheit, wo ein unbegrenzter Horizont an Vielheit möglich ist, der seinen Ausdruck in der Akkumulation und Verdichtung von Daten findet.

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

Die auf diese Entwicklung reagierende Kulturform ist derzeit nicht eindeutig zu benennen, weil die Irritation der modernen Gesellschaft durch den Kontrollüberschuss des Computers in vollem Gange ist. Als Vorwegorientierung dient an dieser Stelle jedoch ein Passus in Die Gesellschaft der Gesellschaft, in dem Luhmann notwendige Reaktionen auf Beschleunigung als eine mögliche, auf die Strukturen der Moderne reagierende Kulturform in Erwägung zieht: »Daß der Computer das durchschnittliche Erfüllungsniveau von Erwartungen steigern kann, wenn er zugleich Erwartungen speichert, ist eher unwahrscheinlich. Erreichbar ist eine bessere und raschere Organisation von Komplexität. Damit können auch Erwartungen besser vorgetestet werden, bevor sie gespeichert werden – aber doch immer nur mit Hilfe der Technik vergleichender Kontrolle, also immer nur vergangenheitsbezogen. Es ist kaum zu befürchten, daß dies zu einer errechneten Kultur führen wird, denn Sinnformen kondensieren nur in der Kommunikation selbst. Eher wird man annehmen müssen, daß die Beschleunigung der Kontrolloperationen dasjenige Moment sein wird, auf das die Kultur reagieren muß – und dies dann wohl mit einem Verzicht auf eine Positivwertung zeitlicher Beständigkeit.« (Luhmann 1998, S. 412; Hervorh. C.L) In der Rezeption Luhmanns findet man diesen Gedanken ebenfalls bei Baecker aufgegriffen und vor allem im Hinblick auf die Vernetzungsmöglichkeiten des Computers weitergedacht (vgl. z.B. Baecker 2018, S. 67f.). Baecker sieht gegenwärtige Gesellschaftsstrukturen vor allem mit den Rechenleistungen von »Suchmaschinen, Datenbanken und Algorithmen der elektronischen Medien (Computer, Internet, Intranet, soziale Netzdienstleister)« konfrontiert, zu deren kulturellen Bewältigung es »Formen der sozialen Differenzierung« bedarf, »die schnellen, gedächtnisstarken, extrem konnektiven elektronischen Medien gewachsen sind« (Baecker 2014, S. 141; Hervorh. C.L.). Obgleich diese Überlegungen Luhmanns und Baeckers einen spekulativen Charakter aufweisen, lassen sich mit ihnen zwei Aspekte akzentuieren: erstens der Sachverhalt, dass Komplexität einen Einfluss auf Zeit hat und zweitens die Vermutung, dass gerade mit dem kommunikativen Überschusssinn des Computers ein Niveau an Komplexität entsteht, deren kulturelle Ordnungsform auf Beschleunigung zu reagieren hat und damit womöglich eine Veränderung zeitlicher Strukturen bzw. in den Worten Luhmanns: einen Verzicht zeitlicher Beständigkeit nach sich zieht. Diese

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Die Verzeitlichung der Bildung

Aspekte gilt es im Weiteren zu vertiefen – vorab soll die Entwicklungslogik, die ihnen vorausgeht, noch einmal tabellarisch zusammengefasst sein: Tab. II: Kommunikationsmedien und ihre Folgen (in Anlehnung an Baecker 2018, S. 74 und S. 270f.; Schuldt 2017, S. 103 ) Medium

Gesellschaftstyp

Überschusssinn

Gesellschaftsstruktur

Kulturelle Ordnungsform

Sprache

tribale Gesellschaft

Referenz

Segmentierung

Grenze

Schrift

antike Gesellschaft

Symbol

Stratifizierung

Teleologie

Buch

moderne Gesellschaft

Kritik

Funktionalisierung

funktionales Gleichgewicht

Computer

nächste Gesellschaft

Kontrolle

Vernetzung

Reaktion auf Beschleunigung (?)

5.2.3

Zur Zeitdimension von Komplexität im Technisch-Medialen: Das Verhältnis zwischen Kontingenz und Selbstbestimmung

Den beiden bis hierher mittels der Systemtheorie entfalteten Paradoxien, dass einerseits der funktionale Einsatz von Technik nicht nur komplexitätsreduzierend ist, sondern stets auch den Zugang zu neuer Komplexität ermöglicht, und dass andererseits die kommunikativen Überschusssinne, mit denen die westliche Gegenwartsgesellschaft durch Sprache, Schrift, Buchdruck und Computer konfrontiert ist, nicht nur durch kulturelle Ordnungsformen reduziert, sondern auch reproduziert werden, ist eine Eskalationslogik inhärent. Luhmann weist darauf bereits während der 1970er Jahre hin, ohne die Möglichkeiten der Computertechnik überhaupt erahnen zu können: »Wenn unsere Gesellschaft sich auf ein Symbol einigen müßte, so würde es vermutlich nicht der Kreis, nicht das Kreuz, nicht die Linie, sondern die schwindelerregende Exponentialkurve.« (Luhmann 1975, S. 300) Subjektives Leben und Handeln in solchen Verhältnissen findet unter maximalen Möglichkeiten statt. Selbstverständlich kann die Rede vom Maximalen hier nur als rahmende Hülle dienen, die all das umfasst, was für einzelne Individuen je vorstell-

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

bar ist. Zur theoretischen Eingrenzung dieses Sachverhalts findet sich in der luhmannschen Systemtheorie der Begriff der Kontingenz, der »nicht das Mögliche überhaupt«, sondern das bezeichnet, was im Einzelfall weder als notwendig noch als unmöglich angesehen wird, »was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist« (Luhmann 1984, S. 152). Kontingenz verweist in diesem Sinne auf »Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein« und umfasst damit sämtliche weltliche »Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen« (ebd.). Kontingenz ist insofern ein notwendiges Moment sinnhafter Orientierung im Komplexen, womit beide Begriffe ausschließlich in einer Verflechtung zueinander zu denken sind: Während Komplexität demgemäß bezeichnet, dass es immer mehr Möglichkeiten gibt, als in einer gegebenen Gegenwart realisiert werden könnten, so besagt der Begriff der Kontingenz, dass jede getroffene Entscheidung nur eine Möglichkeit darstellt, die prinzipiell auch anders ausfallen könnte, als zu erwarten oder zu planen wäre (vgl. Luhmann 1971c, S. 32; 1998, S. 55). Während Komplexität also eine ganzheitliche Charakterisierung von System, Umwelt, aber auch Welt oder Subjekt in Aussicht stellt, zielt der Begriff der Kontingenz auf den Modus des interpretativen Umgangs (eines Systems, aber auch eines Subjekts) mit Komplexität ab. Gerade deshalb scheint in bildungstheoretischer Hinsicht die Behauptung legitim, dass Kontingenz die Komplexität der je subjektiven Sicht auf die Welt abbildet.22 Norbert Meder bringt dies im Rahmen einer allgemeinpädagogischen Auseinandersetzung mit Luhmanns Systemtheorie auf den Punkt, wenn er in seinem Beitrag Kontingenz im pädagogischen Handlungszusammenhang schreibt: »Luhmann hat […] gefragt, in welchen Formen wir mit dem Komplexitätsgefälle umgehen. Er kommt zur Antwort: Wenn wir innerhalb des Systems über Komplexität reden, dann sprechen wir von Kontingenz.« (Meder 2007b, S. 168) Nun ist der Begriff der Kontingenz kein Alleinstellungsmerkmal der luhmannschen Systemtheorie, sondern ein Sachverhalt, der sich andernorts ebenfalls, z.B. innerhalb postmoderner Debatten (vgl. Ricken 1999, S. 128ff; 22

Sobald man den determinierenden Blick auf das Subjekt überwindet, sobald man also innerhalb einer intersubjektiven Betrachtung die Möglichkeiten des Sozialen mit einbezieht, kann man folglich von einer doppelten Kontingenz sprechen. Luhmann verwendet den Begriff im Anschluss an Parsons und kennzeichnet damit solche Situationen, in denen sich ego und alter gegenüberstehen und beide wissen, dass der jeweils andere anders handeln könnte, als es den je eigenen Erwartungen oder Wünschen entsprechen würde (vgl. Luhmann 1984, S. 153f.; Meder 2007b, S. 173; Pietraß 2018a, S. 78).

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Die Verzeitlichung der Bildung

de Witt 2018, S. 1006) oder zeitdiagnostischer Entwürfe zur individualisierten und reflexiven Modernisierung (vgl. z.B. Beck 2008, S. 303), verhandelt findet. Wie bereits weiter oben erwähnt wurde, spielt der Begriff der Kontingenz überdies auch eine gewichtige Rolle in Winfried Marotzkis Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie (vgl. Abschnitt 2.4.3). Marotzki versteht unter Kontingenz ganz grundsätzlich »den Sachverhalt, daß das Besondere aus dem Allgemeinen nicht linear deduzierbar ist und sich somit tendenziell der Prognostizierbarkeit und Berechenbarkeit entzieht« (Marotzki 1990, S. 25). Damit konturiert er die Konsequenzen einer Pluralisierung von Möglichkeiten der Lebensgestaltung moderner Subjekte, die alles in allem zu höheren Unbestimmtheiten führt, so dass Individuen »immer stärker auf sich zurückgeworfen« sind: »Suchbewegungen und experimentelle Formen der Existenz scheinen für viele Menschen nicht nur auf Krisensituationen ihres Lebens begrenzt zu sein, sondern zur permanenten Vollzugsform ihres Daseins zu werden.« (ebd., S. 29) Mit dieser Perspektive bettet Marotzki eine Erkenntnis in sein transformatorisches Verständnis von Bildung ein, die begriffsphilosophisch auf das zurückführt, was Heidegger als die Geworfenheit des zukunftsoffenen Subjekts bezeichnete (vgl. Abschnitt 4.1.4). Subjektivität ist daher, so Marotzki subsumierend, »prinzipiell im Modus der Geworfenheit, der Kontingenz diversifiziert« (Marotzki 1990, S. 204). Marotzkis bildungstheoretische Perspektive lässt zunächst drei Grundeinsichten des zurückgelegten Argumentationsganges wieder aufgreifen und versammeln: Wenn Kontingenz darauf verweist, dass es in komplexen Welten immer weniger Eindeutigkeiten gibt, dann avanciert der Begriff erstens zu einem wichtigen theoretischen Bezugspunkt für das Ideal der Selbstbestimmung, das auf den Umgang des Subjekts mit Unbestimmtheiten abzielt und in diesem Sinne eine Handlungsfähigkeit im Rahmen pluraler Kontexte intendiert (vgl. Abschnitt 2.5). Und wenn die Erfahrung von Kontingenz innerhalb der subjektiven Geworfenheit aufgeht, so spielt dies zweitens auf eine geschichtlich strukturierte Zeitlichkeit der Subjekte an. Insofern korrespondiert der Begriff der Kontingenz mit einem aufgeklärten Menschenbild sowie der Möglichkeit einer offenen, modernen Lebensgestaltung, die im Handeln der Subjekte wirkmächtig wird und dabei stets mit einer Vorstellung von Zukunft einhergeht (vgl. Abschnitt 4.3). Innerhalb dieses temporalen Rahmens verweist Luhmanns Komplexitätsbegriff drittens auf die Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft, die in der Gegenwart mit dem bereits Geschehenen und dem, was noch geschehen könnte, konfrontiert (vgl. Abschnitt 5.1.4). Übertragen auf den Modus der Kontingenz hat somit jede gegenwärtige

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

Welt-Wahrnehmung »ihre eigenen Zukunfts- und Vergangenheitshorizonte, in denen künftige bzw. vergangene Gegenwarten mit eigenen Zukunftsund Vergangenheitshorizonten erkennbar werden« (Luhmann 2008, S. 21). Feststehendes, Bekanntes und Bestimmtes verweisen somit in der Zeit stets auf Nicht-Feststehendes, Unbekanntes und Unbestimmtes. Prinzipiell kann diese Konstellation auf Seiten der Subjekte durch ein Handeln zur Welt bearbeitet werden. Handeln bedeutet mithin, sich innerhalb einer Vielfalt an bekannten Alternativen für eine Möglichkeit zu entscheiden und andere Möglichkeiten außen vor zu lassen, wobei das, was jeweils möglich ist, von den vorangegangenen und zukünftigen Zuständen abhängt (vgl. Baecker 1999, S. 28; Meder 2007b, S. 169). Jede Handlung bedingt auf diese Weise einen zweigeteilten Möglichkeitsraum, der sich einerseits aus dem Bereich der getroffenen Selektion und andererseits aus dem Bereich der ausgelassenen Möglichkeiten konstituiert (vgl. Luhmann 2009, S. 129; Meder 2007b, S. 169; Meder 2011, S. 69). Unter der komplexitätstheoretischen Prämisse, dass jede Vereinheitlichung auf eine Vielheit verweist, entsteht so mit jeder Selektion im Kontingenten die Festlegung auf eine Handlung, die wiederum andere Handlungen erforderlich werden lässt. Was hier zunächst als einfache Verweisungsstruktur subjektiven Handelns beschrieben ist, potenziert sich mit dem Grad der Komplexität von Welt. Luhmann argumentiert daher, dass Komplexität ab einem gewissen Niveau zu Selektionszwang führt, wobei gilt: »Selektionszwang heißt Kontingenz und Kontingenz heißt Risiko. Jeder komplexe Sachverhalt beruht auf einer Selektion der Relationen zwischen seinen Elementen, die er benutzt, um sich zu konstituieren und zu erhalten.« (Luhmann 1984, S. 47) Unmittelbar daran schließt Luhmanns These zur »Temporalisierung von Komplexität« an, mit dem er den Versuch eines Systems thematisiert, durch die Aneinanderreihung von Selektionen »im Nacheinander mehr Relationen zu aktualisieren, als zugleich möglich wären« (Luhmann 1980, S. 238), um letztlich Komplexität kompensieren zu können. Auf der Ebene des Subjekts lautet die wohl einfachste Übersetzung dieser Beschreibung: Steigerung der Handlungsgeschwindigkeit, was noch einmal hervorhebt, dass die handlungsbezogene Bearbeitung von Komplexität durch das Subjekt ein fortwährender Prozess in der Zeit ist (vgl. Abschnitt 5.1.4), der umso stärker unter Verantwortung steht, je mehr Kontingenz erfahren wird, je mehr Handlungsmöglichkeiten also auftreten. Wenn dies zunächst auf prozessuale Bedingungen im Spannungsfeld zwischen Handeln und Komplexität verweist, so lassen sich die damit verbundenen Konsequenzen für einen Bildungsbegriff, der im Kern auf selbstbestimmtes

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Handeln referiert, abschließend mit einem Zitat Dieter Spanhels verdeutlichen, der innerhalb einer (medien-)pädagogischen Auseinandersetzung mit der Systemtheorie darauf hinweist, »dass sich ein System unter den Bedingungen hoher Umweltkomplexität nur durch Erhöhung der Eigenkomplexität erhalten kann. Das bedeutet für den […] Menschen, dass er die unglaubliche Komplexität seiner medial konstruierten Alltagswelt nur bewältigen, seine Identität erhalten und sein Leben verantwortlich führen kann, wenn er […] über möglichst komplexe innere Strukturen verfügt. D.h. also, dass er sich bemühen muss, die inneren Strukturen seines Wahrnehmens und Denkens, Fühlens und Wollens, Wertens und Handelns immer auszudifferenzieren und flexibel zu halten. Diese Strukturen sind die Lerninstrumente des Menschen, die er ständig verbessern muss, damit er sich durch immer neue strukturelle Transformationen den wechselnden Anforderungen seiner medialen Umwelt anpassen kann.« (Spanhel 2002, S. 4) Spanhel etikettiert hier eine Fähigkeit des Subjekts, die man in der Pädagogik traditionell als ›Kompetenz‹ bezeichnet. Verwiesen ist damit auf eine Handlungsfähigkeit, die durch ein möglichst hohes Wissen über die Beschaffenheit eines gegebenen Kontextes und den Konsequenzen der darin in Frage kommenden Handlungen performant wird. Kompetent zu sein heißt folglich: die Möglichkeiten des Handelns an dem bislang Gelernten auszurichten. Kontingente Handlungsfelder überfordern diesen Anspruch insofern, als dass sie Teil einer offenen Welt mit bis dato unbestimmten Möglichkeiten sind. Marotzki trug diesem Sachverhalt in seiner strukturalen Bildungstheorie mit der Einsicht Rechnung, dass gerade ein »durch Freiheit bestimmtes Umgehen mit der Welt […] höherstufige Lern- und Bildungsprozesse« erfordert (Marotzki 1990, S. 49). Indirekt spielt er damit darauf an, dass der zentrale Anspruch selbstbestimmten Handelns darin liegt, nicht nur in Kontexten handeln, sondern von Kontext zu Kontext wechseln und das Auftreten mehrerer und neuer Kontexte eigenständig bewältigen zu können (vgl. Abschnitt 2.5). Diesem Sachverhalt liegt mit Luhmanns medientheoretischer Prämisse, dass Handlungskontexte – Luhmann würde sagen: Möglichkeitsräume – stets medial vermittelt sind, eine Struktur zugrunde, die unter den Bedingungen des TechnischMedialen mannigfaltig ausgebaut wird. Vereinheitlichend und dezidiert ist dies im Folgenden noch einmal auf den Punkt zu bringen.

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

5.3

Viertes Zwischenfazit: Systemtheoretische Grundlegung des Komplexitätsbegriffs und seine Bedeutung für Bildungstheorie und Medienpädagogik

Im Fokus dieses Kapitels stand die Ausarbeitung eines Begriffs von Komplexität. Dieser Fokus begründete sich mit der vorab gewonnenen Einsicht, dass sich sowohl konstitutive Voraussetzungen subjektiver Selbstbestimmung als auch die heteronomen Wirkkräfte von Zeit am Grad gesellschaftlicher Komplexität bemessen. Als wissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand ist Komplexität traditionell in der Systemtheorie beheimatet, wobei gerade die im vierten Kapitel dieser Arbeit vollzogenen Diskussionen um zeittheoretische Perspektiven der Soziologie eine Auseinandersetzung mit der Systemtheorie Niklas Luhmanns nahelegten. Systemtheoretische Konzeptionen gehen nicht von der bildungstheoretisch grundlegenden Beziehung zwischen Subjekt und Welt, sondern von der weitaus abstrakteren Leitdifferenz zwischen Teil(en) und Ganzes aus. Innerhalb der systemtheoretischen Spielart Luhmanns findet sich diese Leitdifferenz grundsätzlich im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen System und Umwelt eingegrenzt und dann spezifisch in Bezug auf die Unterscheidung zwischen psychischen und sozialen Systemen ausdifferenziert. Unter diesen Voraussetzungen lag den zurückgelegten Betrachtungen ein geteiltes Interesse zugrunde: zum einen die Darlegung jener Grundstrukturen eines Begriffs von Komplexität, der aus Luhmanns Analyse psychischer und sozialer Systeme resultiert, und zum anderen die Klärung dessen, inwiefern ein solcher Begriff im Kontext des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Arbeit zu verhandeln ist. Damit richtete sich der Blick zunächst auf den Sachverhalt, dass Luhmanns Begriff der Komplexität eine Paradoxie in Form der Einheit einer Vielheit ist. Etwas gilt demzufolge als komplex, wenn es über eine Anzahl von Elementen verfügt, die nicht zugleich miteinander verbunden werden können. Die sinnhafte Ordnung bzw. die Bewältigung von Komplexität erfordert daher stets Festlegungen (systemtheoretisch: Selektionen) auf Elemente, die wiederum auf andere Elemente verweisen. Wenngleich Luhmann diese Paradoxie innerhalb der Unterscheidung zwischen psychischen und sozialen Systemen exploriert, konnte gezeigt werden, inwiefern das Phänomen der Komplexität ebenfalls eine Angelegenheit des Subjekts ist. In diesem Zuge ließ sich zunächst darlegen, dass die Paradoxie des Komplexen ihre Struktur erstens innerhalb der Sachdimension (d.h. innerhalb der Beziehung des Subjekts zu den Sachen und Dingen in der Welt) durch den Verweisungshorizont

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von dies auf anderes und zweitens innerhalb der Sozialdimension (d.h. innerhalb der Beziehung des Subjekts zu anderen Subjekten in der Gemeinschaft und Gesellschaft) durch die Perspektiven der Kommunikationspartner ego und alter gewinnt. Alle damit verknüpften Ereignisse finden drittens innerhalb der Zeitdimension (d.h. innerhalb der Beziehung der Subjekte zu sich selbst in der Zeit) in den Horizonten der Vergangenheit und Zukunft statt, die sich stets in der Gegenwart öffnen. Die daran angeschlossene Frage, wie solche Ordnungsstrukturen der Komplexität möglich sind, wie also Einheiten der Vielheit im Sachlichen, Sozialen und Zeitlichen überhaupt zustande kommen, führte in einem nächsten Schritt zu einer Auseinandersetzung mit dem Medienverständnis der luhmannschen Systemtheorie. Dabei wurde zunächst gezeigt, dass Luhmann ein Medium in der Nachfolge von Fritz Heider als konstitutive Voraussetzung für all das bestimmt, was in der Welt potenziell wahrgenommen werden kann: alles was prinzipiell möglich ist, ist in diesem Sinne medial vermittelt; der »mediale Blick« ist folglich ein »Blick, der Alternativen kreiert« (Baecker 2018, S. 22). Infolgedessen war zu postulieren, dass Komplexität in der Anschlussnahme Luhmanns als medial vermitteltes Phänomen zu verhandeln ist. Die Besonderheit dieses Postulats liegt darin, dass Medien zwar den Prozess der Wahrnehmung ermöglichen, jedoch selbst nicht Teil der Wahrnehmung sind, dass Medien also nicht als konkrete Phänomene, sondern als Ermöglichungsbedingungen zur Wahrnehmung von Phänomenen erscheinen. Anschließend wurde Luhmanns Medienbegriff, der eine universale Reichweite besitzt und daher auf alles Mögliche anzuwenden ist, mit der medienpädagogisch gängigen und angesichts des technischen Entwicklungsstandes moderner Gegenwartsgesellschaften angemessenen Auffassung konfrontiert, dass das Konstitutive der medialen Vermittlung im Zusammenspiel zwischen Mensch und Technik liegt. Indem bildungstheoretisch-medienpädagogische Rezeptionen des luhmannschen Medienbegriffs (Sesink, Meder) angeführt wurden, ließ sich das medial Vermittelte in Bezug auf das Technische zunächst grob abstecken und mit der Rede vom TechnischMedialen begrifflich eingrenzen. Weitere, inhaltlich motivierte Präzisierungen wurden mit Rekurs auf die Theorieanlage der Medialität (Pietraß/Funiok, Jörissen) vorgenommen, deren Programm ausgehend von anthropologischen und semiotischen Prämissen grundsätzlich auf der Idee aufbaut, dass das Mediale als zeichen- und symbolhaft ermöglichte Wirklichkeit der Subjekte erscheint, aber darüber hinaus ebenso dezidiert akzentuiert, dass diese Ermöglichung durch technische Vermittlungsformen verändert wird.

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Weil damit eine spezifische, auf den Aspekt der Technik bezogene Konzeption gefunden war, deren Schwerpunkt auf einer medial vermittelten Wirklichkeit der Subjekte liegt, erschien ihre Verknüpfung mit einem Verständnis von Komplexität naheliegend, das im Anschluss an Luhmann als medial vermittelt zu denken ist. Der explorative Charakter dieser Verknüpfung führte letztlich zu der Frage, wie sich eine mit dem Begriff der Medialität gewonnene Fokussierung des Technisch-Medialen auf den Begriff der Komplexität übertragen lässt. Basierend auf den konstitutiven Bedingungen subjektiver Medialität23 konnte eine Beantwortung dieser Frage mit dem Gedanken initiiert werden, dass sich ein Begriff von Komplexität auf der Basis technisch-medial bedingter Vermittlungsprozesse im Rahmen einer Trias entfaltet, die auf folgende Aspekte verweist: erstens auf das Zusammenspiel von Technik und technischer Praxis (téchne) innerhalb der sachlichen Dimension der Subjekt-Welt-Beziehung, zweitens auf das Verhältnis zwischen zeichen- und symbolhaft konstituierten Kommunikationsmustern und Kulturformen innerhalb der sozialen Dimension der Subjekt-Welt-Beziehung sowie drittens auf das in der Zeit handelnde Subjekt innerhalb der zeitlichen Dimension der Subjekt-Welt-Beziehung. Gefunden war damit eine Heuristik, die die detaillierte Frage danach gewährte, inwiefern sich die Paradoxie des Komplexen in Form der Einheit einer Vielheit unter den Bedingungen des Technisch-Medialen eingrenzen lässt. Schlussendlich konnte diese Frage – maßgeblich im Anschluss an Luhmanns Systemtheorie und dessen Weiterführung durch Dirk Baecker – in dreifacher Weise durchgespielt werden: Durch das Zusammenspiel zwischen Technik und technischer Praxis (téchne) konstituiert sich Komplexität erstens in Form eines einheitsstiftenden Zugangs zur Welt, der mit der spezifischen Funktion jeder einzelnen Technik festgelegt wird und von dort aus eine Vielheit an Möglichkeiten einräumt: die Straßenbahn fährt auf festgelegten Strecken, gestattet aber das Erreichen unterschiedlicher Ziele, das Mobiltelefon legt Kommunikationsformen fest, gestattet aber unterschiedliche (neue) Kommunikationsmuster usw. In der menschlichen Nutzung von Technik werden so fortwährend (medial vermittelte) Möglichkeitsräume für Handlungen potenziert, die prinzipiell das Theoriegebäude, in dem

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Diese im Anschluss an Jörissen ermittelten Bedingungen lauteten im Detail: Medialität basiert auf technisch-medial vermittelten Möglichkeitsräumen, in denen sich subjektive Artikulationen im Spannungsfeld zwischen zeichen- und symbolhaft vermittelter Kultur, technischer Materialität und technischer Praxis (téchne) ereignen.

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einerseits über die Subjekt-Welt-Beziehung, aber andererseits auch über die Selbstbestimmung der Subjekte nachzudenken ist, fortwährend und dynamisch verändern. Konkret einzugrenzen war diese Art der Veränderung zweitens innerhalb des sozialen Zusammenlebens, wobei Baeckers These von der nächsten Gesellschaft richtungsweisend war. Diese These besagt, dass die Möglichkeitsbedingungen zeichen- und symbolhafter Welten durch neue Kommunikationsmedien, das heißt durch die Entwicklung der Sprache, die Einführung der Schrift, die Erfindung des Buchdrucks und die Erfindung des Computers jeweils um einen ›Überschusssinn‹ erweitert wurden. Demzufolge gilt: Die Sprache gestattet erstmals eine präzise Verhandlung verschiedener Themen (Referenzüberschuss), die Schrift lässt Vergangenes für die Zukunft fixieren (Symbolüberschuss), gedruckte Schriften konfrontieren mit einer Vielzahl verschiedener Argumentationen (Kritiküberschuss) und der Computer konfrontiert zuletzt mit maschinellen, auf Algorithmen basierenden und damit für den Menschen nicht mehr zu kontrollierenden Kommunikationsmustern (Kontrollüberschuss). Im Anschluss an Baecker wurde hier dargelegt, dass jeder dieser vier Entwicklungsschritte, mit denen sich moderne Subjekte derzeit konfrontiert sehen, letztlich mit einer Vervielfältigung von Möglichkeiten der Handlung und Kommunikation einhergeht, für die ihre Gesellschaft erst wieder einheitsstiftende Bewältigungsstrategien und Strukturen aufbauen muss. Drittens waren diese Bestimmungen dahingehend zu ordnen, dass die Möglichkeitsräume des Komplexen auf Seiten der Subjekte einerseits im Modus der Kontingenz und andererseits in der Zeit durch Handeln bearbeitet werden. Unter Rückbezug auf bildungstheoretische Perspektiven (Marotzki, Meder) wurde der Begriff der Kontingenz auf den Sachverhalt festgelegt, dass jede getroffene Entscheidung nur eine Möglichkeit darstellt, die prinzipiell auch anders ausfallen kann, als zu erwarten oder zu planen ist. Die komplexitätstheoretische Prämisse, dass jede Vereinheitlichung auf eine Vielheit verweist, wird damit insofern im kontingenten Handeln der Subjekte fortgeführt, als dass jede ausgeführte Handlung die Möglichkeit zu weiteren Handlungen in der Zukunft bedingt. Wer in diesem Sinne von Kontingenz spricht, geht davon aus, dass Komplexität unauflösbar quer zu dem steht, was Medien sind (vgl. Baecker 2008, S. 133ff). Entsprechend gilt: Komplexität und Medien sind nur in Kombination zu denken. Die ebenso simple wie weitreichende Formel dafür lautet: Komplexität ist die Einheit einer Vielheit, und Medien eröffnen den Zugang zur Vielheit. Das lässt sich sowohl auf konkrete Mediengegenstände und deren Inhalte als auch auf davon abstrahierende Konzeptionen übertragen, die

5 Komplexität und das Technisch-Mediale

in holistischer Weise davon ausgehen, dass das subjektive Wahrnehmungsgeschehen im Medialen wurzelt. Unter diesen Bedingungen muss Komplexität als genuin medienpädagogischer Untersuchungsgegenstand begriffen werden, der auf der theoretischen Ebene einer angenommenen Beziehung zwischen Subjekt und Welt bedingt, dass die Bildung des Subjekts in komplexen Welten im Feld medial vermittelter Möglichkeitsräume angelegt ist. Die gewonnenen Einsichten dieses Kapitels haben daher für eine ideelle Vorstellung von Bildung zur Folge, dass sich die Selbstbestimmung der Subjekte, wo auch immer sie wirkmächtig werden soll, in einer medial bedingten Kontingenz zu beweisen hat, die dann potenziert wird, wenn (der funktionale Einsatz von) Technik ins Spiel kommt. Mit Verweis auf den ausgearbeiteten Sachverhalt, dass Kontingenz von Subjekten durch Handeln in der Zeit bewältigt wird, bleiben damit die beiden Fragen offen, welche Rolle der Aspekt ›Zeit‹ einerseits für den subjektiven Umgang mit Kontingenz spielt und welche Wirkungen dies wiederum andererseits auf die Frage nach Selbstbestimmung nimmt. Wie im Folgenden darzulegen sein wird, lassen sich Antworten auf diese Fragen mit einem Rekurs auf das Phänomen der Beschleunigung gewinnen.

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6 Zur Gesellschaftsdiagnose der Beschleunigung »Seele, banger Vogel du, / Immer wieder mußt du fragen: / Wann nach so viel wilden Tagen / Kommt der Friede, kommt die Ruh? // O ich weiß: kaum haben wir / Unterm Boden stille Tage, / Wird vor neuer Sehnsucht dir / Jeder liebe Tag zur Plage. // Und du wirst, geborgen kaum, / Dich um neue Leiden mühen / Und voll Ungeduld den Raum / Als der jüngste Stern durchglühen.« (Hesse [Keine Rast] 1987, S. 87)

Im vorangehenden Kapitel wurde das Phänomen der Komplexität als Charakterisierung der Beziehung zwischen Subjekt und Welt ausgearbeitet, mit der sich die Selbstbestimmung der Subjekte in einer technisch-medial geschaffenen Kontingenz zu behaupten hat. Im Anschluss an die Systemtheorie Niklas Luhmanns konnte in diesem Rahmen angedeutet werden, dass moderne Gesellschaften derzeit durch die enormen Rechenleistungen des Computers zunehmend mit einer »Beschleunigung entsprechender Kontrolloperationen« (Baecker 2017b, S. 13) konfrontiert sind, zu deren Bewältigung entsprechende Lösungsstrategien erst noch geschaffen und kulturell etabliert werden müssen. Ebenso wurde angedeutet, dass die Bewältigung von Kontingenz auf subjektiver Seite ab einem gewissen Niveau zu einer Erhöhung der Handlungsgeschwindigkeit führt, die letztlich eine »Temporalisierung von Komplexität« (Luhmann 1980, S. 235) antreibt. In Anbetracht dieser beiden Aspekte mag es nicht weiter verwundern, dass sich vor allem in der soziologischen, aber auch philosophischen Literatur weitere Beobachtungen über das »›Tempo‹ unserer Zeit« (Elias 1939/1980b, S. 339) oder gar »the mania for mo-

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Die Verzeitlichung der Bildung

tion and speed« (Dewey 1927, S. 62) finden lassen. Oftmals finden sich diese Beobachtungen im Kontext einer Betrachtung des »technisch-industriellen Fortschritt[s]« notiert, dem man auf der Basis von Transport, Kommunikation, Produktion, Konsumtion, aber auch virtuellen Medien- und Datenwelten einen herbeigeführten »Beschleunigungszustand« (Virilio 1980, S. 177) zuschreibt, welcher gerade in technisch stark entwickelten Gesellschaftsformen durch die »Geschwindigkeit elektronischer Signale« (Bauman 2003, S. 18) potenziert zu werden scheint. In diesem Rahmen stellt die bereits in der Einleitung der vorliegenden Arbeit zur Sprache gekommene, im Jahr 2005 publizierte Habilitationsschrift Beschleunigung – Die Veränderung der Zeitstrukturen des Soziologen Hartmut Rosa eine breit beachtete, inhaltlich umfangreiche sowie »durchaus tiefenscharfe Analyse« (Nassehi 2008, S. 14) dar, die sich als makrosoziologische Gegenwartsanalyse behauptet und in diesem Sinne »die moderne Gesellschaft als ›Beschleunigungsgesellschaft‹« (Rosa 2005, S. 120; ohne Hervorh.) beschreibt. Im Allgemeinen zeichnet sich Rosas Analyse dadurch aus, dass sie bis dato vorliegende Betrachtungen zum Phänomen der Beschleunigung subsumiert, in einer einheitlichen Darstellung präsentiert und damit einen umfassend definierten Beschleunigungsbegriff ausarbeitet. Daran knüpft das vorliegende Kapitel an, in dem es zu zeigen gilt, inwiefern die Gesellschaftsdiagnose der Beschleunigung Anschlussmöglichkeiten für ein bildungstheoretisches Denken anbietet, das sich im Spannungsfeld zwischen der Frage nach subjektiver Selbstbestimmung und (modernen) Zeitverhältnissen verortet.1 Demgemäß gilt es in einem ersten Schritt zunächst einige Vorüberlegungen zu der zentralen Prämisse der rosaschen Beschleunigungstheorie zu formulieren, die besagt, dass moderne Gesellschaften zuvorderst als Steigerungsgesellschaften verstanden werden müssen, deren Strukturerhalt auf einem ökonomisch angetriebenen Wachstum beruht (vgl. Abschnitt 6.1). Entscheidend dabei ist, dass Rosa diesen modernen Strukturerhalt durch Wachstum auf das Zusammenspiel zwischen technischen Innovationen und Beschleunigung festlegt. Wie in einem zweiten Schritt aufzuarbeiten sein wird, kann auf dieser Grundlage zwischen drei Dimensionen der Beschleunigung unterschieden werden: der technischen Beschleunigung, der Geschwindigkeit des sozialen Wandels und dem Lebenstempo der Subjekte (vgl. Abschnitt

1

Für Vorarbeiten dazu vgl. Leineweber/Querbach (2015), Grünberger/Leineweber (2016) und Leineweber (2017).

6 Zur Gesellschaftsdiagnose der Beschleunigung

6.2). Grundsätzlich erscheint die These von einer Verknappung von Zeitressourcen paradox – vor allem Formen der technischen Beschleunigung müssten eine Senkung des Lebenstempos in Aussicht stellen, denn wo Dinge in kürzerer Zeit zu bewerkstelligen sind, dort bleibt mehr Zeit für andere Aktivitäten (vgl. Rosa 2005, S. 244; Weidenhaus 2015, S. 203). Diese Paradoxie ist mit Rosa jedoch insofern zu erklären, als technische Beschleunigungsprozesse einen Wandel des gesellschaftlichen Lebens bedingen, der auf subjektiver Ebene einerseits zu empfundener Zeitknappheit führt und andererseits ein Bedürfnis nach weiterer technischer Beschleunigung hervorruft. Auf diese Weise gelangt Rosa zu der Erkenntnis, dass ein »unabschließbarer Steigerungszwang« (Rosa 2016, S. 14) fortwährend einen »Beschleunigungszirkel« (Rosa 2005, S. 252) antreibt, der auf der Ebene der Subjekte »zu einer problematischen, ja, gestörten oder pathologischen Weltbeziehung« (Rosa 2016, S. 14) führt. Diese Perspektive gilt es in einem dritten Schritt innerhalb einer bildungstheoretisch perspektivierten Betrachtung weiter zu vertiefen (vgl. Abschnitt 6.3). Abschließend sollen die wesentlichen Erkenntnisse noch einmal zusammengefasst und in Bezug auf das Ideal der Selbstbestimmung diskutiert werden (vgl. Abschnitt 6.4).

6.1

Vorüberlegung: Steigerung als Strukturlogik der Moderne

Überschaut man ihre vielfältigen Entwicklungen und Tendenzen, dann erzählt die Geschichte der Moderne in erster Linie vom Fortschritt (vgl. Degele/Dries 2005, S. 7ff; Nassehi 1999, S. 89; Rosa 2016, S. 517). Insofern weist sie eine eindeutige Konnotation auf: »Progress is change for the better; regress is change for the worse« (Wright 1997, S. 1), so bringt es der Philosoph Georg Henrik von Wright auf den Punkt. Im Anschluss an den Kulturtheoretiker Stefan Rieger ist diese Konnotation mit der Einsicht zu quittieren, dass das Prinzip der progressiven Steigerung die allumfassende Logik des Projekts der Moderne sei. Weil mit moderner Vergesellschaftung »alles anders, differenzierter und damit auch besser werden kann, soll sich nichts diesem universellen Anspruch entziehen können. Je mehr am Menschen unterschieden werden kann, je elementarreicher das Alphabet ist, aus dem er buchstabiert wird, desto höher ist die Zahl der Vergleichbarkeiten, Korrelationen und Berechenbarkeiten.« (Rieger 1999, S. 417)

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Die Verzeitlichung der Bildung

Mühelos kann der Begriff der Bildung in diese Beschreibungen integriert werden. Bildung steht als ein modernes Ideal repräsentativ für individuellen Fortschritt und geht einher mit einer Verbesserung des individuellen Selbst, die z.B. treffend von Werner Sesink als »asymptotische Annäherung an das Wünschbare, als Steigerung [!]« bestimmt wird (Sesink 2016, S. 223). Dort, wo Steigerungsbewegungen nicht möglich sind, bleiben Bildungsprozesse im Umkehrschluss unvorstellbar. Dieser Gedanke lässt sich bis in politisch gesteuerte Bemühungen zur Gestaltung von Bildungsprozessen nachverfolgen, wofür beispielsweise der Beitrag Was ist das Neue an ›digitaler Bildung‹? von Manuela Pietraß ein aktuelles Zeugnis ausstellt. Pietraß schätzt in diesem Beitrag das hochschuldidaktische Potenzial elektronischer Medien anhand des Strategiepapiers Bildungsoffensive für die digitale Wissensgesellschaft des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ein (vgl. BMBF 2016). Als ein zentrales Ergebnis dieser Einschätzung wird angeführt, dass die aufgeworfenen Perspektiven des BMBF »auf eine Steigerung bisheriger, tradierter Anwendungsformen« in Form der Ermöglichung flexibler Lernbewegungen und individuell angepasster Lernangebote zielen (Pietraß 2018b, S. 23). Diese pädagogischen Schlaglichter lassen sich nun zunächst im Rekurs auf Rosa in eine übergeordnete Logik einbetten, wonach also moderne Gesellschaften primär dadurch gekennzeichnet sind, dass sie ihre Sozialstruktur nur dynamisch zu stabilisieren vermögen, das heißt, dass sich ihr Status Quo ausschließlich »in und durch Bewegung« aufrechterhalten lässt, wobei ebendiese Bewegung in letzter Konsequenz »als eine Steigerungsbewegung bestimmt werden kann« (Rosa 2016, S. 673; Hervorh. im Orig.). Wenngleich sowohl die Rede von einer dynamischen Stabilisierung als auch die daran geknüpfte Zielvorstellung eines Status-Quo-Erhalts durch Steigerung paradox anmuten, bedient Rosa hier zunächst nichts Weiteres als eine Grundannahme soziologischer Theoriebildung. Demgemäß markierte bereits Auguste Comte in der 48. Lektion seiner positiven Philosophie (vgl. Comte 1830/1933, S. 83) die Ausgangsunterscheidung der Soziologie dahingehend, dass alle sozialen Phänomene – sei es eine flüchtige Kommunikation, die Familie oder konkrete Institutionen – sich nur dann aufrechterhalten können, wenn sie sich »zum einen auf der horizontalen Achse der Gleichzeitigkeit anderer Phänomene bewähren (›Statik‹) und zum anderen auf einer vertikalen Zeitachse mit ihrer eigenen Entwicklung Schritt halten […] (›Dynamik‹)« (Baecker 2016f, S. 278). Dieses Grundprinzip koppelt Rosa im Rahmen der Annahme einer dynamischen Stabilisierung moderner Gesellschaften durch Steigerung an das Zusammenspiel zwischen Wachstum, Innovation und Beschleunigung, was es

6 Zur Gesellschaftsdiagnose der Beschleunigung

im Folgenden zunächst in dreierlei Hinsicht aufzuarbeiten gilt (vgl. Rosa 2016, S. 673). Mit der Kopplung dynamischer Stabilisierungsbewegungen an Wachstum sind moderne Gesellschaften zum Ersten als kapitalistisch organisierte Gesellschaften gekennzeichnet, die sich aus Produktions- und Konsumtionsverhältnissen heraus strukturieren. Um die damit Hand in Hand gehenden Steigerungstendenzen einsehen zu können, weist Rosa die in Karl Marx’ Wirtschaftstheorie Das Kapital ausgearbeitete Akkumulationslogik ›G – W – G’‹ als »Grundformel« (Rosa 2013b, S. 400) ökonomischen Wachstums aus (vgl. darüber hinaus Rosa 2016, S. 679). Diese Formel fasst bekanntlich einen Zyklus zusammen, nach dem Geld (G) investiert werden muss, damit eine Ware (W) produziert und anschließend für mehr Geld (G’) verkauft werden kann. Geld ist in diesem Sinne »fortschreitender Wert, fortschreitendes Geld und als solches Kapital« – sein Wert »kommt aus der Zirkulation her, geht wieder in sie ein, erhält und vervielfältigt sich in ihr, kehrt vergrößert aus ihr zurück und beginnt denselben Kreislauf stets wieder von neuem« (Marx 1872/2009, S. 157). Um die weitreichenden Konsequenzen dieser simplen Formel einsehen zu können, ist ein Rechenbeispiel hilfreich, das sich in der Monographie Befreiung vom Überfluss des Volkwirts Niko Paech finden lässt. Paech geht in seinem Beispiel von einer alleinstehenden Ökonomie aus, die sich insgesamt aus einem Güterproduzenten, einer unbestimmten Anzahl von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sowie einigen Anbietern weiterer, zur Warenproduktion benötigter Inputfaktoren zusammensetzt. Seine Rechnung erstreckt sich dabei über insgesamt vier Wirtschaftsperioden, die im Folgenden kurz skizziert sein sollen (vgl. Paech 2012, S. 105-107): In der ersten Periode wendet der Güterproduzent einen Geldbetrag (G) von insgesamt 1.000 Euro auf: 750 Euro für Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerlöhne sowie 250 Euro für sonstige Anschaffungen, um eine Ware (W) zu produzieren. Der aus diesen Bemühungen angestrebte Wert (G’) soll in einer zweiten Periode 1.100 Euro betragen. Selbst unter der Annahme, dass das investierte Geld aus der ersten Periode vollständig als Kaufkraft zur Verfügung steht, entsteht bereits zu diesem frühen Zeitpunkt des Beispiels eine Differenz um 100 Euro. Nun ist es grundsätzlich möglich, dass die potenziellen Konsumenten das fehlende Geld aus späteren Lohneinnahmen (also: durch Sparen) aufbringen; die Differenz wird jedoch unvermeidlich potenziert, je mehr Produktionsphasen man in das Rechenbeispiel integriert. Auch auf Seiten des Güterproduzenten besteht die Möglichkeit, in einer weiteren Produktionsphase 1.100 Euro für sämtliche Investitionen

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aufzuwenden, was eine Erhöhung der Kaufkraft nach sich ziehen würde. Dies würde allerdings in einer dritten Produktionsperiode ebenso dazu führen, dass die abzusetzende Produktion und die Summe des gewünschten Gewinns erneut angehoben werden müssten. Geht man daher von einer angestrebten Summe von 1.200 Euro aus, so würde die Differenz nun bereits 200 Euro betragen. Obgleich sich für eine vierte Periode die Lösungsstrategie aus der zweiten Periode anbietet, wird deutlich, dass hier ein Kreislauf in Gang gesetzt wird, dem eine eskalierende Logik inhärent ist. Denn weil Kapitalakkumulation immer auf der Grundlage der vorangegangenen Wirtschaftsperiode erzielt werden muss, ergibt sich eine »exponentielle Produktionssteigerungssteigerungskurve«, womit ökonomisch angestrebtes Wachstum in einen »systemische[n] Zwang« (Rosa 2012, S. 99) umschlägt. Zwar steht außer Frage, dass Paechs Rechenbeispiel der Vielfalt und Komplexität kapitalistischer Produktionsprozesse nicht gerecht werden kann, weil es grundlegende Einflussfaktoren wie Konkurrenzbedingungen am Markt oder Konsumbefriedigungen nicht zu berücksichtigen weiß; ebenso lässt es außenvor, dass sich die systemischen Zwänge ökonomischen Wachstums dann noch einmal potenzieren, wenn Produktionskosten durch an Zinsen gebundene Kredite finanziert werden (vgl. Paech 2012, S. 107; Marx 1932, S. 131; Schumpeter 1928, S. 132). Nichtsdestotrotz reicht dieses Beispiel aus, um einsehen zu können, inwiefern moderne Gesellschaften als »Wachstumsgesellschaften« dazu gezwungen sind, ihr »Wirtschaftswachstum anzukurbeln« (Rosa 2012, S. 98; ohne Hervorh.). Sie unterliegen damit der Notwendigkeit, beständig mehr produzieren und konsumieren zu müssen. Bei Rosa heißt es: »Tatsächlich verhalten sich Erfolg, Stärke und Effizienz der Gegenwart sogar proportional zur Stärke des Steigerungszwangs in der Zukunft: Je stärker die Wirtschaft in diesem Jahr wächst, je innovativer wir sind und je schneller wir werden, umso schwerer wird es im nächsten Jahr, die diesjährigen Leistungen noch einmal zu übertreffen und dabei möglichst die Steigerungsraten zu halten. Hierin manifestiert sich auf besonders eindrucksvolle Weise die Irrationalität der ›blindlaufenden‹ modernen Eskalationslogik: Die Anstrengungen von heute bedeuten keine nachhaltige Erleichterung für morgen, sondern ein Erschwernis und eine Problemverschärfung.« (Rosa 2016, S. 678) Wie vor allem ökonomische Theorien lehren, stehen die hier beschriebenen Notwendigkeiten zum Zweiten in einem engen und unauflösbaren Verhältnis zur Entwicklung von Innovationen, was in einem weiten Sinne auf die Produktion neuer Güter, günstigere Produktionsweisen oder eine Veränderung

6 Zur Gesellschaftsdiagnose der Beschleunigung

der Angebotsvielfalt abzielt (vgl. Schumpeter 1928, S. 127). Ein wichtiges Detail für die inhaltlichen Schwerpunkte der vorliegenden Arbeit liegt diesbezüglich darin, dass die Entwicklung von Innovationen eng an den Begriff der Technik gebunden ist. Technische Innovationen müssen insofern stets in Relation zu ökonomischen Absichten gedacht werden. In diesem Rahmen findet sich beispielsweise bei Luhmann die Bemerkung, dass die quantitativ hohe Verbreitung verschiedener Techniken als Erklärung dafür herangezogen werden kann, warum »heute so viel von ›Innovation‹ geredet wird« (Luhmann 1998, S. 531). Dass damit die Steigerungszwänge des ökonomischen Wachstums noch einmal potenziert werden, lässt sich bereits innerhalb einer oberflächlichen Argumentationsführung auf den funktionalen Charakter von Technik zurückführen (vgl. Abschnitt 5.2.1), wonach jede in Einsatz gebrachte Technik immer auch unbekannte Probleme aufdeckt (oder mit Heidegger gesprochen: hervorbringt), die wiederum Lösungen notwendig werden lassen. Gerade funktionierende Techniken sind auf diese Weise immer auch zentrale Quellen für Ideen, »was und wie man es anders machen könnte« (ebd.). Die damit ersichtliche Korrespondenz zwischen (ökonomischem) Wachstum einerseits und (technischen) Innovationen andererseits evoziert schließlich zum Dritten Prozesse der Beschleunigung, die im Kontext stabilisierender Dynamisierungen moderner Gesellschaften gemäß Rosa eine »Mengensteigerung pro Zeiteinheit« nach sich ziehen (Rosa 2005, S. 115; 2016, S. 673). Dass Beschleunigungsprozesse in erster Linie den Steigerungszwängen der Kapitalakkumulation in Form einer »funktionale[n] Teleologie« (Han 2014b, S. 74) gerecht werden, ist wohl immer noch am einfachsten anhand Benjamin Franklins populärer Formel einzusehen, dass Zeit nun einmal Geld und damit eine knappe Ressource sei (vgl. Nowotny 1993, S. 74; Rosa 2012, S. 99). Unter dieser Prämisse reüssieren letztlich diejenigen Akteure, die schneller als ihre Konkurrenz produzieren und verkaufen können (vgl. Rosa 2012, S. 100; darüber hinaus Heintel 2007, S. 12). Technische Innovationen – genannt werden können hier vor allem die Spinning Jenny, die Dampfmaschine oder das Fließband – bedienen diese Logik par excellence, indem sie eine gezielte Arbeitsteilung und beschleunigte Produktionsprozesse garantieren (vgl. Nowotny 1995, S. 94). In einem engen Zusammenhang steht dies schließlich auch zu der Etablierung eines für moderne Gesellschaften typischen geschichtlichen Zeitprinzips (vgl. Abschnitte 4.1.3, 4.1.4 und 4.3), das seine Plausibilität aus langfristigen und zukunftsorientierten Planungen gewinnt (vgl. Fuchs 2018, S. 60).

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Für die Fragestellungen der vorliegenden Arbeit lassen sich die hier angeführten Aspekte insofern noch einmal auf den Punkt bringen, als eine Gesellschaft im Sinne Rosas dann als modern zu kennzeichnen ist, wenn sie sich ausschließlich dynamisch zu stabilisieren vermag. Das bedeutet, dass zur strukturellen Aufrechterhaltung ihres Status Quo drei Aspekte notwendig sind: ökonomisches Wachstum, technische Innovationen und zeitliche Beschleunigung. Das Zusammenspiel zwischen Innovationen und Beschleunigung erscheint vor diesem Hintergrund als die zentrale strukturbildende Kraft einer kapitalistisch organisierten Gesellschaftsordnung, was sich zwangsläufig auch in den bereits skizzierten technisch bedingten Möglichkeitsräumen des Medialen manifestiert (vgl. Abschnitt 5.2). Als ein Grundzug dieser Manifestation lässt sich entlang der Beschleunigungstheorie Rosas ein veränderter Umgang mit Zeit ausmachen, wie es im Weiteren analytisch auszuarbeiten gilt.

6.2

Das analytische Grundgerüst der Beschleunigungstheorie Rosas: Von der technischen Beschleunigung zur Beschleunigung des individuellen Lebenstempos und zurück

Wie bereits erwähnt wurde, schlägt sich das Phänomen der Beschleunigung in drei unterschiedlichen Formen nieder, die sich überdies analytisch innerhalb einer sachlich, sozial und zeitlich strukturierten Beziehung zwischen Subjekt und Welt verorten lassen (vgl. Rosa 2005, S. 125-135; 2013c, S. 190f.): die technische Beschleunigung innerhalb der Beziehung des Subjekts zu den Sachen und Dingen in der Welt (Sachdimension), die Beschleunigung des sozialen Wandels innerhalb der Beziehung des Subjekts zu anderen Subjekten in Gemeinschaft und Gesellschaft (Sozialdimension) sowie die Beschleunigung des subjektiven Lebenstempos innerhalb der Beziehung des Subjekts zu sich selbst und der Welt in der Zeit (Zeitdimension). Diese Formen gilt es im Folgenden zunächst in ihren wesentlichen Eigenschaften und Wirkungsmustern zu erfassen. Erstens definiert Rosa die technische Beschleunigung als »die intentionale Steigerung der Geschwindigkeit zielgerichteter Prozesse«; sie referiert daher auf eine »technische und technologische (also maschinelle) Erhöhung des Tempos« (Rosa 2013c, S. 190) der Produktion und Distribution von Waren und Informationen. Technische Beschleunigung betrifft insofern sowohl Phänomene der Warenproduktion, Kommunikation als auch des Transports. Sie gilt als »offensichtlichste und folgenreichste« (Rosa 2005, S. 124)

6 Zur Gesellschaftsdiagnose der Beschleunigung

Form der Beschleunigung, die bis heute ihre beiden Höhepunkte in der industriellen und digitalen Revolution findet (vgl. Rosa 2012, S. 100; 2013c, S. 190). Ihre kraftvollste Konsequenz ist die qualitative Veränderung der subjektiven Wahrnehmung von Raum und Zeit, die als Raumschrumpfung bei gleichzeitigem Zeitgewinn zu präzisieren ist (vgl. Rosa 2005, S. 125). Die Implikation dieser Veränderung ist ein emanzipatorisches Potenzial von Transport- und Kommunikationstechniken hinsichtlich der Überwindung räumlicher Distanzen (vgl. Bauman 2003, S. 134f.; Virilio 1980, S. 177). Damit greift die Logik der Beschleunigung als Mengensteigerung pro Zeiteinheit (vgl. Abschnitt 6.1) in einer denkbar schlichten Weise: mehr Raum wird in weniger Zeit verfügbar gemacht. Technische Beschleunigung bedeutet folglich zuvorderst »Eroberung des Raums« (Bauman 2003, S. 135) und »Reichweitenvergrößerung« (Rosa 2018, S. 14). Empirische Evidenzen dafür liefern zum einen veränderte Transportgeschwindigkeiten, die beispielsweise durch Fahrrad, Auto, Eisenbahn oder Flugzeug gewährleistet sind (vgl. Rosa 2013d, S. 21). Zum anderen kulminieren die Möglichkeiten technischer Raumeroberung gegenwärtig im Kommunikativen, das heißt konkret, innerhalb digitaler Vernetzungsstrukturen.2 Zygmunt Bauman bemerkt in diesem Zusammenhang treffend, dass sich im »Softwareuniversum auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigter Daten […] jeder Raum im wahrsten Sinne des Wortes ›ohne Zeitverlust‹ überwinden« lässt (Bauman 2003, S. 140). Während die Welt für eine Vielzahl von Menschen durch gestiegenen Wohlstand und vielfältigere Transportmöglichkeiten in »touristische Reichweite« rücken konnte, räumen digitale Medien also zudem »eine kommunikative Reichweite« ein (Rosa 2016, S. 521). Gemäß Virilio wird die Welt so gerade im Kontext des Medialen »zu einer mittelbaren Stadt (cité médiate)« (Virilio 1993, S. 41). Digitale Medien sind in diesem Sinne Präsenz-Medien (vgl. Han 2014a, S. 26), indem sie starre Raum-Zeitverhältnisse der Subjekte in eine »ortlose Dauergegenwart« (Stalder 2016, S. 147) auflösen. In der aktuellen geisteswissenschaftlichen Literatur finden sich die Konsequenzen der hier beschriebenen Entwicklungen maßgeblich im Hinblick

2

Mit Verweis auf Paul Virilio steht zu vermuten, dass gestiegene Transport- und Kommunikationsgeschwindigkeiten in einem Kausalzusammenhang stehen, denn die Entdeckung einer großen Möglichkeit der Nachrichtenübertragung lässt sich historisch betrachtet stets in Relation zu einem innovativen Verkehrsmittel setzen: Pferd mit Brieftaube, Bahn mit Telegraf, Überschallflugzeug mit synchroner Kommunikation in Echtzeit (vgl. Virilio 1993, S. 22).

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auf veränderte Kommunikationsmuster verhandelt, wie anhand einiger Beispiele verdeutlicht werden kann: So sprechen Karl Heinz Hörning, Daniela Ahrens und Anette Gerhard in einer empirisch ausgerichteten Studie über subjektive Zeitpraktiken von einer »›entfesselten‹ Kommunikation« (Hörning/Ahrens/Gerhard 1997, S. 47; Hervorh. C.L.), die mit »jeder Entwicklung und Etablierung einer neuen Technik bzw. eines neuen Mediums« (ebd., S. 37) potenziert wird.3 Im Zuge der kommunikationswissenschaftlich angetriebenen Debatte um Mediatisierung (vgl. Abschnitt 5.2) ist diese Einsicht um den Begriff der kommunikativen Dauervernetzung zu ergänzen, der gemäß Thomas Steinmaurer auf »eine ubiquitär und zeitlich tendenziell unbegrenzte Verfügbarkeit mobiler Technologien« verweist (Steinmaurer 2013, S. 4). Auf die damit einhergehende Überformung subjektiver Wahrnehmungen hat unter anderem Paul Virilio aufmerksam gemacht, der von »Nanochronologien der unendlich kurzen Zeitspannen« spricht, die zunehmend »den Platz der klassischen Chronologien der Vergangenheit, der mittleren und langen Zeitspannen wie Tage, Jahre oder Jahrhunderte« einnehmen (Virilio 2015, S. 16; Hervorh. C.L.). Aus medienpädagogischer Perspektive ist diese Beobachtung mit Benjamin Jörissen um ein Erkennen von Polychronien zu flankieren, die auf »temporale Aspekte digitaler Medialität« aufmerksam machen und sich im Kontext medialer Kommunikation durch gestiegene Möglichkeiten des abrupten Abbruchs, der Wiederaufnahme, der Streckung oder der Wiederholung rezipierter Inhalte konstituieren (Jörissen 2014, S. 509). Und nicht zuletzt bezeichnet auch Rosa den hier angedeuteten Verlust unilinearer Zeitstrukturen innerhalb der subjektiven Wahrnehmung im Anschluss an Reinhart Koselleck als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, womit eine progressive Auflösung des »Zusammenhangs von Sequenzen und Chronologien« betont ist (Rosa 2005, S. 168). So variabel die hier angeführten Bezeichnungen auch sind, gemeinsam ist ihnen eine Sache: eine priorisierte Beschreibung des subjektiven Zeiterlebens, die vor allen Dingen darauf aufmerksam macht, dass technische Raumeroberung einen Bedeutungsverlust der Raumerfahrung nach sich zieht. Präziser lässt sich dieser Verlust als Nivellierung des Unterschiedes zwischen Nähe

3

Empirisch eindrucksvoll lassen sich in diesem Rahmen auch die Berechnungen des Wirtschaftspädagogen Karlheinz Geißler lesen, wonach die Kommunikationsgeschwindigkeit im 20. Jahrhundert um den Faktor 107 gestiegen sei (Geißler 1999. In: Rosa 2005, S. 125).

6 Zur Gesellschaftsdiagnose der Beschleunigung

und Ferne beschreiben (vgl. Bauman 2003, S. 140; Rosa 2005, S. 126). Eine einleuchtende Exemplifizierung dafür ist das Fliegen, bei dem der Raum in Relation zur Flugzeit zu einer »abstrakte[n], leere[n] Distanz« verkommt (Rosa 2005, S. 165). Wer fliegt, interessiert sich zumeist wenig für die zurückgelegte Strecke; vielmehr ist die benötigte Zeit von Interesse. Gerade am Beispiel des Fliegens, so bringt es Virilio auf den Punkt, lässt sich demnach erkennen, inwiefern Möglichkeiten technischer Beschleunigung den »Trajekt, die zurückgelegte Strecke«, innerhalb der Beziehung zwischen Subjekt und Welt immer bedeutungsloser werden lassen (Virilio 1993, S. 40). Während diese Bedeutungslosigkeit sich beim Fliegen (und generell bei Transportmitteln) primär auf physische Strukturen bezieht, so wird sie im Zuge der durch Nutzung digitaler Medien generierten Vernetzungsstrukturen auch auf das Soziale übertragen. Rosa verweist in diesem Zusammenhang auf den von Anthony Giddens geprägten Terminus der Entbettung (vgl. Rosa 2013, S. 305), der ein »›Herausheben‹ sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen und ihre unbegrenzte Raum-Zeit übergreifende Umstrukturierung« (Giddens 1996, S. 33) akzentuiert. Entbettung heißt folglich Auflösung der Abhängigkeit von Sozialität zu räumlicher Präsenz. Eine ähnliche Beobachtung findet sich z.B. in der Kommunikationswissenschaft mit dem Begriff der (medialen) Entgrenzung formuliert. Verwiesen ist damit auf die Entwicklung, dass Kommunikationsmedien im sozialen Handeln immer weniger an bestimmte Praktiken, Orte oder Normen gebunden sind und in der Folge immer flexibler zum Einsatz kommen können (vgl. Krotz 2007, S. 94f.). Das wohl beste Beispiel dafür ist das Telefon, das vor gar nicht allzu langer Zeit ein technisches Gerät war, mit dem ausschließlich von zuhause und wohl zumeist privat kommuniziert wurde. Sensibilisiert ist insofern vor allem für die enge Verschränkung zwischen den Tendenzen technischer Beschleunigung und einer Umstrukturierung bzw. Umorganisation sozialer Prozesse. Darauf Bezug nehmend verweist zweitens die Beschleunigung des sozialen Wandels auf jenes Tempo, mit dem sich gesellschaftliche »Praxisformen und Handlungsorientierungen einerseits und Assoziationsstrukturen andererseits verändern« (Rosa 2013c, S. 191). Das zentrale Postulat dieser Beschleunigungsform lautet daher, dass gesellschaftliche Entwicklungen immer häufiger Modifikationen unterliegen, dass sich also »Veränderungsraten selbst verändern, das heißt beschleunigen« (ebd.; ohne Hervorh.). Angenommene Sicherheit verkehrt auf diese Weise in immer wiederkehrende Unsicherheit. Empirische Evidenzen für einen beschleunigten sozialen Wandel sind unter anderem wechselnde Mode- und Lebensstile, Verände-

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rungen von Bräuchen, Traditionen, Wissensbeständen oder Werten, aber auch wechselnde Wohnorte, sprunghafte oder fragmentarische Verläufe in Erwerbsbiographien, steigende Scheidungszahlen oder eine zunehmend geforderte Flexibilität bei der Ausübung von Erwerbstätigkeiten (vgl. Rosa 2013d, S. 22-24). Es handelt sich hier um Beispiele, die den oben dargelegten Sachverhalt, dass die poietische Kraft der Technik kontingente Strukturen schafft (vgl. Abschnitte 5.2.1, 5.2.3 und 5.3), in besonderer Weise veranschaulichen. Ihre empirische Letztbegründung findet diese Veranschaulichung in der Erkenntnis, dass mit der technischen Entwicklung neuer Transportund Kommunikationsmöglichkeiten stets auch »gänzlich neue Berufs- und Beziehungs-, Siedlungs- und Bewegungs-, Assoziations- und Kommunikationsmuster sowie neue Alltags- und Freizeitpraktiken« (Rosa 2013c, S. 201) entstanden sind. Als zentrale Folge der Beschleunigung des sozialen Wandels benennt Rosa im Anschluss an Luhmann und den Philosophen Herrmann Lübbe das Phänomen der progressiven Gegenwartsschrumpfung (vgl. Rosa 2005, S. 131; 2013c, S. 191ff). Der Begriff thematisiert »ein wachsendes Auseinanderfallen von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont« (Rosa 2005, S. 248), das eine zunehmende Instabilität konstanter, verlässlich wirkender, ja, erwartungssicherer Zeitabstände betont. Unter der Annahme eines beschleunigten sozialen Wandels wird es demzufolge immer wahrscheinlicher, dass das, was heute noch gelten mag, vielleicht nicht morgen, aber doch in absehbarer Zeit und erst recht für nachfolgende Generationen keine Gültigkeit mehr haben wird. Die Zeitrhythmen des Anpassens, Umstellens und Umlernens werden kürzer und kürzer (vgl. Koselleck 2003, S. 164). Ebenso wird Tradiertes und Bewährtes immer brüchiger, womit auch internalisierte Handlungsstrukturen und situative Festlegungen ihre sicherheitsschaffende Kontinuität in immer schnelleren Abständen einbüßen (vgl. Lübbe 1997, S. 132; Rosa 2005, S. 249). Bemerkenswerterweise führt Luhmann diese Tendenzen auf die mit dem Übergang zur Moderne eintretende Priorisierung der Zukunft vor der Vergangenheit zurück (vgl. Abschnitt 2.2). Da zukünftig Neues »nicht in die Gegenwart eintreten kann, ohne diesen ihren Charakter zu verlieren, und erst recht: da Neuheit nicht erinnert, sondern allenfalls als Merkmal einer vergangenen Zukunft rekonstruiert werden kann, verliert die Zeit sich ständig in sich selbst« und wird in der Folge »instabil« (Luhmann 1998, S. 1005f.). Diese Perspektive verdeutlicht, dass im Zuge einer Beschleunigung des sozialen Wandels vor allem diejenigen, die ihr Leben planen möchten, immer stärker vor »Synchronisationsprobleme« (Luhmann 2009, S. 219)

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gestellt sind und folglich mit Unsicherheit konfrontiert werden. Luhmann fasst diese Schlussfolgerung dahingehend zusammen, dass das Verdikt einer schrumpfenden Gegenwart in einer durch die Zukunft eingeführten, immer schwieriger handhabbaren »Varietät« liegt (Luhmann 1998, S. 1006). Dieser Gedanke findet sich in der Beschleunigungstheorie insofern aufgegriffen, als dass Rosa die Varietät moderner Gesellschaften als »verschiedene Wert-, Funktions- und Handlungsbereiche« (Rosa 2013c, S. 193) ausdifferenziert, um im Anschluss an Lübbe die Idee der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen stark zu machen, die auf die gestiegene Wahrscheinlichkeit verweist, dass Dinge und Sachverhalte in einem bestimmten geographischen oder sozialen Raum noch von Gültigkeit sind, aber woanders schon überholt sein könnten (vgl. Rosa 2005, S. 187; 2013, S. 193). Es handelt sich hierbei um eine Tendenz, die im Anschluss an Koselleck auch als »Neuzeit im emphatischen Sinne« (Koselleck 2003, S. 165) verstanden werden kann. Die bislang angeführten Aspekte sind zunächst wie folgt zusammenzufassen: Formen der technischen Beschleunigung verweisen auf eine Beschleunigung von Prozessen in der Gesellschaft, während Formen der sozialen Beschleunigung auf eine Beschleunigung der Gesellschaft selbst aufmerksam machen (vgl. Rosa 2013c, S. 194). Die Reichweite dieser Tendenzen zieht zwangsläufig Auswirkungen auf die Lebensführung der Subjekte nach sich, die schließlich drittens eine Beschleunigung des subjektiven Lebenstempos bedingen. Ganz grundsätzlich verweist diese Form der Beschleunigung auf eine »Steigerung der Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit infolge einer Verknappung von Zeitressourcen« (ebd.; ohne Hervorh.). Entlang der oben bereits eingeführten, übergreifenden Definition von Beschleunigung als Mengensteigerung pro Zeiteinheit führt dies auf den Umstand zurück, dass zeitersparenden Maßnahmen immer korrespondierende Prozesse der quantitativen Steigerung gegenüberstehen, die es wiederum zu bewältigen gilt (vgl. Rosa 2005, S. 463; 2013c, S. 195). Rosas polemisches, aber durchaus einprägsames Beispiel dafür liegt im Vergleich zwischen E-Mails und Briefen: »Zeit wird beispielsweise knapp, wenn die Menge der zurückzulegenden Wegstrecken, der zu produzierenden Güter oder der zu tätigenden Kommunikation um das Dreifache steigt, während sich die ›Erledigungsgeschwindigkeit‹ nur verdoppelt. Wer also heute beispielsweise viermal so viele E-Mail-Nachrichten schreibt, wie er zuvor Briefe geschrieben hat, obwohl ihn eine solche Nachricht halb so viel Zeit kostet wie ein herkömmlicher Brief, verbraucht doppelt so viel Zeit für die tägliche Korrespondenz

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wie vor der Etablierung des E-Mail-Systems und darf sich nicht wundern, wenn ihm die Zeit für andere Dinge knapp wird.« (Rosa 2013c, S. 195) Als naheliegende Problemlösungsstrategien der hier beschriebenen Entwicklung werden in der Literatur z.B. erhöhte Handlungsgeschwindigkeiten (vgl. ebd., S. 235), das Streben nach mehr Effizienz (vgl. Roth-Ebner 2015, S. 310313) oder die Praxis des Multitaskings als Vergleichzeitigung von Tätigkeiten (vgl. z.B. Rosa 2005, S. 114; Schmidt-Lauff 2008, S. 193; Neverla 2010, S. 142) angeführt. Damit ist auf der Ebene des handelnden Subjekts jener Aspekt ausdifferenziert, den Luhmann auf systemischer Ebene als Temporalisierung von Komplexität bezeichnet (vgl. Abschnitt 5.2.3). Gerade das Beispiel der E-Mails illustriert dabei eindrücklich, inwiefern Kontingenz (E-Mails, die zu beantworten sind) sowohl einen selektiven Handlungsbedarf (Antworten und NichtAntworten) als auch ein Risiko weiterer Handlungen (neue E-Mails in Form von Antworten auf die eigenen Antworten, zusätzliche Arbeiten, die mit der Antwort einhergehen, usw.) erzeugt. Das lässt sich beliebig ausdifferenzieren, womit gilt: je höher die Kontingenz (berufliche E-Mails, Projektmeetings, die Steuererklärung usw.), desto höher der Handlungsbedarf. Und im Umkehrschluss auf diesen Sachverhalt folgt: »Nichthandlung ist verlorene Zeit, ein bloßes Dauern der realitätslosen Gegenwart.« (Luhmann 1980, S. 280) Rosa schreibt dieser Entwicklung letztlich zwei Konsequenzen für das Subjekt zu: Zum Ersten spricht er von zunehmenden Kurz-Kurz-Mustern der subjektiven Zeitwahrnehmung, die bedingen, dass Erlebnisse immer weniger mit der eigenen Biographie verschmelzen (vgl. Rosa 2013c, S. 235) bzw. mit Bergson formuliert (vgl. Abschnitt 4.1.3) immer weniger zu empfundenen Dauern sukzedieren. So vergeht die Zeit gerade während kurzweiliger und oftmals als stressig empfundener Aktivitäten für gewöhnlich »sehr rasch, doch zugleich scheint sie im Rückblick zu ›schrumpfen‹, weil sie kaum Erinnerungsspuren hinterlässt«, geschweige denn eine Entwicklungslogik generiert (Rosa 2005, S. 470). Byung-Chul Han spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Dyschronie der Subjekte, die auf eine temporale »Zerstreuung« hinweist: »Nichts verhält die Zeit. Das Leben wird nicht mehr eingebettet in die Ordnungsgebilde oder Koordinaten, die eine Dauer stiften.« (Han 2014b, S. 7; ohne Hervorh.) In damit beschriebenen Tendenzen eines zunehmenden Bedeutungsverlusts zeitlicher Strukturen erkennt Rosa zum Zweiten die konstitutive Bedingung einer Grundangst der Subjekte, die sich emphatisch in dem Gefühl niederschlägt, »in allen Daseinsbereichen gleichsam auf rutschigen Abhängen, auf ›slipping slopes‹ zu stehen, d.h. in einer Welt wachsender Kon-

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tingenzen unwiderruflich ›abgehängt‹ zu werden, entscheidende Optionen und Anschlusschancen zu verlieren oder in unaufholbaren Rückstand zu geraten« (Rosa 2005, S. 284f.; Hervorh. C.L.). Rosa beschreibt damit ein Gefühl, das im Grunde genommen permanente Anstrengungen legitimieren lässt, nur um Anschlussmöglichkeiten zu eröffnen.4 Angesichts dieser Situation liegt daher eine entscheidende Einsicht der Beschleunigungstheorie darin begründet, dass sich Formen der Beschleunigung dort als probates Mittel erweisen, wo es Subjekten schwer fällt, stehen zu bleiben, langsamer zu werden oder wo sie glauben, Rückstände aufholen zu müssen (vgl. Avanessian 2017, S. 29). Gerade ein beschleunigtes Dasein, so lässt sich mit Martin Heidegger (vgl. Abschnitt 4.1.4) formulieren, erweist sich somit als plausible Reaktion auf ein kontingentes, aber eben zeitproblematisches In-der-Welt-sein. Hier schließt sich der Kreis zu einem Bedarf an technischer Beschleunigung, die ein beschleunigtes Dasein in Aussicht stellt. Die daraus resultierende Essenz ist paradox: Auf die Probleme der Beschleunigung reagiert man mit Beschleunigung (vgl. Rosa 2005, S. 251). Konstruiert ist damit ein analytisches Gerüst, das erklären lässt, wie die ökonomisch bedingten Steigerungszwänge moderner Gesellschaften (vgl. Abschnitt 6.1) sich im Handeln der Subjekte manifestieren. Offenkundig ist damit eine Betrachtung formuliert, die die Handlungsfreiheit der Subjekte grundsätzlich herauszufordern scheint. Dies gilt es nun mit explizitem Bezug auf den Bildungsbegriff zu vertiefen.5

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Die Folgen dieser Entwicklungen sind dabei vor allem bereits durch die philosophische Literatur plausibilisiert, wie sich exemplarisch anhand der Gegenüberstellung von Disziplinargesellschaft und Kontrollgesellschaft andeuten lässt. Diesbezüglich schreibt z.B. Gilles Deleuze: »In den Disziplinargesellschaften hörte man nie auf anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgend etwas fertig wird: Unternehmen, Weiterbildung, Dienstleistung sind metastabile und koexistierende Zustände ein und derselben Modulation, die einem universellen Verzerrer gleicht.« (Deleuze 1990, S. 348) Thematisch eingegrenzte Fassungen der im folgenden Abschnitt formulierten Überlegungen liegen mittlerweile auch in Bezug auf den Begriff der digitalen Bildung (vgl. Leineweber 2020a) und im Rahmen einer pädagogisch-anthropologischen Deutung der Sorge (vgl. Leineweber 2020b) vor.

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6.3

Beschleunigung in bildungstheoretischer Perspektive

Stets implizit, aber bemerkenswerterweise oftmals in Bezug auf den Bildungsbegriff finden sich Reflexionen zur Gesellschaftsdiagnose der Beschleunigung bereits in der pädagogischen Theoriebildung wieder. Exemplarisch gilt es dies zunächst anhand einer Gegenüberstellung von insgesamt vier Ansätzen zu verdeutlichen: Erstens setzt sich Sabine Schmidt-Lauff in der bereits im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit zur Sprache gekommenen Monographie Zeit für Bildung im Erwachsenenalter mit dem Phänomen der Beschleunigung innerhalb einer erwachsenenpädagogischen Perspektive auseinander. Diese Auseinandersetzung fußt auf einem Begriff von Bildung, der sich maßgeblich vor dem Hintergrund beruflicher Flexibilisierung, Entgrenzung, aber auch zunehmender Zeitnot durch möglichst effiziente Lernbewegungen der Subjekte zu behaupten hat (vgl. Schmidt-Lauff 2008, S. 181ff). Bildung fungiert in diesem Sinne als positiver Output im Kontext formeller und informeller Weiterbildungsmaßnahmen und ist damit zuvorderst als Humankapital gedeutet. Unter diesen Bedingungen legt Schmidt-Lauff Formen der Beschleunigung als »[a]ktuelle Zeittendenzen einer allgemeinen Zeitverwendung« (ebd., S. 181) aus, die, so heißt es im Detail, im Rahmen einer erwachsenenpädagogischen »Auseinandersetzung mit Zeit« keine zentrale Rolle einnehmen können, weil sie sich auf »einzelne temporale Aspekte« (ebd., S. 447) beschränken. Einerseits ist damit auf das Potenzial technischer Innovationen bzw. digitaler Medien hinsichtlich der Ermöglichung von Lernprozessen angespielt, das im Kontext der Beschleunigung z.B. in der Bereitstellung mobil nutzbarer, räumlich und zeitlich entgrenzter Lerninhalte auszumachen ist (vgl. de Witt 2013, S. 13). Andererseits, so ließe sich monieren, weiß Schmidt-Lauffs Perspektive allerdings nicht die Tragweite zu berücksichtigen, die gerade die Beschleunigungstheorie Rosas für sich in Anspruch nimmt, denn sowohl der von Rosa postulierte Einfluss der Beschleunigung auf Bedingungen des individuellen und kollektiven Lebens als auch dadurch vermutete totalitäre Auswirkungen auf die Handlungen der Subjekte lassen es schwerfallen, Beschleunigung als einen alleinstehenden Aspekt oder eine frei vom Subjekt wählbare Zeittendenz zu verhandeln (vgl. Abschnitt 6.2; darüber hinaus Rosa 2013c, S. 284). Dieser theoretische Anspruch spielt jedoch bis zuletzt in Schmidt-Lauffs Überlegungen keine Rolle, selbst dort, wo sie auf einen Bildungsbegriff referiert, der über ein Output-orientiertes Lernen hinausgeht. Als exemplarischer Beleg dafür

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dient der Beitrag Time as a Reflective Moment of Bildung and Transformative Learning, in dem es im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Schnelligkeit (Beschleunigung) und Langsamkeit (Entschleunigung) heißt:6 »This time related component of both the slow and sudden processual quality of learning needs to be taken into appropriate account. Studies have shown that learning, especially adult learning, should be characterized by windows of time (Zeitfenster) explicitly devoted to learning (Schmidt-Lauff, 2008; Alhadeff-Jones et al., 2011). Time for processes in which intended learning can take place should not continue to be further dispersed between work and life, but should exist as an essentially unburdened, exclusive window of time. This puts the emphasis on learning in a specific form; it gives learning a meaning of its own (i.e., it does not focus exclusively on outcomes); and it does not reduce the moments of receiving, processing, and reflecting knowledge to short-term instances of updating information.« (Schmidt-Lauff 2017, S. 115) In Ergänzung dazu wird zweitens in der ebenfalls bereits erwähnten Abhandlung Die Abschaffung der Zeit indirekt auf die totalitären Tendenzen der Beschleunigung verwiesen, indem Andreas Dörpinghaus und Ina-Katharina Uphoff zunächst von der These aus argumentieren, dass Beschleunigungsprozesse primär im Dienste einer Fortschrittslogik stehen (vgl. Dörpinghaus/Uphoff 2012b, S. 73). »Die Lebenszeit dient dem Fortschritt: Der Mensch hat es gewissermaßen in der Hand, ob er schneller zu erreichen ist – und das spornt an.« (Ebd. S. 68) Die Autoren setzen diese These in letzter Konsequenz in ein antagonistisches Verhältnis zu ihrem Verständnis von Bildung (vgl. Abschnitt 3.2), das auf der Vorstellung einer zeitlosen menschlichen »Bedürfnisbefriedigung« (ebd., S. 108) aufbaut und in diesem Sinne vor allem sinnstiftende Zeit und Ruhe beansprucht. Zeit wird dadurch als eine Art unsichtbares Band innerhalb der Beziehung zwischen Subjekt und Welt gedeutet, wodurch eine fortschrittsorientierte Beschleunigung zeitlicher Strukturen gemäß Dörpinghaus und Uphoff letztlich mit einer »Abschaffung der Schwäche und Leidenschaft« des Menschen einhergeht, »eine Schwäche und Leidenschaft zum Leben und zur Welt, die wir seit jeher Bildung nennen« (ebd., S. 9; ohne Hervorh.).

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Zur expliziten Unterscheidung von Beschleunigung und Langsamkeit vgl. Abschnitt 7.2.

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Bildungstheoretisch belastbarere Formulierungen finden sich drittens in Hans-Christoph Kollers Beitrag Zur Zeitstruktur biographischer Bildungsprozesse. Koller legt darin subjektive Zeitpraktiken und Zeitwahrnehmungen als konstitutive Elemente transformatorischer Bildungsprozesse aus, die durch Tendenzen der Beschleunigung auf den Prüfstand gestellt werden. Seine leitende These lautet, dass Subjekte »durch Veränderungen des kollektiven Zeitbewusstseins und kollektiver Zeitpraktiken in ihrem Welt- und Selbstverhältnis nachhaltig in Frage gestellt und somit veranlasst [seien, C.L.], die Grundfiguren ihres Welt- und Selbstbezugs zu transformieren« (Koller 2009b, S. 188). Unter solchen Bedingungen führen gerade beschleunigte Strukturen dazu, dass Subjekte sich in immer kürzeren Zeitabständen mit einer Infragestellung ihrer Welt- und Selbstverhältnisse konfrontiert sehen, zu deren Bewältigung jedoch gleichsam immer weniger Zeit zur Verfügung steht (vgl. ebd., S. 188ff). Beschleunigung bedeutet demzufolge Orientierungsverlust, stellt transformatorische Bildungsprozesse unter Verantwortung und geht schließlich auch mit Unklarheiten darüber einher, inwiefern Bildung in pädagogischer Absicht zukünftig noch nachhaltig zu ermöglichen ist. Nicht zuletzt wirft Horst Niesyto viertens in dem Beitrag Bildungsprozesse unter den Bedingungen medialer Beschleunigung einen medienpädagogischen Blick auf die Diagnose der Beschleunigung. Niesyto geht dabei von einem Begriff von Bildung als subjektive Reflexions- und Kritikfähigkeit aus, dessen Grundvoraussetzung er in der Verfügung von »Zeit für Kommunikation, für Reflexion, für Distanzerfahrungen, auch Zeit für den Aufbau und die Entwicklung von Beziehungen« sieht (Niesyto 2012, S. 49). Darauf basierend wird argumentiert, dass Möglichkeiten der Zeitverfügung gerade im Kontext technischer Beschleunigungen zunehmend unterlaufen werden: wachsende digitale Speicher, die Ansammlung von Daten oder die steigende Quantität netzbasierter Kommunikation seien zwar Ausdruck gestiegener Handlungsmöglichkeiten, erweisen sich gleichsam jedoch als problematisch, weil sie zunehmend Freiräume zur Reflexion, Distanz oder gar Muße begrenzen können (vgl. ebd., S. 55ff). Niesyto fordert daher einen kompetenten Umgang mit Zeit als zentrale Zielsetzung (medien-)pädagogischen Handelns, dessen Kern nicht nur in der »Vermittlung eines festen Kanons von Verfügungswissen«, sondern in der Befähigung liegen muss, »situativ und zielgruppenspezifisch […] Arrangements entwickeln und zwischen unterschiedlichen Medienkulturen vermitteln zu können« (ebd., S. 62; ohne Hervorh.). Diese vier skizzierten Positionen verweisen auf ein sowohl pädagogisches, bildungstheoretisches als auch medienpädagogisches Interesse an

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dem Phänomen der Beschleunigung. In diesem Sinne dienen sie der Vorwegorientierung für den nachstehenden Versuch, eine bildungstheoretisch anschlussfähige und gleichsam detaillierte Interpretation der rosaschen Beschleunigungsdiagnose auszuarbeiten, deren Fokus im Allgemeinen auf der Beziehung zwischen Subjekt und Welt liegt (vgl. Kapitel 2) und dabei im Besonderen auf die beiden dargelegten Prämissen der Zukunftsoffenheit moderner Subjekte (vgl. Kapitel 4) sowie des Risikocharakters kontingenter Möglichkeitsräume im Technisch-Medialen (vgl. Kapitel 5) zurückgreift. Insofern stehen zunächst die konstitutiven Voraussetzungen von Bildung in beschleunigten Zeitstrukturen im Fokus. Die leitende These dabei lautet, dass eine durch zunehmende Kontingenz geprägte Zukunft der Subjekte innerhalb beschleunigter Zeitstrukturen verstärkt als Krise in die Gegenwart tritt, auf diese Weise die Beziehung zwischen Subjekt und Welt beeinflusst und damit womöglich die Fähigkeit selbstbestimmten Handelns herausfordert. Implizit ist dieser These, dass ein im Zuge der Moderne positiv konnotierter Zukunftsbegriff (vgl. Abschnitte 2.2 und 4.1.3) zu einem Negativum gewendet wird. Galt die Sorge um Zukunft insbesondere im Anschluss an Heidegger als ein Grundzug menschlichen Daseins (vgl. Abschnitt 4.1.4), so scheint dieser Grundzug im Kontext beschleunigter Strukturen immer weniger eine Gabe, sondern immer mehr eine Bürde darzustellen. Folgt man dem Philosophen Armen Avanessian, dann gilt der Mensch als ein Geschichten erzählendes Wesen (›homo narrans‹), das dazu neigt, Prozesse und Entwicklungen von ihrem Ende her zu denken (Avanessian 2018a, S. 33). »Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, denn nur wenn das Ende gut ist, ist alles gut.« (Ebd.; ohne Hervorh.) Eine solche Neigung ist grundsätzlich durch die Beschleunigungstheorie Rosas in Frage gestellt, verweist diese doch in ihrem Kern auf soziale Veränderungen, die konkrete Festlegungen sukzessive erschweren. Das Phänomen der ›progressiven Gegenwartsschrumpfung‹ und das ›Slipping-Slopes-Syndrom‹ (vgl. Abschnitt 6.2) lassen sich in diesem Sinne auch als Hinweise dafür betrachten, dass sich im Kontext der Beschleunigung nicht nur die Zeitstrukturen der Gesellschaft wandeln, sondern sich ebenso das Verhältnis zwischen Subjekt und Zukunft verändert. In beschleunigten Zeitstrukturen kommen den Subjekten Muster der Orientierung, positive Vorstellungen von Zukunft und fixe Strukturen der Lebensplanung zunehmend abhanden. Die Zeit ihres Lebens entspricht so, um eine Metapher Zygmunt Baumans zu bemühen, immer weniger einem Fluss, jedoch immer mehr »einer Ansammlung von Teichen und Tümpeln« (Bauman 1997, S. 148).

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Eine dadurch zutage tretende Unsicherheit lässt sich zunächst mit Rosa weiter ausdifferenzieren, der – maßgeblich im Rekurs auf die Studie Der flexible Mensch von Richard Sennett – Spieler und Drifter als paradigmatische Figuren moderner Selbstverhältnisse unter den Bedingungen beschleunigter Weltverhältnisse anführt (vgl. Rosa 2005, S. 352; darüber hinaus Sennett 1998, S. 187-203). Spielende und Driftende entziehen sich einer langfristigen Planung für den Preis einer offenen Lebensgestaltung: »man ist im Moment mit X verheiratet, man ›ist‹ derzeit Graphiker, man hat das letzte Mal Grün gewählt etc.« (Rosa 2013c, S. 218; Hervorh. im Orig.). Hierbei handelt es sich um eine Einschätzung, die durch die geisteswissenschaftliche Literatur der Gegenwart mühelos ergänzt werden kann: So sprechen Hörning, Ahrens und Gerhard in der bereits erwähnten Studie über subjektive Zeitpraktiken beispielsweise vom Wellenreiter und vom Skeptiker und verweisen damit auf Lebensformen, die sich durch ihren angepassten Umgang mit Technik und medialer Kommunikation kennzeichnen (vgl. Hörning/Ahrens/Gerhard 1997, S. 14). Demnach versucht der Wellenreiter »stets auf dem neuesten Stand und auf der Höhe der Zeit zu sein«, während der Skeptiker einen ständigen Vergleich zwischen technischen und sozialen Bedürfnissen zieht, »so daß er die neuen Kommunikationstechniken nur sehr dosiert und unter Vorbehalt einsetzt« (ebd., S. 15). Weitere Figuren nennt Bauman, der Spaziergänger, Vagabunden, Touristen und schließlich ebenfalls Spieler als charakteristische Lebensformen der Postmoderne beschreibt, denen es im Kern um eine Vermeidung jeglicher Festlegungen geht (vgl. Bauman 1997, S. 136ff). Ihr Leben gleicht demgemäß einer »Pilgerreise«, bei der »der wahre Ort […] immer ein Stück weit und eine Welt entfernt« liegt (ebd., S. 136). So unterschiedlich diese Figuren in ihren konstatierten Weltverhältnissen auch sein mögen, gemeinsam ist ihnen eine Sache: die Betonung einer subjektiven Orientierungslosigkeit, die daher rührt, dass gegenwärtige Lebensformen zunehmend mit einer Unsicherheit konfrontiert werden, für die es keine eindeutigen, geschweige denn tradierten Bewältigungsstrategien zu geben scheint. Im Modus der Kontingenz leben alle genannten Figuren nicht »in der besten der möglichen Welten, sondern in einer Welt voll besserer Möglichkeiten« (Luhmann 1971b, S. 297). Vor allem, weil Kontingenz auch heißt, dass stets eine Vielzahl an alternativen Zukunftsszenarien möglich ist (vgl. Abschnitt 5.2.3 und 5.3), konstituieren sich die Lebensführungen der Subjekte beschleunigter Gesellschaften durch permanenten »Zerfall und Wiederaufbau« (Baecker 2018, S. 76). Unfertigkeit wird so zu einem Dauerzustand (vgl. Han 2014b, S. 31).

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In der Beschleunigungstheorie Rosas wird mit diesen Entwicklungen ein Abhandenkommen »konstitutiver, ›responsiver‹ Beziehungen, Selbstwirksamkeits- und Kontrollüberzeugungen und die Abwesenheit handlungsorientierender, positiver Bindungen« (Rosa 2012, S. 121) der Subjekte diagnostiziert. Als paradigmatischen Modus dieser Diagnose benennt Rosa dabei den auf Paul Virilio zurückführenden rasenden Stillstand (l’inertie polaire), der sich darin äußert, dass sich Dinge unentwegt ändern, sich aber nicht mehr konstruktiv in die Zukunft hinein anlegen bzw. planen lassen (vgl. Virilio 1990, S. 7ff; 1997, S. 126-154; 2015, S. 21f.): »es gibt unerschöpfliche Optionenräume, aber da sie beständig ihre Gestalt verändern, keine langfristigen Strategien, sie kumulativ zu nutzen« (Rosa 2013c, S. 218). Rosa geht schließlich noch einen Schritt weiter und führt als übergreifende Konsequenz dieser Erfahrungen den Begriff der Entfremdung an (vgl. Rosa 2005, S. 483ff; 2012, S. 120; 2013c, S. 300ff; 2016, S. 299ff), mit dem er »für eine gestörte Weltbeziehung der Subjekte« (Rosa 2012, S. 121) sensibilisieren möchte. Gerade dieser Rückschluss ist in bildungstheoretischer Hinsicht ebenso interessant wie problematisch, so dass er im Folgenden ausführlicher zu diskutieren ist. Grundsätzlich handelt es sich bei Entfremdung um einen geisteswissenschaftlich vielfach interpretierten Begriff, dessen Genese auf unterschiedliche Weise rekonstruiert werden kann.7 Zwei Entwicklungslinien dürfen an dieser Stelle zumindest nicht unerwähnt bleiben: Zum Ersten taucht Entfremdung als Begriff innerhalb bildungstheoretischer Betrachtungen im Zuge der Wiedergeburt des Humanismus auf. Als zentrale Referenz – v.a. auch im Hinblick auf die bildungstheoretischen Schwerpunkte der vorliegenden Arbeit (vgl. Kapitel 2, insbesondere Abschnitt 2.3) – erweist sich hierbei Wilhelm von Humboldts Fragment zur Theorie der Bildung des Menschen. Von Humboldt spricht von Entfremdung im Rahmen einer Unterscheidung zwischen bildenden und nicht-bildenden Situationen. Entsprechend sieht er den Menschen in seiner wechselwirkenden Beziehung zur Welt dazu veranlasst, »von sich aus zu den Gegenständen ausser ihm überzugehen, und hier kommt es nun darauf an, dass er in dieser Entfremdung nicht sich selbst verliere, sondern vielmehr von allem, was er ausser sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohlthätige Wärme in sein Innres zurückstrale.

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Zum fundierten Einstieg in die vielfältigen Diskurse um Entfremdung vgl. Henning 2015.

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Zu dieser Absicht muss er die Masse der Gegenstände sich selbst näher bringen, diesem Stoff die Gestalt seines Geistes aufdrücken und beide einander ähnlicher machen.« (von Humboldt 1792, S. 237; Hervorh. C.L.) Von Humboldt beschreibt hier eine Situation, in der die Konfrontation mit dem weltlich Unverfügbaren zu einer Entfremdung des Menschen von sich selbst in der Welt führt. Weil es sich hierbei allerdings um einen Modus handelt, der über Bildungsprozesse potenziell aufzulösen ist, stellt Entfremdung zwar einen unumgänglichen, aber in letzter Konsequenz positiv konnotierten Nebenschauplatz von Bildung dar (vgl. Leineweber 2017, S. 26f.). Entsprechend scheint der Begriff nicht weiter beachtenswert, wofür die derzeit vorliegenden, an von Humboldt anschließenden Überlegungen um einen transformatorischen Bildungsbegriff ein Zeugnis ausstellen (vgl. z.B. Kokemohr 2007; Koller 2012; Marotzki 1990). Eine alternative, weitaus gründlicher rezipierte und damit gleichsam traditionsreichere Deutung des Entfremdungsbegriffs geht zweitens vom deutschen Idealismus aus, angefangen bei Georg W. F. Hegel, der in seiner Phänomenologie des Geistes Entfremdung als Phänomen beschreibt, das auf dem Auseinandertreten zwischen einer »Welt der Wirklichkeit« sowie dem »Äther des reinen Bewußtseins« (Hegel 1807/2015, S. 266) gründet, und damit auf eine Konstellation verweist, in der Widersprüche zwischen innerer sowie äußerer Perspektive, zwischen individueller Existenz sowie der Existenz anderer Individuen entstehen. In der geisteswissenschaftlichen Historie nahm dieses Verständnis unter anderem einen entscheidenden Einfluss auf Karl Marx’ Kapitalismuskritik, die ganz wesentlich auf der These aufbaut, dass solche Produktionsprozesse, die primär der Kapitalakkumulation der Produktionsstätten dienen, zu einer Entfremdung der Arbeitenden in Bezug auf die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeitstätigkeit, den dabei erzeugten Produkten, ihrer menschlichen Natur (bei Marx im Anschluss an Ludwig Feuerbach: dem Gattungswesen) und schließlich von sich selbst führen (vgl. z.B. Marx 1844, S. 177ff). Entfremdung ist somit das Resultat einer unmenschlichen, abstrakten Arbeit (vgl. Butollo/Nachtwey 2018, S. 169; Berardi 2019, S. 55). Zweifelsohne können diese kursorischen Verweise auf Hegel und Marx nicht flächendeckend für die Genese und Rezeption eines idealistisch geprägten Entfremdungsbegriffs gelesen werden; nichtsdestotrotz handelt es sich hier um die beiden wichtigsten Bezugsgrößen hinsichtlich des Sachverhalts, dass die Rede von Entfremdung gerade im Zuge weiterer kapitalismuskritischer Bemühungen durch namhafte Protagonisten der Frankfurter Schule (in

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ihren Anfängen z.B.: Adorno, Horkheimer, Marcuse, Fromm; und in einer späteren kritischen Würdigung: Habermas, Honneth) nach und nach zu einer Art Allgemeinplatz der Kritischen Theorie verkommen ist, der »inhaltlich beliebig schien und nicht mehr als ein generelles Missbehagen gegenüber sozialen Verhältnissen zum Ausdruck brachte« (Rosa 2016, S. 299). Entsprechend gilt der Begriff derzeit als »umstritten« (Rosa 2012, S. 120), »problematisch und in mancher Hinsicht beinahe unzeitgemäß« (Jaeggi 2016, S. 11), so dass er »selbst in der Kritischen Theorie nahezu aufgegeben worden« (Rosa 2012, S. 120; ohne Hervorh.) ist. Das muss deshalb so ausführlich erwähnt werden, weil nun Rosa in Anbetracht dieser ungünstigen Vorzeichen auf den Begriff der Entfremdung just aus der Motivlage heraus referiert, diesen innerhalb einer »Kritischen Theorie der Geschwindigkeit« (Rosa 2013c, S. 269) zu renovieren, die nicht mehr auf eine »Kritik der Produktionsverhältnisse (dem Ansatzpunkt der älteren Kritischen Theorie), der Verständigungsverhältnisse (Habermas) oder der Anerkennungsverhältnisse (Honneth) zielt, deren normative Maßstäbe und empirische Ankerpunkte zunehmend problematisch zu werden scheinen, sondern auf eine kritische Diagnose der Temporalstrukturen oder der Zeitverhältnisse abhebt« (Rosa 2005, S. 480; ohne Hervorh.). Im Zuge dieses Unterfangens entstehen allerdings ebenfalls begriffliche Ungenauigkeiten, die grundsätzlich darin begründet liegen, dass Rosa auf die Rede von Entfremdung erstmals zum Ende seiner Beschleunigungstheorie zurückgreift (vgl. ebd., S. 480-486), ohne vorab die Prämissen kritischer Theoriebildung in der Tradition der Frankfurter Schule klären zu können. Eine in ihrem Ursprung analytisch angelegte Beschleunigungstheorie avanciert unter diesen Bedingungen zu ihrem Ende hin unverhofft und – wie es Armin Nassehi zu formulieren weiß – »mit einem starken Strich« (Nassehi 2008, S. 15) zu einer normativ-kritischen Beschleunigungstheorie, deren zentrales Postulat darin liegt, dass die »Zeitstrukturen der Beschleunigungsgesellschaft« die Subjekte dazu bringen, »›zu wollen, was sie nicht wollen‹, d.h. aus eigenem Antrieb Handlungslinien zu verfolgen, die sie aus einer zeitstabilen Perspektive nicht präferieren. Die normativen Maßstäbe einer solchen Zeit-Kritik liefern daher die Subjekte selbst.« (Rosa 2005, S. 483; ohne Hervorh.) Rosa wiederfährt mit dieser Argumentationsweise allerdings eine kategoriale Nachlässigkeit, indem er »von einem ›Wesen‹ des Menschen, seinen ›Gattungskräften‹ und originären Zielsetzungen« in einem »objektivistischen Sinn« (Honneth 2005, S. 7) spricht, dem eine nur unzureichende Klärung der voraussetzungsreichen Frage vorausgeht, was die Subjekte eigentlich wollen bzw. was sie nicht wollen oder gar wollend vorzugeben scheinen (vgl. Nassehi 2008,

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S. 15). Zu plausibilisieren ist diese Nachlässigkeit vor allem anhand des Argumentationsstils, den Rosa hinsichtlich der Darlegung seines Entfremdungsbegriffs zutage bringt. So wird beispielsweise im Rahmen einer angenommenen »Entfremdung von der Dingwelt« (Rosa 2013c, S. 307) argumentiert: »Am deutlichsten wird das [die Entfremdung von der Dingwelt, C.L.] vielleicht noch immer am Beispiel unserer Arbeitsgeräte. Meinem ersten PC habe ich beispielsweise noch einen Namen gegeben. […] Ich ging davon aus, dass Aristoteles nun für lange Zeit mein Werkzeug, Begleiter und Intimus sein würde. Als ich ihn schließlich wegwarf (obwohl er natürlich noch funktionierte), habe ich mich erbärmlich gefühlt. Heute habe ich keine Ahnung mehr davon, was für einen Computertypus ich gerade benutze, wenn ich nicht gerade daran arbeite, kann ich kaum sagen, wie er aussieht, geschweige denn, wie er klingt oder riecht.« (Ebd., S. 308; ohne Hervorh.) Wenngleich hier eine Betrachtung vorgenommen wird, die nicht zu leugnende Tendenzen der Schnelligkeit unserer Gesellschaft anspricht, scheint aufgrund ihres subjektiven Gestus die Frage berechtigt, inwiefern sie wirklich empirisch belastbar ist. Der Verdacht, dass Rosa einer solchen Belastbarkeit erst gar nicht nachkommen kann, wird in zweierlei Hinsicht erweckt: Zum Ersten können seine einseitig vorgeführten Argumentationen als in Kauf genommenes Kalkül gedeutet werden, das der prominenten Positionierung seiner Beschleunigungstheorie im wissenschaftlichen Diskurs dienen soll. Nicht umsonst propagiert diese Theorie mit der Überschrift ihres Schlusswortes das »Ende der Geschichte« (Rosa 2005, S. 460), womit auf ein ebenso populäres wie metaphorisch aufgeladenes Schlagwort der Postmoderne angespielt ist (vgl. z.B. Bauman 2003, S. 18). Zum Zweiten, und das ist für die vorliegenden Überlegungen der weitaus gewichtigere Aspekt, steht zu vermuten, dass Rosa beim Verfassen seiner Beschleunigungstheorie keine fundierte Theorieanlage zur Verfügung stand, die eine »Neubestimmung von Entfremdung« (Rosa 2013c, S. 300) wirklich hätte gewährleisten können, ohne auf tradierte, aber eben überholte Ansätze der Kritischen Theorie zurückgreifen zu müssen. Diese Vermutung erhält ihre Plausibilität vor allem mit dem Studium späterer, das heißt an die im Jahr 2005 veröffentlichte Beschleunigungstheorie anknüpfender Publikationen, wo zunächst recht zögerlich (vgl. Rosa 2013c, S. 300-323) und schließlich beharrlich (vgl. Rosa 2016, S. 299-316) auf den Entfremdungsbegriff der Sozialphilosophin Rahel Jaeggi verwiesen wird – ein Begriff, auf den Rosas Beschleunigungstheorie nicht referieren konnte, weil er zentraler Gegenstand einer Dissertation war,

6 Zur Gesellschaftsdiagnose der Beschleunigung

die zwar im Jahr 2001 an der Johann Wolfang Goethe-Universität in Frankfurt a.M. eingereicht, jedoch erstmals im Jahr 2005 in stark überarbeiteter Form publiziert werden konnte (vgl. Jaeggi 2016, S. 18). Wie Axel Honneth im Vorwort dieser Publikation bemerkt, reformuliert und aktualisiert Jaeggi den Entfremdungsbegriff in der Tradition der Kritischen Theorie insofern, als dass sie seinen gesellschaftskritischen Impetus »auf die Dimension der individuellen Selbstbeziehung verlagert« (Honneth 2005, S. 10). Unter diesen Bedingungen bringt Jaeggi die Entfremdung des Subjekts auf den Begriff der »Beziehung der Beziehungslosigkeit« (Jaeggi 2016, S. 49; Hervorh. im Orig.), was Rosa schließlich zu einer romantisierenden Interpretation veranlasst (Rosa 2016, S. 293),8 in deren Rahmen er Entfremdung als Modus einer indifferenten Subjekt-Welt-Beziehung beschreibt: »Mein Vorschlag lautet daher nun also, Entfremdung als einen Modus der Weltbeziehung zu bestimmen, in dem die (subjektive, objektive und/oder soziale) Welt dem Subjekt gleichgültig gegenüberzustehen scheint (Indifferenz) oder sogar feindlich entgegentritt (Repulsion). Entfremdung bezeichnet damit eine Form der Welterfahrung, in der das Subjekt den eigenen Körper, die eigenen Gefühle, die dingliche und natürliche Umwelt oder aber die sozialen Interaktionskontexte als äußerlich, unverbunden und nichtresponsiv beziehungsweise als stumm erfährt.« (Ebd., S. 306; Hervorh. im Orig.) Diese modifizierte Lesart begründet sich vor allen Dingen damit, dass Rosa im Jahr 2016 in seinem Buch Resonanz eine – so der Untertitel des Buches – Soziologie der Weltbeziehung ausarbeitet, die danach fragt, wie sich »Subjekt und Welt gegenseitig berühren« können, so »dass beide Seiten mit eigener Stimme sprechen« (Rosa 2016, S. 298; ohne Hervorh.). Rosa argumentiert damit schließlich von einer Warte aus, »die darüber Auskunft gibt, dass man eine Welt teilt« (Baecker 2018, S. 83). Das geht zweifelsohne mit einigen interessanten bildungstheoretischen Implikationen einher, wie in Abschnitt 7.2 noch einmal aufzugreifen sein wird. Zum jetzigen Zeitpunkt ist zu konstatieren, dass Rosas neu gewonnener Fokus auf den Resonanzbegriff den ehemals postulierten heteronomen Charakter der Entfremdung, der Subjekte ›wollen lässt, was sie nicht wollen‹, letztlich in den Hintergrund stellt. Gerade dieser heteronome Charakter scheint jedoch entscheidend, um die Folgen der

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Vgl. hierzu auch Dieter Thomäs Rezension Mit der Stimmgabel, die Rosa eine gelegentliche »Neigung zum Wischiwaschi« attestiert (vgl. Thomä 2016).

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Beschleunigung in bildungstheoretischer Hinsicht wirklich einsehen zu können, weil schließlich der Selbstbestimmungsbegriff auf einer konstitutiven Abhängigkeit von Modi der Fremdbestimmung basiert (vgl. Abschnitt 2.5). Diesen Gedanken gilt es im folgenden Abschnitt innerhalb einer Perspektive, die das bislang Argumentierte zusammenfasst und dabei den Begriff der Selbstbestimmung explizit miteinbezieht, noch einmal zu konkretisieren.

6.4

Fünftes Zwischenfazit und Diskussion: (Temporale) Entfremdung und die Frage nach Selbstbestimmung

Zu Beginn dieses Abschnitts soll es zunächst noch einmal darum gehen, die wichtigsten Erkenntnisse des vorliegenden Kapitels zusammenzutragen. Folgt man der Beschleunigungstheorie Rosas, dann gelten moderne Gesellschaften in erster Linie als sich dynamisch stabilisierende Steigerungsgesellschaften. Demzufolge ist der Erhalt ihrer institutionellen Strukturen und Teilbereiche systematisch auf ökonomisches Wachstum angewiesen. Das Zusammenspiel zwischen technischen Innovationen und einer damit intendierten zeitlichen Beschleunigung ist die »Haupttriebfeder« (Bostrom 2018, S. 14) dieses Wachstums, das in der Folge individuelle sowie gemeinschaftliche Modi des Umgangs mit Zeit verändert. Rosas zentrales Postulat lautet daher: »Wir produzieren, kommunizieren, transportieren gegenüber der je vorangehenden Gesellschaftsepoche nicht nur schneller, sondern auch mehr.« (Rosa 2005, S. 118; Hervorh. im Orig.) Unter diesen Bedingungen schafft die Diagnose der Beschleunigung einen theoretischen Rahmen, der suggeriert, dass die komplexen Möglichkeitsräume des Technisch-Medialen (vgl. Kapitel 5) in letzter Konsequenz nicht ohne die ökonomischen Bestrebungen der Moderne, basierend auf Produktion und Konsumtion, zu betrachten sind. Ein funktionaler Technikbegriff, der hinsichtlich der Frage nach der Ermöglichung von Komplexität eine konstitutive Rolle einnimmt (vgl. Abschnitt 5.2.1), lässt sich diesbezüglich dahin gehend lesbar machen, dass ›Zeit nun einmal Geld ist‹ und sich Prozesse durch Technik gezielt beschleunigen bzw. effizienter gestalten lassen. Auf der Grundlage dieser Prämissen standen die Auswirkungen der Beschleunigung auf die Beziehung zwischen Subjekt und Welt im Fokus dieses Kapitels. Mit Rosa war hier zunächst analytisch zwischen drei Formen der Beschleunigung zu unterscheiden: die Form der technischen Beschleunigung, die auf gestiegene Produktions-, Transport- und Kommunikations-

6 Zur Gesellschaftsdiagnose der Beschleunigung

geschwindigkeiten verweist, die Form der Beschleunigung des sozialen Wandels, die eine Veränderung von tradierten Handlungsorientierungen anzeigt, und zuletzt die Beschleunigung des individuellen Lebenstempos, die auf das Zusammenspiel zwischen der Steigerung von Handlungsgeschwindigkeiten einerseits und der Verknappung von Zeitressourcen andererseits referiert. Diese Formen der Beschleunigung wurden im zurückgelegten Argumentationsweg sowohl in ihren zentralen Ausprägungen bestimmt, voneinander abgegrenzt als auch in bildungstheoretischer Perspektive gedeutet. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sind nun zunächst noch einmal unter zwei Aspekten einzugrenzen, die sich letzten Endes an den Wahrnehmungen und Handlungen der Subjekte bemessen. Demgemäß ist zum Ersten eine Akzentuierung empirisch-konkreter Phänomene möglich, die in ihrem Kern auf veränderte Muster der subjektiven Zeitwahrnehmung anspielen. Solche Veränderungen sind in erster Linie auf technische Beschleunigungsprozesse zurückzuführen und lassen sich entlang des Argumentierten begrifflich bestimmen als: ›ortlose Dauergegenwart‹ (Stalder), ›entfesselte Kommunikation‹ (Hörning/Ahrens/Gerhard), ›Dauervernetzung‹ (Steinmaurer), ›Polychronien‹ (Jörissen), ›Nanochronologien‹ (Virilio) oder ›Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‹ (Rosa). Es bedarf an dieser Stelle nun keiner wiederholten Erläuterung dieser Begriffe, um darauf hinweisen zu können, dass sie in ihrer Gesamtheit eine Dynamisierung des Subjekt-WeltVerhältnisses indizieren, die sich bemerkenswerterweise über den Prozess der subjektiven Verzeitlichung erfassen lässt. Ließ sich dieser Prozess weiter oben im Anschluss an Edmund Husserl bereits in seinem Ursprung als dynamisch charakterisieren (vgl. Abschnitt 4.1.2 und 4.3), so scheint diese Dynamisierung auf der Basis technischer Beschleunigung zusätzlich potenziert zu werden. Gerade die im Anschluss an Rosa angeführte Argumentation, dass mit den Möglichkeiten des Transportwesens und der digitalen Kommunikation zunehmend die Differenz zwischen Nähe und Ferne nivelliert wird und insofern mehr Welt in die »Reichweite« (Rosa 2016, S. 521; ohne Hervorh.) der Subjekte rückt, lässt hierbei im Besonderen betonen, dass die Wahrnehmungen moderner Subjekte immer vielfältiger und reichhaltiger werden. Im Zuge dieser Vielfältigkeit und Reichhaltigkeit entsteht schließlich ein Erlebnisreichtum (vgl. Rosa 2005, S. 470) und der damit oftmals verbundene

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Eindruck, dass vieles rascher (als früher) vergehe, womit die Diagnose der Beschleunigung in besonderer Weise ihre Plausibilität erhält.9 Von diesen Beobachtungen nicht zu trennen, aber auf einer analytisch abstrakteren Ebene anzuordnen, kann zum Zweiten davon gesprochen werden, dass beschleunigte Lebensverhältnisse maßgeblich in Form einer krisenhaft erscheinenden Kontingenz einen Einfluss auf die Handlungen der Subjekte nehmen. Demgemäß führt die Beschleunigung unseres Lebens dazu, dass wir uns zu immer mehr Möglichkeiten in (gefühlt) immer weniger Zeit verhalten müssen. In diesem Kontext konnten vor allem die erläuterten Figuren der ›Gegenwartsschrumpfung‹ (Lübbe, Luhmann, Rosa) und des ›rasenden Stillstandes‹ (Virilio, Rosa) sowie das ›Slipping-Slopes-Syndrom‹ (Rosa) die Problematik einer zunehmend durch Kontingenz geprägten, handlungsoffenen Zukunft verdeutlichen, die in einem Zusammenhang zu einer sukzessiven Auflösung von Handlungssicherheiten, fixen Orientierungsmustern und homogenen Strukturen der Lebensplanung zu denken ist. Wie dabei argumentiert wurde, gründet sich gerade in dieser Auflösung ein fortwährender Handlungsbedarf der Subjekte, »sich stets von Neuem und in allen Sphären des sozialen Lebens bewähren zu müssen, weil es keine Sicherheit mehr über erreichte Niveaus gibt« (Rosa 2012, S. 112). Folglich bedingen beschleunigte Strukturen nicht nur eine Wandlung der subjektiven Wahrnehmung von Zeit, sondern ebenfalls eine Veränderung des Verhältnisses zwischen Subjekten und ihrer Zukunft. Eine Vorstellung von Zukunft erscheint dabei gerade dann krisenartig, wenn es hinsichtlich ihrer Planung oder Bewältigung keine eindeutigen und gleichsam sicheren Strategien mehr zu geben scheint, wenn es folglich immer schwerer fällt, den eigenen Lebensweg vorherzusagen oder gar beherrschen zu können. Leben im Modus der Kontingenz zieht in diesem Sinne vor allem nach sich, unter den Bedingungen einer grundsätzlich offenen Zukunft unaufhörlich nach Anschlussmöglichkeiten zu suchen, wodurch sich den Subjekten einerseits zwar stets »neue Möglichkeiten und Chancen« eröffnen, andererseits jedoch auch die ständige Gefahr droht, »Anschlussmöglichkeiten zu verlieren« (Rosa 2005, S. 471). Die Aufrechterhaltung fester

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Bemerkenswerterweise führt Rosa in diesem Kontext an wenigen Stellen in seinem Werk zur Beschleunigung den Terminus der »Verzeitlichung der Zeit« an, mit dem er betonen möchte, dass moderne Subjekte zeitliche Ordnungsmuster ihres Alltags zunehmend flexibel herstellen, dass also »über Dauer, Sequenz, Rhythmus und Tempo von Handlungen, Ereignissen und Bindungen erst im Vollzug, und das heißt: in der Zeit selbst entschieden wird« (Rosa 2005, S. 365; Hervorh. C.L.).

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Strukturen im Leben erscheint damit immer schwieriger, weil es in summa zu viele Optionen gibt, die sich einander unmittelbar ablösen, sich in Frage stellen oder gar gänzlich neue Handlungshorizonte öffnen. Daran anschließend konnte betont werden, dass Rosa die krisenartigen Tendenzen einer zukunftsoffenen Kontingenz final unter dem Begriff der ›Entfremdung‹ subsumiert, mit dem er darauf aufmerksam machen will, dass beschleunigte Strukturen die Subjekte moderner Gesellschaften letztlich dazu bringen, »›zu wollen, was sie nicht wollen‹« (ebd., S. 483; ohne Hervorh.). Im Rahmen einer kritischen Würdigung dieser Idee von Entfremdung wurde aufgezeigt, dass Rosa sie einerseits im einseitigen und tendenziösen Horizont einer Erzählung vom »Ende der Geschichte« (ebd., S. 460) denkt und andererseits nicht vollständig auflösen kann, worin das ›Wollen‹ der Subjekte eigentlich empirisch fundiert ist. Um die Konsequenzen der Beschleunigung im Rahmen der vorliegenden Arbeit abschließend einschätzen zu können, gilt es daher im Folgenden, diese Unschärfe des rosaschen Entfremdungsbegriffs noch einmal innerhalb einer bildungstheoretischen Perspektive aufzulösen, die im Besonderen das Ideal der Selbstbestimmung zu berücksichtigen weiß – wegweisend dafür wird die bereits im vorangehenden Abschnitt 6.3 erwähnte Referenz Rosas auf Rahel Jaeggi sein, die Entfremdung in der paradoxen Form einer ›Beziehung der Beziehungslosigkeit‹ denkt. Um Jaeggis Entfremdungsbegriff angemessen diskutieren zu können, ist es notwendig, sich noch einmal in aller Kürze die zentralen prozessualen Bedingungen des bildungstheoretischen Ideals der Selbstbestimmung zu vergegenwärtigen, wie sie vor allem in Abschnitt 2.4.3 ausgearbeitet worden sind. Demzufolge gilt: Der theoretische Ort der Selbstbestimmung ist die Beziehung zwischen Subjekt und Welt. Selbstbestimmung ist folglich keine subjektive Eigenschaft oder ein Zustand in der Welt, sondern eine Qualität, die sich im Verhältnis beider Entitäten zueinander – Subjekt und Welt – ereignet. Dieses qualitative Ereignis setzt eine aktive Beziehung der Subjekte zur Welt voraus, die den Aufbau subjektiver Welt- und Selbstverhältnisse bedingt und in diesem Sinne die Art und Weise konstituiert, wie Subjekte die Welt und sich selbst in der Welt erfahren. Grundvoraussetzung dafür sind solche Lernprozesse, bei denen ein bislang fremd erscheinender Bereich bzw. Inhalt von Welt derart von Subjekten angeeignet wird, dass er einen (neu gearteten) Zugang des Subjekts zu sich selbst in der Welt ermöglicht. Die zentrale Implikation dieses aneignenden Lernens ist einerseits die Befähigung des Subjekts, in variierenden Kontexten auf der Grundlage eigener Weltsichten und Überzeugungen verschieden handeln zu können. Andererseits werden

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Subjekte just dort auf ihre Unzulänglichkeit zurückgeworfen, wo das bis dato Angeeignete zur Bewältigung einer Situation nicht mehr ausreicht. Die Lösung eines solchen Umstands wiederum erfordert den paradox anmutenden Prozess der kontextuellen Neuaneignung des Angeeigneten, bei dem das Subjekt bislang Angeeignetes im Kontext jener neu auftretenden, unbestimmten und damit fremden Situation umstrukturiert, das heißt im Wesentlichen kritisch auf den Prüfstand stellt, modifiziert oder gar verwirft, um seine Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. In ebendieser Umstrukturierung im Kontext des Neuen und Unbestimmten manifestiert sich letztlich die Bestimmung des Selbst. Selbstbestimmt handeln heißt demzufolge nicht nur in Kontexten zu handeln, sondern das Auftreten neu gearteter, fremder Kontexte auf der Basis bislang angeeigneter Welt- und Selbstverhältnisse bewältigen zu können. Dies akzentuiert in erster Linie, dass hier kein willkürliches, sondern ein erkenntnistheoretisch abgesichertes Handeln beschrieben ist. Getragen wird diese Absicherung dadurch, dass Erfahrungen der situativen Unbestimmtheit bzw. des kontextuell Fremden die handlungsbezogene, ja, praktische Freiheit der Subjekte herausfordern, die im Anschluss an Immanuel Kant mit der Frage ›Was soll ich tun?‹ einzugrenzen ist. In Ergänzung dazu referiert Jaeggis Entfremdungsbegriff nun auf ein Subjekt, das sich »immer schon handelnd« in der Welt bewegt bzw. sich »immer schon praktisch auf die Welt« (Jaeggi 2016, S. 39) bezieht. »Sein ist tun« (ebd., S. 229), lautet die präziseste Formel dieser Vorstellung. In Jaeggis bereits erwähnter Behauptung, Entfremdung sei die ›Beziehung der Beziehungslosigkeit‹, spricht sich dabei die Idee aus, in »deskriptivnormativer« (ebd., S. 78) Hinsicht auf eine defizitäre Störung der Beziehung zwischen Subjekt und Welt zu verweisen. Derartige Störungen versteht Jaeggi als ein »Nichtgelingen« von »Aneignungsprozessen« (ebd., S. 62), wobei sie Aneignung als »ein Verhältnis der Durchdringung, der Assimilation, der Verinnerlichung« verstanden haben möchte, »in dem das Angeeignete gleichzeitig geprägt, gestaltet und formiert wird« (ebd., S. 65). Damit verbunden ist eine radikal konstruktivistische Denkweise, die anschlussfähig an bildungstheoretisch konzeptualisierte Fragen um Selbstbestimmung scheint. Um diese Anschlussfähigkeit einsehen zu können, sei zunächst folgender Passus aus Jaeggis Entfremdungstheorie zitiert: »Gegenüber dem bloßen Lernen bestimmter Inhalte betont die Rede von deren Aneignung, dass hier etwas nicht nur – passiv – übernommen, sondern – aktiv – durchdrungen und eigenständig verarbeitet wird. Gegenüber einer

6 Zur Gesellschaftsdiagnose der Beschleunigung

bloßen (theoretischen) Einsicht in einen Sachverhalt bedeutet dessen Aneignung […], dass man mit dem Erkannten ›umgehen‹ kann, dass es einem als Wissen wirklich und praktisch zur Verfügung steht. Und sich eine Rolle ›anzueignen‹ bedeutet mehr, als sie ausfüllen zu können: Man ist, so könnte man sagen, mit ihr identifiziert. Etwas, das man sich aneignet, bleibt einem nicht äußerlich. Indem man es sich ›zu Eigen‹ macht, wird es in gewisser Weise Teil seiner selbst.« (Ebd., S. 64; Hervorh. im Orig.) Im Allgemeinen ist zu konstatieren, dass Jaeggi hier mit dem Gedanken an ein passives Lernen das im Blick hat, was innerhalb der Unterscheidung zwischen Lernen und Bildung in der Nachfolge Gregory Batesons von Winfried Marotzki als Lernen I, als unhinterfragte Reaktion auf einen Reiz bezeichnet worden ist (vgl. Abschnitt 2.4.3). Die Differenzierung, die Jaeggi daraufhin zwischen einem passiven Lernen und einem aktiven Lernen vornimmt, verweist daher auch auf den von Marotzki bestimmten Modus des Lernen II, der die Kontextualisierung von Reizen thematisiert. Zur Plausibilisierung dieser Überlegung sei hier noch einmal an das Beispiel des Kindes erinnert, dem – in den Worten Jaeggis formuliert – dann ein Wissen praktisch zur Verfügung steht, wenn es sich im Klaren darüber ist, dass im Kontext ›Schule‹ andere Verhaltensweisen erwartet werden, als im Kontext ›Kindergarten‹, ›Familie‹, ›Freundschaft‹ usw. Auf diese Weise thematisiert Jaeggi im oben zitierten Passus jenen Sachverhalt, durch den sich in bildungstheoretischer Hinsicht die Weltund Selbstverhältnisse der Subjekte konstituieren, die innerhalb des genannten Beispiels darin Ausdruck finden, dass sich das Kind seiner Rolle in der Welt der Schule, des Kindergartens, der Familie, der Freundschaftsbeziehungen usw. selbstreferentiell gewahr wird. Diese Querverbindungen lassen weiter danach fragen, was Jaeggi nun konkret unter Entfremdung als ›Beziehung der Beziehungslosigkeit‹ bzw. als ›Störung‹, ›Nicht-Gelingen‹ oder ›Verhinderung‹ von Aneignungsprozessen versteht. Jaeggi argumentiert diesbezüglich, dass Entfremdung ein Leben in Freiheit verhindere und sich dabei »als unzureichende Macht und fehlende Präsenz in dem, was man tut, […] als mangelnde Identifikation mit dem eigenen Handeln und Wollen oder als fehlende Anteilnahme am eigenen Leben« (ebd., S. 217) äußere. Kurzum ist damit auf eine Problematik aufmerksam gemacht, die auf einer Beeinträchtigung des eigenen Wollens der Subjekte basiert (vgl. Honneth 2005, S. 10). Bemerkenswerterweise liegt die Originalität der Operationalisierung jener Beeinträchtigung darin, dass Jaeggi sie »nicht auf der Grundlage von Empirie artikuliert« (Henning 2015, S. 189), sondern

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teils anhand fiktiver Beispiele und teils anhand rezipierter Romanfiguren ausdifferenziert, was ihr schließlich eine Einschreibung idealisierter Vorstellungen in die »Rekonstruktion des Entfremdungsbegriffs« (Jaeggi 2016, S. 67) gestattet. Entsprechend kann Jaeggi auch das Ideal der Selbstbestimmung im Rahmen einer fiktiven Erzählung von einem Wissenschaftler thematisieren, der für seine erste Arbeitsstelle an einer Universität mit seiner frisch gegründeten Familie (Frau und Neugeborenes) in einen städtischen Vorort zieht, sich aber nur schwer mit dieser neuen Lebenssituation in »geordneten Bahnen« abfinden kann, weil sie zuwiderlaufend zu seinem in der Vergangenheit geschätzten, »leicht chaotische[n]« (ebd., S. 81) Studentenleben erscheint: exzessive Partys, wochenlanges Fastfood und spontane Einkäufe an der Tankstelle wurden im erdachten Leben des Wissenschaftlers durch Grillabende mit den Nachbarn, geplante Einkäufe am Samstagmorgen und eine bedächtige Organisation des Haushalts abgelöst (vgl. ebd., S. 81f.). Jaeggi analysiert diese Entwicklung im Rahmen ihrer Entfremdungstheorie nun wie folgt: »Als der Vorort-Wissenschaftler in sein neues Leben ›hineingeraten‹ ist, hat er sich nicht einem fremden Willen unterworfen. Entscheidend für das Verständnis des an seinem Fall erläuterten Phänomens war die Einsicht in die Eigendynamik des Geschehens und die Verdinglichung von Handlungssituationen. […] Wenn die Situation des Wissenschaftlers als ›verdinglicht‹ verstanden werden muss, dann wird die praktische Frage nicht von jemand anderem als mir selbst beantwortet, sondern sie wird erst gar nicht gestellt. Die Möglichkeit, etwas als potentiellen Gegenstand einer Entscheidung zu sehen, geht nämlich der Frage voraus, wer denn entscheidet oder woran man sich in seiner Entscheidung orientiert. Einen Handlungsraum wahrnehmen zu können, in dem die praktische Frage möglich ist, stellt deshalb die Voraussetzung dafür dar, diese Frage überhaupt selbst stellen und beantworten zu können. Entfremdung besteht also nicht – wie Heteronomie – in der Beantwortung praktischer Fragen durch andere, sondern in der Verdeckung praktischer Fragen. Wer sich in seinem Leben einfach treiben lässt, lebt es nicht nur nicht selbstbestimmt, er lebt es gar nicht wirklich.« (Ebd., S. 277f.; Hervorh. C.L.) Im Zentrum dieser Analyse steht die generalisierende These, dass Subjekte im Modus der Entfremdung weder von einem fremden noch von einem eigenen Willen geleitet werden und damit weder fremd- noch selbstbestimmt zu handeln in der Lage sind. Die Entfremdung des beschriebenen VorortWissenschaftlers konstituiert sich daher insofern, als er »handelt, ohne

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wirklich zu handeln« (ebd., S. 84), als er es also versäumt, seine eigenen Handlungsspielräume im Leben zu erkennen und die daraus hervorgehenden Situationen »als Gegenstand praktischer Fragen« (ebd., S. 89) zu begreifen. Die wesentliche Implikation dieses Verständnisses liegt auf einer oberflächlichen Argumentationsebene darin, dass hier Handlungen ausgeführt werden, die nicht der kantischen Frage ›Was soll ich tun?‹ unterzogen worden sind. Fragt man darüber hinaus nach der konkreten Bedeutung, die einer solchen Konzeption von Entfremdung im Hinblick auf eine Theorie der Selbstbestimmung zukommt, ist zunächst zu betonen, dass in das Leben des VorortWissenschaftlers offensichtlich neue Kontexte eingetreten sind (die Rolle als wissenschaftlicher Mitarbeiter, als Ehemann, als Vater usw.), in denen er zwar handelt, jedoch seine Handlungen nicht auf der Grundlage eigens angeeigneter Weltsichten und Überzeugungen ausrichtet. Er verharrt damit, das sei im Anschluss an Marotzki eingeschoben, im Modus des Lernen II und erreicht demnach nicht den Modus der Bildung I. Entsprechend konnte das Leben des Vorort-Wissenschaftlers deshalb die von Jaeggi beschriebene ›Eigendynamik‹ annehmen, weil er sich die neuen Kontexte seines Lebens nicht auf der Basis seines bislang angeeigneten Welt- und Selbstverhältnisses (neu-)aneignen konnte. Im spezifischen Kontext von Selbstbestimmung ist auf diese Weise angezeigt, dass die neu eingetretenen Kontexte im fiktiven Leben des Vorort-Wissenschaftlers keine inhaltlichen Irritationen bzw. situativen Unbestimmtheiten auslösten, so dass ein Anlass für eine kontextuelle Neuaneignung des bislang Angeeigneten unmöglich schien. Auf den Punkt gebracht lässt sich damit konstatieren: Der von Jaeggi erdachte Vorort-Wissenschaftler sah schlichtweg keine Veranlassung oder Möglichkeit, seine bislang gewonnenen Sichten auf die Welt und auf sich selbst zu prüfen, zu modifizieren oder gar zu verwerfen (vgl. ebd., S. 329). Dass sein Leben in der Folge entfremdet ist, lässt sich daher »auf ein mangelndes Gewahrwerden des ihm offenstehenden Handlungsspielraums zurückführen«, wodurch er die Situationen seines Lebens »nicht als Handlungssituation[en]« (ebd., S. 87f.) auffassen konnte. Im Modus der Entfremdung war ihm ein selbstbestimmtes Handeln gar nicht erst möglich. Unter den hier dargelegten theoretischen Setzungen muss der Begriff der Entfremdung als Konzeption verstanden werden, die auf eine gestörte – und wenn man so will: pathologische – Form der Subjekt-Welt-Beziehung aufmerksam machen will und so eine Bedeutung für die Handlungsfähigkeit der Subjekte für sich in Anspruch nimmt. Eine solche Auslegung des Be-

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griffs ist phänomenal referenzlos – dem hier präsentierten Entfremdungsbegriff geht es im Kern um das ›Wie?‹, nicht um das ›Was?‹ der Beziehung zwischen Subjekt und Welt. Folglich ist die Frage nach den konstitutiven Bedingungen der Entfremdung vielfältig, vor allem, weil diese empirisch auf je individuelle Handlungsspielräume bezogen werden können. Im primären Bezug auf die Beziehung zwischen Subjekt und Welt sind es also »verschiedene Formen der Störung von Aneignungsverhältnissen, die sich mit dem Begriff der Entfremdung diagnostizieren lassen« (ebd., S. 20). Nichtsdestotrotz ist diese Reichweite in Bezug auf die zuvor beschriebenen Konsequenzen der Beschleunigung insofern einzugrenzen, als gerade ein Leben im Modus der Kontingenz unter den Bedingungen einer krisenhaft und zunehmend unsicher erscheinenden Zukunft die Gefahr der Entfremdung birgt. Dort, wo es hinsichtlich der eigenen Lebensplanung oder -bewältigung immer weniger eindeutige und sichere Strategien gibt, wo zu viele, schnell aufeinanderfolgende Handlungsspielräume auftreten und immer weniger Sicherheit über das eigene Handeln sowie den damit bislang erreichten Niveaus zu bestehen scheint, eben dort lauert die Herausforderung, dass man sein Leben im Sinne Jaeggis ›einfach treiben lässt‹ und nicht mehr anhand eigener Perspektiven auf die Welt und auf sich selbst in der Welt hinterfragt bzw. hinterfragen kann. Dies fordert einen bildungstheoretischen Begriff von Selbstbestimmung insofern heraus, als hier eine spezifische Form der Blockade auf dem subjektiven »Weg zur Freiheit« (Waldenfels 1997, S. 49) beschrieben ist, die überwunden werden muss, wenn es selbstbestimmt zu handeln gilt. In der zurückgelegten, auf der Basis bildungstheoretischer Prämissen geleisteten Kombination der Beschleunigungsdiagnose Rosas und der Entfremdungstheorie Jaeggis öffnet sich folglich eine erhellende Sicht auf die Auswirkungen dynamischer Weltverhältnisse für die Bedingungen subjektiver Freiheit. Dies bleibt für die bildungstheoretische Konzeption einer Bildung, die sich über das Ideal der Selbstbestimmung zu behaupten hat, nicht folgenlos, wie es im letzten Kapitel der vorliegenden Arbeit noch einmal genauer in den Blick zu nehmen gilt.

7 Schlussbetrachtungen »In der Technisierung beschränkt sich der Mensch auf die Möglichkeiten des Verstandes und entzieht sich dem Anspruch der Vernunft.« (Blumenberg 1959, S. 34)

Dieses Kapitel dient der Zusammenführung der bislang gewonnenen Erkenntnisse. Während eine detaillierte Darstellung der verhandelten Inhalte bereits durch die jeweiligen Zwischenfazite der einzelnen Kapitel ausreichend dokumentiert ist, soll es hier im Wesentlichen um eine möglichst pointierte Betrachtung des zurückgelegten Argumentationsganges gehen. Im Zentrum stehen zunächst eine kohärente Verknüpfung der zentralen Inhalte und aus dieser Verknüpfung final zu gewinnende Schlussfolgerungen, die schließlich einen Blick auf die Begriffsfassung der Verzeitlichung der Bildung gestatten (vgl. Abschnitt 7.1). Anschließend gilt es, Implikationen dieses Blicks im Horizont von Bildungstheorie und Medienpädagogik zu diskutieren (vgl. Abschnitt 7.2). In einem letzten Schritt wird ein Ausblick zu wagen sein, der die vorliegende Arbeit mit ihren Grenzen konfrontiert und dabei auf alternative Perspektiven sowie weiterführende Fragestellungen aufmerksam macht (vgl. Abschnitt 7.3).

7.1

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen: Die Verzeitlichung der Bildung

Ziel dieser Arbeit war es, das Verhältnis zwischen Selbstbestimmung und Zeit zu ergründen. Ihren Ausgangspunkt fand diese Zielsetzung in der These, dass Zeitstrukturen im Zuge der Entfaltung moderner Gesellschaften zunehmend einen Einfluss auf Bedingungen des selbstbestimmten Handelns ausüben.

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Die Verzeitlichung der Bildung

Die folgende Zusammenfassung der zurückgelegten Überlegungen kann nun als Ausdifferenzierung dieser These gelesen werden, die gleichsam die Möglichkeit finaler Schlussfolgerungen einräumt. Verortet im Feld der Medienpädagogik wurde in einem ersten Schritt eine bildungstheoretische Perspektive entfaltet, mit der dargelegt werden konnte, dass die Frage nach Selbstbestimmung in ihrem Ursprung eine Frage nach faktischer Fremdbestimmung ist. Die Möglichkeiten der Selbstbestimmung basieren demzufolge in erster Linie auf der Befreiung der Subjekte von äußeren Kräften. Historisch führt diese Einsicht auf die intellektuellen und gesellschaftlichen Reformbewegungen der europäischen Aufklärung zurück: in der rationalisierenden Bearbeitung der Welt und der damit verbundenen Entfesselung der Produktivkräfte in Form der industriellen Revolution liegt der Ursprung der menschlichen Emanzipation von natürlichen, traditionellen, klerikalen und feudalen Zwängen. Im Kontext von Bildung entscheidet sich dieses emanzipatorische Vermögen innerhalb der wechselwirkenden Beziehung der Subjekte zu einer sachlich, sozial und zeitlich dimensionierten Welt. In der Auseinandersetzung mit weltlichen Gegebenheiten, den Perspektiven anderer sowie dem Zeitpunkt der sich dadurch ermöglichenden Erfahrungen eignen sich Subjekte individuelle Sichtweisen auf die Welt und auf sich selbst in Form von Welt- und Selbstverhältnissen an, die eine wesentliche Grundlage ihres Verhaltens und ihrer Handlungsfähigkeit in der Welt darstellen. Herausgefordert finden sich diese individuell angeeigneten Welt- und Selbstverhältnisse dort, wo sie sich als nicht mehr ausreichend erweisen, um erlebte Situationen bewältigen zu können. Derartige Situationen, die in Relation zu den Welt- und Selbstverhältnissen der Subjekte grundsätzlich unbestimmt bzw. fremd und damit krisenartig bzw. problembehaftet erscheinen, erfordern letztlich geistige Umstrukturierungen, durch die bislang Angeeignetes kritisch auf den Prüfstand gestellt, modifiziert oder gar verworfen werden kann. Die Selbstbestimmung der Subjekte setzt folglich in ihrem Ursprung eine Bewältigung fremd und unbestimmt erscheinender Problemlagen auf Basis bislang angeeigneter Welt- und Selbstverhältnisse voraus. Indem sich Subjekte daraufhin ihre Welt auf eine »andere Weise zugänglich« (Marotzki 1990, S. 43) machen, wird eine gesteigerte Flexibilität in Bezug auf bislang vertraute Gewohnheiten ausgebildet, die im subjektiven Handeln wirkmächtig wird. In den Blick genommen ist damit primär ein praktischer Begriff von Freiheit, der davon lebt, dass sich die Selbstbestimmung der Subjekte durch die Überwindung von Krisenerfahrungen konstituiert. Die Wahrscheinlichkeit solcher Erfahrungen steigt grundsätzlich mit der Höhe gesellschaftli-

7 Schlussbetrachtungen

cher Komplexität in Form einer Pluralisierung von Handlungsspielräumen und Flexibilisierungsoptionen. Im Anschluss an diese Bestimmungen wurde in einem zweiten Schritt eine Charakterisierung von Zeit ausgearbeitet. Ausgehend von der Beziehung zwischen Subjekt und Welt können (mindestens) drei verschiedene Formen von Zeit unterschieden werden. Hierbei handelt es sich um die Form der objektiven Zeit, die auf Veränderungen in der Welt basiert (z.B. der Wechsel zwischen Tag und Nacht, Ebbe und Flut), um die Form der sozialen Zeit, die auf objektivierte Zeitbestimmungen einer Gemeinschaft oder Gesellschaft referiert (z.B. eine Stunde, eine Arbeitswoche, ein Semester), und zuletzt um die Form der subjektiven Zeit, die aus je individuellen Wahrnehmungen, Interpretationen und Empfindungen (z.B. Tagesablauf, erlebte Dauer, individueller Lebensrhythmus, erinnerte Zeit) hervorgeht. Diese drei Formen von Zeit sind empirisch auf teils komplexe Art und Weise miteinander verschränkt – innerhalb einer angenommenen Beziehung zwischen Subjekt und Welt muss Zeit jedoch in letzter Konsequenz als subjektrelativer Begriff gedacht werden. Obgleich Veränderungen in der Welt fraglos auch ohne beobachtende Subjekte stattfinden und es sich bei sozialen Zeiten stets um intersubjektiv konstruierte Wissensgüter handelt, die die Einzelnen erst erlernen müssen, ist Zeit als weltliches Phänomen nur dort von Bedeutung, wo sie eine Wirkung auf die Subjekte ausübt: der Eintritt der Nacht, der meist mit dem Empfinden von Müdigkeit verbunden wird, die nahende Deadline, die zu Stress bei der Finalisierung eines Projekts führt, die beruflichen Arbeitszeiten, die Anpassungen der privaten Freizeitgestaltung erfordern, usw. Diese subjektrelative Eingrenzung des Zeitbegriffs wurde in einem dritten Schritt innerhalb der analytischen Kategorie der subjektiven Zeitlichkeit ausdifferenziert, in deren Rahmen die Bedeutung von Zeit in Bezug auf die Beziehung zwischen Subjekt und Welt exploriert werden konnte. Der Blick richtete sich folglich auf die Vorstellung von Subjekten, die sich durch perzeptivreflexive Wirklichkeitskonstruktionen der Zeitstrukturen der Welt, der Zeitstrukturen des sozialen Lebens und der Zeitstrukturen des eigenen Lebens bewusst werden. Solche temporalen Formen der Wirklichkeitskonstruktion können grundsätzlich als Verzeitlichungsprozesse verstanden werden. Bezugnehmend auf die Subjekt-Welt-Beziehung referiert der Begriff der Verzeitlichung einerseits auf temporale Qualitäten, wie z.B. die Dauer, andererseits verweist er auf eine implizite Dynamik des Lebens, die sich mithin analytisch als Chronologie in Form der Unterscheidung zwischen früher, jetzt und später sowie als Geschichtlichkeit in Form der Unterscheidung zwischen

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Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft präzisieren lässt. Die Konzeption der Geschichtlichkeit betreffend wurde dabei im Besonderen betont, dass mit der Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stets konkrete Sinn- und Handlungszusammenhänge auftreten. Bemerkenswerterweise korrespondieren ebendiese Sinn- und Handlungszusammenhänge mit den Leitbildern einer modernen und aufgeklärten Pädagogik insofern, als diese in ihrem Kern darauf abstellt, dass Subjekte für ein zukünftiges Leben mit Kenntnissen und Fertigkeiten ausgebildet werden müssen. Mit diesen Annahmen erscheint gerade der Bildungsbegriff ein Versprechen auf die Zukunft. Geschichtlichkeit ist daher als konstitutive Zeitstruktur des zu bildenden und des sich bildenden Subjekts anzusehen. In diesem Zusammenhang konnte auch betont werden, dass sich in der Vorstellung an eine durch Handeln beeinflussbare Zukunft ein motivierender Weltbezug der Subjekte gründet. Ein Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen solcher Bezüge forderte schließlich dazu auf, die heteronome Wirkung sozialer Zeitstrukturen (an dieser Stelle durchaus zu trivialisieren als: terminliche Fristen) anzuerkennen, die mit der Komplexität gesellschaftlicher Strukturen sowie den je individuellen sozialen Verhältnissen und Verpflichtungen zunimmt. Komplexe Verhältnisse bedingen in diesem Sinne, dass Routinen des Alltags vielfältiger und zeitliche Planungen stärker erfordert werden. In Form eines Zwischenfazits können die ersten drei Arbeitsschritte nun zunächst noch einmal wie folgt miteinander verknüpft werden: Ausgehend von der wechselwirkenden Beziehung zwischen Subjekt und Welt stehen die Phänomene der Bildung und der Verzeitlichung insofern bereits in unauflösbarer Verbindung zueinander, als der Begriff der Verzeitlichung konstatiert, dass zeitliche Ordnungen in Form spezifischer Rekonstruktionen (z.B. Dauer) und Dynamiken (Chronologie, Geschichtlichkeit) allen subjektiven Konstruktionen von Wirklichkeit und damit allen nur möglichen Welt- und Selbstverhältnissen implizit sind. Wenngleich es empirisch schwierig sein dürfte, immer im Detail sagen zu können, welchen Rekonstruktionen und Dynamiken einzelne Welt- und Selbstverhältnisse unterliegen, so lässt sich in analytischer Hinsicht mit Sicherheit sagen, dass die Vorstellung von Bildung und das pädagogische Anliegen, Bildung zu ermöglichen, von dem Gedanken an eine gestaltbare Zukunft (und wenn man so will: von der Verzeitlichungsform der Geschichtlichkeit) ganz wesentlich geprägt ist. Vor allem aus dem sozialen Kontext heraus findet sich diese Prägung jedoch zunehmend mit der heteronomen Wirkkraft von Zeit konfrontiert. In diesem Rahmen erweist sich der Begriff der Komplexität schließlich als gemeinsamer Nenner zwischen einer

7 Schlussbetrachtungen

Vorstellung von Bildung einerseits, die sich über die selbstbestimmte Befreiung des Subjekts von äußeren Kräften behauptet und dabei mit dem Anstieg gesellschaftlicher Komplexität umso stärker herausgefordert scheint, sowie einer heteronomen Wirkkraft von Zeit andererseits, die sich mit dem Anstieg gesellschaftlicher Komplexität erhöht. Damit wird im Besonderen deutlich, dass einer Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Selbstbestimmung und Zeit nur unter Einbezug einer Ausdifferenzierung des Phänomens der Komplexität nachzukommen ist. Dieser Notwendigkeit wurde im vierten Schritt der Arbeit Rechnung getragen. Die Komplexitätstheorie beschäftigt sich, der Auffassung von Niklas Luhmann folgend, mit medial vermittelten Phänomenen. Luhmanns Einsicht liegt ein weitreichender Medienbegriff als »›Daseinsgelegenheit‹, ›Disposition‹ oder einfach ›Möglichkeit‹« (Wiesing 2008, S. 236) zugrunde. Auf Basis dieser Reichweite und unter Einbezug einer bildungstheoretischmedienpädagogischen Perspektive, in deren Mittelpunkt die Beziehung zwischen Subjekt und Welt stand, konnte eine Lesart erarbeitet werden, die Komplexität über den Begriff der Technik zunächst eingrenzen und daraufhin in Form medial vermittelter Möglichkeitsräume ausdifferenzieren ließ. Komplexität konnte folglich als genuines Phänomen technisch-medialer Landschaften verstanden werden, innerhalb derer der Einsatz von Technik kontingente Weltzugänge eröffnet, die einerseits die Möglichkeitsräume bzw. Handlungsspielräume der Subjekte potenzieren und dadurch andererseits das Theoriegebäude, in dem sowohl über die Beziehung zwischen Subjekt und Welt als auch über die Selbstbestimmung der Subjekte nachzudenken ist, fortwährend verändern. Am augenscheinlichsten und wohl auch am weitreichendsten, das sei an dieser Stelle exemplarisch noch einmal betont, lassen sich diese Veränderungen gegenwärtig anhand der Auswirkungen der Computertechnik beobachten, durch die subjektives Handeln und Erleben ein globales, vernetztes, zunehmend beschleunigtes Ausmaß annimmt. Die durch Technik ermöglichte Vervielfältigung medial vermittelter Handlungsspielräume verändert prinzipiell auch den subjektiven Umgang mit Zeit, wie schließlich im fünften Schritt dargelegt werden konnte. In diesem Rahmen wurde auf der einen Seite aufgearbeitet, inwiefern die Potenzierung von Handlungsspielräumen zu einem Erlebnisreichtum und dem damit verbundenen Eindruck führt, dass vieles einfach schneller vergehe. Moderne Subjekte sehen sich folglich, wenn man der Begriffsfassung Hartmut Rosas folgt, mit den Auswirkungen einer Beschleunigungsgesellschaft konfrontiert, die auf einer »Mengensteigerung pro [erlebter, C.L.] Zeiteinheit« (Rosa

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2005, S. 115) beruht. Auf der anderen Seite wurde argumentiert, dass mit einem Mengenanstieg an Handlungsmöglichkeiten zunehmend der Verlust von Handlungssicherheiten und Orientierungshilfen droht. »In der gegenwärtigen Gegenwart« moderner Subjekte erscheint deshalb vor allem die »Zukunft unsicher« (Esposito 2007, S. 33), weil es zu deren Planung oder Bewältigung immer weniger eindeutige und sicher erscheinende Strategien zu geben scheint. Daraufhin wurde innerhalb einer bildungstheoretisch motivierten Perspektive schlussendlich akzentuiert, dass dort, wo hinsichtlich der individuellen Lebensplanung oder -bewältigung »feste Muster und Konfigurationen« weder »vorgegeben, geschweige denn selbstverständlich« (Bauman 2003, S. 14) sind und folglich immer weniger Sicherheit über das eigene Handeln zu bestehen scheint, die Herausforderung droht, dass man sein Leben »einfach treiben lässt« (Jaeggi 2016, S. 278) und womöglich nicht mehr anhand des je eigenen Welt- und Selbstverhältnisses hinterfragt bzw. hinterfragen kann. Greift man im Anschluss an diese Perspektive auf das oben formulierte Zwischenfazit zurück, dann lässt sich die dort unternommene generelle Verbindung zwischen Verzeitlichung und Bildung auf die Gegenwart moderner Subjekte projizieren und im Rahmen der Begriffsfassung der Verzeitlichung der Bildung subsumieren. Eine Bildung, die durch das Moment der Verzeitlichung bestimmt ist, das heißt eine Bildung, die sich verzeitlicht, verweist demnach ganz wesentlich auf drei Aspekte, die Selbstbestimmungsprozesse unter den temporalen Bedingungen gegenwärtiger Subjekt-Welt-Beziehungen herausfordern: So ist erstens zu betonen, dass die Dynamiken, die der Beziehung zwischen Subjekt und Welt per se schon über die perzeptiv-reflexiven Verzeitlichungsprozesse der Subjekte immanent sind, durch technisch intendierte Potenzierungen medial vermittelter Handlungsspielräume zunehmend Beschleunigungsprozessen unterliegen. Die Folge ist eine sich verstärkende Dynamisierung subjektiver Verzeitlichungsprozesse, die ganz grundsätzlich »rasch vergehende Erlebniszeiten« (Rosa 2005, S. 470; ohne Hervorh.) hervorruft. Zweitens kann konstatiert werden, dass gerade in modernen Gesellschaften ein durch Handeln beeinflussbarer Zukunftsbezug mit schwindender Handlungssicherheit und zunehmendem Orientierungsverlust einhergeht. Ein moderner Begriff von Zukunft steht damit immer mehr unter dem Deckmantel der Unsicherheit und stellt mithin das Handeln der Subjekte in Frage. Dies steht drittens in einem unauflösbaren Verhältnis zu dem Sachverhalt, dass modernen Subjekten in ihren Handlungen immer kontingenter werdende Möglichkeiten zur Verfügung stehen.

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In der Tradition der europäischen Aufklärung liegt die Besonderheit dieser Beobachtung darin, dass die Freiheit der handelnden Subjekte hier nicht nur durch äußere Kräfte in Frage gestellt scheint, sondern sich zunehmend auch am Verhalten zu den jeweils gegebenen Möglichkeiten entscheidet. Paradox lässt sich daher formulieren: Die Freiheit moderner Subjekte konstituiert sich sowohl vor dem Hintergrund eines Verhaltens zu äußeren Zwängen als auch vor dem Hintergrund eines Verhaltens zu den eigenen Möglichkeiten. Gewiss, mit dieser Paradoxie ist noch keine innovative Einsicht formuliert, denn die gegenwärtige Bildungstheorie weiß bereits seit geraumer Zeit den Zusammenhang zwischen der Pluralisierung von Handlungsoptionen und subjektiver Freiheit zu lehren. So schreibt Winfried Marotzki in seinem Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie: »Aktiviert man die Perspektive, Bildungsprozesse als Transformation des Selbstbezuges zu sehen, dann bedeutet das, daß das Subjekt in die Lage versetzt wird, den augenblicklichen Modus der Weltaufordnung als einen unter möglichen anderen zu sehen. Das ist nur möglich, wenn das Subjekt über die Prämissen der eigenen Weltaufordnung und mögliche andere verfügt, wenn es in diesem Sinne die Flexibilität gesteigert hat. Es tritt der Effekt ein, den Hegel so beschrieben hat, nämlich die Erfahrung des einzelnen, daß er selbst es ist, der die Modi der Weltaufordnung zu ändern in der Lage sich findet. Dadurch wird das Subjekt seiner habhaft.« (Marotzki 1990, S. 48; Hervorh. im Orig.) Die bildungstheoretische Implikation dieser Argumentation liegt darin, dass die Steigerung individueller Flexibilität »ausgeprägte Suchbewegungen« (ebd., S. 27) erfordert, deren Ursprung, das muss an dieser Stelle noch einmal explizit betont werden, in der Bewältigung von Krisenerfahrungen liegt. Demnach argumentiert z.B. Hans-Christoph Koller in der Tradition der strukturalen Bildungstheorie: »Kokemohr zufolge bildet diesen Anlass [für Bildungsprozesse auf Basis von Suchbewegungen, C.L.] eine Art von Krisenerfahrung, nämlich die Konfrontation mit einer Problemlage, für deren Bewältigung sich das bisherige Welt- und Selbstverhältnis als nicht mehr ausreichend erweist. Anders als bei Humboldt, der von einem gleichsam natürlichen Bestreben des Menschen nach Entfaltung seiner Kräfte bzw. nach Erweiterung seiner Weltansicht auszugehen scheint, ist es hier also ein Scheitern oder ein krisenhaftes Ereignis, das den Anstoß für Bildungsprozesse gibt. Ein Beispiel

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für eine solche Krisenerfahrung sind etwa Konflikte oder Probleme, die im Kontext interkultureller Kooperation auftreten und die Welt- und Selbstverhältnisse der Beteiligten radikal in Frage stellen können […].« (Koller 2012, S. 16) Die Überlegungen der vorliegenden Arbeit erweitern jedoch das hier von Koller skizzierte Problemfeld insofern, als sie eine Perspektive eröffnen, die über die Problemerfahrungen der Subjekte auf Basis ihrer subjektiven Welt- und Selbstverhältnisse hinausgeht. Stellvertretend für diese Erweiterung steht die These, dass modernen Subjekten der Umgang mit Krisenerfahrungen zunehmend erschwert scheint. Diese These erhält ihr Gewicht, wenn man einerseits die Beobachtungen rasch vergehender Erlebniszeiten, pluraler Handlungsmöglichkeiten sowie ansteigender Handlungsunsicherheiten auf Basis einer kontingenten Zukunft ernst nimmt und daraufhin andererseits die oben dargelegte Erkenntnis zur Geltung bringt, dass mit diesen Aspekten eine Herausforderung für die Subjekte darin liegt, das eigene Leben nicht mehr anhand der individuellen Welt- und Selbstverhältnisse zu hinterfragen bzw. hinterfragen zu können. Letztlich lässt sich dies anhand einer Position konkretisieren, die Winfried Marotzki und Benjamin Jörissen in ihrer Einführung zur strukturalen Medienbildung darlegen: »Durch Krisenerfahrungen erweisen sich Orientierungssysteme plötzlich als zeitlich begrenzt – und damit als prinzipiell unsicher. Hat man einmal die Erfahrung der Fragilität sicher geglaubter Orientierungen gemacht, so ist fortan jede Weltorientierung vom gleichen Schicksal bedroht. Dadurch werden die Orientierungssysteme partikularisiert – einige Teile funktionieren vielleicht noch, andere sind wertlos geworden – und pluralisiert – es gibt nicht mehr die eine ›richtige‹ Weltsicht. Die Einheitlichkeit und Geschlossenheit wird brüchig.« (Jörissen/Marotzki 2009, S. 17; Hervorh. C.L.) Unter der Prämisse, dass Subjekte ihre eigenen Welt- und Selbstverhältnisse immer schwerer hinterfragen bzw. hinterfragen können, muss die Perspektive Jörissens und Marotzkis dahin gehend erweitert werden, dass die ›Orientierungssysteme‹ der Subjekte mit einem Blick auf eine Bildung, die verzeitlicht gedacht wird, nicht nur partikularisieren, sondern auch nivellieren können. Um diesen Gedanken final zu entfalten, ist zuletzt eine Rückerinnerung an Rahel Jaeggis Beispiel des Vorort-Wissenschaftlers vonnöten, dessen Leben gerade deshalb eine ›Eigendynamik‹ annehmen konnte, weil seine Handlungen weder von äußeren Umständen noch von einem eigenen Willen gelei-

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tet waren und damit weder fremd- noch selbstbestimmt erschienen (vgl. Abschnitt 6.4). In diesem Sinne versäumte es der Vorort-Wissenschaftler, die eigenen Handlungsspielräume seines Lebens zu erkennen und die daraus hervorgehenden Situationen »als Gegenstand praktischer Fragen« (Jaeggi 2016, S. 89) zu begreifen. Zu den neu auftretenden Veränderungen seines Lebens – man denke zurück an den Start seiner Universitätskarriere, die neue Familie, den neuen Wohnort usw. – hat er sich nicht flexibel, sondern gar nicht mehr verhalten können. Sein Unbehagen mit diesen Veränderungen erschien ihm jedoch keineswegs als zu lösende Krise, sondern als bloße Gegebenheit, zu der er sich nicht mehr aktiv und präsent zu verorten wusste. So war es diese Nicht-Präsenz in seinem Handeln, die dazu führte, dass »sein Leben in einem entscheidenden Sinn nicht ›sein eigenes‹« (ebd., S. 84), selbstbestimmtes Leben war. Das Leben des Vorort-Wissenschaftlers war krisenhaft, jedoch fehlte ihm die Orientierung, um diese Krise als solche identifizieren und in der Folge angehen zu können. Glücklicherweise beschreibt dieses Beispiel keine empirische Evidenz, sondern lediglich einen nicht herbeizuwünschenden Zustand. Vor diesem Hintergrund muss die Rede von der Verzeitlichung von Bildung bzw. von einer als verzeitlicht gedachten Bildung als Postulat verstanden werden, das (zukünftige) Herausforderungen für die Bildung des Menschen hervorhebt und eine Pädagogik, die an der Ermöglichung von Bildungsprozessen interessiert ist, im Hinblick auf die beschleunigten Verhältnisse der Gegenwart und den damit einhergehenden Aspekten der Handlungsunsicherheit, des Orientierungsverlusts sowie der zunehmenden Kontingenz technisch-medial vermittelter Handlungsspielräume unter Verantwortung stellt.

7.2

Diskussion: Die Verzeitlichung der Bildung und ihre Implikationen im Horizont von Bildungstheorie und Medienpädagogik

Was folgt aus den dargelegten Schlussfolgerungen? Die vorliegende Arbeit argumentiert im Schnittfeld von Bildung und Zeit. Entsprechend adressiert sie zwei große Themenbereiche, die den Zugang zu einer inhaltlichen Vielfalt öffnen. Um im Folgenden innerhalb dieser Vielfalt die wesentlichen Implikationen der zurückgelegten Betrachtungen im Horizont von Bildungstheorie und Medienpädagogik einerseits eingrenzen und deren Geltungsanspruch andererseits im Rückgriff auf bereits vorliegende, interdisziplinäre Wissenschaftsdiskurse diskutieren zu können, erscheint ein abschließender Rück-

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griff auf die zentralen Aspekte vielversprechend, die einer Betonung der Verzeitlichung von Bildung zugrunde liegen: die zunehmende Dynamisierung moderner Zeitstrukturen sowie damit verbundene Auswirkungen auf subjektive Welt- und Selbstverhältnisse in Form von Handlungsunsicherheit und Orientierungsverlust unter den Bedingungen einer kontingenten Zukunft. In diesem Kontext wäre erstens die Behauptung, dass sich in modernen Gesellschaften nahezu alles unentwegt und unaufhaltsam dynamisiere (vgl. z.B. Altvater 2002; Gleick 1999), den empirischen Verhältnissen nicht angemessen – die Diagnose der Beschleunigung schließt ebenso systematisch Formen und Dimensionen der ›Entschleunigung‹ ein, die im Detail wie folgt unterschieden werden können (vgl. Rosa 2005, S. 138-158; 2013c, S. 196-200): 1. physikalische, biologische oder anthropologische Geschwindigkeitsgrenzen, die in beschleunigender Absicht nicht manipulierbar sind, wie z.B. die Rechenleistung des menschlichen Gehirns oder die Reproduktion bestimmter organischer Substanzen; 2. beschleunigungsimmune Phänomene, die sich den Steigerungszwängen der Moderne und ihrem treibenden »Geldnexus« (Nowotny 1993, S. 122) (nahezu) vollständig entziehen, wie z.B. religiöse Zeremonien, Sekten oder Klöster, aber auch körperbezogene Phänomene, wie Erkältungen oder Schwangerschaften; 3. unbeabsichtigte und zugleich verlangsamende Nebenfolgen der Beschleunigung, wie z.B. der Stau, der eine Weiterfahrt verhindert, oder Depressionserkrankungen, die die Leistungsfähigkeit mindern; 4. intentionale Gegenbewegungen, wie z.B. progressive Entspannungsübungen, Zeitmanagement, Meditation, Achtsamkeit, Sabbatjahre, Slow Food, ein geführtes Leben auf dem Land, und zuletzt 5. strukturelle und kulturelle Erstarrungsmuster, die »einen lähmenden Stillstand in der inneren Entwicklung moderner Gesellschaften postulieren« (Rosa 2005, S. 152), wie z.B. die Figur des ›rasenden Stillstands‹ (vgl. Abschnitt 6.3).

In der geisteswissenschaftlichen Literatur firmiert der Begriff der Entschleunigung zumeist als antagonistische Konzeption gegen zu schnell empfundene Zeitmuster und -strukturen. Betont wird auf diese Weise vor allem, dass langsame Tendenzen im Kontext dynamischer Modernisierung sowohl möglich als auch notwendig sind (vgl. Marquard 1988, S. 246). Damit oftmals intendierte Bewegungen des Protests (vgl. Poltrum 2012, S. 103) sind durchaus

7 Schlussbetrachtungen

weitreichend – noch einmal nennenswert erscheint beispielsweise die angesprochene Forderung von Andreas Dörpinghaus nach bildungsermöglichenden Schonräumen der Langsamkeit, die eine Vorstellung von Bildung als ›Verzögerung‹ propagiert (vgl. Abschnitt 3.1). Überdies trug vor allem Fritz Reheis zu einer populären Verwendung des Begriffs der Entschleunigung durch die Publikation mehrerer Monographien bei, die sich übergeordnet in den Bereichen der Kapitalismuskritik (vgl. Reheis 2003), der Bildungsökologie (vgl. Reheis 2005) und der Schulorganisation (vgl. Reheis 2007) verorten lassen. Reheis prägt mit diesen Monographien ein Verständnis von Entschleunigung, dem im Wesentlichen die Vision einer Gesellschaft zugrunde liegt, »in der nicht das Haben von Sachen, sondern das Sein der Menschen im Mittelpunkt stehen wird. Alles wird sich um ihr Wohlbefinden, um die Entfaltung und Erfüllung ihrer Möglichkeiten drehen. Die entschleunigte Gesellschaft wird eine Gesellschaft der Muße und der Faulheit sein, verstanden als ›kluge Lust‹.« (Reheis 1996, S. 207) Der Beschleunigungsdiagnose das Phänomen der Entschleunigung entgegen zu halten, erscheint naheliegend, weil es sich um ein empirisch leicht auszumachendes Phänomen handelt. Entsprechend werden entschleunigende Handlungsmuster beispielsweise von Karl H. Hörning, Daniela Ahrens und Anette Gerhard als intentionale Strategie einer Typologie des technikkritischen Skeptikers ausgewiesen, der auf eine »Tempodrosselung« setzt und sich in diesem Sinne ganz bewusst gegen die Nutzung beschleunigender Techniken entscheidet (Hörning/Ahrens/Gerhard 1997, S. 128; ohne Hervorh.). Caroline Roth-Ebners empirische Studie Der effiziente Mensch weiß diese Entscheidung durchaus zu bekräftigen, indem sie Entschleunigung als eine gewichtige Kernkompetenz des stressreduzierenden und regenerierenden Rückzugs aus »hochgradig subjektivierten und entgrenzten Arbeitswelten« auslegt (Roth-Ebner 2015, S. 269). Nicht zuletzt wird gerade auch in der englischsprachigen Rezeption der rosaschen Beschleunigungstheorie eine verlangsamende Subjektivierungsform – z.B. in Form eines »decelerating self« (Hsu/Elliot 2014, S. 408) – als Reaktion auf die Tendenzen erhöhter Handlungsgeschwindigkeiten und empfundener Zeitknappheit gefordert (vgl. Tomlinson 2007, S. 146ff). Allerdings ist die Idee der Entschleunigung anhand unterschiedlicher Aspekte ebenso in Frage zu stellen. So lässt sich grundsätzlich konstatieren, dass in der Geschichte der Menschheit noch nahezu »jede Welle technologischer, organisatorischer oder kultureller Beschleunigung zunächst auf mas-

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siven Widerstand und verbreitete Skepsis gestoßen ist, sich aber schließlich doch durchsetzen konnte und die Kritiker nach und nach zum Verstummen brachte« (Rosa 2005, S. 461). Darüber hinaus stehen individuell oder kollektiv intendierte Verlangsamungstendenzen den totalitären Wirkungsmustern der modernen Beschleunigung keineswegs gleichwertig entgegen (vgl. Rosa 2013c, S. 195). Gegenteilig ist vielmehr zu vermuten, dass sich gerade Maßnahmen des temporeduzierenden Umgangs in fataler Weise den Tendenzen der Beschleunigung unterwerfen und damit als bloß reaktionäres Phänomen verharren: man entschleunigt, um in der Folge wiederum für die Beschleunigung gewappnet zu sein (vgl. Han 2014b, S. 76; Rosa 2016, S. 13).1 Verstärkt wird der hier angedeutete Reaktionismus nicht zuletzt unter Berücksichtigung jener ökonomischen Rahmung, die der Beschleunigungsdiagnose Rosas zugrunde liegt (vgl. Abschnitt 6.1). Denn ebendiese Rahmung lässt betonen, dass Maßnahmen der Entschleunigung und Stressreduktion in erster Linie immer auch eine Frage des Geldes sind: wirksame Meditations- oder Yoga-Kurse, entspannende Urlaube, Slow Food oder gekaufte Rückzugsorte auf dem Land sind zuvorderst »Luxusphänomene« (Avanessian 2018b, o.S.). Ihnen sind insofern sozialdifferenzierende Tendenzen implizit, als sie maßgeblich denjenigen zugute kommen, die am Arbeitsmarkt reüssieren und damit Kapital akkumulieren (und so ohnehin die Steigerungslogik bedienen, die dem Phänomen der Beschleunigung zugrunde liegt). Gerade im Sinne einer Bildung, die für die Freiheit aller Menschen einsteht, können Bewegungen der Entschleunigung als geeignete Reaktion auf die Dynamisierungsverhältnisse moderner Gesellschaften deshalb nur bedingt in Betracht gezogen werden. Unter der Prämisse, dass Beschleunigung ein gesellschaftliches Problem ist, auf das individuelle Verlangsamungen keine wirksamen Lösungen zu versprechen scheinen, ist zweitens auf den Begriff der ›Resonanz‹ zurückzukommen, den Rosa in einem Buch gleichen Titels ausarbeitet. Wie weiter oben bereits angedeutet (vgl. Abschnitt 6.3), thematisiert der Begriff der Resonanz »eine spezifische Art und Weise des In-Beziehung-Tretens zwischen Subjekt und Welt«, die beide Entitäten einander so begegnen lässt, dass sie als aufeinander antwortend, zugleich aber auch mit eigener Stimme sprechend, also

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Wegweisend dafür wird beispielsweise im Rahmen von Achtsamkeitsübungen gefordert, »die eigene Zeit maximal effektiv zu nutzen«, so dass diese just dort anzuwenden seien, wenn man beispielsweise »in der Schlange steht, Zug fährt oder sein Kind zu Bett bringt« (Hardering/Wagner 2018, S. 273).

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als ›zurück-tönend‹ begriffen werden können« (Rosa 2016, S. 285; ohne Hervorh.). Rosa legt den theoretischen Fokus dieser Idee auf den sozialen »Beziehungsmodus« (ebd., S. 298) der Subjekte und möchte sie deshalb in erster Linie als »Kriterium einer normativ orientierten Sozialphilosophie« (ebd., S. 294) verstanden haben, welches sich schließlich als Gegenprinzip zu Modi der Entfremdung und den damit in den Blick genommenen Störungen subjektiver Weltbeziehungen positionieren lässt. Daher liegt auch der Gedanke daran nahe, dass eine aus dem Sozialen heraus konstituierte Resonanz, die das »Andere der Entfremdung« (ebd., S. 306) markiert, in enger Verwandtschaft zur Bildung des Individuums stehen könnte. Eine Konkretisierung dieses Gedankens gestattet Werner Sesinks Beitrag Bildung – ein Versuch über ihren Versuch, in dem es heißt: »Der Versuch der Bildung bedarf der Hoffnung in ihre Möglichkeit; wo diese Hoffnung erloschen ist, wird auch der Versuch nicht mehr unternommen werden. Fehlt jegliche positive Resonanz aus der Umwelt auf den Impuls, sich als Ich in dieser Welt behaupten zu können, kann es dazu kommen, dass die Hoffnung gänzlich aufgegeben wird.« (Sesink 2016, S. 226; Hervorh. C.L.) Wenn Sesink hier dem gelingenden Versuch von Bildung eine resonante Welterfahrung der Subjekte unterstellt, dann erscheint es nicht weiter überraschend, dass Rosa im Jahr 2016 in Zusammenarbeit mit dem Pädagogen Wolfgang Endres einen an Lehrerinnen und Lehrer gerichteten Ratgeber mit dem Titel Resonanzpädagogik publizierte, in dem wie folgt auf den Bildungsbegriff rekurriert wird: »Bildung gelingt dort, wo wir einen jungen Menschen einen Ausschnitt unserer Welt, der geteilten sozialen Welt oder überhaupt der Lebenswelt, zum Sprechen bringen. Die Idee von Bildung ist, Welt für die Subjekte zum Sprechen zu bringen oder in Resonanz zu versetzen. Bildung bedeutet also weder Welt-Wissen zu erwerben, noch bedeutet es, sich selbst zu bilden, sondern Bildung ist Weltbeziehungs-Bildung.« (Rosa/Endres 2016, S. 18) Diese Sätze deuten an, dass vor allem bildungstheoretische Konzeptionen sowohl wissenschaftliche als auch öffentliche Debatten um Beschleunigung bereichern können. Dass die Dynamisierung der Subjekt-Welt-Beziehung ohnehin ein genuin modernes Phänomen und damit eine unvermeidbare Schwierigkeit des aufgeklärten Subjekts zu sein scheint, ist drittens mit Verweis auf die gegenwartsdiagnostische Philosophie Byung-Chul Hans zu bestärken, die in ihrer Gesamtheit durch ein fernöstliches Denken geprägt ist und damit

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ganz grundsätzlich ohne Vorstellungen von einem absoluten Anfang und Ende auskommt (vgl. z.B. Han 2011, S. 10). Eine auf diese Weise ausbleibende Referenz auf existenzialistische Strukturen des humanen Lebens hat zur Folge, dass Han gerade das Verhältnis zwischen handelndem Subjekt und Zeit ohne eine Vorstellung linearer, progressiver, durch die Zukunft geprägter Strukturen denken kann, wie sie sich in der vorliegenden Arbeit als paradigmatisch für moderne Gesellschaften erwiesen hat. Dies gestattet schließlich die Einnahme einer Gegenperspektive zu der Vorstellung von einem Subjekt, das in schier unermesslicher Kontingenz in Handlungszwang und Zeitnot gerät: »Die abendländische Kultur ist nicht einfach eine Kultur des Aktivs, der die fernöstliche Kultur als eine Kultur des Passivs entgegenzusetzen wäre. Das Aktiv und das Passiv sind verschwistert. Sie treten gemeinsam auf. Je heller das Aktiv ist, desto dunkler wird das Passiv. Sie verhalten sich zueinander wie Licht und Schatten, wie Berg und Tal. Ein ausgeprägtes Passiv ist nur in einer Sprache, in einer Kultur möglich, der die Emphase des Aktivs, die Entschlossenheit eines heroisch handelnden Subjekts innewohnt. Die fernöstliche Kultur ist, wenn überhaupt, eine Kultur der In-Differenz von Aktiv und Passiv. Selten sind hier Wendungen, die ausdrücklich passiv oder aktiv sind, die also einen Handlungszusammenhang bezeichnen. Die meisten Wendungen weichen in die In-Differenz eines singulären Geschehens zurück, das ohne Opfer und Täter, ohne Schuld und Sühne ist.« (Han 2007b, S. 125; Hervorh. im Orig.) Basierend auf dieser Weltsicht finden sich im philosophischen Werk Hans eine Vielzahl an metaphorischen Figuren, die den Strukturen der Beschleunigungsgesellschaft diametral gegenüberstehen, dabei jedoch nicht Strategien der intentionalen Entschleunigung, sondern die Fähigkeit des ziellosen Verweilens nahelegen (vgl. Han 2014b, S. 8). Paradigmatisch dafür soll an dieser Stelle die Vorstellung von einer spirituellen, inspirierenden und heilenden ›Müdigkeit‹ genannt sein (vgl. z.B. Han 2016b, S. 56-63). Diese Vorstellung führt in ihrer theoretischen Genese auf den Versuch über die Müdigkeit des österreichischen Schriftstellers Peter Handke zurück, einem philosophischen (Selbst-)Dialog, in dem die Müdigkeit als reflexive Form der Wachheit beschrieben wird (vgl. Handke 1992). Handke versteht diese Form als Gegenpol zu einer negativ konnotierten, quälenden, alltagsvertrauten Form der Müdigkeit, die »weniger [sagt, C.L.], was zu tun ist, als was gelassen werden kann« (Handke 1992, S. 74). Han wendet diese Idee schließlich zu einem ziellosen und »gelassenen Nicht-Tun« (Han 2016b, S. 59), das ohne eine Sorge um eine

7 Schlussbetrachtungen

gestaltbare Zukunft auskommen kann. Die progressive Struktur des modernen, aufgeklärten Seins wird damit in einer Art Nihilismus aufgelöst, der im Sinne Hans nicht als »Deprivation«, sondern als romantisierender »Gewinn an Freiheit« (ebd., S. 27) verstanden werden darf. Zusammengefasst spannt sich mit den hier skizzierten interdisziplinären Perspektiven ein Rahmen auf, in dem nach Lösungen für die Probleme dynamisierter Weltverhältnisse moderner Subjekte gesucht wird. Die Implikation dieser Suche ist die Einsicht, dass Beschleunigung mehr Nachteile als Vorteile bringt. Mit den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit erscheint diese Einsicht allerdings dann sowohl in bildungstheoretischer als auch in medienpädagogischer Hinsicht unbefriedigend, wenn man einerseits in Rechnung stellt, dass Beschleunigungsprozesse primär durch den funktionalen Einsatz von Technik initiiert werden, und man andererseits diesem Einsatz ein emanzipatorisches Moment zuspricht, das aus der »unübersehbare[n] Verwandtschaft« (Sesink 1999, S. 511) zwischen Technik und Bildung, zwischen industrieller Revolution und intellektueller Aufklärung hervorgeht (vgl. Abschnitt 5.2.1). In Anbetracht dessen drängt sich zwangsläufig die Frage auf, wie eine Perspektive aussehen müsste, die technisch intendierte Beschleunigungsprozesse nicht nur als modernes Problem, sondern ebenso als Problemlösungsversuche moderner Gesellschaften und ihrer Subjekte begreift. Erste Inspiration für eine Antwort auf diese Frage liefert die aus der politischen Philosophie stammende Bewegung des ›Akzelerationismus‹ (vgl. z.B. Avanessian 2013; Avanessian/Mackay 2014; Avanessian/Malik 2016). Die Protagonistinnen und Protagonisten dieser Bewegung greifen im Wesentlichen auf die Einsicht zurück, dass eine handlungsoffene Zukunft verstärkt als Unsicherheit in die Gegenwart moderner Subjekte strömt (vgl. Avanessian/Malik 2016, S. 7; Esposito 2016, S. 38), um in der Folge unter anderem an einem »positiven Zukunftsbegriff« arbeiten zu können, der darauf verzichtet, »sich über die Geschwindigkeit des modernen Lebens zu beschweren« (Avanessian 2018b, o.S.). Ungeachtet ihrer wissenschaftlichen Provenienz steht diese Idee deshalb im Einklang mit der oben vorgeschlagenen analytischen Verschränkung von Zeit und Bildung, weil sie die gegenwärtigen Herausforderungen einer zunehmend unsicher werdenden Zukunft zu reflektieren weiß. Vor diesem Hintergrund ist abschließend bemerkenswert, dass Niklas Luhmann in seinen systemtheoretischen Reflexionen über Das Erziehungssystem der Gesellschaft in Anbetracht der unermesslich und unaufhaltsam steigenden Komplexität im gesellschaftlichen Zusammenleben die Notwendigkeit einer Pädagogik sah,

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den »den zu erziehenden Nachwuchs auf eine unbekannt bleibende Zukunft« einzustellen (Luhmann 2002, S. 198). »Dabei geht es nicht nur um das gewohnte Nichtwissen, um Informationsbedarf und um die Einsicht, daß man mit wenig Information auskommen muß, weil mehr Information die kognitiven Kapazitäten rasch überfordern, das heißt: nicht mehr in Wissen umgearbeitet werden könnte. Das auch, aber die wichtige Einsicht ist, daß das Unbekanntsein der Zukunft eine Ressource ist, nämlich die Bedingung der Möglichkeit, Entscheidung zu treffen. Die Konsequenz wäre, daß das Lernen von Wissen weitgehend ersetzt werden müßte durch das Lernen des Entscheidens, das heißt: des Ausnutzens von Nichtwissen.« (Ebd.) Luhmann legt damit eine abstrakte Idee vor, die den aktiven Umgang mit dem Unbekannten fordert, um im Modus der Kontingenz sicher Entscheidungen treffen und Probleme lösen zu können. Die reflexive Steigerung einer orientierenden Flexibilität im Umgang mit den eigenen Möglichkeiten und Handlungsspielräumen soll dabei nicht nur auf einem Wissen beruhen, das auf individuellen Welt- und Selbstreferenzen aufbaut, sondern hebt ebenso auf eine Art »Wissen um ein Nichtwissen« (Baecker 2013a, S. 17) ab. Zweifelsohne entsteht damit die Frage, was unter einem derartigen Nichtwissen inhaltlich zu fassen wäre. Ebenso bleibt offen, wie technische Innovationen zur Genese eines solchen Nichtwissens genutzt werden könnten. Wenn Luhmann jedoch mit dem Begriff des Nichtwissens darauf hinweisen möchte, dass die Art und Weise der Bewältigung von Unsicherheit und die Herstellung von Orientierungsmustern die Menschheit vor neu situierte Herausforderungen stellt, dann kann ein solcher Hinweis mit den zurückgelegten Betrachtungen nur bestärkt werden.

7.3

Ausblick: Ende des Subjekts oder Frage nach dem guten Leben?

Wie jede wissenschaftliche Auseinandersetzung unterliegt auch die vorliegende Arbeit einigen Begrenzungen. Diese Begrenzungen führen ganz wesentlich darauf zurück, dass die formulierten Betrachtungen stets auf ein Subjekt referierten, dessen Selbstbestimmung sich innerhalb seiner wechselwirkenden Beziehung zur Welt entscheidet. Gerade die jüngere soziologische und philosophische Literatur bietet jedoch reichlich Anlass, einen solchen

7 Schlussbetrachtungen

Subjekt- bzw. Anthropozentrismus in Frage zu stellen. Zu nennen sind hier beispielsweise Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie, die den Einzelnen in ein sozio-technisches Kollektiv auflöst (vgl. Latour 2017), die Strömung des Spekulativen Realismus, welche derzeit an der Theoriesubstitution des transzendentalen und empirisch erlebenden Subjekts durch eine naturgesetzlich kausale, absolute Kontingenz arbeitet (vgl. Meillassoux 2014, 2017; Avanessian 2018a), aber auch die Systemtheorie Niklas Luhmanns, in der die Handlungen der Subjekte in die Kommunikation funktionaler Systeme eingeschrieben werden (vgl. Luhmann 1984). Die Programme dieser Theorien konfrontieren je für sich mit der Frage, ob die Kategorie des Subjekts noch angemessen ist. Denkt man an die dargelegten Überlegungen zurück, dass die Frage nach Selbstbestimmung in ihrem Ursprung eine Frage nach faktischer Fremdbestimmung ist und gegenwärtige Selbstbestimmungsformen zusätzlich durch vielfältige Handlungsmöglichkeiten herausgefordert werden, dann drängt sich allzu leicht der Verdacht auf, dass das Subjekt eine moderne Erfindung und Selbstbestimmung eine normative, niemals vollständig einzulösende Illusion sei. Diesem Verdacht ist auf der einen Seite entgegenzuhalten, dass sich eine Aufgabe der Kategorie des Subjekts bzw. die Überwindung einer Anthropozentrik gerade für die Pädagogik als schwierig erweist, deren Programm mit der Vorstellung zu erziehender, lernender und sich bildender Menschen steht und fällt. In diesem Sinne ist Rudolf Kammerl beizupflichten, wenn er innerhalb einer Reflexion der (medien-)pädagogischen Subjektorientiertheit anmerkt, dass ein uneinholbarer Anspruch darin liege, in der Wissenschaft frei von normativen Setzungen arbeiten und argumentieren zu können (vgl. Kammerl 2017, S. 46). Die Kraft, die dem Zusammendenken beider Aspekte – Illusion und theoretische Notwendigkeit des Subjekts – entwächst, lässt sich zum Abschluss der vorliegenden Arbeit mit dem 18. Aphorismus Asyl für Obdachlose in Theodor W. Adornos Schrift Minima Moralia entfalten (vgl. Adorno 1951, S. 42f.). Adorno entwirft in diesem Aphorismus eine Reflexion über das Privatleben, das ihn eine verfehlte Beziehung zwischen den Menschen seiner Lebenszeit (1903-1969) und den von ihnen bewohnten Unterkünften erkennen lässt. Sein argumentativer Ausgangspunkt ist folgende Diagnose: »Wie es mit dem Privatleben heute bestellt ist, zeigt sein Schauplatz an. Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen.« (Adorno 1951, S. 42) Letztlich bleibt keine soziale Schicht von dieser Diagnose verschont – angefangen bei den in traditionellen Wohnungen lebenden »Banausen« der »Konsumsphäre«, über die Bewohnerinnen und Bewohner von Hotels, Apartments oder Designwoh-

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nungen, bis hin zu den Einwohnerinnen und Einwohnern der in den Folgen der beiden Weltkriege entstandenen Slums und Bungalowsiedlungen, deren Unterkünfte »morgen schon Laubhütten, Trailers, Autos oder Camps, Bleiben unter freiem Himmel sein mögen« (ebd.). In der Summe handelt es sich um Zuschreibungen, die Adorno zu dem Rückschluss veranlassen, dass das Haus als vertraute, heimatliche Geborgenheit und räumliche Sicherheit schaffende Institution »vergangen« sei (ebd.). Nahezu selbstredend ist dies innerhalb einer kulturpessimistischen Verortung zu lesen, wonach der besagte Aphorismus seine inhaltliche Schwere insofern entwickeln kann, als Adorno die Gründe seiner Beobachtungen auf das versäumte Einlösen des Sozialismus und dem gleichzeitigen Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft bezieht. Implizit ist dieser Bezugnahme eine Kritik am Kapitalismus, der, so heißt es, durch das Fehlen sozialistischer Strukturen »die Fülle der Konsumgüter« (ebd., S. 43) ansteigen ließ und damit in der Form einer steten Ansammlung von privatem Wohnungseigentum deren »Beziehung zum Bewohner« (ebd., S. 42) zunehmend erschwerte. Adorno erwägt den Verzicht auf Eigentum als Möglichkeit der Loslösung von diesen Strukturen, muss jedoch ebenso eingestehen, dass mit den bestehenden bürgerlichen Verhältnissen eine solche materielle Abhängigkeit entstanden sei, die Besitzlosigkeit nicht in Freiheit, sondern in Armut umschlagen ließe (vgl. ebd., S. 43). In diesem Eingeständnis entdeckt er schließlich die Paradoxie, dass man »Eigentum haben muß«, wobei ebendieses ›haben müssen‹ zu »einer lieblosen Nichtachtung für die Dinge« führt, die sich »notwendig auch gegen die Menschen« selbst richtet (ebd.). Anknüpfend an diese Einsicht schließt der Aphorismus mit dem populär gewordenen Satz: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« (Ebd.) Es handelt sich hierbei um einen Satz, dessen Voraussetzung grundsätzlich in der Analyse der Bedingungen eines glücklichen, gelingenden oder guten Lebens liegt. Insofern spielt er auf eine theoretische Auseinandersetzung an, die seit der antiken Philosophie um Sokrates und Platon zu einem der wichtigsten Anliegen im Nachdenken um den Menschen zu zählen ist (vgl. Steinfath 1998, S. 7). In diesem Kontext lässt Adorno seine Leserinnen und Leser schließlich mit unterschiedlichen Möglichkeiten an Gedankengängen zurück: So gestattet seine Diagnose einerseits den Fatalismus, dass überhaupt kein richtiges, gelingendes, gutes Leben möglich sei. Dadurch kann die Idee nur bestärkt werden, das Subjekt und seine Selbstbestimmung als normative Illusion aus den Theoriediskursen der Gegenwart zu verbannen. Andererseits räumen Adornos Überlegungen jedoch ebenso das Angebot ein, die je eigenen Lebens- und Abhängigkeitsverhältnisse selbstreflexiv zu hinter-

7 Schlussbetrachtungen

fragen. Bemerkenswert ist vor dem Hintergrund dieser zweiten Möglichkeit, dass Adornos primäre Argumentationsfigur auf einen Bedeutungsverlust des Hauses, das heißt auf einen Bedeutungsverlust der räumlichen Heimat des Menschen referiert. Stellt man diesbezüglich in Rechnung, dass gerade mit beschleunigenden Transport- und Kommunikationstechniken die Bedeutung des Raumes innerhalb der Beziehung zwischen Subjekt und Welt zunehmend nivelliert wird (vgl. noch einmal explizit Abschnitt 6.2), dann erweist sich Adornos Perspektive von höchster Aktualität. Bringt man damit zur Geltung, dass mit den derzeit erreichten Dynamiken moderner Gesellschaften die Bedingungen eines guten Lebens nur noch stärker herausgefordert scheinen, dann gehen aus der hier vorgelegten Arbeit weitere Infragestellungen des (vermeintlich) freien Subjekts hervor, die nur weiteren Reflexionsbedarf einfordern können.

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Nachwort

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete, leicht gekürzte und verbesserte Fassung meiner Dissertation, die im Juni 2019 von der Fakultät für Kulturund Sozialwissenschaften an der FernUniversität in Hagen unter dem Titel Verzeitlichte Bildung – Zum Verhältnis von Selbstbestimmung und Zeit unter den Bedingungen des Technisch-Medialen angenommen wurde. Für den Inhalt meiner Dissertation bin ich alleine verantwortlich. Sein Zustandekommen wurde jedoch auch durch all jene Menschen ermöglicht, die mich von der Idee bis zur Fertigstellung unterstützt haben. Ihnen schulde ich an dieser Stelle noch einmal meinen Dank. Zuvorderst danke ich meiner Betreuerin Prof. Dr. Claudia de Witt für die vielen ermöglichten Freiheiten, das entgegengebrachte Vertrauen, eine Vielzahl an hilfreichen Hinweisen, ein gutes Maß an Geduld, aber vor allem für die eingeräumte Zeit zum Lesen und Nachdenken, ohne die ich meine Dissertation niemals hätte zu Ende schreiben können. Danken möchte ich zudem Prof. Dr. Manuela Pietraß für ihre unterstützende Bereitschaft, sich auf eine interdisziplinäre Arbeit einzulassen und diese zu begutachten. Darüber hinaus konnte ich in unterschiedlichster Art und Weise von persönlichen und beruflichen Gesprächen, gemeinsamen Textbesprechungen, Fragen, geäußerten Wider- und Zusprüchen, notierten Anmerkungen zu Textentwürfen, Reaktionen auf Tagungsbeiträge usw. profitieren. Stellvertretend für diese vielfältige Art von Interaktionen sollen drei Personen genannt sein: Lukas Ishar, Felix Lensing und insbesondere Tatjana Surdin. Ebenfalls danke ich Dr. Karin Derichs-Kunstmann, die mir nahezu alle Werke Luhmanns aus dem Nachlass ihres Mannes, Prof. Dr. Wilfried Kunstmann, überlassen hat. Diese mehr als großzügige Geste stellte sich später als entscheidender Antrieb dafür dar, mich mit aller Konsequenz auf die (medien-)pädagogisch nicht konfliktfreie Auseinandersetzung mit der soziologischen Systemtheorie einzulassen. Regina Herzbruch-Schütte sei

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darüber hinaus dafür gedankt, dass sie das finale Manuskript noch einmal mit großer Sorgfalt einer Korrektur unterzogen hat. Der Forschungsförderung der FernUniversität in Hagen danke ich für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Dank gilt zuletzt meinen Eltern und meiner Schwester für Dinge, die weit über das hinausgehen, was wissenschaftliche Gedankenbildung erfordert. Ihnen widme ich dieses Werk.

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Nadja Köffler, Petra Steinmair-Pösel, Thomas Sojer, Peter Stöger (Hg.)

Bildung und Liebe Interdisziplinäre Perspektiven 2018, 412 S., kart., 11 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4359-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4359-0

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Ist inklusive Schule möglich? Nationale und internationale Perspektiven 2019, 312 S., kart., Dispersionsbindung, 11 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4312-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4312-5

Sybille Wiescholek

Textile Bildung im Zeitalter der Digitalisierung Vermittlungschancen zwischen Handarbeit und Technisierung 2019, 258 S., kart., Dispersionsbindung, 53 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4687-0 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4687-4

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